Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Heute feiert der Kollege Klaus Uwe Benneter seinen
60. Geburtstag. Dazu möchte ich im Namen des ganzen
Hauses herzlich gratulieren.
({0})
- Das sind Gelegenheiten im Leben, die sich nur schwer
wiederholen lassen. Der Beifall steht jedenfalls im Protokoll.
Es gab seit unserer letzten Sitzung noch weitere Jubilare: Die Kollegen Otto Bernhardt und Franz Romer
feierten am 13. bzw. 26. Februar ihre 65. Geburtstage,
und der Kollege Jerzy Montag beging am 13. Februar
seinen Sechzigsten. Auch zu diesen runden Geburtstagen gratuliere ich nachträglich herzlich und wünsche alles Gute.
({1})
Nun kommen wir zum geschäftlichen Teil der Veranstaltung: Der Kollege Matthias Berninger hat am
20. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin begrüße ich herzlich
die Kollegin Nicole Maisch.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Energie- und umweltpolitische Konsequenzen der Bundesregierung aufgrund des Klimaberichtes des Weltklimarates
IPCC ({3})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Stübgen,
Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Axel Schäfer ({5}), Dr. Lale Akgün, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union
zum Erfolg führen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning,
Christian Ahrendt, Michael Link ({6}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft eine EU der Erfolge für die Bürger
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 14./15. Dezember 2006 in Brüssel und zur bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Ratspräsidentschaft für eine zukunftsfähige
EU nutzen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis 30. Juni
2007 - Europa gelingt gemeinsam
- Drucksachen 16/3808, 16/3832, 16/3796, 16/3327, 16/3680,
16/4453 Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer ({7})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU im
21. Jahrhundert
- Drucksachen 16/4171, 16/4448 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Axel Schäfer ({9})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,
Volker Beck ({10}), Undine Kurth ({11}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Einführung einer Klimaschutzabgabe bei Flugreisen
- Drucksache 16/4182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,
Dr. Reinhard Loske, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Klimaschutzmaßnahmen im Straßenverkehr
ergreifen
- Drucksache 16/4429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN
Trendwende beim Klimaschutz im Verkehr - Nachhaltige
Mobilität für alle ermöglichen
- Drucksache 16/4416 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske,
Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Klimaschutz im Verkehr - Kfz-Steuer auf CO2Ausstoß umstellen
- Drucksache 16/4431 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,
Bärbel Höhn, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
CO2-Emissionen der Dienstwagenflotte des Deutschen
Bundestages nachhaltig senken
- Drucksache 16/4430 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Treibhausgasemissionen bei Dienstreisen ausgleichen Vorbildfunktion der öffentlichen Hand erfüllen
- Drucksachen 16/1066, 16/3847 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Umverteilung durch den Emissionshandel beenden - Vorreiterrolle im Klimaschutz übernehmen
- Drucksachen 16/1682, 16/3144 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({17})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({18}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimapolitischen Zertifikatehandel in Deutschland nachhaltig und verantwortungsvoll gestalten - Nationalen Allokationsplan grundlegend überarbeiten
- Drucksachen 16/3051, 16/4422 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({19})
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Jan
Mücke, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Einbeziehung des zivilen Luftverkehrs in den europäischen Emissionshandel
- Drucksache 16/3049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 13 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({21})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
({22}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfassungskonformität der Bahnprivatisierung sicherstellen
- Drucksache 16/4413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({23})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar,
Britta Haßelmann, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Bundesmittel nicht verschwenden - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus nachhaltig fördern
- Drucksache 16/4408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({24})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Den positiven Beitrag des Tourismus zum Wirtschaftswachstum festigen
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur
- Drucksache 16/4409 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({25})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 5, 15 und 27 werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 9 soll vorgezogen und
zusammen mit den anstelle des Tagesordnungspunktes 5
vorgesehenen Zusatzpunkten 4 bis 10 beraten werden.
Außerdem ist beabsichtigt, die Tagesordnungspunkte 11
und 10 sowie 13 und 12 jeweils zu tauschen und danach
den Tagesordnungspunkt 17 aufzurufen. Das haben sicherlich alle sofort verstanden. Wenn nicht, stehen die
Geschäftsführer, die das ausgehandelt haben, für Erläuterungen zur Verfügung.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({26}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen
- Drucksache 16/3793 überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({27})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b so-
wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle-
rin
zum Europäischen Rat in Brüssel am 8./9. März
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Rainder Steenblock, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Frühjahrsgipfel nutzen - Klimawandel
bremsen und Energiewende vorantreiben
- Drucksache 16/4428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({28})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({29})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Stübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Axel
Schäfer ({30}), Dr. Lale Akgün, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Christian Ahrendt, Michael Link
({31}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die
Bürger
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich,
Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am
14./15. Dezember 2006 in Brüssel und zur
bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Ratspräsidentschaft für eine
zukunftsfähige EU nutzen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis
30. Juni 2007 - Europa gelingt gemeinsam
- Drucksachen 16/3808, 16/3832, 16/3796, 16/3327,
16/3680, 16/4453 Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer ({32})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({33}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abge8198
Präsident Dr. Norbert Lammert
ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der
EU im 21. Jahrhundert
- Drucksachen 16/4171, 16/4448 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Axel Schäfer ({34})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel.
({35})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, heute als Vorsitzende des Europäischen Rates zu Ihnen sprechen zu können. Wir haben uns als Bundesregierung - der Ratssitzung in der nächsten Woche,
über die wir heute sprechen, sind ja viele Einzelräte vorausgegangen - sehr gut auf diese Präsidentschaft vorbereitet.
Sie wissen, dass in die deutsche Präsidentschaft der
50. Jahrestag der Römischen Verträge fällt. Ich glaube,
wir können sagen: Wie 1957 steht die Europäische
Union auch heute wieder an einer wichtigen Weggabelung, allerdings unter völlig veränderten Rahmenbedingungen. Damals, vor 50 Jahren, ging es um den Wiederaufbau Europas, um die Schaffung tragfähiger
Grundlagen für einen beginnenden Wohlstand. Heute
geht es darum, die bisher versäumten oder nur halb vollzogenen Anpassungen der Europäischen Union an ihre
neue Größe auf der einen Seite und eine völlig veränderte Weltlage auf der anderen Seite vorzunehmen.
Die Bundesregierung stellt sich mit der Aufgabe der
Ratspräsidentschaft dieser Verantwortung. Wir wollen
das europäische Projekt vorantreiben. Die Menschen
- das ist unser Ziel - sollen die Europäische Union als
hilfreich empfinden. Dafür ist notwendig, dass die Europäische Union und das, was in ihr geschieht, die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger finden.
({0})
Dabei ist klar: Nur wenn Europa wirtschaftlich erfolgreich ist, wird es seine Werte und auch sein Lebensmodell behaupten können und weiter dafür werben können.
Wir wissen, die Welt wartet nicht auf Europa. Andere
Weltregionen - das ist das Zeichen der Globalisierung entwickeln sich zum Teil in geradezu atemberaubendem
Tempo. Viele Länder auf der Welt streben heute danach,
auch für ihre Menschen mehr Wohlstand und bessere Lebensbedingungen zu erreichen.
Wirtschaftlicher Erfolg - das wissen wir - ist kein
Wert an sich, sondern er soll den Menschen dienen,
möglichst allen Menschen; er soll ihnen Lebenschancen
eröffnen. Das ist für uns das Credo, wie wir es in
Deutschland nennen, für die soziale Marktwirtschaft.
Europa hat - ich glaube, daran gibt es keinen Zweifel durch die Schaffung des Binnenmarktes bereits erfolgreiche Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Es gibt für
mich auch keinen Zweifel daran, dass Deutschland als
exportorientierte Volkswirtschaft ganz wesentlich von
diesem Binnenmarkt profitiert. Wichtig ist, dass diese
Früchte auch denen zugutekommen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Das gilt für die Bürgerinnen
und Bürger in der Europäischen Union; das gilt aber
auch für unsere Fähigkeit, außerhalb der europäischen
Grenzen Hilfe und Unterstützung zu leisten.
Europa steht für eine Verbindung von wirtschaftlicher
Leistungskraft und sozialem Ausgleich. Aber wir spüren, dass dieses Modell, das viele Jahrzehnte funktioniert
hat, durch die Globalisierung unter einen neuen Druck
geraten ist. Wir müssen schauen, wie wir darauf reagieren. Wir müssen uns fragen: Wohlstand für alle - was
heißt das, und was braucht es dazu im 21. Jahrhundert?
Ich glaube, es ist klar, dass für die Erreichung dieser
Ziele zunächst einmal Wachstum notwendig ist, Wachstum in einer ganz ausgeprägten Dimension: qualitatives
Wachstum, aber an vielen Stellen auch quantitatives
Wachstum. Ohne Wachstum wird es nicht möglich sein,
den Wohlstand zu erhalten; es wird so auch nicht möglich sein, Solidarität zu üben. Damit Solidarität und Gemeinsinn auch im 21. Jahrhundert für die Menschen weiter spürbar sind, müssen wir alles daransetzen, eine
leistungsfähige Gesellschaft in der Europäischen Union
zu bleiben.
({1})
Sie wissen, dass der Frühjahrsrat, der nächste Woche
am 8. und 9. März stattfindet, traditionell als Schwerpunkt die Frage der wirtschaftlichen Dynamik und der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas auf der
Tagesordnung hat. Dabei ist für uns klar: Die Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts sind gleichrangige Ziele, die sich gegenseitig bedingen. Das ist unser Verständnis von Reformpolitik,
und das ist auch unser Verständnis von dem, was wir
„europäisches Sozialmodell“ nennen.
({2})
Dieses Sozialmodell ist nicht überall auf der Welt akzeptiert. Europa muss dafür kämpfen, dieses Modell als
wettbewerbsfähiges, erfolgreiches Modell durchzusetzen, und die dafür notwendigen Standards setzen.
({3})
Nun wissen wir, dass für den Erfolg dieser Strategie
ganz wesentlich die Mitgliedstaaten Verantwortung tragen. Genau deshalb diskutieren wir bei uns zu Hause
über umfangreiche Reformvorhaben. Natürlich müssen
durch die Rahmenbedingungen, die von der Europäischen Union, also von Brüssel, gesetzt werden, diese
Anstrengungen unterstützt werden. Deshalb haben wir
auch ganz bestimmte Schwerpunkte im Rahmen der Lissabonstrategie für den diesjährigen Frühjahrsrat vorgesehen. Dazu gehören die Fragen des sozialen Zusammenhalts; dazu gehören die Energiepolitik und der
Klimaschutz; dazu gehören der Ausbau und die Vervollkommnung des Binnenmarkts sowie mehr Flexibilität
durch Bürokratieabbau. Das sind die Schwerpunkte des
diesjährigen Frühjahrsrats.
({4})
Die Kommission kann darauf verweisen, dass sie die
im Rahmen der Lissabonstrategie angesetzten Vorhaben bereits zu 75 Prozent umgesetzt hat. Die Ziele der
Lissabonstrategie zu erreichen, beruht auf einer Mischung von nationalen und europäischen Anstrengungen. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir von der
Zielsetzung der Lissabonstrategie, nämlich der dynamischste, kreativste und wachstumsfreundlichste Kontinent der Welt zu werden, noch ein ganzes Stück entfernt
sind. Das heißt, es bleibt noch einiges zu tun.
({5})
Wir haben aber - auch das soll einmal erwähnt werden Fortschritte erzielt. Eine Studie aus jüngster Zeit von Allianz und der Denkfabrik „Lisbon Council“ hat ergeben,
dass Schweden, Belgien, Deutschland und Großbritannien in der Produktivität die USA eingeholt haben. Wir
wissen alle um die Relativität solcher Studien. Aber ich
glaube, dieses Ergebnis macht Mut gerade für weitere
Reformschritte.
({6})
Die Zahlen belegen es: Die wirtschaftliche Dynamik
in Europa hat sich insgesamt verstärkt. Nach 1,7 Prozent
Wachstum im Jahre 2005 hatten wir im letzten Jahr
2,8 Prozent Wachstum. Die Arbeitslosenquote - für viele
Menschen ist die Schaffung von Arbeitsplätzen am
wichtigsten - wird von 8,8 Prozent im Jahre 2005 auf
voraussichtlich 7,3 Prozent im Jahre 2008 sinken.
Wir wissen, dass Deutschland in diesem europäischen
Konzert eine ganz wesentliche Rolle spielt. Die gestrigen Arbeitsmarktzahlen zeigen - ohne dass ich sie jetzt
überbewerten will -, dass wir auf einem richtigen Weg
sind. Wir können uns natürlich mit einer Arbeitslosenzahl über 4 Millionen nicht abfinden. Wir können aber
sagen, dass gegenüber dem Vorjahr sehr große Fortschritte erzielt worden sind. Darauf müssen wir aufbauen und da müssen wir weitermachen.
({7})
Wir wissen, dass der Abbau überflüssiger Bürokratie
ganz wesentlichen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben kann. Die Europäische Kommission hat sich
vorgenommen, bis 2011 die Bürokratielasten für die Unternehmen um 25 Prozent zu senken. Das bedeutet nach
Aussage der Europäischen Kommission eine Möglichkeit für zusätzliches Wirtschaftswachstum in Höhe von
etwa 1,5 Prozent. Dieser Weg lohnt sich also. Ich begrüße deshalb dieses Abbauziel. Ich hoffe, wir können
das auf dem Rat nächste Woche vereinbaren. Wir haben
gestern im Kabinett beschlossen, dass die Bürokratie in
Deutschland um etwa 25 Prozent bei den Statistik- und
Berichtspflichten abgebaut werden soll. Ich glaube, das
ist ein gutes, nationales, komplementäres Ziel, mit dem
wir dann auch in Europa entsprechende Veränderungen
einfordern können.
({8})
Wir bekennen uns dazu, dass wir einen Ordnungsrahmen für die wirtschaftliche Entwicklung brauchen, aber
einen Ordnungsrahmen, der freiheitliche Spielräume eröffnet und ermöglicht. Deshalb ist für uns auch ein
Schwerpunkt innerhalb dieses Jahres ein erfolgreicher
Abschluss der Doha-Runde, für den wir uns ganz massiv
einsetzen werden. Denn wir wissen, dass von einer Liberalisierung des Welthandels sowohl die Europäische
Union als auch ganz besonders der Exportweltmeister
Deutschland profitieren können. Wir wissen aber auch,
dass wir mit fairem Welthandel den Entwicklungsländern in ganz besonderer Weise helfen. Es gibt also eine
große Dringlichkeit, hier voranzukommen.
({9})
Wir wollen die Anstrengungen für einen freien Welthandel ergänzen - ich sage das ganz ausdrücklich, weil
es manchmal durcheinandergebracht wird - um eine engere transatlantische Wirtschaftspartnerschaft. Hier
geht es nicht um Zölle und tarifliche Hindernisse, sondern darum, dass wir bei den Regelungsnormen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika mehr Harmonisierung beim Schutz des
geistigen Eigentums, bei Finanzmarktvorschriften und
bei Standards für Industrieprodukte erreichen. Wir glauben, dass wir auf diesem Weg erhebliche Spielräume
freisetzen können, die wir dann wieder für Innovation
und Kreativität verwenden können. Wir wissen, angesichts des Wettbewerbs mit China und Indien ist das
dringend erforderlich. Ich freue mich, dass es gute Anzeichen dafür gibt, dass wir genau dies auf dem nächsten
Europäischen Rat vereinbaren können.
({10})
Eine solche transatlantische Wirtschaftspartnerschaft
wird auch Gegenstand des EU-Amerika-Gipfels Ende
April sein, auf dem wir dieses Projekt vorantreiben wollen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, zu einer sicheren wirtschaftlichen Zukunft gehört ganz wesentlich eine
sichere Energieversorgung. Das heißt, wir brauchen
verlässliche, bezahlbare und nachhaltige Energie. Dazu
gehört natürlich in unmittelbarem Zusammenhang das
Thema Klimaschutz. Beides sind ganz wesentliche
Wachstumsmotoren. Deshalb wird dies einer der
Schwerpunkte auf dem nächsten Europäischen Rat sein.
Wir werden, wenn die Beratungen erfolgreich sind, eine
strategische Grundlage für eine wettbewerbsfähige, kli8200
maverträgliche und sichere Energieversorgung schaffen,
die die Voraussetzung dafür ist, dass sich die Europäische Union auch weiter vernünftig entwickeln kann.
Wir sollten uns einmal vor Augen führen, vor welcher
Herausforderung wir beim Klimaschutz stehen, wenn
wir die internationalen und wissenschaftlichen Berichte,
die wir hören, wirklich ernst nehmen. Wenn wir weitermachen wie bisher, dann werden die Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 weltweit um
55 Prozent gestiegen sein. Wir können nicht die Augen
davor verschließen, dass das erhebliche Folgen hat. Ich
frage: Wollen wir die Augen davor verschließen, dass
wir in den letzten zwölf Jahren elf der wärmsten Jahre
seit der Wetteraufzeichnung hatten? Wollen wir einfach
hinnehmen, dass der Meeresspiegel steigen wird und
Städte wie Amsterdam, Venedig, Kairo und Bombay damit in Gefahr geraten? Wollen wir hinnehmen, dass wir
völlig unbekannte Wetterphänomene haben, und zwar,
wie für Mitte dieses Jahrhunderts vorausgesagt wird,
Tropennächte in der Harzregion? - Ich glaube, wir können dem nicht tatenlos zusehen, zumal wir aus dem
Stern-Report wissen, welche wirtschaftlichen Kosten
sich aus dem Nichthandeln ergeben. Deshalb ist es Zeit,
zu handeln, und deshalb muss gehandelt werden.
({11})
Wir haben diese Diskussion im vorigen Jahr auf dem
Frühjahrsrat unter dem Thema Energie, aber auch unter
dem Thema Klimaschutz begonnen. Die Kommission
hat darauf mit ihren Vorschlägen zu einem integrierten
Konzept reagiert. Das ist ein qualitativer Schritt nach
vorne. Es ist jetzt Aufgabe des Rates, dieses integrierte
Konzept zu unterstützen.
Es gibt ambitionierte Klimaschutzziele. Ich bekenne
mich zu dem Vorschlag - ich freue mich, dass auch der
Umwelt- und der Energierat das gemacht haben -, die
Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union bis
zum Jahre 2020 um 20 Prozent zu senken. Wenn noch
andere internationale Player dabei sind, werden wir auch
eine 30-Prozent-Senkung ins Auge fassen.
Ich möchte hier aber nicht verschweigen, dass das ein
wirklich ehrgeiziges Ziel ist. Ich will Folgendes vor Augen führen: Das Kiotoprotokoll verlangt von der Europäischen Union, dass die CO2-Emissionen zwischen
1990 und 2012, also in 22 Jahren, um 8 Prozent gesenkt
werden. Das, wozu wir uns jetzt verpflichten, bedeutet,
dass wir zwischen 2012 und 2020, also in acht Jahren,
noch einmal um 12 Prozent senken. Wir haben heute, zu
Beginn des Jahres 2007, in der Europäischen Union von
der vereinbarten 8-Prozent-Senkung 1,2 Prozent erreicht.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Rahmen
des Kiotoprotokolls verpflichtet - obwohl wir nur
20 Prozent der Einwohner und ein Viertel der Emissionen in der Europäischen Union haben -, 75 Prozent der
Reduktionsverpflichtung zu übernehmen, weil wir natürlich durch die deutsche Einheit einen gewissen Startvorteil hatten. Das wird in der nächsten Periode so nicht
mehr gehen. - Damit habe ich die Dimension dessen beschrieben, wozu sich die Europäische Union verpflichten möchte.
Ich sage ganz klar: Wir werden in der Phase bis 2020
den Beweis erbringen müssen - wir wollen das auch -,
dass Ökologie und Ökonomie miteinander versöhnt und
Strategien entwickelt werden können, die sowohl Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze als auch einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt ermöglichen. Das ist
die große Aufgabe, vor der wir stehen.
({12})
Deshalb finde ich es richtig, dass die Kommission es
nicht bei der Definition des Ziels belassen hat, sondern
dass sie auch ehrgeizige Ziele formuliert hat, die den
Weg beschreiben, wie man dort hinkommen kann.
Ein Schlüssel ist die Energieeffizienz, das heißt die
Frage, wie wir das Gleiche mit weniger Energieverbrauch erreichen können. Hier haben wir in der Bundesregierung, unterstützt vom Deutschen Bundestag, mit
dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm neue Wege beschritten. Ich will aber darauf hinweisen, dass das, was
wir in diesem Rahmen an Reduktion von CO2-Emissionen erreichen, um ein Vielfaches übertroffen werden
muss, wenn wir die Gesamtziele erreichen wollen. Wir
werden mit unserem CO2-Gebäudesanierungsprogramm
ungefähr 1 Million Tonnen CO2-Emissionen einsparen.
Gemessen an der notwendigen Gesamtmenge ist das
zwar ein richtiger Schritt; das reicht aber bei Weitem
nicht aus.
Es ist daher richtig und wichtig, dass wir ganz wesentlich in Technologieforschung, in Energieeffizienzforschung investieren. Dem dient auf nationaler Ebene
natürlich die Hightechstrategie und dem dient innerhalb
der Europäischen Union das siebte Rahmenforschungsprogramm. Noch nie in der Geschichte der Europäischen
Union hat es ein so umfangreiches Forschungsprogramm
gegeben. Dieses Forschungsprogramm muss sich natürlich mit der gesamten Breite der Emissionen von Treibhausgasen beschäftigen. Hierzu gehören neben den erneuerbaren Energien, die ein großer Schwerpunkt sind,
auch emissionsarme Kohletechnologien mit Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff. Das ist ein ganz
neues Feld. Die Europäische Union will bis 2015 zwölf
Demonstrationsanlagen errichten. Vattenfall hat hier in
Brandenburg mit der Planung der ersten Anlage begonnen. Man muss wissen: Durch eine CO2-Abscheidung
erniedrigt sich der Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke.
Genau an dem Punkt muss geforscht werden. Die Fragen
der Speicherung - ich sage hinzu: später auch der Verwendung des CO2 - sind völlig ungelöste technische
Probleme, aber auch sehr spannende Fragen.
({13})
Wir wollen daran arbeiten - das ist ein unglaublich ehrgeiziges Ziel -, dass solche Kohlenstoffabscheidungstechnologien in großem Maßstab bis 2020 auf dem
Markt sind.
Wir brauchen emissionsarme Fahrzeuge und sogenannte Plus-Energiehäuser, also Häuser, mit denen mehr
Energie erzeugt als verbraucht wird.
Ich will noch kurz etwas zu der Fahrzeugdiskussion
sagen, weil das Thema aus meiner Sicht in der Öffentlichkeit zum Teil verzerrt diskutiert wurde. Die Bundesregierung unterstützt das Ziel, bis 2012 die CO2-Emissionen auf 120 Gramm pro Kilometer im Durchschnitt
der europäischen Autoflotte zu senken, auf 130 Gramm
durch Technologie und dann auf 120 Gramm durch die
Beimischung von 10 Prozent Biokraftstoffen. Darüber
herrscht auch Einverständnis. Wir legen aber Wert darauf, dass diese Werte nicht pro Hersteller erreicht werden müssen, sondern dass dies ein Flottenmittelverbrauch ist. Es ist uns gelungen, dass die Kommission das
akzeptiert hat. Das heißt nicht, dass die technischen Anstrengungen für die großen Fahrzeuge nicht genauso
groß sein müssen wie für andere.
({14})
Das heißt aber, dass auch diejenigen, die schon heute
weniger als 120 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen,
die Verpflichtung haben, technologische Verbesserungen
durchzusetzen, damit der Durchschnitt sinkt. Das gilt für
jeden.
({15})
Die Europäische Union ist schon heute weltweit führend im Bereich der Technologie für erneuerbare Energien. Bei der Windenergie haben wir - darauf können
wir stolz sein - einen Weltmarktanteil von 60 Prozent.
({16})
- Es macht richtig Eindruck in China und Indien, wenn
wir uns jetzt in diesem Hause darüber streiten, wer nun
„wir“ ist.
({17})
Freuen wir uns jetzt doch gemeinsam darüber, dass wir
bei der Windenergie einen Weltmarktanteil von 60 Prozent haben. Ob das nun ein Gesetz war, das noch von
dem Kollegen Austermann, der heute in Schleswig-Holstein Minister ist, gemacht wurde, oder ob es von den
Nachfolgern gemacht wurde: Tatsache ist, wir sind erfolgreich. Darüber freuen wir uns jetzt einfach mal zehn
Sekunden lang, meine Damen und Herren.
({18})
Um das alles durchsetzen zu können, müssen wir im
Übrigen den Wettbewerbsgedanken in Europa stärken,
das heißt den Binnenmarkt im Strom- und Gasbereich
durchsetzen. Wir erleben gerade in diesen Tagen wieder,
dass das gar nicht so einfach ist.
Wenn die Sitzung des Europäischen Rats in der
nächsten Woche erfolgreich ist, werden wir einen Energieaktionsplan verabschieden. Das wird die erste gemeinsame, über Jahre hinaus verpflichtende europäische
Antwort auf die Herausforderungen der Energiepolitik
sein. Ich finde, das ist ein wichtiger und guter Schritt.
({19})
Wenn wir die Klimaschutzziele so vereinbaren, wie wir
es jetzt vorhaben, dann werden wir für unsere G-8-Präsidentschaft sowie die Gespräche auf dem EU-AmerikaGipfel und auf dem EU-Russland-Gipfel die Voraussetzung dafür haben, dass Europa Vorreiter wird und damit
im Bereich Klimaschutz beispielgebend ist.
Ich will hinzufügen: Ich weiß, dass in der Europäischen Union nur 15 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen ausgestoßen werden. Es ist klar, dass Europa es
nicht allein schaffen wird - deshalb muss es gelingen,
andere zu überzeugen -, das Klimaproblem zu lösen. Für
mich ist aber auch klar: Wenn wir in Europa zeigen können, dass Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit,
Ökonomie und Ökologie, keine Gegensätze sind, dann
wird uns das die Technologieführerschaft, die Innovationsführerschaft auf diesem Gebiet einbringen. Damit
zeigen wir gleichzeitig, dass wir unserer Verantwortung
für die Welt gerecht werden. Diese Chance sollte Europa
nutzen. Damit können wir bei den anderen werben.
({20})
Wir alle wissen: Europa reduziert sich nicht auf
Richtlinien, Beschlüsse über Milchkühe, Olivenhaine
und Chemikalien. Die Fähigkeit der 27 Mitgliedstaaten,
sich in Einzelfragen immer wieder auf Kompromisse zu
einigen, beruht auf der Tatsache, dass uns ein gemeinsames Verständnis, ein gemeinsames Wertefundament
eint. Wir müssen dieses Europa aus der Perspektive der
Bürgerinnen und Bürger, der Menschen, denken. Deshalb wollen wir die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag
der Römischen Verträge am 24. und 25. März dazu nutzen, dieses Wesensmerkmal Europas in der Berliner Erklärung deutlich zu machen, und zwar zum einen durch
die Benennung dessen, was gelungen ist, zum anderen
aber auch durch die Benennung der Aufgaben für das
21. Jahrhundert.
Wir wissen - ich glaube, das ist richtig so -, dass die
Frage, wie es nach dem Ende unserer Präsidentschaft mit
dem Verfassungsvertrag weitergeht, für unsere Präsidentschaft, vor allen Dingen aber für die Zukunft der Europäischen Union wesentlich ist. Sie wird auch darüber
entscheiden, wie wir in die Europawahlen 2009 gehen.
Wir wissen, die gemeinsame Zukunft der Europäischen
Union lässt sich nicht mit dem Vertragswerk von Nizza
gestalten. Wir brauchen einen Vertrag, der die regionale,
die subsidiäre Verantwortung stärker benennt, der Europa institutionell handlungsfähig macht, der deutlich
macht, was die Europäische Union eint. Deshalb werden
wir bis zum Juni an dem Fahrplan, wie es mit dem Verfassungsvertrag weitergeht, zu arbeiten haben. Erste
Konsultationen zeigen, dass es bei allen Schwierigkeiten
eine breite Zustimmung für die Auffassung gibt, dass
wir ein Zeichen setzen müssen, dass diese Europäische
Union handlungsfähig ist.
Die Bundesregierung wird alles daransetzen, das in
ihrer Kraft Liegende dafür zu tun;
({21})
denn wir wissen: Europa ist unsere Zukunft. Globaler
Handel, Umweltschutz, illegale Migration und internationale Sicherheitsfragen - all das können Nationalstaaten heute nicht mehr alleine bewältigen. Kaum ein Politikbereich - das spüren wir auch im Bundestag - ist von
den internationalen Implikationen unberührt.
Weil das so ist, wünsche ich mir: Bleiben wir Europäer uns trotz aller Probleme und Schwierigkeiten der
überaus großen Zukunftschancen, die diese Europäische
Union hat, bewusst! Seien wir uns bewusst, dass es an
uns liegt - so, wie es vor 50 Jahren den Gründungsvätern
der Europäischen Union gelungen ist -, dadurch, dass
wir über den Tellerrand hinausschauen und die wesentlichen Herausforderungen unseres Jahrhunderts sehen, die
europäische Erfolgsgeschichte der letzten 50 Jahre in
den nächsten 50 Jahren fortzuschreiben, um das zu
schaffen, was heute zum großen Teil bereits geschaffen
worden ist: einen Raum des Friedens, der Freiheit, der
Sicherheit und des Wohlstands. Dafür lohnt es sich zu
arbeiten.
Herzlichen Dank.
({22})
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Vorsitzende der FDPFraktion, Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, zunächst
einmal viel Erfolg für die Bewältigung der herausragenden Aufgabe, die Sie vor sich haben, wünschen. Um es
gleich vorab zu sagen: Dass Ihre Präsidentschaft, dass
die Präsidentschaft Deutschlands in der Europäischen
Union Erfolg hat, liegt nicht nur im Interesse der Regierungsfraktionen, sondern es ist ein nationales Interesse
und ein Interesse des ganzen Hohen Hauses.
({0})
Natürlich sind Regierungserklärungen der Regierungschefin davon getragen, dass sie nicht in allem konkret
sein können. Das ist ganz selbstverständlich. Zu dem,
was Sie vorgetragen haben, wird es aller Voraussicht
nach eine ganz überragende Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg in diesem Hohen Hause geben. Ihre
Ausführungen hatten einen solchen Konkretisierungsgrad, dass das ganze Hohe Haus dem nur zustimmen
kann.
Aber das Entscheidende ist das, was nicht angesprochen worden ist. Darüber müssen wir reden. Sie haben
zu Beginn Ihrer Präsidentschaft, Anfang des Jahres, zu
Recht darauf hingewiesen, wie notwendig es ist, dass wir
den Verfassungsprozess wieder in Gang setzen. Dabei
unterstützen wir Sie. Sie haben hier davon gesprochen,
dass ein Fahrplan notwendig ist, und Ihren Optimismus
gezeigt, dass wir in der Lage sein werden, in Europa einen gemeinsamen Fahrplan zu finden. Dafür wünschen
wir Ihnen viel Erfolg.
Aber bevor man einen Fahrplan findet, muss man erst
einmal entscheiden, welcher Zug nach diesem Fahrplan
fahren soll. Das heißt, welchen Verfassungstext wollen
wir eigentlich durchsetzen? Wie ist die deutsche Haltung bei diesen Verhandlungen? Wollen wir den alten
Verfassungstext weiter forcieren? Setzen wir auf einen
kürzeren Verfassungstext? Wollen wir uns darauf konkretisieren, einige wesentliche Kernpunkte dieses Verfassungstextes in Europa durchzusetzen? Von der Präsidentschaft der Deutschen in Europa erwarten wir,
damit der Verfassungsprozess Erfolg hat, dass die Regierung selber weiß, was am Schluss herauskommen
soll. Ein Fahrplan ist zu wenig; Inhalt ist gefragt.
({1})
Einen Bereich, den ich ansprechen möchte, haben Sie
in Ihrer Regierungserklärung völlig ausgespart. Er macht
meiner Fraktion große Sorgen; ich bin ganz sicher, auch
denjenigen aus anderen Fraktionen, die an der Sicherheitskonferenz in München teilgenommen haben. Es
geht um die Diskussion über die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik Europas. Die Frage muss doch
lauten: Ist die Gefahr nicht erheblich und groß, dass die
Ankündigungen Tschechiens, Polens und der Vereinigten Staaten von Amerika, ein Raketenabwehrsystem in
Polen und Tschechien zu stationieren, zu einem neuen
Rüstungswettlauf führen können? Das ist nicht die bilaterale Angelegenheit von Tschechien und Polen einerseits und den Vereinigten Staaten von Amerika andererseits. Das ist eine europäische Frage, eine Frage unseres
Bündnisses. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie uns erklären, was Ihre Initiativen sein werden, damit hier keine
Spirale eines neuen Rüstungswettlaufs entstehen kann.
Das ist europäisches Interesse. Die Äußerungen des
tschechischen Außenministers, man sei ein souveräner
Staat und die Sowjetunion sei untergegangen, sind - mit
Verlaub - zu uneuropäisch und zu kurz gesprungen.
({2})
Wir werden uns mit dieser Frage mehr als einmal auseinandersetzen müssen. Auch wenn das eine Angelegenheit ist, die vielleicht nur am Rande der Tagesordnung in
Brüssel am 8. und 9. März zu beraten sein wird: Sie ist,
Frau Bundeskanzlerin, von herausragender Bedeutung!
Es reicht auch nicht aus, dass die Vereinigten Staaten
von Amerika durch ihre Außenministerin mitteilen, man
habe Russland schließlich darüber informiert. Das ist
nicht das, was man braucht. Das Mindeste, was man erwarten kann, ist eine Konsultation. Die Reaktionen auf
die Rede, die Präsident Putin in Deutschland gehalten
hat, verwundern mich durchaus - genauso wie der Grad
der Erregung. Ich stelle mir umgekehrt die Frage, wie
wohl die Reaktionen in den Vereinigten Staaten von
Amerika wären, wenn Russland planen würde, ein solDr. Guido Westerwelle
ches Raketenabwehrsystem vor den Toren Washingtons,
zum Beispiel auf Kuba, zu stationieren.
({3})
Natürlich wäre auch das keine Angelegenheit, die nur
Kuba und die russische Führung betreffen würde, sondern das wäre eine globale Frage.
Frau Bundeskanzlerin, meines Erachtens muss sich
die deutsche EU-Ratspräsidentschaft mit diesem Thema
beschäftigen; der Bundesaußenminister hat dazu bereits
ein paar Bemerkungen gemacht. Ich frage Sie: Wie ist
die Haltung der Deutschen? Deutschland hat die EUPräsidentschaft übernommen. Das heißt, dass wir auch
in dieser Frage führen müssen. Wir Liberalen jedenfalls
wollen an dem Ziel einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas festhalten und wehren uns dagegen, dass es zu einer Spaltung der Europäischen
Union bzw. des westlichen Bündnisses kommt, indem
Länder gegeneinander ausgespielt werden.
({4})
Ich will es mir ersparen, an dieser Stelle Ihre Ausführungen zum Wirtschaftswachstum zu wiederholen. Nur
ein kurzer Hinweis: Alle Zahlen zum Wachstum in der
Europäischen Union, die Sie vorgetragen haben, belegen
eines: dass Deutschland immer noch hintansteht. Die
Daten zum durchschnittlichen Wirtschaftswachstum in
der Europäischen Union, die Sie selbst genannt haben,
sind - mit Verlaub - Anlass zur Sorge. In Wahrheit holen
wir nicht auf, sondern wir fallen etwas weniger schnell
zurück. Das ist die reale Lage. Die anderen Länder in
Europa wachsen viel schneller als Deutschland. Daher
kann man nicht sagen, dass Deutschland aufholt. Das
mag die Partystimmung der Regierung stören, aber es
gehört zu einer nüchternen Analyse dazu. Die Konjunkturkrise ist hoffentlich vorbei. Wenn wir aber meinen,
damit sei auch die Strukturkrise in Deutschland gelöst,
dann wird uns die nächste Konjunkturkrise doppelt hart
treffen.
({5})
Schließlich möchte ich das, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, zur Energiepolitik gesagt haben, aufgreifen.
Die ehrgeizigen Ziele, die Sie in diesem Bereich formuliert haben, werden meiner Einschätzung nach vom ganzen Hause mitgetragen. Das gilt ausdrücklich auch für
die Maßnahmen, die Sie im Hinblick auf die Steigerung
der Energieeffizienz vorgeschlagen haben. Wer wollte
hier ernsthaft widersprechen? Das sind für nachdenkende Menschen eigentlich Selbstverständlichkeiten.
({6})
- Ja, das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten.
({7})
- Herr Kollege Trittin, das, was Sie so alles sagen, ist sicherlich immer richtig - und überhaupt.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
keine Lust, nur über Gemeinsamkeiten zu sprechen und
dafür meine Redezeit zu verbrauchen. Entscheidend ist
nämlich ein anderer Punkt, den Sie allerdings nicht angesprochen haben - darauf möchte ich hinaus -: der Klimawandel. Die entscheidende Frage in der Energiepolitik sparen Sie in Ihren Antworten aus, nämlich: Steigt
Deutschland entgegen dem, was in allen anderen Ländern der Welt getan wird, wirklich aus der Kernenergie
aus oder nicht?
({9})
Dazu sagen wir: Wer den Klimawandel bekämpfen will
und dann beschließt, dass Deutschland in einem nationalen Alleingang aus der Kerntechnologie, die hierzulande
eine Spitzentechnologie ist, aussteigt, der verschlechtert
die Umweltlage, der vergrößert unsere Abhängigkeit von
ausländischen Energielieferungen
({10})
und der schadet den wirtschaftlichen Perspektiven
Deutschlands.
({11})
Man muss erwarten können, dass Sie sich nicht um die
Antwort auf diese Frage herummogeln, sondern etwas
dazu sagen. Sie müssen zumindest darlegen, wie Sie auf
europäischer Ebene handeln werden. Wie werden Sie sich
auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm verhalten, wenn die
Vertreter aller anderen Länder sagen, dass sie die Kernkraft ausbauen? Derzeit sind weltweit 160 Kernkraftwerke
in Planung. In diesen Ländern weiß man, dass man vernünftig handelt, wenn man eine Form der Energiegewinnung praktiziert, durch die der Klimawandel nicht befördert wird.
Diese Fragen haben Sie heute ausgespart. Darauf hätten wir uns allerdings viel konkretere Antworten gewünscht. In der Energiepolitik den Zeigefinger zu erheben, in Wahrheit aber durch den Ausstieg aus der
Kerntechnologie, die in Deutschland eine Spitzentechnologie ist, den Klimawandel zu befördern, das ist ein
Widerspruch in sich. In dieser Frage wird Ihnen die liberale Opposition in diesem Hause widersprechen.
({12})
Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege
Kurt Bodewig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede meines Vorredners begann so konstruktiv, da war
ich eigentlich schon zuversichtlich, dass wir Europa gemeinsam gestalten. Dann kam aber leider wieder die übliche Mäkelei der Liberalen.
Zum letzten Thema will ich sagen: Herr Westerwelle,
ich habe noch sehr genau in Erinnerung, wie das war, als
die Diskussion über die erneuerbaren Energien begann:
Die waren für Sie anfangs noch keine Selbstverständlichkeit. Vielleicht sollten wir uns häufiger an frühere
Debatten erinnern. Auf das Thema „erneuerbare Energien“ wird mein Kollege Ulrich Kelber nachher etwas
näher eingehen. Deswegen will ich meine Redezeit auf
andere Themen verwenden.
Ich möchte mich erst einmal bei der Bundeskanzlerin
dafür bedanken - sie hört jetzt nicht zu; aber der Dank
gilt trotzdem -, dass sie sich so darum bemüht, den sensiblen Verfassungsprozess wieder in Gang zu bringen,
und mein Dank schließt den Bundesaußenminister ausdrücklich mit ein. Ich glaube, diese sensible Konsultation ist genau der richtige Weg. Denn wenn wir schon
heute Vorgaben beschreiben, welche Schritte zu gehen
sind, werden wir nicht zu einem Ergebnis kommen.
({0})
Ich glaube, dass sich in diesen acht Wochen der deutschen Ratspräsidentschaft in der Verfassungsfrage mehr
bewegt haben wird als in der zweijährigen Reflexionsphase.
({1})
Dass Deutschland Motor für Bewegung in Europa ist
- und dabei sollte es bleiben -, ist übrigens ein Grund,
stolz zu sein. Das ist auch auf bestimmte andere Äußerungen die richtige Antwort.
Damit komme ich zu einem zweiten Punkt meines
Vorredners. Er sollte zur Kenntnis nehmen, dass Studien
zufolge - wie der vom Research Center der Allianz Deutschland bei der Produktivität die USA eingeholt, in
bestimmten Bereichen sogar überholt hat. Wir haben die
Neigung, solche innovativen Leistungen eher zurückhaltend zu beurteilen. Das ist die deutsche Selbstbefindlichkeit, eigene Erfolge nicht benennen zu wollen. Das führt
aber nicht weiter und stärkt uns nicht. Deshalb ist es nötig, festzuhalten: Wir haben in Europa Maßstäbe gesetzt.
Das Topthema Energie auf dem Frühjahrsgipfel wird
zeigen: Deutschland ist bei den erneuerbaren Energien
mittlerweile Weltmarktführer. Es war also richtig, dass
wir mit ihrem Ausbau frühzeitig begonnen haben. Dabei
gehören die traditionellen Industrien, die traditionellen
Kraftwerke, aus meiner Sicht keineswegs zur Altindustrie, sondern sie sind ebenfalls Hightech. Wenn wir etwa
mit BoA den Wirkungsgrad um 50 Prozent erhöhen können, dann sind wir auch da weltmarktfähig, und das wird
sich bis hin auf Märkte wie China und Indien auswirken.
Zur Lissabonstrategie. Es ist ganz wichtig, dass wir
unsere Linie - die Trias aus Nachhaltigkeit, Sozialverpflichtung und Wettbewerbsfähigkeit - beibehalten. Keiner dieser drei Punkte kann für sich alleine stehen, nur in
dieser Kombination wird Europa sich entwickeln. Wir
haben in der EU seit Verabschiedung der Lissabonstrategie - namentlich nach der Neufokussierung 2005 wurde
dies deutlich verstärkt - 8 Millionen neue Stellen. Wir
haben zwar immer noch 17 Millionen Arbeitslose in Europa - immer noch zu viele Arbeitslose -; aber dass
Maßnahmen wie das Nationale Reformprogramm ihre
Wirkung zeigen, ist erkennbar.
({2})
- Da darf man gerne klatschen.
Ich sage als Sozialdemokrat natürlich auch: Die
Agenda 2010 - so schwierig sie war und so schmerzhaft
sie in Teilen war - zeigt jetzt Wirkung. Auch ihr verdanken wir die real 300 000 neuen Arbeitsplätze, die im vergangenen Jahr entstanden sind.
({3})
Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt eingehen. Innovation in Deutschland heißt Hightech. Sie heißt
aber auch: eine breite Qualifikation. Um das duale System, das wir in Deutschland haben, beneiden uns alle anderen Mitgliedstaaten der EU. Wir sollten es nicht aufgeben. Es ist übrigens die Basis dafür, dass wir auch an
anderen Stellen weiterkommen, etwa bei der Exzellenzinitiative - einer großen Leistung -, beim Pakt für Forschung und Innovation, bei der Hochtechnologiestrategie
und natürlich beim 3-Prozent-Ziel, das wir gemeinsam
vereinbart haben und das wir erreichen werden.
An die FDP gerichtet, will ich sagen: Was uns in der
Europafrage unterscheidet, ist, dass wir die Menschen
mitnehmen wollen. Die Bolkestein-Richtlinie hat sehr
deutlich gemacht, was Ihre Vorstellung von Freiheit in
Europa angerichtet hat. Die Referendumsergebnisse resultieren zum Teil auch aus einem solchen Europaverständnis. Wir wollen die Menschen mitnehmen, und wir
wollen ein soziales Europa.
({4})
Ich habe deshalb die Bitte an die Bundeskanzlerin, die
Kernbotschaften des Ministerrats für den Bereich Arbeit
und Soziales aufzugreifen. Gerade beim Frühjahresgipfel geht es um das Thema „Flexicurity“, das heißt eine
größere Flexibilität, die aber mit einer angemessenen
Beteiligung und Arbeiternehmerrechten verbunden ist.
Flexibilität und Sicherheit beim Übergang zwischen
den verschiedenen Abschnitten der Arbeit halte ich für
den entscheidenden Punkt. Wir müssen im Beschäftigungsbereich einen am Lebenszyklus orientierten Ansatz schaffen und den Fokus verstärkt auf die Menschen
richten, die am Rande des Arbeitsmarktes stehen.
Nicht zuletzt steht die Europäische Union vor einer
ungeheuren Herausforderung durch die demografische
Entwicklung. Wir müssen die damit verbundenen Fragen
jetzt beantworten. Dazu gehört auch die Anpassung der
Rentensysteme an die Notwendigkeiten, die wir zu vollziehen haben. Es geht aber auch um die Gesundheitsvorsorge und Langzeitpflege in einer alternden Gesellschaft.
Dies sind sehr wichtige Themen. Wir arbeiten permanent
an den Antworten und haben schon viele wichtige
Schritte vollzogen.
Ich danke dem Vizekanzler für seine besondere Fokussierung auf den Begriff „gute Arbeit“. Das ist nicht
nur dahergesagt. Es geht darum, dass ein normales
Arbeitsverhältnis den Menschen wieder die Sicherheit
bietet, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, ihr
Leben zu gestalten und die Existenzfähigkeit ihrer Familien zu gewährleisten.
({5})
Dazu gehört auch ein fairer Lohn.
Es geht auch darum, diese Formen eines sozialen Verständnisses in der EU weiterzuentwickeln. Es gibt nicht
das europäische Sozialmodell; vielmehr ist ein europäisches Sozialmodell als gemeinsame Konstruktion im
Werden, in dem Versuch, uns in Europa auf bestimmte
Grundsätze - wie ausgeprägte Systeme der sozialen Sicherheit, eine funktionierende Sozialpartnerschaft, klare
Regeln des Arbeitsschutzes, gute Bildungssysteme, eine
Politik gegen soziale Ausgrenzung und klare Regelungen für Gleichbehandlung - zu einigen. Wir sind hierbei
ein großes Stück weitergekommen und werden die Bemühungen weiter forcieren.
Bei dem Frühjahrsgipfel geht es um ein weiteres
Thema, nämlich die Wettbewerbsfähigkeit. Dazu gehören Innovationen, Technologieentwicklungen, aber auch
eine bessere Rechtsetzung. Auch das unterstützen wir.
Die Ziele sind zwar ambitioniert, aber erreichbar: Vereinfachung bestehender Rechtsvorschriften, systematischer
Einsatz von Folgeabschätzung, Messen der bürokratischen Belastungen und Reduktion der Verwaltungslast
um 25 Prozent bis 2012. Aber ich füge gleich hinzu: Dies
darf nicht als Hintertür zum Abbau von Standards dienen.
({6})
Über die Standards muss in einer politischen Diskussion
beraten und entschieden werden. Insofern warne ich vor
einer Fehlentwicklung.
({7})
Das europäische Sozialmodell ist sicherlich für uns
alle wichtig, weil es sich positiv von anderen globalen
Zentren dieser Welt unterscheidet und weil wir damit die
Voraussetzungen und eine Basis dafür schaffen, Europa
auch aus der Sicht anderer Kontinente attraktiv zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist die eben von mir beschriebene Trias zu sehen.
Wir sollten versuchen, diese starke gemeinsame Basis
in Europa in Sachen Forschung und Technologieentwicklung, Innovation und sozialen Zusammenhalt mit
einem Prozess zu verbinden, der Europa stärker zusammenführt. Damit komme ich zurück zur Verfassungsdiskussion.
Die Berliner Erklärung - sie wird einen Rückblick
bieten, aber vor allem in die Zukunft weisen - kann uns
erste Anhaltspunkte dafür geben, wie der Prozess wieder
in Gang gesetzt werden kann und wie sich die Zukunft
gestaltet. Unser aller Bemühen - das gilt für die Regierung, die Mitglieder in den Räten, aber auch für die Parlamentarier - ist, dass dieser ins Stocken geratene Prozess erneut in Bewegung gesetzt wird. Das heißt, wir
versuchen, in diesem Prozess gemeinsam dafür zu werben, dass ein Europa nach den Regeln von Nizza nicht
existenzfähig ist. Europa wird die globale Wettbewerbssituation mit den sich neu bildenden Zentren der Welt
- aber auch mit den alten - nicht gewinnen können. Aus
diesem Grund liegt eine besonders große Verantwortung
bei uns. Diese sollten wir alle wahrnehmen.
Ich freue mich, dass die Bundesländer in einem gemeinsamen Papier diese Weiterentwicklung ebenfalls
dokumentiert haben. Ich hätte mir zwar etwas mehr gewünscht - wohl wissend, dass die süddeutschen Bundesländer etwas zurückhaltender waren -, aber ich glaube,
dass dieses Papier der Bundesländer eine gute Basis ist.
Wir sollten weiter daran arbeiten.
Im Zusammenhang mit dem europäischen Prozess
fallen mir einige Zeilen eines englischen Songs ein, der
eine gewisse Leichtigkeit des Seins wiedergibt: „Yesterday is history, tomorrow is mystery“. Auf Deutsch: Gestern ist Geschichte, das Morgen ist ein Geheimnis, ein
Rätsel. - Wir können das konkret beantworten: Europa
ist heute. Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihnen, Herr
Bundesaußenminister, wünsche ich eine glückliche
Hand beim anstehenden Gipfel.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich vier Punkten zuwenden, die in der
heutigen Debatte angesprochen wurden. Der erste Punkt
betrifft den europäischen Verfassungsentwurf. Ich finde,
dass der Vorsitzende der FDP-Fraktion recht hat, wenn
er sagt: Es genügt nicht, nur darüber zu reden, dass man
den Verfassungsprozess erneut beleben will oder den
Verfassungsentwurf befördern will. Vielmehr müssen
wir uns über die Ziele verständigen. Es ist ebenfalls richtig, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Bundeskanzlerin über die Ziele wenig gesagt hat. Dabei wären
breitere Ausführungen angesichts der Tatsache notwendig gewesen, dass der Verfassungsentwurf, sofern er einer Volksabstimmung wie in Frankreich und den Niederlanden unterworfen wurde, zurückgewiesen wurde. Wir
würden uns als Parlament einen Gefallen erweisen,
wenn wir sagten: Wenn wir eine Verfassung auf den Weg
bringen, dann wollen wir auch die Bevölkerung einbeziehen. Ein Europa über die Köpfe der Bevölkerung hinweg ist nicht das Europa, das die Linke will.
({0})
Deshalb bedauere ich es, dass einfach so getan wird,
als läge es nur in der Kompetenz der Parlamente oder der
Regierungen, einen Verfassungsentwurf zustande zu
bringen. Wer den wirklichen Sinn eines Verfassungsentwurfs erfasst und weiß, wie Verfassungen konstituiert
sein müssen, wenn sie denn von der Gesellschaft akzeptiert werden sollen, der weiß, dass wir nun zu dem Punkt
gekommen sind, an dem man sagen muss: Ohne Volksabstimmung geht es nicht. Wer die Volksabstimmung
aussetzt oder erst gar nicht ins Auge fasst, wird in Europa nicht vorankommen und wird die Völker Europas
immer wieder gegen sich haben.
({1})
Der zweite Punkt, den der Kollege Westerwelle angesprochen hat - ich fand es wichtig, dass er das getan hat -,
war die europäische Außenpolitik. Natürlich stimme ich
ihm voll zu, wenn er darauf hinweist, dass die Raketenstationierung in Tschechien und Polen nicht allein eine
Angelegenheit dieser beiden Länder und Russlands ist.
Es ist richtig, dass wir darauf bestehen müssen, dass die
europäische Außenpolitik nur dann erfolgreich sein
kann, wenn sie koordiniert ist, wenn sie wirklich europäisch verfasst ist. Daher geht es nicht, dass einzelne Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder die Vereinigten Staaten Alleingänge starten, in die die anderen gar
nicht einbezogen wurden. Wir lehnen eine solche Vorgehensweise ab.
({2})
Ich möchte dieser Betrachtung über die Raketenstationierung noch etwas hinzufügen. Europa muss an einer
Stelle einen anderen Weg gehen als die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Stelle ist klar zu markieren. Es
geht um die Beachtung des Völkerrechts. Den ständigen Versuch der Vereinigten Staaten, das Völkerrecht je
nach Belieben zu ignorieren, darf Europa nicht unterstützen. Hier braucht Europa eine ganz andere Außenpolitik.
({3})
Der Bruch des Völkerrechts ist praktisch eine Konstante
der Außenpolitik der Vereinigten Staaten in den letzten
Jahren. Dabei geht es nicht nur um Verschleppung und
Folter, sondern schlicht und einfach um eine Art der
Kriegsführung - darüber wurde gestern schon debattiert -,
bei der die Genfer Konventionen nicht beachtet werden.
Es geht nicht nur darum, wie ein Redner der SPD gestern
gemeint hat, dass der UNO-Sicherheitsrat eine Ermächtigung erteilt. Vielmehr sind die Genfer Konventionen
ein genauso wichtiger Bestandteil des Völkerrechtes. Es
ist nicht akzeptabel, dass Deutschland etwa durch die
Entsendung von Tornados bei einer Kriegsführungsstrategie mitmacht, durch die viele unschuldige Zivilisten
ums Leben kommen. Das verstößt gegen die Genfer
Konventionen und ist schlicht und einfach völkerrechtswidrig.
({4})
Aus zeitlichen Gründen kann ich bei diesem Thema
nicht länger bleiben.
Ich komme nun zum Thema des europäischen
Sozialstaates. Das ist so wunderbar dahergesagt, aber,
Frau Bundeskanzlerin, Ihr Bekenntnis zum europäischen
Sozialstaat ist durch nichts, aber auch gar nichts gerechtfertigt, wenn ich die Praxis Ihrer Regierung sehe.
({5})
Man kann allenfalls mildernd sagen, dass Sie vielleicht
die Folgen dieser Praxis nicht hinreichend im Auge haben. Deshalb will ich zwei Punkte herausgreifen, einmal
das permanente Lohndumping, das von Deutschland betrieben wird, und zum anderen das permanente Steuerdumping, in dem Deutschland führend ist.
({6})
Alle Worte über den europäischen Sozialstaat sind
Schall und Rauch, wenn man Lohn- und Steuerdumping
betreibt, und nichts anderes macht die Bundesrepublik
Deutschland.
({7})
Nun will ich Ihnen die Zahlen nennen. Sie sind erschütternd. Das ist nicht zum Lächeln, Frau Bundeskanzlerin.
Vielleicht hören Sie einmal eine Sekunde zu!
({8})
Es war zumindest in den Parlamenten, in denen ich die
Ehre hatte, Mitglied zu sein, üblich, dass man bei einer
Debatte, die man selber eröffnet hat, zuhört.
({9})
- Sie können ruhig lärmen, meine Damen und Herren.
Wenn Sie diese selbstverständlichen Regeln nicht mehr
akzeptieren wollen, dann tun Sie mir nur noch leid.
({10})
Ihr Lohndumping lässt sich markieren. Während in
Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn Jahren in
der Summe um 5,1 Prozent gesunken sind, haben sie
sich woanders kräftig nach oben bewegt: in der Schweiz
um 4,0 Prozent bewegt, in Frankreich um 10,2 Prozent,
in den Vereinigten Staaten um 22,7 Prozent, in England
um 23,4 Prozent und in Schweden um 28,5 Prozent.
Über zehn Jahre saldiert, haben sich die Löhne in diesen
Ländern real um weit über 30 Prozent besser entwickelt
als in Deutschland.
({11})
- Dass Sie von der SPD angesichts dieser Zahlen lachen,
zeigt, wie verkommen Sie mittlerweile sind. Das muss
ich einmal deutlich sagen.
({12})
Wenn ein solches Lohndumping bei Ihnen nur noch zu
Lachen führt, dann sollten Sie überprüfen, ob Sie noch
den richtigen Parteinamen führen. Da wäre wirklich eine
Reflexion angesagt.
({13})
Wenn man sich vor Augen hält, dass die Lohnentwicklung im Vergleich zu Schweden bei uns um über ein
Drittel zurückgeblieben ist, und wenn man sich vorstellt
- das sage ich angesichts der Situation in diesem Hause
an die Zuhörerinnen und Zuhörer gerichtet -, dass in
Deutschland die Löhne oder die Renten saldiert über die
letzten zehn Jahre derzeit um 33 Prozent real höher sein
könnten, dann kann man ermessen, in welchem Umfang
dieses Lohndumping hier in Deutschland und Europa
Schaden angerichtet hat.
({14})
Ich sage noch einmal: Dieses Lohndumping gefährdet
die Europäische Währungsunion. Sie werden das wahrscheinlich erst merken, wenn es so weit ist, aber dann ist
es zu spät; denn heute können die Staaten, die früher mit
Abwertung ihrer Währung auf das deutsche Lohndumping reagieren konnten, nicht mehr reagieren. Eines Tages wird es dann so weit sein, dass die Europäische
Währungsunion - ich erinnere nur einmal an die Lohnstückkosten in Spanien, Italien oder Portugal - so verzerrt ist, dass die Währungsstabilität nicht mehr gegeben
ist. Ich erwähne das immer wieder, damit es zumindest
im Protokoll zu finden ist.
Nun komme ich zum Steuerdumping. Auch hier sind
Sie leider führend. Die nominalen Sätze der Körperschaftsteuer in der EU der 15 wurden in den letzten zehn
Jahren um 10 Prozent gesenkt, in Deutschland um
18,5 Prozent. Wir sind also beim Steuerdumping Vorreiter in der Europäischen Union. Auch wenn man die
Durchschnittssteuersätze nimmt, die ab und zu von Instituten ermittelt werden, dann ergibt sich für die EU
der 15 ein Minus von 11 Prozent in den letzten Jahren
und für Deutschland ein Minus von 16 Prozent. Wenn
man sich angesichts dieses Sachverhalts dann noch vor
Augen führt, dass Sie, meine Damen und Herren von der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, noch eine
weitere Unternehmensteuersenkung ins Auge fassen, um
das Steuerdumping noch weiter anzuheizen, dann ist das
Gerede vom europäischen Sozialstaatsmodell blanker
Zynismus.
({15})
Der Hintergrund ist der, dass der Faktor Arbeit nicht
beweglich ist und man daher über Lohndumping und
über die Steuer- und Abgabenlast die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer weiter belasten kann, während die beweglichen Faktoren, insbesondere das Geld
und das Kapital, sich der Besteuerung entziehen können.
Das Ergebnis ist genau das, was ich Ihnen hier vorgetragen habe. Deshalb möchte ich dringend dazu raten, dieses Lohndumping und dieses Steuerdumping aufzugeben. Alle hehren Worte, die hier gefallen sind, haben
überhaupt keinen Bezug zur Realität, solange diese Entwicklung mit diesen nüchternen und harten Zahlen, die
international abrufbar sind, anhält. Nichts davon hat
überhaupt eine Grundlage oder irgendeine Realität.
Nun komme ich zum letzten Thema, der Energiepolitik. Es ist richtig, dass Anstrengungen unternommen
worden sind. Deutschland hat - ich habe dies schon öfter
öffentlich gesagt - in den letzten Jahren bei den erneuerbaren und regenerativen Energien eine positive Entwicklung genommen. Diesen Weg sollten wir weitergehen.
Nicht mit Ruhm bekleckert haben wir uns aber, was
die Vermeidung von CO2-Emmissionen angeht. Das gilt
auch und gerade für Sie, Frau Bundeskanzlerin. Sie sind
an dieser Stelle zu wenig ehrgeizig. Es ist nicht notwendig, vor der Automobilindustrie Kniefälle zu machen.
Wir können an ehrgeizigen Zielen bei der CO2-Reduktion, die wir uns einmal gesteckt haben, durchaus festhalten.
({16})
Wir sollten auch an dem Ziel festhalten - das sage ich
für meine Fraktion -, die CO2-Reduktion bis zum
Jahr 2020 um 40 Prozent zu senken. Wir in Deutschland
haben die Technologie und die finanzielle Kraft, eine
solche Umweltpolitik zu machen. Wenn wir bei diesen
Techniken nicht ganz vorne sind, dann können wir von
anderen Staaten nicht erwarten, dass sie mitziehen. Deshalb halten wir an diesem Ziel fest.
({17})
In einem Punkt möchte ich einen Dissens zu dem Beitrag des Kollegen Westerwelle deutlich machen. Er hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass die CO2-Reduktion
ein vorrangiges Ziel ist; gleichzeitig hat er auf die Nutzung und den Ausbau der Kernenergie hingewiesen. Ich
halte dies für verfehlt. Für mich gilt nämlich nach wie
vor: CO2 ist zwar eine große Belastung; aber Alpha-,
Gamma- und Betastrahlen sind nicht irgendwelche
harmlosen Stoffe, auch wenn sie derzeit kein Problem
sind und man sie nicht fühlen, schmecken oder riechen
kann - von dem Zusammenhang der sogenannten zivilen
atomaren Wirtschaft mit der militärischen atomaren
Aufrüstung einmal ganz abgesehen. Wenn man den CO2Ausstoß dadurch bekämpfen will, dass man die Atomindustrie ausbaut, dann ist das, als würde man versuchen,
den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Das sollten
wir nicht.
({18})
Wir müssen an dem Ausbau der erneuerbaren Energien festhalten. Ich habe darauf verwiesen - das ist ein
Plus der rot-grünen Regierung; das möchte ich hier einmal ansprechen -, dass an dieser Stelle in den letzten
Jahren einiges geleistet worden ist. Wir müssen nach wie
vor im Auge haben, über Preise beispielsweise den Energieverbrauch zu steuern. Dieser Satz stellt sich ganz anders dar, wenn man sich bewusst macht, dass die Reallöhne in Schweden um fast 30 Prozent gestiegen sind,
während sie hier um 5 Prozent gesunken sind. Daher ist
bei uns Preissteuerung praktisch nicht mehr möglich;
schließlich kann man Rentner und Arbeitnehmer mit
niedrigem Einkommen auf diese Weise zu umweltgerechtem Verhalten gar nicht anhalten.
Wir werden an unserem Ansatz festhalten. Wir werden ihn aber stets mit einem sozialpolitischen Ansatz
verbinden. Eine Preissteuerung auf der Energieseite setzt
beispielsweise voraus, dass eine gesunde Lohn- und
Rentenentwicklung, vergleichbar mit der in anderen
Staaten, stattfindet. Wenn man die eine oder andere Entscheidung trifft - ich denke an die Pendlerpauschale -,
sollte man stets die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer im Auge haben, die aufgrund ihrer niedrigen
Löhne nicht ausweichen können. Umweltschutz ist dringend erforderlich; aber der Umweltschutz muss mit dem
Sozialen verbunden werden. Wir wollen daher ein europäisches Sozialmodell, das sich dem Umweltschutz stärker zuwendet.
({19})
Wir wollen nicht, Herr Kollege aus der ersten Reihe,
dass hier hehre Worte gefunden werden; vielmehr muss
Deutschland endlich die verfehlte Politik des Lohndumpings, des Steuerdumpings und temporär auch des Umweltdumpings aufgeben.
({20})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute in einer Woche wird zum ersten Mal ein
Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs von unserer Bundeskanzlerin geleitet. Ich wünsche
Ihnen, Frau Dr. Merkel, für diese Aufgabe im Namen
meiner Fraktion ein glückliches Händchen, ein offenes
Ohr und viele gute Ideen.
({0})
Ich glaube, die Vorarbeiten für diesen Gipfel sind seitens der Bundesregierung - das kam in der Regierungserklärung zum Ausdruck - sehr professionell geleistet
worden. Deshalb können wir diesem Gipfel mit einiger
Zuversicht entgegensehen.
Gestatten Sie mir zwei Bemerkungen zu meinem unmittelbaren Vorredner.
Zum Ersten. Ich freue mich als Mitglied der Unionsfraktion, dass eine Bundesregierung, die von mir
mitgetragen wird, sich weltweit glaubwürdig für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltfreiheit und Demokratie einsetzt. Darauf bin ich stolz. Ich würde mich
freuen, wenn alle Mitglieder dieses Hauses diese Einschätzung teilen würden.
({1})
Zum Zweiten will ich darauf hinweisen, dass mein
Vorredner als ehemaliger Bundesminister der Finanzen
persönlich einen wesentlichen Anteil daran hat, dass wir
in dieser Koalition heute mit einem riesigen strukturellen
Defizit kämpfen. Ich würde mich freuen, wenn er nicht
belehrend auftreten, sondern wenn er sich gelegentlich
zu seiner Verantwortung an dieser Stelle bekennen
würde.
({2})
Beim Frühjahrsgipfel der Europäischen Union steht
traditionell das Thema Wachstum und Beschäftigung,
die Lissabonstrategie, im Mittelpunkt. Das ist in diesem
Jahr mit der Frage kombiniert, wie wir beim Klimaschutz weiterkommen. Ich glaube, dass wir sowohl in
der Europäischen Union als auch in Deutschland, wie
das eben schon anklang, Ökonomie und Ökologie miteinander verbinden können, indem wir im Bereich der
Technologieführerschaft beides zusammenführen und
damit dafür sorgen, dass das Lissabonziel einerseits sowie die Klima- und Umweltziele andererseits gemeinsam erreicht werden können.
Meine Damen und Herren, was wir entsprechend dem
Koalitionsvertrag mit unserer Hightechstrategie national
aufgelegt haben, ist ein Edelstein dieser Regierungspolitik. Wir geben trotz angespannter Haushaltslage eine
Unmenge an Geld mehr für Bildung, Forschung und
Technologie aus. Wir haben das auch mit einer sinnvollen Strategie qualitativ unterlegt. Das ist ein Edelstein,
der viel zu wenig wahrgenommen wird und noch zu wenig leuchtet. Wir sollten ihn polieren und weiter daran
arbeiten.
({3})
Um Anreize zu schaffen, Hebel zu haben, Messlatten
zu setzen, ist es ein vernünftiger Weg, dass wir quantitative Ziele zur Reduktion von Treibhausgasemissionen
vorgeben. Bis 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu reduzieren, ist ein sehr
ehrgeiziges und ambitioniertes Ziel. Wir alle stehen jetzt
gemeinsam in der Verantwortung, dies mit glaubwürdigen Strategien zu unterlegen. Wenn man dann mit Drittstaaten übereinkommt, dies noch auf 30 Prozent zu steigern, nimmt man sich an dieser Stelle noch mehr vor.
Ich will an die Adresse vom Kollegen Westerwelle
ausdrücklich sagen: Wir haben im Koalitionsvertrag zu
einem wesentlichen Thema Ehrlichkeit bewiesen. Wir
haben gesagt, dass es zur Frage der zukünftigen Nutzung
der Kernenergie zwischen den Koalitionspartnern Dissens gibt. Das ist eine ehrlichere Position, als wenn man
versucht, sich mit Formelkompromissen über diese
Frage hinwegzulavieren. Wir haben gesagt: An dieser
Stelle können wir in den Positionen nicht zusammenfinden. Wir haben aber nicht erklärt, dass wir dann vier
Jahre nichts tun, sondern wir haben uns zum Ersten committet, zu sagen: Wir tun etwas in der Frage der Endlagerung. Dort stehen wir in der Verantwortung für künftige
Generationen. Wir haben uns zum Zweiten committet,
zu sagen: Wir tun etwas im Bereich der Versorgungssicherheit. In den letzten Monaten ist uns sehr deutlich vor
Augen geführt worden, dass dort Handlungsbedarf besteht. Wir haben zum Dritten deutlich gemacht, dass wir
im Bereich der Energieeffizienz Vorgaben machen wollen, die dafür sorgen, dass wir die Ressourcen, die wir
einsetzen, mit mehr Effizienz günstiger zum Wirken
bringen. Das heißt: Diese Koalition handelt und bringt
Deutschland und Europa voran.
({4})
Nun gibt es einen Grundsatzstreit darüber, inwieweit
man dabei das Ordnungsrecht oder die Wettbewerbspolitik bemüht. Trotz aller Kinderkrankheiten, die wir im
Zusammenhang mit dem Emissionshandelssystem gesehen haben, ist es ein marktwirtschaftlicher Anreiz, den
wir in den künftigen Stufen weiter verfeinern sollten.
Auch international sollten wir dafür werben, dass dies
nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern
auch weltweit zum Einsatz kommt. Deshalb würde ich
mich freuen, wenn es in den Gesprächen zwischen der
Europäischen Union und den USA möglich wäre, zu erreichen, auch nordöstliche Bundesstaaten der USA in
dieses Handelssystem einzubeziehen und es so Stück
für Stück zu erweitern. Ich glaube, dass wir mit marktwirtschaftlichen Instrumenten dem Klimaschutz einen
wesentlich besseren Dienst leisten, als wenn wir weltweit mit ordnungspolitischen Vorgaben agieren.
({5})
Ich habe vorhin die guten Technologien, insbesondere
bezogen auf den Klima- und Umweltschutz, angesprochen. Es reicht natürlich nicht, nur Forschung und Technologieentwicklung zu betreiben, sondern wir müssen in
Deutschland dafür sorgen, dass es am Ende auch marktgängige Produkte gibt. An dieser Stelle besteht dringend
Handlungsbedarf.
Ich sehe die Unternehmensteuerreform positiv, aber
sie muss durch ein Unternehmensbeteiligungsgesetz
flankiert werden, das es ermöglicht, gerade kleinere Unternehmen mit neuen Ideen, mit neuen Marktchancen
einfacher mit Risikokapital, Wagniskapital zu versorgen,
sodass der Transfer von der Idee zum marktgängigen
Produkt vorankommt. Ich glaube, an dieser Stelle liegen
mehr Chancen als Risiken für unsere Volkswirtschaft.
Deshalb sollten wir nicht Bedenken vor uns hertragen,
sondern schnell und in richtiger Weise ein Unternehmensbeteiligungsgesetz ins Gesetzblatt bringen.
({6})
Wir müssen hierbei in Europa ein Stück weit vorangehen.
Anscheinend hat nicht jedes Mitglied des Hohen Hauses im Kopf, dass wir gegenwärtig eine vernünftige
wirtschaftliche Entwicklung haben. Deshalb will ich
noch einmal einige wenige Daten nennen: Wir hatten im
vergangenen Jahr, wenn man es kalenderbereinigt betrachtet, ein Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt. Man erkennt, dass
das eine gewaltige Leistung ist, wenn man die Vorjahre
betrachtet, in denen wir sozusagen gar keinen Anlauf
hatten, sondern uns mit Stagnation und Nullwachstum
herumgeplagt haben. Wir haben im Hinblick auf die
Maastrichtdefizitquote eine Halbierung des Defizits erreicht. Auch das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne;
wir sollten aber nicht nachlassen, weiter an dieser Baustelle, am Abbau des strukturellen Defizits, zu arbeiten.
Im Bereich der Umsetzung von Richtlinien des EUBinnenmarkts waren wir zum ersten Mal nicht schlechter als der Durchschnitt; wir haben das Niveau erreicht,
das die EU insgesamt bei der Umsetzung von Richtlinien
einnimmt. Ich möchte der Bundesregierung ausdrücklich
Anerkennung dafür aussprechen, dass sie die Zielmarke,
die Hürde jetzt höherlegt und sich - im Sinne eines einheitlichen EU-Binnenmarktes - bei der Umsetzung von
Binnenmarktrichtlinien noch weiter nach vorne begeben
möchte. Das ist ein starkes Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland zum gemeinsamen Binnenmarkt und
ein richtiger Ansatz, um mehr Wohlstand, Wachstum
und Beschäftigung in Deutschland zu erreichen.
({7})
Wir beschäftigen uns gegenwärtig in der Europäischen Union mit der Frage, wie insbesondere im Bereich
der Energie der gemeinsame Binnenmarkt ausgestaltet
werden soll. Es gibt Vorschläge aus der Kommission;
hier stellt man sich die Frage, ob man bei Kartellverstößen im Bereich der Netze möglicherweise eine Enteignung der Betreiber dieser Netze in Betracht ziehen
sollte. Ich glaube, es ist für die Debatte nicht schädlich,
wenn eine gewisse Drohkulisse aufgebaut wird. Ich
denke aber auch, dass der vorgeschlagene Weg, den unser Bundesminister Glos als gegenwärtiger Vorsitzender
des Ministerrats in die Debatte eingebracht hat, richtig
ist: Man sollte zunächst einmal stufenweise vorgehen
und überlegen, ob man bei der Missbrauchsaufsicht vorübergehend verschärfte Regeln anwendet, ob man im
Bereich der Nutzung der Netze eine Anreizregulierung
und einen diskriminierungsfreien Zugang herbeiführen
kann, ohne sofort mit der Ultima Ratio, mit einer Enteignung, zu drohen. Ich hoffe und wünsche, dass dieser Gedanke auf fruchtbaren Boden fällt und eine Option darstellt, das Ziel zu erreichen, ohne dass man mit
eigentumsrechtlichen Eingriffen ein Stück weit Unsicherheit und fehlende Planungssicherheit herbeiführt.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, ich begrüße ausdrücklich den
Kabinettsbeschluss von gestern - Sie haben vorhin
darauf hingewiesen -: Auch die Bundesrepublik
Deutschland bekennt sich jetzt beim Bürokratieabbau
zum 25-Prozent-Ziel, bezogen auf die nationale Ebene.
Damit geht sie, was das Volumen betrifft, im Gleichschritt mit Europa vor.
({9})
Ich begrüße auch, dass Sie denselben Zeithorizont gewählt haben. Als Mitglied des Deutschen Bundestages
wünsche ich mir allerdings, dass wir noch in dieser
Wahlperiode einen Zwischenbericht bekommen, aus
dem wir erfahren, wie weit wir zur Halbzeit bei der Erreichung dieses Zieles gelangt sind. Ich hoffe, dass wir
als Parlament diesen Prozess vernünftig unterstützen,
damit wir beim Bürokratieabbau in Deutschland vorankommen.
({10})
Ich möchte darauf hinweisen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass das 25-Prozent-Ziel auf europäischer Ebene vereinbart worden ist. Auch dies ist ein Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft, den wir nicht zu
gering schätzen dürfen. Ich hoffe und wünsche, dass
auch unsere Kollegen im Europäischen Parlament in Zukunft bei der Gesetzesberatung davon profitieren können, was wir zum 1. Januar eingeführt haben: In jedem
Gesetzentwurf der Bundesregierung wird uns mitgeteilt,
wie viel Bürokratie durch ihn eingespart oder neu verursacht wird, sodass wir in voller Kenntnis dieser Wirkungen unsere Beratungen führen können. Das ist für mich
als Parlamentarier ein Gewinn.
Ich möchte eine letzte Bemerkung zum Thema Wettbewerbspolitik machen. Wir erleben in Europa einen
grundsätzlichen Philosophienstreit: Benötigen wir mehr
Wettbewerbspolitik oder mehr Industriepolitik? Für die
Bundesrepublik Deutschland als offene Volkswirtschaft
kann es an dieser Stelle keine Frage geben: Wir müssen
uns für mehr Wettbewerbspolitik entscheiden, damit wir
als Exportnation bei Dienstleistungen und Produkten davon profitieren.
Herr Minister Glos, deshalb wünsche ich Ihnen viel
Erfolg bei den Verhandlungen über das gemeinsame Öffnen der Post- und der Briefmärkte in Europa. Dies ist
eine wichtige Anstrengung dafür, dass sich die am Binnenmarkt beteiligten Länder auf europäischer Ebene insgesamt dazu verpflichten, gemeinsam die europäischen
Märkte frühzeitig und rechtzeitig zu öffnen und damit
auch die Exportchancen deutscher Unternehmen auf diesen Märkten zu stärken. Ich glaube, das ist die richtige
Strategie.
({11})
Meine Damen und Herren, wir haben die Übung, dass
wir vor dem Gipfel miteinander diskutieren. Ich hoffe,
dass all die guten Gedanken und Vorschläge, die heute
Morgen vorgetragen wurden, das Ergebnis des Gipfels
ein Stück weit befruchten werden, und wünsche allen
Beteiligten viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss ehrlich sagen: Für mich war diese
Regierungserklärung hinsichtlich der Ziele, die Sie sich
für die nächste Woche gesetzt haben, ein Stück mit sozialer Kühle und, ehrlich gesagt, nicht mit hinreichend großem Ehrgeiz versehen, auch wenn Sie versucht haben,
das Thema Klima auf Ihre Agenda zu schreiben.
Ich will Ihnen auch sagen, warum sie für mich mit zu
wenig Ehrgeiz versehen war: Es geht nicht nur um den
Regierungsgipfel in der nächsten Woche, sondern in diesem Monat, im März, feiern wir auch 50 Jahre Römische
Verträge. Ich hätte mir schon gewünscht, dass eine deutsche Bundeskanzlerin hier sehr selbstbewusst zum Beispiel in Richtung der USA sagt: Wir akzeptieren nicht
die Raketenstationierung in Polen und Tschechien - und
schon gar nicht mit der Begründung, dass mit diesen iranische Raketen abgewehrt werden sollen. Wir akzeptieren einen solchen Umgang mit uns nicht.
({0})
Ich spreche von sozialer Kühle, weil mich der Satz,
der in Ihrem Redemanuskript so gar nicht stand, erschrocken hat, wonach das Wachstum sozusagen Voraussetzung sei, damit man mit den entsprechenden Früchten
Solidarität mit anderen üben könne. Mich hat schon erschrocken, dass Sie behauptet haben, die Doharunde, die
Welthandelsrunde, sei, wenn sie jetzt zum Erfolg wird,
etwas Gutes für die Entwicklungsländer.
({1})
Wir wissen, dass diese Welthandelsrunde auf der Basis der Kriterien von 2001 durch den Ablauf der Zeit
längst überholt ist. Die Welthandelsrunde propagiert
noch eine Art des freien Handels, durch den das Soziale
- schon gar nicht das Thema Klima - nicht mit eingeschlossen wird. Es gibt Länder - gerade die Entwicklungsländer -, die mittlerweile unter den Wetterextremen
in den Küstenregionen und auf Inseln leiden. Ich hätte
mir gewünscht, dass eine deutsche Bundeskanzlerin hier
sagt: Bevor diese Welthandelsrunde zu Ende geht,
müsste man eigentlich noch einen Schub erreichen und
betonen, dass man nicht die Welthandelsrunde von 2001
will, sondern dass man will, dass die Lösungen beim
Thema Klima in den Welthandel einbezogen werden,
weil das ein aktuelles Problem ist.
({2})
Ehrlich gesagt habe ich mich auch gewundert, dass
Sie heute noch sagen, man müsse bis 2020 beweisen,
dass Ökologie und Ökonomie miteinander versöhnt
werden können. Ich dachte eigentlich, darüber sind wir
längst hinaus. Bei der ökologischen Frage geht es nicht
mehr nur um die Ökologie, sondern sie ist die zentrale
Überlebens- und ökonomische Frage, weil Sie sich ohne
deren Beantwortung alles andere sparen können. Deshalb gibt es nichts zu versöhnen. Es gehört zwingend zueinander.
({3})
Wenn ich jetzt über die Perspektive für 2020 nachdenke - dieses Jahr haben wir alle ja als Zielstellung -,
dann muss ich Ihnen sagen: Wir haben nicht mehr viel
Zeit. Es sind nur noch 13 Jahre, und wir müssen jetzt
massive Maßnahmen ergreifen. Frau Bundeskanzlerin,
ich muss Ihnen sagen: Bei der Klimaschutzfrage geht es
ja nicht nur um eine Option, uns hinsichtlich des Wachstums weiterzuentwickeln, sondern es geht um eine zwingende Notwendigkeit in einem engen Zeitfenster.
Ich finde, Sie haben sich an dieser Stelle in den letzten Wochen nicht hervorgetan. Es war eher peinlich,
dass der Nationale Allokationsplan von Brüssel umgedreht werden musste. Ich weiß, dass Sie sich in Wahrheit
darüber ärgern, Frau Merkel. Es war peinlich, wie Sie
sich vor die kurzfristigen Interessen der Vorstände der
deutschen Automobilkonzerne gestellt haben,
({4})
statt sich lieber mit den Betriebsräten - zum Beispiel
von Opel - zu verbünden, die sagen, dass wir in
Deutschland endlich mehr als nur ein ökologisches Auto
herstellen müssen, weil daran unsere Mobilität und Arbeitsplätze in diesem Land hängen.
({5})
Dann aber muss man Mut zeigen und nicht vor den Lobbyisten in vorauseilendem Gehorsam gleich in die Knie
gehen.
Wir wollen von Europa mehr als diese von Ihnen jetzt
endlich einmal auch persönlich genannte Reduzierung
um 20 Prozent. Wir wissen, wir brauchen eine Reduzierung um 30 Prozent. Wir wollen, dass der durchschnittliche Maximalausstoß 120 Gramm CO2 pro Kilometer beträgt - ohne Trickserei mit Biokraftstoffen.
Wir wollen im Übrigen auch, dass die Europäische
Union dafür sorgt, dass bei Biokraftstoffen auch wirklich Biokraftstoffe drin sind und nicht nur „Biokraftstoff“ draufsteht. Es braucht feste Regeln und Standards
für Biokraftstoffe, sonst steht zwar „Bio“ drauf, aber in
Wahrheit ist damit eine Abholzung der Regenwälder
verbunden. Auch das ist keine Klimaschutzpolitik.
({6})
Man muss den Mut haben, Frau Merkel, die Politik so
zu strukturieren, dass am Ende nicht nur die großen Mineralölkonzerne Geld durch die Veränderungen verdienen. Wir sagen ganz ehrlich: Quer durch Europa im
ländlichen Raum sollen Arbeitsplätze für die Einheimischen entstehen. Zukunftsfähige Energiepolitik muss
nämlich dezentral ausgerichtet sein.
({7})
Ich habe den Eindruck, Frau Merkel, Sie haben
sich zwei Berater geholt und gehen deshalb in zwei
unterschiedliche Richtungen. Für sonntags haben Sie
Herrn Schellnhuber als renommierten Klimaforscher,
für wochentags Lars Josefsson, den Chef der Kohleund Atomorganisation Vattenfall. Wir brauchen mehr
Schellnhuber und weniger Josefsson.
({8})
Wir brauchen von Ihnen mehr Führung, weniger Moderation.
({9})
Wir brauchen das Tun des Nötigen und weniger Einknicken vor kurzfristigen Lobbyinteressen. Ich kann es
auch in einem Satz sagen: In Ihrer Klima- und Europapolitik steckt für meine Begriffe immer noch zu viel
Lobbyismus und zu wenig Zukunft.
({10})
Wir sollten uns nichts vormachen: Wenn wir von den
Menschen verlangen, dass sie ihr persönliches Verhalten ändern, dann müssen auch wir uns eingestehen, Frau
Merkel, dass es nicht um immer mehr Wachstum gehen
kann. Zwar muss jeder Einzelne für sich überlegen, wie
er mobil sein kann und was er isst. Zugleich müssen wir
aber auch dafür Sorge tragen, dass die Menschen anders
wohnen können, anders mobil sein können, anders essen
können und dass ganz anders als bisher produziert wird.
Dabei muss aber klar sein, dass die entsprechenden Produkte auf dem deutschen bzw. europäischen Markt hergestellt worden sind. Diese Vorbildfunktion fehlt mir in
den von Ihnen auf europäischer Ebene angestoßenen
Programmen. Es geht nämlich nicht nur darum, gut zu
sein und die entsprechenden Technologien dann eines
Tages nach China zu exportieren. Sondern wir müssen
ein Nachahmungsbedürfnis bzw. einen Nachahmungsdruck bei den Chinesen und Indern auslösen.
Ich will Ihnen anhand eines Beispiels aufzeigen, wie
das gehen könnte. Frau Merkel, wenn Sie darüber
reden - vielleicht diskutieren Sie jetzt schon die ganze
Zeit mit Ihrem Außenminister darüber ({11})
- genauso ist es -, dass Sie das transatlantische Bündnis
neu begründen und ausbauen wollen, dann sollten Sie
dabei auch dementsprechend handeln, statt immer nur
auf George Bush und das Weiße Haus zu schauen. Dieser Mann ist sowieso ein Auslaufmodell. Dieser Mann
denkt bei Energiepolitik nur an den Zugang zu Energieressourcen. Um wirkliche Alternativen bemühen sich
dagegen 400 Bürgermeister aus den Westküstenstaaten
sowie die Nordoststaaten der USA. Wenn Tony Blair zu
Arnold Schwarzenegger fährt, um mit ihm über gemeinsame Aktivitäten zu sprechen, dann sollten auch
Deutschland und die Europäische Union in der Lage
sein, zum Beispiel die Regional Greenhouse Gas Initiative der Nordoststaaten der USA aufzugreifen. So wäre
es möglich, zehn Bundesstaaten im Nordosten der USA
mit in unser Emissionshandelssystem einzubeziehen.
Dabei könnten wir sogar von denen noch lernen, Frau
Merkel; denn diese Staaten werden ab 1. Januar 2009
100 Prozent der Emissionsrechte versteigern. So könnte
man ein internationales Handelssystem aufbauen.
({12})
So, Frau Merkel, hätte man auch ein wirkliches Kernstück für die weiteren Kiotoverhandlungen. Wir wissen
doch: Wenn-dann-Erklärungen haben viele abgegeben;
selbst die USA haben gesagt: Wenn die anderen, dann
auch wir. Das darf uns bei Kioto nicht noch einmal drohen.
Wir brauchen vom europäischen Gipfel nächste Woche ein ganz klares Zeichen, nämlich: Nach 50 Jahren
Römischen Verträgen begründet sich die Europäische
Union neu. 2020 soll man - das würde ich Ihnen und uns
wünschen - sagen können: Eine Kanzlerin hat dafür gesorgt, dass die Europäische Union sich Anfang
März 2007 klar für ein Ende des fossilen Zeitalters ausspricht und wir mit anderen vorangehen und die alternativen Energien begründen.
Frau Kollegin!
Damit würden Sie allen Europäerinnen und Europäern einen Gefallen tun.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin gehört: Die Europäische Union wird in der
nächsten Woche ihre Ziele zum Klimaschutz festlegen.
Entscheidend wird sein, ob es verbindliche Ziele sind.
Alles darunter wäre angesichts des zu bewältigenden
Problems zu wenig. Es passt aber gut, dass diese Ziele
auf einem Gipfel festgelegt werden sollen, der sich mit
der Lissabonstrategie befasst, also der Frage, wie die Europäische Union zum innovativsten und produktivsten
Wirtschaftsstandort der Welt werden soll. Denn Technologien zur Sicherung des Klimaschutzes, für erneuerbare
Energien und zur Steigerung der Energieeffizienz sind
der entscheidende Beitrag zur Innovationsfähigkeit; sie
sind eine Leittechnologie der nächsten Jahrzehnte.
Wir wollen Vorreiter beim Klimaschutz sein, weil
es unsere Verantwortung gebietet und weil wir uns handfeste wirtschaftliche Vorteile davon versprechen.
({0})
Klimaschutz ist eine immense technologische Herausforderung, vielleicht die größte technologische Herausforderung, vor der die Welt und unser Land bisher gestanden haben. Aber Klimaschutz ist keineswegs
mühselig, sondern eine einmalige Chance für neue Jobs,
bessere Lebensbedingungen, geringere Energierechnungen, mehr weltweite Entwicklung und weniger Konflikte
um Ressourcen.
Wir wollen Vorreiter beim Klimaschutz sein - als Europäische Union in der Welt und als Deutschland innerhalb der Europäischen Union. Wer das ablehnt, spielt
nicht nur ein gefährliches Spiel in Bezug auf den Klimaschutz, sondern gefährdet auch Deutschlands wirtschaftliche Zukunft.
({1})
Denn die Entscheidung, Vorreiter sein zu wollen - damals gegen die Stimmen der andersgearteten Opposition
im Deutschen Bundestag -, hat dazu geführt, dass wir allein im Bereich der erneuerbaren Energien 215 000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen haben. In den
nächsten Jahren können es 500 000 werden; denn auch
die Exportraten dieser Technologien steigen rasant. Weitere Arbeitsplätze werden im Bereich der Energieeffizienz und des Energiesparens dazukommen.
Wenn die Politik das will, muss sie klare Vorgaben
machen: für kurzfristige Änderungen, für mittelfristige
Umstellungen und für die langfristigen Rahmenbedingungen für Investitionen. Bundespräsident Horst Köhler
hat jetzt zu Recht den mangelnden Mut der Politik zu
solchen Entscheidungen und den mangelnden Willen der
Industrie zu freiwilligem Handeln kritisiert. Zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft hat er dabei eine wichtige Forderung aufgestellt - ich zitiere -:
Der Staat darf sich nicht scheuen, vorausschauend
Ziele zu setzen, und die Industrie muss darauf antworten. Der Markt allein wird es nicht richten.
Deswegen kann ich es nicht mehr hören, wenn die
Wirtschaftsminister der Europäischen Union in einer Art
Arbeitsteilung zwischen den zuständigen Ministern immer so tun, als seien Klimaschutz und Wirtschaftswachstum ein Gegensatz. Ich würde diesen Wirtschaftsministern - dazu gehören übrigens auch die einiger
Bundesländer - gerne die Studie des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern, der gezeigt hat, dass ein ungebremster Klimawandel eine weltweite dramatische Rezession auslösen würde, zur Pflichtlektüre machen.
({2})
Ich hoffe, dass die Regierungschefs der Europäischen
Union wesentlich weiter sind als ihre Wirtschaftsminister und nächste Woche verbindliche Entscheidungen
zum Klimaschutz treffen. An erster Stelle steht eine verbindliche Entscheidung zur Senkung der Treibhausgasemissionen. Ich glaube, dass die Ankündigung, sich
einseitig auf eine Senkung von mindestens 20 Prozent zu
verpflichten, egal was die USA und Australien machen,
ein sehr gutes Signal ist, weil es jedem in Europa sagt:
Egal was bei den weltweiten Verhandlungen herauskommt, ihr könnt euch darauf einstellen, dass es im Klimaschutz weitergeht und dass es beschleunigt weitergeht. - Es ist auch ein klares Signal an die
Entwicklungs- und Schwellenländer, dass zumindest Europa es mit dem Thema ernst meint und alle mit an Bord
nehmen will. Ich sage dazu: Persönlich würde ich mir
wünschen, dass wir einseitig eine Senkung um
30 Prozent verbindlich erklären; denn es war immer die
Linie der Europäischen Union, dafür zu sorgen, dass die
Erwärmung auf maximal 2 Grad beschränkt wird, um sie
kontrollieren zu können. Dazu wäre eine Reduzierung
um 30 Prozent notwendig.
Zweites verbindliches Ziel muss sein, dass die erneuerbaren Energien bis 2020 einen Anteil von mindestens
20 Prozent am Energiemix in der Europäischen Union
haben, verbunden mit verbindlichen Sektorzielen für
Strom, Wärme und Kraftstoffe.
Drittes verbindliches Ziel muss eine Steigerung der
Energieeffizienz bis 2020 um mindestens 20 Prozent
über dem Trend sein. Wichtigstes Instrument zur Umsetzung muss das von Deutschland auf Initiative der SPD
vorgeschlagene Top-Runner-Prinzip sein, also die Idee,
dass die energieeffizientesten Elektrogeräte und andere
Produkte den Standard setzen, den andere Hersteller innerhalb weniger Jahre erreichen müssen, um am Markt
bleiben zu können. Dann würden übrigens Anachronismen wie Glühbirnen - das war eine interessante Diskussion - oder Stand-by-Schaltungen schnell vom Markt
verschwinden, weil es einen Wettlauf der kreativen
Köpfe um die Entwicklung der energieeffizientesten Geräte gibt.
Herr Bundesminister Glos, ich bin zuversichtlich,
dass Sie und Ihre Mitarbeiter sich ab jetzt energisch für
diesen Top-Runner-Vorschlag in Brüssel einsetzen werden. Er steht ja immerhin auch im Koalitionsvertrag.
({3})
Viertes verbindliches Ziel muss die schnelle Entwicklung der Technologie zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid aus Kohle- und Gaskraftwerken
werden. Wir brauchen diese Kraftwerke als Übergangstechnologie bis zum vollständigen solaren Zeitalter noch
etwa bis zur Mitte dieses Jahrhunderts. Damit aber die
Unternehmen, die bereit sind, eine neue, aber natürlich
auch kostenintensive Technologie zu entwickeln, klare
wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfinden, muss die
EU verbindlich festlegen, dass die Nutzung dieser neu
entwickelten Technologie vorgeschrieben wird, um zu
verhindern, dass das eine Unternehmen eine teure und
saubere Technologie anbietet, während das andere Unternehmen mit einer billigen, aber dreckigen Technologie
am Markt bleiben kann. Eine verbindliche Vorgabe zur
Nutzung dieser Energie gehört also dazu.
({4})
Wir haben gute Chancen, solche verbindlichen Ziele
zu erreichen, wenn wir es mit der eigenen Vorreiterrolle
beim Klimaschutz ernst meinen und den Klimaschutz
weiter stärken. Für diese Glaubwürdigkeit war das Possenspiel rund um die Klimaschutzziele beim Auto nicht
zielführend. Die Automobilindustrie hat versagt und
das Instrument der Selbstverpflichtung restlos diskreditiert.
({5})
Der vorhin erwähnten scharfen Kritik des Herrn Bundespräsidenten daran ist nichts hinzuzufügen. Man muss allerdings erwähnen, dass er die beteiligten Politikerinnen
und Politiker in der gleichen Weise ermahnt hat.
Entscheidend ist, ob der Deutsche Bundestag durchsetzt, dass sein Beschluss von vor wenigen Wochen,
nämlich den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu
reduzieren - pro Kopf gesehen ist Deutschland der
größte CO2-Emittent in Europa -, mit effektiven Maßnahmen unterlegt wird. Der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ist eine gute Grundlage dafür. In ihm wird dargestellt - Maßnahme für
Maßnahme -, wie man die CO2-Emissionen um 40 Prozent reduzieren kann.
Übrigens steht in diesem Bericht auch, wie man dies
tun kann und gleichzeitig den dringend notwendigen
Ausstieg aus der Atomenergie betreiben kann. Es hat ja
in den letzten Wochen Politikerinnen und Politiker gegeben, die darum gebeten haben, man möge ihnen das genau erklären. In dem Bericht des Deutschen Bundestages
ist dies schwarz auf weiß nachzulesen.
Herr Kollege Westerwelle, man kann ja bei der Atomenergie geteilter Meinung sein, aber wer behauptet - Ihre
Formulierung können wir im Protokoll nachlesen -, dies
sei die wichtigste Frage in der Energiepolitik, der hat gefährlich wenig verstanden.
({6})
Ich gebe Ihnen drei Zahlen mit auf den Weg. Der Anteil der Atomenergie am gesamten deutschen Endenergieverbrauch liegt unter 6 Prozent, am gesamten Weltendenergieverbrauch liegt er unter 4 Prozent. Um nur
10 Prozent der fossilen Energie durch Atomenergie weltweit zu ersetzen, müsste man zu den schon bestehenden
437 Atomkraftwerken 1 000 bis 2 000 neue bauen. Dann
sagen Sie, dass Sie das wollen.
({7})
Dann sagen Sie laut, wo die entsprechenden Standorte in
Deutschland liegen sollen. Da bin ich gespannt; bei dieser Debatte bin ich gern dabei.
({8})
Die erneuerbaren Energien bieten uns eine völlig andere Chance. Die neue Studie des Deutschen Zentrums
für Luft- und Raumfahrt hat gezeigt, dass man mithilfe
von Energieeffizienz und Umstellung auf erneuerbare
Energien bis 2050 die Treibhausgasemissionen um
80 Prozent reduzieren kann. Das ist das Traumziel der
Klimaforscher. Wenn wir das dem Herrn Schellnhuber
erzählen, dann springt er vor Freude an die Decke.
Es ist also notwendig, die Erfolgsgeschichte des Ausbaus der erneuerbaren Energien im Strombereich, nämlich die Schaffung von 215 000 neuen Arbeitsplätzen,
endlich auf den Wärme- und Kraftstoffbereich in gleicher Qualität zu übertragen. Dann schaffen wir es wie
bei den erneuerbaren Energien im Strombereich, wo bereits 2007 das 2010-Ziel erreicht worden ist, auch hier
die Potenziale zu überschreiten.
Die Unterschätzung der Potenziale in diesem Bereich
hat Konjunktur. Die Internationale Energieagentur hat
1998 für 2030 einen Anteil der erneuerbaren Energien an
der Energieversorgung vorausgesagt, den wir bereits
2006, also nach acht Jahren anstatt nach 32 Jahren, erreicht haben. Das ist die Realität.
In den letzten Tagen gab es einen schnellen Wettlauf
dahin gehend, wer die höchsten Ausbauziele vorschlägt;
jede Partei hatte sich daran beteiligt. Ich hoffe, dieser
Schwung hält auch noch in den Debatten über ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und über die Novelle
zum Erneuerbare-Energien-Gesetz an. Denn auf unseren
wirtschaftlichen Lorbeeren können wir uns nicht ausruhen. Die neue Mehrheit im US-Senat und im -Kongress
hat Steuererleichterungen in Höhe von 14 Milliarden
Euro für Ölfirmen gestrichen und diese Mittel vollständig auf die Förderung der erneuerbaren Energien übertragen. Die wollen uns in dem Wettbewerb um die Weltmarktführerschaft Konkurrenz machen. Das heißt, wir
müssen nicht langsamer, sondern schneller in der Förderung der erneuerbaren Energien werden.
Das gilt übrigens auch für die hocheffiziente KraftWärme-Koppelung. Wir sind das Warten leid; denn die
Technologie, die am besten Rohstoffe ausnutzt und damit CO2-Emissionen spart, kommt nicht vorwärts. Wir
von der SPD werden im März einen eigenen Gesetzentwurf im Rahmen der Koalition einbringen. Wir erwarten
noch in diesem Halbjahr an dieser Stelle eine Beschlussfassung. Dies ist in der Koalition klar vereinbart, und
dies werden wir auch durchsetzen.
({9})
Sie sehen an diesen Beispielen, dass man andere dann
überzeugend zum Handeln auffordern kann, wenn man
selbst handelt. Deswegen hoffe ich, dass von Deutschlands Initiative auf dem EU-Gipfel einiges ausgeht, insbesondere der Mut zur Verabschiedung eigener Instrumente im Klimaschutz.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben von der Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung gehört, die hinreichend wolkig, aber erschreckend unambitioniert war;
wenn ich das einmal so sagen darf. Sie hat einiges zum
Thema Lissabonprozess gesagt. Sie hat sehr deutlich
festgestellt: Wir teilen die Ziele der Lissabonstrategie,
nämlich dass Europa zum wettbewerbsfähigsten, wachstumsstärksten und innovativsten Standort auf dieser Welt
werden soll. Sie hat aber auch gesagt: Wir sind noch weit
davon entfernt, diese Ziele auch nur im Ansatz zu erreichen.
({0})
Dazu, wie hier über das Wachstum in Deutschland
geredet wird, muss ich sagen: Das ist noch viel unambitionierter und erschreckender. Wir liegen nach wie vor
unter dem Durchschnitt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der EU 15. Wir fallen weiter zurück. Wir
sind unter Rot-Grün im Hinblick auf das Bruttosozialprodukt pro Kopf auf den zehnten Platz zurückgefallen.
Wir sind dabei, weiter nach hinten zu rutschen; darüber
können all die Steigerungszahlen in Deutschland nicht
hinwegtäuschen. Andere sind viel besser als wir. Ich
würde mir von dieser Bundesregierung wünschen, dass
sie den Ehrgeiz hat, unser Land wieder an die Spitze in
Europa zu führen, was das Wachstum und die Wirtschaftskraft angeht.
({1})
Herr Bodewig, wie Sie sich hier äußern! Ich weiß
nicht, warum Sie all diese Bürokratien und Regulierungen, die Deutschland so wenig erfolgreich gemacht haben, jetzt auch noch auf Europa übertragen wollen.
({2})
Wenn wir das versuchen, führt das in die Irre, Herr
Bodewig.
({3})
Es gibt aus meiner Sicht einen ähnlichen Mangel an
Ehrgeiz, was das Thema der Verfassung angeht. Es
reicht eben nicht, zu sagen: Wir brauchen eine neue Verfassung, und irgendwie bekommen wir auch einen Zeitplan hin. Ich frage mich: Wie wollen wir das angesichts
der Debatten in Frankreich und in Holland, aber vor allem angesichts der Debatten unserer polnischen und
tschechischen Freunde erreichen? Was sagen wir zu
dem, was der polnische und der tschechische Präsident
öffentlich äußern, nämlich dass sie keinen Druck sehen,
Europa dadurch nach vorne zu bringen, dass wir wieder
eine Verfassung auf den Weg bringen? Hier liegt ein großes Stück Arbeit vor uns. Da reicht es nicht, so zu tun,
als wären sich schon alle Europäer einig und als würde
das demnächst umgesetzt. Ich würde mir hier deutlich
klarere Vorgaben wünschen.
Eines sollten wir als Deutsche sagen: Wir brauchen
institutionelle Reformen. Wenn Europa handlungsfähig
bleiben soll, brauchen wir auf jeden Fall institutionelle
Reformen. Aber wir brauchen auch Fortschritte in den
Substanzbereichen, das heißt eine engere Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz. Die Bürger erwarten
von uns zu Recht, dass Europa in der polizeilichen Zusammenarbeit Fortschritte macht und dass wir gemeinsam Verbrechen bekämpfen, wenn Verbrechen grenzüberschreitend geschehen. Sie erwarten - das höre ich
auf jeder Veranstaltung, auf der ich mit Bürgern, mit
Schülern diskutiere -, dass Deutschland zur Außenpolitik mit den anderen Europäern in einer Sprache und mit
einer Stimme spricht. Ich wünsche mir, dass diese Substanzbereiche der europäischen Politik stärker in den
Vordergrund gerückt werden. Ich wünsche mir, dass
diese auch als Ziele, die zu erreichen sind, vorangestellt
werden.
({4})
Ich wünsche mir von dieser Bundesregierung mehr
- auch öffentlich gezeigten - Ehrgeiz in der Frage der
Verfassung. Ich wünsche mir auch noch etwas mehr Ehrgeiz von unserem eigenen Haus, von uns Abgeordneten.
Wir beklagen seit Jahren das Demokratiedefizit in der
Europäischen Union; ob zu Recht oder zu Unrecht, sei
dahingestellt. Aber eines ist klar: Die Beteiligung des
Deutschen Bundestages an Gesetzgebungsverfahren
auf europäischer Ebene lässt stark zu wünschen übrig.
({5})
Das liegt nicht daran, dass die Regeln so sind, wie sie
sind. Es liegt schlichtweg daran, dass wir als Abgeordnete - hier schaue ich insbesondere die Kollegen von der
Großen Koalition an - scheinbar nicht genügend Selbstbewusstsein haben, uns die europäische Rechtsetzung
frühzeitig anzuschauen und uns in die Debatte einzuklinken, indem wir die Debatte darüber hier im Deutschen
Bundestag führen. Das müssen wir ändern.
({6})
Das würde aus meiner Sicht auch dazu führen, dass die
Debatten über europapolitische Fragen in der deutschen
Öffentlichkeit früher stattfinden und damit für die Bürger nachvollziehbarer und transparenter sind. Das würde
ich mir wünschen. Das würde auch die Akzeptanz der
EU in der Bevölkerung deutlich erhöhen.
Vielen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Westerwelle das Wort.
Herr Präsident! Ich möchte im Rahmen dieser Kurzintervention mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass wir hier über eine Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin sprechen und weder das Bundeskanzleramt noch das Auswärtige Amt auf der Regierungsbank vertreten sind. Das halte ich für eine Respektlosigkeit gegenüber denjenigen, die in diesem Hause an
dieser Debatte teilnehmen. Dass die Kanzlerin selbst
nicht teilnehmen kann, ist selbstverständlich. Aber die
Regierungsbank sollte vertreten sein.
({0})
Zu einer weiteren Kurzintervention erhält der Kollege
Scholz das Wort.
Ich möchte den Kollegen Westerwelle nur bitten, sich
umzudrehen. Hinten in den Reihen der FDP-Fraktion
sitzt die Kanzlerin.
({0})
Zu einer Erwiderung auf den Hinweis des Kollegen
Scholz erhält noch einmal der Kollege Westerwelle das
Wort.
Kollege Scholz, ich möchte Ihnen erwidern: Da gehört sie nicht hin!
({0})
Nachdem nun die Ordnung der Verhältnisse zwischen
Parlament und Regierung mindestens rhetorisch wiederhergestellt ist, setzen wir die Aussprache fort mit einem
Beitrag des Kollegen Koschyk, der für die CDU/CSUFraktion das Wort ergreifen wird.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Westerwelle, werte Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, bringen Sie doch einmal etwas mehr Freude in
diese europapolitische Debatte
({0})
und begleiten Sie sie nicht so miesepetrig. Als die Kanzlerin vorhin in ihrer Regierungserklärung davon gesprochen hat, dass wir in wenigen Tagen, am 25. März, hier
in Berlin das 50-jährige Bestehen der Europäischen
Union begehen werden, habe ich aus den Reihen der
FDP gehört: Das hätte man auch in Rom machen können.
({1})
Ich finde es gut und richtig, dass wir „50 Jahre Europäische Union“ in Berlin begehen. In keiner anderen
Stadt Europas fügt sich wie in einem Brennglas zusammen, was die Vision bei der Gründung der Europäischen
Union gewesen ist, nämlich Teilung zu überwinden und
Europa zusammenzuführen.
({2})
Wir werden „50 Jahre Europäische Union“ hier in Berlin
auch dankbar begehen können, weil sich die Vision derjenigen, die dieses Europa vor 50 Jahren zu bauen begonnen haben, gerade in Berlin erfüllt.
Wenn wir uns die Geschichte der Europäischen Union
ansehen, stellen wir fest: Alle Fortschritte hin zu dem
heutigem Bestand in der Europäischen Union waren immer von Skepsis geprägt, von der Skepsis, ob es überhaupt gelingt, zu einem gemeinsamen Binnenmarkt zu
kommen; von der Skepsis, ob es gelingt, zu einer Wirtschafts- und Währungsunion zu kommen; und von der
Skepsis, ob es nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht gelingt, die Europäische Union nach Osten zu erweitern. Die Geschichte Europas hat alle Skeptiker widerlegt. Wir müssen aber erkennen, dass wir uns heute in
einer Phase des europäischen Einigungsprozesses befinden, wo es darum geht, das Vertrauen der Bürger Europas in eine positive Fortentwicklung der Europäischen
Union ein Stück weit neu zu gewinnen, ein Stück weit
neu zu begründen.
Deshalb muss Europa erfolgreich sein. Europa muss
vor allem auf die Frage eine Antwort finden, die die Bürger unmittelbar betrifft, nämlich, ob es gelingt, Europa
im Konzert des globalen Wettbewerbs so aufzustellen,
dass durch mehr Wachstum wieder mehr Beschäftigung
entsteht. Es ist sicher richtig, dass wir in diesem Zusammenhang die Voraussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen. Ich glaube, niemand kann übersehen, dass die Reformpolitik dieser
Bundesregierung Deutschland wieder nach vorne gebracht hat, sodass wir heute, im Jahr 2007, wieder eine
gute Perspektive für mehr Wachstum und Beschäftigung
haben. Wir können selbstbewusst, aber nicht selbstzufrieden sagen: Deutschland schickt sich wieder an,
Wachstums- und Beschäftigungslokomotive in Europa
zu werden.
({3})
Selbstverständlich ist es wichtig, dass wir national unsere Hausaufgaben machen.
({4})
Als ein Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft ist zu
Recht der Bürokratieabbau formuliert worden. Es ist
wichtig, dass wir in Deutschland zum 1. Januar den Normenkontrollrat und damit ein Bürokratiemessverfahren
in Gang gesetzt haben, dass wir nach dem ersten Mittelstandsentlastungsgesetz nunmehr ein zweites Mittelstandsentlastungsgesetz auf den Weg gebracht haben.
Wir sollten den Druck, der jetzt von Europa kommt,
nämlich 25 Prozent der statistischen Nachweispflichten
auch national abzubauen, als heilsam empfinden. Wir
sollten aber auch stolz auf das sein, was diese Bundesregierung im Bereich des Bürokratieabbaus auf den Weg
gebracht hat.
({5})
Ich will ein weiteres Thema nennen, das im Zuge der
europäischen Ratspräsidentschaft von ganz entscheidender Bedeutung ist: Energiesicherheit in Europa. Ich bin
dem Bundeswirtschaftsminister sehr dankbar - das ist
nämlich wichtig -, dass er auch national eine Politik
fährt, die für mehr Wettbewerb sorgt, damit die Preise
sinken; denn das ist im Interesse der Verbraucher.
Herr Westerwelle, der Kollege Meister hat zu Recht
gesagt, dass es diesbezüglich einen Dissens in der Großen Koalition gibt. Wir stehen nicht hintan, zu sagen,
dass wir der festen Überzeugung sind, dass Energiesicherheit in Europa und sichere Energieversorgung im
Zusammenhang mit wirksamem Klimaschutz bedeuten,
dass wir uns keinen Ausstieg aus der Kernenergie leisten können.
({6})
Ich sage aber auch: Die Kernenergie ist allenfalls eine
Zwischen-, eine Übergangslösung. Es ist gut und richtig,
dass diese Bundesregierung die Energieforschung vorantreibt;
({7})
denn das Festhalten an der Kernenergie allein wird die
Energieversorgungsprobleme Europas von morgen nicht
lösen.
({8})
Die Kanzlerin hat davon gesprochen, dass es wichtig
ist, dass wir das Vertrauen der Menschen in Europa ein
Stück weit neu begründen. In diesem Zusammenhang ist
es wichtig, dass wir den Vorschlag unterstützen, den die
Kanzlerin in diesem Zusammenhang eingebracht hat,
nämlich, dass der Regulierungswahn auf der europäischen Ebene ein Stück weit dadurch sein Ende findet,
dass Vorschläge der Kommission für Richtlinienentwürfe mit dem Ende einer Legislaturperiode des Europäischen Parlaments der Diskontinuität anheimfallen.
({9})
Was stellen wir denn fest? Es werden irgendwelche
Dinge ersonnen und auf den Weg gebracht, und selbst
nach einer Neuwahl des Europäischen Parlaments, einer
Neubildung der Europäischen Kommission wird so getan, als habe sich nichts verändert, nach dem Motto: Die
Parlamente und die Kommissionen gehen, die Ideen der
Bürokraten bleiben bestehen. Deshalb hat der Vorschlag,
dass auch auf europäischer Ebene das Prinzip der Diskontinuität Geltung findet, unsere volle Unterstützung,
Frau Bundeskanzlerin. Es ist wichtig, dass es gelingt, die
Kommission, den Rat, vor allem aber auch das Parlament dafür zu gewinnen.
({10})
Es ist in dieser Debatte mehrfach davon die Rede gewesen, dass es darum geht, die ehrgeizigen klimapolitischen Ziele mit der Notwendigkeit von Wachstum in Europa zu versöhnen und dass wir Ökologie und Ökonomie
in einem Gleichklang betreiben. Hier hat die Kanzlerin
zu Recht davon gesprochen, dass wir uns anstrengen
müssen, um national und auch europäisch diese Ziele zu
erfüllen. Unser Landesgruppenvorsitzender, Peter
Ramsauer, hat mir gerade noch einmal gesagt, wie wichtig es in diesem Zusammenhang ist, den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben.
({11})
- Lieber Herr Niebel, ich freue mich immer, wenn es
Führungspolitiker bei uns gibt, die unser Bewusstseinsspektrum ein Stück erweitern.
({12})
Niemand kann so klug sein wie ein FDP-Generalsekretär. Das ist klar.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir
nicht nur beim Europa-Amerika-Gipfel mit den Vereinigten Staaten, nicht nur beim G-8-Gipfel in Heiligendamm mit den Chinesen über den Klimaschutz sprechen,
sondern dass wir gerade auch im Hinblick auf unsere
entwicklungspolitische Zusammenarbeit darauf setzen,
dass wir in engem Kontakt mit den Entwicklungsländern und den Schwellenländern den Klimaschutz maßgeblich vorantreiben. Denn jeder Euro, den wir in diesem Zusammenhang in die Zusammenarbeit mit
Entwicklungsländern und Schwellenländern investieren, hat einen viel stärkeren Effekt als alle Anstrengungen, die wir national und auf europäischer Ebene dafür
aufwenden.
({13})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben immer wieder davon gesprochen, dass es neben allen Zielen im Hinblick
auf Klimaschutz, Wachstum und Beschäftigung darauf
ankommt, die Grundlagen für das europäische Einigungswerk wieder zu beschreiben und sich auf sie zu besinnen. Wir sind Ihnen als CDU/CSU-Fraktion sehr
dankbar, dass Sie nicht müde werden - gerade auch gestern bei der großartigen Veranstaltung der KonradAdenauer-Stiftung mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission -, einen Gottesbezug anzumahnen,
wenn es darum geht, jetzt einen Anlauf für einen neuen
europäischen Verfassungsvertrag zu nehmen.
({14})
Wir alle wissen, woran dies im ersten Anlauf gescheitert ist. Ich nehme es mir als frei gewählter Abgeordneter
heraus, an unsere französischen Freunde zu appellieren,
({15})
ihren Widerstand gegen die Aufnahme eines Gottesbezugs in einem europäischen Verfassungsvertrag ein
Stück aufzugeben. Denn es tut der Selbstvergewisserung
Europas gut.
({16})
- Lieber Herr Kollege Beck, dann sollte man ein Stück
dafür werben und es nicht so oberflächlich betreiben,
wie es der frühere Bundesaußenminister, der Ihrer Partei
angehört, getan hat.
({17})
Hier lohnt sich ein Ringen mit allen, die einer Aufnahme
des Gottesbezugs in einen europäischen Verfassungsvertrag skeptisch gegenüberstehen.
({18})
Ich darf mit einem Zitat der Bundeskanzlerin beim
Europaempfang der CDU/CSU-Fraktion von dieser Woche schließen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt:
Die größte Gefahr für die Demokratie ist die organisierte
Verantwortungslosigkeit. - Was heißt das? Wir brauchen
wieder klare Kompetenzzumessung, klare Kompetenzabgrenzung und ein klares Bekennen zu Verantwortlichkeiten auf der europäischen Ebene. Ich bin sicher,
dass die deutsche Ratspräsidentschaft unter der deutschen Ratspräsidentin, Bundeskanzlerin Angela Merkel,
einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird, dass durch
mehr Transparenz und stärkere Kompetenzabgrenzung
bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder mehr Vertrauen
in das europäische Einigungswerk wachsen wird.
Herzlichen Dank.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Lieber Herr Koschyk, in Europa haben viele Religionen ihr Zuhause. Das sollte auch bei der CSU einmal ankommen.
({0})
Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin!
Man sollte die Überschriften, die man über Regierungserklärungen setzt, immer auch auf die Wirklichkeit im
eigenen Lande wirken lassen. Ich will jetzt nicht über
den Bürokratieabbau beim Nichtraucherschutz in der
Bundesrepublik Deutschland sprechen. Aber wenn Sie
zu Recht sagen, dass es beim europäischen Modell auch
um soziale Gerechtigkeit geht, dann müssen Sie sich die
Frage gefallen lassen: Wie kommt es eigentlich, dass
Menschen, die Vollzeit arbeiten, in fast allen Ländern
Europas, die übrigens höhere Lohnsteigerungen und gelegentlich auch bessere ökonomische Zahlen als
Deutschland verzeichnen können, dagegen abgesichert
sind, dass ihr Lohn nicht unter ein bestimmtes Niveau
sinkt?
({1})
Wer ernsthaft der Meinung ist, dass Europa auch ein
Sozialmodell ist, der darf, wenn es im eigenen Land darum geht, beispielsweise für Friseurinnen oder für Menschen, die im Wachdienst arbeiten, einen Mindestlohn
festzusetzen, nicht auf der Bremse stehen und blockie8218
ren. Das macht all das Gerede von einem sozialeren Europa unglaubwürdig.
({2})
Das gilt auch und gerade mit Blick auf den Klimawandel. Wir alle sind uns einig: Die globale Erwärmung darf nicht um mehr als 2 Grad steigen. Ich zitiere:
Daher streben wir an, dass sich die EU auf ein ambitioniertes Minderungsziel für Treibhausgase von
30 % bis 2020 … verpflichtet und für die anstehenden Klimaverhandlungen Vorschläge erarbeitet, wie
weitere große Volkswirtschaften … eingebunden
werden können. Dies
- gemeint ist das Minderungsziel von 30 Prozent ist die Voraussetzung dafür, dass die EU glaubwürdig ihre Führungsrolle in der internationalen Klimapolitik fortführt.
Meine Damen und Herren, das ist nicht das Programm
der Grünen. Das ist das Präsidentschaftsprogramm der
Bundesregierung, vorgelegt auf dem Umweltrat, dargestellt von Sigmar Gabriel. Er hat recht. Ich verteidige ihn
für diese Sätze.
({3})
Es handelt sich um eine ganz einfache Feststellung:
Mit einer Minderung der Treibhausgase um 20 Prozent werden wir das Klimaschutzziel der Verhinderung
einer Erwärmung um mehr als 2 Grad nicht erreichen.
({4})
Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Deswegen
hätte ich von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, erwartet,
dass Sie das, was Ihr Umweltminister zu Recht gesagt
hat, in Ihrer Regierungserklärung gegen den nicht hinreichenden Vorschlag der Kommission verteidigen und darlegen, wie Sie das Ziel einer Minderung um 30 Prozent
erreichen wollen, statt lediglich zu erläutern, warum eine
Minderung um 20 Prozent auch schon ganz schön ambitioniert ist. Hätten Sie das getan, wäre das aktive Klimaschutzpolitik gewesen.
({5})
Meine zweite Bemerkung. Da ich mich in diesem Geschäft ein bisschen auskenne, sage ich Ihnen: Sie haben
gegenwärtig nicht einmal die Senkung um 20 Prozent in
der Tasche. Denn es gibt im Hinblick auf die 20 Prozent
bisher keine Einigung der einzelnen Mitgliedstaaten. Ich
prophezeie Ihnen: Um diese 20 Prozent werden Sie auf
dem nächsten europäischen Gipfel noch kämpfen müssen. Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie eine Strategie
haben, die deutlich macht, welchen Beitrag die einzelnen
Mitgliedstaaten zur Erreichung dieses unzureichenden
Ziels leisten können.
Meine dritte Bemerkung betrifft die erneuerbaren
Energien. Ich höre mit großer Freude, dass Sie sagen:
Wir sind stolz darauf, dass wir an der weltweiten Windstromerzeugung einen Anteil von 60 Prozent haben. Ja,
das freut uns alle. Aber ich frage Sie: Wie wäre Deutschlands Anteil, wenn nicht Herr Stoiber, wenn nicht Herr
Oettinger und wenn nicht seit Neuestem auch Herr
Rüttgers in den großen Flächenländern jeden Versuch
eines vernünftigen, naturgerechten Ausbaus der Windenergie massiv blockieren würden?
({6})
Unser Anteil würde nicht 60 Prozent, sondern vielleicht
sogar 70 Prozent betragen.
({7})
Herr von Beust hat heute gesagt, bis zum Jahre 2020
könnten in Deutschland 35 Prozent des Stroms durch erneuerbare Energien erzeugt werden. Dazu sage ich: Ja,
das geht. Aber das setzt voraus, dass Sie endlich mit Ihrer ideologisch bornierten Blockade aufhören.
({8})
Sie müssen, was den Klimaschutz und die erneuerbaren
Energien betrifft, endlich handeln und aufhören, nur
Überschriften zu zitieren. Das ist das Problem.
({9})
Steffen Reiche für die SPD-Fraktion ist der nächste
Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben zu viele Probleme, als dass wir uns weniger Europa leisten könnten. Das ambitionierte Programm der
deutschen Ratspräsidentschaft ist für uns Anspruch und
eine Quelle von Zukunft für Europa. Europa gelingt gemeinsam.
Man hört zwar immer wieder: Diese Ratspräsidentschaft wird teuer. Aber das ist das große Geheimnis Europas: dass durch Teilen alle reicher werden. Es ist wahr:
Deutschland gibt am meisten, und das wird auch so bleiben; denn wir haben auch die meisten und die größten
Vorteile von dieser Europäischen Union. Wir sind Exportweltmeister nur durch die Europäische Union. Dem
Erfolg verdanken wir, dass wir unsere Ziele wieder erreichen können.
Das wichtigste, das Lissabonziel, werden wir vielleicht 2009 erreichen. Eine Studie belegt, dass wir 2010,
nach unseren Anstrengungen, wieder dynamischste und
wettbewerbsfähigste Region der Welt werden können.
Allerdings werden wir es auch deswegen, weil sich die
anderen nicht so dynamisch entwickelt haben, wie das
ursprünglich geplant war, bzw. weil sie schwächer geworden sind. Reformen sind also auch in Zukunft notwendig. Deshalb muss Deutschland gerade während der
deutschen Ratspräsidentschaft Wachstums- und Reformmotor bleiben.
({0})
Steffen Reiche ({1})
Viel Symbolik ist mit unserer Ratspräsidentschaft
verbunden. Deshalb sind die Erwartungen an uns entsprechend hoch. Es versteht sich von selbst, dass wir einen Beitrag leisten werden, um Europa nach vorn zu
bringen. Dabei kommt es zunehmend auch darauf an,
den Menschen draußen deutlich zu machen, dass Europa
in einer globalisierten Weltwirtschaft eigene Wertvorstellungen hat und die Globalisierung auch gestaltet. Wir
müssen beweisen, dass ein wettbewerbsfähiges Europa
auch ein soziales Europa ist,
({2})
das den Menschen zu Bildung, Arbeit und Wohlstand
verhilft.
In den letzten Jahren haben wir in Deutschland aufgrund der vereinbarten Lissabonstrategie viele Anstrengungen unternommen, um unsere Unternehmen, unsere
Sozialsysteme, die öffentlichen Haushalte so aufzustellen, dass es zu einem Aufschwung kommen konnte. Ich
gebe zu, dass viele der Vorgaben aus Brüssel nicht nur
schwer verdaulich, sondern den Menschen draußen auch
schwer vermittelbar waren. Aber wir haben die Wende
geschafft. Ob uns das auch ohne Europa in der Weise gelungen wäre, darf wohl bezweifelt werden. Denn wenn
wir uns einmal ansehen, wohin die meisten unserer Exporte gehen, sehen wir, welche wirtschaftliche Dynamik
hinter dieser Gemeinschaft steckt.
Das erlebt jetzt zum Beispiel auch Bulgarien.
60 Prozent seiner Exporte und mehr als 50 Prozent seiner Importe wickelt es mit der EU ab. Massive Investitionen in Produktion und Anlagen haben zu einer hohen
Wettbewerbsfähigkeit geführt, die die Arbeitslosenquote
von 19,7 Prozent im Jahr 2001 auf ungefähr 8 Prozent in
diesem Jahr fallen ließ. Selbst der Staatshaushalt ist ausgeglichen. Das bedeutet nicht, dass Bulgarien alle Kriterien schon voll erfüllt hätte. Es zeigt aber deutlich, welche Chancen in diesem Europa stecken. Es ist doch
allemal besser, die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, als
auf billige Arbeitskräfte aus wirtschaftlich schwachen
Ländern zu setzen.
({3})
Wir werden gemeinsam reicher, indem wir diesen
Rechts- und Wirtschaftsraum miteinander teilen.
Herr Lafontaine hat vorhin eine Volksabstimmung
über die europäische Verfassung angemahnt. Da, wo er
selber die Möglichkeit hatte, das Volk abstimmen zu lassen, nämlich über die Einführung des Euros, hat er sie
- aus guten Gründen - nicht gemacht. Denn wir hätten
sonst heute nicht, was den Bürgern im EU-Raum dient
und Wachstum schafft. Manchmal hat man fast den Eindruck, dass auch die Umkehrung des deutschen Sprichwortes „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den
Verstand“ gilt, also: Wem Gott ein Amt nimmt, dem
nimmt er auch, was er gegeben hat.
({4})
Die Bundesregierung macht gerade kein Steuerdumpingprogramm. Viele Steuervorteile, die Oskar Lafontaine
gern gestrichen hätte, sind ja nicht während seiner Amtszeit gestrichen worden, sondern durch seine Nachfolger;
das hat zu den großen Steuermehreinnahmen, die wir jetzt
haben, beigetragen. Wir brauchen allerdings einen weiteren Schritt in Richtung der Harmonisierung der Steuern
in Europa, also hin zu gemeinsamen Bemessungsgrundlagen, vor allen Dingen für die Unternehmensteuern. Das
ist gewiss ein dickes Brett, aber die Ratspräsidentschaft
muss auch an dieser Stelle bohren, selbst wenn der Erfolg
erst später eintritt.
Die SPD will die Bundesregierung auch bei der
TAFTA - das heißt der wirtschaftlichen Verflechtung
mit Nordamerika - ausdrücklich unterstützen. Mit dem
Erfolg von Doharunde und TAFTA wären wichtige und
nachhaltige Impulse für Wachstum, Entbürokratisierung
und Wohlstand verbunden. Das wäre ein Impuls für
Wirtschaft und Wohlstand der 800 Millionen Verbraucher, die in diesem Wirtschaftsraum leben. Gemeinsam
sind wir stärker. Denn keiner versteht, warum auf Dauer
ein Auto, ein Pharmaprodukt oder eine Maschine erst für
den europäischen Raum und dann noch einmal für den
amerikanischen Raum getestet werden muss, bloß weil
sich der Neigungswinkel für Crashtests bei Autos in den
USA von dem in Europa unterscheidet.
Aber im Wettbewerb um Wohlstand - Gabor
Steingart nennt es „Weltkrieg um Wohlstand“ - sind wir
für die Verflechtung mit Nordamerika besser aufgestellt.
Wenn wir im TAFTA-Raum gemeinsame Standards setzen, dann setzen wir uns auch im globalen Wettbewerb
mit anderen Staaten und Kontinenten - ob Indien, China,
Japan oder Lateinamerika - besser durch. Das wäre ein
Gewinn an Nachhaltigkeit, Umweltstandards und auch
sozialen Standards. So schaffen wir es zum einen, den
Frieden zu erhalten, zum anderen aber auch, die Globalisierung zu gestalten. Das sind die beiden zentralen Aufgaben der Europäischen Union.
Ich möchte gegenüber der Bundesregierung eine Bitte
äußern bzw. einen Vorschlag machen. 50 Jahre EU und
50 Jahre Frieden müssen gefeiert werden. Wir kennen
das alle von Feiern zum 50. Geburtstag: Viele kommen
gerade zu diesem Geburtstag, weil ein Mensch mit 50
viel hinter sich, aber auch noch viel vor sich hat.
({5})
Laden Sie die Staatschefs nicht nur nach Berlin zum
Feiern ein! Vielmehr sollte dieser Jahrestag überall in
Europa gefeiert werden. Denn wer Europa nicht feiert,
kann es auch nicht leben. Europa ist nichts Selbstverständliches. Es ist nicht vom Himmel gefallen, sondern
ein hart erkämpftes Wunder.
Wer am 25. März nicht feiert, kommt vielleicht lange
nicht mehr zum Feiern, auch wegen der Verfassungskrise, in die wir vielleicht hineingeraten. Wer aber jetzt
Europa feiert, ist bereit, mehr für Europa zu tun, ja, für
Europa auch etwas zu riskieren. Wer Europa gestalten
will, muss wacher sein und tiefer träumen als andere.
Steffen Reiche ({6})
Es liegt ein ambitioniertes Programm vor, das wichtige Schritte auf einem langen und weiten Weg bedeutet.
Was Guy Verhofstadt in seinem „Manifest für ein neues
Europa“ festgestellt hat, muss, denke ich, auch Teil der
Agenda der Europäischen Union bleiben. Insofern wünschen wir der Bundesregierung sowohl für Brüssel als
auch für Berlin alles Gute und viel Fortune.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Hans Peter Thul, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine erste Rede vor diesem Hohen Haus habe
ich der Anonymität des Protokolls übergeben, und da es
aus biologischen Gründen keine zwei Jungfernreden geben kann, erwarte ich in den nächsten Minuten keine besondere Schonung bei den möglicherweise unterschiedlichen An- und Einsichten zu den Themen Klima und
Energie.
Eine bedarfsgerechte, verlässliche, Umwelt und Ressourcen schonende Energieversorgung ist eine der wichtigsten infrastrukturellen Voraussetzungen für die gedeihliche Entwicklung einer modernen Industrienation
wie unser Land. Deshalb verdient unsere Bundeskanzlerin - wo auch immer sie sich aufhalten wird - die volle
Unterstützung dieses Hauses in allen damit verbundenen
Fragen.
({0})
- Ihre Ergänzung ist sehr richtig.
Die Regierung Merkel setzt mutige Zeichen. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir zum ersten Mal eine
Bundeskanzlerin haben, die über einen hervorragenden
technisch-physikalischen Hintergrund verfügt. Das war
ja bekanntlich nicht immer so. Klimaschutznotwendigkeiten machen natürlich nicht an Ländergrenzen halt. Sie
erfordern nicht nur einen europäischen, sondern möglicherweise auch einen globalen Lösungsansatz.
Die deutschen Energieversorger nehmen zu Recht seit
Jahren eine internationale Spitzenstellung ein. Sie waren
somit eine Voraussetzung für die gute und beispielhafte
Entwicklung unseres Landes im letzten Jahrhundert. Politik verlangt Taten. Frau Bundeskanzlerin, vielleicht
könnten wir unsere Botschaften weltweit mit additiven,
alternativen oder regenerativen Versorgungssystemen
ausstatten. Das wäre wieder einmal ein Punkt, an dem
wir die Vorreiterrolle Deutschlands am wirkungsvollsten
unterstreichen könnten.
Für mich steht zu Beginn jeder Energiedebatte zuerst
die Überlegung, wie wir den Energieeinsatz verringern
oder sogar vermeiden können. Ich bin mir sehr sicher,
dass wir in dem Bemühen, Wirkungsgrade zu steigern,
noch gewaltige Fortschritte generieren können. Immer
mehr Anwendungen mit Energie, aber immer weniger
Energie pro Anwendung, das müsste das Leitmotto in
den nächsten Jahren sein. Nicht die reine Leistungsfähigkeit, sondern die Entkopplung des Bruttoinlandsproduktes von einer CO2-freien Energieversorgung müsste
meiner Ansicht nach Maßstab für die Volkswirtschaft
sein; das wäre in Zukunft wichtig.
({1})
Bevor wir allerdings alle Glühlampen in die Mülltonne werfen, sollten wir sehr kritisch auf unsere Bauphysik schauen und sehr kritisch unsere Fensterverglasungen in Augenschein nehmen und darüber
nachdenken, ob wir noch auf die richtige Weise unsere
Räume beheizen und unser Warmwasser bereiten. Ich
bin zwar der Meinung, dass wir in Zukunft mehr in die
Kraft-Wärme-Kopplung investieren müssen. Aber
überall dort, wo Wärme- und Elektrizitätsbedarf zeitlich
nicht zusammenfallen, betreiben Sie Ihr schönes KraftWärme-Kopplungswerk im Schornsteinbetrieb ohne jeden ökologischen und ökonomischen Vorteil.
({2})
Vor dem Hintergrund der weltweit steigenden Energienachfrage bin ich mir sehr sicher, dass die nachfolgenden Generationen gar nicht mehr die Frage stellen
müssen, auf welche Art der Energieversorgung sie zurückgreifen. Sie werden all das nehmen, was noch verfügbar ist. - Herr Kelber, wenn ich es richtig sehe,
drängt es Sie zu einer Zwischenfrage.
({3})
Ich rege an, die Clean-Coal-Technologie weiter zu
erforschen; denn mit dieser Technologie wäre es möglich, die Braunkohlewerke in den neuen Bundesländern
zukunftsfähig zu gestalten. Wir hätten dann neben der
friedlichen Nutzung der Urantechnologie eine saubere
Technologie für unsere Braunkohle.
({4})
Wenn wir aber den Stellenwert und die Akzeptanz der
additiven und der regenerativen Energien weiter befördern wollen, müssen wir nach meiner Überzeugung
mehr in unsere Verteilungsnetze und möglicherweise
mehr in sogenannte Speichersysteme investieren; denn
seit wir gelernt haben, dass wir vom Emsland aus den
Strom und das Licht bis nach Sizilien ausschalten können, wissen wir, dass die Störungsquellen in aller Regel
in den Netzen und weniger auf der Erzeugungsebene zu
suchen sind. Bei der Speichertechnologie machen wir im
Grunde genommen nichts anderes, als Wasser zu erwärmen. Da diese Technologie 2 000 Jahre alt ist, lohnt es
sich, darüber nachzudenken, wie wir hier besser vorankommen können.
({5})
Die meisten der angesprochenen Themen sind - Sie
haben es gemerkt - Aufgabenstellungen für Techniker
und Ingenieure und eben nicht für Ideologen geeignet.
Insofern waren die Reden von Frau Künast und Herrn
Trittin in der Sache wenig hilfreich. Ich wäre froh, wenn
wir uns darauf verständigen könnten, etwas mehr technischen und physikalischen Sachverstand in die Debatte
einzubringen. Dann kommen wir voran und dann wird
Deutschland in Zukunft wieder eine gute Energiepolitik
machen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Lieber Kollege Thul, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche für Ihre Arbeit im deutschen Parlament.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu einer Reihe von Abstimmungen. Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4442 zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Brüssel am
8./9. März 2007. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 4 b: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/4428 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie
an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 16/4453. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des EU-Präsidentschaftsprogramms der Bundesregierung auf Drucksache 16/3680 den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3808 mit
dem Titel „Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen“ anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, in Kenntnis des EU-Präsidentschaftsprogramms den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/3832 mit dem Titel „Mehr Ehrgeiz für
die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge
für die Bürger“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der Fraktion Die Linke
gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, in Kenntnis des EU-Präsidentschaftsprogramms den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3796 zu der Abgabe
einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 14./15. Dezember 2006 in Brüssel und
zur bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des EU-Präsidentschaftsprogramms den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3327 mit
dem Titel „Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Ratspräsidentschaft für eine zukunftsfähige
EU nutzen“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 16/4448 zu dem Antrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU
im 21. Jahrhundert“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/4171 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der Fraktion
Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4 bis 10, die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie die weiteren Zusatzpunkte 11
und 12 auf:
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Volker Beck ({1}), Undine Kurth
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einführung einer Klimaschutzabgabe bei Flugreisen
- Drucksache 16/4182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Reinhard Loske, Peter Hettlich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Klimaschutzmaßnahmen im Straßenverkehr ergreifen
- Drucksache 16/4429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Dorothée
Menzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Trendwende beim Klimaschutz im Verkehr Nachhaltige Mobilität für alle ermöglichen
- Drucksache 16/4416 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Kerstin Andreae, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Klimaschutz im Verkehr - KfzSteuer auf CO2-Ausstoß umstellen
- Drucksache 16/4431 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Bärbel Höhn, Dr. Reinhard Loske,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
CO2-Emissionen der Dienstwagenflotte des
Deutschen Bundestages nachhaltig senken
- Drucksache 16/4430 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Treibhausgasemissionen bei Dienstreisen ausgleichen - Vorbildfunktion der öffentlichen
Hand erfüllen
- Drucksachen 16/1066, 16/3847 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({7}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Umverteilung durch den Emissionshandel beenden - Vorreiterrolle im Klimaschutz übernehmen
- Drucksachen 16/1682, 16/3144 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({8})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
9 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 16/4010 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 16/4449 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Volker Wissing
- Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/4450 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({11})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fördergesetz für Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst vorlegen
- Drucksachen 16/946, 16/4449 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Volker Wissing
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({13}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Michael Kauch,
Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimapolitischen Zertifikatehandel in Deutschland nachhaltig und verantwortungsvoll gestalten - Nationalen Allokationsplan grundlegend überarbeiten
- Drucksachen 16/3051, 16/4422 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({14})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Jan Mücke, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einbeziehung des zivilen Luftverkehrs in den
europäischen Emissionshandel
- Drucksache 16/3049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes - das ist der Tagesordnungspunkt 9 a - liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP vor.
Der Finanzausschuss hat in seine Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4449 den Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/946
mit dem Titel „Fördergesetz für Dieselrußpartikelfilter
baldmöglichst vorlegen“ einbezogen. Über diese Vorlage
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Fritz Kuhn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist völlig klar: Wenn wir den internationalen Klimaschutzanforderungen gerecht werden wollen, dann müssen wir die CO2-Emissionen in der Europäischen Union
um 30 Prozent senken. Daran führt kein Weg vorbei.
Herr Umweltminister, ich erlebe die Debatte, die in
Deutschland gegenwärtig stattfindet, in etwa so: Viele
Mitglieder der Regierung versteifen sich jetzt, da man
20 Maßnahmen durchführen könnte, in eine intensive
Diskussion nach dem Motto: Welche zwei Maßnahmen
wären uns denn die liebsten? Ich sage Ihnen: Nach der
Überzeugung meiner Fraktion ist dieses Vorgehen luxuriös und nicht adäquat. Wir müssen so vorgehen, dass
wir alles machen, was wirklich hilft, und zwar sowohl
im Bereich der Energieerzeugung, der Energieeffizienz
- Stichwort: erneuerbare Energien - als auch auf dem
Gebiet des Verkehrs.
({0})
Die jetzt stattfindenden Diskussionen, die nur die
Kfz-Steuer zum Gegenstand haben, sind - so wichtig
solche Fragen sind - ungenügend. Ich will, dass die Bundesregierung ein geschlossenes Konzept vorlegt, aus
dem hervorgeht, was sie beim Flugverkehr, zur Verbesserung des Schienenverkehrs und zur Reduktion der
Emissionen des Automobilverkehrs machen will. Dabei
sollte es sich um ein Gesamtkonzept handeln. Es geht
nicht an, dass nach monatelangen Diskussionen immer
wieder nur Einzelmaßnahmen beschlossen werden.
({1})
Manche in Deutschland - auch aus dem Kreis der Automobilbauer - sagen gerne: Der Straßenverkehr spielt
gar keine so große Rolle; man kann seinen Einfluss eigentlich vernachlässigen. Solche Aussagen halten wir
für gefährlich. In Zahlen: 20 Prozent der CO2-Emissionen in der EU gehen auf den Straßenverkehr zurück. Besonders wichtig ist: Zwischen 1990 und 2004 sind die
Emissionen im Straßenverkehr um 26 Prozent gestiegen.
Das heißt, das Verkehrsproblem muss gelöst werden,
wenn wir in Deutschland effektiv Klimaschutz betreiben
wollen.
({2})
Der Bundespräsident hat eine gute und wichtige Aussage getroffen. In den Zeitungen von heute ist zu lesen,
wie zum Beispiel die Automobilindustrie auf Köhlers
Mahnungen reagiert hat. Ich finde, darüber müssen wir
schon eine klare und öffentliche Aussprache führen. Der
neue Audi-Chef, Rupert Stadler, hat in Abarbeitung einer Forderung, die niemand gestellt hat - niemand hat
gesagt, der CO2-Ausstoß von 120 Gramm pro Kilometer
müsse „automobilkonzernscharf“ erreicht werden; vielmehr ist es ein Durchschnittswert, über den verhandelt
werden muss -, abwehrend gesagt, Audi könne dies
nicht leisten. Ich zitiere:
Wir sind keine Sozialhilfestation, sondern ein Wirtschaftsunternehmen.
Ich kann nur sagen: Wer mit solchen Sprüchen, die
außerdem trivial sind, auf die Klimaanforderungen reagiert, um zu verhindern, dass auch die deutsche Automobilindustrie handeln muss - sie hat ein massives Problem, weil sie viele Technologien zur CO2-Reduktion
verschlafen hat -, der hat das ökonomische Gesetz der
Zukunft nicht verstanden. Das heißt, nur wer den Klimaschutz beim Fahrzeugbau beachtet, nur wer den Klimaschutz zum strategischen Element der Industriepolitik
macht, hat in Zukunft auch ökonomisch eine Chance. Ich
kann nur sagen: Da muss man noch einmal nacharbeiten.
In diesem Fall gilt das für Herrn Stadler von Audi.
Herr Gabriel, wir finden es schade, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene - Stichwort: Ausdehnung auf
130 Gramm - eingeknickt ist. Die Botschaft, die Sie damit an die deutschen Fahrzeugbauer senden, heißt nämlich: Wenn die EU einen ökologisch vernünftigen Vorschlag macht, kann man sich jederzeit darauf verlassen,
dass die deutsche Bundesregierung diesen Vorschlag
aufweicht und wieder kaputtmacht. Deswegen hat Ihr
Handeln auf EU-Ebene im Hinblick auf den industriellen
Umbau unserer Fahrzeugindustrie ein falsches Signal
gegeben. An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei.
({3})
Wir wollen doch eine vernünftige Debatte führen.
Dann gilt der alte Satz: Man kann in der Fahrzeugindustrie mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben, aber
nur dann, wenn man wirklich beachtet, wie die Ökologie
und der Klimaschutz gehen. Herr Gabriel, da brauchen
wir uns nicht zu streiten.
Ich habe nach dem italienischen Wochenende gesagt:
Lasst uns auch in Deutschland einmal fahrzeugfreie
Sonntage veranstalten! Ich habe übrigens nicht von Verboten geredet, weil ich weiß, dass in Deutschland die
Zahl der Veranstaltungen in der Richtung zunimmt. Es
wird viel gemacht. Übrigens ist das Bundesland Rheinland-Pfalz da führend. Ich finde, dass wir in den Städten
eine Manifestation für mehr Klimaschutz durchaus auch
einmal in Deutschland machen könnten. Ihre Reaktion,
Herr Gabriel, fand ich etwas überzogen und Ihrer gar
nicht würdig; das zeigt vielleicht, wie sehr Sie doch noch
emotional am Auto hängen. Wir könnten es doch auch
einmal wie die Italiener - von Ihnen als „Millionen
Kleinbürger“ beschimpft - machen und uns am Sonntag
in der Stadt frei bewegen. Wir wissen, dass das nicht die
große CO2-Einsparung bringt. Aber einmal darüber zu
diskutieren, wie Mobilität in unserem Land eigentlich
aussieht, halten wir für ziemlich wichtig.
({4})
Wir wollen die Kfz-Steuer umbauen, dabei übrigens
die anderen Schadstoffe nicht vergessen. Vor lauter Aufregung sollten wir jetzt nicht alles auf CO2 konzentrieren.
Wir wollen in Deutschland auch ein Tempolimit einführen. Ich will noch einmal klar und deutlich sagen: Ein
Tempolimit von 120 Stundenkilometern bedeutet nach
Zahlen des Umweltbundesamts 10 Prozent Reduktion
allein beim CO2.
({5})
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir können es uns nicht
leisten, solche Zahlen einfach zu ignorieren. Deshalb haben wir das vorgeschlagen.
Ebenso muss die steuerliche Abschreibung für Wagen, die sehr viel emittieren, irgendwo gedeckelt sein. Es
kann ja nicht sein, dass die CO2-mäßig schlimmsten Autos als Dienstwagen dann noch den größten Steuervorteil
erhalten. Das ist unmöglich. Das werden wir abschaffen.
({6})
Letzter Punkt. Der Deutsche Bundestag kann nicht
nur über Einsparungen reden; er muss auch selber handeln. Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, nach
dem auch im Fahrdienst des Deutschen Bundestages
verschiedene Werte einzuhalten sind. Da können Hybridfahrzeuge und andere Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Die meisten Fahrten finden in der Stadt Berlin statt.
Ein Bundestag, der von den Menschen im Lande und
von den Fahrzeugherstellern verlangt, dass es mit den
CO2-Emissionen runtergeht, aber meint, sich selbst nicht
daran beteiligen zu müssen, ist schief gewickelt. Ich bitte
darum, dass man auch im Ältestenrat dieses Hauses darüber spricht und zu ökologischeren Lösungen bei der
Mobilität des Bundestags gelangt.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Wochen ist kaum ein Tag vergangen, an dem nicht eine große Tageszeitung oder eine
Hauptnachrichtensendung über das Thema Klimawandel,
Klimaschutz berichtet hat. Auslöser waren sicherlich der
im vergangenen Jahr veröffentlichte Stern-Report, aber
auch der vor kurzem veröffentliche Weltklimareport.
Beide Berichte kommen übereinstimmend zu vier
Aussagen: erstens dass der Klimawandel stattfindet und
vom Menschen beeinflusst ist; zweitens dass Zeit da ist,
Maßnahmen zu ergreifen, um die schlimmsten Auswirkungen zu verhindern; drittens dass ein frühzeitiges
Handeln beim Klimaschutz eine spätere Explosion der
Kosten verhindern kann; viertens dass dann, wenn nicht
gehandelt wird, weltweit nicht nur erhebliche Veränderungen in der Natur, sondern auch massive soziale und
ökonomische Verwerfungen drohen. Deshalb ist klar,
dass wir beim Klimaschutz besser heute als morgen handeln sollten.
Es ist auch richtig, wenn jetzt über eine Vielzahl von
Vorschlägen diskutiert wird, wie wir beim Klimaschutz
vorankommen können. Es reicht aber nicht, tagtäglich irgendeinen Vorschlag auf den Markt zu werfen, der dann
kurze Zeit später wieder in der Schublade verschwindet
und doch nicht sehr viel mehr als Populismus ist.
Klimaschutz und Energiesicherheit bewegen die Menschen. Im Ranking der politisch wichtigsten Themen rangiert der Klimaschutz mittlerweile ganz oben. Die Bürger
interessieren sich. Sie informieren sich darüber, welchen
Beitrag sie ganz persönlich leisten können. Ich finde die
Entwicklung sehr positiv.
Aber diese Stimmung fördert es sicherlich nicht,
wenn dann in regelmäßigen Abständen über Verbote,
wie etwa ein Fahrverbot, diskutiert wird, auch dann
nicht, wenn sie nur einmal im Jahr gelten sollen. Herr
Kuhn, Sie haben gerade selbst gesagt, das werde wahrscheinlich keinen sinnvollen Beitrag zum Klimaschutz
leisten, aber sei trotzdem ganz gut. Solche Vorschläge,
glaube ich, fördern eher den Frust über überzogene Vorschläge, als dass sie tatsächlich einen positiven Beitrag
leisten.
({0})
Es ist Zeit, zu handeln. Nichtsdestotrotz ist es sinnvoll
- Herr Kuhn, da stimme ich Ihnen zu -, die verschiedenen Vorschläge im Rahmen eines vernünftigen GesamtKatherina Reiche ({1})
konzeptes zusammenzufügen; denn wir können die einzelnen Enden, die wir in den Händen haben, nicht
voneinander losgelöst betrachten.
Klimaschutz und Energiepolitik - das habe ich gesagt hängen eng zusammen. Wenn man bedenkt, welche Vorhaben allein in diesem Jahr auf der Agenda stehen, dann
zeigt sich eben, wie sinnvoll es ist, sie untereinander abzustimmen. Ein Beispiel: Wenn der Ausstieg aus der
Kernenergie bis zum Jahr 2012 so durchgeführt wird,
wie es vereinbart wurde, dann müssen 50 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich bis zum Jahr 2012 kompensiert werden. Wie aber diese Kompensation stattfinden soll, ist
bislang vollkommen offen. Auch darüber muss man reden.
Wichtig ist, dass in Deutschland und Europa deutlich
mehr in Forschung und Entwicklung investiert wird.
Im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU
wird jährlich 1 Milliarde Euro mehr in die Energieforschung investiert; das ist eine Steigerung um mehr als
50 Prozent.
Wir beraten heute auch über verschiedene Initiativen
zum Klimaschutz im Verkehrsbereich. Gemessen am
gesamten CO2-Ausstoß in Deutschland hat der Verkehr
einen Anteil von 20 Prozent. Selbstverständlich muss
der Verkehrsbereich wie jeder andere Sektor seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Deswegen ist der Vorschlag der Europäischen Kommission vernünftig, den
CO2-Ausstoß von Neufahrzeugen bis zum Jahr 2012 verbindlich auf einen Durchschnittswert von maximal
130 Gramm CO2 pro Kilometer zu begrenzen. Weitere
10 Gramm pro Kilometer müssen durch Verbesserungen
jenseits der Motortechnik und durch den Einsatz von
Biokraftstoffen eingespart werden, um auf einen Wert
von 120 Gramm pro Kilometer zu kommen. Derzeit liegt
der CO2-Ausstoß bei durchschnittlich 163 Gramm pro
Kilometer. Das zeigt, dass sich die Automobilindustrie
einer erheblichen technologischen Herausforderung stellen muss.
Weltweit genießen die deutschen Autobauer sicherlich nach wie vor einen hervorragenden Ruf, was Sicherheit und Technik betrifft. Ich finde, es liegt eine Chance
darin, auch im Bereich Klimaschutz zum Trendsetter zu
werden.
({2})
Allerdings fand ich die Hetzjagd der letzten Wochen auf
eine der wesentlichen Säulen unserer Volkswirtschaft
nicht besonders klug, weil häufig die Aufregung im Detail jeglicher Grundlage entbehrte. Ich wiederhole aber:
Die Automobilindustrie muss sich den Klimaschutzzielen stellen. Sie ist gefordert, klimafreundliche Technologien schnell auf den Markt zu bringen.
Zuletzt wurde die vollständige Umstellung der KfzSteuer auf eine CO2- und Schadstoffsteuer diskutiert.
Zwar hat man vom Auslöser der Debatte seither nichts
mehr gehört - das soll manchmal vorkommen -; aber
CDU, CSU und SPD haben sich schon im Koalitionsvertrag auf eine solche Umstellung geeinigt. Für eine solche
Umstellung sprechen die Steigerung der Transparenz
und des Anreizes, Autos mit moderner Technologie zu
kaufen. Eine neue Kfz-Steuer muss aber aufkommensneutral gestaltet werden. Wir bedürfen dabei eines
vernünftigen Vertrauensschutzes. Außerdem muss die
richtige Lenkungswirkung entfaltet werden. Die Finanzierungsfragen sind mit den Ländern zu klären.
Ohne Zweifel spielt der Flugverkehr beim Thema
Klimaschutz eine wichtige Rolle. Angesichts des enormen Wachstums in diesem Bereich darf der Flugverkehr
sicherlich nicht abseitsstehen. Es ist ein gutes Signal,
dass sich die Branche intensiv mit dem Klimaschutz beschäftigt. Die angemessene Einbeziehung des Flugverkehrs in einen Emissionshandel ist ein wichtiger Schritt.
Die Europäische Kommission hat hierzu Vorschläge unterbreitet. Ich meine jedoch, dass es keine Insellösung
geben darf. Wenn wir einen Emissionshandel beim Flugverkehr wollen, dann muss von vornherein eine globale
Lösung angestrebt werden, bei der auch Fluglinien außerhalb der Europäischen Union einbezogen werden.
({3})
Sonst besteht die Gefahr, dass die Flüge verlagert werden und am Ende für den Klimaschutz nicht viel gewonnen ist,
({4})
wir aber wichtige Luftdrehkreuze in Deutschland verlieren.
({5})
Das Kabinett hat gestern einen Beschluss zu Dienstreisen der Bundesregierung gefasst. Ab dem Jahr 2007
sollen die CO2-Emissionen aller dienstlichen Reisen der
Bundesregierung ausgeglichen und damit klimaneutral
gestaltet werden. Möglicherweise sind die Auswirkungen überschaubar; aber es ist mit Sicherheit richtig, Vorbild zu sein.
Wir brauchen in der Klimaschutzpolitik einen integrierten Ansatz: Wir müssen international Impulse setzen; national müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen und handeln. Deutschland und Europa stehen
beim Klimaschutz in einer besonderen Verantwortung;
denn nur wenn wir beim Klimaschutz handeln, werden
andere Länder tatsächlich folgen. Deshalb darf man sich
nicht auf die Position zurückziehen, erst dann Klimaschutz zu betreiben, wenn auch Staaten wie China oder
die USA bereit sind, konsequenter zu handeln; denn
dann würde es weltweit zu einem Stillstand kommen.
({6})
Es ist richtig, dass die Europäische Union Standards
setzt und dass sie sich auch einseitig verpflichten will,
den CO2-Ausstoß bis 2020 gegenüber 1990 um
20 Prozent und noch weiter um insgesamt 30 Prozent zu
senken, wenn sich andere Staaten verstärkt beteiligen.
Dies ist sicherlich nicht nur ein wichtiges Signal an die
Staatengemeinschaft, dass es uns mit dem Klimaschutz
Katherina Reiche ({7})
ernst ist, das ist auch ein deutliches Zeichen an die Energiewirtschaft und an die Industrie dafür, dass es in Europa auch nach dem Auslaufen des Kiotoprotokolls im
Jahre 2012 mit dem Klimaschutz weitergeht.
Dass das wichtig ist, zeigt ein Blick in die USA; denn
dort drängen immer mehr Unternehmen die Regierung,
sich zunehmend mit dem Klimaschutz auseinanderzusetzen und das Ganze offensiver anzugehen, sich zum Beispiel auch einem Emissionshandel nicht länger zu
verschließen. Das ist ein ganz deutliches Signal: Klimaschutz ist ein positiver Wachstumsfaktor. Die führenden
Unternehmen der Welt haben dies erkannt.
Diesen Gedanken sollten wir sicherlich auch stärker
in den Mittelpunkt rücken, damit nicht die Bedenkenträger, sondern diejenigen, die sich dieser Herausforderung
offensiv stellen, die Märkte von morgen erobern.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Kauch, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europäische Union muss beim Klimaschutz mit gutem Beispiel vorangehen. Die einseitige Verpflichtung der Europäischen Union auf dem letzten EU-Umweltrat,
20 Prozent bis 2020 einzusparen, ist deshalb ein Anfang.
In der Aktuellen Stunde hat uns der Umweltminister
gestern erzählt, dies sei ein historischer Beschluss. Ich
erinnere daran, dass sich der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend immer für 30 Prozent - und zwar unkonditioniert - ausgesprochen hat. Deshalb ist dieser Beschluss zwar gut, aber mit Sicherheit nicht historisch.
({0})
Die Bundesregierung betont gern die Vorreiterrolle
Deutschlands im Klimaschutz, doch die Auseinandersetzungen der Bundesregierung mit der EU-Kommission
um den deutschen Allokationsplan und die Art und
Weise der Auseinandersetzung um die CO2-Obergrenzen
haben der deutschen Reputation geschadet. Anspruch
und Wirklichkeit sind hier auseinandergeklafft.
Die Kommission hat die Sonderregelungen beim nationalen Allokationsplan, die die Bundesregierung vorgesehen hat, zu Recht angegriffen; denn diese Sonderregelungen insbesondere für neue Kohlekraftwerke wären
ein falscher Investitionsanreiz gewesen. Deshalb freuen
wir uns, dass sich die Kommission gegen die Bundesregierung durchgesetzt hat.
Das sollte aber auch Anlass für die Kolleginnen und
Kollegen der Koalition sein, noch einmal darüber nachzudenken, ob es nicht klug wäre, dennoch einen Teil der
Zertifikate zu versteigern. Das wäre ökologisch sinnvoll. Die Zusatzgewinne der Versorger würden abgeschafft, und in Verbindung mit der Senkung der Stromsteuer aus diesem Aufkommen gäbe es eine
Umverteilung weg von den Energiekonzernen hin zu den
Verbrauchern. Das müsste eigentlich auch im Interesse
der Sozialdemokratischen Partei sein.
({1})
- Gesenkt.
Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen ein Antrag
der FDP-Fraktion zur Einbeziehung des Luftverkehrs
in den Emissionshandel vor. Aus unserer Sicht ist es unumgänglich, dass auch der Luftverkehr seinen Beitrag
zum Klimaschutz leistet. Wir halten den Emissionshandel auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen
Entwicklung der Luftverkehrswirtschaft für das Instrument der Wahl. Das Ziel der Einsparung von so viel
Treibhausgasen wie möglich zu so geringen Kosten wie
möglich kann nur mit dem Emissionshandel erreicht
werden. Voraussetzung ist aber, dass der Luftverkehr in
das bestehende Emissionshandelssystem integriert wird,
sodass es auch eine Handelsmöglichkeit zwischen der
Industrie und der Energiewirtschaft auf der einen und
der Luftverkehrswirtschaft auf der anderen Seite gibt.
Deshalb ist es wichtig, ein separates Handelssystem,
welches das Europäische Parlament möchte, zu verhindern. Das wäre in der Tat ein großes Hemmnis für die
Entwicklung der Luftverkehrswirtschaft.
({2})
Aus ökologischer Sicht, wie ich betonen möchte, ist
es zudem auch notwendig - da sind, wie ich denke, im
Rat noch Diskussionen erforderlich -, dass man zwischen der Treibhauswirkung der Emissionen, die am Boden stattfinden, und denen, die in großer Höhe emittiert
werden, differenziert. Man wird sicherlich noch überlegen müssen, wie man hier differenziert. Außerdem ist es
wichtig, den Luftverkehr auch auf globaler Ebene auf
Klimaschutzziele zu verpflichten. Es macht keinen Sinn,
das nur innerhalb der EU zu tun. Ein Flug von Dubai
nach Tokio belastet das Klima nämlich genauso wie einer von Frankfurt nach New York. Hier ist Deutschland
gefordert, nicht nur in der EU, sondern auch über die
G-8-Präsidentschaft global Klimaschutzkonzepte voranzubringen.
({3})
Meine Damen und Herren, im Rahmen der aktuellen
Diskussion über den CO2-Ausstoß von Autos sollten wir
vielleicht einmal den Gedanken prüfen, ob wir nicht den
Verkehrssektor insgesamt in den Emissionshandel einbeziehen können. Das würde analog zu dem, was ich
eben beim Luftverkehr dargestellt habe, noch mehr
Möglichkeiten eröffnen, um die Ziele, die wir haben, so
kostengünstig wie möglich zu erreichen. Eine Debatte
um CO2-Obergrenzen ist deshalb nicht wirklich zielführend. Nicht der potenzielle CO2-Ausstoß eines Kraftfahrzeuges, sondern der tatsächliche Ausstoß von Treibhausgasen ist das, worum sich Politik kümmern sollte.
Ein wenig gefahrenes Oberklasseauto ist ökologisch
möglicherweise besser als ein Kleinwagen im Dauereinsatz.
({4})
Deshalb sollten wir uns bei der Anwendung von politischen Instrumenten daran orientieren, was emittiert
wird, und nicht daran, was potenziell emittiert wird.
({5})
- Herr Kelber, ich schätze Ihre Zwischenrufe. Der Kollege Wissing wird gleich noch einiges zur Kfz-Steuer
insgesamt sagen. Ich möchte Ihnen schon so viel verraten, dass wir die Kfz-Steuer abschaffen wollen - diese
Position der FDP kennen Sie ja - und sie auf die Mineralölsteuer umlegen wollen. Wenn man dann den Emissionshandel einführen würde, müsste man möglicherweise
flankierende Maßnahmen bei der Mineralölsteuer ergreifen, damit die Kosten nicht einfach draufgesattelt werden, sondern ökologisch für eine Begrenzung der Emissionen gesorgt wird. Dafür ist die Wahl des richtigen
Cap beim Emissionshandel der beste Weg, Herr Kelber.
({6})
Meine Damen und Herren, derzeit überschlagen sich
die politischen Forderungen zum Verkehrssektor. Uns
liegt ja auch ein Antrag zur Dienstwagenflotte des Bundestages vor. Es handelt sich um einen sehr populären,
möglicherweise sogar populistischen Vorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen. Die EU will ja, wie Sie gerade
selbst gesagt haben, den Grenzwert von 120 Gramm,
dessen Einhaltung Sie hier für die Dienstwagenflotte beantragen, weder herstellerscharf noch nutzerscharf
durchsetzen. Dieser Antrag ist rein populistisch motiviert. Daran ändert auch die Begeisterung von Frau
Künast für Autos von Toyota überhaupt nichts. Wenn
wir einen Wagen mit der gleichen Ausstattung wie derzeit üblich von Toyota nehmen wollten, dann müssten
wir den neuen Hybrid-Lexus nehmen. Dieser emittiert
aber 186 Gramm CO2 pro Kilometer, die E-Klasse von
Mercedes, die wir momentan nutzen, aber nur
167 Gramm. Das wäre also kein Fortschritt, sondern ein
Rückschritt.
({7})
Sie könnten jetzt entgegnen, dann steigen wir eben auf
die Golf-Klasse um und fahren alle Smart oder Prius. In
dem Zusammenhang möchte ich nur daran erinnern,
dass Herr Trittin in seiner Amtszeit in einem VW Phaeton durch die Gegend kutschiert wurde, der pro Kilometer 230 Gramm CO2 emittiert. So weit klaffen Anspruch
und Wirklichkeit grüner Politik zwischen Oppositionsund Regierungszeiten auseinander.
({8})
Lassen Sie mich jetzt noch ein Wort zum Thema
Kompensation von Dienstreisen sagen: Ich begrüße es,
dass die Bundesregierung einen entsprechenden Beschluss gefasst hat. Ich halte es auch für erwägenswert,
einen ähnlichen Beschluss für den Deutschen Bundestag
zu fassen. Wir werden das in den Ausschüssen beraten.
Zum Antrag der Grünen möchte ich nur eines sagen:
Darin legen Sie sich darauf fest, dass die Kompensationsleistungen über die Initiative „atmosfair“ abgewickelt werden sollen. Wir meinen, dass es noch mehr gute
Projekte als die von „atmosfair“ unterstützten in der
Welt gibt. Deshalb sollten wir nicht Lobbyarbeit für eine
Organisation machen.
({9})
An die Bundesregierung gerichtet möchte ich sagen:
Eine Kompensation für die Belastung durch Dienstreisen
vorzusehen, ist schön. Aber wenn Sie für einen Flug
oder für eine an sich begrüßenswerte Bahnfahrt, die öffentlichkeitswirksam unternommen wird, eine Kompensation vorsehen, zugleich aber den Dienstwagen als
Leerfahrt an den Zielort nachkommen lassen - und das
ist gängige Praxis in der Bundesregierung -, dann ist
dem Klimaschutz mit einer solchen Kompensationsleistung nicht geholfen, es sei denn, auch für die Leerfahrt
des Dienstwagens würde eine Kompensationsleistung
vorgesehen.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Barbara Hendricks.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist eine Klimaschutzdebatte; das ist keine Frage.
Aber auch der weiteste Weg kann nur durch viele zielgerichtete Schritte in die richtige Richtung bewältigt werden. Einen dieser Schritte gehen wir heute, indem wir
die Kfz-Steuer ändern, um Autos zu fördern, die mit
Dieselrußpartikelfiltern ausgestattet werden.
({0})
Bis jetzt ist es in dieser Debatte leider noch nicht thematisiert worden; aber wir haben heute ein Gesetz dazu
in zweiter und dritter Lesung zu verabschieden. Das ist
normale parlamentarische Arbeit, gut vorbereitet im Finanzausschuss, und die Kolleginnen und Kollegen aus
den Bereichen Umwelt und Verkehr tragen mit ihrer
Sachkenntnis zur Debatte bei, was ich auch gut finde.
Der Gesetzentwurf - ich will es kurz darstellen - sieht
eine Förderung für diejenigen Menschen vor, die ihre
PKWs mit Dieselrußpartikelfiltern nachrüsten lassen,
um der Feinstaubbelastung zu begegnen. Diese Förderung ist auf einen Zeitraum von ungefähr vier Jahren angelegt. In gleicher Weise, nämlich in einer Größenordnung von 330 Euro pro Fahrzeug, werden auch die
Menschen gefördert, die im Vertrauen auf unser angekündigtes Handeln ihren PKW schon im vergangenen
Jahr, also im Jahr 2006, haben nachrüsten lassen. Dies
wird mit der Kfz-Steuerschuld verrechnet. Für diejenigen, die ihre PKWs nicht nachrüsten lassen, gibt es eine
sogenannte Malusregelung, die auf vier Jahre begrenzt
ist, um die Besitzer von älteren PKWs nicht übermäßig
zu belasten. Bei einer durchschnittlichen Hubraumgröße
bedeutet dies eine zusätzliche Belastung von etwa
25 Euro pro Jahr, also eine überschaubare Belastung.
Mit Blick auf die Anreizwirkung unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten muss man aber eine Bonus- und eine
Malusregelung zusammen betrachten: Was sind die Folgen für mich, wenn ich es nicht tue, und was, wenn ich
es tue? Dies zusammengerechnet ergibt die Anreizwirkung für unsere Bürgerinnen und Bürger.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke?
Ja, sofort. Ich führe eben den Gedanken zu Ende. Mit 330 Euro Förderung wird man etwa die Hälfte der
Kosten erstattet bekommen; man muss natürlich selber
auch etwas zahlen.
Bitte schön, Frau Kollegin Bulling-Schröter.
Danke schön, Frau Staatssekretärin. - Ich möchte Sie
nur fragen: Was machen denn die Menschen, für deren
Autos es keinen Dieselrußpartikelfilter gibt? Es gibt Autos in der Bundesrepublik, für die keine produziert werden. Zum Teil sind diese Autos ganz neu; aber es gibt
keine Dieselrußpartikelfilter für sie am Markt.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, was das anbelangt,
vertraue ich auf das Funktionieren der Marktwirtschaft.
Es gibt ja einen vierjährigen Förderzeitraum, und es
ist natürlich möglich, Dieselrußpartikelfilter, die jetzt
noch nicht am Markt sind, verhältnismäßig rasch auf den
Markt zu bringen. Besonders einige mittelständisch orientierte Unternehmen haben sich darauf spezialisiert,
solche Filter nicht nur zu produzieren, sondern auch
selbst zu entwerfen. Das ist eine Technik, die gerade im
deutschen Mittelstand vorangetrieben wird. Deswegen
vertraue ich darauf, dass Dieselrußpartikelfilter, die jetzt
noch nicht für bestimmte Fahrzeugtypen zur Verfügung
stehen, auf den Markt kommen werden.
Wir schreiben im Übrigen nicht die Einführung einer
bestimmten Technik vor, sondern es geht sozusagen um
das Ergebnis, das mit dieser Technik erreicht wird. Die
Parameter sind in der Straßenverkehrs-ZulassungsOrdnung festgelegt. Das muss nicht im Steuerrecht angepasst werden; da wird insoweit auf die zuständige Regelung in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung verwiesen.
({0})
Ich glaube, dass wir hiermit ein gutes Angebot an die
Bürgerinnen und Bürger machen und dass wir damit
auch gegenüber denjenigen unsere Zusage eingehalten
haben, die im Vertrauen auf unser Handeln ihr Kfz schon
im Jahr 2006 haben nachrüsten lassen. Auch sie werden,
wie ich schon sagte, nach Inkrafttreten des Gesetzes am
1. April einen entsprechenden Antrag bei der Finanzverwaltung stellen können.
Ich darf noch auf die aktuelle Debatte zur Kfz-Steuer
und zum CO2-Ausstoß, die wir jetzt führen, eingehen.
Manche haben schon gefragt: Wieso führt ihr eigentlich
noch die Regelung mit den Dieselrußpartikelfiltern ein?
Das ist doch alles nur Klein-Klein; in Wirklichkeit geht
es doch um CO2. - Darum habe ich ganz am Anfang von
den vielen zielführenden Schritten gesprochen. Man
kann natürlich ein sehr großes Bild dessen malen, was
man erreichen will und auch erreichen muss und was wir
in Verantwortung für zukünftige Generationen in diesem
Hause sicherlich auch gemeinsam anstreben. Gleichwohl ist parlamentarische Arbeit mühsam. Parlamentarische Arbeit ist gerade, was die Gesetzgebung bei der
Kfz-Steuer angeht, nur in vielen kleinen Schritten zu
leisten. Selbstverständlich bereiten wir Regelungen vor,
die den CO2-Ausstoß in der Kfz-Steuer berücksichtigen.
Dies ist auch Gegenstand unserer Koalitionsvereinbarung. Darauf wurde eben schon hingewiesen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kuhn?
Bitte, Herr Kollege Kuhn.
Frau Staatssekretärin, ich habe dazu eine Frage. Der
Umweltminister und der Verkehrsminister haben öffentlich gesagt, man könne Regelungen zur CO2-Komponente der Kfz-Steuer noch in diesem Jahr umsetzen. Wir
alle wissen, dass dazu ein kompliziertes Einigungsverfahren notwendig ist, weil es sich bei der Kfz-Steuer um
eine Ländersteuer handelt.
Ich möchte Sie fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag, den auch wir gemacht haben, im
Rahmen der Föderalismusreform-II-Kommission einen
Steuertausch durchzuführen? Das könnte zu einer Beschleunigung führen. Oder sind Sie der Meinung, dass
die Länder noch in diesem Jahr in der Lage sein werden,
sich auf einen einheitlichen Vorschlag zu einigen, der
dann auch mehrheitsfähig ist?
Herr Kollege Kuhn, ich bin dankbar für Ihre Frage
zum Steuertausch. Darüber muss in der Tat im Rahmen
der Föderalismusreform-II-Kommission verhandelt werden. Die Länder haben zwar zum Teil geäußert, man
könne dies vorab tun. Ich halte das aber nicht für zielführend. Denn wir reden in der Föderalismusreform-IIKommission gerade über die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Ein Steuertausch würde natürlich bedeuten, man müsste vorab die Verfassung für dieParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
sen Punkt isoliert ändern. Ich glaube, wir können das
nicht verantworten. Dieses Thema gehört vorurteilsfrei
in die Debatte zur Föderalismusreform II. Ich sage bewusst: vorurteilsfrei. Die Bundesregierung hatte in der
Föderalismusreform-I-Kommission diesen Steuertausch
vorgeschlagen. Damals ist er von den Ländern nicht akzeptiert worden.
Ich will noch etwas dazu sagen, warum die Länder
jetzt einen Tausch so freundlich anbieten. Das ist zu erklären mit dem Föderalismus in seiner jetzigen Ausprägung.
({0})
Da die Länder erkannt haben, dass das dynamische Aufkommen der Kfz-Steuer durch Hinzunahme von weiteren Zielvorstellungen beschränkt wird, wollen sie diese
Steuer gerne loswerden und dafür eine sich dynamisch
entwickelnde Steuer bekommen.
({1})
Als Bundestagsabgeordnete haben wir uns selbstverständlich für den Klimaschutz einzusetzen. Aber wir haben auch die Interessen des Bundes zu wahren. Deswegen werden wir diese Debatte zwar vorurteilsfrei führen,
aber ich kann keine Zusage geben. Das wird im Rahmen
der Föderalismusreform-II-Kommission vielleicht ein
Do-ut-des an anderer Stelle bedingen. Die Debatte ist
noch nicht zu Ende. Aber niemand kann von uns erwarten, vorab und isoliert über diesen Punkt zu verhandeln.
Denn wir haben auch die Interessen des Bundes zu wahren.
({2})
Was die Umgestaltung der Steuer anbelangt, müssen
Sie wissen, dass wir den Schadstoffbezug in der KfzSteuer trotz Hinzunahme des CO2-Bezuges nicht abschaffen wollen. Bisher haben wir eine hubraum- und
schadstoffbezogene Kfz-Steuer. Diese wäre dann so
rasch wie möglich durch eine auf den CO2-Ausstoß und
auf die übrigen Schadstoffe bezogene Steuer zu ersetzen.
Dafür braucht man aber ganz gewiss Übergangsregelungen. Wir befinden uns zurzeit auf der Ebene der zuständigen Ministerien, des Finanzministeriums, des Verkehrsund Umweltministeriums, in den Abstimmungsgesprächen.
Man muss wissen: Ohne Übergangsbestimmungen
wird es nicht gehen. Denn der Kfz-Bestand in der Bundesrepublik Deutschland hat etwa zur Hälfte überhaupt
keinen festgestellten Status in Bezug auf den CO2-Ausstoß. Man muss sich also einmal vergegenwärtigen, dass
es wohl kaum möglich sein wird, den CO2-Status von
rund 40 Millionen Pkws zu bestimmen und anschließend
mit dieser Information zu den Kfz-Meldeämtern der
Kreise und kreisfreien Städte zu gehen. Diesen Vorschlag würden die Länder, die die Verantwortung für
diese Verwaltungen haben, zu Recht ablehnen.
Wir brauchen also vernünftige Übergangsregelungen.
Selbstverständlich arbeiten wir mit Nachdruck daran.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatten um den Klimaschutz haben zurzeit Hochkonjunktur. Es wird mehr in der Gesellschaft diskutiert; es
wird um Lösungen gerungen. Das ist gut so.
Dass der Flugverkehr zunehmend zu einem ernsten
Problem für das Weltklima wird, wurde schon angesprochen. Ich möchte dazu eine Zahl nennen: Im letzten Jahr
gab es nach dem Statistischen Bundesamt in diesem Bereich ein Plus von 6,5 Prozent. Wir haben noch nicht
darüber gesprochen, dass es immer noch Pläne gibt, weitere Flughäfen zu bauen und bestehende auszubauen,
zum Beispiel in München eine dritte Startbahn, und so
den Flugverkehr zu forcieren.
Jetzt soll also der Flugverkehr in das europäische
Emissionshandelssystem eingebracht werden. Dies soll
die Lösung bringen. Daran habe ich meine Zweifel. Die
Kommission schreibt, die Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel würde sich auf die Ticketpreise in einem geringeren Maße auswirken als die
Besteuerung von Flugkraftstoff oder eine Emissionsabgabe - und dies bei angeblich gleichen Verbesserungen
für die Umwelt. Ich meine, das mit den Preisen stimmt
sicherlich, das mit dem zusätzlichen Umweltschutz aber
nicht.
Ich frage Sie im Hinblick auf die Billigfliegerei:
Wenn die Tickets nur um 1,80 bis 9 Euro teurer werden,
wer würde da vom Fliegen Abstand nehmen? Ich glaube,
niemand. Auch wird sich angesichts dieser geringen zusätzlichen Kosten in die Tasche gelogen, wenn in diesem
Zusammenhang von einem Lenkungseffekt für die Fluggesellschaften, sich sparsamere Maschinen anzuschaffen, gesprochen wird. Steigende Kerosinpreise treiben
hier Erneuerungen viel schneller an als ein Emissionshandel light. Ich gehe natürlich davon aus, dass Landesregierungen in Zukunft den Verbrauch von Kerosin nicht
mehr unterstützen werden.
({0})
Das Grundübel der Konstruktion der Kommission ist,
dass Kohlendioxid nur mit einem Faktor eins in die Berechnungen eingeht. Dabei ist die Wärmewirkung des
Flugverkehrs je Tonne CO2 zwei- bis viermal so hoch
wie die des am Erdboden ausgestoßenen Kohlendioxids.
Das heißt, wir bräuchten hier einen anderen Faktor.
Die Verzahnung mit dem EU-Emissionshandel führt
dazu, dass der Flugverkehr weiter ungezügelt wachsen
wird. Das Problem hätte man umgehen können, wenn
der Emissionshandel im Flugbereich ein eigenes, abgeschlossenes System wäre. Dann entstünde nämlich für
dessen Emissionen ein echter Deckel, also eine Begrenzung, die wir natürlich brauchen. Dieser Deckel wird
aber angehoben, wenn Emissionsrechte aus dem Energie- oder Industriesektor hinzugekauft werden können,
({1})
und zwar vergleichsweise billig, da ja die Umweltwirkungen im Emissionsfaktor nur zu einem Viertel berücksichtigt werden.
Zu begrüßen ist am Richtlinienentwurf die angestrebte
Versteigerung der Zertifikate. Hier hat man offensichtlich aus dem Desaster im Handelssystem im Zusammenhang mit den Extraprofiten für die Energiewirtschaft und
die Industrie gelernt.
Weil wir gerade dabei sind: Nach dem Willen der EUKommission musste Deutschland seinen Zuteilungsplan
für die nächste Handelsperiode in fast allen Punkten ändern, wie auch die Linke in ihrem Antrag vom Frühsommer letzten Jahres bemängelt hat. Es gab eine viel zu
hohe Zertifikationszuteilung, unakzeptable Übertragungs- und Neuanlagenregelungen und verdeckte Beihilfen für die deutsche Industrie.
Leider konnte sich die Bundesregierung immer noch
nicht zu einer brennstoffunabhängigen Zuteilung der
Zertifikate durchringen. Das heißt, Kohle erhält mehr
Zuteilungen als Gas. Damit wird die Lenkungswirkung
des Emissionshandels hin zu emissionsärmeren Kraftwerken deutlich beschnitten. Dass die Bundesregierung
weiterhin nicht von der Möglichkeit Gebrauch macht,
Zertifikate zu versteigern, ist ein Skandal.
({2})
Wir reden hier über Milliardenprofite; darauf haben wir
schon an vielen Stellen hingewiesen. Die Begründung,
dass dann die Preise noch mehr steigen würden, halte ich
für illusorisch; denn die Gelder werden schon jetzt eingepreist.
Herr Gabriel hat gestern gesagt, wir wollten, dass die
Preise steigen. Vor allem für Geringverdiener sei das
aber ein Problem. Dazu kann ich nur sagen: Herr
Gabriel, wir haben den Antrag eingebracht, die im Zusammenhang mit Windfall-Profits entstehenden Gewinne abzuschöpfen und sie in regenerative Energien zu
stecken, sie aber auch an Niedrigverdienerinnen und
Niedrigverdiener sowie Sozialhilfeempfängerinnen und
Sozialhilfeempfänger als Kompensation für die höheren
Preise weiterzugeben. Sie haben uns damals ausgelacht;
Sie haben das Problem nicht erkannt. Jetzt sprechen Sie
es selber an. Also: Tun Sie etwas!
({3})
Wir wollen auch den Haushalten, die wenig Geld haben,
die Möglichkeit geben, Energie zu sparen, etwa durch
neue Geräte.
Noch etwas zum Schluss: Es wurde die Firma Audi
angesprochen. Herr Stadler erpresst die Beschäftigten
hinsichtlich des Klimaschutzes. Ich kann dazu nur sagen: Klimaschutz erreicht man nicht durch Angstmache.
Das sollte sich Herr Stadler merken. Er sollte sich informieren und darüber Gedanken machen, wie man wirklich CO2 einsparen kann. Die Firma Audi hat im letzten
Jahr den Gewinn um 63 Prozent gesteigert. Das ist nicht
wenig. Dass die Firma nicht zu einer Sozialstation werden will, verstehe ich. Das war sie aber auch noch nie.
({4})
Wir fordern dazu auf, diese Erpressungen mit Blick auf
die Arbeitsplätze zu unterlassen.
({5})
Nun hat Kollege Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bulling-Schröter, weil Sie in Ihrer Rede so viel
über den Flugverkehr philosophiert haben: Beim nächsten Mal, wenn wir am Terminal 1 des Münchner Flughafens auf unser Flugzeug warten, unterhalten wir uns über
den Emissionshandel.
({0})
Vorneweg möchte ich klarstellen: Zu dieser Debatte
liegt eine Vielzahl von Anträgen der Grünen vor. Man
könnte daher auf die Idee kommen, dass es sich um eine
Vergangenheitsbewältigung und Reinwaschung der Grünen-Fraktion handelt, weil Sie in den sieben Jahren Ihrer
Regierungszeit scheinbar zu wenig erreicht haben. Angesichts Ihrer Kritik fragt man sich, wo Sie in den sieben
Jahren Ihrer Regierungszeit waren.
Ihre Anträge enthalten einen bunten Strauß, ein Sammelsurium von Forderungen. Mir scheint, Sie wollen
wieder auf den Zug der aktuellen und sehr intensiven öffentlichen Diskussion aufspringen. Dieser scheint Ihnen
allein durch die guten und weitreichenden Maßnahmen
und Zielvereinbarungen der Großen Koalition davongefahren zu sein. Es reicht einfach nicht, in dieser Debatte
nur eine Wählerklientel-Seelenmassage zu machen. Das
ist durchschaubar.
Die Große Koalition will Ihnen, meine Damen und
Herren von den Grünen, dieses antragstechnische Feigenblatt nicht durchgehen lassen. Ziel aller politischen
Kräfte hier im Deutschen Bundestag muss doch sein,
realitätsbezogene, sozial ausgewogene, bezahlbare und
wirtschaftlich vertretbare Klimaschutzmaßnahmen zu
erreichen. Lassen Sie uns alle gemeinsam nicht mit Panik und Schnellschüssen Politik - gerade im Bereich des
Klimaschutzes - machen, sondern im Interesse unserer
Bürgerinnen und Bürger gut umsetzbare Maßnahmen ergreifen und die richtigen Weichen dafür stellen.
({1})
Wir müssen die Klimaschutzpolitik in den Fokus
nehmen. Dazu hilft, dass sich die deutsche Öffentlichkeit, die Medien dieses Themas angenommen haben.
Damit ist auch eine Chance für die Politik verbunden,
den Vorwurf zu entkräften, nur bis zum nächsten WahlDr. Andreas Scheuer
termin zu schauen. Dem ist definitiv nicht so. Alle hier
im Hohen Haus versuchen, weit darüber hinaus zu
blicken, auch wenn alle Parteien in der Vergangenheit
vielleicht einmal falsche Schwerpunktsetzungen vorgenommen haben. Es ist legitim, so etwas richtigzustellen.
Deshalb: Nein, Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ich werde Ihnen nicht vorhalten, dass der Fuhrpark der Bundesregierung mit grüner Beteiligung stärker, schneller und durstiger war als bei allen Regierungen zuvor. Ich halte Ihnen auch nicht vor, dass Sie die
Chancen auf dem Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe
lange nicht erkannt haben. Ich habe eine Sammlung von
Unterlagen zu Bioethanol und Biodiesel, woraus ich zitieren könnte, vor allem aus Plenarprotokollen und Anträgen der Grünen. Ich bin mir sicher, auch Sie lernen
dazu. Ich nenne nur ein Zitat:
Die GRÜNEN lehnen die Herstellung von Äthanol
aus Biomasse ab, da sie einer Vernichtung von
pflanzlicher Masse, also von Nahrungsmitteln,
gleichkommt.
Das ist aus dem Änderungsantrag der Abgeordneten
Frau Dr. Vollmer und der Fraktion der Grünen zur zweiten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes.
({2})
Es trifft mich persönlich, wenn die Frau Kollegin
Künast zum Kauf von japanischen Fahrzeugen aufruft.
Wie das der Arbeiter am Fließband von deutschen Autokonzernen wertet, können Sie sich selbst ausmalen. Natürlich muss die deutsche Autoindustrie schneller und
noch innovativer handeln, ein deutliches Signal setzen.
Wir müssen als Politiker auch eine deutsche Produktpalette vertreten können, die ein Angebot an eine klimaverträgliche Mobilität darstellt. Deshalb der Appell an unsere Autobauer: Seien Sie rastlos in Bezug auf
alternative Antriebstechniken. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung im Rahmen der vorangegangenen Debatte eine deutliche Ansage dazu gemacht: Mit Ökonomie und Ökologie im Einklang
Innovations- und Technologieführerschaft erreichen!
({3})
Die Große Koalition ist für Vorschläge in Bezug auf
eine stärkere CO2-abhängige Besteuerung von Fahrzeugen offen. Die Frau Staatssekretärin hat dazu Stellung
bezogen. Wir werden uns im Rahmen der Föderalismusreform II auf konstruktive Gespräche mit den Länderministern einlassen. Zudem gibt es, beispielsweise
vom ADAC, sehr hilfreiche Anregungen, die wir ohne
Scheuklappen thematisieren müssen.
Wenn ich aber in dem Antrag der grünen Kollegen
lese, dass die Kfz-Steuer rein auf die Mineralölsteuer
umgelegt werden soll - auch Herr Kauch hat das im Namen der FDP gefordert -, dann sage ich: Das ist ein
Schlag ins Gesicht des ländlichen Raumes, der Grenzregionen, der Pendler und der Berufstätigen, die auf das
Auto angewiesen sind, um zur Arbeitsstelle zu kommen,
die nicht einfach so auf die S-Bahn umsteigen können
wie die Menschen in Ballungsräumen.
({4})
Was meinen Sie, was im Grenzraum los ist, wenn wir die
Steuer auf Mineralölprodukte weiter anheben.
Sie argumentieren im gleichen Atemzug mit der Harmonisierung der Mineralölsteuer auf europäischer
Ebene. Sie hatten in den sieben Jahren Ihrer Regierungszeit doch die Chance, diese Harmonisierung zu erreichen. Die Ökosteuer hat uns wettbewerbsunfähig gemacht. Was wir in den vergangenen Jahren an
klimaschutzfreundlichen Maßnahmen mit den 4 bzw.
5 Milliarden Euro, die jährlich als verdeckte Subvention
an unsere europäischen Nachbarn abfließen, hätten
durchführen können, möchte ich mir gar nicht ausmalen.
Herr Kollege Scheuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Gerne.
Bitte.
Herr Scheuer, Sie haben eben behauptet, dass Grüne
in letzter Zeit gefordert hätten, die Kfz-Steuer auf die
Mineralölsteuer umzulegen. Ich würde gerne wissen,
wer das war und wann das war. Bitte beantworten Sie
danach noch die Frage, wann Antje Vollmer den Antrag
zu Bioethanol im Haushalt gestellt hat. Diese Fragen
hätten wir gerne von Ihnen beantwortet.
Frau Kollegin, ich habe auf Ihre Zwischenfrage zum
Zitat gewartet.
Ich hatte den Gedanken verfolgt, dass alle Parteien in
der Vergangenheit auch einmal auf ein falsches Pferd gesetzt haben. Vergangenheit ist ja ein dehnbarer Begriff.
Ich habe aus der Debatte über das Haushaltsgesetz 1984
zitiert.
({0})
Da ich schon auf Ihre Zwischenfrage gewartet habe,
könnte ich natürlich weitere Zitate aus den Jahren 1989,
1990 und 1995 anführen. Ich habe eine ganze Sammlung
von Zitaten zu diesem Thema. Ich bin gerüstet. Ich habe
mit einem Zitat von 1984 angefangen. Ich könnte das
aber beliebig weiterführen, auch mit Zitaten aus der jüngeren Vergangenheit.
Zum zweiten Punkt. Herr Kollege Hermann, wir haben im Verkehrsausschuss des Öfteren darüber diskutiert. Ich möchte im Namen der CDU/CSU sagen, dass
der Aufschlag auf die Mineralölprodukte aus meiner
Sicht der falsche Weg ist. Wir führen hierüber eine offene Diskussion. Das wollte ich zum Ausdruck bringen.
Ich habe auf die Kollegen von der FDP verwiesen, die
einen entsprechenden Parteitagsbeschluss gefasst haben. Auch bei Ihnen gibt es eine Diskussion über die
verschiedenen Modelle. Der Kollege Kuhn hat in der
vergangenen Woche zwar kein Fahrverbot am Wochenende gefordert, aber zumindest - vielleicht ist er falsch
verstanden worden - einen Appell ausgesendet. Meiner
Meinung nach müssen wir die Scheuklappen ablegen.
Bezüglich der Steuer auf Mineralölprodukte sage ich an
die Adresse Ihrer Fraktion, dass das aus meiner Sicht der
falsche Weg ist, weil wir dann wettbewerbsunfähig wären.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Nachfrage der
Kollegin Höhn?
Ja.
Bitte.
Meine Frage hätte ich doch gerne beantwortet. Ich
habe gefragt: Wann hat welcher Abgeordnete der Grünen in der letzten Zeit die Abschaffung der Kfz-Steuer
und einen Aufschlag auf die Mineralölsteuer gefordert?
Wann war das, und wer war das? Ich hätte gerne ein entsprechendes Zitat von Ihnen gehört.
Der Kollege Hermann sitzt vor Ihnen. Wir haben gestern in der Anhörung im Nachhaltigkeitsbeirat darüber
gesprochen, wie wir vorgehen müssen.
({0})
- Herr Kollege Hermann, ich lade Sie sehr herzlich dazu
ein, dass wir uns das Protokoll der Anhörung bei einer
Tasse Kaffee anschauen. Dann können wir noch einmal
darüber philosophieren.
Ich fahre mit dem Thema Tanktourismus fort. Sie
kümmern sich auch nicht darum, dass LKWs mit Zeitbomben am Fahrzeug, mit 1 000 Liter fassenden Zusatztanks, mit schadstoffbelastetem Treibstoff, durch
Deutschland fahren. Auch das ist ein Resultat des Tanktourismus.
Wo wir schon beim Warenverkehr, bei den Gütern
sind: Ich verstehe nicht - das ist ein kleiner Appell an
unseren Koalitionspartner -, dass wir beim Donauausbau, bei der Variante C 280, nicht auf einen leistungsfähigen Ausbau setzen. Ein einziger Lastkahn auf der Donau könnte 140 LKWs laden.
({1})
Das ist bei Einhaltung des Sicherheitsabstandes auf der
Autobahn ein Konvoi von 5,3 Kilometern. Wir müssen
uns schon entscheiden, welchen Verkehrsträger wir als
den ökologischeren ansehen. In diesem Sinne müssen
wir uns Gedanken machen.
Zum abschließenden Thema: Tempolimit. Auf der einen Seite stellen die Grünen einen Antrag im Verkehrsausschuss mit dem Titel „Erhaltungsrückstand bei Bundesfernstraßen beenden“, in dem als Kritik an der
Bundesregierung steht, dass Tempolimits eingeführt
werden müssen, weil die Straßen so schlecht sind. Dadurch entstehen vermehrt Staus. Auf der anderen Seite
treten Sie hier für ein generelles Tempolimit ein. Meine
Vorredner von der Koalition haben schon darauf hingewiesen, dass damit nur eine CO2-Reduktion um
0,3 Prozent möglich wäre, weil 98 Prozent der Straßen
in Deutschland ohnehin schon ein Tempolimit haben.
Die Diskussion über diese CO2-Reduktion lenkt von den
Hauptthemen ab. Wir haben Maßnahmen eingeleitet. Ich
nenne das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm genauso wie die jetzige Debatte über die Dieselrußpartikelfilter.
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag haben wir fraktionsübergreifend eine gute Atmosphäre, leisten konstruktive Arbeit und leiten vielversprechende Aktivitäten ein. Ich
möchte Sie daher abschließend aufrufen, dass wir in einer ideologiefreien Zone wie der des Nachhaltigkeitsbeirates zu Vorschlägen, Stellungnahmen und Gutachten für
die Fachausschüsse kommen. Dazu lade ich Sie alle sehr
herzlich ein.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hätte gute Lust, Ihnen mit einer polemischen
Kanonade zu antworten, Herr Scheuer. Aber ich glaube,
das wäre dem Thema nicht angemessen. Man kann sich
nicht um die Lösung der grundsätzlichen Fragen des Klimaschutzes herummogeln, indem man andere beschimpft und selber nichts vorlegt.
({0})
Sie haben uns vorgeworfen, dass wir dies und jenes
nicht in der Regierung durchgesetzt haben. Ja, als kleine
Regierungspartei haben wir nicht alles durchgesetzt.
({1})
Aber Sie sind eine große Regierungspartei und haben
auch noch nicht alles durchgesetzt. Wo sind Ihre konkreten Vorstellungen zu Klimaschutz und Verkehr?
({2})
Fehlanzeige. Die hätten Sie heute präsentieren können.
Das haben Sie nicht getan. Ich finde es unfair und
schräg, wenn Sie stattdessen anhand von Beispielen die
Grünen beschimpfen. So kommen wir nicht weiter.
({3})
Wir haben das Thema heute aufgesetzt, weil wir spüren, dass es im Moment eine breite öffentliche Debatte
und ein großes Interesse daran gibt, dass im Verkehrssektor etwas geschehen muss. Die Leute sehen ein, dass
der Verkehrssektor ein Wachstumssektor par excellence ist: der Flugverkehr - Sie haben es gesagt -, aber
auch der Automobilverkehr. Dort gibt es weltweit ein
riesiges Wachstum und dadurch riesige Probleme mit
Treibhausgasen. Dafür müssen wir Lösungen finden.
Das wollen wir mit unserer heutigen Debatte anstoßen.
({4})
Es wurden von uns viele Vorschläge gemacht, zum
Beispiel zu „atmosfair“ und zur Kfz-Steuer, die noch vor
kurzem abgelehnt wurden. Jetzt macht der Verkehrsminister diese Vorschläge. Der Herr Umweltminister ist
jetzt auch für „atmosfair“. Ich will das gar nicht karikieren. Mir ist es recht, wenn jeder etwas macht. Mir ist jeder dieser Vorschläge recht, wenn man ihn umsetzt. Aber
es darf nicht dabei stehen bleiben. Wir brauchen aus der
Fülle der guten Vorschläge jetzt eine Gesamtstrategie für
den Verkehrsbereich, die Mobilität und Klimaschutz
gleichermaßen berücksichtigt.
({5})
Was heißt das? Wir müssen uns klare Ziele setzen,
zum Beispiel bei der Reduktion von Treibhausgasen.
Mit dem Emissionshandel allein werden Sie nicht weiterkommen. Kollege Kauch, wer den Emissionshandel
für den gesamten Verkehrssektor, für alle Bereiche, einführen will, der verschiebt die Emissionsreduktion im
Verkehrssektor auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Das
kann ich Ihnen ziemlich deutlich sagen.
({6})
Wir brauchen ein breites Spektrum von Instrumenten
und Maßnahmen, um diese ambitionierten Ziele - minus
80 Prozent bis etwa zur Mitte des Jahrhunderts - umzusetzen, und zwar ökonomische wie fiskalische. Die KfzSteuer ist ein fiskalisches Instrument. Die Ökosteuer
übrigens, Kollege Scheuer, ist auch eines. Sie hätten sie
abschaffen können, wenn Sie so darüber schimpfen.
Wir haben jetzt gesagt: Wir brauchen eine Vereinheitlichung, damit der Tanktourismus in Europa aufhört. Wir
benötigen eine Fülle von verschiedenen Instrumenten,
die aufeinander abgestimmt sein müssen und mit denen
folgende klare Ziele verfolgt werden müssen: weniger
Treibhausgase, effizientere Motoren und effizientere
Systeme. Es ist wichtig, dass immer das effizienteste
Transportmittel eingesetzt wird. Dort, wo die S-Bahn
bzw. die Schiene besser geeignet ist, muss die Schiene
gefördert werden, nicht das Auto. Wir brauchen endlich
Autos, die deutlich weniger Sprit verbrauchen und deutlich weniger Abgase ausstoßen.
({7})
Der Kern der Debatte über Hybridfahrzeuge ist nicht
die Frage, ob wir einen Toyota fahren wollen oder nicht.
Ihr Kern ist, dass die Automobilindustrie zu lange auf
nur eine Motortechnik gesetzt hat und Brennstoffzellen,
Elektromotoren, andere Formen des Fortkommens und
andere Treibstoffe zu wenig gefördert hat. Darauf wollen
wir hinweisen. Denn es ist höchste Zeit, dass in diesem
Bereich mehr geschieht und schneller gehandelt wird.
({8})
Ich muss zum Schluss kommen. Über die verschiedenen Anträge, die heute vorliegen, wird in den Ausschüssen noch diskutiert werden. Über einen dieser Anträge
soll allerdings heute abgestimmt werden. Dabei geht es
um die Dienstwagen. Herr Kauch, Sie haben sich völlig
unnötig lächerlich gemacht, indem Sie versucht haben,
andere lächerlich zu machen.
({9})
Es ist doch offenkundig, dass sich alle Leute fragen:
Warum verlangen die Politikerinnen und Politiker von
uns, dass wir Sprit sparen und kleine Autos kaufen,
wenn sie selbst in fetten Kisten fahren? Jeder von uns
- das bekenne ich offen - ist sündig. Jeder von uns
fliegt. Als Bundestagsabgeordneter hat man, selbst wenn
man Ökologe ist, eine ganz miserable Ökobilanz; das hat
mit diesem Beruf zu tun. Aber dann, wenn wir Politiker
in diesem Bereich etwas tun können, müssen wir uns
vorbildlich verhalten.
Wenn es um unsere Dienstwagen geht, können wir
etwas tun. Es ist nicht zwingend, dass wir mit den größten und schwersten Autos fahren.
({10})
Die Autos, in denen wir fahren, könnten leichter sein, sie
könnten mit Erdgas oder Biogas betrieben werden, oder
sie könnten kleiner sein. Ich sage Ihnen klipp und klar:
Im Sommer müssen ziemlich viele von uns ziemlich oft
mit dem Rad fahren, um ihre Ökologiebilanz zu verbessern. Auch das gehört dazu, wenn wir über den Vorbildcharakter sprechen.
({11})
Kollege Hermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
bzw. - da Ihre Redezeit beendet ist - eine Nachfrage des
Kollegen Kauch?
Ja, ich freue mich; denn dadurch erhalte ich doch
noch ein wenig Redezeit.
Herr Kollege Hermann, Sie haben Erdgasfahrzeuge
und alternative Antriebe angesprochen. In der Antwort
auf eine Kleine Anfrage des Kollegen Wissing aus dem
Jahr 2005 antwortete die damalige Bundesregierung,
dass in der rot-grünen Regierungszeit alternative Antriebe in der 25 000 Fahrzeuge umfassenden Flotte des
Bundes, also aller nachgeordneten Behörden - diese
könnten auch kleinere Fahrzeuge verwenden, ohne dass
ein Minister auf seinen Arbeitsplatz verzichten müsste;
hier hat Herr Gabriel aus meiner Sicht recht, wenn er
sagt, dass Dienstwagen kein Freizeitspaß, sondern ein
Arbeitsplatz sind -, einen Anteil von lediglich 0,18 Prozent hatten. Alternative Antriebe waren zur damaligen
Zeit schon bekannt und auf dem Markt. Können Sie mir
erklären, wie Ihr Plädoyer in Ihrem heutigen Antrag mit
dieser Tatsache zu vereinbaren ist?
({0})
Vielen Dank, Herr Kauch. - Damals habe ich mich
über diese Kleine Anfrage eines Mitglieds Ihrer Fraktion
sehr gefreut. Über die Antwort bzw. die Realität habe ich
mich hingegen sehr geärgert. Denn an diesem Beispiel
wurde sichtbar, dass sich auch am Flottenbestand der
Bundesregierung bzw. aller Bundesfahrzeuge genau das
widergespiegelt hat, was im Automobilbereich insgesamt zu beobachten war:
({0})
eine Aufrüstung im Hinblick auf die PS-Zahlen und dadurch eine Erhöhung des Verbrauchs, allerdings keine
alternativen Antriebe. Rot-Grün - die Genossen werden
sich noch daran erinnern - hat bereits sehr rasch nach
Übernahme der Regierung, im Jahre 1999, einen Antrag
gestellt, in dem es hieß: Wir müssen das Beschaffungswesen der öffentlichen Hand auf dem Automobilsektor
auf klima- bzw. umweltfreundliche Technologien und
Produkte umstellen. - Das Ärgerliche war, dass die Regierung das nicht getan hat, obwohl wir hier mehrfach
nachgehakt haben.
({1})
Jetzt haben Sie die Chance, überall dort, wo Sie an
der Regierung beteiligt sind, zu zeigen, wie das geht.
Wir können heute alle gemeinsam dem vorliegenden
Antrag zustimmen. Dort, wo wir die Chance haben, sofort etwas zu ändern, können wir das tun. Wenn Sie es in
der Sache wirklich ernst meinen und wenn es Ihnen nicht
nur darum geht, auf polemische Art und Weise einen Widerspruch aufzudecken, dann müssten Sie unserem Antrag zustimmen. Heute können Sie dafür sorgen, dass all
das nachgeholt werden kann, was wir versäumt haben.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Bundesminister Sigmar Gabriel das
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Hermann, ich glaube, worauf wir uns einigen können,
ist, dass wir alle eine Lernkurve hinter uns haben. Ich
finde, es ist gut, dass das so passiert. Die Gewinner dieser Debatte - bei allem Streit, den wir im Detail haben sind die Umwelt- und die Klimaschutzpolitik. Solche
Diskussionen - in dieser Qualität; dass wir uns gegenseitig darin zu übertreffen versuchen, wie ambitioniert unsere Klimaschutzpolitik ist - hat es in den letzten Jahren
nicht gegeben. Umweltpolitik - das müssen die Volksparteien zugestehen - ist häufig ein Thema gewesen, mit
dem sich grüne Umweltpolitiker und Umweltpolitiker
der beiden großen Volksparteien auseinandergesetzt haben, das aber die Ebene des Regierungschefs häufig
nicht erreicht hat. Das ist ein Riesenvorteil der öffentlichen Debatte, über den wir froh sein sollten.
Ich habe auch gestern in der Debatte versucht, klarzumachen: Wir reden beim Klimawandel über eine Gefährdung der Menschheit, die durchaus vergleichbar ist
mit der durch Atomwaffen während des Kalten Krieges.
Es ist angebracht, dass wir versuchen, uns über Strategien der Abwehr zu unterhalten, und in einen Wettbewerb um die besten Ideen eintreten. Ich finde es übrigens
angemessen, dass im Zusammenhang mit der Diskussion
über die europäische Verfassung angeregt wird, den
Weltklimaschutz in der Verfassung zu verankern. Wenn
die Menschen fragen: „Wozu ist die EU da?“, muss man
ihnen sagen: Sie ist unter anderem dazu da; es ist der
Mehrwert der Europäischen Union, Dinge aufzugreifen,
die die Nationalstaaten alleine nicht bewältigen können.
Ich habe mir, auch gestern, die Mühe gemacht, intensiv zuzuhören. Ich kann daher sagen: Wir sind uns in
vielen Themen einig; das Haus ist sich über die Parteigrenzen hinweg einig, dass wir das Ziel, den Ausstoß
von Treibhausgasen bis 2020 um 30 Prozent zu reduzieren, erreichen wollen. Auch wenn das der von mir sehr
geschätzte Kollege Trittin vorhin noch einmal behauptet
hat - es stimmt nicht, dass die Europäische Union beschlossen hat, den Ausstoß um 20 Prozent zu reduzieren.
Deshalb will ich klarstellen: Die Europäische Union hat
unter deutscher Präsidentschaft beschlossen, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um 30 Prozent zu reduzieren, und zwar als internationales Ziel - nur dann
kann es erfolgreich sein.
Wenn wir die Erwärmung auf 2 Grad begrenzen wollen, nützt es nichts, wenn allein Europa bzw. Deutschland den Ausstoß von Treibhausgasen um 30 oder
40 Prozent reduziert. Wir müssen in den internationalen
Verhandlungen diese 30 Prozent erreichen. Sie von der
Grünen-Fraktion können also behaupten, wir hätten das
auf der europäischen Ebene nicht beschlossen, so oft Sie
wollen - es bleibt falsch. Der Beschluss im Umweltrat
der Europäischen Union lautet: 30 Prozent bis 2020, als
internationales Ziel. Darüber hinaus hat die Europäische
Union, noch bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen hatten, erklärt: Wenn wir mit diesem Ziel in den internationalen Verhandlungen scheitern, reduzieren wir
selbst trotzdem um mindestens 20 Prozent.
Dass die Europäische Union das durchgesetzt hat,
Herr Kollege Kauch, bewundern Umweltpolitiker aus allen Teilen der Erde. Deshalb ist dieser Beschluss, der
noch vor einem Jahr unmöglich gewesen wäre, historisch. Ich finde, wir sollten stolz darauf sein, dass die
Europäische Union das geschafft hat.
({0})
Auch das Ziel, den CO2-Ausstoß pro Autokilometer
auf 120 Gramm zu senken, ist nicht neu - manchmal
staune ich ja, wie so getan werden kann, als sei das eine
ganz neue Debatte, Herr Kollege Kuhn -, sondern ist bereits Bestandteil des Koalitionsvertrages.
({1})
CDU/CSU und SPD haben das schon vor mehr als
15 Monaten miteinander ausgehandelt. Auch die Umstellung der Kfz-Steuer, die Sie angesprochen haben, ist
keine neue Erfindung vom Kollegen Tiefensee und von
mir, sondern Bestandteil des Koalitionsvertrages, den
wir abarbeiten. Wir sollten froh darüber sein, dass wir
mitten in der Debatte darüber sind. Dass wir den Flugverkehr in den europäischen Emissionshandel einbeziehen wollen, steht ebenfalls im Koalitionsvertrag. Ich
finde, Sie sollten zumindest akzeptieren, dass das Ziele
sind, die die Koalitionspartner miteinander vereinbart
haben.
Worüber wir uns häufig streiten, ist der Weg. Ich will
ein Beispiel herausgreifen, und Sie, Herr Kuhn, bitten,
an einer Stelle noch einmal darüber nachzudenken, ob
die grüne Position hilfreich ist - dabei will ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Streit in der Sache notwendig ist -: Frau Kollegin Künast hat heute Morgen
hier im Haus gesagt: Man kann nicht einfach Biokraftstoffe fordern und dabei übersehen, welche dramatischen Probleme dadurch entstehen, dass die Pflanzen,
aus denen beispielsweise Palmöl gewonnen wird, in Regenwäldern oder auf Mooren in Malaysia angepflanzt
werden. Sie hat absolut recht. Deswegen steht im Beschluss des Energierates und des Umweltrates der Europäischen Union hinsichtlich der Biokraftstoffe, dass ihr
Ausbau an Zertifizierungssyteme gebunden ist. Es gibt
aber einen starken Widerspruch. Wir wollen doch wohl
weltweit vom Öl wegkommen - das wollten, bislang jedenfalls, auch die Grünen -, um die CO2-Emissionen zu
senken, aber auch, weil wir die Abhängigkeit vom Öl
und das damit verbundene wirtschaftliche Risiko reduzieren wollen. Die Ölpreise steigen, je stärker die Bevölkerung weltweit auf das Öl zurückgreift.
Wenn das stimmt, dann besteht der einzige Weg, vom
Öl in Massenproduktion wegzukommen, darin, alternative Kraftstoffe bzw. Biokraftstoffe zu entwickeln, und
zwar nicht als Produktionsnische mit einem Anteil von
2 Prozent oder 3 Prozent, sondern mit einem Anteil von
10 Prozent bis 2020, wie wir das im Energierat beschlossen haben. Das wäre ein enormer Gewinn sowohl hinsichtlich der Unabhängigkeit beim Energieimport als
auch hinsichtlich der CO2-Emissionen. Darin sind wir
einig.
Das heißt aber auch, dass Sie, wenn Sie den von Ihnen zu Recht beschriebenen Gefahren, auch der Gefahr
der Nahrungsmittelkonkurrenz, ausweichen wollen, von
der ersten Generation der Biokraftstoffe wegkommen
müssen. Auch wenn wir sie noch eine Reihe von Jahren
brauchen werden, müssen wir darüber hinaus verstärkt
auf Biokraftstoffe der zweiten Generation setzen, die aus
organischem Material erzeugt werden: Aus Rostholz
muss Diesel und aus Stroh Benzin entstehen. Wenn Sie
das wollen, dann müssen Sie einen Weg finden, um die
Investitionen in die Bioraffinerien zu erhöhen.
({2})
- Hören Sie erst einmal zu! Ich habe Ihnen auch zugehört, Herr Hermann. Ich erläutere Ihnen jetzt die Unterschiede, was den 120-Gramm-CO2-Ausstoß pro Kilometer angeht. Das ist eine interessante Debatte. Sie meinen,
das 120-Gramm-Ziel müsse alleine durch Änderungen in
der Fahrzeugtechnik seitens der Automobilindustrie erreicht werden.
({3})
- Das stimmt nicht. Wir haben gesagt: Bei der Senkung
auf 120 Gramm muss eine Absenkung auf 140 oder
130 Gramm durch Fahrzeugtechnik und der Rest, der
dann noch bis 120 bleibt, durch den Einsatz von Biokraftstoffen erreicht werden, weil wir das Interesse der
Fahrzeugindustrie wecken müssen, in die Biokraftstoffe
der zweiten Generation zu investieren. Der Staat wird
das nicht leisten können. BP und Shell halten in anderen
Staaten der Welt Milliardeninvestitionen bereit. Die
Amerikaner laufen uns dabei gerade den Rang ab. Wir
müssen ein marktwirtschaftliches Interesse wecken, in
die synthetischen Kraftstoffe zu investieren.
Wir müssen der Fahrzeugindustrie vermitteln, dass
das 120-Gramm-Ziel erreicht werden kann, wobei wir
einen bestimmten Anteil durch Fahrzeugtechnik erreichen wollen und oberhalb dieser Grenze der Fahrzeugindustrie die Chance bieten, das Ziel durch Biokraftstoffe
der zweiten Generation umzusetzen, die auf einem Massenmarkt vermarktet werden. Es geht nicht darum, mit
der Rapsmühle des Bauern den Kraftstoff für ein paar
Fahrzeuge herzustellen, sondern eine Alternative zu
schaffen, die später auch in China, Indien, in den USA
bzw. weltweit eingesetzt werden kann. Wir werden die
Automobilisierung Indiens nicht verhindern können,
aber wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen,
dann sind auch dort andere Kraftstoffe notwendig. Dann
muss die Kraftfahrzeugindustrie dazu gebracht werden,
in diesen Bereich zu investieren. Das wird aber nicht geschehen, wenn die Produktion von Biokraftstoffen als
freiwillige Leistung gilt.
Die Kombination aus Beimischungszwang und der
Anrechenbarkeit eines kleinen Anteils auf das 120Gramm-Ziel in der Europäischen Union ist eine industriepolitische Strategie. Das verstehen wir unter ökologischer Industriegesellschaft.
({4})
Herr Kollege Gabriel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Selbstverständlich.
Herr Minister Gabriel, sehen Sie es nicht als einen
Widerspruch an, wenn Sie auf der einen Seite den Druck
auf die Kfz-Industrie vermindern - sie sollte ja nur ihre
eigene freiwillige Selbstverpflichtung erfüllen -, indem
Sie ihr sagen, dass sie das durch Biokraftstoffe kompensieren könne, aber auf der anderen Seite durch die Beschlüsse der Bundesregierung die Besteuerung von Biokraftstoffen sukzessive einführen? Damit gefährden Sie
- darüber ist ja in den letzten Tagen in den Medien berichtet worden; auch wir haben es vor einigen Monaten
angesprochen - 50 000 Arbeitsplätze im Bereich biogener Kraftstoffe in Deutschland, die unter anderem nach
Österreich verlagert werden sollen.
Ich beantworte Ihre Frage gerne, auch wenn sie mit
dem, was ich zu den synthetischen Kraftstoffen und der
Industriestrategie gesagt habe, nichts zu tun hat.
Erstens. Wir werden dem Thema nachgehen.
Zweitens. Es gab eine Verpflichtung durch die Europäische Union, eine sukzessive Besteuerung einzuführen, wegen einer seltsamen Ölpreisbindung bei Biokraftstoffen: Je höher der Ölpreis stieg, desto stärker stiegen
auch die Preise für Biokraftstoffe. Dafür gibt es keine
richtige Erklärung außer der, dass es Mitnahmeeffekte
gegeben hat. Deswegen hat die Europäische Kommission die Bundesregierung dazu verpflichtet, die Überförderung der Biokraftstoffe zurückzunehmen. In diesem
Punkt waren wir verpflichtet, die vollständige Steuerbefreiung ein Stück weit aufzugeben. Es gibt aber weiterhin eine Steuerprivilegierung.
Wir gehen das Thema an. Es hat allerdings wenig mit
dem zu tun, worüber ich gerade geredet habe. Hintergrund ist eine europäische Gesetzgebung im Wettbewerbsrecht, mit der dafür gesorgt werden sollte, dass wir
keine Überförderung betreiben, weil es die erwähnten
Mitnahmeeffekte gegeben hat. Das ist die Antwort auf
Ihre Frage, Frau Kollegin Höhn.
({0})
Nun zurück zum Thema Industriestrategie: Wir müssen dafür sorgen, dass es einen marktwirtschaftlichen
Anreiz gibt. Sonst werden wir keine massenhaft einsatzfähigen Biokraftstoffe entwickeln. Im Übrigen entsteht
dann auch die berühmte Nahrungsmittelkonkurrenz.
Ich bitte die Kritiker der Politik der Bundesregierung,
noch einmal darüber nachzudenken, ob es dem Klima
nicht egal ist, wie wir auf 120 Gramm kommen. Übrigens glaube ich nicht, dass bei der Entwicklung
120 Gramm im Jahre 2012 das letzte Wort sein wird. Ich
finde es gut, Herr Kuhn, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass einige Vertreter der Automobilindustrie nicht
fair argumentieren, wenn sie so tun, als wollten wir das
120-Gramm-Ziel für jedes Fahrzeug festschreiben. Das
unterscheidet Sie von der Position der Franzosen, die das
wollen, weil sie versuchen, über den Klimaschutz eine
Wettbewerbspolitik gegen die deutsche Automobilindustrie zu betreiben. Das hat mit Klimaschutz wenig zu tun.
Wir müssen den Weg der Biokraftstoffe der zweiten
Generation in den nächsten zehn Jahren gehen. Dafür
brauchen wir massive Investitionen. Diese können nicht
vom Staat, sondern müssen vom Privatsektor getätigt
werden. Dafür brauchen wir einen entsprechenden Anreiz. Ich glaube, dass das Ziel völlig unumstritten ist. Die
Bundesregierung wird es intensiv verfolgen. Ich denke,
wir werden große Fortschritte erzielen.
Lassen Sie mich noch drei kurze Bemerkungen zum
Thema Klimaneutralität machen. Erstens. Herr Kauch,
es bleibt dabei, dass wir, die Mitglieder der Bundesregierung, nicht nur Veranstaltungen auf dem Gelände eines
Flughafens oder in einem ICE-Bahnhof besuchen werden. Vielmehr werden wir weiterhin Menschen und Veranstaltungen in der Umgebung von Orten aufsuchen, die
wir mit dem Zug oder mit dem Flugzeug erreichen können. Denn die Bundesrepublik Deutschland hat Gott sei
Dank nicht nur Großstädte, und ich bin sozusagen ein lebender Vertreter der Freunde der Provinz. Um diese Umgebung zu erreichen, brauchen wir das Auto. Deswegen
werden wir - genauso, wie Sie es gesagt haben - dafür
sorgen, dass die Dienstkraftfahrzeuge, die uns am Bahnhof oder am Flughafen abholen, Gegenstand der Klimaneutralität sind; das geht gar nicht anders.
Zweitens. Denjenigen, die das als Ablasshandel kritisieren, sage ich: Das ist ein Instrument des Kiotoprotokolls. Ich halte es für eine kluge Idee, das so zu machen,
weil wir damit nicht sozusagen ein besseres Leben nach
dem Leben organisieren, sondern Investitionen in klimaneutrale Technologien in anderen Ländern befördern, die
sich das nicht leisten können.
Drittens. Ich glaube, dass es richtig ist, Druck auf die
Autoindustrie auszuüben, um eine Umstellung des
Fahrzeugparks von öffentlichen Ämtern zu ermöglichen. Auf dem Umweltministerium lastet hier ein besonders hoher Druck; das ist in Ordnung. Wir, das Umweltministerium, werden in den kommenden Jahren unseren
gesamten Fahrzeugpark - beginnend mit den nächsten
anstehenden Beschaffungen - umstellen, sodass wir
möglichst früh vor 2012 das Durchschnittsziel von
120 Gramm erreichen werden.
({1})
Das gilt für alle Bereiche: für die Fahrzeuge der Minister, der Staatssekretäre, der Abteilungsleiter, bis hin zu
den Fahrzeugen für den allgemeinen Dienstgebrauch.
Wir werden also nicht nach dem Motto verfahren: Die
Minister fahren weiterhin die bisherigen Fahrzeuge,
während für alle anderen Smarts angeschafft werden.
Wir wollen diese Umstellung, wie gesagt, vor 2012
schaffen. Das ist nicht ganz einfach. Wir versuchen,
durch Druck auf die Autoindustrie diesen Weg zu gehen;
denn wir haben hier eine besonders große Verantwortung.
Ich möchte noch einmal auf Folgendes hinweisen:
Das ist letztlich eine riesengroße Chance für zusätzliche
Beschäftigung in der Autoindustrie. Denn Länder wie
China oder Indien werden in den kommenden Jahren
ihre Umweltzerstörung nicht weiter so betreiben können,
wie das derzeit der Fall ist. Da der Anteil des Verkehrssektors in den kommenden Jahren noch höher sein wird,
werden diese Länder drauf achten, dass bei ihnen die
Technologien eingesetzt werden, die ihnen helfen, ihre
Umweltprobleme zu beseitigen. Es ist gut, wenn die europäische und insbesondere die deutsche Automobilbranche mit ihrer Technologie diejenige ist, die dort
die Märkte erobert. Insofern ist es Unsinn, von einer Gefährdung von Arbeitsplätzen zu reden. Vielmehr ist es
eine Chance für zusätzliche und vor allen Dingen für zukunftssichere Arbeitsplätze. Daher herzlichen Dank für
die Debatte. Wir werden sie hoffentlich auf dem jetzigen
Niveau halten können.
Leider werden die Erscheinungsformen, die wir beim
Wetter und beim Klima erleben, uns zwingen, zu handeln. Es wäre schöner, wenn dem nicht so wäre. Aber ich
glaube, Europa und insbesondere Deutschland haben
eine Vorreiterrolle und werden sie behalten. Der Streit
um die Sache ist des Schweißes der Edlen wert.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Volker Wissing,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was Herr Minister Gabriel hier angekündigt hat, ist ein
ehrgeiziges Ziel. Dagegen kann niemand etwas haben.
Ihnen, Herr Hermann, muss ich allerdings sagen: Es ist
schon schwach, wenn Sie ausführen, Sie seien zu der
Zeit, als Sie Regierungsverantwortung hatten, dankbar
dafür gewesen, dass die FDP aufgeklärt hat, wie wenig
bei Ihnen zu Regierungszeiten Reden und Handeln in
Einklang zu bringen waren. Ich finde schon erstaunlich,
dass Sie sich so herausreden.
({0})
Nun möchte ich etwas zu den Rußpartikelfiltern sagen und vorweg gleich darauf hinweisen, dass wir uns
über die Zielsetzung gar nicht lange zu unterhalten brauchen. Da sind wir uns einig. Wir wollen Emissionen in
diesem Bereich reduzieren. Die Frage ist, welchen Weg
wir gehen. Da gibt es schon einige Widersprüche zwischen dem, was die Bundesregierung zu ihren eigenen
Zielen erklärt, und dem, was sie uns mit dem Gesetz zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes vorlegt. Ich
erinnere an das, was die Bundeskanzlerin heute Morgen
gesagt hat. Sie hat betont, wie wichtig der Bürokratieabbau in Deutschland ist. Wenn es konkret wird, stellen wir
fest, dass er immer auf das nächste Mal verschoben wird.
Diesmal nicht, beim nächsten Mal nicht, vielleicht beim
übernächsten Mal! Das, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, ist mit dem, was die Kanzlerin
sagt, nicht in Einklang zu bringen. Sie hat nämlich heute
Morgen ganz klar wieder zum Ausdruck gebracht, dass
es ein besonders wichtiges Ziel der Bundesregierung sei,
endlich gegenzusteuern und Bürokratie abzubauen.
Wenn wir uns das Kraftfahrzeugsteuergesetz genau
anschauen, dann stellen wir fest, dass es bereits heute
mit unzähligen Ausnahmetatbeständen und Fördertatbeständen überfrachtet ist. Es ist ein bürokratisches Ungetüm, und Sie sind dabei, es Schritt für Schritt zu einem
Monster fortzuentwickeln. Sie brauchen alleine vier
Jahre, um mit den Ländern zu einem Ergebnis über die
Kfz-Steuer zu kommen, das dann alles andere als zufriedenstellend ist. Es ist wirklich Murks, was am Ende dabei herausgekommen ist. Das Ziel - Rußpartikelfilterförderung - mag man gut finden. Auch ich finde es gut.
Aber der Weg, den Sie gehen, ist Murks. Nehmen Sie
das Beispiel der Behinderten, für die Sie überhaupt
keine Förderung vorgesehen haben. Sollen denn Behinderte ihre Fahrzeuge in Deutschland nicht umrüsten?
Sind denn diese Emissionen unproblematisch? Dieselbe
Regierung, die meint, wir brauchten ein Antidiskriminierungsgesetz, sagt, um die Behinderten solle sich die
Wirtschaft kümmern. Es war geradezu grotesk, als die
SPD erklärt hat, sie sei froh, dass die Wirtschaft ein Almosen gebe und Rabattsysteme für Behinderte anbiete.
Offenbar sind Sie nicht in der Lage, Gesetze so zu gestalten, dass die Förderung von Rußpartikelfiltern auch
für behinderte Menschen in Deutschland gilt.
({1})
Das ist nicht in Ordnung, und das ist auch nicht sozial
gerecht. Das zeigt, dass Sie einfach nicht in der Lage
sind, über das Steuerrecht zu steuern. Deswegen sollten
Sie andere Wege suchen. Dazu waren Sie nicht bereit.
Ich finde es schon bemerkenswert, dass uns in den Beratungen gesagt wurde, wir dürften an dem Gesetz nichts
mehr ändern, weil die Länder nach vier Jahren Verhandlungen betont hätten, sie stimmten nicht mehr zu, wenn
noch etwas geändert würde. Während wir dann beraten,
sagen die Länder, sie wollten eigentlich mit der KfzSteuer gar nichts mehr zu tun haben. Das ist alles andere
als eine sinnvolle Politik.
Während wir dieses Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz beraten, hat sich die Bundesregierung schon darauf
verständigt, das Kraftfahrzeugsteuergesetz wieder zu ändern. Wohin soll das führen? Wir beraten eine Gesetzesänderung, und schon wieder kommt eine neue hinzu.
Das, was Sie, Herr Minister Gabriel, sich vorgenommen
haben, ist doch wieder Murks, weil Sie die CO2-Daten
älterer Fahrzeuge gar nicht haben. Deswegen können Sie
sie als Bemessungsgrundlage für die Kfz-Steuer überhaupt nicht heranziehen. Herr Steinbrück hat Ihnen zwischen den Zeilen schon angekündigt, dass daraus nichts
Richtiges werden wird. Deswegen wäre es sinnvoll,
wenn wir aufhören würden, nur in Sonntagsreden von
Bürokratieabbau und Steuervereinfachung zu sprechen,
und wenn wir das, meine Damen und Herren von der
Großen Koalition, nicht immer auf das nächste Mal verschieben würden, sondern uns dieses Mal schon damit
beschäftigten. Da gibt es den klaren Vorschlag von der
FDP, die Kfz-Steuer abzuschaffen und sie auf die Mineralölsteuer umzulegen. Frau Kollegin Höhn, die nicht
mehr im Raum ist, hat die Frage gestellt, wer von den
Grünen eine solche Forderung wo erhoben habe. Vielleicht kann ihr jemand ausrichten: Es war die Kollegin
Scheel am Mittwoch im Finanzausschuss.
({2})
Es wäre ein sinnvoller Weg, die Mineralölsteuer als
Lenkungsinstrument einzusetzen; denn dann würden
Sie, Herr Minister Gabriel, nicht die möglichen Emissionen, sondern die tatsächlichen besteuern, nicht den möglichen Kraftstoffverbrauch, sondern den tatsächlichen.
Es macht doch keinen Sinn, etwa einen 7er-BMW, der in
der Garage steht, höher zu besteuern als ein 3-LiterAuto, das auf der Autobahn fährt und damit Schadstoffe
emittiert. Das geht so nicht. Es kommt auf die tatsächlichen Emissionen an,
({3})
und die sind ein Resultat der gefahrenen Kilometer und
des Kraftstoffverbrauchs. Es wäre sinnvoll, wenn Sie das
zur Kenntnis nähmen. Sie hätten dann die Möglichkeit,
eine einfache Regelung zu schaffen, durch die die Ziele
„Bürokratieabbau“ und „Steuervereinfachung“ erreicht
werden. Ihre Bundeskanzlerin hat diese Ziele heute wieder besonders hervorgehoben. Sie sind aber offensichtlich nicht dazu in der Lage, uns Gesetze vorzulegen, die
diesen Zielen gerecht werden.
Ich will noch einmal betonen, dass ich die Benachteiligung Behinderter durch dieses Gesetz wirklich außerordentlich bedauere. Seitens der Regierungsfraktionen
gab es keine Bereitschaft, hier über einen besseren Weg
nachzudenken. Ich finde das äußerst schade.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Laurenz Meyer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin hat
heute Morgen auf zwei wichtige Zusammenhänge hingewiesen - das begrüßen wir sehr -:
Erstens. Da Europa „nur“ 15 Prozent der CO2-Emissionen verantwortet, ist das wichtigste, das zentrale außenpolitische Ziel, Länder wie die USA, Indien und
China dazu zu bewegen, mit ins Boot zu kommen. Ich
will das ergänzen: Wenn es nicht gelingt, eine weltweite
Aktivität zu entwickeln, dann wird angesichts der uns
vorliegenden Zahlen die Bereitschaft, hier wirklich mitzuwirken und Opfer zu bringen, in der Bevölkerung
nicht lange vorhalten. Der Einzelne wird sich dann nämlich sagen: Es trägt ja doch nichts dazu bei, die Klimakatastrophe aufzuhalten. Deswegen müssen wir zusehen, dass das wichtigste außenpolitische Ziel, die großen
Länder USA, China, Indien in den Prozess einzubeziehen, erreicht wird.
({0})
Zweitens. Die Bundeskanzlerin hat auch darauf hingewiesen, dass wir hier nicht eindimensional denken
dürfen. Wir haben - ich will das ausdrücklich sagen ein Geflecht von Zielsetzungen zu erreichen: das Umweltschutzziel, das Ziel einer sicheren Energieversorgung und das Ziel sozialverträglicher Verbraucherpreise.
Ich sage ganz deutlich - Herr Gabriel hat eben darauf
hingewiesen -: Natürlich ist damit die Chance verbunden, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Aber, Herr
Gabriel, ich brauche es Ihnen eigentlich nicht zu sagen:
Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben. Wenn wir
in diesem Bereich zusätzlich 10 Milliarden Euro ausgeben, dann müssen das letztlich die Verbraucher tragen.
Außerdem können diese 10 Milliarden Euro für anderes
dann nicht mehr ausgegeben werden, und dann werden
die Arbeitsplätze, die von diesen 10 Milliarden Euro bisher finanziert wurden, wegfallen. Das ist nun einmal die
volkswirtschaftliche Konsequenz.
Im Übrigen ist natürlich auch der Beschluss der Bundesregierung begrüßenswert, einen Ausgleich für unternommene Fahrten zu zahlen. Das hat in den Augen mancher in der Bevölkerung den geringfügigen Nachteil,
dass beim Staat dafür der Steuerzahler aufkommen
muss; ansonsten werden diese Kosten direkt aus dem
Geldbeutel der Betroffenen gedeckt. Das ist nun einmal
so. Das müssen wir sehen.
Wir dürfen die Bereitschaft der Bevölkerung nicht gering schätzen. Wir müssen die Bevölkerung in diesem
Zusammenhang mitnehmen. Deswegen plädiere ich sehr
dafür, von dieser unkoordinierten Debatte wegzukommen. Der Vorschlag, Glühbirnen zu verbieten, war bisher der Höhepunkt der Debatte. Wir müssen die Ziele,
die wir erreichen wollen, festlegen. Wenn das geschehen
ist, müssen wir konsequent danach fragen, in welchem
Sektor sich diese Ziele mit welchen Maßnahmen am
kostengünstigsten, am effizientesten erreichen lassen.
Dafür plädiere ich.
Wir haben nun wirklich viel getan. Heute Morgen hat
der Bereich Windenergie eine große Rolle gespielt.
Diese Bundesregierung hat die Weichen gestellt - Herr
Gabriel, wir haben Gespräche darüber geführt -, dass
Offshore-Anlagen kostengünstiger errichtet werden können. Jetzt müssen wir erst einmal sehen, ob es überhaupt
trägt. Die bisherigen Erfahrungen - ich denke etwa an
die Großbritanniens - sind nicht nur positiv. Da wird
noch manches passieren müssen.
Es werden immer wieder Zahlen über die Erfüllung
von Zielen im Bereich erneuerbarer Energien vorgeLaurenz Meyer ({1})
tragen. Knapp die Hälfte, über 40 Prozent, der erneuerbaren Energien wird durch Müllverbrennung und Wasserkraft erzeugt. Das lässt sich nicht steigern. Wir
müssen also schon schauen, in welchen Bereichen diese
Ziele erreicht werden können. Fotovoltaik? Das sehe ich
im Moment noch nicht. Und der Wind? Wenn die Offshoreanlagen bis 2020 wirklich einschlagen sollten,
dann haben wir da die Chance auf höhere Steigerungsraten. Aber den Teil haben wir noch nicht sicher.
In einer solchen Diskussionslage nun alles kaputtzureden, was wir im Moment an Energieerzeugung haben,
halte ich für völlig unverantwortbar. Da will man bis
2020 aus der Kernenergie aussteigen. Herr Bütikofer
schlägt dann noch vor, die Kohlekraftwerke gleich mit
abzuschaffen und nicht zu erneuern. Herr Gabriel trägt
seinen Teil dazu bei, indem er in seinem Vorschlag zum
NAP bei den Braunkohlekraftwerken kein Benchmark
vorsieht. Wenn man bei der Braunkohle kein Benchmark
einführt, wäre die Folge doch, dass neue, effizientere,
umweltfreundliche Kraftwerke nicht gebaut werden und
die alten erhalten bleiben. Deshalb wird die CDU/CSUFraktion diesen Weg, der vorgeschlagen worden ist, ganz
bestimmt nicht mitgehen.
({2})
Wir müssen auch ganz einfache Dinge zusätzlich in
die Betrachtung einbeziehen, zum Beispiel dass die
Kernenergie eben nicht nur eine Art von Stromerzeugung ist. 50 Prozent der Grundlast werden in diesem
Bereich zurzeit erzeugt; der Rest stammt aus Kohle,
Braunkohle und Steinkohle. Die deutsche Industrie mit
ihren Arbeitsplätzen wird sich auf Dauer nicht davon abhängig machen können, dass in Deutschland Wind weht.
Deshalb müssen wir sehen, dass Sicherheit der Energieversorgung, Sicherheit der Stromversorgung, Sicherheit
auch in den übrigen Bereichen wichtige Ziele sind.
Das heißt: Effizienzsteigerung. Wir haben mit unserem Wärmedämmungsprogramm einen Weg beschritten, der im Blick auf Arbeitsplätze in Deutschland, Energieeffizienz, verminderten CO2-Ausstoß aus meiner
Sicht wirklich der erfolgreichste war, den man überhaupt
gehen konnte. Wir haben im letzten Jahr gesehen, wie
diese Programme eingeschlagen sind.
Lassen Sie uns also Anreize für die Bevölkerung setzen, in diesem Prozess selbst mitzumachen! Das ist der
erfolgreichste Weg, den man wählen kann - viel erfolgreicher als der Weg bürokratischer Vorschriften zur
Durchsetzung von Zielen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauch?
Ja, aber sicher.
Herr Meyer, Sie haben uns gerade erklärt, was man
alles nicht tun sollte und wo die Probleme liegen. Ich
hätte jetzt gern einmal eine klare Aussage dazu, was
denn die Haltung der CDU/CSU-Fraktion ist. Diese Antwort wurde uns gestern in der Aktuellen Stunde verweigert.
Sie haben gerade das Thema Wärme angesprochen.
Es gibt offensichtlich einen Auftrag der Fraktionsspitzen
an die Fachpolitiker von CDU/CSU und SPD, Verhandlungen über ein Regenerative-Wärme-Gesetz zu führen. Man hört dazu sehr unterschiedliche Stimmen aus
der Union. Die Kollegin Reiche hat sich innerhalb von
zwei Wochen sehr konträr geäußert. Wir wüssten gern
die offizielle Haltung der CDU/CSU-Fraktion zum Regenerative-Wärme-Gesetz. Wie gehen Sie in die Verhandlungen hinein?
Wenn Sie mich fragen, können Sie meine Haltung
dazu erfahren. Die will ich Ihnen gerne mitteilen.
Ich habe gerade zum Programm Energieeffizienz und
Wärmeffizienz im Bereich Wärmedämmung vorgetragen. Das gilt hier genauso. Ich halte es für viel besser,
Anreizprogramme zu schaffen, damit im Bereich
Wärme in den Haushalten die Bürger selbst etwas tun,
selbst aktiv werden, als zusätzliche Abgaben oder zusätzliche bürokratische Vorschriften einzuführen.
Nach den Erfahrungen, die wir mit den letzten Programmen zur Wärmeeffizienz in Gebäuden gemacht haben - das hat richtig eingeschlagen -, sollten wir daraus
eigentlich die Konsequenzen ziehen und darauf setzen,
dass der mündige Verbraucher Anstöße in diesen Bereichen sehr zu würdigen weiß. - Damit kennen Sie meine
Position dazu.
({0})
Das Gleiche, was ich gerade für den Bereich der
Energieerzeugung vorgetragen habe, gilt für den gesamten Verkehrssektor. Natürlich wäre eine Umlegung der
Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer, also sozusagen auf
den Verbrauch, von meinem Denkansatz her die günstigste Lösung. Aber wir müssen sehen, dass es hier Kollateralschäden gäbe. Die müssen wir gewichten. Wir
haben doch schon heute das Phänomen des Tanktourismus mit all seinen Problemen. Das müssen wir schon in
unsere Überlegungen einbeziehen; das muss in der weiteren Diskussion gewichtet werden. Natürlich ist es
günstiger, den Verbrauch zu besteuern, als nur den Hubraum oder den theoretischen CO2-Ausstoß zu berücksichtigen. Es wäre mir schon lieber, den praktischen
CO2-Ausstoß zu besteuern.
Wir müssen gemeinsam die Weichen stellen. Die Grünen müssten in vorderster Front dabei sein - Herr Kuhn,
ich freue mich geradezu darauf -, wenn es darum geht,
Staus in Deutschland zu bekämpfen. Wir müssen vermehrt Verkehrsstaus auflösen, weil Staus eine der größten Quellen des CO2-Ausstoßes im Verkehr sind - eine
größere Quelle als manch anderes, was wir hier heute
morgen besprochen haben. Ich habe von Ihnen kein Wort
dazu gehört. Sie werden sicherlich noch darauf zurückkommen. - Die kleine Polemik werden Sie mir sicherlich verzeihen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich möchte eine Abschlussbemerkung machen. Aus
unserer Sicht geht es in diesem Zusammenhang um einen
Optimierungsprozess unter Nebenbedingungen. Beim
Ziel, Klimaschutz zu erreichen, sind die Nebenbedingungen von enormer Wichtigkeit: Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und Sozialverträglichkeit garantieren. Es
macht keinen Sinn, dass wir uns hier über Dinge unterhalten, die die kleinen Leute in unserem Land hinterher
nicht mehr bezahlen können. Auch das muss man im Gedächtnis behalten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Lutz Heilmann, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Klimawandel ist in der Gesellschaft angekommen. Fast
täglich berichten „Bild“, ARD, RTL oder andere Medien
über den Klimawandel. Er steht jetzt auf den Titelseiten
und bekommt gute Sendezeiten ab. Wer früher gewarnt
hat und dafür belächelt oder beschimpft wurde, darf jetzt
sogar bei Christiansen & Co offen darüber debattieren,
und zwar zu Recht. Nach dem jüngsten UN-Klimabericht geht es um die Frage: To be or not to be?
Erlauben Sie mir jetzt ein paar Gedanken zur Thematik Straßenverkehr und Klimawandel. Es wurde schon
erwähnt: Der Anteil des Straßenverkehrs am Ausstoß
des Klimagases CO2 liegt bei 20 Prozent. Damit ist er
eine Hauptquelle des Klimawandels. Deswegen ist es
richtig, dass wir uns heute hier diesem Thema widmen.
Wir meinen, dass wir uns den Straßenverkehr zur Brust
nehmen müssen und nicht nur über ihn reden sollten.
In den letzten Jahren ist der Straßenverkehr leider
nicht klimafreundlicher geworden, weder unter der sogenannten Ökokoalition Rot-Grün noch unter SchwarzRot. Der beste Klimaschutz ist immer noch die Vermeidung von Verkehr. Diesen Gesichtspunkt vermisse ich
heute in dieser Debatte. Die Voraussetzungen für einen
Neuanfang, für eine Umorientierung, werden nicht genannt. Die letzten Bundesregierungen haben sich da
nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Letztes Jahr wurden die Regionalisierungsmittel für
den Schienennahverkehr gekürzt. Rot-Grün hat die Absetzbarkeit des Jobtickets abgeschafft. Bei der Entfernungspauschale werden Nutzer des ÖPNV schlechtergestellt. Das alles sind Maßnahmen, die nicht für eine
Verlagerung des Straßenverkehrs auf andere Verkehrsträger sorgen; es sind Maßnahmen zur Förderung des
Straßenverkehrs.
({0})
Wir diskutieren heute über Anträge zu Klimaschutz
und Straßenverkehr. Würde ihre Umsetzung einen Beitrag zum Klimaschutz leisten? Nur bedingt, denke ich.
Bei den Grünen vermisse ich einfach, dass sie darüber
nachdenken, wie man den Verkehr tatsächlich von der
Straße verlagern kann.
({1})
- Herr Hermann, Sie denken nur noch über grünere Autos nach. Das ist einfach so. Schauen Sie in Ihren Anträgen nach! Ich habe sie mir angeguckt: An nur zwei Stellen wird eine Verlagerung gerade noch erwähnt.
({2})
- Dann hätten Sie die hier noch einmal einbringen können. Sie hatten, als Sie an der Regierung waren, sieben
Jahre Zeit, da etwas zu tun.
({3})
Sie haben selbst erwähnt - andere Kollegen haben es
auch getan -, welches Ausmaß die Emissionen im Straßenverkehr haben.
Die FDP möchte die Abschaffung der Kfz-Steuer.
Wir finden das nicht richtig. Wir meinen, dass die KfzSteuer bisher einen wichtigen Lenkungsbeitrag geleistet
hat. Wer sich mit der Einführung der Katalysatorentechnik in den 80ern und 90ern des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt, wird dies bestätigen.
Nun ein Wort zum Gesetzentwurf der Koalition zur
Dieselrußfilterförderung: Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen, obwohl wir arge Bedenken haben.
Wir sagen aber auch: Lieber den Spatz in der Hand als
die Taube auf dem Dach.
({4})
Wir haben heute auch einen eigenen Antrag mit Forderungen eingebracht. Wie gesagt: Die erste Forderung,
die wir als Linke hier im Deutschen Bundestag stellen,
lautet, dass wir die Weichen dafür stellen müssen, den
Straßenverkehr zu verlagern. Als Allererstes bedeutet
das für uns einen massiven Ausbau des öffentlichen
Personennahverkehrs.
({5})
Wir wissen natürlich und anerkennen auch, dass viele
Menschen auf das Auto nicht werden verzichten können.
Ich wohne selbst im ländlichen Bereich und bin momentan vollkommen vom ÖPNV abgehängt. Deshalb fordern auch wir klimafreundlichere und effizientere Autos. Das heißt, künftig muss der Werbeslogan gelten:
Drei Liter Verbrauch statt drei Liter Hubraum. Wir bleiben auch bei der Forderung, dass 120 Gramm CO2 pro
Kilometer wieder auf die Tagesordnung gehören. So,
wie die Frau Kanzlerin das kürzlich abgewiegelt hat,
kann es nicht gehen.
({6})
Ein weiterer wichtiger Punkt für uns ist, die Kennzeichnung des CO2-Ausstoßes der Kfz zu verbessern,
um den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich verantwortungsvoll entscheiden zu können. Ich
habe mir die Werbeprospekte der Autohersteller angeschaut: Die Angabe „180 Gramm“ oder „185 Gramm“
- was da alles so steht - hilft einem nicht wirklich weiter. Hier sollte uns das Kühlschrankmodell Vorbild sein.
Dort ist es gut geregelt; die Einteilung geht von A bis F.
Anhand einer solchen Einteilung könnte man gut einschätzen, was welches Auto ausstößt.
Für uns steht auch die Reform der Kfz-Steuer zur Debatte. Die Besteuerung von Neufahrzeugen sollte am
CO2-Ausstoß ausgerichtet werden. Für Altfahrzeuge - das
ist für uns als Linke besonders wichtig, da es eine soziale
Komponente ist - müsste eine entsprechende Übergangsregelung mit einer angemessenen Frist eingeführt
werden.
Herr Kollege Scheuer - Sie unterhalten sich dort hinten gerade -, wir bleiben bei unserer Forderung eines
Tempolimits von 130 km/h. Das bringt nicht nur eine erhebliche CO2-Einsparung, sondern auch eine Entlastung
für die Geldbeutel der Menschen. Unsere Autoindustrie
- ich weiß, dass der Sitz von BMW in der Nähe Ihres
Wahlkreises liegt - erhält dann auch den Anreiz, endlich
Autos mit kleineren Motoren zu bauen, um dem gerecht
zu werden.
({7})
Wir selbst müssen auch Vorbild sein. Die öffentliche
Hand muss Vorreiter sein. Es darf keine Ausnahmegenehmigung geben, und der Fuhrpark muss auf die effizientesten Fahrzeuge umgestellt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen: Klimaschutz im Straßenverkehr erfordert ein Maßnahmenbündel. Ich habe Ihnen hier einige
Maßnahmen vorgestellt, über die wir als Linke in der
Debatte reden wollen und die wir durchsetzen müssen.
Ein Gedanke noch: Bei all dem, was wir hier debattieren - ob Für oder Wider -, müssen Sie aber immer berücksichtigen, dass es ein „weiter so wie bisher“ nicht
geben kann. Wir brauchen eine Verkehrswende, insbesondere weg vom motorisierten Individualverkehr und
hin zu klimafreundlicheren Autos. Wenn Sie es mit Ihren
Versprechungen vom Klimaschutz ernst meinen, dann
bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als unserem Antrag zuzustimmen. Ich wünsche noch eine angeregte Debatte.
Danke schön.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Entgegen dem Eindruck, der hier leicht entstehen kann, dass
Klimaschutz erst seit einigen Wochen aktuell ist, sage
ich: Herr Heilmann, wir reden nicht nur, wir handeln
auch.
({0})
Wir nehmen den Klimaschutz ernst und ergreifen auch
die notwendigen und wirksamen Maßnahmen.
({1})
Die Ampel in Sachen Klimaschutz steht bei uns schon
längst auf Grün, und wir befinden uns hier auch auf der
Überholspur. Das scheint nur einigen hier im Haus entgangen zu sein. Unser Motto lautet: Handeln und die
Maßnahmen für den Klimaschutz beschleunigen. Ein
Beispiel wurde vorhin schon genannt, nämlich das CO2Gebäudesanierungsprogramm.
25 Prozent des Energieverbrauchs in Deutschland
werden für die Beheizung von Gebäuden und die Warmwasserbereitung eingesetzt. Zum Energiesparen gibt es
deshalb auch gar keine Alternative. Das aufgelegte CO2Gebäudesanierungsprogramm gehört neben der Energieeinsparverordnung zu den zentralen Elementen der Klimaschutzpolitik der Bundesregierung.
Nach Einschätzung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stoßen die sanierten
Wohnungen künftig fast 1 Million Tonnen CO2 weniger
aus. Die Hälfte der Antragsteller, die an diesem Programm teilnehmen, haben ihre Gebäude auf ein energetisches Neubauniveau gemäß der Energieeinsparverordnung modernisiert. Der Bund geht hier mit gutem Beispiel
voran und saniert die Bundesbauten.
({2})
Eine zusätzliche Dynamik bringt der von uns eingeführte
energetische Gebäudepass. Das wird auch im Vermieterbereich die Umsetzung entsprechender Maßnahmen weiter voranbringen.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist eine Jobmaschine und ein Paradebeispiel dafür, dass Klimaschutz und wirtschaftliches Handeln keine Gegensätze
sind. Aktiver Klimaschutz stärkt unser Wirtschaftswachstum. Das ist Handeln auf der ökologischen Überholspur.
Im Verkehrsbereich lagen die CO2-Emissionen 2005
rund 20 Millionen Tonnen niedriger als 1999. Es stimmt,
der Straßenverkehr ist hier der Hauptverursacher. Natürlich ist es ärgerlich, wenn die Automobilindustrie ihre
Selbstverpflichtung nicht einhält. Es ist aber ein deutlicher Rückgang erkennbar. In den letzten Wochen ist
auch der Automobilindustrie klar geworden, dass sie
jetzt ihre Ökoinnovationen aus der Schublade holen
muss; denn die Mehrzahl der Menschen will umwelt8242
freundliche Autos. Nach der neuesten Emnid-Umfrage
wollen 72 Prozent der Bevölkerung auf kleinere, sparsamere und effizientere Autos umsteigen. Da liegt auch die
Chance für die Automobilindustrie. Es ist ein Markt mit
immensem Wachstumspotenzial, das die deutschen Autobauer nicht ungenutzt lassen dürfen.
Die Autoindustrie muss umweltfreundlichere Autos
anbieten und dafür auch mit entsprechendem Aufwand
werben. Von der deutschen Automobilindustrie verlangen wir konkrete Konzepte für eine funktionierende
CO2-Minderungsstrategie. Das Image des deutschen Autos ist auch entscheidend für den Export. Ich bin gespannt auf die nächste IAA in Frankfurt am Main. Ich
bin mir sicher, dass die deutsche Automobilindustrie da
etwas aufbietet. Bezüglich des Genfer Automobilsalons
sprechen die Branchenkenner ja jetzt von einem Umweltsalon. Ich erwarte nun, dass im Zusammenhang mit
der kommenden IAA nicht nur von einem Umweltsalon,
sondern gar von einem Umweltpark gesprochen wird.
Im Gegensatz zu Frau Künast fordere ich nicht öffentlich dazu auf, japanische Autos zu kaufen. Ich möchte,
dass mehr umweltfreundliche deutsche Automobile abgesetzt werden. Diese Forderung muss man im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen in Deutschland sehen.
Wir brauchen eine starke Automobilindustrie in
Deutschland und die davon abhängigen Arbeitsplätze.
({3})
Wir streben gesetzliche Regelungen an, die den CO2Ausstoß für Pkw bis 2012 auf 120 Gramm pro gefahrenen Kilometer, differenziert nach Fahrzeugklassen, begrenzen. Unterstützt wird die Reduzierung von CO2Emissionen im Straßenverkehr durch die Beimischung
von Biokraftstoffen.
Zurück zu unserem Motto: Wir bewegen uns auf der
ökologischen Überholspur! Der Finanzminister, der Verkehrsminister und der Umweltminister haben sich darauf
geeinigt, die Kfz-Steuer umzustellen und den CO2-Ausstoß linear zu besteuern. Ich warne noch einmal davor,
die Mineralölsteuer ins Spiel zu bringen. Ich wohne in
einer Grenzregion und weiß, wie viele Steuereinnahmen
unserem Staat entgehen.
({4})
Wer glaubt, dass Lkw-Fahrer nach einer weiteren Mineralölsteuererhöhung zukünftig noch in Deutschland tanken, wo sie jetzt schon kaum noch hier tanken, der blendet die Realität völlig aus.
({5})
Wie rasant wir uns auf der ökologischen Überholspur
bewegen, hat unser Bundesverkehrsminister in den vergangenen Tagen gezeigt. Er hat die Luftfahrtbranche
dazu gebracht, dem Emissionshandel beim Flugverkehr
zuzustimmen und nach einer Lösung, die keine Insellösung darstellt, zu suchen. Vor allem vor dem Hintergrund der Zuwachsraten im Luftverkehr steckt dahinter
sehr viel Dynamik. Man bedenke nur, dass der CO2-Ausstoß durch die Einbeziehung des Luftverkehrs in den
Emissionshandel bis 2020 halbiert werden könnte. Diese
Chance muss also ergriffen werden.
Sie sehen also, wie wir uns um eine Beschleunigung
von Maßnahmen bemühen, die realistisch und realisierbar sind. Wir müssen diese auf europäischer Ebene koordinieren und steuern, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Unterstützen Sie unsere Strategie! Dann wird es
uns auch gelingen, den Klimawandel zu stoppen.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Patricia Lips von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Klimaschutz ist unumstritten ein Thema, das
alle betrifft. Ich glaube, das haben auch nahezu alle Beiträge heute gezeigt. So verschieden die Bereiche sind, so
vielschichtig sind auch die Maßnahmen, die zurzeit in
die Diskussion eingebracht werden. Einige von ihnen
werden sicherlich im Gespräch bleiben, einige wieder
verschwinden.
Eine Maßnahme - damit komme ich wieder ein bisschen von der grundsätzlichen Diskussion zum Konkreten -, die in der Tat bereits heute zum Beschluss ansteht,
setzt sich mit der Umrüstung von Dieselfahrzeugen
mit Partikelfiltern auseinander. Wo wir an anderer Stelle
noch diskutieren, sind wir hier schon einen Schritt weiter. Wir gehen konkret in Richtung Umweltschutz; dies
sollte für uns alle Ansporn auch für die künftigen Diskussionen sein.
({0})
Worum geht es? In Form einer Bonus-Malus-Regelung
sollen finanzielle Anreize gesetzt werden, damit betroffene Halter zeitnah ihre Fahrzeuge umrüsten, sofern
diese nicht bereits mit einem Filter ausgestattet sind.
Lassen Sie mich nochmals die für uns wesentlichen
Komponenten nennen: erstens das Erzielen einer Lenkungswirkung im Sinne der Förderung des Umweltbewusstseins, zweitens eine Beschleunigung in der Entwicklung von Technik und Produktion und damit
natürlich auch eine Unterstützung des Mittelstandes sowie drittens die Einhaltung von haushaltsrelevanten Notwendigkeiten; die Kfz-Steuer - wir wissen es - betrifft,
zumindest aktuell, die Länderhaushalte.
Wir stellen fest, dass allein die Ankündigung des Gesetzes zu einer hohen Anzahl von Vorbestellungen entsprechender Filter geführt hat, was die gewünschte Lenkungswirkung unterstreicht.
Noch einen Punkt möchte ich nennen: Das Europäische Parlament hat im konkreten Fall bereits neue Abgasnormen auf den Weg gebracht. Wir diskutieren also
nicht alleine. Es ist aber nun an uns, den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern nicht nur die zeitliche Chance
auf eine Umrüstung zu geben, sondern auch eine finanzielle Unterstützung anzubieten, um sie möglichst zeitnah darauf vorzubereiten.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, an welchem Punkt stehen
wir heute, nahezu - selten genug - einmütig? Die Bundesregierung, die Länder, die Sachverständigen, die in
einem hohen Maß auch die Fahrzeughalter vertreten,
und die mittelständische Wirtschaft, sie alle wollen das
Gesetz. Alle Fraktionen im Ausschuss, mit einer Ausnahme, haben dafür gestimmt. Das ist eigentlich eine
gute Entwicklung.
Aber - jetzt wende ich mich ausdrücklich an die FDP;
Herr Wissing kann die Debatte offensichtlich nicht weiter verfolgen, um eine Reaktion auf seine Rede entgegenzunehmen - wenn man im Laufe des Verfahrens den
Eindruck gewinnt, dass Sie dem Gesetz ganz offensichtlich um des Prinzips willen nicht zustimmen wollen,
dann wird dies Ihrer Fraktion, wie ich sie kennengelernt
habe, nicht gerecht.
({2})
Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der die Widersprüchlichkeit in Ihrem Verhalten gleich an zwei Stellen aufzeigt - Ihr Kollege hat das eigentlich selbst deutlich gemacht -: Die CDU/CSU-Fraktion, und zwar
zunächst sie allein, hat im Zuge der Beratungen darauf
hingewiesen, behinderte Menschen ausdrücklich nicht
zu vergessen. Auch sie sollen in unseren Augen an den
Vorteilen einer Umrüstung teilhaben können.
({3})
Wir haben uns darüber gefreut, dass seitens der Wirtschaft in der Anhörung hierbei die Gewährung von Rabatten in den Raum gestellt wurde.
({4})
Wir begrüßen diese zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft und bitten die Bundesregierung, sich gegenüber
den Herstellern nachdrücklich dafür einzusetzen.
Aber nicht nur uns sollte dies freuen. Vor allem Ihre
Herzen - damit bin ich wieder bei Ihnen, Kolleginnen
und Kollegen von der FDP - hätten ob eines solchen unbürokratischen Vorgehens doch höher schlagen müssen.
({5})
„Der Staat soll weniger regeln“, das sind Ihre geflügelten Worte bei nahezu jedem Gesetz, so auch bei dieser
Vorlage. Deshalb ist es mir völlig unverständlich, dass
ausgerechnet die FDP, die immer und zu Recht den Bürokratieabbau im Munde führt, nun zusätzlich wieder
den Gesetzgeber auffordert, tätig zu werden, obwohl ein
Angebot von anderen vorliegt.
Ebenso unverständlich ist es, dass Sie einen in Bezug auf die behinderten Menschen an sich guten Gedanken - das ist er ja offensichtlich auch für Sie - nun
mit derart scharfen Angriffen bis hin zu Diskriminierungsversuchen überziehen. Bitte prüfen Sie, ob Sie
sich hier nicht etwas verrannt haben. Wir helfen Ihnen
gerne auf dem Weg zurück in unsere Gemeinschaft.
({6})
Vieles wurde und wird heute im Zusammenhang mit
Verkehr und Umweltschutz gesagt. Vieles davon ist sicherlich richtig. Viele weitere Diskussionen gerade um
das Thema einer Weiterentwicklung der Kfz-Steuer, wie
am Ende auch immer gestaltet, wurden angestoßen. Ich
bin mir sicher, dass wir hier noch einige interessante Debatten haben werden.
Heute liegt sehr konkret ein Gesetz zur Abstimmung
vor, das als Signal und Aufbruch für die kommenden
Diskussionen verstanden werden kann und soll.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Burkert von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der dritte Teil des Klimareports, dessen Inhalt jetzt
bekannt geworden ist, hat uns noch drastischer vor Augen geführt, was wir eigentlich schon wussten, einige
aber immer noch nicht wahrhaben wollten: Für das Erdklima steht die Uhr nicht mehr auf fünf vor zwölf. Nein,
ich sage hier deutlich: Es hat zwölf geschlagen. Um das
Ruder herumzureißen, bleiben uns erdgeschichtlich betrachtet allenfalls noch Bruchteile von Sekunden. In den
Worten des Reports: Wir haben noch knapp 15 Jahre
Zeit, um den totalen Klimakollaps zu verhindern. Das
heißt, die globale Erwärmung muss unter allen Umständen auf die zwei Grad Celsius begrenzt werden, die gerade noch tolerabel sind, um die Katastrophe zu verhindern.
Nicht nur unsere Lebensqualität, nein, vor allem die
Zukunft unserer Kinder und Enkel steht auf dem Spiel.
Für diese Zukunft sind wir verantwortlich. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dieses Spiel nicht zu verlieren.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle gemeinsam es
schaffen können, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt,
insbesondere diejenigen, die das bisher noch nicht mit
dem Engagement getan haben, das erforderlich ist. So
hat nicht nur Al Gore, dem ich an dieser Stelle herzlich
zur Verleihung des Oscars gratulieren möchte, in seinem
Film gezeigt, dass der Verkehr der größte Verursacher
des Treibhauseffektes ist. Auch der Weltklimarat betont
dies in seinem Bericht ausdrücklich.
Deshalb werden wir zu gesetzlichen Regelungen greifen, wenn die europäische Automobilindustrie ihrer
Selbstverpflichtung nicht nachkommt, den CO2-Ausstoß ihrer Fahrzeuge bis 2012 auf die heute oftmals genannte Grenze von 120 Gramm pro Kilometer zu sen8244
ken. In diesem Ziel wissen wir uns einig mit dem EUUmweltkommissar und dem Umweltrat, der im Juni einen Vorschlag vorlegen wird. Dazu gehören zwei wesentliche Komponenten: Erstens. Technische Innovationen senken den Spritverbrauch und beschränken damit
den CO2-Ausstoß auf 130 Gramm pro Kilometer. Zweitens. Die restlichen 10 Gramm werden durch den Einsatz
von Biokraftstoffen erbracht.
Unabdingbar ist für uns, dass alle europäischen Produzenten einen Beitrag leisten und nicht diejenigen ausgenommen werden, deren Fahrzeuge einen Verbrauch
haben, der niedriger ist als der Durchschnittswert von
120 Gramm. Auch diese müssen etwas für das Klima
tun. Es geht nicht an, dass die deutschen Hersteller das
alleine schultern.
Allerdings ist es im ureigensten Interesse der deutschen Automobilindustrie, die Entwicklung klimafreundlicher Technologien erstens nicht zu verschlafen
und zweitens nicht zu verschleppen. Die Nachfrage nach
hochwertigen deutschen Fahrzeugen wird weltweit steigen. Dies ist eine Herausforderung, der sich gerade
Deutschland als Hochtechnologieland und Exportweltmeister gleichermaßen stellen muss.
Ich verweise auf das Beispiel des Boomlandes China
mit seinem Riesenbedarf an Kraftfahrzeugen. Man muss
sich vorstellen, dass es in Peking täglich 1 000 Neuzulassungen gibt. Als ich den Umweltminister im letzten
Dezember nach Peking begleiten durfte, konnte ich selber feststellen, dass dort vor lauter Smog die Sonne nicht
mehr aufgeht. China wird deshalb den CO2-Ausstoß von
Autos per Gesetz begrenzen.
Wir werden selbstverständlich in Deutschland das
Unsere tun, um das Ziel von 120 Gramm zu erreichen.
Eine entsprechende Umgestaltung der Kfz-Steuer steht
an. Sie wird sich künftig nicht mehr nach dem Hubraum,
sondern nach dem Schadstoffausstoß bemessen. Das haben wir übrigens weitblickend, wie heute schon erwähnt,
im Koalitionsvertrag vereinbart. Geprüft werden sollte
in diesem Zusammenhang auch das Steuerprivileg für
schwere Dienstwagen, die, wie wir wissen, sehr viel
Sprit schlucken. Ich sage hier deutlich: Sollte die bessere
Einsicht wider Erwarten nicht fruchten, sollte auch ein
Tempolimit kein Tabu mehr sein.
({0})
Gefordert ist aber nicht nur der Straßen-, sondern auch
der Luftverkehr. Flugzeuge sind nach Expertenmeinung
die Klimakiller Nummer eins. Auch die Bundeskanzlerin
hat schon 1995, als sie noch Umweltministerin war, in einem Zeitungsinterview erklärt - manchmal lohnt es sich,
die Archive zu bemühen -:
Wir machen das Auto zum Umwelt-Buhmann,
vergessen aber ganz die katastrophalen Auswirkungen … durch zunehmenden Flugverkehr …
Gerade wir in diesem Hohen Hause, die wir oftmals aus
Zeitgründen Vielflieger sein müssen, sollten uns hier an
die eigene Brust schlagen. Deshalb möchte ich an Sie
alle appellieren, zumindest einen kleinen Ausgleich für
solche Klimasünden zu schaffen, wenn Sie es nicht
schon längst getan haben. Ich rede davon, für jeden Flug
ein Zertifikat bei „atmosfair“ zu erwerben. Mit dem gespendeten Geld unterstützen Sie Klimaschutzprojekte in
Schwellenländern, zum Beispiel in Indien.
({1})
Zum Schluss möchte ich auf den Al-Gore-Film „Eine
unbequeme Wahrheit“ zu sprechen kommen. Sein wesentliches Verdienst ist, dass er bei uns und weltweit das
Bewusstsein der Menschen aufgerüttelt hat, dabei aber
nicht demoralisiert, sondern die gute Nachricht betont
hat: Jeder Einzelne kann nach seinen Möglichkeiten
dazu beitragen, die Klimakatastrophe abzuwenden. - Ich
bin dem Vorsitzenden meiner Fraktion, Peter Struck,
sehr dankbar dafür, dass die SPD-Fraktion am nächsten
Dienstag auf ihrer Sitzung ein Zeichen setzt, indem sie
sich den Film anschaut und darüber diskutiert.
({2})
Die Erwartungshaltung gerade unserer Jugend an die
Politik ist groß. Ich glaube, wir sind uns alle in einem einig: Niemand will, dass die deutsche Nordseeküste in
Zukunft bei Bremen verläuft.
Vielen Dank.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Viele Klimaschutzanregungen von heute
können wir aufnehmen und darüber weiter in den Ausschüssen diskutieren. Einige können wir gleich vergessen; das ist klar. Ich denke aber, Polemik hat an dieser
Stelle wirklich keinen Platz. Damit sollten wir uns auch
nicht länger aufhalten.
Wir haben heute die zweite und dritte Lesung zum
Rußpartikelfiltergesetz. Wir sind wieder an dem Punkt,
zu versuchen, über Steuern zu steuern. Ich möchte denjenigen widersprechen, die fordern, einfach die Mineralölsteuer zu erhöhen. Damit ist keine Steuerung dahin
gehend möglich, was für eine Art Auto ich fahre. Dann
fahre ich vielleicht sehr selten, womit ich zwar wenig
Sprit verbrauche. Aber welche Schadstoffe aus dem
Auspuff kommen, kann dann nicht mehr über Steuererleichterungen gesteuert werden. Deswegen finde ich es
gut, dass wir die Kfz-Steuer in dieser Form noch haben.
Es war auch kein Steuervereinfachungsgesetz oder
ein Beitrag zum Bürokratieabbau gedacht. Trotzdem ist
das vorliegende Gesetz ein relativ einfaches Gesetz. Es
wird für diejenigen Leute, die in die Nachrüstung ihrer
Autos mit Rußpartikelfilter investieren, ein Aussetzen
der Steuer geben. Das ist für die Verwaltung relativ einfach zu handhaben und für jeden Bürger leicht verständlich.
Es geht also um Rußpartikel. Jeder weiß, was das ist.
Es ist, ungefähr in Erdhöhe ausgestoßen, ein relativ gefährliches Zeug. Jeder, der schon einmal einen Sportwagen gefahren hat - damit meine ich nicht die ohne Dach
und mit Sitzheizung, sondern einen Wagen mit vier Rädern und darin ein Kind -, weiß, wer diese Rußpartikel
in Gänze abbekommt: Das sind unsere Kinder. Wir haben in den letzten Wochen viel über die Betreuung von
Kindern gesprochen. Ich denke, dazu gehört auch, dass
wir die Lebensumstände der Kinder vernünftig organisieren. Dazu gehört es, dass man sich relativ gefahrlos
auch innerhalb einer Stadt mit Kindern bewegen kann.
({0})
Ich finde es deshalb wichtig, dass wir diesen Gesetzentwurf jetzt verabschieden. Wir müssen unseren Kindern später einmal erklären, warum wir es nicht schon
ein paar Jahre vorher gemacht haben.
({1})
Aber wir wissen, es ist Abstimmungsbedarf vorhanden
gewesen, weil es eine Ländersteuer ist. Es ist klar: Wenn
wir es vorher auf der Bundesebene gelöst und die Diskussion nachher geführt hätten, wäre es auch nicht
schneller gegangen. Trotzdem müssen wir uns das natürlich irgendwann fragen lassen. Ich hoffe, dass so etwas
in Zukunft schneller geht.
Wir sollten dies jetzt umsetzen, unabhängig davon,
welche Klimaschutzmaßnahmen später einmal getroffen
werden und was mit den CO2-Emissionen passiert; das
ist ein anderes Thema. Ich habe mich gefreut, dass im
Ausschuss große Einigkeit bestand. Bis auf die FDP, die
sich nur enthalten hat, waren wir einvernehmlich der
Meinung, dass man mehr tun kann. Vielleicht sollte man
auch mehr tun; aber das, was wir jetzt tun, ist notwendig.
Wir dürfen es nicht aufschieben.
Ich habe selten eine so nette Anhörung erlebt. Andere
Ausschüsse träumen von einer solch einvernehmlichen
Anhörung. Ich finde auch die Regelung, die die Industrie
für die Behinderten in Aussicht gestellt hat, sehr lobenswert. Alles in allem machen wir ein sehr gutes Gesetz, das man natürlich noch verbessern kann. Aber
wenn wir all unsere Probleme so schnell und unbürokratisch lösen könnten, wären wir weiter, auch beim Klimaschutz. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4182, 16/4429 und 16/4416 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Es ist vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 16/4431
zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss
und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie, den Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung sowie an den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4430 mit
dem Titel „CO2-Emissionen der Dienstwagenflotte des
Deutschen Bundestages nachhaltig senken“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf
Drucksache 16/3847 zu dem Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Treibhausgas-
emissionen bei Dienstreisen ausgleichen - Vorbildfunk-
tion der öffentlichen Hand erfüllen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1066 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Frak-
tion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksa-
che 16/3144 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Umverteilung durch den Emissionshandel
beenden - Vorreiterrolle im Klimaschutz übernehmen“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/1682 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes auf Drucksache
16/4010. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4449,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Frak-
tion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4451. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der
FDP-Fraktion abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf
Drucksache 16/4449 zu dem Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Fördergesetz
für Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst vorlegen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/946
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-
Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache
16/4422 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Klimapolitischen Zertifikatehandel in Deutsch-
land nachhaltig und verantwortungsvoll gestalten - Natio-
nalen Allokationsplan grundlegend überarbeiten“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3051
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und
Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3049 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 h sowie
Zusatzpunkt 13 a und 13 b auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 4. Juli 2006 zur Verlängerung des
Abkommens vom 9. April 1995 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen
- Drucksache 16/4378 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Einmalzahlungen für die Jahre 2005, 2006 und
2007 ({1})
- Drucksache 16/4379 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer
Menschen
- Drucksachen 16/4371, 16/4421 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung ({4})
- Drucksachen 16/4372, 16/4420 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Pro-
tokollen vom 16. Mai 2006 über die Änderung
des Abkommens vom 6. Juni 1955 über die Er-
richtung eines Internationalen Ausschusses
für den Internationalen Suchdienst und der
Vereinbarung vom 6. Juni 1955 über die Bezie-
hungen zwischen dem Internationalen Aus-
schuss für den Internationalen Suchdienst und
dem Internationalen Komitee vom Roten
Kreuz
- Drucksache 16/4380 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bleiberecht als Menschenrecht
- Drucksache 16/3912 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Geistes- und Sozialwissenschaften in Forschung und Lehre fördern
- Drucksache 16/4406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnung von Mobilfunkgeräten schnell
und verbraucherfreundlich durchsetzen
- Drucksache 16/4424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
ZP 13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({10}), Jan Mücke, Patrick
Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfassungskonformität der Bahnprivatisierung sicherstellen
- Drucksache 16/4413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Monika Lazar, Britta Haßelmann, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bundesmittel nicht verschwenden - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus
nachhaltig fördern
- Drucksache 16/4408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Den positiven Beitrag des Tourismus zum
Wirtschaftswachstum festigen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Brähmig von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({13})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Nächste Woche wird das größte Tourismuskaufhaus der
Welt in Berlin eröffnet. Die Internationale Tourismusbörse lädt als größte Reisemesse der Welt fünf Tage lang
mit 11 000 Ausstellern aus über 180 Ländern zu einer
Leistungsschau der Branche ein.
Leistung zeigt diese Branche wahrlich. Letztes Jahr
gab es mehr als 350 Millionen gewerbliche Übernachtungen in Deutschland - ein absoluter Rekord. Neben einem deutlichen Plus an ausländischen Gästen, das
sicherlich auf die Fußballweltmeisterschaft zurückzuführen ist, haben wir auch einen Zuwachs an inländischen Gästen zu verzeichnen. Erstmals seit vier Jahren
ist somit auch im Gastgewerbe eine Umsatzsteigerung
zu verzeichnen.
Das ist Anlass genug für eine Aktuelle Stunde des
Deutschen Bundestages. Wie können wir dafür Sorge
tragen, dass die Tourismuswirtschaft auch in Zukunft einen großen und weiter steigenden Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leistet? Die Tourismuswirtschaft ist nicht nur
weltweit, sondern auch im Inland eine der wenigen langfristig wachsenden Branchen. EU-weit sichert diese
Branche derzeit 11,8 Prozent aller Arbeitsplätze. Bis
zum Jahr 2016 wird ein Anstieg auf 13 Prozent angenommen.
Der Tourismus bietet also große Chancen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Während in vielen Wirtschaftsbranchen die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins
Ausland diskutiert wird, kann dies für den Tourismussektor ausgeschlossen werden. Diese Arbeitsplätze sind
an den Standort Deutschland gebunden und können nicht
exportiert werden.
Wer Neuschwanstein oder das Brandenburger Tor,
vielleicht auch den Pückler-Park in Bad Muskau besuchen möchte, findet das Original nun einmal nur hier bei
uns in Deutschland. Dies gilt genauso für bayerische
Biergärten und kölsche Kneipen.
Als Tourismuspolitiker müssen wir dafür sorgen, dass
dieses Wachstumspotenzial gezielt genutzt wird.
({0})
Deshalb haben wir in der Koalition bereits im letzten
Jahr eine Anhebung der Bundeszuwendungen an die
Deutsche Zentrale für Tourismus um 500 000 Euro auf
25 Millionen Euro durchgesetzt. Dies war ein erster
wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Allerdings
reicht dies nicht aus, um im immer schärfer werdenden
internationalen Wettbewerb langfristig bestehen zu können. Vergleichbare Konkurrenzländer wie Frankreich,
Spanien und Großbritannien setzen die richtigen Prioritäten und investieren deutlich mehr öffentliche Mittel in
die touristische Vermarktung als Deutschland.
Die CDU/CSU-Tourismuspolitiker engagieren sich
deshalb für eine weitere Erhöhung der Mittel für die
DZT. Dies sind hervorragend investierte Steuermittel,
die ein Vielfaches an Umsätzen in der Wirtschaft und
Einnahmen in den öffentlichen Kassen bewirken. Für ein
weiteres Wachstum der Tourismusbranche sind vor allem Zuwächse bei der Zahl der internationalen Besucher
notwendig, deren Ausgaben deutlich höher liegen als bei
inländischen Gästen.
Politik und Tourismusbranche müssen sich aber auch
den gewaltigen Herausforderungen stellen. Dies gilt besonders für den demografischen Wandel. Er wird für
Deutschland eine wahre Revolution im Tourismus und
die Reisen der Deutschen zur Folge haben, da die sogenannten Senioren als Zielgruppe immer bedeutender
werden. Trotz größerer Reiseerfahrung werden Inlandsreisen für die Senioren zukünftig wahrscheinlich eine
überdurchschnittliche Bedeutung erlangen, sodass der
Tourismusstandort Deutschland von dieser Entwicklung
profitieren kann. Dazu müssen aber auch die Produktgestaltung und Vermarktung sowie die Infrastruktur in den
Zielgebieten stärker auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschen angepasst werden.
Darin liegt eine zusätzliche Chance für die Reisebüros, die als kompetente und fachkundige Berater auch in
der Zukunft ein wichtiger Partner für die Vermarktung
sein werden. Die Verschiebung der Altersstruktur wird
zu großen Veränderungen bei der Nutzung der Verkehrsmittel bei Urlaubsreisen führen. So gewinnt vor allem
die Busreise für Reisende ab einem Alter von 60 Jahren
an Bedeutung. Ab einem Alter von 69 Jahren reist sogar
fast ein Viertel aller Reisenden mit dem Bus - doppelt so
viel wie mit der Bahn.
Aus Sicht der Tourismuspolitik gibt es viele Gründe,
Busreiseveranstalter und den Reisebus als Verkehrsmittel zu unterstützen. So ist der Bus gemessen an der Zahl
der beförderten Teilnehmer pro Kilometer das umweltfreundlichste Verkehrsmittel überhaupt. Er hat den geringsten Treibstoffverbrauch und den geringsten Schadstoffausstoß und liegt damit sogar noch vor der Bahn.
Busreisen als ein touristischer Beitrag zum - die vorherige Debatte hat es gezeigt - weltweiten Klimaschutz!
Außerdem tragen Busse zur Entlastung der Hauptverkehrsstraßen vom Individualverkehr bei, da ein Reisebus
etwa 30 PKW ersetzt. Aus diesem Grund appelliere ich
an Politik, Kommunen und Ferienregionen, die Infrastruktur an die Bedürfnisse der Busreiseveranstalter anzupassen. Busse dürfen nicht aus den Städten ausgesperrt werden. Busreisen sind ein wichtiges Standbein
für den Tourismusstandort Deutschland. Ohne sie wären
viele deutsche Ferienregionen nicht so gut erreichbar.
Eine Reise ohne Umsteigen können andere Verkehrsträger so nicht leisten. Daraus müssen Konsequenzen für
die Infrastrukturplanung und die Förderung des Reisebusses als strategischem Partner für den Deutschlandtourismus gezogen werden.
Nutzen Sie die ITB als Gelegenheit, sich über die
neuen Trends zu informieren. Sie werden sehen: Urlaub
ist nicht nur Strand und Sonne, sondern zunehmend eine
Chance zur aktiven Freizeitgestaltung, Gesundheitsförderung und Bildung.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann ja fast alles unterschreiben, was Kollege Brähmig
gerade gesagt hat. Nur, jetzt die Reden aus der Oppositionszeit erneut vorzutragen, geht ein bisschen an der Sache vorbei.
Es ist richtig, dass die Zahlen wirklich gut sind. Wir
alle sind froh, dass in unserem Land eine tolle Fußballweltmeisterschaft stattgefunden hat. Das Wetter hat mitgespielt, und es ging ein sehr positives Bild von der Servicebereitschaft der Menschen und von der Schönheit
unseres Landes um die ganze Welt. Von dieser WM werden wir noch lange profitieren, und das ist gut so.
({0})
Wir haben hervorragende Anbieter im Tourismusgeschäft: die Hoteliers, die Gastronomen, die Betreiber von
Freizeitparks, Veranstalter und Naturverbände, die für
Wanderwegenetze sorgen - sie alle tragen dazu bei, dass
wir heute über Angebote verfügen, mit denen wir im internationalen Wettbewerb konkurrieren können. Es ist
zwar nichts so gut, dass es nicht noch besser gemacht
werden könnte. Tatsache ist aber, dass wir in den letzten
Jahren enorm aufgeholt haben. Hier gilt es, all denen
Dank zu sagen, die das bewerkstelligt haben.
({1})
Ich sage ausdrücklich: Ich habe Respekt vor der Leistung der Deutschen Zentrale für Tourismus, die vom
Bund unterstützt wird und eine hervorragende Arbeit
macht. Sicherlich, Kollege Brähmig, könnte sie noch
viel mehr Geld gebrauchen. Die Mittel wurden zwar erhöht, aber von den 10 Millionen Euro allerdings, die die
Union immer gefordert hatte, ist nur ein kleiner Prozentsatz realisiert worden. Auch was das betrifft, sind Sie
also in der Regierung angekommen.
Meine Damen und Herren, worum geht es wirklich?
Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland in der Tourismuswirtschaft knapp 3 Millionen Arbeitsplätze gibt.
Fachleute sprechen davon, dass noch ein Potenzial von
400 000 bis 500 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen besteht,
das dann gehoben werden könnte, wenn die richtigen
Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Sie haben heute eine Aktuelle Stunde
mit dem Titel „Den positiven Beitrag des Tourismus
zum Wirtschaftswachstum festigen“ beantragt. Im Jahreswirtschaftsbericht 2007 der Bundesregierung wird
das Wort „Tourismus“ aber nicht ein einziges Mal erwähnt. Der sehr wichtige Wirtschaftsfaktor Tourismus
kommt darin überhaupt nicht vor. Das ist völlig unverständlich.
({2})
Wenn ich mir anschaue, was Sie in Ihrer Politik tatsächlich machen - als Regierung sind Sie ja nicht dafür
da, Ankündigungen zu machen, sondern sollen die
Dinge vorantreiben -, kann ich in aller Kürze feststellen:
Sie haben die Mehrwertsteuer und dadurch die Preise erhöht. Der wunderschöne Werbeslogan einer Reederei
lautete in den 20er-Jahren: „Froh schlägt das Herz im
Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel!“
({3})
Exakt darum geht es: Sie entziehen den Leuten immer
mehr Geld, treiben durch die Mehrwertsteuererhöhung
die Preise hoch, reden aber hier über den schönen Tourismus. Das passt nicht zusammen.
({4})
Was die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf gastgewerbliche Produkte und Dienstleistungen angeht, gilt für die Regierung: keine Bewegung! Der
Tourismusbeauftragte spricht zwar immer davon, geschehen ist bisher aber überhaupt nichts. Unsere Hotels
werden weiterhin von den Verwertungsgesellschaften
gebeutelt. Hoteliers müssen in Deutschland im Vergleich
zu allen anderen europäischen Ländern viel Geld zahlen.
Dabei geht es um die Umsetzung einer EU-Richtlinie.
Wann werden Sie Ihren Ankündigungen endlich einmal
Taten folgen lassen?
Vor wenigen Wochen haben wir eine Debatte über das
Jugendschutzgesetz geführt. Auch hier gilt: keine Bewegung!
({5})
Wir sehen heute, wohin Ihr Antidiskriminierungsgesetz geführt hat: Menschen werden nicht mehr eingestellt, und Betriebe müssen für Einstellungsgespräche
Rechtsberater hinzuziehen. Sie erschweren die Situation,
anstatt sie zu erleichtern.
({6})
Nun noch ein Wort zum Klimawandel. Lieber Kollege Brähmig, es ist völlig richtig: Der Bus ist das ökologisch sinnvollste Verkehrsmittel. Rot-Grün hat den Bus
immer benachteiligt. Für die Bahn gab es Ausnahmeregelungen bei der Ökosteuer, für den Reisebus tat sich
nichts. Sie haben nichts, aber auch gar nichts getan, um
die europäischen Bestimmungen zu ändern.
Die Feinstaub-Verordnung, die heute in Kraft getreten
ist, wird dazu führen, dass Schausteller und Marktkaufleute nicht mehr in die Stadt fahren dürfen, sodass die
Wochenmärkte nicht mehr beschickt werden. Hören Sie
zunächst einmal auf, solchen Unsinn zu machen, bevor
Sie hier große Reden halten.
({7})
Abschließend sage ich: Der Tourismus ist ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Bund und Länder können
ihn durch die Finanzierung der DZT und durch die
Schaffung der entsprechenden Infrastruktur unterstützen.
Ansonsten sollten wir etwas ganz anderes tun: Wir
sollten den Unternehmern endlich die Fesseln abnehmen. Wir sollten den Unternehmern erlauben, das zu tun,
was sie am liebsten tun, nämlich etwas zu unternehmen,
anstatt sie mit immer höheren Steuern zu schröpfen und
mit immer mehr Vorschriften zu belasten. Lasst sie Unternehmer sein! Dann, da bin ich optimistisch, wird der
Tourismus bei uns weiter blühen, werden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Die ITB wird eine wunderschöne Veranstaltung sein, das zu fördern.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Annette Faße von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Welt zu Gast in Deutschland, die Welt zu
Gast in Berlin - auf der Internationalen Tourismus-Börse
in Berlin. Mein ganz besonderer Gruß gilt den Ausstellerinnen und Ausstellern aus Deutschland, aber auch dem
Ausland. Herzlich willkommen bei uns in Berlin!
({0})
Ganz besonders freue ich mich, dass diesmal Indien
- ein Land im Aufbruch, ein Land zwischen Arm und
Reich - unser Partnerland ist. Indien wird die Eröffnungsveranstaltung mit uns gemeinsam gestalten.
Die Deutschen sind nicht nur Exportweltmeister, die
Deutschen sind auch Reiseweltmeister. In der Beliebtheitsskala der Reiseländer liegt Deutschland auf Platz
fünf; das zeigt auch das Steigen der Zahl der Übernach8250
tungen. Aber auch die Deutschen verbringen immer
mehr Urlaub im eigenen Lande. Obwohl sich die Zahl
der Urlaubstage verkürzt hat, stellen wir fest, dass unser
Land für unsere ausländischen Gäste und für uns Deutsche gut aufgestellt ist.
Es ist richtig: In der Tourismuswirtschaft finden viele
Menschen einen Arbeitsplatz. Auf der anderen Seite haben wir aber auch mit Problemen wie Schwarzarbeit zu
tun. In zwölf Tourismusberufen wird ausgebildet - ein
Dankeschön an alle, die ausbilden!
({1})
Der Wirtschaftsfaktor Tourismus wird in Deutschland
häufig nicht richtig eingeschätzt, manchmal auch mit einem Lächeln bedacht, da gehe es ja nur um Freizeit.
Aber in diesem Bereich machen viele Menschen einen
harten Job.
({2})
In diesem Bereich haben wir viele engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, und wir haben in diesem
Bereich auch viele Verbände, die mit uns zusammenarbeiten.
Wir könnten uns ein Stück zurücklehnen und sagen:
Alles toll, gute Zahlen, uns geht’s gut. - Aber Stillstand
ist Rückschritt. Unsere wichtigen Partner sind natürlich
die Verbände, ganz besonders die Deutsche Zentrale für
Tourismus, die von uns finanziell massiv unterstützt
wird - dass man sich auch hier noch mehr wünschen
kann, darüber sind wir uns einig -, der Deutsche Tourismusverband, die UNWTO, das ist die Weltorganisation
für Tourismus, aber zunehmend auch die EU. Manches
können wir uns ausdenken; doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir vieles nur gemeinsam mit den Bundesländern und den Kommunen durchsetzen können.
Den Tourismusbericht der Bundesregierung werden
wir im Herbst miteinander diskutieren. Daran sieht man
die Vielfalt der Themen, die Breite, man sieht, dass Tourismus viele Fachbereiche übergreift. Wir möchten gerne
den Tourismusbericht den aktuellen Entwicklungen anpassen und ihn in einigen Punkten ausweiten. Deswegen
haben wir als Koalition ganz konkrete Vorschläge erarbeitet, wie dieser Bericht aktualisiert werden kann,
sollte, müsste.
Wir werden uns in dieser Legislaturperiode mit vielen
Themen zu befassen haben. Ich nenne einige Oberbegriffe, um die Vielfalt noch einmal deutlich zu machen:
Wir werden uns weiter massiv mit dem Thema Qualität
- Qualität des Angebots, Qualität der Serviceleistungen auseinandersetzen.
({3})
Heute Morgen gab es eine Diskussion mit dem Deutschen Heilbäderverband über die Qualität des Angebots
in unseren Kurorten, im herkömmlichen Bereich, aber
auch in den Bereichen Wellness und Medical Wellness.
Wir werden uns massiv mit den Themen Nachhaltigkeit und Umwelt auseinandersetzen müssen. Die Klimaerwärmung, von der wir alle ausgehen, hat schon heute
Folgen für den Tourismus in Deutschland, aber auch in
anderen Ländern. Ich denke in diesem Zusammenhang
an Hurrikans und Naturkatastrophen, die Auswirkungen
auf die Sicherheit der Gäste in dem betroffenen Land haben. Auch zukünftig müssen wir beim Thema Umwelt
klar und deutlich Stellung beziehen.
Das Buchungsverhalten der Gäste hat sich verändert.
Das Reisebüro steht in Konkurrenz zu Internetanbietern.
Wir müssen darüber diskutieren, wie wir mit dieser Veränderung umgehen.
Auch in Sachen Mobilität müssen wir die Umwelt im
Blick haben. Eine Erreichbarkeit gerade kleinerer Orte
in unserem Land mit der Bahn ist nicht immer gegeben.
Es ist also gar nicht so einfach, wie es vielleicht erscheint, allen Punkten gerecht zu werden.
Das Thema Deregulierung wird uns wie auch das
Thema Arbeitsmarkt weiterhin massiv beschäftigen.
Darauf werden meine Kolleginnen Hiller-Ohm und
Gradistanac noch näher eingehen.
({4})
Konkret haben wir einen Antrag zum Fahrradtourismus eingebracht. Andere Anträge, die zurzeit in Arbeit
sind, befassen sich mit Geschäftsreisen, Kreuzfahrten,
Wassertourismus, Sporttourismus und der Verantwortung von Reisenden für Entwicklungsländer, das heißt
mit den Chancen, die sich dort auftun, aber auch mit den
Risiken, mit denen wir verantwortungsvoll umgehen
müssen.
({5})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Nicht alle Wünsche sind erfüllbar. Es bleibt weiter
viel zu tun - das ist völlig klar -, wir wollen Urlaub für
Groß und Klein, für Jung und Alt, für Arm und Reich ermöglichen. Urlaub in Deutschland ist in, aber Urlaub im
Ausland ist auch nicht verboten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Debatte zum Haushalt 2007 am 24. November letzten Jahres fragte mein Kollege Ilja Seifert den auch für
Tourismus zuständigen Minister Michael Glos, ob er
denn in seiner zwölfminütigen Rede auch zum Tourismus sprechen werde. Er antwortete - ich darf zitieren -:
Ich selbst würde mich gerne sehr viel stärker dem
Tourismus widmen, komme aber leider nicht dazu.
Bemerkenswert ist auch, dass Minister Glos seit seinem Amtsantritt noch kein einziges Mal den Tourismusausschuss des Deutschen Bundestags besucht hat. Wie
man sehen kann, hat er heute leider wieder keine Zeit,
sich hier diesem Thema zu widmen, obwohl er in der
nächsten Woche die ITB eröffnen möchte.
Die Koalition will den positiven Beitrag des Tourismus zum Wirtschaftswachstum festigen. Schließlich ist
der Tourismus eine Wachstumsbranche mit vielen Ressourcen. Das sehen wir genauso, und wir unterstützen
das.
Wirtschaftswachstum ist das eine. Wir brauchen aber
einen sozialen, ökologischen und barrierefreien Tourismus.
({0})
Deshalb sind wir für die Förderung von Qualitätstourismus. Das bedeutet für uns mehr und bessere Ausbildung
sowie Mindestlohn statt Minijobs und prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
({1})
Mit Ihrer unsäglichen Rechnerei bei der Mehrwertsteuer haben Sie genau das Gegenteil von dem beschlossen, was den Tourismus fördert. Statt für Gaststätten und
Hotels die Mehrwertsteuer auf den ermäßigten Satz von
7 Prozent zu senken, haben Sie sie auf 19 Prozent angehoben. Sie haben eindeutig die Chance verpasst, den
Tourismus zu stärken.
({2})
Wir sehen Tourismuspolitik als Querschnittsthema,
das sich wie ein roter Faden von der Bundesebene bis in
die Kommunen durch alle Ressorts ziehen muss. Die
Kommunen versuchen mit ihren immer weniger werdenden Mitteln, die Infrastruktur barrierefrei auszubauen
und zu erhalten. Das Radwegenetz, der ÖPNV und kulturelle Einrichtungen sind als Standortfaktoren für den
Tourismusbereich unerlässlich. Die Unterhaltung einer
leistungsfähigen kommunalen Infrastruktur verlangt eine
solide und verlässliche Finanzausstattung der Kommunen. - Es wäre nett, wenn Sie zuhören würden, Herr
Kollege Brähmig. - Aber wenn die Unternehmensteuerreform in der Fassung vom 5. Februar 2007 umgesetzt
würde, müssten die Kommunen in Zukunft erneut mit
erheblichen Steuerausfällen - zwischen 5 Milliarden und
10 Milliarden Euro - rechnen. Das ist nicht zu akzeptieren.
({3})
Lassen wir doch die Schulklassen im Land mindestens einmal im Jahr auf Klassenfahrt gehen. Bei entsprechender Förderung des Kinder- und Jugendtourismus
könnte die Bildungsarbeit der Schulen gut unterstützt
und ein weiterer Zweig des Tourismus aufgebaut werden. Als sportpolitische Sprecherin meiner Fraktion sehe
ich in der Entwicklung eines attraktiven Sporttourismus
erheblichen Nachholbedarf. Wassersport, Radfahren,
Wandern und Wellness sind Bereiche, die mit Blick auf
Erholung und Gesundheitsvorsorge zunehmend an Bedeutung gewinnen werden.
Wenn wir über den Tourismus der Zukunft reden,
dann müssen wir auch entsprechende Entscheidungen
treffen: Meine Fraktion will in Saßnitz auf Rügen ein
Tourismusparadies und keine Bergbaulandschaft.
({4})
Die Mondlandschaft in der Lausitz soll nicht erweitert,
sondern touristisch entwickelt werden. Wir finden, dass
sich die Ruppiner Heide in Brandenburg aus tourismuspolitischer Sicht nur friedlich nutzen lässt, also: kein
Bombodrom!
({5})
Die Chancen des Tourismus im ländlichen Raum werden derzeit unzureichend genutzt. Im Rahmen der Förderung des ländlichen Raumes müssen landtouristische
Angebote noch besser entwickelt werden. Der Strukturwandel in vielen ländlichen Gebieten hat zu Verlusten
von Arbeitsplätzen geführt. Gerade hier ist der Tourismus in der Lage, das Wegbrechen von Arbeitsplätzen
aufzufangen. Wir sehen neben einem Mindestlohn in Arbeitgeberzusammenschlüssen die Möglichkeit, die vielen saisonalen Beschäftigungsverhältnisse in dauerhafte
Arbeitsverhältnisse umzuwandeln.
({6})
Tourismus bedeutet auch das Recht auf Reisen für
alle. Wir reden viel über Familienpolitik. Aber dabei
muss berücksichtigt werden, dass auch Familien mit geringem Einkommen und ALG-II-Bezieher Urlaub und
Erholung benötigen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Jetzt spricht der Beauftragte der Bundesregierung für
Tourismus, der Kollege Ernst Hinsken.
({0})
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zuerst unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert
herzliche Genesungswünsche übermitteln, der heute
nicht bei uns sein kann, weil er sich verletzt hat und sich
leider im Krankenhaus befindet.
({1})
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
Die Vorredner haben mich herausgefordert. Kollege
Burgbacher, wenn Sie genau aufgepasst hätten, was Kollege Brähmig in seiner richtungweisenden Rede zum
Ausdruck brachte, dann wüssten Sie, dass er sich nicht
verbogen und nichts Falsches gesagt hat, sondern dass er
darauf verwiesen hat, welches Potenzial der Tourismus
birgt und was zu tun ist, dass die Tourismuswirtschaft in
der Bundesrepublik Deutschland weiterhin funktioniert.
({2})
Es stimmt zwar, dass im aktuellen Jahreswirtschaftsbericht nur sehr wenig über die Tourismusbranche steht.
Aber das wird im nächsten Jahreswirtschaftsbericht
nicht mehr der Fall sein.
({3})
Dass der Tourismus diesmal durch den Rost gefallen ist,
liegt aber auch daran, dass der Jahreswirtschaftsbericht
ohnehin nicht auf einzelne Branchen eingeht. Es kommt
aber nicht darauf an, was im Jahreswirtschaftsbericht
über den Tourismus steht, sondern darauf, dass etwas für
die Entwicklung der Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland getan wird. Dafür bürgt insbesondere Bundeswirtschaftsminister Glos, der so viel für den
Tourismus getan hat wie noch kein Wirtschaftsminister
vor ihm. Er hat viele Kontakte zu den Tourismuspolitikern und hat darüber hinaus den Tourismusauschuss zu
einer mehrstündigen Zusammenkunft in sein Ministerium eingeladen, um sich auszutauschen.
({4})
Das lässt sich sehen und hören. Das sage ich insbesondere an Ihre Adresse, verehrte Frau Kunert, die Sie damals nicht dabei sein konnten.
Alle frönen dem Tourismus. Aber den meisten ist
nicht bekannt und bewusst, was sich dahinter ökonomisch verbirgt: Hier liegen die Arbeitsplätze der Zukunft. Diese Aktuelle Stunde hat ihre Berechtigung,
nicht nur weil in der nächsten Woche die Internationale
Tourismus-Börse stattfindet, sondern auch weil sich so
viel Positives auf dem Gebiet des Tourismus in den letzten zwölf, dreizehn Monaten getan hat, dass es sich allemal lohnt, darüber zu reden.
({5})
Der weltweite Tourismus boomt, und unser Land - darüber sollten wir uns freuen - ist mit dabei. Es ist auch
deshalb mit dabei, weil die Wirtschaft wieder läuft. Nie
zuvor konnte Deutschland im Tourismussektor ein solches
erfolgreiches Jahr wie 2006 verzeichnen. Wir haben erstmals über 350 Millionen gewerbliche Gästeübernachtungen. Das sind 7 Millionen mehr als im vergangenen Jahr.
({6})
Aus dem Ausland waren circa 51 Millionen Übernachtungen zu verzeichnen, 10 Prozent mehr als im Vorjahr,
Herr Kollege Tauss.
({7})
- Sie sind herzlich eingeladen, einmal bei mir Urlaub zu
verbringen. Dann können wir unsere Diskussion vertiefen.
({8})
Die Einnahmen aus dem Reiseverkehr aus dem Ausland sind in Deutschland ebenfalls um 10 Prozent auf
sage und schreibe 26 Milliarden Euro gestiegen. Der
Tourismus in Deutschland ist und bleibt mit 2,8 Millionen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagerten Bereich
und mehr als 110 000 Ausbildungsplätzen ein wichtiges
Feld für Wachstum und Beschäftigung und einer der
größten Wirtschaftsbereiche der Republik. Das Rückgrat
gerade für den Tourismus in Deutschland bilden die über
250 000 Betriebe der Hotellerie und Gastronomie. Ich
meine deshalb sagen zu dürfen: Der Tourismus ist ein
Dienstleistungsbereich mit Zukunftspotenzial, eine der
Leitökonomien des 21. Jahrhunderts. Hier gibt es viele
Arbeitsplätze, die wir dringend brauchen. Die Rahmenbedingungen müssen aber stimmen, damit diese auch geschaffen werden.
In der Welt wächst die Reise- und Tourismuswirtschaft trotz latenter Gefahrenzunahme durch Naturkatastrophen, Krisenherde und Terrorismus. Laut Welttourismusorganisation - Frau Kollegin Faße hat bereits darauf
verwiesen - gab es im Jahr 2006 mehr als 843 Millionen
Gästeankünfte weltweit. Das war ein Plus von
4,6 Prozent. Es wird erwartet, dass bis zum Jahr 2020
diese Zahl auf 1,6 Milliarden bis 1,7 Milliarden anwächst. Das darf nicht an uns vorbeigehen.
({9})
Dafür müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, für die in erster Linie wir im Bundestag verantwortlich zeichnen. Wenn Herr Kollege
Danckert „Jawohl“ schreit, dann freut mich das ganz besonders. Schließlich ist er der Vorsitzende des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, und Sporttourismus ist in aller Munde. Er war vor allen Dingen im
vergangenen Jahr in aller Munde; ich komme noch darauf zu sprechen.
({10})
Sowohl Incoming als auch Outgoing sind in. Beim
Outgoing wird die Entwicklung vom Luftverkehr angetrieben, der weiter wachsen wird. 2 Milliarden Menschen fliegen jährlich durch die Welt. Im Jahr 2020 werden es doppelt so viele, 4 Milliarden, sein. Die
Billigflieger verzeichneten im ersten Halbjahr 2006 wiederum fast 31 Prozent mehr Passagiere. Auf sie entfallen
jetzt mehr als ein Drittel aller Flugreisen von Europäern
ins Ausland. Davon profitieren vor allem die Städte.
Dem Städtetourismus ist mit 82 Milliarden Euro der
größte Teil aller Umsätze im deutschen Tourismus zuzurechnen, wie eine Studie im Auftrag des BMWi ergeben
hat. Rund ein Drittel aller Übernachtungsgäste und
knapp ein Viertel aller Übernachtungen entfallen auf die
Großstädte. Fast 1,6 Millionen privat und geschäftlich
Tagesreisende kommen hinzu.
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
Mit ganz besonderem Stolz darf uns erfüllen:
Deutschland ist mit 160 internationalen Messen weltweit
Messestandort Nummer eins, und als Kongress- und Tagungsplatz sind wir nach den USA auf Platz zwei. Diesen Stand müssen wir halten. Da muss etwas getan werden.
({11})
Die Urlaubsreiseintensität liegt mit rund 75 Prozent
der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahre auf einem sehr
hohen Niveau. Sie hat aber leider eine leicht rückläufige
Tendenz. Man macht nicht mehr Urlaub an einem Stück,
sondern geht kürzer, dafür zwei- bis dreimal während
des Jahres in Urlaub.
Branchenexperten schätzen - auch das ist in diesem
Zusammenhang interessant -, dass die Deutschen ab
2007 für Auslandsreisen wieder tiefer in die Taschen
greifen werden: Deutsche werden im kommenden Jahr
voraussichtlich rund 62 Milliarden Euro für Auslandsreisen ausgeben. Davon fließen nur 26 Milliarden Euro
zu uns zurück. Das ist eine unausgeglichene Handelsbilanz. Es lohnt sich, daran zu arbeiten, dass diese Differenz kleiner wird.
Wir müssen uns deshalb verstärkt auf neue Gegebenheiten einstellen. Schon heute ist die Reiseintensität der
über 60-Jährigen größer als die der Bundesbürger insgesamt. Die Mitbürger zwischen 50 und 75 Jahren buchen
bereits jetzt 48 Prozent aller Veranstaltungsreisen, obwohl sie nur 29 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Wir können nicht wegdiskutieren: Im Jahr 2050 gibt es
in unserer Republik mehr über 50-Jährige als unter
50-Jährige. Deshalb gilt es, hier zu sagen, dass die Nachfrage nach Gesundheits- und Wellnesstourismus und
auch nach barrierefreien Reise- und Urlaubsangeboten
anhalten wird.
Ebenso verhält es sich mit dem Kinder- und Jugendtourismus. Dafür werden von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland rund
12 Milliarden Euro ausgegeben. Die Kinder und Jugendlichen stellen ungefähr 20 Prozent aller Urlaubsreisenden. Es gilt, insbesondere naturnahe Urlaubsformen - sie
liegen im Trend - zu unterstützen. Um nur einige wenige
zu nennen: Wanderurlaub, Wassertourismus, Fahrradreisen, Urlaub in Nationalparken und Naturparken, Urlaub
auf dem Lande.
Ich möchte noch darauf verweisen, dass in Deutschland 1,6 Millionen Bauernhofurlaube zu verzeichnen
sind.
Herr Kollege Hinsken, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Jawohl, Herr Präsident, ich habe Verständnis, obwohl
ich natürlich noch vieles zu sagen hätte. Die Aufmerksamkeit ist so groß, dass ich mir gedacht habe, ich bekäme noch eine Minute zugestanden. Das ist aber nicht
der Fall.
Diese eine Minute habe ich Ihnen schon zugestanden.
Sie sind jetzt in der zweiten Minute.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Ich komme zum Schluss.
Ich pflichte Frau Kollegin Faße bei: Das größte touristische und sportpolitische Ereignis in diesem Jahrzehnt war die Fußballweltmeisterschaft im letzten Jahr.
Hierdurch haben wir Deutschen in aller Welt gewonnen,
und zwar nicht nur durch die schönen Spiele und dadurch, dass sich Deutschland großartig zeigen konnte,
sondern vor allen Dingen, weil die weltweiten Übertragungen der Spiele und die Berichte über Deutschland gezeigt haben, wie einladend es ist.
({0})
Viele haben das Ganze verfolgt. 30 Milliarden Menschen haben dies alles gesehen.
Herr Präsident, es folgt mein letzter Satz.
Herr Kollege Hinsken, es ist genug jetzt.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Tourismus ist die beste Außenpolitik. Lassen Sie uns
alle zusammen daran arbeiten, dass diese Form der Außenpolitik gestärkt wird. Jeder kann sich als Botschafter
seines Landes verstehen, wenn er sich im Ausland aufhält.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Sehr geehrter Herr Hinsken! Die ITB beschert uns eine Debatte
über den Tourismus. Wir freuen uns darüber, weil sicherlich wir alle der Meinung sind: Man kann gar nicht oft
genug darüber reden, dass die Tourismuswirtschaft ein
ernstzunehmender Wirtschaftszweig ist. Gelegentlich
scheint es ja wirklich so zu sein, dass man sowohl auf
kommunaler Ebene als auch auf Landesebene als auch
im Bund unterstreichen muss, dass man die Tourismuswirtschaft wirklich ernst zu nehmen hat.
({0})
Undine Kurth ({1})
Wir alle wissen: Es gibt drei Dinge, an denen die Entwicklung der Tourismuswirtschaft hängt.
Erstens: an den Akteuren, den Anbietern selber, den
Hoteliers, den Restaurantbetrieben, an allen, die mit
Tourismus zu tun haben. Sie leisten unglaublich viel Gutes. Übrigens haben sie nicht nur Fesseln; sonst wären
sie ja nicht so weit.
({2})
Die Akteure sind also das eine.
Zweitens: an den regionalen Voraussetzungen. Dazu
zählen Naturausstattung, Kulturgut, die Gründe dafür,
dass Menschen überhaupt in eine Gegend fahren.
Drittens - das muss uns hier am meisten beschäftigen -:
an den politischen Rahmenbedingungen. Wir setzen sie,
damit die unter „Erstens“ Genannten richtig arbeiten
können und damit die unter „Zweitens“ aufgezählten Voraussetzungen auch wirklich genutzt werden können.
Schließlich sind nicht immer Fußballweltmeisterschaften.
({3})
Ich frage mich, wie viele Jahre wir davon noch reden
werden.
Wir müssen uns auch um andere Dinge kümmern.
Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet „Den positiven Beitrag des Tourismus zum Wirtschaftswachstum
festigen“.
Die Frage an uns ist also: Was müssen wir tun, damit
diese positive Entwicklung weitergeht? Hier sind wunderbare Zahlen genannt worden. Es sei noch einmal daran erinnert: Es sind nicht exportierbare Arbeitsplätze,
die da entstehen.
Wenn wir die Tourismuswirtschaft in ihren Erfolgen
weiter festigen wollen, müssen wir uns nach den Ursachen ihrer Erfolge fragen. Herr Präsident, Sie erlauben
mir, aus der „Mitteldeutschen Zeitung“ von gestern zu
zitieren. Da wird unter der Überschrift „Ostharztourismus weiter im Aufwind“ Folgendes gesagt:
Während der weit gehend ausgebliebene Schnee die
Tourismusstatistik ehemals schneesicherer Orte
verdarb, verzeichneten Bäder, Museen und die Innenstädte von Orten mit kulturellem Angebot deutlich höhere Besucherzahlen. Vermehrt beeinflusse
dieser Mehrwert die Buchungsentscheidung der
Gäste.
Die Enquete-Kommission „Kultur“ hat vorgeschlagen, 2 Prozent aus dem Korb II des Solidarpakts doch
bitte schön für Kultur festzuschreiben. Von Herrn Minister Tiefensee haben wir aber die Antwort bekommen,
dass das Engagement des Bundes für Kultur in Ostdeutschland nicht als spezifische Aufbau-Ost-Leistung
bewertet wird. Angesichts dessen wäre es vielleicht hilfreich, wenn wir alle zusammen versuchen würden, Herrn
Minister Tiefensee davon zu überzeugen, dass Kultur
durchaus Infrastruktur ist und dass es dem Tourismus
helfen würde, wenn man da etwas täte.
({4})
Es ist schon vom demografischen Wandel gesprochen
worden. Wir alle reden davon, dass wir erfreulicherweise älter werden, dass wir dann aber vielleicht nicht
mehr ganz so beweglich sind. Jeder Vierte ist heute älter
als 60 Jahre. 2020 wird es jeder Dritte sein. Also ist Herstellen von Barrierefreiheit nicht nur eine gute Tat; Barrierefreiheit ist Voraussetzung für die Wirtschaftsentwicklung im Tourismus.
Es ist vielleicht wichtig, doch noch einige Zahlen zu
nennen. 10 Millionen Menschen in Deutschland müssen
mit einer Behinderung leben. Nur 55 Prozent von ihnen
konnten im letzten Jahr einen Urlaub buchen, obwohl wesentlich mehr das gern getan hätten. Allein diese
55 Prozent haben 5 Millionen Urlaubsreisen und
4,7 Millionen Kurzurlaube gebucht. In Geld heißt das: Es
sind 1,6 Milliarden Euro im Übernachtungstourismus
und 1,5 Milliarden Euro im Tagestourismus ausgegeben
worden. Umgerechnet in Vollzeitarbeitsplätze sind das
65 000. In diesem Bereich sollte also nicht gespart werden. Tatsächlich ist das jetzt aber leider passiert; denn die
Bundesregierung hat bei den für den Bereich „Barrierefreier Tourismus“ relevanten Haushaltstiteln drastisch
gekürzt bzw. die Ansätze auf null reduziert. Wer die nationale Koordinierungsstelle für den barrierefreien Tourismus nicht weiter fördert, tut nichts Kluges für den Tourismus.
({5})
Die Reihe der Beispiele aus vielen Bereichen könnten
wir fortsetzen.
Ich will versuchen, mich an meine Zeit zu halten deshalb ganz zum Schluss ein Appell für den Tourismus
in Brandenburg. Auch da könnte ein Bundesminister viel
tun, nämlich der der Verteidigung. Es gibt einen LuftBoden-Schießplatz, das sogenannte Bombodrom, in der
Kyritz-Ruppiner Heide. Wir alle wissen, dass eine ganze
Region, die dort auf Tourismus setzt, sich gegen diesen
Übungsplatz ausspricht, weil die Entwicklung der Region abgebrochen würde. Daher der dringende Appell an
uns: Lassen Sie uns versuchen, Herrn Jung davon zu
überzeugen, dass dieser Schießplatz der Tourismusentwicklung ganz und gar nicht förderlich wäre!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Engelbert Wistuba von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
„Prometheus hat das Feuer nicht vom Himmel geholt,
damit die Wurstbratereien ihre Geschäfte machen können.“ - Ein sehr treffendes Zitat von Heinrich Böll.
Kulturelle Errungenschaften dienen nicht in erster Linie einem kommerziellen Zweck. Die positive Entwicklung der Nachfrage bei Wurstbratereien und anderen Unternehmen der Tourismuswirtschaft zu fördern, ist nicht
die eigentliche Aufgabe von Kunst und Kultur. Ich will
das zu Beginn einmal festhalten; denn der Begriff „Kulturtourismus“, über den ich hier sprechen will, legt das
Gegenteil nahe.
Kunst und Kultur erfüllen Grundbedürfnisse des individuellen und sozialen Lebens. Kunst und Kultur sind
vielleicht gerade deshalb ein Reisegrund. Kulturelle Ereignisse und Sehenswürdigkeiten lösen touristische Besucherströme aus.
Um dies wirtschaftlich nutzen zu können, müssen
sich Kultureinrichtungen und Tourismus als Partner verstehen. Die touristische Orientierung der Kulturanbieter
und die Sensibilität der Touristiker für Fragen von Kultur und Denkmalschutz sind zwei Seiten einer Medaille.
Ein Blick auf die kulturtouristische Realität in unserem Land zeigt, dass die Kooperation an vielen Stellen
bereits mit großem Erfolg praktiziert wird. Laut dem
„World Travel Monitor“ stieg die Zahl der Kulturreisen
der Europäer nach Deutschland seit dem Jahr 2000 um
20 Prozent. Deutschland liegt mit einem Anteil von
9 Prozent an allen europäischen Kultururlauben hinter
Frankreich und Italien an dritter Stelle. Das Sightseeing,
der Besuch von Museen und Ausstellungen, gehört zu
den wichtigsten Bestandteilen einer Rundreise durch
Deutschland. Das gilt für europäische Reisende, aber
auch für den wachsenden Markt der Reisen außereuropäischer Touristen. Die zunehmende Internationalität der
Reisenden stellt die Anbieter allerdings auch vor Herausforderungen, beispielsweise, was die sprachliche
und interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sowie die sprachliche Vielfalt der Informationsbroschüren und der Beschilderung angeht.
Beim Kulturtourismus scheint der Prophet im eigenen
Lande etwas zu gelten: 19 Prozent der Inlandsreisen
deutscher Touristen sind Kulturreisen, heißt es in einer
Pressemitteilung der Deutschen Zentrale für Tourismus.
Die DZT hat übrigens das Jahr 2007 zum Themenjahr
„Kunst- und Kulturland Deutschland“ ausgerufen, um
Deutschland weltweit noch stärker als Kulturdestination
zu positionieren.
({0})
Ich begrüße ausdrücklich dieses Engagement.
Die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mitfinanzierte Studie „Städte- und Kulturtourismus in Deutschland“ ist zu überaus interessanten Ergebnissen gekommen: Der Städtetourismus in Deutschland
führte im Jahr 2004 zu einem Bruttoumsatz - Herr
Hinsken sagte das schon - von über 82 Milliarden Euro.
Mit 2,2 Milliarden touristischen Aufenthaltstagen ist der
inländische Städtetourismus ein Megamarkt. Von diesem
Trend profitiert auch eine ganze Bandbreite von Wirtschaftzweigen: das Hotel- und Gaststättengewerbe, der
Einzelhandel, die Freizeit- und Unterhaltungsbranche,
aber auch andere Dienstleister wie das Transportgewerbe.
Die damit verbundenen Einkommens- und Beschäftigungseffekte belegen eindrucksvoll die wirtschaftliche
Bedeutung dieses Bereichs. Der Städtetourismus sichert
hierzulande immerhin 1,6 Millionen Arbeitsplätze. Zwar
ist das kulturelle Interesse eine Hauptmotivation für eine
Städtereise; aber nicht jede Städtereise ist eine Kulturreise. Umgekehrt führt nicht jede Kulturreise zwingend
in eine Stadt; denn der ländliche Raum hat kulturell einiges zu bieten. So können auch strukturschwache Regionen mit kulturellen Ambitionen neue Einkommensquellen erschließen.
({1})
Die weiteren Vorteile, die der Kulturtourismus für
eine Destination bietet, liegen auf der Hand. Kultur hat
das ganze Jahr Saison. Ein besonders großes Interesse
für dieses Reisesegment haben die sogenannten Best
Ager: Menschen, die das letzte Drittel ihres Lebens aktiv gestalten wollen und die über die dafür notwendigen
finanziellen Mittel verfügen, anspruchsvolle Reisende,
die es für den Deutschlandtourismus zu gewinnen gilt.
Für die ostdeutschen Bundesländer liegt im Kulturtourismus eine große Chance. Auch hier gibt es bereits international bekannte Destinationen: Dresden, Weimar
oder Sanssouci. Darüber hinaus verfügen die ostdeutschen Länder über ein großes kulturtouristisches Wachstumspotenzial. Hier sind aber - wie überall - enorme Kosten mit der Instandsetzung und Pflege von Kulturgütern
verbunden. An vielen Beispielen gerade aus den ostdeutschen Ländern lässt sich zeigen, dass sich diese Investitionen langfristig lohnen; Bund, Länder und Gemeinden
sollten davor nicht zurückschrecken.
Übrigens können die Kultur und damit der Kulturtourismus auf die Unterstützung von ganz anderer Seite
bauen: Gerade der kulturelle Bereich wird von vielen
Tausenden ehrenamtlich Engagierten gefördert und
getragen: In Fördervereinen, Stiftungen, Verbänden, Gemeinderäten und Kirchengemeinden oder als Spender
setzen sie sich mit Gemeinsinn für den kulturellen
Reichtum unseres Landes ein. Die SPD-Fraktion unterstützt die Initiative von Finanzminister Peer Steinbrück,
das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht großzügiger
zu regeln und zivilgesellschaftliches Engagement noch
stärker zu fördern.
({2})
Wir setzen damit fort, womit wir schon in der letzten Legislaturperiode begonnen haben: die Stärkung der solidarischen Bürgergesellschaft.
Abschließend darf ich als Sachsen-Anhalter schon
heute Ihren Blick auf das Jahr 2017 lenken. In 2017 jährt
sich die Reformation - festgemacht am Thesenanschlag
an der Schlosskirche zu Wittenberg - zum 500. Mal.
Weil dieses Ereignis eine große Bedeutung für die deutsche und europäische Kultur hat, birgt das Jubiläum
auch tourismuswirtschaftlich große Möglichkeiten. Die
Stadt Wittenberg, die anderen Lutherstädte, das Bundesland Sachsen-Anhalt und die evangelische Kirche müssen hier auf die volle Unterstützung des Bundes bauen
dürfen. Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hause über die
Reformationsjubiläen mindestens genauso häufig und
engagiert wie über die Fußballweltmeisterschaft diskutieren werden. Auch 2017 wird die Welt zu Gast bei
Freunden sein. Das Lutherjahr 2017 sollte ein Aushängeschild des Deutschlandtourismus und eine Werbung
für das Kulturland Deutschland sein.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Mortler von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte
ich unserem lieben Kollegen Dr. Seifert im Namen aller
Ausschussmitglieder gute Besserung wünschen. Wir
sind mit den Gedanken und mit den Herzen bei ihm.
({0})
Frau Kunert, an Sie gerichtet - - Wo sind Sie denn? Sie ist leider nicht mehr da.
Sie hat sich entschuldigt; sie musste vorzeitig gehen.
Das Recht auf Reisen für alle hat es in Deutschland
schon immer gegeben. Darum mein Appell an Frau
Kunert: Seien Sie froh, dass Sie jetzt dazugehören.
({0})
Meine Damen und Herren, meine Vorrednerinnen und
Vorredner haben in Zahlen und inhaltlich schon eindrucksvoll ausgedrückt, wer alles hinter der Tourismuswirtschaft steckt. Lassen Sie mich eine Branche herausnehmen, die einer der größten Arbeitgeber ist, nämlich
das Hotel- und Gastgewerbe. 890 000 Beschäftigte gibt
es in diesem Bereich.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch gleich mit der
Tür ins Haus fallen.
({1})
Wenn wir es mit unserem Ansatz „Wirtschaftswachstum
festigen und fairen Wettbewerb zulassen“ ernst meinen,
dann muss das Thema „Reduzierter Mehrwertsteuersatz“ wieder auf die Tagesordnung.
({2})
Kein Geringerer als EU-Kommissar Verheugen hat uns
im letzten Jahr als Gast in unserem Ausschuss Rückendeckung gegeben und genau vorgerechnet, dass dies auf
alle Fälle einen arbeitsplatzschaffenden Effekt hätte.
({3})
In diesem Sinne ist das für mich eine aktive Standortpolitik.
Leider wurde die Diskussion über das Gastgewerbe in
den letzten Monaten hauptsächlich auf das Thema
Nichtraucherschutz reduziert. Die Verunsicherung in
der Branche ist groß. Deshalb bedaure ich persönlich das
Scheitern der freiwilligen Selbstverpflichtung mit der
Bundesregierung. Mit Blick nach vorne und vor allem
mit Blick auf unsere Bundesländer rate ich aber dringend
- egal ob es einheitliche Regelungen gibt oder nicht -:
Handeln Sie im Interesse der Branche und der Bürgerinnen und Bürger jetzt, schnell und abschließend.
({4})
Auch die vierte Jahreszeit war für unsere Wintersportgemeinden eine unendliche Geschichte. Der
Schnee und die Touristen blieben aus. Selbst der letzte
Skeptiker muss erkennen, dass wir Antworten auf den
Klimawandel brauchen.
({5})
Wenn es allerdings immer weniger schneesichere Gebiete gibt
({6})
- passen Sie auf, Frau Wright -, dann können Schneekanonen nicht die alleinige Antwort sein.
({7})
- Ich habe eine eigene Position, liebe Frau Wright. - Wer
nicht auf Alternativen und Innovationen, sondern nur auf
Geschichte setzt, der muss aufpassen, dass er nicht bald
selbst Geschichte wird.
({8})
Die Welt war zu Gast bei Freunden, aber die Welt
schläft nicht, wenn es um Markt und Marktanteile geht.
Weil die Reiselust ungebrochen ist und die Deutschen
Reiseweltmeister sind, ist jeder in den Tourismus investierte Euro gut angelegt. Danke sage ich an dieser Stelle
auch noch einmal der DZT, der Deutschen Zentrale für
Tourismus, unserem Tourismusbeauftragten und der anwesenden Staatssekretärin.
({9})
Meine Damen und Herren, mein Tourismusverband
wirbt im Moment mit einer Premiumbroschüre: „Franken - Wein.Schöner.Land“. Ich möchte das gerne auf
Deutschland übertragen: Deutschland - Vielfalt.Schöner.Land. - Von der Nordsee bis zu den Alpen - bei jeder
Zielgruppe und bei jedem Alter, von der Stadt bis aufs
Land -: Überall können wir punkten.
({10})
An dieser Stelle danke ich einer Persönlichkeit, die fast
alle in unserem Land kennen: Franz Beckenbauer. Er hat
unser Land nämlich aus dem Flugzeug betrachtet und
wegen unserer gepflegten Landschaften ein Loblieb auf
unsere Bäuerinnen und Bauern gesungen. Herzlichen
Dank!
({11})
Gerade für die Landwirtschaft gilt: Urlaub auf dem
Bauernhof, Family-Farm, zertifizierte Gesundheitshöfe,
Seniorenhöfe, behindertengerechte Höfe - all das ist
wichtig und gut; aber ich appelliere an die Vertreter der
Branche: Setzen Sie auf nicht ausgeschöpfte Potenziale,
vermarkten und bewerben Sie Ihre besonderen regionalen Spezialitäten noch offensiver.
Meine Damen und Herren, nicht nur der Frankenwein
ist ein guter Wein. Alle unsere Weinregionen können
sich als Reiseziele sehen lassen.
({12})
Deshalb appelliere ich noch einmal an die Deutsche Zentrale für Tourismus: Schnüren Sie ein internationales
Weinpaket. Das ist aus meiner Sicht überfällig.
Gut Essen und Trinken ist das eine; gut und sicher
Reisen ist das andere. Selbst ein Scheich hat kürzlich Urlaub auf einem Bauernhof in Ostbayern gemacht. Es
wird berichtet: Angetan hatten es ihm vor allem die Natur und die Sicherheit. Hier können sich meine Kinder
unbeschwert bewegen, wird er zitiert.
Frau Kollegin Mortler, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich bin in der Zielkurve, Herr Präsident.
Im Zusammenhang mit Sicherheit geht es auch um
die Zielgruppe der älteren Generation. Hier spielt das
Thema Busreisen eine große Rolle. Ich danke dir, lieber
Kollege, dass du das schon angesprochen hast. Sicher
und gemeinsam statt einsam: Gemeinsam und gemütlich
kann man mit dem Bus als umweltfreundlichem, aber
auch sicherem Verkehrsmittel unterwegs sein. Ich danke
auch dem Busverband, dass er es geschafft hat, eine neue
sympathische Idee zu unterstützen: Es gibt die neue Reisezeitung „Sehnsucht Deutschland“, die mit der Überschrift wirbt: Reiselust wecken im eigenen Land.
Herr Präsident, ich höre auf Sie. Ich hätte noch einen
schönen Schlusssatz. Aber auch der vorherige „Reiselust
auf das eigene Land“ dürfte ein schöner gewesen sein.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tourismusbranche in Deutschland boomt. Im Städtetourismus, aber auch in anderen Sparten erleben wir regelrechte Wachstumsschübe. Das belebt unsere Wirtschaft,
ist gut für den Arbeitsmarkt und bringt die lahmende
Binnenkonjunktur in Schwung.
Warum entscheiden sich so erfreulich viele Touristinnen und Touristen aus dem In- und Ausland für die Destination Deutschland? Ein ganz wichtiges Entscheidungskriterium ist die Qualität des Angebots. Neben der
besonderen Attraktivität der Ferienziele in Deutschland
und einem ausgewogenen Preis-Leistungs-Verhältnis
müssen Service und Freundlichkeit stimmen. Der Erfolg
eines Produktes hängt also ganz entscheidend von den
Fähigkeiten und der Motivation der Beschäftigten ab.
Wenn der Tourismus in Deutschland langfristig auf
der Erfolgsspur bleiben will, brauchen wir die nötigen
Rahmenbedingungen; denn eines ist klar: Die Konkurrenz im Ausland schläft nicht, und durch verbesserte und
immer billiger werdende Mobilität erweitern sich auch
die Reisemöglichkeiten der Menschen. Gut ausgebildete
und hochmotivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
sind unerlässlich, um die so wichtige Serviceleistung
auch in Zukunft erfolgreich in Deutschland zu erbringen.
({0})
Genaue Zahlen kennen wir nicht, aber knapp
3 Millionen Menschen sind in der Tourismusbranche beschäftigt; ein großer Teil von ihnen sind Saisonarbeiter
und Minijobber. Gute Arbeit muss gut entlohnt werden.
Nur so lässt sich Abwanderung von Fachpersonal in andere Berufe oder ins Ausland verhindern. Die Forderung
der Gewerkschaften nach gerechtem Anteil am wirtschaftlichen Wachstum für die Beschäftigten nach Jahren der Lohnzurückhaltung ist deshalb nur zu unterstützen. Wenn wir uns die Einkommen im Bereich des
Hotel- und Gaststättengewerbes anschauen, wird deutlich, dass hier zum Teil die Sittlichkeitsgrenze nur knapp
geschrammt wird. So werden beispielsweise in der untersten Tarifvergütung des Hotel- und Gaststättengewerbes in Sachsen-Anhalt gerade einmal 4,61 Euro gezahlt,
von den tariflich nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen ganz zu schweigen.
Nichtsdestotrotz fordert der Präsident des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages, Braun, Lohnmäßigung in Deutschland als Dauerzustand. Das ist seine
Antwort auf die Herausforderungen einer globalisierten
Welt.
({1})
Falsch, sage ich; denn die Zukunft der Tourismusbranche hängt ganz entscheidend am Fachpersonal, und das
wird sich bei Entspannung des Arbeitsmarktes nicht mit
Hungerlöhnen abspeisen lassen.
({2})
Vollkommen unverständlich wird die Forderung nach
Lohnmäßigung, wenn der Industrie- und Handelskam8258
mertag im gleichen Atemzug schon heute einen massiven Fachkräftemangel im Bereich der Köche und des
Servicepersonals beklagt.
Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist klar: Menschen müssen von ihrer Arbeit leben können. Aber wie
sieht die Wirklichkeit aus? Leider müssen viele Beschäftigte in der Tourismusbranche zusätzlich zu ihrem Lohn
Arbeitslosengeld II beziehen, um überhaupt über die
Runden zu kommen. In dieser Branche gibt es immer
weniger Tarifverträge und zum Teil sehr niedrige Tariflöhne.
Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit durch gute Qualität der Serviceleistung langfristig absichern wollen,
brauchen wir gerade in der Tourismusbranche dort, wo
die Tarifbindung nicht greift, einen gesetzlichen Mindestlohn.
({3})
Außerdem muss die Qualität der Arbeit weiter verbessert werden. Das betrifft vor allem die Bereiche der
Aus- und Weiterbildung. Hier gibt es Bewegung. Der
noch von Rot-Grün beschlossene Ausbildungspakt zeigt
im Hotel- und Gaststättenbereich Wirkung: Von 2004
auf 2005 ist die Zahl der Ausbildungsplätze um
3,6 Prozent gestiegen.
({4})
Im Bereich der Weiterbildung will der Handelskammertag vor allem für ältere Beschäftigte mehr tun. Das ist
ein richtiger Schritt und entspricht der Stoßrichtung der
Initiative „50 plus“ unseres Arbeitsministeriums.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin wirklich
froh, dass wir beim Nichtraucherschutz endlich vorangekommen sind. Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Tourismusbranche ist ein solcher Schutz unerlässlich. Der Beschluss des Bundeskabinetts muss jetzt
Signalwirkung entfalten. Die Länder sind in der Pflicht,
über eine Anpassung der Gaststättenverordnungen
Nichtraucherschutz für die Beschäftigten und natürlich
auch für die Gäste in der Gastronomie sicherzustellen.
Ich fasse zusammen: Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten wollen, dass die Beschäftigten im
Tourismussektor vom Wirtschaftswachstum profitieren über gute Arbeit, gute Löhne und gute Aus- und Weiterbildungschancen. So stärken wir auch die Tourismuswirtschaft in Deutschland.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tourismus
und Wirtschaftswachstum - lassen Sie mich fünf Bereiche dieses Duos bitte kurz beleuchten.
Erster Bereich: Geschäftsreisen, Messen und Kongressbesuche. Das ist ein ganz wichtiger Bereich. Im
Jahre 2006 lag der Umsatz dort bei 60 Milliarden Euro.
150 Millionen Geschäftsreisen fielen im letzten Jahr an.
Das bedeutete eine Ausgabe von 50 Milliarden Euro für
die Unternehmen. Sie sehen, wie viel Geld dahintersteckt und wie wichtig dieser Bereich für die Tourismusbranche ist, vor allen Dingen für die Betriebe im Hotelund Gaststättenbereich, die außerhalb der Saison von
Geschäftsreisenden aufgesucht werden.
Deswegen ist es auch für uns Tourismuspolitiker eine
wesentliche Aufgabe, die führende Position des Geschäftsreisestandorts Deutschland auszubauen und in
diesem Zusammenhang für viele Betriebe Bürokratie abzubauen. Wir wollen uns dieser Thematik in den nächsten Sitzungen annehmen.
Zweiter Punkt: Kreuzfahrttourismus. Auch das ist ein
boomender Bereich. Mit einem Umsatz von
1,5 Milliarden Euro hat dieser Bereich im letzten Jahr einen Höchststand erreicht. Man muss einmal deutlich sagen, dass es in den letzten neun Jahren eine Verdopplung
des Umsatzes gab. Deutschland wird als Kreuzfahrtstandort immer beliebter. Das gilt nicht nur für Skandinavier, die auf Fähren zu uns kommen, sondern auch für
andere internationale Reisende, die über deutsche Häfen
einreisen. Wir müssen versuchen, den Standort noch attraktiver zu machen, zum Beispiel durch eine Harmonisierung der Verbrauchsteuern für Verkäufe an Bord.
Als Norddeutscher sage ich natürlich gerne, dass der
Kreuzfahrtbereich ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für
unsere Werften ist, die bis 2010 ausgebucht sind und die
aufgrund der Tatsache, dass so viele neue Schiffe gebaut
werden, Hunderte von neuen Arbeitsplätzen schaffen
können. Das ist sehr wichtig.
Dritter Bereich. Wir haben uns in den letzten Monaten auch über den Fahrradtourismus unterhalten. Aber
auch das muss man unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehen. Wenn wir den Ausbau des Bundesradroutennetzes voranbringen, wenn wir die Infrastruktur entlang
der Radwege verbessern, wenn wir eine Koordinierungsstelle der Länder und der Kommunen schaffen und die
Fahrradmitnahme bei der Deutschen Bahn verbessern,
dann sorgen wir für attraktivere Rahmenbedingungen für
die Fahrradtouristen. Damit setzten wir auch einen Jobmotor in Gang, zum Beispiel für die deutsche Fahrradindustrie. Das sollten wir in diesem Zusammenhang nicht
vergessen.
({0})
Lassen Sie mich ein anderes Thema, nämlich das
Marketing, ansprechen. Dieses Thema müssen die Kolleginnen und Kollegen auf Länderebene und vielleicht
der eine oder andere Kollege aufgrund seines Verantwortungsbereiches anpacken. Wir haben 16 Bundesländer,
439 Landkreise, 190 Tourismusregionen mit über 4 000
Kommunen. Alle betreiben ihr eigenes Marketing, teilweise auch im Ausland. So gut das ist und so viel in diesem Bereich investiert wird - 300 Millionen Euro -,
stellt sich doch die Frage der Effektivität. Ich glaube,
hier brauchen wir länderübergreifende Kooperationen
und schlagkräftigere Einheiten, damit das Geld besser
genutzt werden kann.
Ich habe festgestellt, dass bis zum letzten Jahr die
sechs norddeutschen Häfen, die von den Kreuzfahrtschiffen angelaufen werden, auf der größten Messe, in
Miami, mit eigenen Ständen vertreten waren. Was ist das
für ein Unsinn, kann ich dazu nur sagen. In diesem Jahr
treten sie das erste Mal gemeinsam auf. Weniger Geld
und mehr Effektivität: Das ist das Ergebnis. Diesem Beispiel sollten weitere folgen.
Lassen Sie mich einen letzten Bereich ansprechen:
Reisen in Entwicklungsländer. Was hat das mit einem
Jobmotor für Deutschland zu tun? Zunächst einmal muss
man sagen, dass diese Reisen von Reiseveranstaltern in
Deutschland angeboten werden. Es werden also Arbeitsplätze in unserem Land gesichert, wenn wir in den Entwicklungsländern den Tourismus ankurbeln.
Wir wollen aber auch - das ist eine der Aufgaben, die
wir anpacken werden; Kollegin Faße hat bereits darüber
gesprochen - im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit versuchen, die Investitionen im Bereich
des Tourismus in diesen Ländern anzukurbeln. Wir werden dies tun unter der Voraussetzung, dass deutsche Interessen gewahrt werden und dass deutsche Unternehmen
entsprechende Aufträge erhalten. Das ist also auch eine
Jobmaschine.
Zusammenfassend kann ich sagen: Tourismus und
Wirtschaftswachstum sind ein ganz starkes Doppel, das
weiter zusammenarbeiten sollte.
Danke.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Gradistanac
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anlässlich der heutigen Aktuellen Stunde
möchte ich mich bei einigen Hauptakteuren im Tourismus bedanken: bei Frau Petra Hedorfer von der Deutschen Zentrale für Tourismus, bei Herrn Tilo Braune
vom Deutschen Tourismusverband, bei Herrn Michael
Rabe vom BTW, bei Herrn Johann Kreiter von der
NatKo, der jetzt eine besondere Herausforderung zu leisten hat, und bei dem leidenschaftlichen Beauftragten der
Bundesregierung für Tourismus, Herrn Ernst Hinsken.
({0})
Ich bedanke mich im Namen der SPD-Fraktion für das
vorbildliche und unglaubliche Engagement der Benannten. Vielfältige Herausforderungen kommen auf uns alle
zu, um den positiven Beitrag des Tourismus zum Wirtschaftswachstum zu festigen.
Lassen Sie mich ein Segment näher beleuchten. Zu
den Zukunftstrends, die sich im Tourismus abzeichnen,
zählt der demografische Wandel. Angesichts der älter
werdenden Gesellschaft wird barrierefreies Reisen in
den Vordergrund rücken. Immer mehr Menschen mit Behinderungen wollen - das ist eigentlich selbstverständlich - reisen. Barrierefreiheit - so die NatKo - ist für
10 Prozent der Bevölkerung zwingend notwendig, für
30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent, also für uns
alle, komfortabel.
Die Barrierefreiheit muss zum Komfortmerkmal werden.
({1})
Es scheint mir daher angemessen, den Begriff „barrierefreies Reisen“ durch den Begriff „Komfortreisen“ zu ersetzen. Eine barrierefreie Umgebung kommt uns allen
zugute: Reisenden mit Kinderwagen und Gepäck oder
älteren Menschen wie mir, die nicht immer gut hören
und sehen können. Ein barrierefreier Zugang ermöglicht
die Teilnahme aller und ist - das ist mir ganz wichtig Teilhabe.
({2})
Wir Tourismuspolitikerinnen und Tourismuspolitiker
haben uns dieses Themas unter anderem anlässlich des
Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen
im Jahr 2003 angenommen. Die in Auftrag gegebene
Studie mit dem Titel „Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für alle“ lieferte erstmals - das ist
das Wichtige - verlässliche Daten. So konnte aufgezeigt
werden, dass hier erhebliche Potenziale für die Reisenden und auch für die Tourismuswirtschaft bestehen.
Komfortreisen sind mit einem jährlichen Nettoumsatz in
Höhe von circa 2,5 Milliarden Euro am Volkseinkommen beteiligt. Das entspricht mindestens 65 000 Vollzeitarbeitsplätzen. Wenn es gelingt, mehr Akzeptanz und
bessere Voraussetzungen für die Bedürfnisse der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zu schaffen, können sich weitere wirtschaftliche Impulse von bis zu
5 Milliarden Euro - das ist eine Riesensumme - bei
90 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen ergeben, so das Fazit
der Studie.
({3})
Investitionen in den barrierefreien Tourismus lohnen
sich. Das ist die Botschaft; das ist auch unsere Botschaft.
Sie passt natürlich zu dem Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Dies kann anlässlich des diesjährigen Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle nicht genug betont werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss auf mein zweites
Lieblingsthema zu sprechen kommen, das mir am Herzen liegt: den Jugendarbeitsschutz. Das Ausbildungsplatzangebot im Hotel- und Gaststättengewerbe ist in
den letzten Jahren deutlich vergrößert worden. In den
letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze sogar verdoppelt - ein Dankeschön an die Branche! -, und dies, obwohl die Beschäftigungszahlen deutlich zurückgegangen sind; auch das muss man sehen.
Weniger beeindruckend ist die Übernahme von Auszubildenden. Diese Quote ist in keiner Branche geringer.
So, Herr Hinsken, warum soll der Jugendarbeitsschutz
ein Ausbildungsplatzhindernis sein? Über diese Frage
sollten wir noch einmal gründlich diskutieren. Wir von
der SPD-Fraktion stellen den Jugendarbeitsschutz nicht
infrage.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin zu dieser Aktuellen Stunde hat
das Wort die Kollegin Anita Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Den positiven Beitrag des Tourismus zum Wirtschaftswachstum
festigen“, dem Titel dieser Aktuellen Stunde entsprechen
insbesondere zwei Bereiche des Tourismus: der Naturparktourismus und der Wandertourismus. Beide sind für
die Entwicklung des Fremdenverkehrs und damit für die
wirtschaftliche Entwicklung der Regionen von wachsender Bedeutung.
Heute haben wir in Deutschland 97 Naturparke, 14
Nationalparke und 14 Biosphärenreservate. In diese 125
Großschutzgebiete zieht es jährlich 20 Millionen Besucher. 70 Prozent der Urlauber bevorzugen Reiseziele in
Natur- und Nationalparken. Natururlaub in Deutschland
hat damit alles, um ein Markenzeichen des Deutschlandtourismus zu werden. Wichtig ist, dass wir diese Chance
nicht nur erkennen, sondern auch nutzen. Die Etablierung der Dachmarke „Nationale Naturlandschaften“ ist
ein wichtiger Schritt, den ich sehr begrüße.
Die aktuelle Herausforderung für den Naturparktourismus liegt darin, unterschiedliche Naturerlebnisse zu
schaffen. Touristische Attraktivität ist gerade für strukturschwache Regionen ein wichtiger ökonomischer Faktor. Tourismus schafft und sichert Arbeitsplätze, insbesondere in der Gastronomie und im Einzelhandel.
({0})
Allein im Bereich des Müritz-Nationalparks entsprechen
die Umsätze, die mit dem Naturtourismus erreicht werden, 600 Arbeitsplätzen. Im Naturpark Altmühltal sind
es rund 500 Arbeitsplätze und im Naturpark Hoher Fläming 200 Arbeitsplätze. Das sind Erfolge, die anspornen
und motivieren.
({1})
Es sind aber vor allem Zahlen, die belegen, welche Bedeutung unsere Großschutzgebiete sowohl als Wirtschafts- und Lebensraum als auch als Erholungsraum besitzen.
Ein Schlüssel für die ökonomische Entwicklung liegt
in der Förderung regionaler Wertschöpfungsketten. Die
Vermarktung nicht gewerblicher Elemente wie der Natur
und des kulturellen Erbes lässt sich mit den regionaltypischen Produkten erfolgreich kombinieren.
({2})
Ein anderer wichtiger Faktor ist die gezielte Förderung dieser Regionen auf allen staatlichen Ebenen, zum
Beispiel durch den Ausbau der Radwegenetze, durch
verbesserte Angebote des ÖPNV, durch die Nutzung des
europäischen Nationalfonds zur Förderung der Naturlandschaften oder auch durch die stärkere Einbindung
der nationalen Naturlandschaften in die Außendarstellung unseres Landes.
Es gibt zahlreiche Maßnahmen, den Naturtourismus
in Deutschland zu stärken. Auch bietet sich eine gemeinsame Vermarktung an, wo die Schutzgebiete nationale
Grenzen überschreiten. In meinem Wahlkreis sind dies
zum Beispiel das Biosphärenreservat Pfälzerwald-Nordvogesen mit dem Naturpark Nordvogesen auf französischer Seite. Hier besteht schon seit 1985 eine Kooperation, die sich zu beiderseitigem Nutzen entwickelt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob allein, zu zweit
oder in der Familie: Gewandert wird in allen Altersklassen. Uns allen muss dabei eines bewusst sein: Das Naturerlebnis bedeutet heutzutage mehr als ein mit Butterbroten und einer Flasche Wasser gepackter Rucksack.
Der Gast von heute ist erlebnis- und serviceorientiert. Er
setzt auf Qualität und Geselligkeit. Die Masse der Wandertouristen sucht dabei insbesondere auch das körperliche Wohlbefinden. Wandertourismus stellt somit eine
Facette des Wachstumssektors Gesundheitstourismus
dar. Auch seitens der Bundesregierung wird der positive
gesundheitliche Effekt unterstrichen. Das Gesundheitsministerium hat den Wandersport in die erfolgreiche
Kampagne „Bewegung und Gesundheit“ integriert.
Art und Umfang des Wanderns orientieren sich an der
ganz individuellen Kondition der Urlauber. Damit verfolgt der Wandertourist eine ganz persönliche Freizeitgestaltung. Folge ist, dass weit mehr als 90 Prozent der
Wanderurlauber ganz individuell planen und nicht auf
Pauschalangebote zurückgreifen. Das beinhaltet für
Wanderregionen und Naturparks besondere Chancen.
Gerade in diesen Regionen kann der Wandertourismus
erfolgreich in eine Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung eingebunden werden. Wichtig sind dabei das
Erschließen der Region und das Herausstellen der Besonderheiten, sei es topografisch, historisch, kulturell
oder auch kulinarisch. Für strukturschwache Regionen
gilt dies besonders.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimat, der
Südwestpfalz, nennen: Auf meine Initiative entstand der
Helmut-Kohl-Wanderweg in Eppenbrunn, einem kleinen
Ort nahe der französischen Grenze, der Frankreich und
Deutschland, die Pfalz und Lothringen, verbindet. Solche Initiativen fördern den Fremdenverkehr, gerade im
Bereich der Dienstleistungen, zum Beispiel in den Bereichen Unterbringung, Verpflegung, Personenbeförderung, Begleitung, Führung und Gepäckbeförderung.
Der Pfälzer Wald als größtes zusammenhängendes
Waldgebiet Europas lässt sich auf unterschiedliche Art
Anita Schäfer ({3})
erfolgreich vermarkten. So gibt es bei uns seit einigen
Monaten den Felsenwanderweg in Rodalben, der auf der
Reisemesse CMT in Stuttgart offiziell als erster pfälzischer „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ zertifiziert wurde.
({4})
Das zeigt, wie wichtig die Durchsetzung von Qualitätsstandards, vor allem des Gütesiegels des Deutschen
Wanderverbandes „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“, ist. Wir haben erkannt, dass Wanderwege mit
Auszeichnung bei den Gästen heute hoch im Kurs stehen. Die Südwestpfalz stellt sich darauf ein. Geplant ist
beispielsweise, dass sich die Beherbergungsbetriebe in
der Region als „Qualitätsgastgeber Wanderbares
Deutschland“ auszeichnen lassen.
Frau Kollegin Schäfer, bitte.
Jetzt kommt der letzte Satz. - Danke.
In der nächsten Woche wird sich der erfolgreiche
Trend des deutschen Wandertourismus auf der ITB präsentieren. Ich fordere Sie alle herzlich auf: Besuchen Sie
die ITB, führen Sie gute, interessante Gespräche, und
werden Sie vor allen Dingen Botschafter Ihrer Region,
wie es unser Tourismusbeauftragter gesagt hat; denn
Wandern ist eine Zukunftsbranche.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 15 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Unterstützung für Opfer der SED-Diktatur -
Eckpunkte für ein Drittes SED-Unrechtsberei-
nigungsgesetz
- Drucksache 16/4167 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Cornelia Behm, Katrin
Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Unterstützung für die Verfolgten
des DDR-Regimes
- Drucksache 16/4404 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur
- Drucksache 16/4409 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Olaf Scholz von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren jetzt über ein Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Ich glaube, dass allein der Begriff deutlich
macht, dass wir uns an etwas Unmöglichem versuchen.
Das Unrecht, das vielen Menschen widerfahren ist, die
Erfahrung, die sie in Gefängnissen machen mussten
- die Schwierigkeiten und die Betroffenheit bestehen oft
ein ganzes Leben lang -, lässt sich mit keiner finanziellen Regelung wiedergutmachen. Ich glaube, dass wir alle
hier dieses Verständnis teilen sollten.
({0})
Es hat eine ganze Reihe von Versuchen gegeben, die
Situation zu verbessern, auf die entstandenen Schwierigkeiten einzugehen. Trotzdem wird jede Regelung mit
dem Problem behaftet sein - selbst wenn die Regelung
noch so günstig ausgestaltet wird -, dass sie nichts daran
ändert, dass das damit verbundene Lebensschicksal nicht
rückgängig gemacht werden kann.
Die besondere Situation muss man sehr ernsthaft ansprechen. Die Gerechtigkeitsvorstellungen vieler Menschen werden dadurch berührt, dass diejenigen, die zu
den Mächtigen des SED-Regimes gehört haben, oft
nicht so schlecht dastehen. Ganz ehrlich: Das Bundesverfassungsgericht hat es dem sehr wohl bemühten
Deutschen Bundestag mit manchen Entscheidungen
nicht leichter gemacht, zu vernünftigen und fairen Regelungen zu kommen.
({1})
Wir können aber beides nicht aus der Welt schaffen. In
diesem Rahmen müssen wir uns bewegen, wenn wir
jetzt nach einer Lösung suchen, die vielleicht weit in die
Zukunft weist.
Unmittelbar nach 1990 gab es unter der Regierung
Kohl erste Regelungen. Weil sie als nicht ausreichend
kritisiert worden sind, hat die Regierung Schröder weitere Regelungen auf den Weg gebracht, die die materielle Situation vieler Betroffener deutlich verbessert haben.
Natürlich sind dann wieder neue Forderungen und
Entdeckungen gemacht worden, was man tun könnte. Insofern glaube ich, ist die Große Koalition eine gute Gelegenheit, jetzt einen ganz deutlichen Schritt weiterzugehen und das Gefühl zu erzeugen, dass dies eine gute
Regelung ist, wobei ich ganz klar sagen will - auch den
Betroffenen, die hier sind und uns zuhören -: Er bleibt
immer mit den Schwierigkeiten behaftet, die ich eingangs geschildert habe.
Wir haben uns drei Komplexe herausgegriffen, bei
denen wir versuchen wollen, Fortschritte für die Menschen, um die es geht, zu erzielen. Das Erste und Wichtigste ist sicherlich die Einführung einer monatlichen
Opferpension für Menschen, die sechs Monate und
mehr in Haft saßen und wirtschaftlich bedürftig sind. Es
sollen 250 Euro pro Monat gezahlt werden. Das ist nicht
viel im Hinblick auf das Unrecht, das vielen geschehen
ist, die diese Leistung nun bekommen werden. Aber für
den deutschen Staat sind es insgesamt ungefähr
50 Millionen Euro. Wir schätzen, das 16 000 Menschen
von dieser Regelung profitieren werden. Das ist nicht
nichts.
Selbstverständlich kann man sich Gedanken darüber
machen, ob es notwendig ist, eine Bedürftigkeitsgrenze
einzuführen. Das haben wir getan. Wir haben uns sehr
ernsthaft damit auseinandergesetzt. Ich glaube, dass es
notwendig ist - ohne nun in jedes Detail zu gehen -, ehrlich zu sagen, was uns bewegt und motiviert hat. Wir
wollen im System der Opferentschädigung bleiben, das
die Bundesrepublik Deutschland auch an anderer Stelle
gefunden hat. Auch für andere Situationen, in denen
schlimmes Unrecht durch deutsche Regierungen geschehen ist, haben wir solche Regelungen, die wirtschaftlich
in etwa dem entsprechen, was jetzt als Opferpension für
SED-Opfer vorgesehen ist. Sie entspricht etwa der Höhe
und ist an ähnliche Voraussetzungen geknüpft, insbesondere wirtschaftlich genau an die Voraussetzungen, die
hier gemacht werden. Wenn man als Alleinstehender
mehr als 1 035 Euro oder als Ehepaar mehr als
1 380 Euro verdient, dann gibt es keine Leistung; diese
gibt es nur, wenn man darunter liegt.
Das ist der Grund. Ich glaube, das muss man offen ansprechen. Es ist ein vernünftiger Grund; ich rate allen,
hier ein bisschen mitzuhelfen. Denn natürlich ist die Diskussion nie an dem einen Tag, durch ein Gesetz beendet;
es würden sich sofort viele andere melden, die fragen,
was wir an anderer Stelle machen wollen. Ich glaube,
wir müssen zu einem insgesamt gerechten und austarierten System kommen. Das ist mit dieser Regelung der
Fall.
Ich wiederhole, was ich eingangs gesagt habe und
was mich bewegt, auch deshalb, weil ich mir angesehen
habe, wie die Haftbedingungen von Menschen waren,
die in SED-Gefängnissen saßen, und weil ich weiß, was
sie erlitten haben, weil ich mir Schicksale habe schildern
lassen. Da ist überhaupt nichts zu verniedlichen. Ich
glaube, dass das auch immer wieder ein Grund ist, sich
klarzuwerden, dass für DDR-Nostalgie und ähnliche
Dinge in diesem Lande überhaupt kein Anlass besteht.
({2})
Diesen Menschen ist durch eine Diktatur - sie hat vielen
Menschen die Freiheit genommen und ganz viele Menschen noch weit darüber hinaus in Gefängnisse gesteckt schweres Unrecht geschehen.
Es gibt zwei weitere ergänzende Regelungen, die Erleichterung schaffen. Eine davon ist die Verlängerung
der Antragsfristen. Sie ist hilfreich, weil viele gesagt
haben: Trotz der langen Zeit, die seither vergangen ist,
gibt es immer noch Personen, die erst jetzt ihre Ansprüche geltend machen; sie sollen das auch noch können.
Wir sind da einem Vorschlag der Bundesregierung gefolgt, den sie in Diskussionen mit dem Bundesrat entwickelt hat, nämlich zu sagen: Wir haben gerade die Aufbewahrungsfristen für bestimmte Unterlagen verlängert.
Solange man diese Unterlagen wiederfinden kann,
macht es Sinn, anzunehmen, dass jemand noch Anträge
stellt. Deshalb wollen wir die Antragsfristen entsprechend verlängern und damit eine Möglichkeit schaffen,
dass man bis zum Ablauf dieser Fristen seine Ansprüche
geltend machen kann.
Die dritte Regelung - die zweite in dieser Zählung ist, dass wir die Mittel der Häftlingshilfestiftung aufstocken wollen. Das ist ein ganz wichtiges Instrument, weil
sie nicht nur Gesetzesvollzug darstellt, sondern auch
Spielräume beinhaltet, auf individuelle Schicksale, auf
all das, was man in einer noch so komplizierten Kasuistik eines Gesetzes nicht abspiegeln kann, einzugehen.
Dafür waren die 1,5 Millionen Euro, die wir bisher jährlich zur Verfügung hatten, nicht genug. Deshalb sind
diese Mittel jetzt auf 3 Millionen Euro aufzustocken. Ich
glaube, dass man damit mehr anfangen kann, als es bisher der Fall war. Wir können zum Beispiel das Schicksal
der zivildeportierten Frauen und anderer Menschen, die
ihre Betroffenheit bei uns bekanntgemacht haben und
von denen wir wissen, besser berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Diskussion sollte mit großem Ernst geführt werden. Dieses
Thema ist nicht geeignet, um beifallsorientierte Reden
zu halten, sondern es muss mit dem nötigen Ernst an der
Sache um die Aufarbeitung einer schlimmen Diktatur
gehen. Die Koalition hat mit ihrem Antrag eine vernünftige Regelung vorgelegt, die den Menschen gerecht
wird.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Scholz, diese Debatte ist wichtig. Sie ist
nicht die erste, die wir zu diesem Thema führen. Ich
kann mich noch gut an die Jahre 1992 und 1994 erinnern, als die ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetze
im Bundestag beraten und beschlossen wurden, allerdings mit einer anderen Mehrheit. Es waren Versuche
der verwaltungsrechtlichen und der strafrechtlichen Rehabilitierung der Opfer des SED-Regimes.
Damals hätten wir uns nicht vorstellen können, dass
wir im Jahre 2007 sagen: Das Auslaufen der Antragsfrist
muss verhindert werden. Wir brauchen eine Verlängerung, um die Anträge auf Rehabilitierung stellen zu können. Daran zeigt sich, in welchem Umfang wir uns mit
diesem Thema befasst haben und welche Dimension es
erreicht hat. Das war in den Jahren 1990 und 1991 nicht
in allen Einzelheiten und nicht in dieser Form vorhersehbar.
({0})
Ich möchte den früheren Bundespräsidenten
Johannes Rau zitieren, der anlässlich der
50. Wiederkehr des 17. Juni 1953, also im Jahre 2003,
an alle politischen Entscheidungsträger folgende Aussage richtete:
Fünfzig Jahre danach müssen die Opfer Anerkennung erfahren - die des 17. Juni und alle anderen,
die in der DDR Unrecht erlitten haben. Manches
geschieht dafür, dennoch begegne ich immer wieder Opfern des DDR-Regimes, die nicht bekommen
haben, worauf sie auch nach meinem Eindruck billigerweise einen Anspruch haben sollten.
({1})
Diesen Opfern begegnen wir noch heute. Einige von
ihnen stehen heute draußen vor der Tür, fühlen sich vielleicht missverstanden bzw. missachtet oder durch andere
Entscheidungen, die der Bundestag treffen musste, ein
Stück weit ungerecht behandelt. Von daher ist es entscheidend, jetzt einen weiteren Schritt - hoffentlich den
letzten - zu gehen.
Ich glaube, dass der Antrag, den die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, gründlichster Beratung bedarf.
Andersherum gesagt: Lieber Herr Scholz, es ist schon etwas bemerkenswert, dass gerade die Koalitionsfraktionen die Regierung auffordern, das zu tun, was in ihrem
Koalitionsvertrag steht: die Maßnahmen, die zur Verbesserung der materiellen Lebenssituation der SED-Opfer
notwendig sind, auf den Weg zu bringen.
Das geht nur in Form eines Gesetzes, nicht in Form
eines Antrags. Deshalb appelliere ich an die Regierung,
möglichst schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen und
nicht nur den Ablauf von Fristen am Jahresende im Blick
zu haben. Machen Sie einen Vorschlag, damit die unterschiedlichen Ansätze, die es gibt, die sich aber nicht an
der Sache scheiden, zu einem guten Kompromiss geführt
werden können. Ich denke, bei diesem Thema sollten
wir, wenn das möglich ist, über alle Fraktionsgrenzen
hinweg zu einer Einigung kommen.
({2})
Es darf nicht zu einem politischen Schlagabtausch auf
dem Rücken der Opfer kommen.
Lassen Sie mich kurz einige Vorschläge ansprechen,
die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthalten sind.
Im Mittelpunkt - das haben Sie, Herr Scholz, erläutert steht die Opferpension in Höhe von 250 Euro, die mit
einer Einkommensgrenze und einer Bedürftigkeitsprüfung versehen ist. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, mit
solchen Vorschlägen am Finanzminister vorbeizukommen.
Ich ergänze: Es ist vielleicht auch nicht so leicht, an
dem einen oder anderen Haushaltspolitiker vorbeizukommen. Dennoch, wenn wir uns jetzt zum dritten Mal
damit befassen, dann muss das wirklich der letzte Schritt
sein, dann muss man die Dinge aufgreifen, die noch offen sind. Ich denke, dass 250 Euro der Situation nicht
gerecht werden. Wir haben in unserem Antrag den Betrag von 500 Euro vorgesehen.
Zur Bedürftigkeitsprüfung. Sie haben darauf hingewiesen - das ist ein Argument, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen -, dass sich die Bedürftigkeitsprüfung im System der Opferentschädigung bewegt. Lassen
Sie mich darauf hinweisen, was es bedeutet, wenn Opfer,
die sich jetzt in ihrem achten oder neunten Lebensjahrzehnt befinden, erst eine doch unangenehme und vielleicht auch peinliche Prüfung all ihrer persönlichen Lebensverhältnisse über sich ergehen lassen müssen. Nicht
so leicht sein würde auch der Umgang mit der dafür notwendigen Bürokratie. Deshalb gehört dieser Punkt auf
den Prüfstand.
Der zweite Punkt, der mit Ihrem Vorschlag in meinen
Augen noch nicht befriedigend geregelt ist, ist die Frage
des Ausgleichs von Gesundheitsschäden. Die Opfer
haben da die Beweislast. Das führt häufig zu schwierigen Ergebnissen, teilweise auch zu unvertretbaren Ergebnissen, gerade bei ganz bestimmten Erkrankungen,
die eindeutig auf eine einzige Ursache zurückzuführen
schwierig ist. Deswegen könnte man hier das Instrument
der gesetzlichen Vermutung als Ansatz wählen, um zu
versuchen, zu mehr Gerechtigkeit zu kommen und unangenehme Einzelfallprüfungen zu vermeiden.
({3})
Wenn die Beratungen in diese Richtung gehen - Sie
kennen unsere Vorschläge aus unserem Antrag -, dann
werden wir uns konstruktiv daran beteiligen. Die Bundesregierung sollte diesen hoffentlich sehr deutlichen
Appell aus dem Bundestag mitnehmen und jetzt möglichst schnell einen Gesetzentwurf vorlegen.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Arnold Vaatz hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Erstes ist mir bei der Vorbereitung auf
meine heutige Rede ein Zitat wieder eingefallen, das von
Bärbel Bohley stammt - Sie wissen bestimmt, wie es
lautet -:
Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den
Rechtsstaat.
Das ist vielleicht eher beiläufig gesagt worden. Aber
manchmal beschreiben solche kurzen Sätze treffend eine
Situation, und die Öffentlichkeit merkt: Hier ist ein
Stück Wahrheit. In diesem Fall ist es so: Es dürfte kaum
ein Gesetz gegeben haben, das die Gemüter nach der
Wiedervereinigung Deutschlands mehr erhitzt hat als
dieser schnell hingeworfene Satz. Er hat etwas Wahres.
Der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland stand
vor der Aufgabe, das DDR-Erbe in die Systematik des
Grundgesetzes zu transformieren. Für diese Transformation gab es keine Vorlagen. Es gab keine Kriterien, zu
unterscheiden, welche der Regelungen, die unter der
Glocke der DDR-Diktatur entstanden sind, sachgemäß
und fortführenswert sind und welche aus politischen
Gründen diktiert worden und demzufolge überprüfungsbedürftig bzw. abzuschaffen sind. Das ist das große Problem. Die Mängel bei der Transformation haben schließlich dazu geführt, dass es nach 1990 neben allem, was
wir an tollen Errungenschaften und an tollen Entwicklungen in Deutschland hatten, auch zu absurden Demütigungen von Menschen und ihren Lebenswerken gekommen ist. Demütigungen, die noch heute in unserer
Gesellschaft wüten. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben
des Parlamentes, eine permanente Aufgabe, Gerechtigkeit und Rechtsstaat immer wieder so weit wie möglich
in Einklang zu bringen.
({0})
Das aus meiner Sicht wichtigste Beispiel für diesen
Missstand ist, dass viele Menschen, die gegen das Fehlen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in
Ostdeutschland nach 1945 eingetreten sind und - wo immer das geschah - dafür Verfolgung, Haft und Zerstörung ihrer persönlichen und beruflichen Perspektiven in
Kauf nahmen, nach 1990 zur Kenntnis nehmen mussten,
dass sie in der Demokratie plötzlich wieder schlechtere
Karten hatten als jene, die dieses Fehlen von Freiheit,
Demokratie und Menschenrechten in Ostdeutschland
herbeigeführt, vertreten und verteidigt haben. Die frei
gewählte Volkskammer hat diesen Umstand sehr wohl
gesehen und aus diesem Grund eine Reihe von Rentenansprüchen dieser in der DDR privilegierten staatsnahen Personenkreise gekappt. Sie wurden nicht annulliert,
sondern gekappt.
Dann mussten wir zur Kenntnis nehmen - Olaf
Scholz hat schon darauf hingewiesen -, dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, die Frage, ob
jemand in seinem Arbeitsleben zum Wohl oder zum
Schaden seiner Mitmenschen beigetragen hat, sei in Bezug auf die Bemessung seiner Altersbezüge nicht relevant.
({1})
- Das ist meine freie Interpretation. Sie können das in
Ihrer Redezeit noch kommentieren.
Auch wenn uns klar sein muss, dass wir niemals vollständig verhindern können, dass Ungerechtigkeiten, die
schon in der DDR angelegt waren, jetzt unter dem
Schutz des Grundgesetzes fortleben - auch das hat der
Kollege Scholz schon festgestellt -, glaube ich, dass wir
mit dem vorliegenden Antrag zu Recht deutlich machen,
dass wir vor diesem Zustand nicht kapitulieren. Die Entscheidung, eine Opferpension einzuführen, ist ein Versuch, die historische Gerechtigkeit an dieser Stelle wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
({2})
Wir wenden uns dabei Tausenden von Menschen zu, die
unter dem Unrecht der sowjetischen Besatzungsmacht
oder der SED-Herrschaft großes persönliches Leid erlitten haben und bis heute mit einem sehr geringen Einkommen ihr Dasein fristen.
Im Koalitionsvertrag wurden für die Opfer der SED
drei Möglichkeiten vorgesehen, ihr Los zu verbessern.
Diese Möglichkeiten waren damals noch mit einem
„oder“ verknüpft. Die erste Möglichkeit war eine sogenannte Opferpension, über die wir heute reden. Die
zweite war die Aufstockung der Häftlingshilfestiftung,
von der schon die Rede war und die ich ausdrücklich begrüße. Die dritte war ein gemeinsames Verfahren für die
Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden. Dieses letzte Problem ist noch offen. Ich hoffe aber,
dass es uns sehr schnell - möglichst noch vor der Sommerpause - gelingt, auch dieses Problem zu lösen.
({3})
Wir haben mehr gemacht, als im Koalitionsvertrag
vorgesehen war. Wir haben nämlich aus dem „oder“ zwischen diesen drei Möglichkeiten ein „und“ gemacht. Ich
denke, wir können stolz darauf sein, dass uns das gelungen ist.
Wir haben ein Eckpunktepapier in Form eines Antrages vorgelegt und haben eine Zuwendung in Höhe von
250 Euro als regelmäßige monatliche Zahlung an die
Berechtigten - das heißt für Personen, die ein halbes
Jahr oder länger in der DDR eingesessen haben; übrigens sind auch ausdrücklich diejenigen einbezogen, die
zwischen 1945 und 1949 eingesessen haben - vorgesehen. Wir haben auch eine wichtige Forderung aufgenommen, die noch nicht erwähnt wurde: Diejenigen, deren
Einkommen die Einkommensgrenze übersteigt, erhalten
eine Zuwendung, wenn die Einkommensgrenze um weArnold Vaatz
niger als 250 Euro überschritten wird. In diesem Fall
wird ihnen der Differenzbetrag ausgezahlt.
Im Übrigen glaube ich, dass ein falscher Zungenschlag in die Debatte hereingekommen ist, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger. Die Berechtigten müssen
nicht ihre gesamten Vermögensverhältnisse offenlegen,
wie Sie es darzustellen versucht haben. Nach meiner
Auffassung kommt es dabei auf die letzte Einkommensteuererklärung an. Das ist insofern ein völlig normaler,
technischer Vorgang, den man nicht zu hoch bewerten
sollte.
Es ist sicherlich kein Ruhmesblatt für das wiedervereinigte Deutschland, dass uns das erst jetzt, 17 Jahre
nach der Wiedervereinigung, gelingt. Aber für Schuldzuweisungen zwischen den Parteien ist kein Platz. Vier
Fraktionen in diesem Hohen Hause hatten in ihrer Regierungszeit die Möglichkeit, das voranzutreiben. Es ist
aber immer wieder an verschiedenen Dingen gescheitert.
Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, den Blick nach hinten zu wenden. Die fünfte Fraktion sollte sich eher in leisen Tönen üben; denn sie hat in erheblichem Maß die
Ursachen für die Diskussion, die wir heute führen, zu
verantworten.
({4})
Ich will die Gelegenheit ergreifen, denjenigen, die
nun seit zehn Jahren insbesondere in den Koalitionsfraktionen, aber auch in den Fraktionen von FDP und Grünen für dieses Vorhaben eingetreten sind, herzlich zu
danken. Es war ein hartes und zähes Stück Arbeit. Aber
ich glaube, dass sich die Ausdauer gelohnt hat. Wir können uns über den Erfolg freuen, auch wenn er nicht so
ausgefallen ist, wie es sich vielleicht der eine oder andere gewünscht hat.
({5})
Damit bin ich beim nächsten Punkt. Als wir das Ergebnis unserer Einigung am 22. Januar dieses Jahres der
Öffentlichkeit vorgestellt haben, gab es nicht nur einhellige Freude, sondern auch Enttäuschung, insbesondere
bei den Opferverbänden, deren Vertreter ich ganz herzlich begrüße. Ich kann diese Enttäuschung zum großen
Teil nachvollziehen, aber zum großen Teil nicht teilen.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich verstehe, dass
der Betrag von 250 Euro vielen als zu niedrig bemessen
gilt. Gemessen an dem erlittenen Unrecht ist gar kein
Betrag hoch genug; das ist ganz klar. Aber ich glaube,
dass insbesondere diejenigen, die mit einem geringen
Einkommen auskommen müssen, diesen Betrag im
Portemonnaie sehr wohl merken. Zudem sind das die
richtigen Proportionen. Zu diesem Schluss komme ich,
wenn ich es mit dem vergleiche, was wir für Opfer anderer Diktaturen getan haben.
Ich verstehe, dass das Kriterium der Bedürftigkeit
auf Kritik stößt, weil es in den Augen vieler nicht sein
kann, dass die Anstrengungen eines Menschen, nach der
Verfolgungszeit wieder auf die Beine zu kommen und
den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, bei der Entschädigung für die Verfolgung berücksichtigt werden;
denn nichts anderes bedeutet diese Regelung. Aber auch
in dieser Frage sind wir an unsere bisherige Systematik
gebunden.
Ich verstehe auch, dass die Unterscheidung zwischen
verheirateten und nicht verheirateten Opfern als unsachgemäß kritisiert wird. Aber auch an dieser Stelle waren
wir an eine klare Vorgabe gebunden.
Schließlich verstehe ich, dass die Opfer der zahlreichen anderen subtilen Maßnahmen - Zersetzungsmaßnahmen usw. - oder die Opfer mit kürzeren Haftzeiten,
die nicht anspruchsberechtigt sind, nicht akzeptieren,
dass sie außen vor bleiben. Aber bitte berücksichtigen
Sie, dass Haft zu DDR-Zeiten im Allgemeinen bedeutete, dass die Zersetzung automatisch hinzukam. Man
hat nicht unbehelligt von der Staatsicherheit in Haft gesessen. Vielmehr wurde man in aller Regel mehrmals
vorgeladen. Es wurden einem dann Dinge angedeutet,
die einen wochenlang in Angst und Schrecken versetzten, weil man sich nicht sicher war, wie es den Verwandten und Freunden zu Hause geht. Solche subtilen Methoden sind hinzugekommen. Aus diesem Grund ist die
Haft tatsächlich eine Maßnahme, die sich in ihrer
Schwere heute wahrscheinlich gar nicht mehr nachvollziehen lässt, weil wir unter Haft in einem Rechtsstaat etwas ganz anderes verstehen.
Ich erinnere daran, dass wir eine solche Opferpension nicht im luftleeren Raum festsetzen können. Vielmehr sind wir aufgefordert, geschichtliche Vergleichsmaßstäbe zu akzeptieren. Ich bin mir hundertprozentig
sicher, dass niemand in diesem Haus ernsthaft fordern
wird, dass die Bundesrepublik Deutschland KZ-Opfer
schlechter behandeln soll als SED-Opfer. Darüber müssen wir uns einig sein. Für KZ-Opfer existiert schon eine
geraume Weile eine solche Vereinbarung, nämlich die
aus dem Jahr 1992. Diese besagt, dass derjenige, der ein
halbes Jahr oder länger im KZ gewesen ist, Anspruch
auf eine solche Opferpension hat. Damals betrug die
Höhe 500 DM; das sind heute 250 Euro. Erforderlich
waren die Bedürftigkeitsnachweise.
Wir werden, sobald der Gesetzentwurf vorliegt, diesen im Deutschen Bundestag beraten. Jetzt kommt ein
wichtiger Punkt. Wir werden eine erste Lesung und eine
zweite Lesung haben. Dazwischen werden wir den Gesetzentwurf in den Ausschüssen beraten. Da ist jeder
aufgefordert, seine Meinung einzubringen. Ich fordere
ausdrücklich auch die Opferverbände auf, ihre Meinungen und ihre Vorstellungen zu äußern und ihre Konzepte
auf den Tisch zu legen. Ich kann den Opferverbänden
Folgendes versprechen - ich bin sicher, dass meine Kollegen von der SPD-Fraktion das bestätigen können -:
Sollten wir - immer unter der Prämisse der Gleichbehandlung der Opfer von vor 1945 mit den Opfern von
nach 1945 - Spielräume übersehen oder nicht genügend
ausgeschöpft haben, dann sind wir gesprächsbereit. Das
Geld war in dieser Frage eigentlich niemals ein Kriterium, an dem wir uns orientiert haben. Das muss ich
deutlich sagen. Ich bin auch den Kollegen dankbar, die
da mitgezogen haben, insbesondere den Haushältern.
Wenn wir eine Regelung gefunden haben, werden wir
noch vor dem Sommer dieses Jahres ein solches Gesetz,
um das wir viele Jahre gekämpft haben, in Kraft setzen
können. Ich hoffe, dass uns dann noch eine weitere
Sache gelingt. Ein Großteil der Unzufriedenheit liegt
meines Erachtens nicht in den materiellen Dingen und
darin, dass jemand den materiellen Anspruch nicht hat,
sondern darin, dass er in der Regel sagt, dass das Nichtvorhandensein eines materiellen Entschädigungsanspruchs
gleichbedeutend ist mit dem Nichtvorhandensein eines
Anspruchs auf Anerkennung der Gesellschaft für das,
was er getan hat. An dieser Stelle möchte ich sagen:
Diese Identität ist falsch.
Sie müssen zum Ende kommen.
Der Bundestag ist gerne bereit - ich hoffe, ich spreche
für alle Kollegen -, über diese eine Frage, nämlich wie
wir die Anerkennung der Gesellschaft für die Opfer des
SED-Staates erhöhen können, zu sprechen.
Ganz herzlichen Dank, dass Sie, Frau Präsidentin, die
Freundlichkeit hatten, mich eine Minute länger reden zu
lassen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei aller gebotenen und bei aller eingeforderten Ernsthaftigkeit scheint mir die jetzige Diskussion sehr durch
große Worte bei kleinen Taten gekennzeichnet zu sein.
Die Regierungskoalition wird sich schon daran messen
lassen müssen, was sie selbst in ihrem vorliegenden
Antrag als ihre Zielsetzungen formuliert hat. Da ist
nachzulesen, dass die Regierungskoalition mit dem Antrag den Einsatz für Demokratie und Freiheit würdigen,
Unrecht, Verfolgung und Behördenwillkür aufarbeiten,
den Opfern des SED-Regimes eine späte Genugtuung
geben und sie für erlittenes Unrecht entschädigen will.
({0})
Ich kann dazu bereits einleitend feststellen: Ihr Antrag wird weder zu einer ernsthaften Würdigung der
Leistung der Opfer führen noch einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten und schon gar nicht den Opfern eine
späte Genugtuung geben. Im Gegenteil: Für die Betroffenen wird die bittere Erkenntnis zurückbleiben - Olaf
Scholz hat das richtig angesprochen -, dass es sich in
vielen Fällen mehr rentiert hat, den Mund zu halten oder
mitgemacht zu haben oder selbst Täter gewesen zu sein,
als das Wagnis eingegangen zu sein, deutlich Position
bezogen zu haben. Das ist kein gutes Signal für unsere
Demokratie.
Kurt Tucholsky schrieb 1921 in der „Weltbühne“:
Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit
zu befinden und laut zu sagen: Nein.
Sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden,
etwa Meinungsfreiheit oder wirtschaftliche Reformen zu
fordern, erforderte in der früheren DDR einen ganz besonderen Charakter. Systematisch wurden Neinsager mit
einer Reihe von Schikanen und Repressalien überzogen,
von denen die im Antrag der Regierungskoalition genannte
Haft oft nur der finale und sichtbarste Ausdruck eines Systems der Einschüchterung und Unterdrückung war.
War es etwa leichter, Nein zu sagen, wenn einem keine
Haft, sondern „nur“ Zwangsumsiedlung, systematische
Benachteiligung in der Schule oder die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen drohten? Sicher nicht! Die Betroffenen wussten, dass sie ein hohes persönliches Risiko
eingegangen sind. Wollen Sie mit Ihrem Antrag wirklich
die - wie es der Bundesrat formuliert hat - gesellschaftliche Bedeutung des mutigen Einsatzes für eine rechtsstaatliche und freiheitliche Ordnung als beispielgebend
herausstellen? Eine Beschränkung der Opferrente auf
Gefangene, zudem nur auf solche, die mehr als sechs
Monate inhaftiert waren, wird diesem Anspruch nicht
gerecht.
Ebenfalls voll an Ihren eigenen Ansprüchen vorbei
geht die vorgesehene Abhängigkeit der Unterstützungsleistung vom Einkommen. Ich frage Sie: Welchen Status
hat eine Anerkennung durchlittenen Unrechts, die vom
Einkommensniveau der Bezugsberechtigten abhängig
gemacht wird? Wollen Sie den Mut dieser Menschen ehren, oder wollen Sie diese einer bisweilen demütigenden
Offenlegung ihrer Einkommensverhältnisse aussetzen?
({1})
- Herr Fromme, stellen Sie doch eine Zwischenfrage;
dann beantworte ich sie Ihnen. - Was ist das für eine
Form von Anerkennung - das ist ein ganz zentraler
Punkt -, wenn von noch lebenden 70 000 Betroffenen
gerade einmal 16 000 erwarten können, von Ihren Regelungen zu profitieren?
Die hehren Worte Ihrer Ankündigungen in der Vergangenheit haben leider den Auffassungen Ihrer Finanzpolitiker Platz gemacht. So wundert es auch nicht, dass
in Ihrem Antrag die dringend gebotene Beweislastumkehr bei verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden
nicht vorgesehen ist. Aber ich habe dankbar zur Kenntnis genommen, dass Herr Vaatz angedeutet hat, dass hier
bis zum Sommer vielleicht noch etwas geschehen
könnte.
Wer angesichts derartiger Minimallösungen davon
spricht, der demokratische Staat würdige mit diesem
Antrag die Zivilcourage und aufrechte Haltung dieser
Menschen, dem kann ich den Vorwurf nicht ersparen
- die Kollegin Wicklein hat sich in einer Pressemitteilung
Volker Schneider ({2})
entsprechend geäußert; sie ist leider nicht mehr da -, dass
so wenig Würdigung von den Betroffenen nur als Hohn
empfunden werden kann und empfunden wird.
Eine weitere Anmerkung scheint mir in dieser Debatte dringend geboten zu sein. Fast 17 Jahre nachdem
die frei gewählte 10. Volkskammer der DDR einstimmig, also auch mit den Stimmen der früheren PDS,
({3})
ein Rehabilitierungsgesetz auf den Weg gebracht hat, das
bereits einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen
vorsah, die in gesonderten Rechtsvorschriften geregelt
werden sollten, legen Sie heute wieder keine rechtlichen
Regelungen vor, sondern nur Eckpunkte. Was einen derart
langen Bearbeitungszeitraum erforderlich macht, bleibt
schleierhaft. Aufwendige Vorarbeiten können es jedenfalls nicht gewesen sein; denn Ihr Antrag ist in weiten
Passagen wortgleich aus der Bundesratsdrucksache 425/04
vom 25. Mai 2004 abgeschrieben. Die Bewertung dieses
Vorgangs möchte ich Armin Görtz von der „Leipziger
Volkszeitung“ überlassen. Er hat geschrieben:
Dieser Entschluss von Union und SPD hat 16 Jahre
länger gedauert, als nötig und angemessen gewesen
wäre.
Ich füge hinzu: Das Ergebnis ist mehr als traurig.
Ihrem Antrag wird meine Fraktion daher nicht zustimmen können. Und ich kündige bereits heute an, dass
wir, statt weitere Eckpunkte zu formulieren - die Forderungen von der FDP und die weiter gehenden Forderungen der Grünen gehen diesbezüglich in die richtige
Richtung -, im Zuge der Beratungen einen eigenständigen Gesetzentwurf vorlegen werden.
Vielen Dank.
({4})
Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erster
Satz in dieser Rede sollte eigentlich sein: In der Frage
der Opferpensionen hat keine Fraktion Veranlassung, mit
dem Finger auf andere zu zeigen. Schwarz-Gelb unter
Helmut Kohl hat es nicht hinreichend geschafft; RotGrün unter Gerhard Schröder hat es nicht hinreichend
geschafft. Es ist tatsächlich, wie Arnold Vaatz formuliert
hat, nicht der Tag der Polemik, sondern der Tag eines
selbstkritischen Nachdenkens.
Nur eines muss ich zu Ihnen von der PDS sagen.
({0})
- Da hießen Sie noch SED - Partei des Demokratischen
Sozialismus. - In dieser Phase haben Sie ihr Parteivermögen systematisch beiseitegeschafft, ins Ausland transferiert,
({1})
in schwarze Kanäle geleitet und waren nicht bereit, auch
nur eine Mark für so etwas wie einen Täter-Opfer-Ausgleich zur Verfügung zu stellen. Das hätten Sie tun sollen.
({2})
Da können Sie hier nicht von kleinen Taten reden und
sich zum Chefankläger machen. Nicht erheblich haben
Sie das, worüber wir heute reden, verursacht;
({3})
Sie haben es insgesamt verursacht.
({4})
Darüber kann kein Namenswechsel hinwegtäuschen.
({5})
Herr Kollege Wieland, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, keine Zwischenfrage von der Linkspartei, früher PDS, davor SED.
({0})
- Das muss man doch auch einmal sagen dürfen. Es
heißt immer Rechtsnachfolger. Wenn ich meinen Namen
ändere, bin ich doch nicht mein eigener Rechtsnachfolger,
sondern habe nur einen neuen Namen.
({1})
Zweite Vorbemerkung, zum Kollegen Vaatz. Den Satz
von Bärbel Bohley höre ich nicht gern, muss ich Ihnen
sagen,
({2})
weil immer mitschwingt: Wir haben nur den Rechtsstaat
bekommen. Das Ringen um Gerechtigkeit müssen wir
als Parlament leisten, müssen die Gerichte leisten; aber
der Rechtsstaat ist die Form, in der es ausgetragen wird.
({3})
Millionen Menschen wären froh, sie hätten diese Form.
Auch in der DDR gab es nicht die Möglichkeit, auch nur
einen Staatsakt vor Gericht anzugreifen. Es gab die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht.
Jetzt zum Thema. Nach wie vor geht der bittere Satz
um - ich zitiere -: „Die Täter erhalten eine Rente, und
die Opfer erhalten einen Gedenkstein.“ Nach wie vor erhält der am 17. Juni eingesperrte Bauarbeiter von der damaligen Stalinallee eine geringere Altersentschädigung
als die Häscher, die ihn seinerzeit eingesperrt haben. Das
muss aufhören.
Was heute von der Großen Koalition als Eckpunkte
vorgelegt worden ist, würdige ich durchaus. Das ist ein
erster Schritt. Aber wir sagen: Das greift zu kurz. Das
kann noch nicht alles gewesen sein. Hier muss in der Beratung Weiteres kommen. Hier muss nachgebessert werden.
({4})
Die Punkte wurden zum Teil schon genannt. Wer wie
die Union hier im Hause und in den Landtagen jahrelang
von 500 Euro spricht, hat Erwartungen geweckt, die jetzt
mit 250 Euro nicht erfüllt werden. Natürlich ist eine
Sechsmonatsfrist für die Haft zu hinterfragen. Jeder
weiß, dass auch eine kürzere Haft, insbesondere unter
Bedingungen wie denen im Stasiknast in Hohenschönhausen, Menschen zerstört hat. Auch Opfer von Zersetzungsmaßnahmen sind hier einzubeziehen. Sie sind bei
der Birthler-Behörde dokumentiert. Da kann man nicht
sagen, das ist zu unbestimmt. Auch hier ist noch eine
Lücke.
Die Bedürftigkeitsprüfung - das wurde hier schon
gesagt - ist die Regelung, die bei den Betroffenen das
größte Unbehagen, den größten Protest hervorgerufen
hat. Wir sagen: Auch das kann so nicht bleiben. Diese
Bedürftigkeitsprüfung muss raus bzw. sie darf erst gar
nicht in den Gesetzentwurf rein.
Bei den Fristen, die Sie verlängern wollen, ist zu fragen: Kann man nicht zu einer Entfristung kommen, zu
einem Verzicht auf Fristen? Gerade dann, wenn man immer gezwungen ist, noch einmal zu verlängern, noch
einmal zu verlängern, noch einmal zu verlängern, ist zu
fragen: Geht es denn nicht ohne?
Wir brauchen die Erleichterung der Darlegung von
Gesundheitsschäden, und wir brauchen die Öffnung des
Häftlingshilfegesetzes für die von der Roten Armee verschleppten Zivilpersonen, insbesondere für die zur
Zwangsarbeit verschleppten Frauen.
Zum Schluss Folgendes: Am Montag - Sie wissen es erhielt der Film „Das Leben der Anderen“ in Hollywood
einen Oscar. Es wurde kritisiert, dass es in der Realität
auch nicht einen Stasioffizier gegeben hat - jedenfalls ist
keiner dokumentiert -, der so gehandelt hat wie die Person
im Film. Das will ich einmal dahingestellt sein lassen.
Wir alle hier werden für die Leistung der nunmehr sich
nähernden Opferpension keinen Oscar mehr erringen.
Aber es darf auch nicht so sein - es darf wirklich nicht
so sein -, dass die Betroffenen, die Opfer am Ende den
Eindruck haben, dass sie hier nur einen Trostpreis erhalten.
Darüber sollten wir nachdenken. Wir sollten zu besseren
Ergebnissen als denen kommen, die heute von Ihnen
vorgeschlagen worden sind.
Vielen Dank.
({5})
Mir liegen jetzt zwei Anmeldungen zu Kurzinterventionen vor: von Herrn Schneider, der sich auf Herrn
Wieland beziehen möchte, und von Herrn Vaatz, der sich
auf Herrn Schneider beziehen möchte. Ich würde Sie
gerne in dieser Reihenfolge sprechen lassen, zunächst
bitte der Kollege Schneider.
Danke sehr, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Wieland, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass
Ihr Vorwurf eine ganze Reihe meiner hier anwesenden
Fraktionskolleginnen und -kollegen in keiner Weise
trifft.
({0})
- Es wäre nett, wenn Sie einfach einmal zuhörten.
Ich kann zum Beispiel für meine Person sagen: Ich
bin Saarländer; ich komme aus Saarbrücken. Es wird Ihnen schwerfallen, mir eine persönliche Verantwortung
zuzuschieben. Dasselbe gilt für die, die aus dem Osten
kommen: Katja Kipping beispielsweise war 1989
11 Jahre alt. Ich glaube, auch bei ihr wird es Ihnen
schwerfallen, eine persönliche Schuld zu konstruieren.
Im Übrigen bin ich einigermaßen verwundert. Die
frühere PDS hat sich intensiv mit ihrer Vergangenheit
auseinandergesetzt und eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen. Ich habe mich nun wahrhaftig bemüht,
mich jeglicher Polemik zu enthalten. Ich habe gesagt:
Wir, der Bundestag insgesamt, müssen die Opfer und
ihre Situation ernster nehmen. Das ist ein Hinweis darauf, wie wir uns mit diesen Dingen auseinandersetzen.
Ich verstehe auch einige Empörung in diesem Hause
nicht, insbesondere aus einigen Ecken erscheint sie mir
sehr zweifelhaft. Zum Beispiel können die lieben Freundinnen und Freunde von der CDU/CSU-Fraktion gerne
einmal einen Nachweis darüber führen, dass sie sich in
ähnlicher Art und Weise mit ihrer Vergangenheit bzw.
mit der Vergangenheit ihrer Blockflötenpartei auseinandergesetzt haben.
({1})
Ich würde mich mit solchen Äußerungen tunlichst zurückhalten.
Besten Dank.
Zur Antwort Herr Wieland, bitte.
Herr Kollege, ich habe von Ihrer Partei gesprochen;
ich habe keine Namen genannt. Ich hätte es für wesentlich näherliegend gehalten, wenn zu dieser Frage Ihr
Parteivorsitzender Lothar Bisky oder Ihr Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi Stellung genommen hätte, weil
sie aus eigenem Wissen und eigener Aktivität einen ganz
anderen Einblick in die Verhältnisse in der DDR als Sie
haben.
({0})
- Was denn konkret? Ich sprach vom Verbringen Ihres
Parteivermögens, dokumentiert in etlichen Strafprozessen und in dem, was die Kommission uns vorgelegt hat,
während Sie im Innenausschuss - entschuldigen Sie,
Herr Kollege - nur blöde gegrinst haben, als vorgetragen
wurde, dass Millionenwerte nicht mehr aufgespürt werden konnten. Mit diesen Mitteln hätte man eine Menge
für die Opfer tun können. Dem haben Sie sich entzogen,
und dem entziehen Sie sich bis zum heutigen Tage.
({1})
Jetzt hat der Kollege Vaatz das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Schneider, mit den verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden meinen wir Gesundheitsschäden, die durch die Verfolgung durch die SED entstanden
sind, als deren Rechtsnachfolger Sie heute gesprochen
haben. Sie haben nicht für sich als Saarländer, der mit
der ganzen Geschichte nichts zu tun hat, gesprochen,
sondern für Ihre Fraktion.
({0})
Ihre Rede hat sich angehört - das ist die Realität -, als
beschwerte sich der Brandstifter bei der Feuerwehr, dass
sie beim Löschen über die Tulpenbeete gelaufen ist.
({1})
Ich darf Ihnen sagen und möchte es einer Reihe von
Kollegen mit auf den Weg geben: Ich hätte mich sehr gefreut, wenn zum Beispiel die Grünen oder die PDS in
den letzten zehn Jahren versucht hätten, die Opferpension aufzustocken. Dazu ist es nicht gekommen.
({2})
Ganz im Gegenteil: Wir standen eine Zeit lang alleine
da.
Ich wollte aber über diese Angelegenheit jetzt nicht
streiten, sondern nur sagen, dass Sie keinen Grund haben, aufgrund der Tatsache, dass Sie jetzt in der Opposition sitzen und nicht mehr regieren, einen Überbietungswettbewerb zu veranstalten. Das halte ich gemessen an
dem, was früher hier besprochen worden ist, nicht für legitim. Das muss man ganz deutlich sagen.
Eine letzte Bemerkung zum Rechtsstaat. Ich habe das
Wort „nur“ nicht verwendet. Ich bin der Meinung, dass
das Parlament ein Bestandteil des Rechtsstaates ist.
Wenn die Gefahr besteht, dass die Gerechtigkeit und das,
was der Rechtsstaat im Augenblick leistet, auseinanderdriften, dann muss das Parlament aktiv werden, um diese
beiden Dinge so weit wie möglich wieder in Einklang zu
bringen. Das war der Sinn dieses Zitats.
({3})
Herr Schneider, möchten Sie antworten? - Bitte
schön.
Es gehört dazu, dass man auf solche Einwürfe antworten darf. Ich mache das aber ganz kurz.
Ich mache mir überhaupt keine Illusion darüber, dass
es völlig gleichgültig gewesen ist, in welcher Art und
Weise irgendein Redner oder eine Rednerin meiner
Fraktion hier geredet hat: Die Reaktion wäre ausgefallen, wie sie ausgefallen ist. Ich wiederhole hier allerdings: Wir haben uns in der Vergangenheit intensiv mit
diesen Dingen auseinandergesetzt. Wenn Sie im Protokoll nachlesen, dann werden Sie feststellen, dass wir uns
auch sehr intensiv mit dem Leid, das den Opfern zugefügt wurde, auseinandergesetzt haben.
Wir kommen zu dem Ergebnis, dass Sie gerade wegen
des Unrechts, das dort geschehen ist und das ich überhaupt nicht weggeredet habe - das sollte Ihnen auch aufgefallen sein -, an zwei Stellen vielleicht noch einmal
Korrekturen vornehmen sollten, nämlich dort, wo es um
die Einkommensanrechnung geht, und dort, wo nur die
Haft als Kriterium herangezogen wird. Ich denke, hierüber sollten wir auch im Interesse der Opfer doch noch
einmal nachdenken.
Jetzt hat der Kollege Markus Meckel für die SPDFraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute in dieser Entschlossenheit zusammengekommen sind, um deutlich zu
machen, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten
in möglichst großer Breite einen Gesetzentwurf einbringen werden, um die Situation der Opfer des Kommunismus zu verbessern. Wir alle wissen, dass das dringend
nötig ist.
Opfer von Diktaturen haben es in Deutschland - nicht
nur in Deutschland - auch nach der Zeit der Diktatur
schwer. Das gilt gerade im Vergleich mit den Tätern;
denn Angehörige der Täterorganisationen - das sind in
Diktaturen normalerweise ja staatliche Organisationen haben wegen der Trennung von Sozial- und Strafrecht
das Recht, alle sozialen Rechte in einem Sozialstaat in
Anspruch zu nehmen. Wir haben dies in der Weise erlebt, wie Herr Vaatz das eben dargestellt hat.
Deshalb gibt es natürlich diese Schwierigkeit, da die
Opfer aufgrund ihrer Biografie oft nicht die Chance hatten, eine entsprechende Würdigung zu erfahren. Es war
oft ein sehr schwieriger Prozess - das gilt für beide Diktaturen -, den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir
haben sehr darauf zu achten - das ist eine Frage der
Glaubwürdigkeit der Demokratie -, dass die Entschädigung nicht nach Kassenlage geschieht.
Bei der Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus war das ein jahrzehntelanger Weg. Wir erinnern uns, dass wir erst im Jahre 2000 die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ geschaffen haben.
Das war 55 Jahre nach dem Krieg. Zum anderen - weniger bekannt - gab es im Oktober 1992 - das ist schon angesprochen worden - eine Sondervereinbarung des Bundesfinanzministers mit der Jewish Claims Conference, in
der übrigens im Unterschied zu dem, was vorher üblich
war und in anderen Bereichen üblich ist - es war also gewissermaßen ein Systembruch -, monatliche Beihilfen
für bedürftige jüdische Opfer des Nationalsozialismus
beschlossen wurden. Das war ein wesentlicher Schritt.
Nichtjüdische Opfer blieben übrigens außen vor. Diese
Regelung war nun das Muster für das, was wir heute hier
gemeinsam beschließen, um die Situation der Opfer zu
verbessern.
Dass dringend etwas für die Opfer des Kommunismus getan werden muss, ist seit Jahren klar. Ich bin sehr
dankbar, dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger noch
einmal auf die Rede von Bundespräsident Rau verwiesen
hat, in der er dies auch entsprechend deutlich gesagt hat.
Aber auch die Situation der Opfer des Kommunismus
nach 1990 war von einer Schieflage gekennzeichnet. Erinnern wir uns an die Situation Anfang der 90er-Jahre
zurück: Damals hat der Deutsche Bundestag mit den entsprechenden Mehrheiten Gesetze geschaffen, die dafür
sorgten, dass gerade diejenigen, die an Eigentum und
Vermögen Unrecht erlitten hatten, durchaus sehr gut dastanden. Wir haben hier Millionensummen an Entschädigung bezahlt. Mit Geldern für diejenigen, die an Leib
und Leben litten, waren wir sehr viel knausriger. Erst
Rot-Grün hat 1999 deutliche Verbesserungen beschlossen und die Höhe der Kapitalentschädigung angepasst.
({0})
Heute gehen wir einen weiteren großen Schritt, indem
wir der eben genannten Regelung folgen und monatliche Zahlungen für Opfer des Kommunismus vorsehen.
Es schien in den letzten Jahren undenkbar zu sein, dass
wir uns darauf einigen könnten. Ich bin sehr dankbar,
dass das möglich geworden ist. Deshalb sollte man dies
auch nicht kleinreden.
Gewiss, manches ist im Gesetzgebungsverfahren
noch zu ändern. Darüber ist hier gesprochen worden. Besonders wichtig ist es - das haben wir ja auch in unsere
Koalitionsvereinbarung geschrieben -, dass wir Erleichterungen bei der Anerkennung von gesundheitlichen
Schäden vorsehen. Damit könnten wir miteinander dafür sorgen, dass würdig mit den Betroffenen umgegangen wird. Die Art und Weise, wie auf den Versorgungsämtern manchmal mit den Opfern umgegangen wird,
bringt diese - das muss man einfach so sagen - schlichtweg in eine unwürdige Situation. Diesen Zustand müssen wir beenden.
Ich denke auch an Schüler, die in der DDR verfolgt
wurden, ins Gefängnis kamen und dann freigekauft wurden. Wenn diese nun in der Bundesrepublik in den 80erJahren studierten und BAföG in Anspruch nahmen - damals wurde BAföG nur als Kredit gewährt -, häuften sie
hohe Schuldensummen auf, die sie zum Teil bis heute
vor sich her schieben. Es sind zwar wenige, aber auch
das ist ein wichtiger Punkt. An dieser Stelle könnten wir
nämlich alleine durch eine Stichtagsänderung etwas zum
Positiven verändern. Ich glaube, das sollten wir tun.
Auch ich verstehe manche Kritik, die geübt wird. Ich
muss gestehen, auch ich selber hätte mir an der einen
oder anderen Stelle Änderungen oder etwas mehr gewünscht. So stellt zum Beispiel die Tatsache, dass wir
ein halbes Jahr und zehn Jahre Haft quasi gleichsetzen,
natürlich ein Problem dar, vor dem man nicht die Augen
verschließen sollte. Ich hätte mir auch gewünscht, für
alle Betroffenen ohne Prüfung der Bedürftigkeit einen
Sockelbetrag vorzusehen und diesen dann je nach Bedürftigkeit aufzustocken. Auch das hätte mir, wie ich gestehen muss, besser gefallen. Wir alle wissen aber, dass
das nicht drin war, insbesondere deswegen nicht, um die
Verhältnismäßigkeit zu den Entschädigungsleistungen
für NS-Opfer zu wahren. Wenn es uns allerdings gelungen wäre, in diesem Zusammenhang zugleich auch noch
etwas für die NS-Opfer zu tun, wäre das auch nicht
schlecht gewesen; denn zu gut geht es denen wahrhaftig
nicht.
Nichtsdestotrotz stellt das Ergebnis, das wir gemeinsam erzielt haben, einen wichtigen und großen Schritt
dar. Deshalb sollten wir gemeinsam entschlossen die Arbeit an diesem Gesetzentwurf aufnehmen. In diesem
Rahmen sollte dann natürlich, wie schon angesprochen,
auch eine Anhörung mit den gesellschaftlichen Gruppen
und Opferverbänden durchgeführt werden. Wenn irgendwie möglich, sollten wir diesen großen Schritt, den wir
uns vorgenommen haben, noch vor der Sommerpause,
vielleicht sogar schon bis zum 17. Juni, in Gesetzesform
gießen. Damit würde dann endlich eine Verbesserung
der Situation der Opfer eintreten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
16/4167 mit dem Titel „Unterstützung für die Opfer
der SED-Diktatur - Eckpunkte für ein Drittes SED-
Unrechtsbereinigungsgesetz“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen von FDP und Linksfraktion bei Ent-
haltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 6 b sowie Zusatzpunkt 15. Inter-
fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/4404 und 16/4409 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da-
mit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:
7 a)Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
drei Jahren 2006
- Drucksache 16/2250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität verbessern
- Drucksache 16/4412 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden,
hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
der Kollege Johannes Singhammer für die CDU/CSUFraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Uns liegen die Kinder in Deutschland am Herzen. Wir stehen an der Seite der Mütter und Väter, die
Kinder erziehen. Mein Dank, mein Respekt und meine
Hochachtung gelten den 12,6 Millionen Eltern in
Deutschland, von denen viele ihre Kinder in der Frühe
wecken, das Frühstück bereiten und liebevoll da sind,
wann immer es nötig ist. Meine Sorge gilt einer Minderheit von Kindern, die weder ausreichendes Frühstück bekommen noch genügend Liebe, weil die Eltern überfordert und dazu nicht in der Lage sind.
Wir wollen, dass die Eltern selbst entscheiden, wie ihr
Kind betreut wird, ob zu Hause, in der klassischen Einverdienerfamilie, ob durch Großeltern, wer das Glück
hat, ob durch selbstorganisierte Kinderbetreuung mit Tagesmüttern oder eben in Kinderkrippen. Für uns steht die
Wahlfreiheit an erster Stelle.
({0})
Wahlfreiheit bedeutet, auswählen zu können. Wenn
Mütter und Väter berufstätig sind und Kinder haben,
dann fehlt vielfach die Wahlfreiheit; dann ist häufig die
Möglichkeit, Familie und Beruf zu verbinden, nicht gegeben. Wir wollen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und haben deshalb das Elterngeld gestartet.
Es ist folgerichtig, dass mit dem Auslaufen des Bezugs
des Elterngeldes Sicherheit hinsichtlich der Betreuung
gegeben wird. Deshalb sage ich ein ganz klares Ja zu
mehr Betreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige.
({1})
Allerdings darf es keine Einbahnstraße der Betreuung
geben. Wir setzen auf Vielfalt und auf individuelle Freiheit bei der Kinderbetreuung.
({2})
Wahlfreiheit heißt deshalb auch, dass Mütter und Hausfrauen, die für eine gewisse Zeit oder dauerhaft auf Berufstätigkeit verzichten und sich um ihre Kinder kümmern
({3})
- auch Väter, selbstverständlich -, die notwendige Anerkennung erfahren und nicht als die letzten Trottel abqualifiziert werden.
({4})
Familienarbeit, Tag und Nacht für Kinder da zu sein, ist
nicht ewig währender Urlaub, sondern ein Hochleistungsjob, der eigentlich eine eigene Förderung verdient
hätte.
({5})
Wer auf Formularen in der Spalte „Beruf“ Hausfrau einträgt,
({6})
soll nicht befürchten müssen, müde belächelt zu werden,
sondern zu Recht erwarten dürfen, dass ihm achtungsvoll auf die Schulter geklopft wird.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Miriam Gruß zulassen?
Aber sehr gerne.
Bitte schön.
Lieber Herr Singhammer, es ist sehr schön, was Sie
uns da erzählen. Ich wollte nur nachfragen, ob Sie zu
dem, was Sie uns hier berichten, wirklich die Zustimmung Ihrer ganzen Fraktion finden, insbesondere Ihrer
bayerischen Kollegen.
({0})
Frau Kollegin Gruß, herzlichen Dank für diese Nachfrage hinsichtlich der Befindlichkeit der bayerischen
Kollegen. Ich kann Ihnen versichern, dass die Befindlichkeit gut ist, dass wir uns alle hinter dem Motto der
Wahlfreiheit bei der Kinderbetreuung versammeln können, dass das für uns in der Tat die wichtigste Voraussetzung ist und dass wir daran exakt unsere weitere Politik
in Bezug auf die Kinderbetreuung ausrichten werden.
({0})
- Vielen Dank, Frau Kollegin Lenke. Aber es handelt
sich um eine Selbstverständlichkeit.
({1})
Insofern hat sich der Beifall nicht unbedingt aufgedrängt.
({2})
Wir wollen nicht - um beim Stichwort Wahlfreiheit
zu bleiben -, dass Eltern in ein bestimmtes Betreuungsmodell gedrängt werden. Der vorliegende Bericht zum
Stand des Ausbaus der Kindertagesstätten zeigt im Übrigen klar, dass es einen erheblichen Ausbau des Angebots
gegeben hat und dass das Ausbauziel für 2010 von rund
230 000 neuen Plätzen erreichbar ist.
Die Finanzierung ist der nächste Punkt. Lassen Sie
mich dazu einiges klarstellen. Die Finanzierung darf in
ihren Wirkungen nicht unterschiedlich sein für Familien
mit Kindern im Vorschulalter und für Familien, deren
Kinder zur Schule gehen. Deshalb halte ich wenig davon, dass es beim Kindergeld eine Durststrecke gibt.
Dann wäre einer der Effekte, dass die Eltern mit schulpflichtigen Kindern letztlich die Eltern mit Kindern bis
zu sechs Jahren über eine Art Umlage finanzieren würden. Deshalb sollten wir auch bei der Frage vorsichtig
sein, ob eine Veränderung beim Ehegattensplitting für
eine Finanzierung geeignet ist.
({3})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Deligöz zulassen?
Aber gerne.
Herr Singhammer, habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass Sie der Meinung sind, dass die Finanzierung
der Eltern, deren Kinder in die Schule gehen, der Finanzierung der Eltern gleichgestellt sein muss, deren Kinder
in den Kindergarten gehen? Heißt das im Umkehrschluss, dass alle Kindergartenplätze, da der Besuch
der Schulen in Deutschland kostenlos ist, kostenfrei sein
müssen? Heißt das weiterhin, dass alle Kinder im Kindergartenalter, da es ja eine Schulpflicht gibt, einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben und wir flächendeckend Ganztagskindergartenplätze schaffen
müssen?
Liebe Frau Kollegin Deligöz, Ihre Prämisse war nicht
richtig und deshalb stimmte auch der Umkehrschluss
nicht.
({0})
- Ich habe gesagt: Wenn die durch eine Durststrecke
beim Kindergeld erzielte Einsparung ausschließlich für
eine verbesserte Infrastruktur bei der Betreuung von unter Sechsjährigen verwandt wird, dann haben natürlich
diejenigen Eltern, deren Kinder in die Schule gehen, wenig davon. Aber auch da wird die finanzielle Decke immer dünner. Manchmal kann schon ein Schulausflug zu
einer enormen finanziellen Belastung werden.
({1})
Das ist der Hintergrund meiner Überlegung. Deshalb
meine ich, dass eine Durststrecke oder eine längere Eiszeit beim Kindergeld für eine Finanzierung nicht geeignet ist.
({2})
Frau Kollegin Deligöz, ich darf angesichts Ihrer Frage
noch einen anderen Punkt ansprechen. Die Grünen haben in ihrem Wahlprogramm für 2005 formuliert, dass
Wahlfreiheit ein elitärer Begriff der Freiheit sei. Lassen
Sie mich dazu sagen: Für uns ist Wahlfreiheit nicht elitär, sondern selbstverständlich. Unser Familienbild ist
geprägt von Zutrauen und nicht von Misstrauen gegenJohannes Singhammer
über den Eltern. Wir vertrauen den Eltern und glauben,
dass sie das Beste für ihre Kinder wollen. Das ist der Unterschied.
({3})
Lassen Sie mich zur Finanzierung noch eine Bemerkung machen. Das Ehegattensplitting, reduziert auf ein
Realsplitting, ist kein Dukatenesel. Im Gegenteil: Auch
hier würden die Familien wiederum einen großen Teil
der Erträge selbst finanzieren.
({4})
Dies ist insbesondere für ältere Mütter ein Problem
- Frau Kollegin Kressl, auch Sie wissen das -, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie nur wenig für ihr Alter
vorgesorgt haben, weil sie sich vollständig und dauerhaft
der Kindererziehung gewidmet haben.
({5})
Wenn im Alter der Mann ein relativ hohes Einkommen hat, die Frau aber aufgrund ihrer Lebensbiografie
ein relativ geringes oder gar kein Einkommen hat und
der Splittingvorteil im Nachhinein noch entfiele, dann
wäre das kein Zugewinn an Gerechtigkeit und damit
kein Zugewinn für die Familien.
Der richtige Weg im Hinblick auf die Finanzierung ist
zunächst einmal - auch das darf ich sagen; in diesem
Punkt sind wir uns in der Koalition einig -,
({6})
die Finanzmittel, die durch geringere Kinderzahlen frei
werden, dafür einzusetzen. Ich denke, da gibt es - leider
und unfreiwillig - einen gewissen Spielraum.
({7})
Dann können wir natürlich auch mit der Einsparung
von Bürokratiekosten einiges bewegen. Wir haben uns
in der Großen Koalition entschlossen, die bestehenden
145 Familienleistungen auf den Prüfstand zu stellen, zu
lichten und auf einige breite Straßen zu bündeln. Der administrative Ertrag durch das Weniger an Bürokratie
wird neue Spielräume eröffnen. Diese können wir für die
Finanzierung einsetzen.
Wir haben das Elterngeld in dieser Großen Koalition
innerhalb weniger Monate auf den Weg gebracht.
({8})
Wir werden auch eine gute Kinderbetreuung auf den
Weg bringen, und wir werden insbesondere dafür sorgen, dass die Wahlfreiheit, der Respekt und die Hochachtung denjenigen Eltern gegenüber, die sich für eine
andere Weise, nämlich die traditionelle Weise, der Kinderbetreuung entschieden haben, zu jeder Zeit gewahrt
bleiben.
({9})
Für die FDP-Fraktion kommt jetzt die Kollegin Ina
Lenke an die Reihe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Familienpolitik der vorherigen SPD-Grünen-Regierung
und der Großen Koalition ist bis heute nicht dem gesellschaftlichen Wandel der Familie gerecht geworden.
Das zeigt der Bericht der Bundesregierung zum Ausbau
der Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Hier fehlt
es an marktwirtschaftlichen Konzepten und ganz besonders an der gemeinsamen Finanzierung durch Bund,
Länder und Gemeinden.
Meine Damen und Herren von der Koalition und gerade von der SPD, Sie können sich vielleicht noch an die
Luftbuchung von 1,5 Milliarden Euro erinnern, die den
Kommunen ab 2005 im Rahmen der Zusammenlegung
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Verfügung gestellt
werden sollten. Die Kommunen hat dieses Geld nicht erreicht. Deshalb haben sich Frau Kressl und andere jetzt
zusammengesetzt, um neue Finanzierungstöpfe aufzumachen. Das ist ganz eindeutig so.
Die Quittung haben Sie bekommen. Denn die Betreuung der unter Dreijährigen hat nach der Verabschiedung
des TAG, des Tagesbetreuungsausbaugesetzes, nur unwesentlich zugenommen. In den westlichen Bundesländern können derzeit nur acht von 100 Kindern in Betreuungseinrichtungen aufgenommen werden. Wer kleine
Kinder hat, weiß, dass der Tagesmütter- und -vätermarkt
total leergefegt ist. Die Schwarzarbeit blüht. Qualifizierte Tagesmütter sind kaum zu akquirieren.
({0})
Was haben Sie bei der Steuergesetzgebung gemacht?
Die Kosten für Au-pair-Kräfte, die nachweislich einen
Teil ihrer Arbeitszeit mit der Kinderbetreuung ausfüllen,
können immer noch nicht von berufstätigen Eltern als
Werbungskosten von der Steuer abgesetzt werden. Frau
Kressl, das wäre ein wirklich guter Merkpunkt für die
Große Koalition.
Auch Herr Singhammer hat das neue Elterngeld gelobt. Herr Singhammer, gerade das Elterngeld hat die Situation im Hinblick auf die Betreuung der unter Dreijährigen verschärft. Im Ansatz stimme ich Ihnen und der
Großen Koalition zu - das macht die FDP -: Es ist wichtig und richtig gewesen, die Elternzeit finanziell abzufedern. Aber dies war kein großer Wurf; das haben wir in
den letzten Monaten sehr deutlich gesehen. Denn nach
der einjährigen Zahlung des Elterngeldes wird es zu einer Betreuungsfalle kommen. Dies wird ab dem
1. Januar 2008 so sein. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, wie Sie so schnell eine staatliche Kinderbetreuung
aufbauen werden. Daher sage ich: Beim Elterngeld hat
das Gesamtkonzept gefehlt. Dazu gehörte auch die anschließende Betreuung.
({1})
Am Montag hat nun der Koalitionspartner SPD einen
Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Ich begrüße es außerordentlich, dass Teile der Bundesregierung ein Konzept
zur Finanzierung, das diese vor der Wahl versprochen
hat - ich habe gehört, es hat ein halbes Jahr gedauert; Sie
haben sehr intensiv gearbeitet -, am Montag vorgelegt
haben.
Sieht man sich aber die Vorschläge genauer an - dafür
bin ich aus der Opposition da -, kommt zum Vorschein,
dass Familien Familien finanzieren sollen:
Erstens. Der Betreuungs- und Erziehungsfreibetrag
bei der Einkommensteuer soll gekappt werden.
Zweitens. Das Kindergeld soll nicht steigen, sondern
gedeckelt werden. Sie wissen doch und auch die Bevölkerung muss wissen, dass es sich dabei um die Steuerfreiheit für die Lebenshaltungskosten von Kindern handelt. Das Bundesverfassungsgericht achtet sehr darauf,
dass die Steuerfreiheit die - ja an das Kindergeld gekoppelt ist - für Familien in diesem Bereich gewährleistet
ist.
Frau Lenke, die Kollegin Kressl würde Ihnen gerne
eine Frage stellen. Lassen Sie diese zu?
Gerne.
Sehr geehrte Frau Lenke, ich habe immer gehofft, wir
würden uns einmal gegenseitig keine Zwischenfragen
stellen. Ich muss Sie jedoch bitten, zu sagen, ob Sie sich
das Konzept wirklich genau angesehen haben. Wenn Sie
es sich angesehen hätten, hätten Sie gemerkt, dass die
moderate Senkung beim Freibetrag, die wir vorschlagen, überhaupt nichts mit den Lebenshaltungskosten zu
tun hat. Es gibt zwei Freibeträge, einen, um das Existenzminimum zu sichern - den lassen wir unangetastet -,
und einen Pauschalbetrag, der nichts mit der Sicherung
des Existenzminimums und der Deckung der Lebenshaltungskosten zu tun hat. Deshalb möchte ich Sie fragen,
weshalb Sie das hier behaupten, obwohl es doch definitiv anders ist.
Ich weiß sehr wohl, dass verschiedene Abgeordnete
der SPD immer wieder fordern, das Kindergeld zu kürzen oder zumindest zu deckeln, also die nächste Erhöhung nicht stattfinden zu lassen.
Sie haben mich zu etwas anderem gefragt, was Sie
gerne kürzen wollen, und zwar den Betreuungs- und Erziehungsfreibetrag. Auch dieser ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingeführt worden.
({0})
- Aber nicht die Höhe. Ich glaube, dass auch die alte
Bundesregierung sehr genau darauf geachtet hat, dass
der Betrag nicht zu hoch ist. Ich schaue mir Ihr Konzept
diesbezüglich gerne noch einmal genauer an und würde
dann auch mit Ihnen darüber sprechen.
({1})
Drittens. Das Ehegattensplitting. Schon jetzt erhalten Verheiratete, von denen einer zu Hause bleibt, vom
Staat eine jährliche Steuerersparnis in Höhe von circa
8 000 Euro. Das Gleiche gilt auch für Verheiratete ohne
Kinder. Durch die neue Reichensteuer, die die SPD eingeführt hat, steigt die Steuerersparnis für gut Verdienende und Millionäre durch das Ehegattensplitting auf
bis zu 15 414 Euro jährlich. Das verstehe ich nun überhaupt nicht, Frau Kressl, weil die SPD seit Jahren in der
Öffentlichkeit gegen das ungerechtfertigte Ehegattensplitting wettert. Diesen Schuh müssen Sie sich anziehen.
Wie zuvor der Kollege Singhammer bin auch ich der
Meinung, dass Familien nicht Familien finanzieren dürfen. Von der CDU/CSU habe ich jedoch noch keinen Finanzierungsvorschlag gehört. Vielleicht wird sich Staatssekretär Dr. Kues dazu äußern. Das würde mich und die
gesamte Opposition sehr interessieren.
({2})
Ein Konzept der CDU/CSU liegt bisher nicht vor, obwohl Frau von der Leyen gerne kostenlose Kitas hätte.
All diese Forderungen sind von der CDU/CSU nicht mit
einem Finanzierungsvorschlag unterfüttert worden. Damit lassen die CDU/CSU und auch die SPD die Bürgermeister und Landräte im Regen stehen. Ich glaube, dass
Sie noch lange kein gemeinsames Konzept haben werden.
Trotzdem will ich hier als Oppositionspolitikerin sagen, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist, nach Lösungen zu suchen. Junge Familien brauchen Unterstützung bei Erziehung, Bildung und Betreuung ihrer
Kinder. Wir haben einen Entschließungsantrag dazu eingebracht. Einige Forderungen daraus würde ich jetzt
gerne nennen.
Seit Langem fordern wir einen Kinderbetreuungsgipfel, damit die Kommunen und Länder ins Boot geholt
werden. Das hat lange Zeit nicht geklappt, aber das machen Sie jetzt. Neben der Kinderbetreuung unter 3-Jähriger, Frau Kressl und meine Damen und Herren von SPD
und CDU/CSU, ist die Ferienbetreuung von Grundschulkindern ein Megaproblem. Vielleicht können Sie das gegenüber den Ländern argumentativ einsetzen.
Die Familien brauchen jetzt Unterstützung und nicht
erst dann, wenn sich die Große Koalition geeinigt hat. Es
sollen auch betriebliche und private Elterninitiativen unterstützt werden.
({3})
Es sollen privat-gewerbliche Einrichtungen unterstützt
werden. Der Grundsatz „privat vor Staat“ gilt auch bei
der Kinderbetreuung. Die Nachfrage nach qualifizierter
Kinderbetreuung ist enorm.
({4})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich muss meine Rede hier leider beenden. - Ich hätte
Ihnen gerne noch einige Beispiele aus Göttingen und
Frankfurt genannt.
Nächstes Mal.
Ich höre jetzt auf, Frau Präsidentin.
Ich bitte darum, dass wir uns alle davor hüten, bei der
Familienpolitik aus dem Auge zu verlieren, dass wir die
Wahlfreiheit wollen. Die Entscheidung, welches Modell
für ein Leben mit Kindern das richtige ist, überlassen wir
Liberale den Eltern.
({0})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Caren Marks für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Lenke, Sie haben
recht, beim Betreuungsausbau ist in der Tat noch viel zu
tun.
({0})
Frau Lenke, im Gegensatz zu Ihnen und der FDP kritisieren wir aber nicht nur Konzepte und Dinge, die vorangebracht wurden, sondern legen eigene Konzepte vor
und verwirklichen sie.
({1})
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit unserer engagierten und sehr erfolgreichen Familienministerin
Renate Schmidt in der Familienpolitik eine wirklich
neue Richtung eingeschlagen: weg von der konservativen, allein auf Geldtransfer ausgerichteten Politik hin zu
einem Mix aus Infrastruktur, Zeit und Geld.
Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, kurz TAG genannt, und dem 4-Milliarden-Ganztagsschulprogramm
hat die SPD in Regierungsverantwortung sichtbar neue
Prioritäten gesetzt. Mit dem TAG hat die SPD die rechtliche Grundlage für die notwendige Verbesserung der
Betreuungs- und Bildungssituation von Kindern unter
drei Jahren geschaffen. Die flexible Elternzeit, die Allianz für die Familie sowie das neue Elterngeld sind weitere wichtige familienpolitische Bausteine, die von der
SPD entwickelt und umgesetzt wurden.
Mit diesen Maßnahmen haben wir auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, auf Veränderungen, die die
Union in der Vergangenheit nicht erkennen wollte. In der
Union war und ist zum Teil noch immer die Alleinverdienerfamilie mit Trauschein als Leitbild weit verbreitet.
Herr Singhammer, die Lebensentwürfe von jungen
Frauen und Männern und die Lebenswirklichkeit von
Familien haben sich aber verändert. Darum brauchen wir
eine echte Wahlfreiheit. Sie haben diese dementsprechend betont. Nur noch 5 Prozent der jungen Frauen
wollen ausschließlich Mutter und Hausfrau sein.
Erste Erfolge der nachhaltigen Familienpolitik zeichnen sich bereits ab. Der eingeschlagene Weg wird in der
Großen Koalition konsequent verfolgt. Die SPD setzt
sich schon seit Jahren vehement für den Ausbau der
Bildungs- und Betreuungsangebote für unsere Kleinen
ein. Das ist für uns die familienpolitische Aufgabe Nummer eins.
({2})
Auch vor dem Hintergrund des neuen Elterngeldes muss
der Ausbau der Kinderbetreuung beschleunigt werden.
({3})
Der uns vorliegende Bericht, der das Jahr 2005, also
das erste Jahr nach Inkrafttreten des TAG evaluiert, verzeichnet sowohl im Bereich der Krippen als auch bei den
Tagesmüttern und -vätern einen Ausbau des Betreuungsangebots. Innerhalb der ersten zehn Monate wurden bereits 21 500 neue Plätze geschaffen. Damit stand 2005
bundesweit für jedes siebte Kind unter drei Jahren ein
Platz zur Verfügung. 2002 galt das nur für jedes zehnte
Kind. Das ist natürlich nach wie vor zu wenig. Nach wie
vor gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern und Kommunen. In den östlichen Bundesländern ist
die Versorgungsquote für unter Dreijährige mit knapp
40 Prozent viermal so hoch wie in den westlichen Bundesländern.
Der Bericht belegt, wie wichtig die gesetzliche Regelung war. Es ist auf das TAG zurückzuführen, dass sich
das Angebot für Kinder unter drei Jahren in Westdeutschland gegenüber dem Stand von 2002 mehr als
verdoppelt hat. Der Bund hat durch das TAG Impulse
gesetzt und Verantwortung übernommen. Er hat sich
nicht ausschließlich auf die Zuständigkeit der Länder
und Kommunen verlassen. Der Bericht macht deutlich:
Es geht voran, aber das Tempo ist zu gering. Bei einer
Betreuungsquote von lediglich 3 Prozent in Niedersachsen ist wie in vielen anderen Bundesländern noch einiges
zu tun.
Insbesondere für unsere Kleinsten müssen wir alle
Kräfte bündeln und den Ausbau der Ganztagsbetreuungsangebote mit einer weiteren Gesetzesinitiative beschleunigen.
({4})
Deshalb wollen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, ab
2010 den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für
alle Kinder vom ersten Geburtstag bis zum Schuleintritt
durchsetzen.
Dabei muss klar sein: Es geht nicht nur um die Quantität, sondern immer auch um die Qualität der Betreuung.
Der Ausbau der Betreuungsangebote ist ein wirkungs8276
voller Schlüssel zur Verbesserung der Bildungs-, Lebens- und Zukunftschancen aller Kinder von Anfang an.
Es ist der Schlüssel zur Chancengleichheit, zur besseren
Integration von Kindern aus benachteiligten Familien
sowie aus Familien mit Migrationshintergrund. Verlässliche und flexible Betreuungsangebote sind für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für echte Wahlfreiheit zwischen Familienmodellen unerlässlich.
Betreuungsangebote ermöglichen Berufstätigkeit und
sind entscheidend für die Überwindung des Armutsrisikos von Familien und insbesondere Alleinerziehender.
Dass unser Koalitionspartner langsam, aber sicher,
besonders in der Person der Familienministerin, sein Familienbild überarbeitet hat und deutlich mehr Betreuungsangebote fordert, begrüßen wir ausdrücklich.
({5})
Der Vorschlag der SPD zur Realisierung und Finanzierung des Betreuungsausbaus ist finanziell solide und sozial ausgewogen.
({6})
Denn ohne Finanzierungsvorschläge sind alle Ankündigungen einer Ministerin nichts. Deutschland gibt nicht
zu wenig Geld für Familien aus, sondern häufig an den
falschen Stellen. Europäische Nachbarländer setzen ihre
Mittel viel effizienter ein. Die Dänen geben gemessen
am Bruttoinlandsprodukt dreimal so viel für familienbezogene Betreuungsinfrastruktur aus als wir. Das TAG
und ein ausgeweiteter Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung vom ersten Geburtstag bis zum Schuleintritt
werden den Ausbau vorantreiben.
Politik muss auf gesellschaftlichen Wandel reagieren; denn Lebensmodelle und Wünsche haben sich verändert. Es geht uns nicht darum, ein bestimmtes Familienmodell vorzuschreiben. Es geht darum, den
tatsächlichen Bedürfnissen von Eltern und Kindern gerecht zu werden.
({7})
Ich begrüße ausdrücklich, dass wir in der Großen Koalition das gemeinsame Ziel des beschleunigten Betreuungsausbaus verfolgen und auch dass die Oppositionsparteien diese Notwendigkeit generell unterstützen.
Richtungsstreitigkeiten über Familienbilder dürfen dies
nicht behindern. Die SPD hat einen Weg zur Finanzierung aufgezeigt, der die Umsetzung eines beschleunigten Betreuungsausbaus ermöglicht. Wir wollen, dass alle
Ebenen - das ist entscheidend -, Kommunen, Länder
und Bund, die Kräfte bündeln und zusammenarbeiten:
({8})
für unsere Kinder, für unsere Familien und nicht zuletzt
für unsere gemeinsame Zukunft. Auch mit einer CDUMinisterin trägt moderne Familienpolitik die Handschrift der SPD.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({9})
Diana Golze spricht jetzt für Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Frau Ministerin von der
Leyen - sie kann anscheinend nicht persönlich anwesend
sein - für die Debatte der vergangenen zwei Wochen ein
paar Sätze der Bewunderung aussprechen. Ja, sie hat es
geschafft, die Debatte über Kinderbetreuung auf ein
neues Niveau zu heben, das einen Hauch von Selbstverständlichkeit der öffentlich organisierten Tagesbetreuung
in die Alltagsdebatten der Bundesrepublik bringt. Vielleicht hat sie damit auch den längst überfälligen Frühjahrsputz in einer verstaubten Männerwelt angestiftet.
Ich möchte die Ministerin bitten, den Staubwedel nicht
abzusetzen oder gar wegzupacken, sondern ihn endlich
auch den Herren aus ihrer eigenen Partei in die Hand zu
drücken.
({0})
Allen, die immer noch am traditionellen Bild von Familie und Mutterschaft festhalten, sage ich ganz deutlich: Mütter, die nach der Geburt ihres Kindes schnell
wieder in den Beruf einsteigen wollen, tun nichts Verwerfliches, sondern wollen auch nur das Beste für ihr
Kind.
({1})
Wenn wir ihnen weiterhin die Rückkehr in den Beruf erschweren, werden sich noch mehr Frauen gegen Kinder
entscheiden, und Familien mit Kindern wären dann ein
Auslaufmodell.
({2})
- Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, dann schonen Sie
Ihre Stimme.
({3})
Ich zweifle nicht daran, dass Frau von der Leyen sicherlich eine gesellschaftliche Mehrheit für dieses Vorhaben hat. Gerade im Osten der Republik ist trotz aller
Einsparungen der letzten Jahre immer noch ein gutes
Angebot im Hinblick auf die Betreuung von Kindern unter drei Jahren vorhanden. Viele Familien in Westdeutschland wünschen sich solche Möglichkeiten. Die
Gesellschaft folgt also den Plänen der Ministerin. Aber
ich frage mich: auch die Mehrheit ihrer Partei?
Ich fühle mich außerdem bitter an die Debatte über
das Elterngeld erinnert. Auch damals begann alles mit
schönen Reden über Gleichstellung und eine größere Beteiligung der Väter. Herausgekommen ist ein Oberklasseförderprogramm, dessen Rechnung die Erwerbslosen
und die Einkommensschwachen begleichen müssen. Um
Missverständnissen vorzubeugen: Auch die Linke befürwortet ein Elterngeld, aber eines, das sozial gerecht ist
und diesen Namen verdient, weil es für alle Eltern einen
Gewinn darstellt.
({4})
Meine Damen und Herren, die Linke steht ohne Wenn
und Aber für einen konsequenten Ausbau des Angebots
an Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen. Das
sind Orte, an denen soziale Ungleichheit abgebaut werden kann. Die Kinder von Professorinnen bzw. Professoren und Friseurinnen bzw. Friseuren sind auf ihrem späteren Bildungsweg nie wieder so gleichberechtigt wie
bei ihrem gemeinsamen Aufenthalt in der Kindertagesbetreuung. Die Kinderbetreuung erhöht außerdem die
Erwerbsbeteiligungsquote junger Mütter und verhindert
damit Kinderarmut, wie eine Studie der Friedrich-EbertStiftung kürzlich zum Ausdruck gebracht hat. Für die
Finanzierung dieser Infrastruktur, deren Nutzung beitragsfrei sein sollte, muss der Sozialstaat, müssen damit
wir alle auf solidarische Weise einstehen. Hier wird
schließlich in Zukunft investiert.
({5})
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
ich habe gerade vom Sozialstaat und von Solidarität gesprochen - zwei Worte, die Ihnen eigentlich gut vertraut
sein sollten.
({6})
Dass dem so ist, daran zweifle ich allerdings nicht erst
seit diesem Montag, als Sie Ihr Konzept zur Finanzierung der Kindertagesbetreuung vorgelegt haben.
Denn Sie wollen die Kindertagesbetreuung unter anderem durch ein Aussetzen der nächsten Kindergelderhöhung finanzieren.
({7})
Ich nehme zunächst mit Interesse zur Kenntnis, dass
Sie die Notwendigkeit einer Erhöhung nun faktisch anerkennen. Aber ich übersetze Ihre Forderung einmal in
normales Deutsch: Das Kindergeld wurde zuletzt im
Jahr 2000 erhöht. Seitdem hat es aufgrund von Preissteigerungen real 10 Prozent an Wert eingebüßt. Wenn Sie
mit der nächsten Erhöhung nun vielleicht bis zum
Jahr 2013 warten, dann fordern Sie in Wirklichkeit eine
Kürzung des Kindergeldes um 23 Prozent im Vergleich
zum Jahr 2000.
({8})
Von 4 Euro nehmen Sie den Familien 1 Euro weg. Dazu
kann ich nur sagen: ein wahrhaft sozialdemokratisches
Vorhaben.
({9})
Das ist eine fantasielose Umverteilungspolitik auf Kosten der Familien, wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband zu Recht festgestellt hat.
Umverteilung ist ebenfalls ein schönes Wort. Soweit
ich es überblicken kann, sind wir die einzige Fraktion im
Parlament, die eine wirkliche Umverteilung fordert,
({10})
eine Umverteilung, die Kindern, Jugendlichen und Familien zugute kommt. Wir stehen zu der Aussage, dass
ein angemessener Anteil der gesellschaftlichen Ressourcen für Kinder und Jugendliche und ihre Familien zur
Verfügung gestellt werden muss. Das darf aber nicht so
aussehen, dass die Schulkinder aufgrund einer Kindergeldkürzung die Krippenplätze für ihre Geschwister bezahlen. Die notwendigen finanziellen Mittel müssen
vielmehr durch eine konsequente Umverteilung von hohen Einkommen, Gewinnen und Vermögen aufgebracht
werden.
({11})
Denkbar wären zum Beispiel - danach ist gefragt
worden - die Einführung einer Börsenumsatzsteuer,
({12})
die Kappung des Ehegattensplittings oder die stärkere
Beteiligung der Arbeitgeber im Rahmen einer sozialversicherungsbasierten Finanzierung. So schwer ist es nämlich gar nicht, eine sozial gerechte Familienpolitik zu
machen.
Wer eine sozial gerechte Familienpolitik machen will,
der muss bei der Ausgestaltung und bei der Gegenfinanzierung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien auch die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums stellen. Die Grenzen verlaufen
nicht zwischen Eltern und Kinderlosen, auch nicht zwischen Schulkindern und Vorschulkindern, sondern immer noch zwischen Arm und Reich, zwischen oben und
unten. Wer die Verteilungsfrage nicht stellen will, der
sollte von sozial gerechter Familienpolitik schweigen.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat Ekin Deligöz das Wort für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt zwei Sichtweisen auf die heutige Debatte:
Die erste Sichtweise ist, dass die Debatte über das
TAG überflüssig ist. Sie ist dann überflüssig, wenn man
den jüngsten Ankündigungen der Koalition bzw. von
Regierungsmitgliedern glauben darf, die den Medien zu
entnehmen sind. Sowohl die Union als auch die SPD haben ihren festen Willen bekundet, das Betreuungsangebot für unter Dreijährige deutlich auszuweiten. Das
ginge weit über die Ziele des TAG hinaus.
Wahrscheinlicher ist leider die zweite Sichtweise: Alles, was wir in den letzten Tagen und Wochen über den
Ausbau der Kinderbetreuung gehört haben, sind lediglich Absichtserklärungen für die Zukunft. Das mag für
Sie für die Wahlkämpfe vor Ort wichtig sein; noch viel
wichtiger ist es wahrscheinlich für die gesellschaftliche
Selbstverortung der Union. Es ändert aber nichts an der
Lebenswirklichkeit der Kinder und der Eltern.
({0})
Sie von der CDU/CSU führen an diesem Punkt eine ideologische Auseinandersetzung auf dem Rücken der Familien. Sie führen die Koalition mit dieser Debatte familienpolitisch ins Chaos. Deshalb muss man Ihnen sagen:
Kommen Sie endlich in der Lebenswirklichkeit der Familien an!
({1})
Die Lebenswirklichkeit der Familien ist bunt und vielfältig, da gibt es Verheiratete und Nichtverheiratete - auch
wenn Ihnen das nicht passt.
({2})
Zurück zur ersten Sichtweise. Natürlich begrüßen wir
Grüne, dass Sie die Kinderbetreuung für unter Dreijährige ausbauen wollen. Das haben wir als Grüne hier im
Bundestag schon vor einem Jahr gefordert. Wir haben
ein Konzept dafür vorgelegt, das durchgerechnet und realisierbar ist. Unser Konzept war Ihnen kein Wort wert;
doch mit Ihrer Ablehnung waren Sie sehr schnell.
Man muss eines festhalten: Bei all den Debatten haben Sie einen riesigen Eiertanz aufgeführt. Sei es beim
Elterngeld, sei es beim Zwölften Kinder- und Jugendbericht, sei es beim Siebten Familienbericht, überall haben
Sie sich um die Debatte über Kinderbetreuung herumgedrückt. Das muss man hier festhalten, umso mehr, als Sie
plötzlich davon reden, dass man mehr Kinderbetreuungsplätze schaffen muss. Plötzlich erklärt sogar Herr
Singhammer: Wer A sagt, muss auch B sagen - wer Elterngeld einführt, muss auch Kinderbetreuungsplätze anbieten.
({3})
Natürlich kann man sagen: Besser spät als gar nicht. Guten Morgen, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU - auch späte Erkenntnis ist eine Erkenntnis! Aber
wenn Sie so etwas erklären, sind Sie natürlich in der
Pflicht, Klarheit zu schaffen. Im Mittelpunkt dieser Klarheit steht die Finanzierung. Da wundert man sich schon,
was Sie tun: Sie lehnen alle vorhandenen Finanzierungsvorschläge ab. Ihre eigenen Vorschläge sind nicht
neu, sie sind abenteuerlich und beruhen auf Milchmädchenrechnungen, die Sie selber nicht nachvollziehen
können. Sie verweisen auf eine nicht abgeschlossene sogenannte Überprüfung der Familienförderung, an deren
Ende - das sagt sogar die Kanzlerin Merkel - eine Umschichtung von Familienmitteln stehen soll. Allen anderen, die eine Umschichtung vorschlagen, werfen Sie dagegen vor, eine Geister- und Gespensterdebatte zu
führen. Als Sahnehäubchen sagen Sie, dass Sie alles
wollen: Sie wollen den Ausbau der Betreuung, Sie wollen Transfers, Sie wollen ein Familiensplitting. Sie sagen
aber nicht, woher das Geld dafür kommen soll.
Vor allem aber übersehen Sie sämtliche Ergebnisse
der Familiendebatten der vergangenen Wochen. Insbesondere ein Blick in den Siebten Familienbericht würde
sich für Sie lohnen. In ihm steht nämlich, dass unser
Familienfördersystem bereits sehr transferlastig ist und
einseitig darauf beruht, das Zuhausebleiben der Mütter
zu fördern.
({4})
Dieses Ergebnis können Sie nicht einfach wegreden, Sie
müssen sich damit auseinandersetzen. Wer echte Wahlfreiheit will, der muss die entsprechende Infrastruktur
bereitstellen; dort haben wir die größten Defizite. Wer
für echte Wahlfreiheit stehen will, der darf keine Ideologiedebatten führen, sondern muss sich zu den Realitäten
bekennen.
({5})
Zu dem Kompetenzzentrum, über das Sie reden. Ich
glaube, Sie nehmen das Kompetenzzentrum, das die
CDU/CSU bzw. das Familienministerium eingerichtet
hat, selber nicht ernst.
({6})
Würden Sie es nämlich selber ernst nehmen, dann würden Sie die Ergebnisse der angesprochenen Überprüfung
abwarten. Doch was tun Sie? Sie kündigen jetzt ein Familiensplitting an. Was bringt ein Familiensplitting, das
rein auf dem Steuersystem beruht? Es führt nur dazu,
dass die Besserverdienenden bessergestellt werden.
Über die Themen, über die wir hier eigentlich reden
sollten, schweigen Sie sich aus: Kinderarmut ist für
diese Koalition kein Thema mehr, keiner von Ihnen redet
darüber, und Sie haben auch keine Konzepte dagegen.
({7})
Das Gleiche ist bei der Chancengerechtigkeit festzustellen. Dabei wissen wir, dass Förderung so früh wie möglich beginnen muss. Auch das ist kein Thema für Sie.
Das Einzige, was Sie von der CDU/CSU und von der
Koalition im Moment betreiben, ist ein Durcheinander
und ein Gegeneinander, aber ganz sicher kein Kampf für
die Rechte der Familien - von einem familienpolitischen
Durchbruch kann erst recht keine Rede sein.
({8})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hermann Kues.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es sehr wohltuend, dass wir heute Nachmittag
relativ entspannt und sachlich über Familienpolitik diskutieren, weil ich der festen Überzeugung bin, dass wir
einen öffentlichen Konsens über längere Zeit benötigen,
was das Bedingungsgefüge angeht, unter dem man in einer modernen Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft mit
anderen Lebensgewohnheiten Familie mit Kindern leben
kann. Insofern hoffe ich sehr, dass uns die Opposition in
dem einen oder anderen Punkt zustimmt. Denn wir brauchen den öffentlichen Konsens über längere Zeit. Wenn
wir das hinbekommen, dann ist das ein Riesenerfolg der
Großen Koalition.
({0})
Kein politisches Feld ist so nachhaltig wie die
Familienpolitik. Familienpolitik muss auf Jahre oder
sogar Jahrzehnte angelegt sein. Das hat etwas mit der
Langzeitverantwortung und der Verantwortung der Eltern und der Gesellschaft zu tun. Wir müssen uns darüber verständigen, welche Bedeutung frühkindliche Bildung haben soll. Deswegen ist es, glaube ich, eine sehr
positive Entwicklung, dass Bewegung in die Familienpolitik gekommen ist. Darüber lohnt sich auch der Streit.
Denn heute ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Beides setzt
sehr bewusste Entscheidungen voraus.
Aufgabe des Staates bzw. der Politik ist es, unterstützende Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Familie in der modernen Welt lebbar wird. Wir müssen für
die nächste Generation potenzieller Väter und Mütter die
notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, damit sie
die Chance haben, ihre Vorstellungen von Familienleben, Arbeit und der Art und Weise, in der sie die Kinder
aufziehen möchten, zu realisieren. Deshalb brauchen wir
entsprechende Wahlmöglichkeiten nicht in der Theorie,
sondern in der Realität.
({1})
Wahlmöglichkeit heißt auch, dass wir jedem Lebensmodell Respekt entgegenbringen. Deswegen sollten wir
aufhören, jungen Müttern, die zu Hause bleiben und ihre
Kinder zumindest zeitweise betreuen möchten, gegen
berufstätige Mütter auszuspielen. Es geht nicht um ein
Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Wir
sollten uns über alle freuen, die sich heute entscheiden,
Kinder aufzuziehen, statt nur darüber zu reden.
({2})
Wenn nämlich Betreuungsmöglichkeiten fehlen, dann
führt das unvermeidlich in Richtung der meines Erachtens gefährlichen Alternative, entweder Mutter bzw. Vater zu sein oder einem Beruf nachzugehen. Diese Alternative führt in die Sackgasse, in der wir uns seit einigen
Jahrzehnten befinden. Insofern steht und fällt mit einer
qualitativ und quantitativ guten Kindertagesbetreuung
die Glaubwürdigkeit unserer Politik für Kinder und Familien.
({3})
Ich sage ausdrücklich, dass das Angebot sowohl
quantitativ als auch qualitativ gut sein muss. Dabei ist
aber nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft
gefordert. Notwendig ist mehr Rücksichtnahme auf die
Belange von Familien. Bei einigen Betrieben ist das
schon Teil der Unternehmensstrategie. Wenn es aber in
der Wirklichkeit der Arbeitswelt nach wie vor vorkommt, dass junge Frauen oder Männer, die beim Vorstellungsgespräch zu erkennen geben, dass sie heiraten
und womöglich auch Kinder haben möchten, keine
Chance bekommen, dann dürfen wir uns über bestimmte
Entwicklungen in Deutschland nicht wundern.
({4})
- Daran ist nicht in erster Linie die Politik schuld, Frau
Lenke. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen.
Wir alle sind gefordert. Wir sind als Private gefordert,
aber die Wirtschaft ist ebenfalls gefordert. Es gibt Handlungsbedarf. Die Politik muss ihre Aufgaben erfüllen
- dazu habe ich einiges ausgeführt -; dazu gehört ein
quantitativ und qualitativ gutes Betreuungsangebot. Das
gilt in besonderem Maße für die Kinder, die auf Integration angewiesen sind und die gefördert werden sollen.
Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Wege sind, wenn
wir sagen: Der Staat - Bund, Länder und Kommunen hat Verantwortung, aber auch die Wirtschaft und die Privaten sind gefordert.
Herr Kues, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gruß zulassen?
Gern.
Bitte schön, Frau Gruß.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Aussage
des Parlamentarischen Geschäftsführers Röttgen, der
Ausbau der Kinderbetreuungsplätze sei Sache der Länder; schließlich finanzierten die Länder auch nicht den
Verteidigungshaushalt mit?
Ich finde es zwar sehr schön, dass Sie die Qualität der
Kinderbetreuungsplätze verbessern wollen. Ich halte das
in der Tat für sehr wichtig. Ich denke, darüber herrscht
hier im Bundestag Einigkeit. Aber nennen Sie uns bitte
die konkreten Zahlen, was den qualitativen Ausbau anbelangt, und sagen Sie uns, wie Sie das finanzieren wollen.
Was die Aussage des Kollegen Röttgen angeht: Ich
teile ausdrücklich die Auffassung, dass es im Zuge der
Föderalismusreform Entscheidungen gegeben hat, nach
denen Zuständigkeiten an die Länder gegangen sind, und
zwar - darauf muss deutlich hingewiesen werden - mit
einem entsprechenden Anteil am Mehrwertsteueraufkommen. Aber das ändert nichts daran, dass nach Art. 74
des Grundgesetzes der Bund für die Gesamtentwicklung
in unserem Land verantwortlich ist. Insofern muss die
Bundesfamilienministerin eine Antwort auf die Frage
nach der frühkindlichen Erziehung - von deren großer
Bedeutung ich überzeugt bin - auf Bundesebene finden.
Was war noch einmal der zweite Punkt?
Der qualitative Ausbau bedarf ebenfalls eines gewissen Budgets, und zwar eines höheren als bislang.
Das ist völlig richtig. Ich glaube, wir müssen viel stärker sehen, dass wir zu einem altersgerechten Angebot
kommen. Der Kollege Laschet aus Nordrhein-Westfalen
hat vorgeschlagen, die Betreuungsschlüssel je nach Altersgruppe und nach Zusammensetzung der Gruppe, die
betreut wird, zu ändern. Das geht in die richtige Richtung. Wir müssen auch den vorschulischen Bereich nutzen, um zum Beispiel die Freude am Lernen bei Kindern
zu wecken; das ist ein wichtiger Punkt. Insofern ist der
vorschulische Bereich eine Brücke in den Grundschulbereich; darauf kommt es an. Hier brauchen wir noch andere Formen der Vernetzung. Insofern ist das vom Ansatz her völlig richtig.
Herr Kollege, auch Frau Haßelmann möchte Ihnen
gerne eine Frage stellen.
Gerne.
Bitte schön, Frau Haßelmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben im Eingangsstatement
Ihrer Rede hervorgehoben, wie wichtig ein breiter gesellschaftlicher Konsens in der Frage einer zukunftsfähigen Familienpolitik und bei einem Bild vom Zusammenleben von Frauen und Männern ist. Mich interessiert,
wie Sie die unerträglichen Äußerungen des Bischofs
Mixa beurteilen,
({0})
der Frauen sozusagen zu Gebärmaschinen degradiert.
Auch wenn es jetzt ein bisschen Unruhe innerhalb der
CDU/CSU gibt: Mir ist es wichtig, zu erfahren, wie Sie,
der Sie die Bundesregierung vertreten und betont haben,
welche wichtige Funktion die gesellschaftlichen Gruppen - dazu gehören bislang auch die Kirchen - haben,
das beurteilen.
Über die Äußerungen des Erzbischofs Mixa ist ausreichend gesprochen worden. Die Bundeskanzlerin hat
gesagt, dass sie seine Auffassung nicht teilt. Ich teile sie
ebenfalls nicht und habe das in einigen Interviews ergänzend erläutert. Das möchte ich hier nicht wiederholen.
Nur so viel: Die Äußerungen des Erzbischofs sind eine
völlige Fehleinschätzung. Es wurden Aussagen getroffen, die nicht passen und absolut unangemessen sind;
das betone ich ausdrücklich.
({0})
Ich sage Ihnen aber auch: Die Kirchen haben über
viele Jahrzehnte - das tun sie heute noch - Leistungen
im gesamten vorschulischen Bereich erbracht, und das
zu einem Zeitpunkt, als sich viele noch gar nicht mit Fragen nach der frühkindlichen Bildung und der Erziehungsverantwortung beschäftigt haben. Gerade die
christlichen Kirchen in Deutschland haben in den vergangenen Jahrzehnten Hervorragendes geleistet. Dafür
bin ich ausdrücklich dankbar.
({1})
Es wurde mehrfach nachgefragt, wie wir uns die weitere Finanzierung vorstellen. Ich finde es gut, dass wir
heute schon über die Qualität gesprochen haben. Ich
sage ausdrücklich: Die Qualität muss besser werden.
Dazu werden wir verschiedene Programme auf den Weg
bringen. Das haben wir schon getan, und das werden wir
weiterhin tun. Wir werden darüber reden müssen, wie
wir einen gemeinsamen Weg finden. Die Bundesfamilienministerin hat am Montag eine Sonderkonferenz der
Jugend- und Familienminister angeregt. Es werden auch
Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden geführt. Die werden bereits abgestimmt. Wir wollen einen
freiwilligen Pakt von Bund, Ländern und Kommunen,
der beschreibt, wie die ehrgeizigen Ausbauziele umgesetzt werden sollen. Ich sage Ihnen ausdrücklich, weil
auch das angesprochen wurde: Das Kompetenzzentrum
für familienorientierte Leistungen im Ministerium wird
so schnell, wie es eben geht, tragfähige und auch sozial
ausgewogene Vorschläge entwerfen, auf welchem Weg
Bund, Länder und Kommunen den notwendigen Ausbau
unterstützen können. Wenn wir über Finanzierung reden
und wenn wir vor allen Dingen wissen, dass die unterschiedlichen Ebenen einbezogen werden, dann helfen
Schnellschüsse überhaupt nicht weiter. Man braucht
vielmehr eine gewisse Beharrlichkeit. Wir werden uns
hinsetzen und vernünftige Vorschläge unterbreiten.
({2})
Ich meine, dass die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft letztlich davon abhängig ist, dass wir unser Bildungs- und Erziehungssystem nachhaltig positiv fortentwickeln. In diesem Zusammenhang hat die
Kinderbetreuung quantitativ wie qualitativ für die Bundesregierung höchste Priorität. Wir bekennen uns zu einer aktiven Familienpolitik, und wir sagen Ja zu den
Kindern. Aber wir wollen das gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren, mit Bund, Ländern und Gemeinden, mit Eltern, mit der Wirtschaft und mit den Tarifvertragsparteien, machen, damit so eine neue Struktur für
die Finanzierung einer nachhaltigen Kinder- und Familienpolitik entsteht. Ich sage tatsächlich: Kinderlärm ist
Zukunftsmusik. Diese Zukunftsmusik brauchen wir viel
stärker in unseren Städten und Gemeinden.
Herzlichen Dank.
({3})
Zum Abschluss der Debatte erteile ich der Kollegin
Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was mich wirklich freut, ist, dass über alle Fraktionen
hinweg heute eines zu merken war, nämlich dass es Ziele
gibt, die uns einen, zum Beispiel dass Kinder und Eltern
Sicherheit brauchen. Ganz besonders wichtig ist - das
darf im Rahmen dieser Debatte nicht vergessen werden -,
dass Kinder ein Umfeld haben, in dem sie sich gut entwickeln können. Das kann beides sein, Familie und
Kindertagesbetreuung. Es gibt überhaupt keinen
Grund für ein Entweder-oder. Das ist völlig blödsinnig.
({0})
Ich habe mir während der Debatte der letzten Tage, in
der entweder das eine oder das andere betont wurde und
in der es auch manche Unterstellungen gab, überlegt,
dass sich so manche reale Familie erstaunt die Augen gerieben und gefragt haben mag: Über was diskutieren die
da eigentlich?
({1})
Es ist nämlich manchmal der Eindruck entstanden, als
würden die, die sich für eine bessere Kinderbetreuung
aussprechen, damit meinen, dass dann die Familie nicht
mehr da ist. Aber das ist doch nicht die Realität. Die Realität ist, dass Kinder in Familien aufwachsen, in denen
sie Verlässlichkeit, Geborgenheit und Anregung für ihre
Entwicklung finden, aber Teile des Tages in die Kindertagesbetreuung gehen. Das ist die Realität, die die Menschen erleben, nämlich dass es nicht zwei Arten von Familien gibt, sondern dass so etwas bei einer Familie
zusammenkommt. Ich finde, darauf müssen wir in der
Debatte stärker hinweisen.
({2})
Erstaunt über die Debatte in den letzten Wochen mögen aber auch Familienväter und -mütter gewesen sein,
die bei der Suche nach einem guten Betreuungsplatz für
ihr Kind unter drei Jahren auf der Warteliste stehen. Ich
glaube, diese Menschen erleben sehr genau, dass es von
uns einiges politisches Handeln verlangt, bis der Begriff
Wahlfreiheit tatsächlich Wirklichkeit wird. Wir sind
verpflichtet, uns da ein Stück zu bewegen.
({3})
Deshalb lohnt sich der Blick - das sollten wir in der
heutigen Debatte eigentlich machen - auf die momentane Betreuungssituation. Die Betreuungssituation hat
sich nach dem Bericht, der heute vorliegt, bei den unter
Dreijährigen etwas gebessert. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die letzte Bundesregierung das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht hat.
Ich will auch in diesem Zusammenhang noch einmal
etwas zur Frage der Gesetzgebungskompetenz sagen.
Dieses Gesetz haben wir damals verabschiedet, weil wir
die Kompetenz hatten, im Sozialgesetzbuch VIII - Kinder- und Jugendhilferecht - etwas zu verändern. In dieser Debatte nervt mich wirklich, dass immer wieder behauptet wird, diese Kompetenz sei als ein Ergebnis der
Föderalismusreform I bei uns weggefallen und jetzt ausschließlich bei den Ländern angesiedelt. Es ist nicht so!
Das Kinder- und Jugendhilferecht gehört - Stichwort
„Erforderlichkeitsklausel“ - zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes.
({4})
Wem können wir diese Aufgaben übertragen? Wir
können sie den Kommunen zwar nicht mehr direkt übertragen; aber der Bund kann seine Gesetzgebungskompetenz auf anderen Wegen weiterhin wahrnehmen. Es ist
mir wichtig, darauf hinzuweisen. Ich habe es nämlich
satt, dass immer wieder versucht wird, die föderalen
Ebenen gegeneinander auszuspielen. Bei uns gibt es immer noch die Möglichkeit, auf diesem Gebiet der Gesetzgebung zusammenzuarbeiten. Das sollten wir zur
Kenntnis nehmen und nutzen.
({5})
Aus dem Bericht, über den wir heute debattieren,
kann man mehrere Konsequenzen ziehen:
Erstes Fazit. Wir kommen ein Stück voran, und das ist
auf das TAG zurückzuführen.
Zweites Fazit. Gerade nach der Einführung des Elterngeldes steht fest: Wir brauchen einen schnellen Ausbau. Leider sind wir von den Standards anderer europäischer Länder immer noch sehr weit entfernt.
Drittes Fazit. Es gibt - das ist sehr deutlich zu merken außerordentlich große Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern. Auch das ist etwas, was ich
für falsch halte. Ich will das mit einer Frage erläutern:
Gibt es eine Rechtfertigung dafür, dass die Kinder in
Deutschland unter so unterschiedlichen Bedingungen
aufwachsen? Ich finde, dass es dafür keine Rechtfertigung gibt.
Ich möchte deshalb noch ein paar Zahlen nennen. In
Deutschland gibt es zur Betreuung von unter Dreijährigen im Durchschnitt 13,5 Plätze für 100 Kinder. Im Stu8282
dium habe ich aber gelernt: Wenn die eine Hand im kalten Wasser ist und die andere im heißen Wasser, dann
ergibt das noch keinen guten Durchschnitt. Wir müssen
sehen: In Sachsen-Anhalt gibt es ein solches Angebot für
über 50 Prozent der Kinder, in Berlin und Brandenburg
für etwa 40 Prozent. In Niedersachsen gibt es dieses Angebot hingegen nur für 5,1 Prozent der Kinder - das ist
bei weitem noch nicht ausreichend; Herr Kues, es tut mir
leid, das sagen zu müssen -; in Bayern sind es
6,9 Prozent und in Baden-Württemberg 8,8 Prozent. Das
sind für Kinder und Eltern in Deutschland keine gleichen
Lebensbedingungen. Darauf möchte ich ausdrücklich
noch einmal hinweisen.
({6})
Es ist richtig, über dieses Thema eine öffentliche Debatte zu führen. Das ist im Sinne der Familien. Ich
glaube auch, dass es legitim ist, eine Zeit lang intern zu
debattieren, welche Wege der Finanzierung es gibt.
Herr Singhammer, beim Ehegattensplitting geht es
nicht um Modelle, die vorsehen, die Belastung von Ehepaaren davon abhängig zu machen, ob sie Kinder haben
oder nicht. Vielmehr können wir es sehr wohl so steuern,
dass die Zurückführung erst bei einem relativ hohen Einkommen greift. Das halte ich in diesem Fall auch für
richtig.
({7})
Ich habe gesagt: Es ist im Sinne der Familien, darüber
zu debattieren. Es wäre allerdings fatal, wenn diese Debatte nicht dazu führte, dass wir zum Schluss tatsächlich
politisch handeln. Nur dann wird es im Sinne der Familien zu einer guten Lösung kommen. Wir Sozialdemokraten haben einen Vorschlag vorgelegt, wie wir zu einer
Lösung kommen. Wir haben Instrumente aufgezeigt,
über die man diskutieren kann. Dafür sind wir offen. Nur
müssen wir das Ziel, eine gute, qualitativ hochwertige
Kinderbetreuung in ausreichendem Umfang, am Ende
dieser Legislaturperiode gemeinsam erreicht haben. Wir
sollten uns darin einig sein.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2250 und 16/4412 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/4443 soll an dieselben Ausschüsse wie
die Vorlage auf Drucksache 16/2250 überwiesen werden. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schäffler, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bauabzugssteuer abschaffen
- Drucksache 16/3055 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Hierzu haben die Fraktionen miteinander eine halbe
Stunde Aussprache verabredet. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank Schäffler für die FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der vorliegende Antrag gibt Ihnen von der
Union und von der SPD Gelegenheit, Farbe zu bekennen.
Sie können zeigen, ob Sie es mit dem Bürokratieabbau
wirklich ernst meinen und endlich damit anfangen.
Morgen früh debattieren wir hier über den Entwurf
eines Zweiten Gesetzes zum Abbau bürokratischer
Hemmnisse in der mittelständischen Wirtschaft. Von der
Abschaffung der Bauabzugsteuer ist darin leider keine
Rede. Meine Damen und Herren, Ihr Wappentier beim
Bürokratieabbau ist eine Schnecke.
({0})
Zu den Fakten: Als die Bauabzugsteuer zum
1. Januar 2002 eingeführt wurde, war das Ziel die
Bekämpfung der Schwarzarbeit.
({1})
Der Gesetzentwurf hieß ja auch: Entwurf eines Gesetzes
zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe.
Nun ist seit einiger Zeit klar, dass die Bauabzugsteuer
dieses Ziel nicht erreicht hat, sondern dass der Wettbewerb beschränkt wurde. Dies hat der Bundesrechnungshof ebenso festgestellt wie die Prognos AG im
Auftrag des Bundesfinanzministeriums.
Laut Bundesrechnungshof hat die Bauabzugsteuer die
Besteuerungssituation nicht verbessert: Das liege unter
anderem daran, dass die Finanzämter in mehr als
95 Prozent aller Fälle eine Freistellungsbescheinigung
erteilt haben. - Bei deutschen Unternehmen ist dies sogar
in 99 Prozent der Fälle geschehen. - Die Finanzämter
seien mit denselben Schwierigkeiten und Problemen bei der
steuerlichen Erfassung konfrontiert wie vor Einführung der
Bauabzugsteuer.
Aber auch die Bundessteuerberaterkammer hat sich
zur Bauabzugsteuer geäußert und festgestellt - Zitat -:
Es ist kein messbarer Gesamtnutzen erkennbar.
Damit steht fest, dass Ihr Gesetz das Ziel verfehlt.
Wenn ein Gesetz sein Ziel verfehlt, dann muss man es
wieder aufheben.
({2})
Aber es ist nicht so, dass Sie seitens der Koalitionsfraktionen dies nicht erkannt hätten. Wenn es um Bürokratieabbau geht, sind Sie, solange es abstrakt bleibt,
sehr schnell. Im April letzten Jahres titelte die „FAZ“:
Regierung entlastet Kleinbetriebe von Bürokratie
Ich zitiere aus dem Artikel:
Auch die von der Bauwirtschaft lange geforderte
Abschaffung der Bauabzugssteuer soll ... geprüft
werden.
Das war also vor fast einem Jahr.
Aber der Erkenntnisgewinn schreitet voran. Der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand der Union,
der geschätzte Kollege Fuchs, sagte im Januar dieses
Jahres, die Bauabzugsteuer sei ein großes bürokratisches
Hemmnis; nur weil es einige schwarze Schafe gebe,
dürfe man nicht die gesamte Bauwirtschaft mit 850 000
Freistellungsanträgen belasten. Recht hat er!
({3})
Das Mittelstandsinstitut hat festgestellt, dass die Bauabzugsteuer 15,9 Millionen Euro Bürokratiekosten verursacht.
Doch was passiert? Sie legen einen Gesetzentwurf
zum Abbau bürokratischer Hemmnisse vor und sagen
zum Thema Bauabzugsteuer kein Wort. Dabei ist die
Bürokratie offensichtlich. Es gibt vier Formulare mit bis
zu 148 Hinweisfeldern, um ein Gesetz zu erfüllen, das
seinen Zweck nicht erfüllt. Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie reden gern über Bürokratieabbau, aber Sie tun nicht genug.
({4})
Es ist schon beeindruckend, dass die Bundeskanzlerin
vor einigen Wochen beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos
und im Europäischen Parlament, aber auch heute Morgen
vehement ein Abbauziel bei den Bürokratiekosten in
Europa gefordert hat, ihre eigene Bundesregierung jedoch
erst in dieser Woche ein eigenes Abbauziel festgelegt
hat. Das ist der Unterschied zwischen den Ankündigungen und der Praxis ihrer Regierung. Aber auch Minister
Glos selbst - ich sehe, er ist bei dieser, wie ich finde,
wichtigen Debatte nicht anwesend - muss sich das vorhalten lassen. Was nützt es, wenn er als Ankündigungsminister gegen die Bauabzugsteuer wettert, sich aber im
Kabinett nicht durchsetzt?
Liebe Kollegen von der Union, setzen Sie sich endlich
im Kampf gegen Bürokratie durch und schaffen Sie
diese unsinnige Bauabzugsteuer ab! Dann werden Sie
für den Mittelstand in Deutschland wieder glaubwürdig.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Wenn wir heute mit Firmeninhabern, Unternehmerinnen und Unternehmern sprechen, bekommen
wir zu hören, dass die Bürokratie für viele in der Tat die
größte Belastung ist. Nicht die zu hohen Steuersätze,
nicht die zu hohen Lohnnebenkosten, sondern die zu
große Bürokratie steht oft an erster Stelle der Störfaktoren
unserer Wirtschaft. Das gilt gerade für den Mittelstand.
Der Abbau bürokratischer Hemmnisse ist deswegen
unbestritten eine zentrale Aufgabe in unserem Land.
({0})
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass auch ich
2002 im Wahlkampf gegen die Bauabzugsteuer gewettert
habe: Ich habe darüber geschimpft und sie als ein Bürokratiemonster, als ein untaugliches Instrument bezeichnet.
Manchmal werden die Dinge aber nicht so heiß gegessen,
wie sie zunächst gekocht wurden.
({1})
Wenn man heute mit Vertretern der von dieser Steuer
betroffenen Branche, mit den Bauunternehmern, spricht,
erfährt man erstaunlicherweise, dass die Regelungen zur
Bauabzugsteuer überwiegend positiv bewertet werden.
Vor der Einführung des Steuerabzugs wurden deutsche
Bauunternehmen häufig im Rahmen von Betriebsprüfungen gezielt auf die Beschäftigung ausländischer
Nachunternehmer geprüft. Konnte der Nachweis der
Existenz des Nachunternehmers, des Subunternehmers,
gegenüber der Steuerbehörde nicht eindeutig erbracht
werden, ging die Finanzverwaltung davon aus, dass es
sich um eine sogenannte Scheinfirma handelt. Dies hatte
zur Folge, dass den deutschen Hauptunternehmern sowohl
der Betriebsausgabenabzug als auch der Vorsteuerabzug
versagt wurden; zu guter Letzt wurde auch noch die
Lohnsteuer der Nachunternehmer vom Hauptunternehmer
eingefordert.
Um der Finanzverwaltung die Existenz eines beauftragten Subunternehmers unzweifelhaft nachzuweisen,
wurde den Bauunternehmen ein umfangreicher Katalog
von beizubringenden Nachweisen auferlegt. Im Regelfall
bedeutete das für die Bauunternehmer, dass sie Folgendes beibringen mussten: den Handelsregisterauszug, die
Eintragung in der Handwerksrolle, die Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Finanzverwaltung, der Krankenkasse
und der Berufsgenossenschaft sowie häufig auch noch die
Kopie des Personalausweises des Geschäftsführers des
Nachunternehmens.
({2})
Es ist für die Betroffenen ein nicht unerheblicher Aufwand gewesen, diese Nachweise beizubringen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der FDP, die Union stellt sich der Forderung nach Bürokratieabbau sicherlich nicht entgegen. In
diesem Fall stellt sich die Realität aber wie folgt dar: Vor
der Einführung der Bauabzugsteuer hatten viele Bauunternehmen eine erhebliche Menge Papierkram zu erledigen,
um die geforderten Nachweise, die ich vorhin genannt
habe, gegenüber der Finanzverwaltung zu erbringen. Mit
der Einführung der Bauabzugssteuer hat sich - zumindest nach Angaben der Vertreter der Bauindustrie und
des Baugewerbes - dieser enorme Verwaltungsaufwand
merklich reduziert.
Es mag sein, dass ein geringerer Verwaltungsaufwand vonseiten der Finanzverwaltung denkbar ist.
Wenn man sich aber noch einmal vor Augen führt, welche
Unterlagen vor Einführung der Bauabzugsteuer von den
Finanzbehörden zu prüfen waren, dann kann man,
glaube ich, nicht davon sprechen, dass es mit der derzeitigen Regelung zu einem Mehr an Bürokratie gekommen
ist. Das belegen auch die Aussagen von Vertretern der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, die sagen: Durch die
Bauabzugsteuer ist nicht wirklich eine spürbare Mehrbelastung für die Finanzämter entstanden; bei der Prüfung
treten für die Finanzbeamten keine sonderlich schwierigen
Probleme auf.
Ähnliche Auskünfte habe zumindest ich aus dem
Kreis der Steuerberater erhalten. In der Regel sind es ja
die Steuerberater, die die Anträge auf Freistellungsbescheinigung für die Unternehmen, für ihre Mandanten,
stellen. Diese Freistellungsbescheinigung erhält man auf
einen formlosen Antrag hin, der ohne großen Aufwand
zu fertigen ist.
({3})
Zugegeben: Für die Bauherren ist ein Verwaltungsaufwand entstanden. Sie müssen sich die Freistellungsbescheinigungen vorlegen lassen und gegebenenfalls
auch die Echtheit dieser Zertifikate prüfen. Dieser Aufwand - mein Gott - hält sich aber sicherlich in zumutbaren
Grenzen; denn man muss ja bedenken, dass es bei der
Bauabzugsteuer gerade auch um die Eindämmung von
Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun
frage ich Sie, ob Sie es mit Ihrem Antrag wirklich billigend
in Kauf nehmen wollen, dass sich der Korridor für
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung wieder weiter
öffnet. Ich bin davon überzeugt, dass das von Ihnen nicht
gewollt sein kann.
({4})
Bezüglich der Wirksamkeit der Bauabzugsteuer können Sie sicherlich verschiedene Argumente vorbringen.
Auch wir können das. Die Sache ist noch nicht zu Ende
evaluiert. Es liegt aber zumindest ein Gutachten der
Prognos AG vor, in dem der Steuerabzug für Bauleistungen insgesamt positiv bewertet wird: Der Steuerabzug führt
dazu, dass illegale Unternehmen vom Markt verdrängt
werden, es entsteht ein erheblicher Informationsgewinn
für die Finanzverwaltung, die Zahl der ausländischen
Unternehmer, die bei den Finanzämtern vorstellig werden,
hat sich beträchtlich erhöht, wodurch zusätzliche Steuern
und Sozialabgaben eingenommen werden, und bei den
inländischen Unternehmen hat sich die Erfüllung der
steuerlichen Pflichten verbessert.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schäffler zulassen?
({0})
Gerne.
Bitte schön, Herr Schäffler.
Der Kollege Dautzenberg sagte: „Wenn es der Sache
dient!“ Ich versuche das.
Sie haben das Prognos-Gutachten zitiert. Deswegen
will ich auch daraus zitieren und Sie fragen, ob Sie der
Aussage zustimmen und ob Sie das Prognos-Gutachten
an der Stelle kennen. Auf Seite 86 steht unter dem Punkt
„Veränderung der Höhe der Schwarzarbeit“:
Das Hauptergebnis dieser Befragung ist eindeutig:
76 % der befragten Unternehmen stellen fest, dass
das Gesetz zum Steuerabzug bei Bauleistungen keinen Effekt auf die Schwarzarbeit hat.
Es ist richtig, dass wir diesen ganzen Prozess noch
nicht vollständig evaluiert haben. Trotzdem gehen wir
davon aus - wenn dies im Moment vielleicht auch nicht
direkt messbar ist -, dass sich bei der Bekämpfung von
Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ein positiver
Effekt ergeben hat.
Ich sage gar nicht, dass das hier der Idealfall ist, aber
wenn wir dieses Gesetz abschaffen, dann müssen wir
eine Alternative bieten. Die haben Sie bisher auch noch
nicht vorgelegt. Lassen Sie uns deswegen die ganze Sache
in Ruhe evaluieren. Wir tun das. Ich komme nachher
noch darauf zurück. Spätestens Ende 2007 werden die
Ergebnisse vorliegen. Dann können wir uns gerne
zusammensetzen und eine bessere Regelung für diesen
Bereich finden.
({0})
Im Übrigen: Die Feststellung des Bundesrechnungshofes, die Sie in Ihrem Antrag als Argument heranziehen,
dass die Finanzämter diese Freistellungsbescheinigung
in mehr als 95 Prozent aller Fälle erteilen, kann ja nicht
wirklich als Argument gegen die Wirksamkeit der geltenden Rechtslage herhalten; denn diejenigen Firmen,
die wissen, dass sie aufgrund ihres Fehlverhaltens gar
keine Chance haben, eine Freistellungsbescheinigung zu
bekommen, stellen erst gar keinen Antrag.
({1})
Diejenigen, die von vornherein wissen, dass sie diese
Bescheinigung nicht erhalten, gehen erst gar nicht dorthin.
Sie haben also keine Freistellungsbescheinigung. Daher
werden durch die Einführung des Steuerabzugs zahlreiche
unseriöse Firmen von der Teilnahme am Marktgeschehen
abgehalten.
({2})
Das ist aus meiner Sicht ein begrüßenswerter Bereinigungsprozess. Dies wird übrigens auch im Prognos-Gutachten
festgestellt.
Dennoch will die Bundesregierung den Steuerabzug bei
Bauleistungen im Rahmen des Programms „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ erneut evaluieren. Das
gestehe ich Ihnen gerne zu. Anschließend, nach dieser
Evaluierung, werden wir über den Fortbestand dieser
Bauabzugsteuer zu entscheiden haben. Entsprechende
Ergebnisse werden für das zweite Halbjahr 2007 erwartet.
Schon allein aufgrund dieses momentanen Sachstandes
ist der Antrag der FDP abzulehnen.
In jedem Fall ist es sinnvoll, zunächst die Ergebnisse
der aktuellen Evaluierung abzuwarten. Sodann wird sehr
genau zu prüfen sein, ob die Bauabzugsteuer, die seinerzeit ja auf Verlangen der Länder eingeführt wurde, tatsächlich abgeschafft werden soll.
({3})
Ende des Jahres werden wir alle diesbezüglich schlauer
sein.
Im Übrigen stehen wir als Koalitionsfraktionen bei
den Bemühungen um Entbürokratisierung auf Ihrer
Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Das
will ich Ihnen noch einmal versichern. Darauf können
Sie sich verlassen.
({4})
Dank der Einrichtung des unabhängigen Normenkontrollrates zum Abbau der Bürokratie - Sie haben es vorhin angesprochen - wird es in Zukunft wirklich zu einer
nennenswerten Entlastung von bürokratischen Hemmnissen in Deutschland kommen.
({5})
Wir bemühen uns ernsthaft um eine Verbesserung der
Standortqualitäten von Deutschland. Davon - auch das
haben Sie eben schon erwähnt - dürfen Sie sich gerne
morgen früh bei der Debatte über das Gesetz zum Abbau
bürokratischer Hemmnisse in der mittelständischen
Wirtschaft überzeugen. In diesem Rahmen werden wir
noch einmal klarmachen, wie wichtig uns Bürokratieabbau ist. Heute müssen wir Ihren Antrag leider ablehnen.
So viel von mir.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Einführung der Bauabzugsteuer vor fünf Jahren war
die berechtigte Hoffnung auf eine massive Eindämmung
illegaler Betätigung im Baugewerbe und damit auf eine
Verhinderung von illegaler Beschäftigung verbunden.
Die Initiative der FDP, jetzt nachzufragen, wie denn nun
die Situation aussieht und ob das Gesetz wirksam war,
ist, wie ich finde, berechtigt. Man sollte eigentlich bei allen Gesetzen überprüfen, ob die Ziele, die wir als Gesetzgeber angestrebt haben, erreicht wurden.
Auf Ihre Kleine Anfrage bekamen Sie von der Bundesregierung die Auskunft - der Bundesrechnungshof
hat sich ja geäußert -, dass 99 Prozent der inländischen
und 95 Prozent der ausländischen Antragsteller Freistellungsbescheinigungen erteilt wurden. Die Bundesregierung stellt fest, dass durch diese Maßnahme
331 Millionen Euro an Steuern und Sozialabgaben eingenommen wurden. Bezüglich positiver Beschäftigungsquoten und der Vermeidung von Schwarzarbeit lagen der
Bundesregierung jedoch keine Erkenntnisse vor. Herr
Gutting brachte eben dafür die Interpretation, dass diejenigen Unternehmen, die nicht ordentlich arbeiteten, erst
gar keinen Antrag stellen würden. Das werden wir sehen.
Klar ist, dass diese Maßnahme nicht so gegriffen hat,
wie es der Gesetzgeber wollte. Durch das Abzugsverfahren konnten weder Kettenbetrugsmodelle in größerem
Umfange aufgedeckt noch konnte die Besteuerung inländischer und ausländischer Werkvertragsunternehmer sichergestellt werden. Das massenhafte Ausstellen steuerlicher Unbedenklichkeitsbescheinigungen kann darüber
hinaus von Unternehmen der Baubranche als eine Art
Freibrief dafür betrachtet werden, nun legitimiert so weiterzumachen wie bisher. An illegaler Beschäftigung gerade ausländischer Beschäftigter verdienen Bauunternehmen Millionenbeträge. Verlierer sind die sozial und
steuerrechtlich ungeschützt tätigen Arbeiter und die öffentliche Hand. Die mit der Bauabzugsteuer beabsichtigte Verlagerung der Besteuerung auf den Leistungsempfänger findet nicht statt.
Die Empfehlungen des Bundesrechnungshofes sprechen von notwendigen flächendeckenden Baustellenkontrollen, um einen Gesetzesvollzug zu gewährleisten.
Die Finanzämter sehen sich jedoch völlig zu Recht in
vielerlei Hinsicht überfordert und teilweise am Rande ihrer Leidens- und Leistungsfähigkeit. Daraus kann man
nun zwei Schlüsse ziehen: Man kann wie die FDP die
Abschaffung der Bauabzugsteuer fordern. Man kann
aber auch anders herangehen und überhaupt erst einmal
fragen, warum das Gesetz nicht gegriffen hat und ob
überhaupt die Voraussetzungen und Bedingungen für
den Gesetzesvollzug gegeben sind.
Letzteres ist meines Erachtens der Kern des Problems. Dies kann man nachvollziehen, wenn man, wie
ich es im vergangenen Jahr in Leipzig gemacht habe,
dem Finanzamt oder dem Landesrechnungshof einen
Besuch abstattet. Auch Herr Ondracek, der Vorsitzende
der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, der am Sonnabend
hier in Berlin auf der steuerpolitischen Konferenz der
Linken sprach, berichtete von der Überlastung des Personals der Finanzbehörden und von krankmachenden
Arbeitsbedingungen. Er erwähnte auch unsere Rolle dabei, nämlich dass steuerliche Verfügungen und permanente Veränderungen trotz Weiterbildungsangeboten
dazu führen, dass die Mitarbeiter in den Finanzbehörden
trotz hoher Motivation nicht so arbeiten können, wie sie
es gerne wollen.
Damit sind wir wieder bei der Frage, ob tatsächlich
die Bedingungen gegeben sind, um einen solchen Gesetzesvollzug zu gewährleisten, wie er notwendig ist. Wir
sollten uns fragen - da schließe ich auch die FDP ein -,
ob es denn richtig ist, erst Gesetze zur Erhebung von
Steuern zu erlassen und sie dann abzuschaffen, weil sie
nicht überprüft werden können. Das ist doch schizophren.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, tätig zu
werden und die Bedingungen eines ordnungsgemäßen
Steuervollzuges zu verbessern.
({0})
Die Finanzämter müssen umfassend in die Lage versetzt
werden, vor Ort mehr Kontrollen durchzuführen. Wir
gehören als Linke nicht zu denen, die populistisch Steuervereinfachungen fordern, weil das gar nicht immer so
geht, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Denn das moderne Erwerbs- und Geschäftsleben ist nun einmal kompliziert und braucht deshalb auch ein kompliziertes Regelungswerk. Aber wir brauchen Transparenz und die
Verlässlichkeit steuerlicher Regelungen und Gesetze.
Deshalb werden wir der Abschaffung der Bauabzugsteuer jetzt so nicht zustimmen. Wir sind für einen effektiven Gesetzesvollzug und schließen uns deshalb dem
Gutachten des Bundesrechnungshofes an, in dem gefordert wird, dass Freistellungsaufträge vor Ort kontrolliert
werden müssen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Margareta Wolf, Bündnis
90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Schäffler, Sie haben darauf hingewiesen,
dass die Bauabzugsteuer im Jahr 2002 eingeführt wurde,
um den Umsatzsteuerbetrug im Baugewerbe besser bekämpfen zu können. Die eigentliche Herausforderung
- da kann ich Herrn Gutting nur zustimmen - wäre gewesen, in Ihrem Antrag nicht einfach nur zu fordern, die
Bauabzugsteuer abzuschaffen, sondern einen Instrumentenkatalog zu entwickeln, wie wir mit der Schwarzarbeit
im Baugewerbe umgehen wollen. Diese große Herausforderung kennen wir seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland.
({0})
- Das sagen Sie immer; aber das ist eine zu einfache
Antwort auf diese Frage.
({1})
Ich möchte Sie auf zwei Punkte aufmerksam machen,
die auch bei Ihnen schon angeklungen sind. Die Bauabzugsteuer hat ja auch etwas gebracht - das steht sowohl
in dem von Ihnen zurate gezogenen Gutachten des Bundesrechnungshofes als auch in dem Prognos-Gutachten -:
Sie hat zu einem Erkenntnisgewinn bei den Finanzverwaltungen geführt. Ich bin durchaus der Meinung, man
soll das ordentlich evaluieren;
({2})
denn wenn das mittelfristig dazu führt, dass das Statistikvolumen reduziert wird, dann ist das gut.
Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Bauwirtschaft nach anfänglichen Bedenken gegenüber dieser Steuer heute in ihrer Mehrheit eher zu den Unterstützern gehört. Insofern würde ich sehr dafür plädieren,
sich das genau anzuschauen und das gründlich zu evaluieren.
({3})
Ich möchte entgegen dem, was Herr Gutting gesagt
hat, Ihnen, Herr Schäffler, durchaus zustimmen, dass es
nachgerade lächerlich ist, wenn der Legalisierungseffekt
sich auf 331 Millionen Euro beläuft. Das ist in der Tat
- so antwortet ja auch die Bundesregierung auf Ihre Anfrage - ein lächerliches Volumen, das die Bauabzugsteuer in ihrer ursprünglichen Funktion mitnichten rechtfertigt.
Mich treibt um - ich finde, das muss uns alle in diesem Hause umtreiben -, dass man nach der jüngsten
Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent, gegen
die wir beide bis zum letzten Moment gekämpft haben,
davon ausgeht, dass es bei der Schwarzarbeit einen
kräftigen Schub nach oben von bis zu 5 Milliarden Euro
geben wird.
({4})
Professor Schneider von der Uni Linz geht davon aus,
dass das Volumen auf rund 350 Milliarden Euro per annum steigen wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen Wirtschaftspolitiker, wenn wir nicht wollen, dass die Umsatzsteuereinnahmen durch nichtlegitimes Handeln komplett wegbrechen - und das Volumen, über das Herr Professor
Schneider redet, ist erheblich -, dann müssen wir auch
über andere Instrumente zur Bekämpfung der Schwarzarbeit in der Bauwirtschaft diskutieren.
Margareta Wolf ({5})
({6})
Herr Schneider geht davon aus, dass der Anteil der Bauwirtschaft an dem Volumen der Schwarzarbeit in Höhe
von 350 Milliarden Euro 38 Prozent beträgt. Das ist erheblich. Das heißt, das Instrument funktioniert nicht
wirklich.
Ich würde mir wünschen, dass wir uns gemeinsam
Gedanken machen, wie wir der Schwarzarbeit begegnen
können. Ich habe erhebliche Zweifel, dass die eingeführte Steuerabzugsfähigkeit der Handwerksleistungen
tatsächlich so greift, dass das Volumen deutlich verringert werden kann. Da hätte ich mir ein bisschen Energie
seitens der FDP gewünscht. Es hat Tradition, immer nur
zu fordern „Hau weg den Scheiß!“, womit aber das Problem nicht gelöst wird. Wir als verantwortliche Wirtschaftspolitiker machen uns Gedanken und begleiten die
Koalition bei der Evaluierung und bei der weiteren Debatte über effektive Instrumente gegen die Schwarzarbeit.
Danke.
({7})
Nun hat Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Schäffler, Sie haben Recht: Man
könnte die Bauabzugsteuer abschaffen.
({0})
Aber dann dürfte es auf dieser Welt nur ehrliche, uneigennützige und hundertprozentig rechtschaffende Menschen geben. Dann wäre sie tatsächlich überflüssig.
({1})
Dass dem nicht so ist, zeigt ein Blick auf die Ausmaße, die die Schwarzarbeit inzwischen angenommen
hat. Das dürfte auch der FDP nicht entgangen sein.
({2})
Sie, die Sie sich immer wieder einbilden, der alleinige
Gralshüter des Mittelstandes zu sein, ignorieren in dieser
Frage ausgerechnet die Forderung des Baugewerbes,
diesen Missstand auch gesetzlich einzudämmen. Dem ist
der Gesetzgeber mit Einführung dieses Gesetzes gefolgt.
Es ist leider so, dass es neben vielen rechtschaffenen
Unternehmerinnen und Unternehmern in diesem Land,
die Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen, auch welche gibt, die durch ihre kriminellen Machenschaften
nicht nur die Gesellschaft betrügen und ihr Finanzmittel
im Solidarsystem durch Betrug vorenthalten, sondern
die damit auch ihre Mitbewerber schädigen, die sich redlich verhalten. Diese illegale Betätigung der schwarzen
Schafe hat durch den Wegfall der EU-Binnengrenzen
und die größere Durchlässigkeit der EU-Außengrenzen
noch zugenommen. Aufgrund der komplexen Rechtslage gelang es immer wieder, neue Verschleierungs- und
Hinterziehungsmodelle zu entwickeln.
Ich würde mir wünschen, dass die Menschen ihre kriminelle Energie, mit der sie sich an ihren Schreibtisch
setzen und immer wieder versuchen, Wege zu finden,
wie sie mit möglichst wenig Arbeit illegal an Geld kommen können, einmal in positive Energie umwandeln. Ich
glaube, diese Menschen könnten unglaublich viel erreichen. Sie könnten legal Geld verdienen und dazu noch
Arbeitsplätze schaffen, was zudem bewirkt, dass ihre
Mitbewerber nicht mehr geschädigt werden. Aber dem
ist leider nicht so. Diese hohen Schäden, die hier eintreten, darf die Gesellschaft nicht hinnehmen. Durch den
Abzug sollte deshalb der illegalen Betätigung im Baugewerbe entgegengewirkt und der Gesellschaft der Steueranspruch gesichert werden.
Es stimmt, dass der Bundesrechnungshof zu der Feststellung kam, der jetzige Gesetzeszustand reiche für eine
massive Verbesserung der Situation nicht aus. Aber er
hat nicht, wie es die FDP in ihrem heutigen Antrag und
in diversen Presseveröffentlichungen suggeriert, empfohlen, dieses Gesetz deswegen abzuschaffen. Der Bundesrechnungshof kritisiert in Wahrheit die vielen Freistellungsbescheinigungen. Diese sind aus unserer Sicht
aber erforderlich, um eben nicht in einem bürokratischen
Wust zu ersticken. So kann eine Freistellungsbescheinigung vom zuständigen Finanzamt erteilt werden, wenn
der zu sichernde Steueranspruch nicht gefährdet erscheint. Glauben Sie mir, dass die Finanzbeamten vor
Ort durchaus einen Überblick haben, welche Firma
schon viele Jahre am Markt ist, ihre Steuern bezahlt und
auch den bisherigen Prüfungen standgehalten hat und
welche nicht.
Auch nicht jede Bauleistung macht diese Bauabzugsteuer erforderlich. Zum Beispiel betrifft das Vermieter
und Unternehmer, die eine Bauleistung in geringem
Wert vergeben. Deshalb wurde eine Bagatellgrenze in
Höhe von 5 000 Euro angesetzt. Bei Wohnungsvermietern erhöht sich diese Freigrenze auf 15 000 Euro pro
Jahr.
Natürlich kann man die Wirksamkeit dieses Gesetzes
infrage stellen. Aber es hat sich als richtig erwiesen, dass
die Finanzämter jetzt frühzeitig Kenntnisse von den Aktivitäten in- und ausländischer Bauunternehmer erhalten
und nicht erst, wie früher, reagieren können, wenn unseriöse Unternehmen schon längst nicht mehr greifbar waren.
({3})
Ich wiederhole: Der Bundesrechnungshof hat nicht
die Abschaffung dieses Gesetzes gefordert. Wenn Sie
sich, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, in Ihrem
Antrag und auch in Ihrer Öffentlichkeitsarbeit immer
wieder auf den Bundesrechnungshof beziehen, dann
sollten Sie auch die tatsächlichen Forderungen nicht ver8288
schweigen. Da Sie das in Ihrer Rede vorhin wieder nicht
getan haben und es auch nicht in Ihren Presseveröffentlichungen vorkommt, will ich das an dieser Stelle gerne
nachholen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten den
Bundesrechnungshof:
Der Bundesrechnungshof schlägt daher vor, dass
die Steuerverwaltung das Freistellungsverfahren
künftig restriktiver handhabt und gezielt Freistellungsanträge kontrolliert, bei denen das Risiko eines Missbrauchs besteht. Außerdem empfiehlt der
Bundesrechnungshof einen Wechsel der Steuerschuldnerschaft im Baubereich.
Das Bundesministerium der Finanzen sollte u. a.
auch die Möglichkeit einer steuerlichen Generalunternehmerhaftung prüfen.
Ich lese aus diesen Zeilen nicht, dass der Gesetzgeber
aufgefordert wird, dieses Gesetz abzuschaffen.
({4})
- Doch. In Ihren Presseveröffentlichungen steht immer
wieder, dass wir uns ein Beispiel am Bundesrechnungshof nehmen und deshalb tätig werden sollten.
({5})
Da Sie die Abschaffung des Gesetzes fordern, suggerieren Sie, dass das auch der Bundesrechnungshof möchte.
Wir müssen jetzt sehen, wie wir mit diesen Erkenntnissen umgehen und wie wir uns weiter verhalten. Allerdings birgt eine hohe Zahl von Freistellungen auch nicht
die Unwirksamkeit dieses Gesetzes in sich. Denn diese
Freistellungen werden ja nicht ohne Prüfung oder Kenntnis über die antragstellenden Unternehmen erteilt. Ich
glaube nicht, dass ein Finanzamt ohne Prüfung einfach
so eine Freistellungsbescheinigung erteilt. Die schauen
vielmehr genau hin.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass man davon ausgehen
kann, dass viele Unternehmen, die genau wissen, dass
sie dem nicht standhalten - das wurde vorhin schon gesagt -, keinen Antrag stellen. Ich glaube auch, dass es
sich für Unternehmen, die sich genau ausrechnen, dass
sie diese Steuer in Höhe von 15 Prozent zahlen müssen,
nicht mehr lohnt, sich überhaupt an solchen Ausschreibungen zu beteiligen, und dass sie dadurch gar nicht erst
in Erscheinung treten.
({6})
Das ist genauso, wie wenn Sie in einem Kaufhaus
eine Überwachungskamera anbringen. Wenn dadurch
die Diebe so abgeschreckt werden, dass sie gar nicht erst
aktiv werden, können Sie nicht sagen: Wir haben keine
Diebe gefasst; deshalb sind die Kameras unwirksam.
Denn es wurde dadurch ja Schaden abgewendet. Es ist
gerade in unserem Sinne, dass seriöse Unternehmen und
deren Arbeitnehmer nicht in unangemessener Weise belastet werden. Das sind auch nicht die Zielgruppen unseres Gesetzes.
Es ist auch nicht wahr, dass allein durch das Vorhandensein dieses Gesetzes praktisch jeder Unternehmer in
den Verdacht gerät, kriminell zu arbeiten. Auch solche
Äußerungen kann man hören und lesen, wenn man sich
mit diesem Thema beschäftigt. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, der Bahn zu unterstellen, dass alle
Bahnkunden Schwarzfahrer sind, weil man die Fahrkarten aller Kunden kontrolliert. Ich glaube, das ist absurd.
Kein Kaufhaus unterstellt jedem, der das Geschäft betritt, ein Dieb zu sein, nur weil jeder die elektronische
Sicherungsanlage passieren muss. Ich habe nicht das Gefühl, dass das Kaufhaus mir deshalb unterstellt, ich
könnte ein potenzieller Dieb sein. Im Gegenteil: Solche
Maßnahmen wie auch dieses Gesetz schützen die Ehrlichen vor künftigen höheren Kosten, weil die Anzahl derer, die sich durchmogeln und sich auf Kosten der Ehrlichen bereichern, eingedämmt wird. Unser Gesetz leistet
seinen Beitrag dazu, seriös und korrekt handelnde Bauunternehmer vor unseriösen Wettbewerbern zu schützen,
die schädlich für die Preise sind und letztendlich im Regressfall die ganze Branche in Verruf bringen.
Das Bundesfinanzministerium hat die Wirkung der
Bauabzugsteuer bereits kurz nach der Einführung untersuchen lassen. Das Gutachten der damit beauftragten
Firma bescheinigt den Finanzämtern einen erheblichen
Informationsgewinn. Ich glaube, das ist etwas, worauf
man sich beziehen kann, wenn man die Entscheidung
fällt: Brauchen wir dieses Gesetz oder nicht? Denn damit
wird sichergestellt, dass sich Firmen, die früher längst
verschwunden waren, ehe sie Steuern zahlen mussten,
ihrer Besteuerung jetzt nicht mehr entziehen können.
Das Gutachten geht deshalb von beachtlichen positiven
Effekten bei hauptsächlich ausländischen Unternehmen
aus, von denen man vorher nicht gewusst hat, was das
für Unternehmen sind, weil sie vorher in der Region
eventuell noch nie in Erscheinung getreten sind.
Allerdings ist es momentan für eine abschließende
Beurteilung noch zu früh, da das vorliegende Gutachten
bereits relativ kurz nach der Einführung des Gesetzes erstellt wurde. Deshalb wird die Bauabzugsteuer erneut
Gegenstand einer Evaluierung im Rahmen des Programms zum Bürokratieabbau sein. Dieser Abschlussbericht wird aber erst im zweiten Halbjahr dieses
Jahres vorliegen. Wir werden dieses Gutachten abwarten
und erst danach, falls erforderlich, gesetzgeberische
Maßnahmen einleiten.
An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen,
dass jeder in dieser Gesellschaft darauf hinarbeiten kann,
dass Schwarzarbeit und illegale Betätigungen eingedämmt werden. Man sollte sich einmal anschauen, wie
Vergaben erfolgen und mit welchen Unternehmen zusammengearbeitet wird. Auch Kommunen und Private
müssen sehen: Gute Arbeit kostet gutes Geld. Man muss
genau hinschauen, ob man vielleicht nicht dem Billigsten, sondern dem Wirtschaftlichsten den Auftrag gibt.
Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Ich würde mir in dieser Hinsicht wünschen, dass das eine oder andere
Bundesland vielleicht einmal seine Vergabeordnung
überprüft und die Entscheider vor Ort mehr Handlungsspielraum erhalten. Aber das liegt nicht in unserem Ermessen hier in Berlin.
Wir müssen schauen, wie wir aufgrund der jetzigen
Gesetzeslage in den Ländern dennoch dazu beitragen
können, dass Missbrauch möglichst weit eingedämmt
bzw. so unmöglich gemacht wird, wie wir das können.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3055 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 16/4017 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/4444 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Dr. Max Stadler
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem siebten Änderungsgesetz zum Bundesvertriebenengesetz unterstreichen wir die Kontinuität der
Verantwortung für die deutschen Minderheiten und Spätaussiedler und erfüllen zugleich sicherheitspolitische
Anforderungen. Es ist richtig, dass auch im Vertriebenengesetz auf die international gestiegene Bedrohungslage reagiert wird und Ausschlusstatbestände formuliert
werden, die es Personen mit terroristischem Hintergrund
unmöglich machen, sozusagen über die Hintertür als
Spätaussiedler nach Deutschland zu kommen.
Deshalb ist es richtig, dass die Stellung des Spätaussiedlers nicht erwerben kann, wer einer terroristischen
Vereinigung angehört, eine Organisation mit terroristischem Hintergrund unterstützt oder sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung wendet. Das
muss auch für diesen Bereich gelten.
({0})
Die Neuregelung bringt mehr Sicherheit und einen Zugewinn an Akzeptanz für die Spätaussiedler in diesem
Land, weil diese Kriterien auch für sie angewandt werden.
Mit diesem Gesetz wird aber auch unsere dauerhafte
historische Verantwortung gegenüber Deutschstämmigen unterstrichen und bestätigt. Dieses Gesetz bestätigt
die von uns seit Langem verfolgte Politik auch für eine
künftige Aufnahme deutscher Spätaussiedler: Einerseits
ist und bleibt das Tor für die deutschen Spätaussiedler
offen; andererseits gilt Art. 116 des Grundgesetzes wegen des historischen Hintergrundes fort. - Dabei ist es
gut und richtig, dass wir uns auch künftig zu einem allgemeinen Kriegsfolgenschicksal für die Deutschen aus
den ehemaligen GUS-Staaten bekennen. Diese Menschen haben lange unter ihrer deutschen Herkunft gelitten.
Mehr als 3,1 Millionen Spätaussiedler sind seit der
Wende zu uns nach Deutschland gekommen. Die allermeisten von ihnen - das will ich noch einmal sagen sind gut integriert und bedeuten eine Bereicherung für
unsere Gesellschaft. Sie haben die Ärmel hochgekrempelt, sich eingegliedert, uns geholfen und viel Gutes getan. Sie sind - das ist wichtig für die Zukunft - oft kinderreich. Sie haben durch ihre Eingliederung sehr viel
für unsere Sozialkassen getan.
Dem steht allerdings entgegen, wie die Spätaussiedler
öffentlich wahrgenommen werden. Dies gilt insbesondere, wenn Spätaussiedler an Straftaten beteiligt sind;
auch sie sind Menschen, so etwas kommt also vor. Aber
dann steht immer in der Zeitung: „Der Spätaussiedler X ...“.
Dadurch ergibt sich ein völlig falsches Bild.
Jüngst hat die Hamburger Polizeibehörde eine Untersuchung zur Kriminalitätsstatistik veröffentlich, die belegt hat, dass Spätaussiedler nicht anders sind als andere.
Sie sind nicht besser, aber auch nicht schlechter. Ich
glaube, wir müssen uns hier um Objektivität bemühen.
Ähnliche Untersuchungen und Ergebnisse gibt es auch
aus anderen Ländern. Das belegt, dass dies ein repräsentatives Bild ist.
Ich will überhaupt nicht verhehlen, dass wir mit einem kleinen Teil dieser Gruppe erhebliche Probleme haben, insbesondere mit Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen. Diese haben Probleme, insbesondere wenn
sie erst in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, sich
in die Gesellschaft zu integrieren. Um diese müssen wir
uns kümmern. Bei ihnen ist die Motivation, sich hier
einzugliedern, zum Teil relativ gering. Das bedeutet,
dass sie sich wenig um das Erlernen der Sprache bemühen. Ohne Sprachkenntnisse bekommen sie keinen Ausbildungsplatz und damit auch keinen Arbeitsplatz. Dadurch können sie sich ihren Lebensunterhalt nicht
verdienen und haben Langeweile. So findet keine Integration statt.
Um diese Menschen müssen wir uns stärker kümmern. Auch der kürzlich vorgelegte Bericht zur Evaluierung der Integrationskurse im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes hat dies ergeben.
Ich glaube, wir müssen unser Augenmerk nicht so
sehr darauf richten, ob diese Menschen an den Kursen
teilnehmen. Wir müssen stärker erfolgsorientiert arbeiten. Wir müssen uns darum kümmern, dass die Zeit nicht
nur abgesessen wird, sondern dass am Ende etwas herauskommt. Wir müssen die Kurse stärker diversifizieren, um auf die Belange dieser Menschen wirklich eingehen zu können.
({1})
Wir müssen uns auch stärker um Anreizstrukturen bemühen. Als erfolgreich darf nicht gelten, wer teilgenommen hat. Vielmehr muss derjenige belohnt werden, der
am Ende nachweisen kann, dass der Kurs wirklich etwas
genutzt hat.
Das Zuwanderungsgesetz hat für die Aufnahme der
deutschen Spätaussiedler einen verlässlichen Rahmen
geschaffen, und zwar nicht zuletzt - das sage ich nicht
ohne Stolz -, weil sich die Union, obwohl sie damals in
der Opposition war, in vielen Punkten durchgesetzt hat
und klare Konturen entwickeln konnte. Wichtig ist die
Anerkennung des allgemeinen Kriegsfolgenschicksals,
ferner die Frage des Abstammungsnachweises; denn die
Bürokratie ist dort nicht so perfekt wie bei uns, wo man
alles in einem Register nachschauen kann.
Wichtig ist natürlich auch, dass wir uns bezüglich der
Grundkenntnisse der Sprache auf ein verträgliches Maß
haben einigen können. Sprache ist wichtig; sie ist ein
Schlüssel. Wir dürfen die deutschen Spätaussiedler aber
nicht schlechter behandeln als andere, die nach Deutschland kommen wollen. Deswegen war das wichtig.
Ich betone immer wieder, gerade für die Jüngeren, die
mit der Geschichte nicht so vertraut sind: Diese Menschen haben über Jahrzehnte hinweg gelitten, weil sie
Deutsche waren. Deswegen haben wir eine besondere
Verantwortung für diese Menschen, und deswegen müssen wir uns besonders gut um sie kümmern.
Einen guten Beitrag zu einer erfolgreichen Integration
hat auch § 94 Bundesvertriebenengesetz geleistet. Es ist
wichtig, das Kulturgut zu pflegen. Es ist wichtig, auch
diese Dinge ernst zu nehmen, damit sich die Menschen
in unserer Gesellschaft wiederfinden. Es ist auch gut,
dass durch die jetzt vorliegende Novelle das Namensrecht - § 94 Bundesvertriebenengesetz - ein wenig erleichtert wird. Dadurch, dass der Name wieder eingedeutscht werden kann, wird die Integration verbessert.
Erfreulich ist, dass wir uns 50 Jahre lang um das kulturelle Erbe gekümmert haben. § 96 des Bundesvertriebenengesetzes verpflichtet Bund und Länder, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der
Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten Volkes und
des Auslandes zu erhalten“, damit diese wichtigen kulturellen Beiträge fortentwickelt werden können. Leider ist
dieser Paragraf nicht immer ausreichend ernst genommen worden. Wir haben in der Vergangenheit erhebliche
Mittelkürzungen hinnehmen müssen. Umso besser finde
ich es, dass es uns gelungen ist, im letzten Haushalt an
dieser Stelle einen Schwerpunkt zu setzen und die Mittel
wieder heraufzusetzen. So können wir kulturelle Breitenarbeit betreiben und diese Gruppen einbeziehen. Ich
glaube, wir müssen auf diesem Wege voranschreiten.
({2})
Mit dem ostdeutschen Kulturraum sind große Namen
verbunden. Wir haben zum Beispiel den Ostpreußen Immanuel Kant, E. T. A. Hoffmann, den Schlesier Joseph
von Eichendorff, Gerhart Hauptmann und den Pommern
Alfred Döblin. Was wäre Deutschland ohne diese kulturellen Beiträge? Deswegen müssen wir dieses kulturelle
Erbe pflegen und weiterentwickeln. Die Menschen haben mit der Vertreibung zwar ihre Heimat verloren, aber
nicht ihren geistigen Besitz. Da dieser Besitz zur Bereichung beigetragen hat, ist dies ein wichtiges Thema.
Wir ändern mit diesem Gesetz - das ist ein wichtiger
Punkt - auch § 23 Aufenthaltsgesetz. Es geht hier um die
sogenannten Kontingentflüchtlinge. Nach der historischen Katastrophe des Dritten Reichs und den beispiellosen Verbrechen kommt darin der Wunsch zum
Ausdruck, jüdischen Zuwanderungswilligen einen verlässlichen Rahmen zu bieten, damit sie ihren dauerhaften
Wohnsitz hier nehmen. Ziel ist es, die jüdischen Gemeinden zu stärken. Diese Neuregelung war notwendig,
weil das sogenannte Kontingentflüchtlingsgesetz durch
das Zuwanderungsgesetz weggefallen ist und wir deswegen einen neuen Rahmen finden mussten. Wir haben
nach intensiven Verhandlungen mit dem Zentralrat der
Juden eine einvernehmliche Lösung gefunden. Ich
glaube, es ist wichtig und notwendig, dass wir auch diesen Punkt geklärt haben, damit wir in Zukunft in Ruhe
arbeiten können.
Die heute zu beschließenden gesetzlichen Grundlagen
bilden im Hinblick auf den Zuzug eine verlässliche und
gute Grundlage. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Liberalen erkennen an, dass sich die Rahmenbedingungen für die Zuwanderung von Spätaussiedlern verändert
haben und sich hieraus gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt. Das gilt - das haben Sie, Herr Fromme,
schon ausgeführt - zunächst aufgrund der Osterweitung
der Europäischen Union. Zutreffend sieht der Gesetzentwurf hierzu vor, dass Personen aus den baltischen Staaten, die als Spätaussiedler nach Deutschland kommen
wollen, zukünftig ein Kriegsfolgenschicksal nachweisen müssen. Die gesetzliche Vermutung, dass Menschen
dort weiterhin unter einem Kriegsfolgenschicksal leiden,
entspricht nicht mehr der durch die Osterweiterung geschaffenen Realität.
Wir haben auch keine Probleme mit der Vereinfachung des vertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahrens. Die Konzentration des Verfahrens beim Bundesverwaltungsamt liegt im Interesse aller Beteiligten. Das
schafft Rechtssicherheit, vermeidet Doppelprüfungen
und schafft Bürokratie ab. Das wollen wir schließlich
alle - jedenfalls theoretisch. Hier wird es praktisch umgesetzt.
({0})
Grundsätzlich zu begrüßen sind auch die Regelungen
zur Verbesserung der Integration von Spätaussiedlern,
insbesondere der vorgesehene Fahrtkostenzuschuss,
wenn Integrationskurse nur weit entfernt vom Wohnort
angeboten werden. Diese Maßnahme haben wir seit langem gefordert. Sie stärkt vor allem die Integration im
ländlichen Raum. Das ist sicher sehr sinnvoll.
Das Verbot, Behinderte beim Sprachtest zu benachteiligen, findet ebenfalls unsere Unterstützung. Auf diese
Weise muss kein Behinderter mehr befürchten, allein
aufgrund seiner Behinderung einen Ausschlusstatbestand zu verwirklichen.
Geblieben aber sind unsere Bedenken da, wo die Bundesregierung meint, angeblich bestehende Lücken
schließen zu müssen, damit Extremisten und Terroristen
keine Aufnahme finden. Die Frage meines Kollegen
Max Stadler, ob sich das vertriebenenrechtliche Aufnahmeverfahren in der Vergangenheit zu einem Einfallstor
für Terroristen und Extremisten entwickelt hat, blieb im
Gesetzgebungsverfahren leider unbeantwortet.
({1})
Sie haben keine Zahlen, sondern nur Behauptungen vorgetragen. Das reicht aus unserer Sicht für einen Gesetzentwurf nicht aus.
({2})
- Ich bedanke mich ausdrücklich für den Applaus der
Grünen.
Der pauschale Hinweis auf die aktuelle Bedrohungslage reicht nicht aus. Deshalb lehnen wir es unverändert
ab, dem Bundesverwaltungsamt die Möglichkeit zu eröffnen, im Rahmen einer Regelanfrage die verschiedenen Sicherheitsbehörden zu beteiligen. Wir erleben das
immer wieder: Es gibt eine vermeintliche Gefahrenlage,
und dann wird gehandelt, ohne dass man weiß, ob es etwas bringt oder nicht.
Wenn man das konsequent zu Ende denkt, bedeutet es
im Endeffekt - das war schon vorher so; es wird in Zukunft weiterhin so sein -, dass Deutsche nicht nach
Deutschland dürfen. Das wundert uns sehr. Wir halten
dies nach wie vor für systemwidrig und für schwer zu
vereinbaren mit Art. 116 des Grundgesetzes. Ich glaube,
da fehlt uns, aber vor allen Dingen Ihnen der Mut, das
Ganze anders aufzurollen. Insbesondere wundert uns,
dass die Union das mitmacht.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Dr. Bergner, Sie
selbst haben in Ihrer Rede zur ersten Lesung darauf hingewiesen, dass das Bundesvertriebenengesetz es über
4,4 Millionen Menschen ermöglicht hat, nach Deutschland zu kommen. Dass es hier Probleme gegeben hat,
wissen wir. Probleme mit Extremismus oder Terrorismus
sind uns jedoch nicht bekannt.
({3})
Darauf haben Sie hingewiesen. Auch Herr Fromme hat
schon darauf hingewiesen, dass die aktuellen Kriminalitätsstatistiken betreffend Spätaussiedler, anders als vielfach behauptet, keine signifikanten Unterschiede zur übrigen Bevölkerung aufweisen. Das muss man immer
wiederholen, damit sich dieses Vorurteil nicht festsetzt.
Ich glaube, dass die Große Koalition sich ein wenig von
ihrem eigenen Vorurteil hat leiten lassen. Wir bedauern
das sehr.
({4})
Die vorgesehene Beteiligung der Sicherheitsbehörden
erweist sich aus unserer Sicht als unverhältnismäßig und
wirft leider einen Schatten auf den ansonsten durchaus
vernünftigen Gesetzentwurf. Deshalb wird die FDPFraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Nun hat Kollege Maik Reichel, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute in abschließender Lesung mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes einschließlich
eines Änderungsantrages der Koalitionsfraktionen. Damit passen wir das Bundesvertriebenengesetz an politische Entwicklungen an, nämlich - wir haben das schon
gehört - an die Erweiterung der EU mit Blick auf die
baltischen Staaten. Wir haben natürlich auch die Handhabbarkeit in der Verwaltungspraxis im Blick, was zu
manchen Änderungen geführt hat.
Als 1953 das erste Gesetz über die Angelegenheiten
der Vertriebenen und Flüchtlinge entstand, waren acht
Jahre seit Ende eines der schrecklichsten Kriege vergangen. Das Gesetz hat es seit 1953 vielen Millionen Menschen - wie wir gehört haben, waren es über
4,4 Millionen - ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und hier zu leben. Noch heute stehen wir in der Verantwortung, wenn wir an die Spätaussiedler denken.
Im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und SPD
in diesem Sinne verständigt. Ich will kurz daraus zitieren:
Wir bekennen uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für diejenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges
gelitten haben und in ihrer jetzigen Heimat bleiben
wollen, als auch für jene, die nach Deutschland aussiedeln. Dies gilt insbesondere für die Deutschen in
den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bei denen
das Kriegsfolgenschicksal am längsten nachwirkt.
Die Kultur der aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen ist ein Bestandteil des Erbes der ganzen deutschen Nation, das wir pflegen und erhalten wollen.
Dem trägt auch die Kulturförderung nach § 96 des
Bundesvertriebenengesetzes Rechnung, die seit 1953 besonders den Aspekt der Integration von Millionen
Flüchtlingen und Vertriebenen in die Gesellschaft betont. Nach den politischen Veränderungen nach 1989,
dem Ende des Kalten Krieges, hat sich auch die Kulturförderung neu orientiert. In sehr vielen Institutionen
wird damit hervorragende Arbeit geleistet.
Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation, dass das kulturelle Erbe der ursprünglichen Siedlungsgebiete von Vertriebenen und Aussiedlern gewahrt
wird, aber ebenso - das ist sehr wichtig - die Erinnerung
an diese schreckliche Epoche der Flucht und Vertreibung. Das Bundesvertriebenengesetz ist den veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen im Laufe der Jahre angepasst worden; diese siebte Änderung gehört dazu.
In diesem Gesetzentwurf finden sich mehr als ein
Dutzend Änderungen. Sie reichen von der Erweiterung
und Modifizierung der Ausschlussgründe über die Regelung der Erstattung von Fahrtkosten zu Integrationskursen bis hin zu Neuregelungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiterhin regeln wir die
Zuständigkeiten bei der Antragsbearbeitung und bei der
Gewährung der pauschalen Eingliederungshilfe sowie
die Möglichkeit, einen deutschen Familiennamen zu
führen, verbunden mit einer logischen Änderung des
Personenstandsrechtsreformgesetzes.
Betrachtet man die erweiterten Ausschlussgründe
- meine Vorredner sind schon darauf eingegangen -, so
kann man feststellen, dass mit dem Zusatz „Terroristen
bzw. deren Helfer“ sicherlich auf die aktuelle Bedrohungslage reagiert wird, ohne jemanden - das möchte
ich betonen - generell zu verdächtigen. Hier geht es also
nicht darum, irgendein Vorurteil hineinlesen zu wollen.
Weitere Ausschlussgründe sind: eine nationalsozialistische Betätigung, ein Verstoß gegen Grundsätze der
Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit, Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele oder Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. In diesem Zusammenhang sei auf die
Regelanfrage bei den Sicherheitsbehörden hingewiesen.
Dies gilt nicht nur für die Spätaussiedlerbewerber selbst,
sondern auch für deren Ehegatten und Abkömmlinge.
Um die Spätaussiedler wie auch andere besser in unser Land integrieren zu können, ist die Teilnahme an einem Integrationskurs von besonderer Notwendigkeit.
Deshalb sollte die Erreichbarkeit eines Kurses sichergestellt werden. Das tun wir mit diesem Gesetz. Um unnötige Härten, vor allen Dingen finanzieller Art, zu vermeiden, ist in den Gesetzentwurf die Regelung eines
Zuschusses hineingenommen worden. Die Haushälter
müssen natürlich keine hohen finanziellen Summen erwarten. Es geht um 100 000 Euro, die im Haushaltsvollzug bzw. in der weiteren Finanzplanung berücksichtigt
sind.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Zahl der Spätaussiedlerbewerber von etwa 35 000 im Jahre 2005 auf
etwa 7 700 im Jahr 2006 zurückgegangen ist. Dies zeigt
sich natürlich auch in den entsprechenden Kursen der
verschiedensten Bildungsträger. In meinem Heimatlandkreis Weißenfels, im südlichen Sachsen-Anhalt, tritt seit
Beginn der 1990er-Jahre vor allen Dingen die Volkshochschule erfolgreich als Träger auf. So sank auch dort
die Teilnehmerzahl von 2004 bis 2006 um etwa
40 Prozent.
({0})
Mit diesem Gesetz leisten wir ebenfalls einen guten
Beitrag zum Bürokratieabbau. Momentan findet noch
eine doppelte inhaltliche Bearbeitung der Anträge statt,
nämlich durch den Bund und durch die jeweils aufnehmenden Länder. Das betrifft den Antrag selbst wie auch
die Gewährung der pauschalen Eingliederungshilfe. Zukünftig werden die Länderbehörden entlastet, indem der
Bund - in diesem Fall das Bundesverwaltungsamt - die
Bearbeitung übernimmt. Nach der gegenwärtigen Rechtslage - um das einmal etwas genauer darzustellen - des
§ 28 Bundesvertriebenengesetz darf ein vom Bundesverwaltungsamt zu erteilender Aufnahmebescheid erst nach
Zustimmung des aufnehmenden Landes erteilt werden. Zu
diesem Zweck lässt sich das einzelne Bundesland die entsprechenden Vorgänge vom Bundesverwaltungsamt zuschicken, um im Rahmen einer Einzelfallprüfung über
die Erteilung einer Zustimmung zu entscheiden. Das
Land kann einer Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes aber nur dann widersprechen, wenn die nach § 27
notwendigen Voraussetzungen für die Erteilung eines
Aufnahmebescheides nicht vorliegen. Die hat das Bundesverwaltungsamt aber schon geprüft. Deshalb ist es
nachvollziehbar, die unnötige Doppelprüfung durch
Bund und Land abzuschaffen.
Dies gilt auch für die Gewährung der pauschalen Eingliederungshilfe nach § 9 Abs. 3 des Bundesvertriebenengesetzes, die zukünftig ebenfalls bereits im Zuge der
Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes über die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung erfolgen wird.
Das ist nur konsequent. Wir verzichten damit komplett
auf den aufwendigen Aktenversand.
Mit den Änderungen beseitigen wir außerdem mögliche Benachteiligungen von Behinderten, da nun eine
klare Gesetzesgrundlage für Sprachtests in diesem Fall
vorliegt. Manches andere Detail wurde neu geregelt, bis
hin zur Umstellung auf den Euro und auf die neue
Rechtschreibung.
In Bezug auf die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion - mit Ausnahme der baltischen
Staaten - enthält der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Kern verfahrensrechtliche und zuständigkeitsbeschreibende Vorschriften. Momentan werden
jüdische Zuwanderer auf der Grundlage von Länderverordnungen aufgenommen, was von der Innenministerkonferenz nur als Interimslösung gedacht war, nun aber
schon seit über zwei Jahren so gehandhabt wird. Bund
und Länder haben sich eigentlich bereits vor Jahren darauf verständigt, das notwendige Aufnahmeverfahren
durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
durchführen zu lassen. Dafür schaffen wir mit diesem
Änderungsantrag die gesetzliche Grundlage. Außerdem
erhalten jetzt auch Familienangehörige jüdischer Zuwanderer eine Aufenthaltsberechtigung sowie Anspruch
auf die Teilnahme an einem Integrationskurs.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Vertreibung ist unter vielen Gesichtspunkten bis heute aktuell.
Das Bundesvertriebenengesetz hat deshalb bis heute
nichts von seiner Bedeutung verloren. Es wird mit den
jetzt vorgenommenen Änderungen den veränderten Bedingungen gerecht. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt
Gesetze, die sind so schlecht, dass man sie gar nicht
mehr verbessern kann.
({0})
Das Bundesvertriebenengesetz beruht auf der Annahme,
es gebe so etwas wie eine deutsche Blutsgemeinschaft.
Es ist damit Ausdruck einer ideologischen, völkisch denkenden Politik. Das kann man nicht verbessern, das kann
man nur abschaffen.
Man kann es schon aus rein pragmatischen Gründen
abschaffen: Im letzten Jahr kamen gerade noch
7 747 Spätaussiedler nach Deutschland, und es werden
immer weniger. Da wäre es logisch, zu sagen: Erledigt
mangels Masse.
Das heißt nicht, dass wir uns gegen Zuwanderung
wenden. Darin unterscheiden wir uns übrigens grundsätzlich von der Bundesregierung,
({1})
deren Gesetzentwurf vorsieht, den Nachweis der
Deutschkenntnisse zu erschweren. Das kann dazu führen, dass die einen Familienmitglieder aufgenommen
werden, die anderen dagegen nicht. Das ist inhuman;
deshalb lehnen wir es ab.
({2})
Nicht inhuman, aber regelrecht grotesk ist ein anderes
Ansinnen der Regierung in diesem Gesetzentwurf: Spätaussiedler sollen zum Fall für die Geheimdienste werden.
Das Bundesverwaltungsamt soll in Zukunft alle Antragsteller durch den Verfassungsschutz, den Militärischen
Abschirmdienst, den Bundesnachrichtendienst und andere
Behörden überprüfen lassen können. Als Grund dafür
bringt die Regierung ihre Standardfloskel: Abwehr von
Terrorverdächtigen und Extremisten. Da fragt man sich
doch: Welche schwerwiegenden Erkenntnisse hat die
Bundesregierung, wenn sie wegen einer Handvoll Spätaussiedler so ein Fass aufmacht?
Haben wir Grund zur Annahme, das Aussiedlerverfahren werde durch sogenannte Extremisten missbraucht? Meine Kollegin Frau Piltz hat bereits darauf
hingewiesen, dass in der Begründung des Gesetzentwurfs mit keinem Wort darauf eingegangen wird. Auch
sonst hat die Bundesregierung bisher keinerlei Angaben
dazu machen können. Im Klartext heißt das: Es gibt kein
reales Problem. Die Geheimdienste erhalten eine Beschäftigungstherapie, und dafür werden Russlanddeutsche unter Generalverdacht gestellt. Das ist absurd.
({3})
Es stellt sich noch eine weitere Frage: Wer ist mit
dem Begriff „Extremist“ gemeint? Das ist ein Gummibegriff, der Willkürentscheidungen von Behörden ermöglicht. Für den Verfassungsschutz ist bekanntlich schon
die Linksfraktion extremistisch.
({4})
Spätaussiedler, die mit uns oder unseren Schwesterparteien sympathisieren, wären demzufolge auch sogenannte Extremisten und hätten nicht das Recht, Deutsche
zu werden, egal wie gut sie Deutsch sprechen. Das ist reaktionäre Ideologie, die in der schlechtesten Tradition
steht, die man sich denken kann.
Das Ganze zeigt vor allem eines: Spätaussiedler sind
weiterhin Spielball der Politik. Früher wurde sie als
Kronzeugen für den vermeintlich „Goldenen Westen“
missbraucht; heute werden sie als potenzielle Staatsfeinde diffamiert und sollen draußen bleiben.
Wir empfehlen: Schaffen Sie das Vertriebenengesetz
ab! Streichen Sie dieses völkisch begründete Gesetz! Regeln Sie die Einwanderung aus Osteuropa im Zuwanderungsgesetz! Da gehört es hin.
Danke.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu einer Äußerung von Frau Jelpke will ich meine persönliche Meinung sagen. Ich habe es immer abgelehnt,
dass die konservativen Parteien die Privilegien der Aus8294
länder gegen die der Spätaussiedler abwägen. Aber was
Sie gerade über die Aussiedler und das Vertriebenengesetz ausgeführt haben, kann ich nicht mittragen.
({0})
Diese Gruppe mit ihrem Kriegsfolgenschicksal, das
durch den deutschen Faschismus hervorgerufen wurde,
wird dadurch entschädigt, dass sie nach Deutschland
kommen darf. Eigentlich müssten die Linken als Antifaschisten dafür sein.
({1})
Ich gehe nicht mehr auf das ein, was ich in der ersten
Beratung des Gesetzentwurfs zu Protokoll gegeben
habe, sondern nur auf die Änderungen, die die Koalition
in Absprache mit dem Zentralrat der Juden vorgenommen hat.
({2})
Es geht dabei - der Kollege Reichel hat es schon angesprochen - um die Schaffung der Rechtsgrundlage für
den Bundesvollzug des Aufnahmeverfahrens für jüdische Zuwanderer. Daran ist erst einmal wenig auszusetzen, zumal dies in Absprache mit dem Zentralrat der Juden erfolgt ist. Diese Regelung wird jetzt vorgezogen,
weil sich die Koalition über das Gesamtpaket zum Aufenthaltsgesetz und Ausländergesetz immer noch nicht einig geworden ist. Letzteres bemängeln wir zwar, aber
wir haben nichts dagegen, dass dieser Punkt jetzt vorgezogen wird, damit dieser Gruppe geholfen wird.
Im Jahr 2006 konnten nur noch rund 400 Personen
einreisen. Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes
ist die jüdische Zuwanderung faktisch zum Erliegen gekommen. Seit dem 1. Januar 2005 sind keine Anträge
mehr entschieden worden. Die Antragsteller warten
schon zwei Jahre. Insofern finde ich es richtig, dass jetzt
endlich gehandelt wird. Diesen Teil des Gesetzentwurfs
würden wir unterstützen; beim Gesamtpaket reicht es
dazu leider nicht aus.
({3})
Sie haben eine Hürde vorgesehen, die Sie eben nicht
angesprochen haben, indem Sie auch bei jüdischen Zuwanderern vor der Einreise nach Deutschland Deutschkenntnisse fordern. Das erscheint mir etwas abstrus,
weil die jüdischen Zuwanderer im Gegensatz zu den
Spätaussiedlern keine Verbindung nach Deutschland haben, sondern wegen ihrer Religionszugehörigkeit hier
aufgenommen werden. Insofern ist die Hürde sehr hoch.
Die Antwort der Bundesregierung, das sei nicht so
schlimm; sie dürften dann die Plätze nutzen, die von den
Spätaussiedlern nicht in Anspruch genommen werden,
bedeutet meiner Meinung nach keine Lösung. Denn wie
ein Blick auf die Landkarte zeigt, kommen die jüdischen
Zuwanderer aus sehr unterschiedlichen Siedlungsgebieten, ja sogar aus unterschiedlichen Ländern, nämlich
zum einen aus Kasachstan und zum anderen aus der russischen Ukraine. Insofern ist die Antwort der Bundesregierung nicht hilfreich.
Da bekanntlich nicht weltweit und bis ins kleinste
Dorf Deutschkurse in gleich hoher Qualität angeboten
werden,
({4})
sollten Sie diese inhumane Regelung überdenken.
Ich will noch etwas zum Thema Aussiedler sagen. Im
Grenzdurchgangslager Friedland sind - darauf wurde
bereits hingewiesen - im letzten Jahr nur noch rund
8 000 Aussiedler aufgenommen worden. Der Leiter des
Lagers sagt, das sei die niedrigste Zahl seit 1945. Das
heißt, die Schlüsse, die Sie, Herr Fromme, aus dem Evaluierungsbericht über die Sprachkurse, die in Deutschland stattfinden, ziehen, müssen erst recht für die
Sprachkurse gelten, die in den Siedlungsgebieten angeboten werden. Die Menschen schrecken dort davor zurück; nur noch 25 Prozent der Antragsteller haben den
Test bestanden. Entweder sind alle fürchterlich blöd,
oder die Tests bzw. die dort angebotenen Kurse sind
nicht in Ordnung. Hier müsste dringend nachgebessert
werden.
Herr Reichel, Sie haben zwar die Zahl genannt, aber
nicht gesagt, ob Ihnen das passt und ob Sie es verändern
wollen. Diese Antwort müssten Sie von der Koalition
uns noch geben; denn wenn es Ihnen recht ist, dass es
nur noch so wenige sind, dann können wir den Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung verabschieden. Wenn Ihnen das aber nicht recht ist, dann müssen wir etwas ändern. Das ist der Hauptgrund, warum wir dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen, sondern uns - genauso
wie die Kollegen von den Liberalen - enthalten.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Bundesvertriebenengesetzes, Drucksache 16/4017. Der
Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/4444, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimm-
enthaltung der FDP und der Bündnisgrünen angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnis-
sen wie bei der zweiten Beratung angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Eskalation im Atomkonflikt mit dem Iran verhindern
- Drucksache 16/4202 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({1}), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine militärische Eskalation gegenüber dem
Iran - Konflikt um das Atomprogramm durch
Verhandlungen lösen
- Drucksache 16/4407 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gregor Gysi, Fraktion Die Linke, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen heute keine Diskussion über den iranischen Präsidenten und damit auch nicht über seine
zum Teil bösartigen antisemitischen Auffassungen.
({0})
Das alles ist für uns alle indiskutabel. Wir führen eine
andere Diskussion, nämlich über die Rolle Deutschlands
im Falle eines Krieges gegen den Iran. Ein solcher Krieg
wäre eine Katastrophe. Wir müssen uns hier darüber verständigen, wie wir uns dazu verhalten.
({1})
Seit langer Zeit geht es um Krieg und Frieden sowie
das Völkerrecht. Der Atomwaffensperrvertrag enthält
die beiden Regelungen, dass zum einen diejenigen, die
keine Atomwaffen haben, keine bekommen dürfen und
dass zum anderen die fünf Mächte, die damals als Einzige Atomwaffen hatten, diese abbauen müssen. Die
USA und andere Länder haben aber den Atomwaffensperrvertrag schwerwiegend verletzt, weil sie ihre Atomwaffen nie abgerüstet haben.
({2})
Der Iran hat - ob uns das passt oder nicht - den Atomwaffensperrvertrag bislang nicht verletzt; denn er besitzt
keine Atombombe.
({3})
Ein weiterer Punkt ist, dass sich der Iran hinsichtlich
der Atomwaffen etwas umzingelt fühlt. Das liegt nicht
nur an den USA und Russland, sondern auch daran, dass
Israel, Indien und Pakistan Atomwaffen haben. Bei Israel haben die USA dafür gesorgt. Bei Indien und Pakistan haben sie nichts dagegen unternommen. Nun arbeiten sie mit diesen Ländern diesbezüglich zusammen.
Erklären Sie doch einmal jemandem im Iran, warum der
Iran nicht darf, was Indien, Pakistan und Israel dürfen.
Das macht die Sache doch nicht leichter, sondern komplizierter. Wir in Deutschland haben zu diesen Fragen
überwiegend geschwiegen. Das ist das Problem.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
Ja.
Herr Kollege Gysi, ist Ihnen zum einen bekannt, dass
der NPT verlangt, dass auch zivile Nuklearprogramme
so transparent gestaltet werden, dass sie von der internationalen Gemeinschaft kontrolliert werden können, und
somit der Iran sehr wohl den NPT verletzt hat? Ist Ihnen
zum anderen bekannt, dass der Iran von sich selber behauptet, gar kein militärisches Nuklearprogramm zu betreiben, dass Sie also jetzt gerade, indem Sie Gründe für
ein militärisches iranisches Nuklearprogramm anführen,
eine Überverteidigung des Iran vornehmen, die vom Iran
eigentlich gar nicht akzeptiert werden könnte?
({0})
Sie haben Recht mit der Aussage, dass es eine Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde geben soll und es in diesem Zusammenhang Verletzungen
gab. Aber den Kern des Vertrages machen die Regelungen über den Nichtbesitz von Atomwaffen und den Abbau von Atomwaffen aus. Insofern geht die Gegenüberstellung zwischen den USA und dem Iran zum Nachteil
der USA aus.
({0})
Auch ich glaube, dass der Iran irgendwie an Atomwaffen heran will, und zwar genau aus den Gründen, die
ich geschildert habe, nämlich weil er meint, dadurch gewissermaßen eine andere Souveränität zu bekommen.
({1})
Also muss man sich überlegen, was man dagegen tun
kann. Dagegen kann man einiges tun, nur eines nicht,
nämlich einen Krieg führen, was sich die USA überlegen. Bei jeder Macht, die ihnen aus irgendeinem Grund
nicht passt, denken sie, die Lösung bestehe im Krieg.
({2})
Das geht in Afghanistan schief, und das geht im Irak
schief.
Lassen Sie mich zu Afghanistan eines sagen. Da ist
Deutschland voll beteiligt. Was erleben wir denn jetzt?
Wir erleben, dass die Taliban immer mehr Unterstützung
bekommen. War das das Ziel? Man muss doch einmal
darüber nachdenken, was da eigentlich falsch läuft. Niemand will die Taliban. Warum gelingt denen das? Weil
die Besetzung und der Krieg die falsche Antwort sind.
({3})
Im Irak gibt es inzwischen Hunderttausende Tote. Es
ist doch gar kein Ende abzusehen. Man sieht nicht einmal in der Ferne eine Lösung. Das beweist doch erneut:
Der Krieg ist die falsche Antwort. Mit der Höchstform
des Terrorismus, mittels Krieg, können Sie Terrorismus
niemals wirksam bekämpfen. Dieser Nachweis ist inzwischen erbracht.
({4})
Deshalb sage ich: Auch im Iran geht es letztlich strategisch um die Vorherrschaft über Öl- und Gasvorräte im Vorderen und Mittleren Orient. Das weiß auch
der Iran. Deshalb sucht er jetzt viel internationale Solidarität und versucht, sich gegen den Krieg zu schützen.
Was macht Europa, was macht Deutschland? Wir eiern
nur herum. Ich sage Ihnen, was dringend erforderlich ist:
Verhandlungen! Das ist übrigens noch ein Beispiel.
Wenn die USA verhandeln wollen - weil sie keinen
Krieg führen können oder ihn nicht führen wollen -,
dann stellen sie keine Vorbedingungen. So ist es bei
Nordkorea. Da setzen sie sich zusammen und verständigen sich irgendwann. Mit dem Iran haben sie bis heute
nicht einmal geredet. Das kann nun keine Lösung der
Probleme sein.
({5})
Im Unterschied zu Ihnen traue ich Herrn Bush alles
zu. Er führt nicht nur den Afghanistankrieg und den
Irakkrieg. Er hat ein völkerrechtswidriges Foltergefängnis auf Guantánamo, und er hat in Osteuropa geheime
CIA-Gefängnisse eröffnet. Was soll er denn noch machen, bis Sie glauben, dass er auch bereit ist, gegen den
Iran Krieg zu führen, wenn es ihm in den Kram passt?
({6})
Ich möchte jetzt, dass wir klar Nein dazu sagen, nicht
zu 80 Prozent wie beim Irakkrieg. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass wir durch die Zurverfügungstellung des Luftraums, von Flughäfen und von
anderen Einrichtungen am völkerrechtswidrigen Krieg
und damit auch an Völkerrechtsverbrechen beteiligt
sind. Ich finde, für die Zukunft müssten wir sagen: Das
wird mit uns nicht mehr funktionieren. - Frankreich hat
damals übrigens richtig Nein gesagt. Es geht. Sie müssen
jetzt ein klares Nein sagen: Es gibt nichts von Deutschland für den Fall eines Krieges gegen den Iran und am
Besten nichts von der Europäischen Union. - Darum
müssen wir streiten.
Nun bleibt die Frage, worum wir kämpfen müssen.
Ich kann Ihnen sagen: Wenn wir keine Atomwaffen im
Iran wollen - und die wollen wir wohl alle nicht -, dann
gibt es drei Dinge, die wir erledigen müssen: Erstens.
Wir müssen dem Iran eine Sicherheitsgarantie geben,
um das Argument zu entkräften, dass er ansonsten überfallen wird. Zweitens. Wir brauchen eine Sicherheitsgarantie für Israel, und zwar gerade durch den Iran, damit
sich der Nahostkonflikt in dieser Hinsicht nicht verschärft. Drittens. Wir müssen auch dem Iran, auch wenn
es uns nicht passt - es tut mir leid -, die friedliche Nutzung der Atomenergie erlauben, wie sie allen anderen
Staaten auch erlaubt ist.
({7})
Dann können wir vielleicht zu einem Frieden kommen.
Mit Vorherrschaft und mit militärischem Druck kommen wir nicht zum Frieden; vielmehr spitzt sich die Lage
dadurch weiter zu. Ein Krieg gegen den Iran wäre eine
Menschheitskatastrophe. Ich bitte Sie, dazu ganz klar
und ohne Herumeierei Nein zu sagen.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Ruprecht Polenz, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über zwei Anträge von Oppositionsfraktionen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Wir haben gerade von Herrn Gysi gehört, dass die
Fraktion Die Linke - ihr Antrag ist genauso wie seine
Rede - im Grunde antiamerikanische Reflexe abarbeitet.
Es wird kein Wort zur Bedrohung durch den Iran verloren.
({0})
Herr Gysi, diese Bedrohung wird mit einer Handbewegung abgetan. Ich kann mich noch an Ihre MiloševićApologien erinnern.
({1})
Das war nicht viel anders als das, was Sie hier gerade geliefert haben.
Ich möchte nur auf Folgendes hinweisen - vielleicht
liest nicht jeder Ihren Antrag -: Sie lehnen in diesem
Antrag sogar jegliche Sanktion gegen den Iran ab. Die
Linke lehnt also alle Möglichkeiten ab, etwas mit einem
gewissen Druck - auch gegen den Willen des Iran - zu
erreichen. Einen besseren Weg zum Misserfolg kann
man sich nicht vorstellen.
({2})
Ganz anders ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, beschreibt er
die Politik der Bundesregierungen: Unsere Iranpolitik
zeichnet sich durch Kontinuität aus. Das ist aus meiner
Sicht eine gute Grundlage für das Parlament, diese Iranpolitik auch in Zukunft mit breiter Übereinstimmung zu
begleiten.
Was ist die Rolle der Bundesregierungen? Ich wiederhole ausdrücklich: Diese Politik zeichnet sich durch
Kontinuität aus. Wir setzen auf eine diplomatische Lösung. Frau Merkel, die Bundeskanzlerin, hat klar gesagt:
Ich schließe eine militärische Lösung aus; ich will eine
Verhandlungslösung, und zwar einfach deshalb, weil
eine militärische Lösung natürlich keine Lösung wäre.
Wir haben daran gearbeitet, internationale Geschlossenheit zu erreichen. Es ist eine UN-Sicherheitsratsresolution entstanden, der China, Russland, die USA und die
Europäer zugestimmt haben. Dazu ist es nicht von allein
gekommen.
Dazu geführt haben auch Anstrengungen der Bundesregierung. Ich möchte für die deutsche Politik ebenfalls
in Anspruch nehmen: Wir haben auch Veränderungen im
amerikanischen Politikansatz bewirkt. Die Amerikaner
waren am Anfang noch gar nicht bereit, auf das zweite
Gleis unserer Politik zu setzen, nämlich auf unsere Verhandlungs- und Kooperationsangebote. Die Amerikaner haben früher nur auf Druck gesetzt. Sie sind jetzt bereit, zu versuchen, den Iran auch mit Angeboten davon
zu überzeugen, von seinem Weg abzulassen.
({3})
Übrigens, Herr Gysi, die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert heute - vielleicht auch zu Ihrer Beruhigung und damit Sie sich nicht länger gegen virtuelle Albträume verteidigen - den obersten General der US-Streitkräfte,
Peter Pace: Er schließt einen Angriff auf den Iran kategorisch aus. Erzeugen Sie hier also keine virtuellen Papiertiger, nur um auf diese dann umso heftiger einprügeln zu können.
({4})
Die amerikanische Politik macht in diesen Tagen
- auch das möchte ich an dieser Stelle gerne sagen - einen weiteren bedeutenden Schritt in die Richtung, die
die Baker/Hamilton-Kommission empfohlen hat und die
auch wir, ausweislich unserer letzten Debatten, gerne gesehen hätten, vielleicht ein bisschen eher; jetzt kommt
sie. Die Amerikaner werden an zwei Irakkonferenzen
teilnehmen, an denen sämtliche Nachbarn des Irak teilnehmen, also auch Syrien und der Iran. Ich kann nur hoffen, dass in den Kaffeepausen auch noch über andere
Dinge gesprochen wird als nur über die Fragen, die den
Irak unmittelbar betreffen.
({5})
Wie sieht unser Lösungsansatz aus? Wir wollen ein
zweigleisiges Vorgehen. Wir wollen auf der einen Seite
natürlich allmählich Druck aufbauen. Dieser Druck soll
aber maßvoll, verhältnismäßig, genau gezielt und, was
wichtig ist, auch reversibel sein. Wir wollen auf der anderen Seite Iran mit einem Verhandlungs- und Kooperationsangebot - es liegt weiterhin auf dem Tisch - einladen, seine Wirtschaft zu entwickeln, die Technologie
voranzubringen und eine Energiepartnerschaft mit Europa einzugehen. Auch auf dem Gebiet der Kernenergie
haben wir Kooperationen angeboten. Die Nutzung der
Kernenergie ist aus iranischer Sicht natürlich eine wichtige Ressource, die die Iraner in der Zukunft nutzen wollen.
Aber der Iran muss wählen. Er muss wählen, ob er
das Kooperationsangebot annimmt oder ob er - das ist
im Moment leider noch der Fall - durch Ablehnung der
Forderung, die die internationale Staatengemeinschaft an
ihn gerichtet hat, den Weg in die Selbstisolierung fortsetzt.
({6})
Jetzt ein Wort zur Gefährlichkeit der Krise, Herr Gysi.
Die liegt in ganz anderen Punkten als denen, die Sie angesprochen haben. Weil es keine Klarheit über das iranische Nuklearprogramm gibt und weil wir beobachten
müssen, wie der Iran eine Raketenrüstung mit immer
weiter reichenden Raketen betreibt
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Paech von der Fraktion Die Linke?
Ja, gern.
Herr Kollege Polenz, es ist Ihre ständige Redensart,
dass man den Druck erhöhen muss, dass man Sanktionen
maßvoll, verhältnismäßig verhängt. Sie werden aus der
Vergangenheit wissen, dass der Iran auf die Sanktionen,
die jetzt zum zweiten Mal beraten werden, nicht reagieren wird, weil er keinen Anlass dazu sieht. Dann kommen die dritten und vierten Sanktionen. Wann sind Sie
bereit, auszusteigen, damit es nicht zu den letzten Sanktionen kommt, die dann zweifelsohne - das werden die
Amerikaner verlangen - militärisch sein müssen?
Herr Paech, ich habe viel übrig für Schachspielen und
für die Versuche, sozusagen zwei, drei oder fünf Züge
vorauszudenken. Aber Sie haben übersehen, dass im Iran
bereits nach dem ersten Zug - vielleicht war es in der
Auseinandersetzung auch der fünfte oder sechste -, der
letzten Sicherheitsratsresolution, die ja einstimmig ergangen ist, sehr wohl Reaktionen zu beobachten sind,
die so nicht unbedingt zu erwarten waren und die Sie
ausweislich Ihrer Zwischenfrage schon gar nicht erwartet hätten.
Es gibt jetzt eine offene Kritik aus den zugelassenen
iranischen Fraktionen und Parteien an der iranischen Nuklearpolitik. Die Frage, ob der Weg, den die iranische
Regierung hier eingeschlagen hat, weitergegangen werden oder ob man ihn korrigieren soll, wird offen diskutiert. Natürlich merkt die Bevölkerung mittlerweile, dass
der iranische Präsident Ahmadinedschad diesen Konflikt
und seine Rhetorik in diesem Konflikt immer wieder
einsetzt, um sie zu vertrösten, wenn sie ihn nach der Erfüllung seiner Wahlversprechen fragt, wenn sie ihn fragt,
warum die Tomatenpreise steigen, und wenn sie ihn
fragt, warum die Arbeitslosigkeit immer noch so hoch
ist. Das ist das Problem, vor dem die iranische Gesellschaft tatsächlich steht. Immer mehr Iraner erkennen,
dass die Politik ihrer Regierung zur Lösung der Fragen,
die ihnen auf den Nägeln brennen, nichts, aber auch gar
nichts leistet,
({0})
dass aber ein Eingehen auf das westliche Kooperationsangebot dazu sehr wohl geeignet wäre.
Ich bin ganz sicher: Wir müssen mit Geduld und Festigkeit die doppelte Strategie fortsetzen, auf der einen
Seite, wie ich schon gesagt habe, den Druck maßvoll erhöhen - das muss jetzt sicherlich kommen, nachdem die
erste Resolution keine Beachtung gefunden hat -, wiederum geschlossen, wiederum mit Russland, wiederum
mit China - das war das, was die Iraner am meisten
überrascht hat -, und auf der anderen Seite gleichzeitig
deutlich machen: Das Kooperationsangebot liegt auf
dem Tisch. Vor dem Hintergrund der beiden Konferenzen im Irak ist auch klar, dass der Weg, wenn es Richtung Kooperation geht, zu Sicherheitsvereinbarungen
führen kann. Dann sind wir in einer Bewegung - ähnlich
wie das bei den Nordkoreagesprächen der Fall war -, die
zu einer Lösung führen könnte, wie das auch in dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen, der sich von Ihrem,
Herr Paech, wirklich um Welten unterscheidet, aufgezeigt worden ist.
({1})
Der Kollege Paech will noch nachfragen, wenn Sie
erlauben.
Das kann er tun. Dann kann ich länger reden.
({0})
Herr Kollege Polenz, Sie haben mir zwar Ihren Optimismus erklärt, was die Wirksamkeit Ihrer Sanktionsspirale angeht, aber Sie haben mir nicht die Frage beantwortet: Wann werden Sie aussteigen, wenn diese Ihre
Hoffnungen nicht erfüllt werden? Dazu verweise ich auf
die vergangenen Erfahrungen.
({0})
Dazu wird es einmal kommen. Sind Sie bereit, dann auszusteigen? Wann wird das sein?
Lieber Herr Paech, ich komme noch einmal auf das
Bild vom Schachspiel zurück. Ich bin kein besonders guter Schachspieler, aber ich würde wahrscheinlich jede
Partie gewinnen, wenn mir mein Gegenüber seinen jeweils nächsten Zug verraten würde.
({0})
Jetzt zur Gefährlichkeit der Krise. Iran betreibt ein
Hegemoniestreben in der Region. Nach dem Sturz
Saddam Husseins und dem Sturz der Taliban in Afghanistan versucht er, die schiitische Mehrheit im Irak und
die Hisbollah im Libanon für dieses Bestreben zu nutzen.
Herr Gysi, das, was Sie zu den Sicherheitsgarantien
für Israel gesagt haben, wirkt schon ein bisschen hohl,
wenn man bedenkt, dass der Iran ständig Öl in die
Flamme des Nahostkonflikts gießt. Alle Welt sagt: Wenn
es eine Lösung geben wird, dann ist es eine Zweistaatenlösung. Es gibt eine Ausnahme: Iran sagt, es solle einen
Staat geben, in dem alle entscheiden, die dort jetzt wohnen. Das würde natürlich das Ende von Israel und das
Ende eines jüdischen Staates bedeuten. Kein Wort von
Ihnen dazu!
({1})
Kein Wort von Ihnen dazu, dass der Iran die Hamas
und den islamischen Dschihad unterstützt! Kein Wort
zur Holocaustkonferenz! Zur Rhetorik Ahmadinedschads
haben Sie mehr oder weniger gesagt, wir seien uns alle
einig, wie schlimm sie sei; man müsse das gar nicht näher kritisieren.
({2})
Herr Gysi, Sie hätten sogar Anlass gehabt, eine Bemerkung von ihm zu kommentieren, die er heute gemacht
hat: Er hat die Zionisten als „eine Personifizierung des
Satans“ bezeichnet. Er legt also ständig nach.
Das alles geschieht vor dem Hintergrund des Hegemoniestrebens und der Rüstungsanstrengungen. In
der Region - in Jordanien, in Ägypten, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudi-Arabien - gibt es
inzwischen, auch wegen der schiitischen Minderheiten
in manchen arabischen Staaten, die Sorge vor einem
schiitischen Halbmond.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt, der die Sache
so gefährlich macht: Wenn wir nicht wissen, was Iran im
Schilde führt, wissen es die Länder der Region auch
nicht. Sie stehen vor der Frage: Sollen wir so lange warten, bis wir Gewissheit haben - wie Pakistan und Indien,
die sich damals sozusagen gegenseitig überrascht haben;
sie haben mit den ersten Nukleartests ungefähr gleichgezogen -, oder verlassen wir uns darauf, dass die Anstrengungen irgendwie doch noch dazu führen, dass das iranische Atomprogramm friedlich bleibt? Das heißt, wir
sind schon jetzt in einer Situation, in der potenziell ein
atomares Wettrüsten in der Region einsetzen kann. Da
sagen Sie, dass Sie keine Sanktionen wollen, dass wir
warten sollten.
({3})
- Ja, ja. Herr Gysi, Sie haben auch gesagt: Keine Sanktionen!
({4})
Es geht um eine diplomatische Lösung. Bei dieser
diplomatischen Lösung müssen natürlich die legitimen
Interessen des Iran in einer fairen Weise berücksichtigt
werden. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch auf
der Anerkennung internationalen Rechts bestehen, Herr
Gysi. Die Sicherheitsratsresolution 1737 ist internationales Recht. Sie enthält ganz klare Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber dem Iran.
Natürlich geht es auch um Gesichtswahrung, für den
Iran, aber auch für die internationale Gemeinschaft, die
nicht so tun kann, als hätte sie diese Resolution nicht beschlossen.
Daher ist die Frage, wie es jetzt weitergeht. Ich denke,
in absehbarer Zeit wird es eine neue Resolution des Sicherheitsrats geben, die die Sanktionen an der einen oder
anderen Stelle maßvoll und ebenso zielgerichtet verstärken wird. Es wird auch zu einer Bekräftigung des Angebots auf Kooperation kommen. Das alles geschieht vor
dem Hintergrund der Irakkonferenz, die in Aussicht ist.
Dort werden die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Teheran und Damaskus an einem Tisch sitzen. Die Konferenz birgt wirklich die Chance, diese gefährliche Krise
Schritt für Schritt zu entschärfen, wenn sie nicht noch
- das muss man gerade im Hinblick auf Irakkonferenzen
im Hinterkopf haben - von Extremisten torpediert wird.
Man kann erst aufatmen, wenn die Konferenz im Gange
ist.
Wir reduzieren die Gefährlichkeit, wenn wir rhetorisch abrüsten. Wir richten die Forderung nach rhetorischer Abrüstung an alle Seiten. Nach dem Beitrag von
Herrn Gysi muss ich hinzufügen: Dieser Appell richtet
sich auch an einige Kollegen hier im Hohen Haus.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
trifft sich gut, dass wir diese Diskussion schon gestern
im Auswärtigen Ausschuss geführt haben; wir werden
sie - jetzt auf der Grundlage zweier Anträge - fortsetzen. Ich glaube, insbesondere der Antrag der Grünen
gibt uns viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.
Wir werden uns natürlich über manches in dem Antrag
nicht verständigen können. Wahrscheinlich werden wir
bei der Grundfrage der zivilen Nutzung der Kernenergie
keinen Konsens erreichen. Der Antrag enthält aber Elemente, die es wert sind, gemeinsam konstruktiv diskutiert zu werden.
Es gibt wohl kaum jemanden in diesem Haus, der eine
militärische Option nutzen will; die allermeisten wollen
sie auch nicht herbeireden. Außerdem glaube ich, dass es
grundsätzlich Einvernehmen darüber gibt, dass wir für
die iranischen Akteure Anreize schaffen müssen - so
steht es in Ihrem Antrag -, auf einen Kompromiss einzugehen. Dabei müssen wir die legitimen Sicherheitsinteressen und auch die Energieinteressen des Iran berücksichtigen.
Ferner gefällt mir an dem Antrag, dass er auch den
Querverweis zur Nichtverbreitungspolitik und zur
Abrüstungspolitik im Allgemeinen enthält. Ich denke,
dass dieser Zusammenhang hin und wieder etwas unterbelichtet wird. Deswegen ist es bei allen Unterschieden,
die es noch geben mag, wichtig, dass wir darüber diskutieren.
Meine Damen und Herren, wir haben Herrn
Laridschani in München erlebt. Ich fand sein Auftreten
eindrucksvoll, weil er dort eine große Übung in Public
Diplomacy abgeliefert hat. Man muss natürlich nicht mit
ihm übereinstimmen, aber man muss sagen, dass er das
sehr gut gemacht hat. Er hat auch an einigen Stellen
wichtige Punkte angesprochen. Ich finde, wenn man auf die
Situation, die Kultur und die Geschichte des Iran eingehen
will - dieses Volkes, nicht der staatlichen Strukturen -,
dann muss man ganz besonders darauf achten, dass man
den notwendigen Respekt aufbringt und den Gesprächspartnern die Chance gibt, auf Augenhöhe zu kommunizieren.
In vielerlei Hinsicht hat man ja den Eindruck, dass für
die iranischen Verhandlungspartner der Prozess das Ziel
ist. Das könnte Herr Schaefer vom Auswärtigen Amt
wahrscheinlich noch sehr viel besser bestätigen. Man
will nun endlich auf Augenhöhe mit den Amerikanern in
diesen direkten Verhandlungsprozess einsteigen. Das ist
schon einmal das Ziel. Unser Ziel kann es nicht sein,
sich in einen unendlichen Prozess hineinziehen zu lassen. Wir haben das Ziel vor Augen, die Iraner davon zu
überzeugen, dass sie von der Option der nuklearen Waffen Abstand nehmen.
({0})
Dieses Ziel darf man nicht aus den Augen verlieren,
obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass man auch
bei diesem Partner die Themen Psychologie und
Gesichtswahrung nicht außer Acht lassen darf, wenn
man vorankommen will.
Ich bin der Auffassung, dass es ganz wichtig ist, dass
wir bei der EU-3 und im Weltsicherheitsrat der Vereinten
Nationen Einigkeit wahren. Sonst können wir keine
Wirkung erzielen. Übrigens: Wie stark die Wirkung der
Sanktionen der letzten Jahre gewesen ist, erkennt man
daran, dass einem die Gesprächspartner in der arabischen Welt sagen: Die schärfste Waffe, die es gegen den
Iran gibt, ist der Ölpreis, weil die Produktionskosten dort
aufgrund der veralteten Strukturen der Ölindustrie mittlerweile so hoch sind, dass durch ein weiteres Absinken des
Ölpreises echte Probleme generiert werden würden,
insbesondere - das muss man noch berücksichtigen - da
ein wesentlicher Teil der Benzinversorgung zu subventionierten Preisen und enorm hohen Kosten importiert
werden muss. Das hält man auf Dauer nicht durch. Ich
glaube, auch insofern ist es wichtig, dass wir die Länder
der Region einbeziehen.
Ich glaube, es ist wichtig, rhetorisch abzurüsten; das ist
hier schon gesagt worden. Das gilt auch für viele Akteure
im Westen; denn es geht doch darum, die iranische
Bevölkerung nicht aus den Augen zu verlieren, sondern
sie zu gewinnen und nicht Ahmadinedschad mit seinen
fürchterlichen Sprüchen geradezu in die Arme zu treiben.
({1})
Wir haben diesem iranischen Volk doch enorm viel
zu bieten. Es ist ein im Schnitt sehr junges Volk, das sehr
gut ausgebildet ist und sich Richtung Westen - übrigens
stärker nach Amerika als nach Europa - orientiert. Es
will abgeholt und nicht gerade dem Staatspräsidenten in
die Arme getrieben werden. Wir können ihm - einem stolzen, kulturell hochstehenden und mit großer Geschichte
ausgestatteten Volk - eine volle und gleichberechtigte
Teilhabe auf Augenhöhe mit den wirtschaftlich und
technologisch fortschrittlichsten Gesellschaften dieser
Welt anbieten. Das, was wir zu bieten haben, ist etwas,
und wir sollten dieses attraktive Angebot nicht kleiner
machen, als es ist.
In den letzten Tagen ist eine neue Bewegung in das
Ganze hineingekommen. Ich weiß nicht, ob bei der Linken
deswegen geradezu ein lähmendes Entsetzen herrscht.
Ich finde es ausgesprochen positiv und sehr gut, dass die
Amerikaner diesen Schritt gemacht haben, der ihnen
nicht leicht gefallen ist.
({2})
Man muss doch auch einmal die Befindlichkeit unserer
amerikanischen Freunde berücksichtigen. Unseren amerikanischen Freunden steckt das Trauma der Botschaftsbesetzung von 1979 bis 1981 noch ganz tief in den
Knochen. Dass sie jetzt diesen Schritt getan haben, ist
ein großer Erfolg, an dem sicherlich auch die Europäer
ihren Anteil haben. Ich hoffe, dass auch die Iraner jetzt
diese Chance nutzen.
Durch die Einladung der Iraker an diejenigen, die jetzt
an dieser ersten Verhandlungsrunde teilnehmen sollen,
wird eine große Chance geboten. Ich glaube, wenn im
April eine Verhandlungsrunde auf Ministerebene stattfindet, dann schlägt die Stunde der Wahrheit, ob wirklich
der Wille da ist, auf einen Kompromiss einzusteigen,
oder ob sich der Verdacht derjenigen verfestigt, die den
Eindruck haben, dass wir hier seit langer Zeit und für
eine noch möglichst lange Zeit an der Nase herumgeführt
werden. Das wäre fatal. Die Chance ist jetzt gegeben.
Ich hoffe, die Iraner werden sie nutzen.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Rolf Mützenich, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
besteht kein Zweifel, die iranische Atomkrise befördert
Spannungen in der Region und weltweit. Es gibt einige,
die ein militärisches Vorgehen fordern; es gibt weitere,
die in den Kategorien des Krieges denken - außerhalb,
aber auch innerhalb der Region. Wir sagen, beides ist
riskant. Europa führte einen Weltkrieg, an dessen Beginn
ebenfalls zunächst nur Säbelrasseln stand. Letztlich genügte
ein Funke zum Flächenbrand. Deswegen lehnen wir
Sozialdemokraten militärische Maßnahmen ab. Wir denken
bei unseren Überlegungen zur Lösung der iranischen
Atomkrise nicht in militärischen Kategorien. Einen weiteren Krieg könnten diese Region und insbesondere die
Nachbarn des Iran nicht verkraften.
({0})
Deshalb warne ich davor, dass wir uns in eine Scheindebatte hineinbegeben. Wir sollten die Menschen nicht
verunsichern, schon gar nicht aus kleinlichen parteitaktischen Erwägungen.
({1})
Herr Gysi, ich fand es bezeichnend, dass Sie den diskriminierenden Atomwaffensperrvertrag - dass er diskriminierend ist, wussten die Vertragsstaaten, die ihn
damals unterzeichneten - im Grunde genommen als Begründung für den iranischen Weg in den letzten Monaten
heranzogen. Das war falsch. Diesen Vertrag kann man
nicht als Messlatte verwenden. Fest steht vielmehr, die
Iraner haben den Atomwaffensperrvertrag seit 18 Jahren
verletzt. Sie haben ein geheimes Atomwaffenprogramm
betrieben, sie betreiben eine Aufrüstung im Bereich von
Trägersystemen. Bis heute ist es der Internationalen
Atomenergiebehörde nicht gelungen, dem Iran gemäß
dem Vertrag zu attestieren, dass er keine militärischen
Maßnahmen plant; vielmehr wird ihm unterstellt, er versuche, sich militärische Optionen zu verschaffen. Das
hätten Sie in diesem Zusammenhang sagen sollen.
({2})
Zu Israel, Pakistan oder Indien beispielsweise gibt es
einen deutlichen Unterschied. Diese sind eben nicht
Unterzeichner des Vertrages. Daraus hätten Sie den
Schluss ziehen sollen, dass die Versuche des Außenministers in den letzten Wochen und Monaten, wieder
Schwung in die Abrüstungsdebatte zu bringen, unterstützenswert sind. Nichts anderes hat er in dem Interview im
„Handelsblatt“ zur Diskussion über die Raketenabwehr
getan. Er hat darin seine Besorgnis über eine erneute
Aufrüstung auch in Europa zum Ausdruck gebracht.
Auch wenn es vom Thema nicht direkt hier hingehört,
hätte man, wie ich finde, auch loben können, dass sich
Deutschland der Initiative der 28 Staaten zur Ächtung
von Streumunition angeschlossen hat. Ein solcher Einsatz
gehört nämlich letztlich zu einer klugen Abrüstungspolitik
dazu.
({3})
Deswegen bitte ich darum, keine Scheindebatte zu
führen. Da, wie ich glaube, diplomatische Schritte weiterhin möglich und notwendig sind, sollten wir nicht über
Krieg, sondern über Diplomatie reden.
({4})
Diplomatie hat an dieser Stelle eine Chance. Ich glaube
nämlich, dass es falsch ist, schon heute zu sagen, der europäische Ansatz ist gescheitert. Im Gegenteil: Mit dem
europäischen Engagement konnte der Iran in den letzten
Jahren massiv unter Druck gesetzt werden. Hierdurch
wurde der Internationalen Atomenergiebehörde erst die
Möglichkeit eröffnet, Inspektionen im Iran durchzuführen.
Das war wichtig und ist Teil des europäischen Ansatzes
gewesen. Zugleich hat der europäische Ansatz dazu beigetragen, dass weitere Länder in dieser Frage an einem
Strang ziehen. Früher haben sich Russland und China
nicht an dieser Diskussion beteiligt. Sogar die USA
konnten vom europäischen Ansatz überzeugt werden.
All das hat Diplomatie geleistet. Darüber sollten wir hier
im Parlament diskutieren.
({5})
Weiterhin glaube ich, dass die Bundesregierung richtig
gehandelt hat, und zwar nicht nur diese, sondern schon
die rot-grüne. Letztere hat ja ideenreich versucht, die
EU-3 mit dem Iran ins Gespräch zu bringen. Zugleich
wurde immer darauf geachtet, dass der Sicherheitsrat
nicht übergangen wird. Auch das war Bestandteil der
Diplomatie. Es war ja gerade das Manko beim Irakkrieg,
dass sich damals insbesondere die Ständigen Mitglieder
des Sicherheitsrats nicht immer auf eine gemeinsame
Resolution verständigen konnten, wie es derzeit der Fall
ist. All das hat doch Diplomatie geleistet. Die Internationale
Atomenergiebehörde ist dabei auf solche Einigkeit angewiesen, weil sie keinen eigenen Sanktionsmechanismus
hat, um gegen Vertragsverletzungen vorzugehen. Darum
ist es so wichtig gewesen, dass der Sicherheitsrat sich
damit befasst hat und am Montag zusammengekommen ist,
Herr Paech. Darüber haben wir im Ausschuss diskutiert. Es
ist doch gut, wenn wir China und Russland mit im Boot
haben. Darüber muss man sich doch nicht ärgern, sondern
das ist Voraussetzung für eine zivile Bearbeitung dieses
Konfliktes.
({6})
Wir unterstützen zum Beispiel auch das, was Herr
al-Baradei auf internationalem Parkett im Namen der Internationalen Atomenergiebehörde gegenüber dem Iran
zu thematisieren versucht. Ich glaube, es ist sehr gut,
sozusagen, wie er es in die Debatte eingebracht hat, ein
doppeltes Aussetzen anzubieten: Wenn Iran zu einer
Suspendierung der Urananreicherung bereit ist, sollen
auch die Sanktionen der Vereinten Nationen ausgesetzt
werden. Ich glaube, das ist genau der richtige Weg. Daran
zeigt sich, dass Diplomatie an dieser Stelle eine Chance hat.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte schön, Frau Knoche.
Ich finde den Verlauf der Diskussion hier im Parlament
sehr gut, weil dadurch deutlich wird, wie intensiv das
Bemühen auch in der deutschen Politik ist, den Weg der
Diplomatie zu gehen. Hier sollte nicht das Missverständnis
aufkommen, dass die Fraktion Die Linke diese Bemühungen nicht unterstützt.
Ich möchte nur auf eine große Sorge hinweisen, die
wir haben, und Sie fragen, wie Ihre Einschätzung dazu
ist. Wir alle haben auch parlamentarische Kontakte zu
den USA, und wir wissen, wie wenig gewiss es ist, wie
sich die Bush-Administration verhalten wird. Man geht
davon aus, dass es durchaus möglich ist, dass Bush sich
am Ende seiner Ära mit einem Big Bang verabschieden
wird,
({0})
dass er eine Militäreskalation gegen den Iran vorhat. Wie
sehen Sie die Rolle, die Deutschland einnehmen muss,
um solche grässlichen Optionen der US-amerikanischen
Administration zurückzudrängen und ihnen deutlich entgegenzutreten? Wenn hier eine klare Stimme in dem
Sinne erhoben würde, dass man dieser Art von USamerikanischer Politik auf jeden Fall entschiedenen
Widerstand entgegensetzt sowie der Entwicklung und
den Sicherheitsinteressen des Iran Rechnung trägt, dann
wäre, glaube ich, auch für diese Debatte sehr viel gewonnen.
({1})
Wenn Sie die Diplomatie, die ich gerade zu schildern
versucht habe, unterstützt hätten, hätten Sie einen anderen Antrag geschrieben.
({0})
Ich bin ja froh, wenn Sie der Meinung sind, dass das,
was wir hier ausführen, letztlich im Sinne der Diplomatie
ist. Ich glaube, dass das richtig ist.
Sie sprachen von Kontakten zu den USA. Ich habe
mehr Kontakte ins iranische Parlament. Dort weiß man
natürlich, dass die US-amerikanische Außenpolitik in
den letzten Jahren - das haben auch wir gelernt - durchaus
andere Interessen hat. Manchmal erscheint die Debatte
im iranischen Parlament ganz anders, als Sie sie hier
wahrgenommen haben.
Sie müssen aber auch wahrnehmen, dass sich gerade die
US-amerikanische Politik gegenüber dem Iran verändert
hat. Seit Beginn der Verhandlungen 2003 haben die USA
dem Iran das Recht zur friedlichen Nutzung der Kernenergie komplett abgesprochen. Das hat sich gewandelt.
Die USA haben - darauf ist hingewiesen worden - sehr
stark, wie ich glaube, aus den Erfahrungen mit Libyen
und Nordkorea gelernt, wie man Länder, die eine Kernwaffenoption durchzusetzen versuchen, möglicherweise
wieder einfängt. Das hat man bei Libyen erfolgreich
geschafft, und ich hoffe, dass das auch bei Nordkorea
der Fall sein wird.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Ankündigung
vonseiten der USA, mit Iran und Syrien an einer Irakkonferenz teilzunehmen, letztlich auch aufgrund dieses
Lernprozesses stattgefunden hat. Das spricht auch für
die Diplomatie, und das sollten Sie mit unterstützen.
Der andere Punkt, den man wahrnehmen muss - vielleicht haben Sie da noch viel bessere Informationen,
wenn Sie so oft mit Kolleginnen und Kollegen in den
USA sprechen -, ist, dass Außenministerin Rice in der
letzten Zeit eine Menge versucht hat, um das Ganze auf
diplomatischem Wege voranzubringen. Aber auch der neue
amerikanische Verteidigungsminister Gates war, damals
mit einem Papier des Council on Foreign Relations,
dafür, mit dem Iran in direkte Verhandlungen zu treten.
Auch das muss man wahrnehmen. Wenn Sie an dieser
Stelle für Diplomatie gewesen wären, hätten Sie das in
Ihren Antrag aufnehmen können.
({1})
Da Sie, wie Sie sagen, Ihre Kontakte in die USA pflegen, möchte ich Sie gern bitten, den USA möglicherweise ein anderes Bild vom Iran zu vermitteln. Ich
glaube, das Bild, das Präsident Bush in den letzten Monaten immer wieder vom Iran gezeichnet hat, ist falsch,
genauso falsch wie das, was er in seiner Rede an die Nation zum Iran gesagt hat.
Er hat zwar einen Unterschied zwischen dem Volk
und dem Mullahregime skizziert. Das ist vollkommen
richtig. Ich glaube, dass viele Menschen im Iran mit dieser Gesellschaft unzufrieden sind. Aber sie wollen Respekt gegenüber ihrer Nation und gegenüber ihren Erfolgen. Sie wollen auch deswegen mit Respekt behandelt
werden, weil sie gegen den Willen eines großen Teils der
Weltgemeinschaft einen achtjährigen Krieg gegen den
Irak durchgestanden haben. Viele andere Punkte spielen
an dieser Stelle eine Rolle.
Ich glaube daher, dass die Analogie, die der amerikanische Präsident an dieser Stelle macht, falsch ist. Das
Volk ist nicht komplett gegen dieses Mullahregime.
Aber es will sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt. Es
will im Grunde genommen auch, dass die Frauen in dieser Gesellschaft viel freier sind, auch wenn man vielleicht dem einen oder anderen Iraner begegnet, der das
anders sieht. Aber insgesamt ist diese Gesellschaft so
fortschrittlich, wie wir es uns im Westen bei der Auseinandersetzung mit Gesellschaften in dieser Region wünschen.
Sie sollten den USA deutlich machen, dass wir es mit
einer Gesellschaft zu tun haben, in der eben Diplomatie
möglich ist, in der ein Parlament dem Präsidenten widerspricht und in der es iranische Studenten gibt, die gegen
ihn protestieren. Das eröffnet Möglichkeiten, um innerhalb der USA für den Standpunkt zu werben, dass sich
Diplomatie an dieser Stelle lohnt.
({2})
Ich glaube, wir tun gut daran, nicht in militärischen
Kategorien zu denken und zu reden, sondern die Facetten im Iran wahrzunehmen und danach zu handeln. Deshalb unterstützen wir Sozialdemokraten die Bundesregierung bei ihren vielfältigen Bemühungen, die iranische
Atomkrise friedlich zu lösen. Ich glaube, wir tun ebenfalls gut daran, uns noch öfters im Ausschuss über diese
Möglichkeiten zu unterhalten.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Müller, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte hat gezeigt: Wir sind uns hier einig, dass wir alles daransetzen müssen, eine iranische Atombombe auf
den Verhandlungsweg zu verhindern.
Herr Kollege Gysi, wenn ich auf ein Argument von
Ihnen eingehen darf: Der Iran will nicht die Bombe aus
Schutz vor einem drohenden Angriff der Amerikaner
- das haben Sie insinuiert, weil es in Ihre Argumentation
passt -, sondern ich bin der festen Überzeugung, dass
der Iran aus hegemonialen Interessen in der Region die
Bombe will. Deshalb ist es so, dass sich nicht nur die
Anrainerländer - darüber wurde im Gouverneursrat diskutiert - aufgrund der Geschehnisse im Iran große Sorgen machen. Ich habe den Eindruck, dass Sie vor der
Kerstin Müller ({0})
Tatsache, dass sich die halbe Welt Sorgen macht und die
Verhandlungen der EU-3-plus-3 stützt, die Augen verschließen, weil das nicht in Ihre innenpolitische Argumentation passt.
({1})
Ich weiß noch sehr genau - viele Kollegen haben es
angesprochen -, dass es der drohende Rüstungswettlauf
in der Region war, der Außenminister Fischer umgetrieben hat. Deshalb haben wir 2003 die Initiative für einen
Verhandlungsprozess ergriffen. Es ist in der Tat ein großer Erfolg - auch das müssen Sie von der PDS einmal
konstatieren -, dass die USA, Russland und China diesen Prozess inzwischen aktiv bis hin zu den - angeblich
nur symbolischen - Sanktionen mittragen.
Es war mühsam, die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft aufgrund der vorhandenen Widersprüche zu erreichen. Aber sie ist ein ganz entscheidender Schlüssel, um überhaupt zu erreichen, dass der Iran
auf dem Verhandlungsweg von seinem Vorhaben ablässt,
eine Atombombe zu bauen.
({2})
Ich will allerdings zu der Drohung mit einem Militärschlag oder entsprechenden Planungen - Teile der USRegierung schließen ja demonstrativ einen Militärschlag nicht aus - sagen: Die Signale der amerikanischen Partner sind zumindest widersprüchlich. In den
Verhandlungen und mit der UN-Resolution sagen sie
klar Nein zur militärischen Option. In der entsprechenden UN-Resolution ist der Automatismus eines Militärschlages ausgeschlossen, weil es keinen Verweis auf
Art. 42 der UN-Charta gibt. Aber die Signale, die man
natürlich ansonsten aus den USA bekommt, sind - das
sage ich für meine Fraktion - kontraproduktiv und untergraben im Grunde genommen die Glaubwürdigkeit des
gesamten Prozesses,
({3})
der ganz klar auf eine Verhandlungslösung setzt und damit die militärische Option ausschließt.
({4})
Das heißt - das ist unsere Erwartung -, dass die
Europäer und die deutsche Bundesregierung das den
amerikanischen Partnern immer wieder deutlich machen
müssen. Wir brauchen eine Fortsetzung des Verhandlungsweges, am besten sogar - das haben Sie, Herr
Polenz, selber vorgeschlagen - direkte Verhandlungen
der USA mit dem Iran statt solcher gefährlicher Militärplanungen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Gerne. Wie eben schon so schön gesagt wurde: Das
verlängert die Redezeit.
Frau Kollegin Müller, ich habe zwei ganz kurze Fragen hintereinander:
Erstens. Sie haben wahrscheinlich recht, dass es zum
Beispiel dem Präsidenten im Iran um Vorherrschaftsfragen geht. Aber wenn wir die Sicherheit des Iran garantierten, glauben Sie nicht, dass er dann gegenüber der
Mehrheit seiner Bevölkerung diesbezüglich keine Chancen hätte, die er heute mit einer anderen Argumentation
nutzt?
Zweitens. War es nicht so, dass der Sicherheitsrat
gemeinsame Beschlüsse mit China und Russland gegen
den Irak fasste, dies den Krieg aber nicht verhindert hat?
Da darf man doch bei Bush wohl misstrauisch sein.
Ich gebe eine Antwort darauf. Die Parallelität zum
Irak halte ich für völlig falsch. Denn anders als bei der
damaligen Entwicklung im Hinblick auf den Irak
schließt die jetzige Resolution des Sicherheitsrates gegenüber dem Iran den Verweis auf Art. 42 der UNOCharta ausdrücklich aus. Das heißt, der Automatismus
zu einem Militärschlag ist hier gerade nicht gegeben.
({0})
Darüber haben wir auch im Ausschuss ausdrücklich diskutiert.
Das ist der Unterschied zum Irak. Denn da ging es
nicht darum, dass die Resolution nicht die Ermächtigungsgrundlage ist, sondern um Folgendes: Was macht
der Irak? Hat er Massenvernichtungswaffen, oder hat er
keine? Das war der Streitpunkt beim Irakkrieg. Ich finde,
dass Sie eine rein innenpolitische Diskussion führen. Sie
malen etwas an die Wand, was so von den internationalen Beschlüssen nicht gedeckt ist, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der PDS.
({1})
Dennoch gebe ich Ihnen darin recht, dass man den
amerikanischen Partnern immer wieder ganz klar sagen
muss: Ein Militärschlag ist keine Option. Theoretische
Spielereien darüber untergraben den Prozess eher und
führen nicht dazu, dass er zum Erfolg wird.
Zu den Sanktionen. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag in der Tat gegen Sanktionen aus. Da muss ich allerdings fragen: Was passiert eigentlich? Wollen wir diesem iranischen Katz-und-Maus-Spiel noch mehrere
Jahre tatenlos zusehen? Ich glaube, das kann die internationale Gemeinschaft nicht machen. Wenn wir glaubwürdig sein wollen - wir verhandeln ja seit 2003 -, dann
Kerstin Müller ({2})
ist es richtig, moderate Sanktionen - so hat es der Sicherheitsrat beschlossen - festzulegen.
Interessant ist ja, dass es darauf durchaus eine Reaktion gibt, wie man heute zum Beispiel dem Ticker entnehmen kann: Der Iran debattiert über den richtigen
Weg. Der Iran zeigt sich jetzt wieder verhandlungsbereit.
Das heißt, wir müssen diesen Doppelansatz konsequent
verfolgen. Wir müssen einerseits Verhandlungen anbieten, aber andererseits moderate Sanktionen umsetzen.
Wir müssen die Tür zu Verhandlungen immer offenhalten. Das ist der richtige Weg.
Wichtig ist auch, dass man dem Iran im Hinblick auf
die Aussetzung der Anreicherung von Uran entsprechende Kompromissvorschläge macht. Das ist ja wohl
passiert. Das Ziel müssen direkte Verhandlungen sein;
das ist der Weg. Wenn der erfolgreich ist - das haben einige von Ihnen angesprochen -, dann wird das endlich
wieder einmal auch zu einer Stärkung des NVV-Vertrages führen,
({3})
von dem man leider sagen muss - daran sind nicht nur
die Iraner schuld -, dass er durch vielerlei Entwicklungen in der Welt - leider auch durch amerikanisches Verhalten und zu geringe Abrüstungsbemühungen - sehr geschwächt ist. Ebenso müssen wir erreichen, dass diese
internationalen Verträge zur Abrüstung wieder gestärkt
werden, weil dies der einzige Weg ist, Konflikte auf
friedlichem Weg zu lösen.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4202 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen; die Vorlage auf Drucksache 16/4407 soll an
dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 16/4373, 16/4419 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Einsicht, die den Gesetzgeber Anfang der
80er-Jahre dazu bewogen hat, die Künstlersozialversicherung einzuführen, gilt im Grundsatz auch heute noch
unverändert, denn geringes Einkommen und ein hohes
Berufsrisiko begründen ein erhöhtes Schutzbedürfnis der
Kulturschaffenden in sozialer Hinsicht.
Inzwischen gibt es diesen Versicherungszweig ein
Vierteljahrhundert, und die Bilanz ist eindeutig positiv.
Die Künstlersozialversicherung bietet selbstständigen
Künstlern und Publizisten nicht nur Absicherung im Alter und im Krankheitsfall, nein, sie ist auch ein unverzichtbares Instrument der Kulturförderung und zu einem wichtigen Pfeiler in der Kulturwirtschaft insgesamt
geworden. Deren Bedeutung nimmt gerade in jüngster
Zeit enorm zu, und sie wird auch in Zukunft weiter zunehmen. Übrigens ist dies eine der Ursachen für die
stark gestiegenen Versichertenzahlen.
Wer mit europäischen Kollegen über unsere Künstlersozialversicherung spricht, erfährt, dass sie im europäischen Ausland als vorbildliche kultur- und sozialpolitische Errungenschaft geschätzt wird.
({0})
Viele Sozialpolitiker in Europa würden sehr gern solch
ein System selber einführen; sie beobachten übrigens
sehr genau, wie sich die Künstlersozialversicherung bei
uns weiterentwickelt und mit welchen Änderungen wir
sie fortschreiben.
Aber wir wissen nur zu gut, dass wir um des Erhaltes
willen auch verändern und anpassen müssen, denn die
Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes und der Demografie haben
keinen Bogen um die Künstlersozialversicherung gemacht. Wie die anderen gesetzlichen Versicherungen hat
auch sie zunehmend mit einer Schieflage zwischen Einnahmen und Ausgaben zu kämpfen. So ist die Künstlersozialversicherung von verschiedenen Seiten unter Kostendruck geraten.
Zum einen hat sich die Zahl der Versicherten, also der
Leistungsempfänger, deutlich erhöht - derzeit sind es
über 150 000 Versicherte -, während die Beitragseinnahmen eher stagnieren. Außerdem sind die Ausgaben für
die gesundheitliche Versorgung weiter gestiegen.
Zum anderen erlaubt es der auch bei den Unternehmen zunehmende Kostendruck nicht, dass die Künstlersozialabgabe beliebig in die Höhe getrieben wird, und
schließlich - wir wissen das nur zu gut - machen die
Zwänge in den öffentlichen Haushalten auch vor dem
Bundeszuschuss für die Künstlersozialversicherung
nicht halt.
Die benannten Probleme werden von interessierter
Seite gerne zum Anlass genommen, das ganze System in
Zweifel zu ziehen, aber mit der vorliegenden Novelle
brechen wir solchen Versuchen die Spitze.
({1})
Lassen Sie mich vor allen Dingen eines deutlich sagen: Erklärtes Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist
es, die Künstlersozialversicherung zu stabilisieren und
zukunftsfest zu machen. Ich prophezeie: Mit den geplanten Maßnahmen wird dies auch gelingen, denn damit
werden die Finanzierungsreserven im System selbst
systematisch erschlossen. Die Ausgabenseite wird deutlich entlastet, indem nur die wirklich Berechtigten in den
Genuss der Künstlersozialversicherung kommen.
({2})
Das erreichen wir durch ein verbessertes Mitwirken der
Künstler und Publizisten und durch Kontrollen. Die Einnahmeseite wird verbessert, ohne dass der Abgabensatz
steigen muss, im Gegenteil: Aufgrund der systematischen Erfassung der abgabepflichtigen Unternehmen ist
zu erwarten, dass sich der Kreis der Zahler deutlich erhöht. Die Deutsche Rentenversicherung Bund wird in
diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe kurzfristig übernehmen. Das eröffnet eine realistische Perspektive für eine weitere Senkung der Künstlersozialabgabe,
was wiederum ganz entscheidend für ihre Akzeptanz
und die Stärkung des Systems ist.
({3})
Ich freue mich, dass wir in der Koalition den Reformbedarf bei der Künstlersozialversicherung sehr schnell
und im guten Einvernehmen angegangen sind. Wir haben schließlich schon in der Koalitionsvereinbarung
festgeschrieben, was wir nun umsetzen.
({4})
Ich freue mich aber auch über die Zustimmung der Länder.
({5})
- Ein Lob an die Länder, gut.
Die Stellungnahmen der Verbände mit Ausnahme
der BDA - man höre -, die die KSV komplett abschaffen will,
({6})
haben keine Fundamentalkritik erkennen lassen. Es werden Einzelfragen thematisiert, die in der weiteren Beratung noch einmal auf ihre Berechtigung abzuklopfen
sind. Festzuhalten bleibt aber, dass wir mit der Novelle
auf dem besten Wege sind, das zu stabilisieren, was sich
bewährt hat.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass es mit der Sicherung der Finanzen der Künstlersozialversicherung allein nicht getan ist. Wir müssen
ganz genau darauf achten, dass das Gesetz seinen
Zweck, die soziale Absicherung bedürftiger selbstständiger Künstler und Publizisten, auch tatsächlich erfüllt.
({8})
Es mehren sich Hinweise auf Veränderungen auf dem
Arbeitsmarkt der Kulturwirtschaft. Bei den Auftraggebern bzw. Verwertern gibt es unübersehbar die Tendenz,
die Abgabenpflicht auf die Kulturschaffenden abzuwälzen. Das geschieht übrigens völlig rechtskonform auf
der Grundlage geltender Gesetze, allerdings unter fantasievoller Gestaltung der Geschäfts- und Vertragsbeziehungen - um es einmal vorsichtig zu formulieren.
({9})
- Ja.
Solche Phänomene markieren einen Wandel des Arbeitsmarktes und der Erwerbsbedingungen. Dieser Wandel droht die Schutz- und Förderintention des Gesetzgebers für die Kulturschaffenden auszuhebeln. Ich muss
feststellen: In einigen Bereichen halten Arbeits- und Sozialrecht ganz offensichtlich nicht Schritt mit dem rasanten Wandel der Arbeitswirklichkeit von Kulturschaffenden. Wenn es Aufgabe des Staates ist, Kunst und Kultur
zu fördern, dann muss er auch darauf achten, dass geltende Gesetze der Lebens- und Arbeitswirklichkeit der
Kulturschaffenden gerecht werden.
({10})
Vor diesem Hintergrund werden wir uns, so glaube
ich, das SGB III noch einmal genau anschauen müssen.
Nicht von ungefähr heißt es in der Koalitionsvereinbarung: „Bei Gesetzgebungsverfahren sind die besonderen
Belange … der Künstler und Kulturschaffenden zu berücksichtigen.“
({11})
Ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf machen wir genau
das Richtige. Wir handeln nämlich in diesem Sinne.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir die bewährte Künstlersozialversicherung, indem wir die finanzielle Basis
der Künstlersozialversicherung sichern, indem wir für
mehr Beitrags- und Abgabengerechtigkeit für alle Seiten
sorgen und indem wir sie zu einem integralen Bestandteil unseres sozialen Sicherungssystems festigen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Künstlersozialversicherung ist die Grundlage der sozialen Sicherung von selbstständigen Künstlern und Künstlerinnen. Die FDP hat dieses Instrument Anfang der
80er-Jahre mitbegründet und will es für die Zukunft erhalten und fortentwickeln.
({0})
Ich denke, trotz der Erfolge bei der Stabilisierung der
Finanzen der Künstlersozialversicherung in den vergangenen Jahren und den damit verbundenen Beitragssenkungen sollten und müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, um den Kostendruck auf Künstler
und Verwerter langfristig zu mindern.
In diesem Sinne begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion
den vorgelegten Gesetzentwurf, der Ergebnisse eines seit
2004 bestehenden runden Tisches zur Stärkung der
Künstlersozialversicherung aufgreift. Der Gesetzentwurf
entspricht zugleich einigen Forderungen des Antrags der
FDP-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Finanzierung
der Künstlersozialversicherung sichern“ aus dem Jahre
2005.
Ich möchte kurz auf die vorgeschlagenen Regelungen
eingehen und noch einen Vorschlag für einen weiteren
Reformschritt machen. Hinsichtlich der Überprüfung der
Abgabenpflicht der Verwerter zielt der Gesetzentwurf
darauf ab, die Finanzierungsgrundlage und die Beitragsgerechtigkeit dadurch zu stärken, dass die Verwerter
künstlerischer und publizistischer Leistungen stärker daraufhin kontrolliert werden, ob sie ihre Abgabenpflichten tatsächlich erfüllen. Kollegin Krüger-Leißner hat es
schon gesagt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen - Verstärkung der stichprobenartigen Kontrollen und Abgleichung der Daten mit der Rentenversicherung - sind aus
unserer Sicht zur Erreichung dieses Ziels geeignet.
Es macht auch Sinn, die Prüfdienste der Deutschen
Rentenversicherung dafür einzusetzen, die Abgabepflichtigen in der Künstlersozialversicherung besser als
bisher zu erfassen. Ob auf diesem Weg, Frau KrügerLeißner, eine nahezu vollständige Erfassung der abgabepflichtigen Arbeitgeber erreicht werden kann, bleibt abzuwarten. Positiv ist auf jeden Fall, dass die Wahrnehmung der Prüfaufgaben durch die Rentenversicherung
ohne die Schaffung neuer Stellen erfolgen soll.
Hinsichtlich der Überprüfung der Abgabenpflicht der
Versicherten soll eine dauerhafte, jährliche Befragung
einer wechselnden Stichprobe erfolgen. Auch diese
Maßnahme ist sinnvoll. Sie kann die Einnahmen der
Künstlersozialversicherung erhöhen und helfen, das Ziel
der Beitragsgerechtigkeit herzustellen.
An der Stelle bleibt im Gesetzentwurf leider offen,
mit welchem Personalaufwand diese vorgesehenen
Aufgaben zu erfüllen sind. Es wäre aus unserer Sicht
wünschenswert, wenn ein eventuell bei der Künstlersozialversicherung entstehender Personalbedarf aus Personalüberhang bei der Rentenversicherung gedeckt werden
könnte. Einen solchen Personalüberhang scheint es bei
der Rentenversicherung ja zu geben. Wir haben 2004 die
Organisationsreform beschlossen. Im Zuge der Umsetzung der Maßnahmen müsste es im Jahr 2007 möglich
sein, die durch Effizienzgewinne in der Organisation gewonnenen Stellen anderweitig einzusetzen. Wir haben
erst kürzlich zur Kenntnis genommen, dass für öffentliche Kurse über Altersvorsorge an den Volkshochschulen
ganz offensichtlich Freiräume bestanden. Vielleicht kann
man das auch für die Künstlersozialversicherung nutzen.
({1})
Darüber hinaus darf neben der Stärkung der Einnahmeseite nicht vergessen werden, die Ausgabenseite klarer zu fassen und womöglich zu begrenzen. Hintergrund
dieser Forderung ist, dass die Zahl der Versicherten in
der Künstlersozialversicherung aufgrund der Attraktivität künstlerischer Berufe, aber auch aufgrund veränderter Formen der Beschäftigung und mehr Selbstständigkeit im künstlerischen Bereich seit Jahren zunimmt.
Deswegen sollten die Versicherungsleistungen besser als
bisher auf den Personenkreis, der wirklich der solidarischen Sozialkasse bedarf und dem Fördergedanken der
Künstlersozialkasse entspricht, beschränkt werden.
Dabei sollte insbesondere unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung der letzten Jahre eine präzisere gesetzliche Abgrenzung des Künstlerbegriffs gegenüber vorwiegend handwerklichen Tätigkeiten mit künstlerischem
Einschlag erfolgen. Richtig und wegweisend in diesem
Sinne sind die Urteile des Bundessozialgerichtes, wie
etwa die, die Tätowierer oder auch Teezeremonienmeister von der Künstlersozialversicherung ausschließen; zuletzt das Urteil von gestern.
Darüber hinaus wäre es sinnvoll, durch gesetzliche
Leitlinien und Klarstellungen der Künstlereigenschaft
Rechtssicherheit zu schaffen, wobei der Künstlerbegriff
gegenüber der Entstehung neuer künstlerisch geprägter
Berufsformen grundsätzlich offen gehandhabt werden
muss. Ich vermisse bis heute im Gesetzentwurf eine
Konkretisierung. Im Begründungsteil, Frau Kollegin
Krüger-Leißner, heißt es, dass „eine sachgerechte Beschreibung des Kreises der Begünstigen vorzunehmen
ist …“. Im Gesetzestext ist eine solche Beschreibung
bisher nicht zu finden.
Insgesamt enthält der vorgelegte Gesetzentwurf sinnvolle Vorschläge, um die Künstlersozialversicherung zu
sichern. Ich sehe gute Chancen, den guten Willen der
Koalition vorausgesetzt, dass dieser Gesetzentwurf auf
der Basis einer breiten Mehrheit verabschiedet werden
kann. Ich denke, die Politik sollte wie bisher weiterhin
eng mit den Betroffenen und den Verbänden zusammenarbeiten, um die soziale Sicherung der Künstler und Publizisten in Deutschland zu gewährleisten.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Gitta Connemann, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im
November 2004 kursierte das Gerücht, dass die Künstlersozialversicherung abgeschafft werden soll.
({0})
Es mobilisierte damals viele Hundert Künstler und Journalisten zu einer Mail- und Briefaktion; einige von uns
werden sich sicherlich noch daran erinnern.
Hintergrund war eine Anhörung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Diese war fälschlicherweise in den Verdacht geraten, die Errungenschaft
der Künstlersozialversicherung infrage stellen zu wollen. Tatsächlich verfolgte die Enquete-Kommission mit
ihrer Anhörung aber das Ziel, die Künstlersozialversicherung zukunftsfest zu machen. Fraktionsübergreifend
gilt die Erkenntnis - das zeigte sich auch am Beitrag von
Herrn Dr. Kolb -: Die Künstlersozialversicherung und
die ausführende Künstlersozialkasse sind unverzichtbar.
({1})
Ich habe Ihnen den damaligen Aufruhr ins Gedächtnis
gerufen, weil er zweierlei zeigt: zum einen, dass wir es
mit einem Thema zu tun haben, das in der Öffentlichkeit
außerordentlich sensibel wahrgenommen wird, zum anderen und vor allem, dass wir heute über eine Einrichtung sprechen, die für viele Künstlerinnen und Künstler
in diesem Land von existenzieller Bedeutung ist.
Zwar fehlt es Deutschland, dem Land der Dichter und
Denker, dem Land der Komponisten und Künstler, nach
wie vor an einem grundgesetzlichen Bekenntnis zur Kultur;
({2})
das bedaure ich persönlich sehr. Aber die deutsche Politik hat im Vergleich zu anderen Staaten schon sehr frühzeitig das berechtigte Bedürfnis der Künstlerinnen und
Künstler erkannt, ein Stück sozial abgesichert zu werden. Das damals verabschiedete Künstlersozialversicherungsgesetz ist bis heute europaweit einmalig.
({3})
Seitdem können sich selbstständige Künstler und Publizisten im Rahmen der gesetzlichen Sozialversicherung kranken-, pflege- und rentenversichern. Vor der
Einführung des Gesetzes hatten sie keinerlei soziale Absicherung. Für sie wurde ein eigenes Versicherungssystem geschaffen, und das aus gutem Grund, so das Bundesverfassungsgericht:
Die Künstler bringen höchstpersönliche Leistungen
… Daraus erwächst eine besondere Verantwortung
… für die soziale Sicherung selbständiger Künstler
und Publizisten, ähnlich der der Arbeitgeber für die
Arbeitnehmer.
CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag deshalb ausdrücklich zur Künstlersozialversicherung als einem wichtigen Instrument der Kulturförderung und der sozialen Sicherung der Künstlerinnen und
Künstler bekannt. Es wurde aber auch Handlungsbedarf
gesehen. Zum einen muss die Finanzierung auf ein stabileres Fundament gestellt werden. Sie erfolgt zu
50 Prozent durch die Versicherten, zu 30 Prozent durch
die Verwerter und zu 20 Prozent durch einen Bundeszuschuss; damit nimmt der Bund seine kultur- und sozialpolitische Verantwortung für Künstler und Publizisten
wahr.
({4})
Der Finanzbedarf der Künstlersozialversicherung
hat sich in den letzten Jahren massiv erhöht. Die Ursachen sind vielfältig. Das Durchschnittseinkommen von
Künstlerinnen und Künstlern liegt bei nur 11 000 Euro ich betone: pro Jahr. Die Anzahl der Versicherten nimmt
seit Jahren zu. Der Anteil der selbstständigen versicherten Künstlerinnen und Künstler steigt, und zwar aus vielen Gründen; die Kollegin Krüger-Leißner hat einige
aufgeführt.
Es fehlen Arbeitsplätze im Bereich der abhängigen
Beschäftigung. Dennoch sind die Kultur- und Medienberufe außerordentlich attraktiv. Die Selbstständigkeit
birgt für Unternehmen und Tätige leider auch die Möglichkeit, Beiträge an die Sozialversicherung zu sparen.
Schließlich drängen auch Tätige in die Künstlersozialversicherung, die die Voraussetzung dafür eigentlich
nicht erfüllen - das ist bereits angesprochen worden -,
seien es Tätowierer oder andere Berufsgruppen wie
Schlammcatcher.
Der dadurch erhöhte Finanzbedarf hat seinerseits Folgen: Der Bundeszuschuss musste erhöht werden und
auch die Künstlersozialabgabe. Dies wirkt sich auf die
Wettbewerbsfähigkeit in der Kultur- und Medienwirtschaft aus. Dieser Wettbewerb wird dadurch verschärft,
dass eine Anzahl von eigentlich abgabepflichtigen Unternehmen ihre Pflicht nicht erfüllen. Damit erhöht sich
die Last für die anderen, gesetzestreuen Verwerter. Diese
fordern mit den anderen Mitgliedern des runden Tisches
„Stärkung der Künstlersozialversicherung“ seit längerem mehr Beitragsgerechtigkeit im Versicherten- und
Verwerterbereich.
Es wurden gemeinsam mit dem Bundesministerium
für Arbeit und Soziales und dem BKM Strategien erarbeitet, die uns jetzt als Gesetzentwurf vorliegen. So soll
die Prüfung der Verwerter auf die Prüfdienste der Deutschen Rentenversicherung übertragen werden. Dort besteht ein Apparat, mit dem mittelfristig alle abgabepflichtigen Verwerter erreicht werden könnten. Das ist
gut so. Denn die Künstlersozialabgabe ist keine freiwillige Leistung der Unternehmen, sondern gesetzlich vorgeschrieben. Wer sich dieser Pflicht entzieht, handelt
gesetzwidrig und verschafft sich damit einen rechtswidrigen Vorteil. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben.
({5})
Durch die unterstützende Prüftätigkeit der Deutschen
Rentenversicherung wird die Künstlersozialkasse in
Wilhelmshaven mehr Raum für ihre originären Aufgaben erhalten; deshalb braucht sie keine Aufstockung,
Herr Dr. Kolb. Die Prüfbefugnisse werden zukünftig gestärkt: So soll dauerhaft die jährliche Befragung einer
wechselnden Stichprobe von mindestens 5 Prozent der
Versicherten durchgeführt werden, bei der die tatsächlichen Einkommen der letzten drei Jahre erhoben werden
sollen. Damit werden die Mitglieder der KSK übrigens
nicht kriminalisiert, wie zurzeit auf mancher Internetseite zu lesen ist. Vielmehr wird auf diese Weise sichergestellt, dass nur der Kreis der tatsächlich Berechtigten
Mitglied in der Künstlersozialkasse ist. Voraussetzung
für die Mitgliedschaft ist nun einmal die erwerbsmäßige
und dauerhafte Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit
als Künstler oder Publizist. Es gibt Begehrlichkeiten; das
Tätowiererurteil des BSG vom gestrigen Tage, aber auch
das Trauerrednerurteil zeigen das. Ob sich daraus weitergehender Handlungsbedarf ergeben wird, wird auch Gegenstand des Abschlussberichts der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sein.
({6})
Vor einer Woche traf eine Delegation der EnqueteKommission in Leipzig den Maler Michael Triegel. Er
ist noch keine 40, trotzdem zählt er heute international
zu den bekanntesten deutschen Künstlern.
({7})
In seinem Atelier auf dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei, der Wiege der Neuen Leipziger Schule, erzählte er uns - Wolfgang Börnsen war dabei -, dass er
seit Mitte der 90er-Jahre in die KSK einzahlt - damals
als junger Absolvent der Hochschule für Grafik und
Buchkunst, heute als ein aufstrebender Star der internationalen Kunstszene -, und das, wie er betonte, aus
Überzeugung von der Notwendigkeit dieser Einrichtung.
Für mich zeigt gerade dieses Bekenntnis eines Künstlers,
der sich auch anderweitig versichern könnte, deutlich
den Wert der Einrichtung, die wir haben.
Wer Triegels Werke kennt, weiß, dass er mit der
christlichen Ikonografie spielt. Die Wahl seiner Motive
habe aber nichts mit Glauben zu tun, hat er uns in unserem Gespräch gesagt, höchstens mit einer Sehnsucht danach. Hier hat sich also der Künstler als zeitgenössischer
Romantiker gezeigt.
Meine Damen und Herren, angesichts der überaus
problematischen sozialen Lage vieler Künstlerinnen und
Künstler in Deutschland dürfen wir politisch Verantwortlichen uns nicht in das romantisch verklärte Bild
vom zwar armen, aber schönen Künstlerleben flüchten.
Arm ist nicht sexy! Verantwortungsvolle Politik heißt für
mich und die CDU/CSU-Fraktion, die Rahmenbedingungen der sozialen Absicherung der Künstler zu stärken und fortzuführen,
({8})
damit sie nicht wie bei Caspar David Friedrich am Kreidefelsen ins Leere blicken bzw. ins Leere fallen, wenn
sie das Rentenalter erreichen. Denn was wären Kunst
und Kultur in Deutschland ohne die Künstlerinnen und
Künstler in unserem Land?
({9})
Die Künstlersozialversicherung verkörpert diese Anerkennung, dieses Bekenntnis. Stärken wir sie also gemeinsam!
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Künstlersozialkasse leistet in der Tat eine gesellschaftlich sehr wichtige Aufgabe, indem über sie der soziale
Schutz der selbstständigen Künstler und Publizisten organisiert wird. Denn abgesehen von einigen Prominenten ist gerade die Kreativbranche von einer durchaus
prekären und unsicheren Auftragslage geprägt. Viele
Selbstständige in diesem Bereich kommen nach eigener
Einschätzung irgendwie über die Runden, solange sie
gesund bleiben. Sie können es sich nicht leisten, krank
zu werden und einen Auftrag zu verpassen.
Wir können also froh sein, dass sich die Künstler und
Publizisten nicht von der unsicheren Auftragslage entmutigen lassen; denn um wie viel ärmer wäre unsere Gesellschaft ohne das Wirken der Kunst- und Kulturschaffenden. Künstler und Publizisten tragen damit auf ihre
Art und Weise zu dem gesellschaftlichen und kulturellen
Reichtum unserer Gesellschaft bei. Umso mehr sind wir
in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie auch renten- und
krankenversichert sind.
({0})
Seit ihrer Gründung hat die Bedeutung der Künstlersozialkasse deutlich zugenommen; einige Zahlen wurden schon genannt. Waren anfangs noch rund
12 000 Personen versichert, so ist jetzt die Zahl auf über
150 000 angestiegen. Ihre Bedeutung wird weiter wachsen und damit auch die Zahl der Versicherten.
Dafür gibt es gute Gründe. Die Arbeitswelt ist im
Wandel. Während im 21. Jahrhundert der Bedarf an Arbeitskräften in Landwirtschaft und Industrie abnimmt,
nimmt der Bedarf an kulturellen, kommunikativen und
publizistischen Tätigkeiten zu. Schon aufgrund von
technologischen Entwicklungen nimmt die Zahl der
Medien und damit auch der Menschen zu, die in diesem
Bereich tätig sein können.
Früher galt es als selbstverständlich, dass zum Beispiel Landschaftsmaler unter den Begriff Künstler fielen; man hat nicht daran gedacht, auch Layouter diesem
Bereich zuzuordnen. Inzwischen wird auch diese Tätigkeit über die KSK abgesichert.
Diese wachsende Bedeutung stellt Anforderungen an
die Finanzierung der Künstlersozialkasse, denen wir
uns stellen müssen. Es darf aber auf keinen Fall passieren - leider ist der Gesetzentwurf ein kleines bisschen
von diesem Geist geprägt -, dass wir die Finanzprobleme der Künstlersozialkasse lösen, indem wir den
Kreis der Zugangsberechtigten eingrenzen und womöglich noch einen Teil der Versicherten herausdrängen.
({1})
Wir werden die Details noch im Ausschuss behandeln.
Mit einem Punkt habe ich ein Problem: Wenn den
Versicherten ein zusätzlicher Prüfaufwand auferlegt
wird, ist das vor allem im Hinblick auf die Geschichte
problematisch. Ursprünglich wurden die Beiträge in
zwei Schritten festgelegt: zuerst vorläufig aufgrund von
Schätzungen; am Jahresende folgte dann die definitive
Festlegung nach dem tatsächlichen Einkommen.
Dieses Zweischrittverfahren wurde abgeschafft und
durch ein Schätzverfahren ersetzt, mit dem das gesamte
Prognoserisiko auf die Künstler und Publizisten abgewälzt wurde. Es wurde nicht etwa deshalb in die Wege
geleitet, weil die Künstler darum gebeten hätten; vielmehr erschien der Künstlersozialkasse der Aufwand für
ein Zweischrittverfahren zu groß.
Ich finde, wenn schon das Prognoserisiko auf die Versicherten abgewälzt wird, dann sollte man sie jetzt nicht
noch unter einen solchen Generalverdacht stellen.
({2})
Gemeinsam mit Verdi befürchte ich, dass die verschärften Prüfungen für eine Art Bestandsreinigung missbraucht werden, die zulasten der Künstler und Publizisten geht. Die Künstler, deren tatsächliche Einkommen
womöglich unter der Grenze von 3 900 Euro pro Jahr
liegen, werden in Zukunft wahrscheinlich erhebliche
Probleme bekommen.
Wir dürfen die finanziellen Probleme der Künstlersozialkasse nicht dadurch lösen, dass wir Versicherte ausgrenzen oder herausdrängen. Angesichts des Wandels
der Arbeitswelt steht es vielmehr auf der Tagesordnung,
sich mit der Frage zu befassen, inwieweit der Kreis der
Zugangsberechtigten ausgeweitet werden sollte. Ist es
wirklich richtig, dass im 21. Jahrhundert Berufe wie
Webarchitekt und Werbegestalter keinen Zugang zur
Künstlersozialkasse haben?
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen begrüßt im
Grundsatz die beabsichtigte Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes. Über die Notwendigkeit einer
besseren Erfassung der Abgabepflichtigen wird schon
seit Jahren diskutiert. Vielen Verwertern ist es unverständlich, dass bisher noch kein System entwickelt
wurde, mit dem alle Abgabepflichtigen erfasst und kontrolliert werden. Das ist nicht nur schädlich für die
Künstlersozialkasse, sondern auch ungerecht denjenigen gegenüber, die ehrlich zahlen.
({0})
Richtig ist insbesondere, dass bei dem vorliegenden
Gesetzentwurf - Frau Kipping, das sollte man der Vollständigkeit halber erwähnen - beide Parteien, die Künstlerinnen und Künstler auf der einen Seite und die Verwerter auf der anderen Seite, gleichermaßen im
Blickpunkt stehen.
Aus unserer Sicht verbleibt allerdings noch ein erheblicher Reformbedarf, um die Künstlersozialversicherung an neuere Entwicklungen anzupassen und die
Zahl der Gerichtsverfahren um die Zugehörigkeit zur
KSK zu reduzieren. Das berühmte Tätowiererurteil
wurde schon genannt. Aber denken wir auch an den freiberuflichen Historiker, der Ausstellungen für Museen
konzipiert. Wenn er mehr mit Texten arbeitet, dann ist er
kreativ und darf die Mitgliedschaft in der Künstlersozialversicherung beantragen. Wenn er eher gestalterisch tätig ist, also zum Beispiel Tafeln aufstellt, dann handelt es
sich um eine technische Tätigkeit und er wird ausgegrenzt. Bei aller Unschärfe, die immer bleiben wird,
müssen wir versuchen, klarere Regelungen zu finden.
Teilweise untergräbt die Künstlersozialversicherung
selbst ihre eigenen legitimatorischen Grundlagen. Erst in
der vorletzten Woche bin ich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel gestoßen. Dieses Gericht musste
feststellen, dass die Übersetzung von Gebrauchsanweisungen keine kreative publizistische Tätigkeit ist. Es
wurde tatsächlich versucht, einem nordrhein-westfälischen Elektrounternehmen Gebühren abzunehmen, weil
es seine Gebrauchsanweisungen ins Englische hat übersetzen lassen. Ich will zugestehen, dass man, wenn man
manche Gebrauchsanweisung von Geräten aus Fernost
liest, einen gewissen Interpretationsspielraum hat und
sich an eine kreative publizistische Arbeit erinnert fühlt.
({1})
Aber das Beispiel zeigt, dass es hier noch Regelungsbedarf gibt.
({2})
Ernster zu nehmen ist das, was Sie ansprachen, Frau
Krüger-Leißner, nämlich dass ganz wesentliche Grundlagen durch veränderte Produktionsstrukturen angegriffen werden. Ich will nur das Beispiel nennen, dass
zunehmend mehr Verlagsaufträge an Einzelselbstständige vergeben werden, die ihrerseits wiederum Freelancer, Selbstständige beschäftigen. Hier sind Publizisten in
der Doppelrolle, Auftragnehmer und gleichzeitig Auftraggeber zu sein. Im Moment besteht die Schwierigkeit
darin, dass sie teilweise sowohl für die von ihnen Beschäftigten als auch für sich selbst Abgaben leisten müssen, sodass es zu Doppelzahlungen kommt. Teilweise
werden die beauftragenden Verlage, die das ausgliedern,
zur Entrichtung der Verwertungsabgabe herangezogen.
An dieser Stelle sehe ich einen weitergehenden Änderungsbedarf, den dieser Gesetzentwurf leider nicht
deckt. Wir sollten das möglichst bald in einem umfassenderen Reformprozess angehen. Da alle Fraktionen
grundsätzlich die Notwendigkeit einer Künstlersozial8310
versicherung betont haben, müsste uns das eigentlich
möglich sein.
({3})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem
vorliegenden Gesetzentwurf sagen. Es leuchtet uns nicht
ganz ein, dass bei der Kontrolle die Deutsche Rentenversicherung und die Künstlersozialversicherung gleichermaßen beauftragt werden. Die Rentenversicherung soll
sich mit den Unternehmern befassen, während die
Künstlersozialkasse für diejenigen zuständig sein soll,
die als selbstständige Einzelunternehmer arbeiten. Häufig gibt es aber einen Wechsel zwischen den verschiedenen Rollen. Es wäre daher sinnvoll, die Rentenversicherung damit zu beauftragen und die Einziehung der
Beiträge aus Gründen der Verwaltungsklarheit weiterhin
bei der Künstlersozialkasse zu belassen. Ich glaube, wir
werden das in den anstehenden Beratungen noch ändern
können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/4373 und 16/4419 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Jürgen Trittin, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Deutsch-brasilianischen Atomvertrag durch
Erneuerbare-Energien-Vertrag ersetzen
- Drucksache 16/4426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein kurzer Blick zurück in das Jahr 1975: In Brasilien
herrscht eine Militärjunta, in Bonn die sozial-liberale
Koalition unter Helmut Schmidt. Der Nuklearenergie
steht man noch sehr fortschrittsgläubig und unkritisch
gegenüber. Ein deutsch-brasilianisches Atomabkommen
wird ausgehandelt und unterzeichnet, das die Lieferung
von acht deutschen Atomkraftwerken nach Brasilien
vorsieht.
Zeitsprung in das Jahr 2004: Die Grünen und mehrere
Abgeordnete der SPD, unter anderem Michael Müller,
der Vorsitzende des Umweltausschusses, Ernst Ulrich
von Weizsäcker und Hermann Scheer, machen mit einem
Antragsentwurf Druck auf die Bundesregierung, die
Gelegenheit zu nutzen, aus diesem anachronistischen
Vertrag auszusteigen; denn wer im eigenen Land den
Atomausstieg beschlossen hat, der macht sich unglaubwürdig, wenn er weiterhin mit dem Verkauf von Atomkraftwerken Geschäfte machen will.
({0})
Auch auf brasilianischer Seite stellen nicht nur Aktivisten von Greenpeace und andere Umweltschützer diesen
Atomvertrag in Frage, sondern auch mehrere Mitglieder
der Regierung Lula, unter anderem die Umweltministerin
Marina Silva, aber auch die Energieministerin Rousseff.
In beiden Regierungen entwickelt sich ein kräftiges
Tauziehen. Auf unserer Seite wäre das Wirtschaftsministerium, damals geführt von Wolfgang Clement, am liebsten
beim alten Atomvertrag geblieben. Auswärtiges Amt,
Umwelt- und Entwicklungsministerium plädieren für die
Ablösung des alten Vertrages durch ein neues Energieabkommen, in dessen Mittelpunkt vor allen Dingen die
Förderung der erneuerbaren Energien und die Förderung
der Energieeffizienz stehen sollen. Es ging lange hin und
her und war ein bisschen wie in einem Krimi. Aber
plötzlich wurde auf beiden Seiten zumindest ein Teilerfolg erzielt. Es gab einen diplomatischen Notenwechsel
mit dem Ergebnis, dass man auf beiden Seiten die Absicht bekundet hat, den Atomvertrag durch einen neuen
Energievertrag mit dem Schwerpunkt der Förderung der
erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz abzulösen.
Ich selber habe damals alle beteiligten Ressorts zu einem
Fachgespräch eingeladen, in dem der Frage nachgegangen
worden ist, wie aus der Theorie Praxis werden kann und
wie dieses neue Abkommen mit Leben erfüllt werden
kann. Bei diesem Fachgespräch stand das Wirtschaftsministerium relativ isoliert da; denn es wollte als einziges
Ressort gegen die anderen Ressorts zumindest eine klitzekleine nukleare Komponente in dieses neue Abkommen
hineinretten. Der Streit zwischen den Ressorts konnte
leider nicht mehr ausgefochten werden; denn dem Wirtschaftsministerium kam die vorgezogene Bundestagswahl zur Hilfe. So weit der Blick in die Vergangenheit
1975 und 2004.
Wo stehen wir jetzt? Nach wie vor ist der Notenwechsel
von 2004 der Ausgangspunkt, also die Absicht, ein neues
Abkommen auszuhandeln. Doch die Verhandlungen
werden verschleppt. Sie kommen nur sehr mühsam
voran. Nach wie vor gibt es auf beiden Seiten, auf der
brasilianischen und auf der deutschen, ein Tauziehen,
einen Streit zwischen den Ressorts. Aber das deutsche
Wirtschaftsministerium hat Aufwind bekommen und
vertritt jetzt stärker die Position, dass die nukleare
Komponente auch in dem neuen Abkommen verankert
und verewigt werden soll.
Auch auf der brasilianischen Seite scheint sich die
Atomlobby stärker durchzusetzen. Es wird ernsthaft über
Pläne diskutiert, dem einzigen Atommeiler Angra II, der
in deutsch-brasilianischer Kooperation gebaut wurde,
jetzt Angra III folgen zu lassen. Das ist sehr bedauerlich,
weil gerade Brasilien die Nuklearenergie für den Energiesektor überhaupt nicht nötig hat. Möglicherweise eine
Neuauflage des alten Großmachtstrebens aus den 70erJahren? Ich hoffe nicht. Denn es gibt, wie gesagt, auch in
der brasilianischen Regierung nach wie vor ein kräftiges
Tauziehen.
Wir haben deshalb den alten Antrag, der schon damals
- zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen der
SPD - vorbereitet war, wieder hervorgeholt. Wir haben
ihn aktualisiert und legen ihn heute vor. Wir möchten die
Bundesregierung bitten, Farbe zu bekennen und jetzt
endlich zu sagen, ob sie an dem Atomausstieg, der im
Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, wirklich festhält
und ob solche anachronistischen Verträge im Sinne der
Kohärenz von neuen Energieabkommen ohne nukleare
Komponente abgelöst werden.
({1})
Wir hoffen, dass die Bundesregierung unser Anliegen
teilt. Aber vielleicht ist das nur ein frommer Wunsch.
Ganz eindringlich möchte ich diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die damals Bündnispartner waren und mit
uns gemeinsam für diese Sache gefochten haben, jetzt
auffordern, Farbe zu bekennen und für dieses Erneuerbare-Energien-Abkommen zu streiten.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Hoppe, ich glaube, es gibt einige Dinge, bei denen wir
durchaus gleicher Ansicht sind; hoffentlich gilt das für
alle in diesem Hause. Wir brauchen in der Tat eine Weiterentwicklung des deutsch-brasilianischen Abkommens zur
friedlichen Nutzung der Kernenergie. Was wir brauchen,
ist eine Ausdehnung in andere Bereiche: Energieeffizienz,
erneuerbare Energien und anderes. Darin sind wir uns
vielleicht einig.
Sie haben gefordert, vom einen Extrem ins andere zu
fallen. Darin sind wir uns aber nicht einig. Bisher stand
allein das Thema Kernenergie im Fokus. Sie sagen, allein
das Thema erneuerbare Energien solle jetzt im Fokus
stehen. Das ist nicht unsere Meinung. Auch in Ihrer
Rede haben Sie sowohl die Realitäten in Brasilien als
auch die energiewirtschaftlichen Realitäten weltweit
ausgeblendet.
Wie sieht es denn in Brasilien heute aus? Sie haben zu
Recht ausgeführt - auch wir begrüßen das -, dass Brasilien
seine Stromproduktion bisher im Wesentlichen auf die
Wasserkraft stützt. Der Stromverbrauch in Brasilien ist
aber von 1990 um über 74 Prozent angestiegen, und
zwar auf fast 400 Terawattstunden. Das sind ungefähr
zwei Drittel des deutschen Stromverbrauchs. Brasilien
hat bisher fast ausschließlich auf die Wasserkraft gesetzt.
Sie hatte mit 83 Prozent den größten Anteil an der Energieproduktion.
Welche Gefahren eine so einseitige Ausrichtung mit
sich bringt, hat das Land 2001 heftig zu spüren bekommen: Nach einer langen Trockenperiode musste die
Stromversorgung in weiten Teilen des Landes monatelang rationiert werden. Daraufhin hat auch in Brasilien
ein Umdenken stattgefunden. Brasilien setzt jetzt neben
dem Zubau der Wasserkraft - er ist nicht mehr in dem
Maße wie in den vergangenen Jahrzehnten möglich, da
die Potenziale ausgeschöpft sind - auf einen breiten,
diversifizierten Energiemix, wie wir ihn in Deutschland
bereits heute haben. Brasilien setzt auf andere erneuerbare
Energien, zum Beispiel auf Biomasse und Windenergie.
In diesen Bereichen sind unsere Unternehmen, unsere
Wirtschaft, unsere Ingenieure und unsere Wissenschaft
sehr gut aufgestellt. Wir können Know-how liefern. Wir
wollen diesen Vertrag entsprechend ergänzen. Damit
sind Chancen für die deutsche Wirtschaft verbunden.
Neben diesem Ausbau setzt Brasilien auf die vermehrte
Nutzung von Gas- und Erdölvorräten. Es hat seit 2001 bis
heute beispielsweise Gaskraftwerke mit Kapazitäten von
fast 15 000 Megawatt zusätzlich gebaut, Tendenz steigend.
Brasilien verfügt heute über installierte Leistungen von
fast 90 000 Megawatt; in 2004 waren es 87 000 Megawatt. All das geht in Richtung Nutzung fossiler Energieträger. So ist die Lage heute in Brasilien.
Wie sieht es mit der Kernenergie aus? Brasilien und
auch der wiedergewählte Präsident Lula haben sich jetzt
eindeutig positioniert: Sie wollen auf die Option Kernenergie nicht verzichten, sondern sie wollen sie im
Gegenteil in ihren Stromerzeugungsmix wieder aktiv
aufnehmen.
Neben den beiden Anlagen Angra I und Angra II
- nicht nur Angra II, sondern beide sind mit deutschem
Know-how und deutscher Finanzierung entstanden; sie
funktionieren bis heute gut und liefern kostengünstig
sauberen Grundlaststrom - soll Angra III entstehen. Es
wird noch in diesem Jahr entschieden, ob Angra III gebaut wird. Dort wird von den Brasilianern wiederum
deutsche Technik, deutsches Know-how und deutsche
Unterstützung ins Auge gefasst.
Grundlage dafür ist der genannte Vertrag aus dem Jahr
1975, der alle Bereiche zum sicheren Betrieb umfasst: die
Brennelementeherstellung genauso wie die Herstellung
kerntechnischer Anlagen, den Informationsaustausch und
die sichere Abwicklung des Nuklearhandels. Brasilien
möchte also die Option der Kernenergie nicht ausschließen,
sondern einen diversifizierten Energiemix haben. Davon
könnten Sie, Herr Hoppe, und Ihre Fraktion noch etwas
lernen.
Was lernen wir daraus? Was ist die Schlussfolgerung
von uns als Unionsfraktion zu diesem Thema? Brasilien
will einen breiten Energiemix. Deutschland, mit seinem
breiten Energiemix bisher gut aufgestellt, kann Brasilien
dabei Hilfestellung leisten, nämlich das eine tun - die
erneuerbaren Energien weiter fördern -, ohne das andere
- die Kernkraft wie bisher unterstützen - zu lassen. Deshalb
unterstützen wir nachdrücklich die Bemühungen des
Bundeswirtschaftsministeriums in den Verhandlungen,
die gerade im Gange sind. Da sollte es keine Denkverbote
geben. Diesen Herausforderungen sollten wir uns stellen.
Zum Abkommen ganz konkret. Wir plädieren dafür,
dass das Abkommen von 1975 zu einer sich gegenseitig
befruchtenden Energiepartnerschaft weiterentwickelt
wird, die technologieoffen ist, ohne Denkverbote, basierend
auf einem breiten Energiemix und auf Gegenseitigkeit,
wie von Brasilien gewünscht.
Es gibt auch Bereiche, in denen wir von Brasilien lernen
können. Beispielsweise im Bereich der Biotreibstoffe
kann Deutschland dort noch einiges über die Markteinführung und über die Technik lernen. Wir können unsere
Märkte für brasilianisches Bioethanol - das bieten die
mit Nachhaltigkeitszertifikaten an; das wäre also nicht
ohne Berücksichtigung der Nachhaltigkeit - öffnen.
Wir können die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit auf alle Bereiche der Energieforschung und -technik
ausweiten. Für mich gehört die Kernenergie genauso
dazu wie die Steigerung der Energieeffizienz bei konventionellen Kraftwerken, die erneuerbaren Energien in
ihrer Gesamtheit sowie die Abscheidung, Sequestrierung,
und Speicherung von CO2 oder auch - nicht zu vergessen die Themen Energieeffizienz im Verkehr und Energieeffizienz im Gebäude- und Baubereich.
Diese Weiterentwicklung des Abkommens wird zwischen den Regierungen gerade sehr konstruktiv verhandelt. Die brasilianische Regierung wird bis Mitte März,
also in wenigen Wochen, einen Entwurf für ein neues
Energieabkommen vorstellen. Brasilien geht offen, ohne
Scheuklappen und ohne Denkverbote, an dieses Thema
heran. Ich denke, das kann Brasilien auch von seinem
Verhandlungspartner Deutschland erwarten.
Mir ist es wichtig, hier abschließend nochmals klarzustellen: Die Brasilianer wollen weiterhin die Kernenergie
nutzen und als Bestandteil ihres Energiemixes ausbauen.
In diesem Bereich existiert bisher eine gut funktionierende Partnerschaft zwischen beiden Ländern, die insbesondere eine hohe Sicherheit der Anlagen garantiert.
Daran haben auch wir ein Interesse. Warum sollen wir,
wenn wir in Deutschland noch die sichersten Anlagen
und die sicherste Technik haben, andere auf der Welt,
wenn sie es denn wollen, daran nicht partizipieren lassen
und letztlich auch für unsere Wirtschaft und unsere
Technologie Vorteile daraus ziehen, sodass das auch unserem Land zugutekommt?
({0})
Wir unterstützen Brasilien daher bei diesem Bemühen
und die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen. Wir
fordern sie auf, die fruchtbare Partnerschaft, die bisher
einseitig auf Kernenergie fokussiert war, jetzt auf die
anderen genannten Bereiche zu erweitern und mit einer
umfassenden Energiepartnerschaft - nicht mit einer ideologisch einseitig fokussierten Lösung - das weltweite
Problem von Energie und Klima, auf das ich nicht eingegangen bin - darüber haben wir ja heute Morgen stundenlang diskutiert -, gemeinsam in diesem Sinne lösen.
Dabei soll und wird diese Weiterentwicklung einen
wichtigen Baustein bilden. Da ist pragmatisches Handeln, technologieoffenes Handeln und nicht Ideologie
gefragt. Insofern bin ich guter Dinge, dass die von uns
geführte Bundesregierung mit Brasilien zum richtigen
Ergebnis kommen wird.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika
Brunkhorst, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In Brasilien gibt es im Bereich der erneuerbaren
Energien wahrhaftig ein großes Potenzial. Deutschland
kann hier in Zukunft ohne Weiteres verstärkt Know-how
und Anlagentechnik liefern. Wir meinen, dass die flexiblen Mechanismen des Kiotoprotokolls in Brasilien verstärkt Anwendung finden sollten. Wir glauben auch - da
folge ich meinem Kollegen Pfeiffer -, dass die wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Brasilien in
den Bereichen der erneuerbaren Energien, der Energieeinsparung und der Förderung der Energieeffizienz verstärkt werden kann.
({0})
Einen entsprechenden Antrag haben wir bereits im
Mai 2006 vorgelegt. Deswegen aus dem deutsch-brasilianischen Atomvertrag auszusteigen oder ihn auszuhebeln,
ist falsch. Wir sind da völlig anderer Meinung. Wir meinen, dass man vielmehr die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit auf beiden Gebieten verstärken sollte.
Der Antrag der Grünen ignoriert wichtige Sachverhalte und Entwicklungen der brasilianischen Energiewirtschaft. Wie sieht der Energiemix in Brasilien aus?
Drei Viertel der gesamten Elektrizität wird in Brasilien
aus Wasserkraft gewonnen. Das Land verfügt über
enorme Ressourcen an Erdöl und Erdgas sowie über ein
Sechstel der weltweiten Uranreserven. Der brasilianische Energiebedarf wird bis zum Jahr 2015 um
50 Prozent ansteigen.
Infolgedessen gewinnt die Kernkraft zunehmend an
Bedeutung. Seit Bolivien seine Erdgasreserven verstaatlicht hat und verknappt, sind die Brasilianer zunehmend
der Gefahr ausgesetzt, dass es zu neuen Energieengpässen kommt.
Der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieangebot liegt in Brasilien im Moment bei
44 Prozent. Das ist ein gewaltiger Anteil, den kein anderes Land dieser Welt erreicht. Grund dafür ist natürlich
das hohe Ausmaß der Wasserkraft. Dennoch hat sich
auch Brasilien ein Ziel gesetzt: Es will bis 2015 den Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien deutlich erhöhen.
Die brasilianische Regierung hat ein Programm zur
Förderung der erneuerbaren Energien aufgelegt: Proinfa. Bis Ende 2006 konnten 139 der 144 beantragten
Projekte auf den Weg gebracht werden. Staatliche Stellen geben Zahlen heraus, nach denen die Gesamtkapazität der erneuerbaren Energien bis Ende 2007 auf
3 300 Megawatt gesteigert wird.
Den Proinfa-Investoren, die in erster Linie gefördert
werden, wenn sie in Projekte der Windkraftanlagen, der
Biomasse und der kleinen Wasserkraftwerke investieren,
winken komfortable Konditionen. Elektrobras, der
größte Energieversorger in Brasilien, hat garantiert, dass
er den Stromerzeugern bis zu 12,6 Millionen Megawattstunden abkaufen wird; damit werden den Investoren
1,8 Milliarden brasilianische Real garantiert.
Ich bin überzeugt, dass Brasilien sehr wohl in der
Lage ist, selbst zu entscheiden, wie es seinen Energiemix
gestaltet.
({1})
Brasilien hat ein Interesse am Ausbau sowohl der Kernenergie als auch der erneuerbaren Energien. Brasilien
drängt deutlich auf die Erfüllung des deutsch-brasilianischen kerntechnischen Vertrags. Zögen wir aus vereinbarten Projekten aus, ließen wir zu, dass andere Länder
uns mit ihrer Forschung, ihrer Industrie und ihrer Wirtschaft überholen. Ich denke, das kann nicht in unserem
Interesse sein.
({2})
Zum Schluss möchte ich noch darauf zu sprechen
kommen, was bereits gelaufen ist. Für Angra III ist bereits ein umfangreiches Paket mit Anlagenteilen nach
Brasilien geliefert worden. Es wurde Mitte der 80erJahre von deutschen Firmen geliefert. Der Wert dieser
Lieferungen beläuft sich auf 750 Millionen Euro. Es
kostet jedes Jahr sage und schreibe 20 Millionen Euro,
diese Anlagenteile sachgerecht zu lagern.
Beim Fortgang des Baus könnte ein fest kontraktiertes Auftragsvolumen von 500 Millionen Euro realisiert
werden. Das sind keine Peanuts. Der Serviceauftrag beläuft sich auf 30 Millionen Euro pro Jahr. Damit könnten
wir unsere Spitzentechnologie, unser Ingenieurswissen
und unsere Kompetenz in den Bereichen der kerntechnischen Forschung und der Sicherheitsforschung exportieren. Weil immer von Arbeitsplätzen die Rede ist, sage
ich: Damit könnten wir insgesamt 5 000 Arbeitsplätze
sichern.
Ich denke, die Belehrung der Grünen in Bezug auf die
brasilianische Energiepolitik ist völlig überflüssig. Wir
kennen diese Belehrung der Grünen hier in Deutschland;
wir sind das gewohnt. Ich denke aber, Brasilien sollten
wir davor bewahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Hoppe hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass es um Verhandlungen über den deutschbrasilianischen Atomvertrag aus dem Jahre 1975 geht.
Dieser Vertrag ist ein Anachronismus und politisch
überholt.
({0})
Deshalb ist es gut, dass diese Verhandlungen stattfinden.
Wir haben damals unter Rot-Grün gemeinsam darauf gedrängt. Ich darf bei der Gelegenheit vielleicht auch erwähnen, dass der erste Antrag zu diesem Thema 1994
von der SPD-Fraktion kam - damals noch in Bonn.
({1})
Wir haben einen Koalitionsvertrag, in dem der Atomausstieg festgeschrieben ist und der Ausbau erneuerbarer
Energien national wie international vereinbart wurde.
Die SPD steht zu diesem Koalitionsvertrag.
({2})
Ihre Aufforderung, dass wir Farbe bekennen sollen, ist
zwar nett, aber ich glaube, sie ist nicht nötig. Wir stehen
klar zu den Koalitionsaussagen. Als Entwicklungspolitikerin sage ich auch: Wir halten die Atomenergie nicht
für eine Option in der Entwicklungspolitik.
({3})
- Warten Sie es ab, Herr Kollege.
Ich möchte darstellen, was wir bereits tun und was
wir in unserer Entwicklungspolitik im Bereich der erneuerbaren Energien als wesentliche Kernelemente ansehen.
Mit der Konferenz in Johannesburg im Jahre 2002
und mit der Renewables-Konferenz in Bonn im Jahre
2004 haben wir den richtigen Weg bereitet. Von 2003 bis
2007 haben wir 1 Milliarde Euro für erneuerbare Energien und Energieeffizienz bereitgestellt. Seit 2005 setzen
wir den vorbereiteten Weg mit einer Sonderfazilität für
Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien in
Höhe von 500 Millionen Euro fort.
Das ist gut und ein wirtschaftliches Erfolgskonzept.
Von den 500 Millionen Euro, die im Jahre 2005 zur Verfügung gestellt worden sind, wurden bereits im
Jahre 2005 170 Millionen Euro für Investitionen im Bereich des BMZ und der Privatwirtschaft umgesetzt. Ich
denke, aufgrund dieser wirtschaftlichen Zahlen werden
Arbeitsplätze bei uns gesichert und gleichzeitig entsprechende Effekte in den Schwellen- und Entwicklungsländern gezeitigt. Das ist der richtige Weg, auf dem wir
weitergehen wollen.
({4})
Ich denke auch, dass es aus entwicklungspolitischer
Sicht Sinn macht, diesen Weg zu gehen; denn eine
dezentrale Energieversorgung ist genau das Konzept,
das ländliche Räume und weit entfernte Regionen in großen Ländern wie Brasilien brauchen. Die Energie eines
Atomkraftwerkes erreicht die Menschen im Norden Brasiliens, wo das BMZ zum Beispiel eine ganze Reihe der
gerade geschilderten Projekte durchführt, kaum, sodass
sie nicht mit der nötigen Energie versorgt werden. Wir
müssen dort auf dezentrale Konzepte setzen und somit
auch einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Ich
denke, dass das Instrumentarium Erneuerbare Energien
und Energieeffizienz der richtige Weg sowohl zur Armutsbekämpfung als auch zum Klimaschutz ist.
Weil Brasilien in Ihrem Antrag natürlich an erster
Stelle steht und angesprochen wird, möchte ich einige
konkrete Beispiele nennen:
Wir haben zahlreiche Projekte und Programme im
Bereich des kommunalen Energie- und Umweltmanagements aufgelegt, wir haben ein Programm zur Förderung
der ländlichen Elektrifizierung im Norden Brasiliens
aufgelegt, wir führen ein Projekt zur Finanzierung von
Kleinwasserkraftwerken durch, wir haben ein Programm
zur Steigerung der Energieeffizienz aufseiten der Stromerzeuger und der Verbraucher aufgelegt, und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat ein Programm für die umwelt- und
sozialverträgliche Produktion von Biokraftstoffen aufgelegt. Ich erinnere an das Projekt des Anbaus von Rizinus
in kleinbäuerlichen Strukturen, das sowohl ökologisch
als auch unter sozialen Gesichtspunkten sinnvoll ist.
Brasilien ist hier auf einem Weg, mit dem es immer
mehr zeigt, welches Interesse es diesem Bereich gibt. Ich
denke, dass wir dieses Interesse Brasiliens auch bei den
Verhandlungen entsprechend nutzen sollten.
Sie sehen also, viele der Punkte, die im Antrag der
Fraktion der Grünen angesprochen wurden, Herr Hoppe,
haben bereits Eingang in die tägliche Arbeit der Regierung gefunden und sind zu praktizierter Regierungspolitik geworden.
Ich darf im Zusammenhang mit Angra III noch daran
erinnern, dass auch hierfür selbstverständlich die Hermesleitlinien aus dem Jahr 2001 gelten, in denen deutlich steht:
Ausgeschlossen von der Exportförderung sind Nukleartechnologien zum Neubau bzw. zur Umrüstung von Atomanlagen.
Nimmt man all dieses zusammen - das Regierungshandeln, die Inhalte des Koalitionsvertrages, die Leitlinien für Hermesbürgschaften aus dem Jahre 2001, die
proklamierte und praktizierte Arbeit des BMZ und des
Umweltministeriums -, dann wird uns eines deutlich: Ihr
Antrag ist ein schöner Antrag, aber die in ihm enthaltenen Forderungen haben sich durch praktisches Regierungshandeln bereits erledigt.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion
Die Linke.
({0})
Das wird Sie noch überraschen. - Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den die Grünen hier in den Bundestag eingebracht haben, fordert nichts anderes als den
sofortigen Ausstieg aus der nuklearen Zusammenarbeit mit Brasilien. Wir als Linke begrüßen dieses Anliegen und stimmen dem Antrag ohne Wenn und Aber zu.
Ich füge hinzu: Leider kommt er ein wenig spät. In
den sieben Jahren, da die Grünen den Minister stellten,
der Atomtransporte durch das Land prügeln ließ,
({0})
war eine solche Vehemenz leider nicht zu verspüren.
({1})
Die deutsch-brasilianische Atomzusammenarbeit
reicht bis in die 70er-Jahre zurück; mein Kollege Hoppe
von den Grünen wies bereits darauf hin. Unter Kanzler
Schmidt wurde mit dem damals autoritären Regime in
Brasilien die Lieferung eines kompletten nuklearen
Kreislaufs vereinbart,
({2})
der zur Herstellung einer Bombe notwendig ist. Doch
Brasilien verfügte nicht über die notwendigen Kapazitäten. So reduzierte sich das Programm lange Zeit auf einen einzigen Meiler. Die nukleare Zusammenarbeit aber
wurde nie aufgegeben. In der Zeit, da Umwelt- und
Atomminister Trittin für Deutschland die Absicht auf einen weit in der Zukunft liegenden Atomausstieg verkündete, waren deutsche Unternehmen in Brasilien sehr aktiv. Der mit deutscher Ingenieurskunst errichtete zweite
Meiler ging nach 25 Jahren Entwicklungszeit als teuersHüseyin-Kenan Aydin
tes Atomkraftwerk der Welt unrühmlich in die Geschichte ein.
Wir von der Linken freuen uns, dass sich die Grünen
heute mit einem gelungenen Antrag aufseiten der entschiedenen Atomgegner wiederfinden. Die Gründe, die
Reihen der Atomgegner zu schließen, sind in der Tat
dringend. Ab Juli 2007 soll in Brasilien der Bau des von
Siemens geplanten Atomkraftwerks Angra III beginnen. 2012 soll es in Betrieb gehen. Das staatliche brasilianische Planungsunternehmen EPE hat die Errichtung
von vier weiteren Atommeilern vorgeschlagen. Niemand
weiß, ob sich in Zukunft nicht andere südamerikanische
Staaten auf einen ähnlich gefährlichen Weg einlassen.
Die gefährliche Nuklearspirale, die mithilfe deutscher
Unternehmen bereits den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert hat, könnte sich so auch in Südamerika zu
drehen beginnen. Historisch gesehen entstand ja die Nutzung der Atomenergie als Nebenprodukt bei der Herstellung von Atombomben. An dieser engen Verbindung hat
sich bis heute nichts, aber auch gar nichts geändert.
({3})
Deshalb ist bei internationalen Energieverträgen eine
konsequente Ausrichtung auf Wind-, Wasser-, Solar- und
Bioenergie unverzichtbar. Das gilt aber auch für
Deutschland selbst. Formal hält die Große Koalition
noch an dem für die Zukunft angekündigten Atomausstieg in Deutschland fest.
({4})
- Moment! - Wenn sie gleichzeitig die Entwicklung der
nuklearen Energie- und Bombenkreisläufe in den sogenannten Schwellenländern unterstützt, ist das nicht nur
unglaubwürdig. Schlimmer: Der Atomexport zum Nutzen der deutschen Konzerne wird auch diejenigen in der
Großen Koalition stärken, die sowieso nie etwas anderes
als den weiteren Ausbau des Nuklearstandortes Deutschland wollten.
({5})
Wir von der Linken sagen: Stoppen Sie den nuklearen
Wahnsinn! Nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit, auch zu Hause muss Deutschland auf erneuerbare
Energien setzen,
({6})
und das nicht nur auf dem Papier und auch nicht erst in
25 Jahren, sondern hier und heute.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Frank
Schwabe, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur Geschichte des
Vertrages haben wir gerade schon eine ganze Menge gehört. Das Anliegen der Grünen ist klar: Es soll kein
Angra III geben, zumindest nicht mit der Beteiligung
deutscher Firmen. Was wir davon halten, dazu hat Frau
Kofler gerade deutlich Stellung genommen, auch dazu,
wie die reale Situation in der Bundesregierung ist. Ich
will das aber fürs Protokoll noch einmal wiederholen.
Es gibt die Leitlinien der Bundesregierung vom
26. April 2001 zu Hermesbürgschaften. Das ist Ihnen
in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen am 10. Juli 2006 noch einmal
bestätigt worden. Es kann also keine Unterstützung
durch Hermesbürgschaften für den Bau irgendeines
Atomkraftwerks irgendwo auf der Welt geben. Deswegen hätte es zumindest an dieser Stelle Ihres Antrages
nicht bedurft. Das war eigentlich vorher klar; aber wenn
wir das hier noch einmal festhalten können, ist das auch
nicht falsch.
Ein solcher Antrag gibt allerdings Gelegenheit, die
Prioritäten der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Energiepolitik noch einmal genauer zu beleuchten. Das kann man gar nicht oft genug tun, auch
nicht an einem Tag, an dem - Herr Dr. Pfeiffer hat es angesprochen - die Bundeskanzlerin und der Bundesumweltminister eine halbe Stunde - ich glaube, das ist historisch - zum Thema Klimaschutz hier im Deutschen
Bundestag gesprochen haben.
Das Thema der Klima- und Energiepolitik ist und wird
immer mehr ein Thema der Entwicklungszusammenarbeit, ich denke, in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird
Deutschland - das ist heute Morgen schon angeklungen mit einem Anteil von 3 bis 4 Prozent an den weltweiten
Treibhausgasemissionen das Problem nicht alleine lösen
können; wir müssen die Entwicklungsländer und die
Schwellenländer dabei mitnehmen. Wir müssen allerdings
deutlich machen, wie ein Pfad einer zukunftsfähigen, umweltgerechten, klimagerechten Entwicklung aussehen
kann. Zum anderen wird es deshalb immer mehr ein
Thema der Entwicklungszusammenarbeit, weil es um
die zukünftige Energieversorgung von zusätzlich knapp
2 Milliarden Menschen auf der Erde geht, die heute keinen ausreichenden Zugang zu Energiequellen haben und
diesen zukünftig erhalten wollen.
Deswegen sind die Entwicklungszusammenarbeit und
auch die Zusammenarbeit mit Brasilien so wichtig. Die
Antwort auf die Energiefragen sind ganz sicher Formen
erneuerbarer Energien in kleinen Einheiten. Sicherlich
keine Lösung ist in der Tat die Atomenergie,
({0})
auch wenn zum Beispiel Herr Westerwelle sich heute
Morgen zu der Aussage verstiegen hat, die entscheidende Frage der Energiepolitik sei die Kernenergie. Das
hat er hier heute Morgen wirklich gesagt. Es mag ja
Menschen geben, die die Atomenergie befürworten; die
entscheidende Frage der Energiepolitik ist sie allerdings
sicher nicht,
({1})
bei einem Anteil von ungefähr 12 Prozent an der Primärenergie in Deutschland nicht und schon gar nicht bei einem Anteil von etwa 5,5 Prozent an der Primärenergie
weltweit. Würde man die Endenergie betrachten, wäre es
noch deutlich weniger.
Herr Westerwelle sprach außerdem von 160 neuen
Atomkraftwerken in Planung; Angra III hat er da wahrscheinlich auch mitgezählt. Die Zahl von 160 stimmt
nicht einmal. Da empfiehlt sich eine „Spiegel“-Lektüre.
Man muss den „Spiegel“ nicht immer lesen; diese Woche ist er aber sehr gut. 435 Atomkraftwerke in
31 Ländern; einige davon, wie Forsmark, stehen gerade
still.
({2})
Zu Silvester letzten Jahres gab es noch
442 Atomkraftwerke; das heißt, jetzt sind es sieben
Atomkraftwerke weniger und nicht mehr. Es gibt Zahlen
der World Nuclear Association, die wahrscheinlich stimmen: 29 Atomkraftwerke im Bau, 64 in Planung. An diesen Zahlen wird ganz deutlich: Die Renaissance der
Atomenergie ist eine Mär und nichts anderes.
({3})
Auch da empfiehlt sich ein Blick in den „Spiegel“:
Um nur 10 Prozent der fossilen Energieträger zu ersetzen, müssten weltweit etwa 1 000 Atomkraftwerke neu
gebaut werden - eine vollkommen abenteuerliche Vorstellung, gerade vor dem Hintergrund der Terrorgefahr,
der Gefahren durch die Proliferation, einer ungeklärten
Atommüllsituation und auch vor dem Hintergrund, dass
das Uran - auch wenn es in Brasilien 6 Prozent der
Uranvorräte gibt - schon für die heutigen Atomkraftwerke nur wenige Jahrzehnte ausreicht.
Nein, die Zukunft auf nationaler Ebene und erst recht
in der Entwicklungszusammenarbeit liegt nicht in der
Atomenergie, sondern im Ausbau der erneuerbaren
Energien. Da unternimmt Deutschland - das ist gerade
deutlich geworden - eine ganze Menge. Das sollten wir
unterstützen und entsprechend weiterbetreiben. Zumindest die Sozialdemokratie in der Regierung wird sich dafür engagiert einsetzen.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4426 zu überweisen zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
einer Deutschen Arzneimittel- und Medizinprodukteagentur ({0})
- Drucksache 16/4374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Kollegen Wolfgang Zöller, Peter Friedrich,
Daniel Bahr, Frank Spieth sowie die Kollegin Birgitt
Bender und der Parlamentarische Staatssekretär Rolf
Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4374 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Kollaps bewahren
- Drucksache 16/4062 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Erika Steinbach, Eduard Lintner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Christoph Strässer,
Doris Barnett, Kurt Bodewig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Erfolg des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte durch die konsequente Befolgung seiner Urteile sichern
- Drucksache 16/4417 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({4}), Omid Nouripour, Rainder Steenblock,
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken
- Drucksache 16/4405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Burkhardt Müller-Sönksen, FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist, da sind wir uns alle in diesem
Hause einig, die bedeutendste Einrichtung des Menschenrechtsschutzes in Europa. In seiner Aufgabe und in
seinen Mechanismen ist der Gerichtshof weltweit einzigartig. In dem noch nicht ganz einen Jahrzehnt seines Bestehens ist der Gerichtshof zu einer wahren Erfolgsgeschichte geworden. Er ist nicht nur ein Symbol, sondern
auch Maßstab und Garant für die Bewahrung des hohen Menschenrechtsstandards in Europa.
Wie die Regierungskoalition in ihrem Antrag zu
Recht herausstellt, droht dem Gerichtshof jedoch sein eigener Erfolg zum Verhängnis zu werden. Das liegt nicht
daran, dass der Gerichtshof schlechte Arbeit leisten
würde. Es liegt vielmehr daran, dass diesem Gerichtshof
eine ständig wachsende Aufgabe überantwortet wird. Jedoch werden ihm nicht gleichzeitig die notwendigen
Mittel an die Hand gegeben, diese Aufgabe erfolgreich
zu bewältigen.
Wir alle kennen die erschreckende Zahl von Verfahren, die jedes Jahr auf diesen Gerichtshof einprasseln.
Wir alle wissen, mit welchen Problemen der Gerichtshof
angesichts dieser wahren Klageflut zu kämpfen hat. Die
meisten dieser Probleme sind im Grunde genommen
schon seit der Einrichtung des Gerichtshofs 1998 bekannt und wurden seither von vielen Juristen und auch
von vielen Politikern immer wieder diskutiert.
Die Zeit für lange Diskussionen ist nun vorbei.
({0})
Der Kollaps des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht unmittelbar bevor. Es geht jetzt nicht
mehr darum, wie etwa mit dem kürzlich ratifizierten
14. Zusatzprotokoll, einzelne Teile der Arbeit des Gerichtshofs zu verbessern. Es geht vielmehr darum, den
Gerichtshof vor einer vollständigen Paralysierung zu bewahren. Es geht jetzt darum, den Gerichtshof binnen
kürzester Zeit in die Lage zu versetzen, die schier unglaubliche Zahl von 90 000 anhängigen Verfahren aufzuarbeiten und sich gleichzeitig den bald 50 000 neu eingehenden Beschwerden pro Jahr zu stellen.
({1})
Zur Lösung dieses Problems reicht jedoch kein Flickwerk mehr. Es bedarf vielmehr einer gemeinsamen Anstrengung der Mitglieder des Europarates. Diese Anstrengungen dürfen aber nicht bei der dringend
notwendigen Reform des Gerichtshofs selbst stehen bleiben.
Zur Rettung des Gerichtshofes bedarf es vielmehr eines ambitionierten Konzepts, das auf verschiedenen
Ebenen ansetzt. Einerseits muss der Gerichtshof in die
Lage versetzt werden, seine Aufgaben flexibler und eigenverantwortlicher wahrzunehmen. Hierzu gehört nicht
nur eine Anpassung der bestehenden Verfahren. Hierzu
gehört auch, dem Gerichtshof mehr Entscheidungsbefugnisse über die Verwendung seiner zurzeit spärlichen
finanziellen und personellen Ressourcen zuzugestehen.
({2})
Das allein kann diesen Gerichtshof jedoch nicht vor
dem Kollaps bewahren, sondern ihn höchstens hinauszögern. Der Gerichtshof muss sich vielmehr auf der anderen Seite wieder langfristig seiner eigentlichen Aufgabe
widmen und sich auf sie konzentrieren können. Diese
Aufgabe war es, letzte Instanz für den Menschenrechtsschutz in Europa zu sein. „Letzte Instanz“ bedeutet, dass
es überhaupt Vorinstanzen gibt. Es kann nicht sein, dass
der Gerichtshof für einige Mitgliedstaaten des Europarates quasi einen Ersatz innerstaatlicher Rechtsschutzmöglichkeiten darstellt.
({3})
Hier muss die Bundesregierung mit aller Nachdrücklichkeit an diejenigen Mitgliedstaaten appellieren, die
sich den ihnen nach der Konvention zufallenden Aufgaben entziehen. Dazu gehört es insbesondere, bereits auf
nationaler Ebene alles daranzusetzen, dass eine Beschwerde beim Gerichtshof gar nicht erst notwendig
wird - sei es durch die effektive Umsetzung der Konventionsrechte, sei es durch die Einrichtung effektiver Klagemöglichkeiten im Inland und die strikte Befolgung
einmal gefällter Entscheidungen des Gerichtshofs.
({4})
Das betrifft ganz besonders solche Staaten wie etwa
Russland, die - so will es scheinen - ein zielgerichtetes
Interesse verfolgen, den Gerichtshof durch Überbeanspruchung schlicht auszuschalten. Die Bundesregierung
muss solchen Versuchen entschieden entgegentreten.
({5})
Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist
deshalb ein wenig enttäuschend, dass Ihr Antrag zum
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur einen
einzigen Aspekt aus der Reformdiskussion aufgreift. Die
effektivere Durchsetzung der Urteile des Gerichtshofs ist
zwar zweifelsohne einer der wichtigsten Ansätze. Zur
Lösung der bestehenden Probleme kann er allein jedoch
nicht ausreichen.
Von einer Regierungskoalition wäre hier wahrlich
mehr zu erwarten gewesen - dies umso mehr, als die
Bundesregierung derzeit aufgrund ihrer EU-Ratspräsidentschaft besondere Handlungsmöglichkeiten hat. Damit trägt sie aber auch eine besondere Verantwortung.
Da hilft auch die salvatorische Klausel im Koalitionsantrag nicht weiter - ich zitiere Seite 2, Forderung eins -:
… alle
- ich betone: alle geeigneten und notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die erfolgreiche Arbeit des EGMR zu
unterstützen und seine Arbeitsfähigkeit zu verbessern …
Auf diesem Stand waren wir schon, und zwar im Jahre
1998, also vor neun Jahren. Es wäre jetzt an der Zeit gewesen, dass die Bundesregierung ihre durch die EURatspräsidentschaft herausgehobene Stellung nutzt. Immerhin sollte der Menschenrechtsschutz ja einer der
Schwerpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
sein.
Enttäuschend finde ich auch, dass eines der kurzfristig wirkungsvollsten Mittel zur Stärkung des Gerichtshofs in Ihrem Antrag völlig außen vor bleibt: die
schnellstmögliche Abhilfe der enormen Unterfinanzierung des Gerichtshofs. Das muss man sich vor Augen
führen: Der Gerichtshof verfügt derzeit über ein Budget
von knapp 190 Millionen Euro. Das ist der Gegenwert
eines circa 10 Kilometer langen Autobahnstücks. Der
Menschenrechtsschutz in Europa sollte uns wahrlich
mehr wert sein. Wenn man das einmal ausrechnet, dann
kommt man zu dem Ergebnis: Sie haben jedem Antragsteller auf einem 10 Kilometer langen Autobahnstück
gerade einmal 11 Zentimeter zugeteilt. Das ist eigentlich
ein Skandal.
({6})
Es ist umso unverständlicher, dass der Europarat über
jede Summe von 100 000 Euro für den Gerichtshof mit
den Mitgliedstaaten feilschen muss. Gleichzeitig wird
aber von im Grunde denselben Staaten eine EU-Grundrechteagentur aus der Taufe gehoben, deren Aufgabe
noch immer nicht klar ist und die nach Meinung vieler
Experten bestenfalls überflüssig ist. Gleichwohl stattet
sie sich mit einem Budget von 15 Millionen Euro aus,
das kurzfristig auf 30 Millionen Euro wachsen soll.
Herr Kollege, es blinkt ein Licht vor Ihnen.
- Ich komme zum Ende.
Ich appelliere an Sie, dass wir im Ausschuss auf der
Grundlage des eingereichten FDP-Antrages im Sinne
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
weiterarbeiten. Sie können dem FDP-Antrag gerne folgen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Für den Kollegen Müller-Sönksen hat das Licht
geleuchtet; ich glaube, das war auch gut so;
({0})
denn das, was er gesagt hat, entspricht in vielen Teilen
durchaus dem, was viele von uns über die Arbeit des
Menschenrechtsgerichtshofes denken. Aber ich bin mir
nicht ganz so sicher, ob wir am Ende zur gleichen Bewertung kommen. Meines Erachtens muss man gerade
bei einem solchen Thema überlegen, inwieweit man Parteipolitik betreibt und in welchem Maße man an einer
gemeinsamen Sache interessiert ist, die nun wirklich die
Wertschätzung aller Gutwilligen hier im Hause verdient.
({1})
Es ist selbstverständlich wahr: Dieser Gerichtshof gehört zu den Beispielen von Erfolgsgeschichten, die am
eigenen Erfolg zugrunde zu gehen drohen. Der Gerichtshof ist unterfinanziert, bei ihm sind zu viele Fälle anhängig, und er hat viele Probleme. Natürlich ist es Aufgabe
eines so bedeutenden Mitgliedstaates wie Deutschland,
sich dort entsprechend einzubringen; das ist überhaupt
nicht zu bestreiten.
Nur eines bestreite ich ausdrücklich: dass Deutschland sich an dieser Stelle nicht bereits ordentlich engagiert hat. Ich greife ein Beispiel heraus, weil Sie es gerade genannt haben, die Finanzierung. Auch Sie sind in
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
und wissen daher, dass über das reale Nullwachstum hinaus, das uns allen im Bereich des Europarates zugestanden worden ist, dafür gesorgt worden ist, dass in diesem
Jahr ein Zuwachs des Budgets des Gerichtshofes von
9,7 Prozent erreicht worden ist. Das ist nicht zuletzt auf
Drängen der deutschen Bundesregierung geschehen. Dafür sollte man an dieser Stelle einmal deutlich Danke sagen.
({2})
Reden wir noch einmal über das 14. Zusatzprotokoll! Natürlich reden wir darüber seit 1998; wir haben es
vor einiger Zeit im Deutschen Bundestag ratifiziert.
Aber Sie wissen ganz genau, warum es keine Wirkung
entfaltet hat. Dazu hätte ich gern auch von Ihnen ein paar
Worte gehört.
Die russische Staatsduma ist das einzige Parlament
der Mitgliedstaaten der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates, das bis jetzt nicht zugestimmt hat, sondern das im Gegenteil im letzten Dezember die Ratifizierung abgelehnt hat. Jetzt können wir lange darüber diskutieren, worin die Gründe dafür gelegen haben mögen;
dazu fielen mir viele Vermutungen ein. Aber weil wir
wissen, dass es nun einmal der Ratifizierung durch alle
Staaten bedarf, muss es doch unser Ziel sein, unsere Kollegen dort zu überzeugen, dass sie ratifizieren. Dann
kommen wir mit dem 14. Zusatzprotokoll weiter. Es
geht nicht um die Frage, was wir danach machen, sondern um die Frage, wie wir erst einmal zu diesem Punkt
gelangen; dann können wir uns darüber Gedanken machen, wie wir anschließend weiterkommen.
({3})
Selbstverständlich gibt es auch Pläne für die Zeit danach. Es gibt den Bericht des Rates der Weisen, der ganz
klar die Maßnahmen benennt, die wir verfolgen können,
verfolgen sollen und auch verfolgen müssen, wenn wir
die Arbeit des Gerichtshofes effektiver machen wollen.
Ich halte die vorgelegten Pläne für durchaus nachvollziehbar; sie müssen überprüft und anschließend
schnellstmöglich umgesetzt werden. Aber auch hierfür
- das wissen alle Beteiligten - brauchen wir zum
Schluss alle Mitgliedstaaten. Da nützt es nichts, Naming,
Shaming und Blaming zu machen, sondern es nützt nur
etwas, darauf hinzuwirken, dass wir am Ende des Tages
zu einer gütlichen Einigung kommen und den Gerichtshof als das erhalten, was er ist, nämlich das erfolgreichste Gremium für den Schutz der individuellen Menschenrechte in Europa.
Weil Sie, Herr Kollege Müller-Sönksen, auch dies ein
bisschen belächelt haben, äußere ich meine Überzeugung, dass die Frage, wie in den Mitgliedstaaten mit den
Urteilen dieses Gerichtshofes umgegangen wird, wichtig
und entscheidend ist. Die Befolgung der Urteile ist ein
großes Problem. Das kann man auch daran erkennen,
dass es sehr viele im Ministerkomitee anhängige Verfahren gibt, weil Staaten bis jetzt die Urteile des Gerichtshofes nicht befolgt haben und sie nicht umgesetzt haben.
Daraus ergibt sich doch auch eine Aufgabe für uns als
Parlament. Wer, wenn nicht wir, ist für die Aufrechterhaltung demokratischer Institutionen zuständig? Das
mag vielleicht in Deutschland kein so großes Problem
sein. Aber Sie können sich eine Liste mit Ländern anschauen, die bis jetzt nicht bereit sind, die Urteile des
Gerichtshofes umzusetzen. Dabei könnten gerade Sie als
Parlamentarier, der Sie die liberale Fahne hochhalten,
einmal deutlich sagen: Jawohl, Parlamente spielen an
dieser Stelle eine Rolle und haben auch eine Verantwortung.
({4})
Unser Antrag zielt genau in diese Richtung. Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, René van der Linden, hat nicht umsonst Ende letzten Jahres alle Parlamente seiner Mitgliedstaaten
gebeten, sich dafür einzusetzen, dass in Anlehnung an
Beispiele aus Großbritannien Möglichkeiten gefunden
werden, wie die Umsetzung und Befolgung der Urteile
des Gerichtshofes in den Mitgliedstaaten beobachtet
werden kann. Auch wenn ich sicher bin, dass das in
Deutschland kein so großes Problem ist wie anderswo,
glaube ich, dass wir gut daran tun, beispielgebend voranzugehen und zu sagen: Jawohl, wir stellen uns dieser
Verantwortung. Wir lassen uns von der Bundesregierung
in den entsprechenden Ausschüssen berichten. - Damit
würden wir ein Zeichen setzen und zeigen, dass wir die
Verantwortung, die wir für den Menschenrechtsgerichtshof, für dieses erfolgreiche Gremium, haben, ernst nehmen.
({5})
Ich bin übrigens, wenn ich das am Rande einmal sagen darf, etwas überrascht darüber, dass die Fraktion Die
Linke weder einen Redner benannt hat noch sich sonst
irgendwie an der Debatte beteiligt. Ich hoffe nicht, dass
das auf ein mangelndes Interesse am Menschenrechtsschutz in Europa zurückzuführen ist.
({6})
Noch einmal zurück zum Monitoring. Ich glaube,
dass das eine wichtige Angelegenheit ist, weil wir hier
eine Vorbildfunktion für andere Parlamente wahrnehmen
können und wahrnehmen sollten.
Wenn wir darüber reden, in welchem Maße die Frage,
wie die Urteile in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, eine Rolle spielt, will ich darauf hinweisen, dass es
einem Antrag der Koalitionsfraktionen zu verdanken ist
- wir haben uns dafür eingesetzt -, dass Geld zur Verfügung gestellt wird, damit die Urteile des Gerichtshofs in
die deutsche Sprache übersetzt und somit von deutschen
Gerichten besser befolgt werden können.
({7})
Das kann man jetzt zwar kleinreden, aber es ist ein wichtiger Punkt. Unsere Verfassung steht an oberster Stelle,
und die Urteile des Gerichtshofs bilden sozusagen
Handlungsleitlinien und bieten Fallbeispiele, die in deutsches Recht umgesetzt werden sollten. Das ist ein wichtiger Punkt, der an dieser Stelle benannt werden muss.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass der Gerichtshof in den Staaten, wo rechtsstaatliche Strukturen
aufgrund fehlenden Willens oder aufgrund fehlender Kapazitäten nicht in dem Maße vorhanden sind, wie wir das
gerne hätten, eine besondere Aufgabe hat. Effektiver
Menschenrechtsschutz - ich glaube, auch darüber sind
wir uns in diesem Hause einig - kann nur dort entstehen
und nur dort endgültig und tatsächlich erfolgreich sein,
wo sich die staatlichen Strukturen den Menschenrechtsschutz und die Rechtsstaatlichkeit zu ihren Grundprinzipien und ihre Wahrung zu ihrer wichtigsten Aufgabe
gemacht haben. Ich glaube, dass Menschenrechtsschutz
und Demokratie nur dort erfolgreich sein können, wo es
eine wache Zivilgesellschaft gibt, wo Menschen darauf
achten, dass der Staat seiner Aufgabe nachkommt. Das
kann der Gerichtshof zwar nicht ersetzen, er kann aber
dort, wo die Verhältnisse nicht entsprechend sind - das
ist eine seiner wichtigsten Aufgaben -, helfend eingreifen. An diesen Stellen kann er versuchen, das zu ersetzen, was die staatlichen Strukturen vielleicht nicht leisten können.
Für mich steht fest, dass die Parlamente in diesem Zusammenhang eine Aufgabe haben. Wir als Parlamentarier müssen uns dieser Aufgabe stellen. Deswegen ist der
Antrag der Koalition darauf fokussiert. Wir hätten natürlich all das, was Sie zu Recht genannt haben, hineinschreiben können.
({8})
Die Frage ist aber, was jetzt das Vordringliche und das
Wichtige ist. Mir geht es darum, dass wir als Parlamentarier, ob wir nun in der Parlamentarischen Versammlung oder hier sitzen, bei dieser Angelegenheit eine Aufgabe wahrzunehmen haben. Wir haben die Pflicht, dem
Gerichtshof zu helfen, und zwar nicht nur, weil das eine
Verbesserung unserer Situation bedeutet, sondern auch,
weil das für viele Menschen in den Mitgliedstaaten des
Europarates eine Verbesserung bedeutet. Ich glaube, das
ist unsere Aufgabe. Die sollten wir nicht mit Parteipolitik vermischen, sondern gemeinschaftlich angehen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute eine
Erfolgsgeschichte, allerdings eine mit zunehmend fadem
Beigeschmack. Es ist die Erfolgsgeschichte einer Institution. Es ist nicht oft der Fall - ich glaube, das kann man
an dieser Stelle einmal sagen -, dass wir über Erfolge
von wichtigen, insbesondere europäischen Institutionen
reden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
gibt jedem Bürger der 46 Mitgliedstaaten des Europarates in Form der Individualbeschwerde ein Instrument
an die Hand, sich gegen Verletzungen seiner Menschenrechte durch seinen Heimatstaat zur Wehr zu setzen. Die
Entscheidungen sind für die am Verfahren beteiligten
Staaten verbindlich. Der betroffene Konventionsstaat ist
gemäß Art. 46 der Konvention verpflichtet, das Urteil zu
befolgen, die Rechtsverletzung zu beenden, Wiedergutmachung zu leisten und gleichartige Verletzungen in der
Zukunft zu unterlassen. Aus diesen Gründen ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die zentrale
Institution für die Menschenrechte im Bereich der
46 Mitgliedstaaten und strahlt durch seine Urteile weit
über Europa hinaus.
Aber wie das manchmal so ist, Erfolg kann auch gefährlich werden. Eine alte deutsche Redensart spricht davon, dass man am Erfolg auch ersticken kann. Die dramatische Situation des Gerichtshofes ergibt sich zum
einen aus der starken absichtlichen Verzögerung der Befolgung von Entscheidungen in einigen Ländern, teilweise wird sie sogar gänzlich verhindert. Insbesondere
handelt es sich hierbei um vier Staaten: Russland,
Ukraine, Rumänien und die Türkei. Das ist - das dürfen
wir, glaube ich, auch im deutschen Parlament sagen - für
uns unter keinem Aspekt hinnehmbar.
({0})
Die zweite, vielleicht noch gravierendere Gefährdung
ergibt sich aus dem ständigen Anstieg des Eingangs von
Individualbeschwerden. 1955 sind 138 Beschwerden registriert worden, 1995 fast 3 500. Heute gehen beim Gerichtshof pro Monat bis zu 4 000 Beschwerden ein, jeden
Monat bleiben mindestens 1 000 bis 1 500 Fälle unbehandelt. Zurzeit sind beim Gerichtshof deshalb ständig
rund 81 000 Fälle anhängig. Selbst wenn keine neuen
Beschwerden eingehen würden, wäre der Gerichtshof
noch mehrere Jahre mit der Erledigung der Altfälle beschäftigt. Dabei - auch dies gehört zur Wahrheit - werden fast 90 Prozent der eingegangenen Beschwerden abgewiesen, zum Teil, weil sie offensichtlich unzulässig
oder unbegründet sind.
Die durch die Vielzahl der zu bearbeitenden Fälle wie
auch die nicht ausreichende personelle und materielle
Ausstattung bedingte, zum Teil überlange Verfahrensdauer ist nach der eigenen Definition des Gerichtshofs
inakzeptabel, beruht doch gerade eine Vielzahl der Verurteilungen von Vertragsstaaten darauf, dass in diesen
Staaten überlange Verfahrensdauern als Verletzungen
der Europäischen Menschenrechtskonvention gerügt
werden. Es darf einem europäischen Gericht nicht passieren, dass es an genau denselben Sachverhalten scheitert, die es den nationalen Gerichten vorwirft. Deshalb
muss an dieser Stelle ganz massiv weitergearbeitet werden.
({1})
Das in diesem Hause bereits einmütig begrüßte
14. Zusatzprotokoll - Kollege Haibach hat darauf hingewiesen - hat das Ziel, die Handlungsfähigkeit des Gerichtshofs zu stärken und die Befolgung seiner Urteile in
den betroffenen Staaten besser zu gewährleisten. So wird
im Zusatzprotokoll das Ministerkomitee des Europarates
ermächtigt, vor der Großen Kammer des Gerichts ein
Verfahren gegen Staaten anzustrengen, die ihrer Verpflichtung zur Befolgung der Urteile des Gerichtshofs
nicht nachkommen. Ich weise noch einmal ausdrücklich
darauf hin, dass der Deutsche Bundestag gut beraten ist,
nicht nur andere Länder zu belehren, sondern das auch
für sich zu reklamieren. Ich begrüße ausdrücklich, dass
wir eine Berichtspflicht über die Umsetzung der Urteile
des Menschenrechtsgerichtshofes in den Ausschüssen
des Deutschen Bundestages fordern und, wie ich hoffe,
beschließen werden.
({2})
Das Zusatzprotokoll beinhaltet darüber hinaus weitere Maßnahmen, die zumindest für eine Übergangszeit
geeignet sind, die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs
aufrechtzuerhalten. So soll zum Beispiel die Arbeit der
Kammern dadurch deutlich entlastet werden, dass ihnen
durch die Verstärkung einer „Filterfunktion“ ermöglicht
werden soll, sich auf die Fälle zu konzentrieren, die tatsächlich wichtige und grundsätzliche Probleme im Bereich des Menschenrechtsschutzes aufwerfen.
Die russische Staatsduma - das ist schon angesprochen worden - hat bislang als einziges nationales Parlament das Zusatzprotokoll nicht ratifiziert und verhindert
damit, da Einstimmigkeit erforderlich ist, sein Inkrafttreten. Es steht uns als Parlamentariern sicher nicht zu, Kritik an Entscheidungen anderer Parlamente zu äußern,
weil auch wir es nicht gerne sehen würden, dass unsere
Arbeit von außen, von anderen Parlamenten, kritisiert
wird. Aber es bleibt die dringende Bitte und Aufforderung an unsere Kolleginnen und Kollegen in Russland,
ihre ablehnende Haltung aufzugeben, die Entscheidung
über die Nichtratifizierung des Zusatzprotokolls zu revidieren und damit einer Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten des Gerichtshofs eine Chance zu geben - auch
und gerade im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Russlands.
({3})
Unabhängig davon besteht weitgehender Konsens
darüber, dass selbst ein Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls nicht ausreichen wird, die Handlungsfähigkeit
des EGMR in Zukunft so zu stärken, dass er letztendlich
erfolgreich weiterarbeiten kann.
Der sogenannte Rat der Weisen hat den Auftrag, weitere
Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit des EGMR zu
machen, im Übrigen mit tatkräftiger Unterstützung der
früheren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,
Jutta Limbach. Er hat einen Zwischenbericht vorgelegt,
der weiterführende und meines Erachtens äußerst sinnvolle
und beachtenswerte Vorschläge enthält. Vor allem hervorzuheben ist nach meiner Auffassung die Forderung nach
einer Stärkung und Verbesserung nationaler Rechtsschutzsysteme, die den Gang vor den EGMR in
bestimmten Ländern des Europarates gar nicht erst notwendig machen. Weiterhin wurde vorgeschlagen, eine
größere Budgetunabhängigkeit des Gerichtshofs herbeizuführen sowie - auch das finde ich sehr wichtig - eine
Reform des Systems zur Wahl der Richterinnen und
Richter des Gerichtshof durchzuführen.
Begrüßenswert ist auch die Forderung nach einem
Ausbau der Ausstattung und der Aufgaben des
Menschenrechtskommissars des Europarates. Ich habe
in einem persönlichen Gespräch mit Herrn Hammarberg
mit äußerster Verwunderung und Besorgnis zur Kenntnis
genommen, wie dieses Büro ausgestattet ist. Das sage
ich an dieser Stelle insbesondere deshalb, weil heute die
EU-Grundrechteagentur in Wien mit ihrer Arbeit
begonnen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema spreche
ich auch deshalb an, weil die im Deutschen Bundestag
geäußerte Kritik an der Errichtung dieser zusätzlichen
Einrichtung bislang nicht überzeugend widerlegt worden
ist. Wir werden von hier aus strikt darauf zu achten haben,
dass keine Konkurrenz zu den bestehenden Menschenrechtsschutzsystemen entsteht. Der Menschenrechtsschutz ist beim Europarat gut aufgehoben. Er ist dort in
institutioneller, materieller und personeller Hinsicht zu
stärken und auszubauen. Deshalb müssen wir meines
Erachtens weiter politisch darauf beharren, dass die EU
als Institution der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt.
({4})
In diesem Sinne hoffe ich auf konstruktive Beratungen
in den Ausschüssen. Ich würde mir, auch um unseren
Entscheidungen Nachdruck zu verleihen, wünschen,
dass es letztendlich zu einer interfraktionellen Beschlussfassung auf der Basis der vorliegenden Anträge kommt.
Ich freue mich auf die Diskussion. Sie alle sind herzlich
eingeladen, einen Beitrag zu einem erfolgreichen Menschenrechtsschutz in Europa zu leisten.
Danke schön.
({5})
Der Parlamentarische Staatssekretär Alfred
Hartenbach hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
({0})
Deswegen ist der nächste Redner Omid Nouripour,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Deutsche Bundestag macht mit dieser Debatte deutlich,
wie wichtig ihm der Schutz der Menschenrechte ist. Ich
glaube, dass auch die vorliegenden Anträge dies klarma-
chen; das kann man nicht häufig genug wiederholen.
Denn die Garantie der Menschenrechte ist das Fundament
der Freiheit unserer Gesellschaften und somit ein Wert
an sich. Dieser Wert ist sehr konkret; denn es geht um
Schicksale von Menschen.
Ich habe im Hinblick auf die Debatte, die wir heute
führen, einen Blick auf die Liste der aktuellen Urteile
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
geworfen. Da gibt es beispielsweise den Fall des russi-
schen Verlegers Krasulja, der sich wegen eines einzigen
kritischen Beitrags über den regionalen Gouverneur ei-
ner Verurteilung durch ein Bezirksgericht gegenübersah.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah
darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit und des
1) Anlage 3
Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren. Das andere Urteil
gegen ihn wurde Gott sei Dank aufgehoben.
Aber auch in Deutschland muss der Gerichtshof leider
zuweilen tätig werden, so zum Beispiel im Fall der
Zwangsverabreichung von Brechmitteln an vermeintliche
Drogenkuriere. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah in dieser Zwangsmaßnahme einen Verstoß
gegen das Verbot von Folter und menschenunwürdiger
Behandlung. Ich glaube, dass diese individuelle Perspektive
immens wichtig ist, um zu begreifen, wie wichtig die
Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist.
Vor diesem Hintergrund und aufgrund des bereits
mehrfach genannten drohenden Kollapses des Gerichtshofs besteht dringender Handlungsbedarf; darin sind wir
uns alle einig.
({0})
Ein Ansatzpunkt dazu ist selbstverständlich die personelle und finanzielle Ausstattung des Gerichtshofs. Es
ist eine deutliche Aufstockung durch den Europarat erforderlich, aber auch die Schaffung größerer Unabhängigkeit des Gerichtshofs bei der Verwaltung seines eigenen Budgets.
Eine zweite notwendige Maßnahme, die heute auch
schon erwähnt wurde, ist die Umsetzung des 14. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Durch die darin beschriebenen Vereinfachungen
und Änderungen von Verfahren würde die Arbeit des
Gerichtshofs deutlich erleichtert. Leider - das hat der
Kollege Haibach bereits gesagt - ist seine Umsetzung
bisher immer daran gescheitert, dass Russland dieses
Zusatzprotokoll als einziges Mitglied des Europarats
nicht ratifiziert hat.
({1})
Die Frage ist selbstverständlich: Warum blockieren die
Russen? Die meisten Fälle, die meisten Klagen kommen
aus der Russischen Föderation. Ich glaube, dass diese
Kombination diesen Vorgang so ungeheuerlich macht
und dass es unsere Pflicht als Parlamentarier ist, diesem
Skandal entschieden entgegenzutreten.
({2})
Die Bundesregierung muss daher bilateral und natürlich
auch im Rahmen des Europarates tätig werden und auf
die russische Regierung einwirken. Auch wir müssen
mit den Kollegen und Kolleginnen in der Duma darüber
ins Gespräch kommen, damit die Russen diese Konvention
und dieses Zusatzprotokoll endlich ratifizieren.
Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte, Jean-Paul Costa, stellte neulich in einem
Interview erfreulicherweise fest - ich zitiere -:
Glücklicherweise verzeichnen wir eine Abnahme
der Klagen, die schwere Menschenrechtsverletzungen betreffen wie zum Beispiel Verstöße gegen das
Verbot von Folter.
Das ist gut. Unmittelbar darauf fügt er aber hinzu:
Im selben Moment jedoch nehmen die Klagen für
das Recht auf Meinungsfreiheit, für das Recht auf
einen fairen Prozeß und für das Recht auf Eigentum
beständig zu.
Das ist sehr schlecht. Ich glaube, diese Einschätzung
macht klar, wie notwendig die Arbeit des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte weiterhin ist, dass der
Schutz der Menschenrechte längst nicht gewährleistet
ist und dass wir dort weiterhin ansetzen müssen. Dabei
muss ich den Kollegen von der FDP selbstverständlich
recht geben: Ansetzen müssen wir bei den nationalen
Rechtssystemen - was dort fehlt, kann der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte nicht wieder wettmachen.
Ich glaube, dass es zentral ist, dass wir auch an einzelne
Länder herantreten und mit ihnen ins Gespräch kommen.
Trotzdem glaube ich, dass die Übereinstimmung
hier - auch in der Frage, welche Instrumente wir ergreifen
müssen - sehr groß ist. Ich hoffe, dass diese große Einigkeit
auch in den Ausschussberatungen zur Geltung kommt.
Ich glaube, das Thema Menschenrechte ist nicht geeignet
für parteipolitische Auseinandersetzungen.
({3})
Deshalb hoffe ich, dass wir zu einem gemeinsamen Antrag
kommen, und ich hoffe auf gute Beratungen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4062 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/4417 und 16/4405 sollen an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bürokratieabbau in Europa - Kein Freibrief
zum Abbau von Arbeits- und Umweltschutz
- Drucksache 16/4204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Redner Kai Wegner, Axel Schäfer ({1}),
Christian Ahrendt sowie die Kolleginnen Sabine
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Zimmermann und Kerstin Andreae haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4204 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
18 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Undine
Kurth ({3}), Monika Lazar und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Asylsuchende aus Sri Lanka besser schützen
- Drucksache 16/4427 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Michael Leutert, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Sri Lanka
- Drucksache 16/4203 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in
Sri Lanka - das ist der Inselstaat südlich von Indien ({0})
hat sich im zweiten Halbjahr 2006 und in diesem Jahr
nochmals dramatisch verschlechtert. In den deutschen
Medien konnten wir erst vorgestern lesen, dass der deut-
sche Botschafter in Colombo nur knapp einem Anschlag
entgangen ist. Anderen Menschen ist es nicht so gut
ergangen; es gab einige Verletzte. Die wenigen in Sri
Lanka noch tätigen Hilfsorganisationen sehen diesen
Anschlag als symptomatisch für die allgemeine Sicher-
heitslage an, auch für die Art und Weise, wie die Situation
1) Anlage 4
dort eskaliert. Hintergrund sind die Kämpfe zwischen
der Regierung und den LTTE, den sogenannten Liberation
Tigers of Tamil Eelam, den Rebellengruppen im Norden,
die von der EU als Terroristen eingestuft werden. Dadurch
ist im Prinzip keine geregelte humanitäre Arbeit mehr
leistbar. Insbesondere die Arbeit, die in den letzten Jahren
für die Binnenflüchtlinge in Sri Lanka geleistet wurde,
wird immer mehr eingeschränkt. Allein im letzten Jahr
sind wieder Zehntausende Menschen zu Flüchtlingen im
eigenen Land geworden.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten
Nationen - UNHCR - schätzt die Zahl der derzeit in Sri
Lanka befindlichen Binnenvertriebenen auf 500 000.
Auf die deutsche Bevölkerungszahl hochgerechnet wären
das 2 Millionen Flüchtlinge. Das verdeutlicht die Brisanz
der Lage.
Seit dem 11. Dezember letzten Jahres liegt ein aktueller
Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Sri Lanka vor, in
dem sich meiner Meinung nach sehr klare und bemerkenswerte Sätze zur aktuellen Situation finden. Man fragt
sich allerdings, ob diese klaren Sätze auch im zuständigen
Bundesamt und bei den Gerichten, die sich mit diesen
Fällen befassen, gelesen wurden. Ich zitiere aus dem
Bericht vom Dezember 2006. Darin steht, dass sich Sri
Lanka seit Ende Juli 2006 „faktisch im Kriegszustand“
befindet. Ich zitiere wörtlich:
Die Auseinandersetzungen … haben im zweiten
Halbjahr 2006 zu einer neuen Welle der Gewalt,
einer weitgehenden Verrohung der Sitten und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen geführt, die die
Regierung zunehmend in die internationale Kritik
bringen.
Trotz dieser angespannten Sicherheitslage werden in
Deutschland weiterhin Asylsuchende aus Sri Lanka
zwangsweise in ihr Herkunftsland zurückgeführt. Das
finden wir unerträglich.
({1})
Die Entscheidungspraxis des bereits erwähnten Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg entspricht nicht den tatsächlichen Schutzbedürfnissen. Die
Anträge von Asylsuchenden werden mit dem Argument
abgelehnt, es bestehe eine inländische Fluchtalternative.
Auch im Flughafenverfahren werden die Asylanträge
von Flüchtlingen aus Sri Lanka weiterhin vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ihnen wird die Einreise nach
Deutschland verweigert, und sie werden auf direktem
Weg nach Colombo zurückgeschickt.
Deshalb fordert meine Fraktion erstens einen sofortigen
Abschiebestopp für Asylsuchende aus Sri Lanka. Das
Bundesinnenministerium muss hier schnell gegenüber
den Ländern aktiv werden und eine bundeseinheitliche
Regelung finden. Im letzten Jahr wurden 94 Menschen
nach Sri Lanka abgeschoben. Diese nicht sehr große
Zahl erklärt sich daraus, dass es sehr schwierig ist, den
Inselstaat Sri Lanka zu verlassen. Eine solche Anzahl von
Menschen müsste ein Land wie Deutschland im Übrigen
vertragen können.
Zweitens muss das Bundesamt in Asylverfahren von
Flüchtlingen die tatsächliche Schutzbedürftigkeit berücksichtigen. Das heißt konkret, dass Tamilen aus dem
Norden und Osten des Landes sowie aus Colombo als
Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
anerkannt werden müssen. In diesen Fällen besteht nun
wirklich keine inländische Fluchtalternative. Diese Meinung vertritt übrigens auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen.
({2})
Die Flüchtlinge, die nicht individuell verfolgt werden,
sollten zumindest einen Abschiebungsschutz erhalten.
Drittens meine ich, dass insbesondere die Regelung
im Rahmen des Flughafenverfahrens nach § 18 a Asylverfahrensgesetz genutzt werden sollte, um Flüchtlingen
die Einreise zu gestatten, statt diese Fälle als offensichtlich
unbegründet abzulehnen. Es ist offensichtlich unbegründet,
diese Menschen abzuschieben. Das ist die richtige
Schlussfolgerung.
({3})
Zurzeit befinden sich noch drei Tamilen in der
gefängnisähnlichen Einrichtung in Frankfurt. Ich meine,
sie sollten nicht nach Colombo zurückgeschickt werden,
sondern nach Deutschland einreisen können.
Es gibt im Übrigen - ich komme zum Schluss, Frau
Präsidentin - ein weiteres Indiz dafür, dass meine
Darstellung nicht völlig an der Lage vorbeigeht. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung vergibt keinerlei Gelder mehr, weil es
die Lage für Aufbauhelfer in Sri Lanka als viel zu gefährlich ansieht. Gleichzeitig lassen aber andere Ressorts
der Bundesregierung zu, dass Flüchtlinge in genau diese
gefährliche Situation abgeschoben werden. Wir fordern
daher, dass das geändert wird. Ich bitte Sie dabei um Ihre
Unterstützung.
({4})
Das Wort hat der Kollege Hans-Werner Kammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über
derartige Anträge, wie sie der Kollege Winkler eben für
Bündnis 90/Die Grünen begründet hat und wie sie insbesondere von der Linkspartei vorgelegt werden, haben
wir in diesem Haus schon häufiger beraten. Es geht dabei wieder um die Frage: Genereller Entscheidungsstopp
bzw. Abschiebestopp oder Einzelfallprüfung? Diesmal
geht es um Flüchtlinge aus Sri Lanka. Ich finde es interessant, mit welcher Energie sich die Linksfraktion wieder einmal zum Wächter der Menschenrechte in aller
Welt aufschwingt, um unter diesem Vorwand die konsequente und nachhaltige Flüchtlingspolitik Deutschlands
auszuhebeln, wie sie in diesem Hohen Haus betrieben
wird. Ich sage ausdrücklich an die Adresse der Altvorderen der Linksfraktion: In Ihrem untergegangenen Staat
gab es offiziell keine Flüchtlingsproblematik. Es wollte
niemand kommen und sie wollten niemanden herauslassen. Insofern sind das hier immer wieder Lehrstunden
für Sie.
({0})
- Hören Sie einfach zu!
Zur Lage vor Ort: Nach dem Ad-hoc-Lagebericht des
Auswärtigen Amtes ist im Norden von Sri Lanka aufgrund der mit massiver Waffengewalt ausgetragenen
Konflikte von einer extremen Gefahrensituation auszugehen. Wie angespannt die Situation im Norden ist, hat
sich am vergangenen Dienstag bei dem Anschlag der
größten tamilischen Separatistenorganisation LTTE auf
eine Delegation von Regierungsvertretern und Diplomaten gezeigt. Zum Glück ist unserem deutschen Botschafter Jürgen Weerth nichts geschehen. Der italienische
Botschafter jedoch musste sich einer Operation unterziehen. Von dieser Stelle aus wünschen wir ihm und allen
anderen Verletzten eine baldige Genesung.
({1})
In den östlichen Gebieten stellt sich die Lage differenzierter dar. Landesweit ist jedoch nicht von einer
extremen Gefahrensituation auszugehen. Das einseitige
Plädoyer im Antrag der Linkspartei zugunsten eines generellen Entscheidungsstopps betreffend Flüchtlinge
aus Sri Lanka ist zu undifferenziert. Ein Entscheidungsstopp kann im Hinblick auf die zweifellos schwierige
Lage in Sri Lanka nicht der richtige Weg sein. Mit Ihrem
Antrag springen Sie wieder einmal zu kurz. Entscheidungsstopps bekämpfen bestenfalls die Symptome des
Problems, nicht aber die Wurzeln.
({2})
Diese liegen bei den Konfliktparteien, der singhalesisch
geführten Regierung und der LTTE.
Dabei wendet sich der Terror der LTTE nicht nur
gegen die Volksgruppe der Singhalesen und gegen die
von ihnen gestellte Regierung in Colombo, sondern auch
gegen Tamilen, die nicht mit dieser Organisation sympathisieren. Die Gewaltbereitschaft der LTTE hat sich nach
dem Ausstieg aus dem Friedensprozess, der unter Federführung Norwegens mühsam in Gang gebracht wurde,
drastisch erhöht. Im vergangenen Jahr hat die EU deshalb diese Organisation als terroristische Vereinigung
eingestuft. Auch die vom Verfassungsschutz nachgewiesenen Aktivitäten der LTTE in Deutschland zeigen, dass
diese Gruppe wieder verstärkt auf Terror setzt. Nach wie
vor werden auch in Deutschland von tamilischen Landsleuten Spendengelder für angebliche Entwicklungshilfen
erpresst, um damit unter anderem Terroraktionen zu finanzieren. Das sollten Sie bedenken.
Dies wird im Übrigen auch von führenden Menschenrechtsorganisationen ausdrücklich bestätigt. Danach
werden durch die LTTE in westeuropäischen Ländern in
großem Stil Gelder von Landsleuten zur Finanzierung
des Terrors in Sri Lanka erpresst. Wenn wir auf eine
Überprüfung im Sinne des § 60 Abs. 8 des Aufenthaltsgesetzes verzichteten und nicht mehr erfassten, welche
Personen in Deutschland in Verbindung mit der LTTE
und deren Tarnorganisationen stehen, dann wäre das in
meinen Augen eine Bankrotterklärung gegenüber den
kriminellen Machenschaften ausländischer Terrorbanden
in unserem Land.
({3})
Schon allein deshalb muss es bei der Einzelfallprüfung im Asylverfahren bleiben. Wir dürfen die terroristischen Machenschaften der LTTE in Deutschland zudem
- das sage ich ausdrücklich - nicht noch durch Sozialleistungen aus dem Portemonnaie unserer Steuerzahler
mitfinanzieren. Dafür hat, so glaube ich, nur die Linksfraktion in diesem Haus Verständnis. Für alle übrigen
Flüchtlinge aus Sri Lanka sei im Übrigen auch im Hinblick auf den Antrag der Grünen, Herr Winkler, angemerkt, dass aufgrund der aktuellen Lage seitens des
BAMF Schutz durchaus gewährt wird und vermehrt
positive Entscheidungen zu erwarten sind. Die LTTE
muss sich vom Terror abwenden. Dann kann sie auch
wieder als Verhandlungspartner für den Friedensprozess
gelten.
({4})
Ferner muss sie ihren Alleinvertretungsanspruch für die
tamilische Bevölkerung aufgeben. Aber auch die von
singhalesischen Hardlinern geführte Regierung fällt
durch verstärkte Gewaltanwendung auf. Insbesondere
die tamilischen Einwohner in der Hauptstadt Colombo
leiden unter Repressionen durch die staatlichen Sicherheitsorgane. Dazu gehören Mittel wie willkürliche Schikanemaßnahmen und Deportationen. Die Allparteienallianz der Singhalesen muss die Spirale der Gewalt
durchbrechen, indem sie auf staatliche Willkür verzichtet.
Wir hier können die Probleme in Sri Lanka nicht lösen, indem wir unsere bewährte Asylpolitik über Bord
werfen; vielmehr muss es gelingen, den Friedensprozess wieder in Gang zu bekommen. Dazu muss die internationale Gemeinschaft auf die Konfliktpartner Druck
ausüben, damit der Waffenstillstand von 2002 wieder
eingehalten wird und die Beteiligten wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Dies gilt für die LTTE
ebenso wie für die singhalesische Regierung in
Colombo, welche den Tamilen ein Selbstbestimmungsrecht abspricht. Die bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen der LTTE und der Regierung gefährden zudem
die humanitäre Hilfe im Norden und im Nordosten von
Sri Lanka. Mit ihren zum Teil mörderischen Übergriffen
auf die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen treffen die
Konfliktparteien jedoch nicht nur die Entwicklungshelfer, sondern auch die eigene Bevölkerung. Diese Erkenntnis hat sich bei den Konfliktparteien offenbar noch
nicht durchgesetzt. Zudem hemmt der bewaffnete Konflikt die für das Land so wichtige touristische Entwicklung.
Eine einfache Änderung der Asylpolitik, wie vom
Bündnis 90/Die Grünen und der Linkspartei hier beantragt, ist ein sehr stumpfes Schwert im Kampf gegen die
humanitäre Katastrophe. Mit Ihren Anträgen springen
Sie schlichtweg zu kurz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein Gesamtkonzept muss her. Ich bin deshalb dem
Vorsitzenden der AG für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Kollegen Dr. Ruck, sehr
dankbar, dass unter Federführung des Kollegen Klimke
derzeit ein entsprechendes Positionspapier erarbeitet
wird.
({5})
Wir brauchen, wie in diesem Papier zu Recht gefordert,
eine Sri-Lanka-Politik aus einem Guss.
({6})
Nach der Tsunamikatastrophe hat allein die Bundesrepublik bisher fast 60 Millionen Euro in den Wiederaufbau in Sri Lanka gesteckt. Es kann daher nicht sein, dass
die Behörden den Hilfsorganisationen bürokratische
Steine in den Weg legen und ihnen den Zugang zu den
tamilischen Gebieten erschweren. Ich denke, es ist an
der Zeit, dass wir auf die singhalesische Regierung diesbezüglich mehr Druck ausüben. Wir müssen die Bewilligung weiterer Gelder an Bedingungen für die Konfliktpartner knüpfen. Es muss Deutschlands Bestreben sein,
auf einen Gewaltverzicht der Konfliktparteien hinzuwirken, damit für die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen
wieder ein sicheres Arbeiten möglich wird, damit eine
humanitäre Katastrophe abgewendet wird und damit die
Beteiligten langfristig wieder an den Verhandlungstisch
zurückkehren. Deshalb kann ich Sie nur auffordern: Unterstützen Sie unsere Sri-Lanka-Politik aus einem Guss.
Stückwerk bringt uns nicht weiter.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Menschenrechtslage in Sri Lanka hat sich wieder deutlich verschlechtert. Schon 1983 entbrannte ein Bürgerkrieg im Inselstaat. Die demokratisch gewählte Regierung stand in einem bewaffneten Kampf gegen die
tamilische Separatistenorganisation LTTE, die im Nor8326
Hartfrid Wolff ({0})
den und Osten des Landes einen unabhängigen Staat der
Tamilen anstrebte.
Im Februar 2002 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Regierung und LTTE unterzeichnet.
Die Friedensverhandlungen, von Norwegen vermittelt,
sind allerdings seit 2003 - leider - wieder ausgesetzt.
Nach der Wahl von Präsident Rajapakse im
November 2005 kam es erstmals im Februar 2006 wieder zu direkten Gesprächen zwischen der Regierung und
der LTTE. Danach nahmen die Verletzungen des Waffenstillstands mit wochenlangen Kämpfen an verschiedenen Orten im Osten und Norden des Landes, die nach
Regierungsangaben mehr als 3 000 Tote gefordert haben, wieder deutlich zu. Es handelt sich um einen wahrlich leider schon sehr lange bestehenden Konflikt.
Die Regierung und die wichtigste Oppositionspartei,
UNP, haben im Oktober 2006 eine Zusammenarbeit vereinbart, vor allem auch, um eine Lösung des jahrzehntelangen ethnischen Konflikts zu erreichen. Da die LTTE
als terroristische Organisation auch außerhalb des Tamilengebietes gegen ihre Gegner vorgeht, ist die Menschenrechtslage in Sri Lanka insgesamt schwierig.
Auch seitens der Regierung von Sri Lanka ist angesichts der Bürgerkriegssituation wohl nicht zu erwarten,
dass die Menschenrechtslage kurzfristig verbessert werden kann, wenn kein Waffenstillstand erreicht wird.
({1})
Der UNHCR hat seine Stellungnahme überarbeitet
und ist nunmehr auf der Grundlage intensiver Recherchen, auch seriöser Recherchen, zu der Einschätzung gelangt, dass sich die Sicherheitslage in Sri Lanka deutlich
verschlechtert hat. Pro Asyl teilt diese Auffassung.
Ein genereller Abschiebestopp, wie ihn Grüne und
Linkspartei fordern, birgt allerdings auch einige Risiken.
Vor allem kann eine so totale Unterschutzstellung von
Personen aus Sri Lanka dazu führen, dass terroristische
Aktivitäten dann allerdings auch in Deutschland unterstützt werden. Insofern ist auch immer Vorsicht geboten
und dieser Aspekt nicht ganz zu vernachlässigen, lieber
Herr Kollege Winkler.
({2})
Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für
andere Fälle muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps in jedem Einzelfall genau geprüft werden. Der
generelle Abschiebestopp ist ein politisches Instrument
im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches Handeln
erfordert. Dieses Instrument darf nicht - das sagen alle
Organisationen - inflationär verwendet werden.
Der Bürgerkrieg in Sri Lanka ist unzweifelhaft eine
langfristige Entwicklung. Allerdings hat sich die Lage
dort zuletzt so akut verschärft, dass die zuständigen
deutschen Stellen ihren Umgang mit der Situation überdenken müssen.
({3})
Es ist deshalb unterstützenswert, auf das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge dahin gehend einzuwirken,
dass es Widerrufe von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen aussetzt, es sei denn, dass die Betreffenden von
hier aus Unterstützungsmaßnahmen für terroristische
Ziele organisieren.
Es ist darüber hinaus notwendig, Flüchtlinge aus Sri
Lanka nicht im Flughafenverfahren abzuweisen und
ihre Asylantragstellung nicht als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnen.
({4})
Wir sind der Auffassung, dass die Menschenrechtslage in Sri Lanka weiterhin der kritischen Aufmerksamkeit bedarf. Die Lageberichte des Auswärtigen Amtes
sind entscheidend und müssen auch klar sein. Daraus
müssen sich entsprechende Konsequenzen ergeben. Die
FDP stellt sich deshalb trotz manch differenzierter Erwägungen auf die Seite von Grünen und Linkspartei: Sie
tritt für eine humanitär orientierte Hilfe für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sri Lanka ein.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich auch die mir zur Verfügung stehende Redezeit
von neun Minuten nicht annähernd ausschöpfen werde,
so sollte dies nicht dem Eindruck Vorschub leisten, dieses Thema interessiere uns nicht oder wir hätten hierzu
keine Position. Das Gegenteil ist richtig.
Von meinen Vorrednern ist zu Recht darauf hingewiesen worden - insofern kann ich kürzen -, dass die aktuelle Sicherheits- und Menschenrechtslage in Sri Lanka
sich kontinuierlich verschlechtert hat, und zwar nicht nur
bis zum Ende des Jahres 2006, sondern auch im Januar
und, wie die letzten Presseberichte zeigen - das ist richtig zitiert worden -, ebenfalls im Februar. Das haben darüber hinaus der UNHCR in seiner Stellungnahme vom
Januar und das Auswärtige Amt in Berichten per
31. Dezember 2006 und in einem sogenannten Ad-hocLagebericht per 31. Januar 2007 festgestellt; ihre Schilderungen sind eindringlich und besorgniserregend.
Wir wissen aus den Berichten, dass bei in der Tat über
500 000 Flüchtlingen in Sri Lanka selbst nur noch unter
sehr engen Voraussetzungen nur noch für sehr wenige
Menschen und auch regional nur sehr begrenzt überhaupt noch inländische Fluchtalternativen existieren.
({0})
Das muss das Bundesinnenministerium - dem Vernehmen nach geschieht das dankenswerterweise auch - im
Kontakt mit dem Auswärtigen Amt noch weiter ausloten.
Wir wissen auch, dass von den über 30 000 Menschen
aus Sri Lanka, die sich im Bundesgebiet aufhalten, insgesamt 2 271 ausreisepflichtig gewesen sind. Wir wissen
ferner, dass 113 Asylverfahren sowie 377 Verfahren auf
Widerruf der Asylanerkennung anhängig waren.
Nun ist bei dem, was wir hier stets und ständig tun,
die Zuständigkeitslage zu beachten. Es ist nun einmal in
erster Linie die Zuständigkeit der Länderinnenminister
und -senatoren gegeben, wenn es um generelle Abschiebeverbote gemäß § 60 a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes
geht. Wenn diese Abschiebestopps länger als sechs Monate dauern sollen, bedürfen sie nach § 23 in Verbindung
mit der schon genannten Vorschrift der Zustimmung des
Bundesministeriums des Innern. Das Bundesministerium
des Innern - darauf will ich ausdrücklich hinweisen - hat
natürlich eine beratende, koordinierende und auch anregende Funktion, auch und gerade im Blick auf eventuelle Beschlüsse der Innenministerkonferenz. Deswegen werden wir im Innenausschuss eingehend beraten
müssen, finde ich, was tatsächlich jetzt in den Abschiebebehörden, also in den Länderministerien und den ihnen nachgeordneten Ausländerbehörden, geschieht.
Eine Idee, die mir dabei spontan kommt, ist, vielleicht
den Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, den bayerischen Innenminister Beckstein, vielleicht aber auch
den Sprecher der A-Länder-Innenminister, Herrn Senator Körting aus Berlin, oder den Sprecher der B-Seite,
Herrn Innenminister Bouffier aus Hessen, zu bitten, einmal über die aktuelle Praxis zu berichten. Wenn sich
alle einig wären, könnte die Innenministerkonferenz sogar im Umlaufverfahren einen generellen Abschiebestopp beschließen.
Was nun die bundesunmittelbare Zuständigkeit angeht, ist die Lage wie folgt: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - ich habe mich heute dessen noch
einmal vergewissert - bearbeitet derzeit Verfahren auf
Widerruf der Asylanerkennung nicht. Es gibt dort praktisch einen Bearbeitungs- und Entscheidungsstopp. Bei
der Stellung von Asylanträgen und ihre Bearbeitung
- auch bei solchen im Bereich des Flughafenverfahrens;
hier vorzugsweise beim Frankfurter Flughafen - wird
eine besonders sorgfältige und vorsichtige Einzelfallprüfung vorgenommen, um zu klären, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling oder die Zuerkennung von Abschiebeschutz vorliegen. Dabei wird es
jetzt wohl vermehrt zu positiven Entscheidungen kommen. Ich begrüße das außerordentlich.
({1})
In der Außenstelle des Bundesamts in Frankfurt, also
im sogenannten Flughafenverfahren, werden seit Bekanntwerden des Ad-hoc-Berichts des Auswärtigen
Amts vom 31. Januar keine Anträge mehr als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Herr Kollege Winkler,
wenn sich noch drei Personen in der Frankfurter Unterkunft aufhalten, bin ich gern bereit, auch mit Ihnen gemeinsam zu klären, aus welchen Gründen das so ist und
ob das weiterhin so sein muss.
Ich will noch ein Wort der Beruhigung in Richtung
des Kollegen Kammer, aber ein bisschen auch in Richtung des Kollegen Wolff sagen. Es ist zu Recht gemahnt
worden: Bei alledem müssen wir darauf achten, dass wir
auch im Sinne der Anwendung des § 60 Abs. 8 des Aufenthaltsgesetzes - ich kann mir nicht vorstellen, dass
diesbezüglich überhaupt ein Gegensatz hier im Hause
besteht - nicht Leute zu uns lassen und als Flüchtlinge
anerkennen, die entweder eine schwerwiegende Gefahr
für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder
der Allgemeinheit darstellen oder schwerer politischer
oder auch nichtpolitischer Verbrechen, beispielsweise in
ihrem Heimatland, oder auch des internationalen Terrors
verdächtig sind. Die wollen wir hier nicht haben. Ich
wiederhole aber: Das dürfte allgemeine Meinung sein.
({2})
Selbst wenn wir zu einem generellen Abschiebestopp
kämen, schlösse das nicht aus, dass wir uns die besonders anschauen.
({3})
Ich darf zusammenfassend feststellen: Für den Umgang mit Flüchtlingen muss das gelten, meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir alle in der Fahrschule schon einmal in ganz anderem Zusammenhang
gelernt haben. Dort haben wir nämlich in Bezug auf das
Überholen gelernt: Im Zweifel nie. - Deswegen muss
auch bei Flüchtlingen gelten: Im Zweifel dürfen sie nie
in eine Situation abgeschoben werden, wo Leib und Leben gefährdet sind. - Auch darüber sind wir uns hier,
glaube ich, einig.
({4})
Soweit die bundespolitische Verantwortung angesprochen ist, wird dem Anliegen der Antragsteller, glaube ich,
weitgehend Rechnung getragen, jedenfalls jetzt - ich betone noch einmal: jetzt -: Individuelle Entscheidungen
bzw. Entscheidungsstopp und keine Ablehnung mehr als
„offensichtlich unbegründet“. Soweit es um die Verantwortung der Bundesländer geht, empfehle ich - wie geschehen - die differenzierte Behandlung im Innenausschuss mit den zuständigen Landesinnenministern und
-senatoren.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich hier nicht zum Schattenboxen von Herrn
Kammer auslassen. Ich würde ihm aber doch empfehlen,
sich zu diesem Thema sachlich kompetenter zu äußern.
Ich finde, das Thema ist viel zu ernst, um die Redezeit
mit Ausführungen darüber zu füllen, was die DDR mög8328
licherweise für eine Flüchtlingspolitik betrieben hat. Ich
glaube, wenn wir diese Debatte hier führten, würden Sie,
gerade, was Chile angeht, nicht besonders gut dastehen.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat einen dringenden Appell an die Bundesrepublik
gerichtet, Flüchtlinge aus Sri Lanka aufzunehmen. Etwa
eine halbe Million Menschen sind dort innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht. Die Zivilbevölkerung gerät
mehr und mehr zwischen die Fronten. In Colombo und
in den Vorstädten sind die Menschen von willkürlichen
Polizeimaßnahmen bedroht. Demonstrationen für Frieden und Aussöhnung werden von bewaffneten Banden
überfallen. Journalisten werden verschleppt und getötet.
Unliebsame Persönlichkeiten lässt die Regierung verschwinden.
Dennoch hielten es Vertreter des Innenministeriums
in der Sitzung des Menschenrechtsausschusses am
17. Januar nicht für notwendig, Flüchtlinge aus Sri
Lanka aufzunehmen. Das bringt die deutsche Flüchtlingspolitik auf den Punkt: Hier wird ganz offensichtlich
eine Abschottungspolitik praktiziert. Es kann nicht bestritten werden - das hat auch die Debatte gezeigt -, dass
Menschen in Sri Lanka Krieg und Verfolgung zu erleiden haben. Ihre Anerkennung als Flüchtlinge wird ihnen
dennoch verwehrt.
Das Bundesinnenministerium weist auf angeblich bestehende landesinterne Fluchtalternativen hin. Dagegen hat das Auswärtige Amt in der Sitzung des Menschenrechtsausschusses konstatiert, dass sich das Land
seit Juli 2006 im Kriegszustand befinde. Überall müssen
Tamilen und Muslime mit Übergriffen rechnen. Im genannten Appell des UN-Flüchtlingskommissars wird die
Lage in Sri Lanka ausführlich geschildert. Demnach gehen von allen am Bürgerkrieg beteiligten Parteien massive Menschenrechtsverletzungen aus. Eine landesinterne Fluchtalternative gebe es also nicht, sagt auch der
Flüchtlingskommissar.
Es hat sich erst vorgestern wieder gezeigt, dass die
Zentralregierung die Situation nicht unter Kontrolle hat
und keine Sicherheit gewährleisten kann - Herr
Kammer hat es schon erwähnt -: Der deutsche Botschafter ist bei einer Reise durch Sri Lanka einem Angriff bewaffneter Kräfte knapp entkommen; der italienische
Kollege wurde verletzt. Herr Kammer, gerade das sollte
für uns ein Grund sein, über Flüchtlingsschutz nachzudenken.
Flüchtlinge aus Sri Lanka, die am Flughafen in
Frankfurt ankommen, dürfen dennoch - Kollege
Winkler hat das schon deutlich gemacht - nicht in die
Bundesrepublik einreisen. Im Schnellverfahren wird behauptet, dass gestellte Asylanträge „offensichtlich unbegründet“ seien. Kollege Veit hat deutlich gemacht, dass
wir im Innenausschuss über diese Fragen diskutieren
werden. Selbst wenn sich die Praxis aktuell geändert hat,
steht fest, dass es seit August 2006 am Frankfurter Flughafen Rückschiebungen gegeben hat.
Die Bundesrepublik verstößt mit diesen Rückweisungen eindeutig gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Das ist meiner Meinung nach nur die eine Seite des
Skandals; die andere Seite ist, dass es nach meinen Informationen - Herr Veit, auch das gilt es zu überprüfen Verfahren auf Widerruf der Asylanerkennung gegen
Menschen aus Sri Lanka gibt. Ich nehme gerne zur
Kenntnis, dass Sie behaupten, dies geschehe nun nicht
mehr. Wenn das stimmt, ist das natürlich ein Fortschritt.
({0})
Auf jeden Fall halte ich es für wichtig, dass die zurzeit hier geduldeten Menschen - ich weiß nicht, ob es im
Moment 1 200 oder 2 000 sind, wie Herr Veit gesagt hat
- einen Abschiebeschutz erhalten. Deswegen treten wir
mit unserem Antrag - die Intention des Antrags der Grünen ist ja sehr ähnlich - für einen Abschiebestopp ein.
Ich hoffe, wir werden eine erfolgreiche Beratung haben.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4203 zu Tagesordnungspunkt 18 b an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4427 zu
Tagesordnungspunkt 18 a soll an dieselben Ausschüsse
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({0}), Michael Kauch, Jan
Mücke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten ausnehmen
- Drucksache 16/4060 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Die Kollegen Dr. Andreas Scheuer, Horst Friedrich,
Lutz Heilmann und Winfried Hermann sowie die Kolle-
gin Rita Schwarzelühr-Sutter haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4060 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Katrin
Kunert, Dorothée Menzner, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der LINKEN
Freistellung der Kommunen von der Mitfinan-
zierung bei Baumaßnahmen im Kreuzungsbe-
reich von Eisenbahnen und Straßen
- Drucksachen 16/1657, 16/3266 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Die Kollegen Hubert Deittert, Uwe Beckmeyer, Horst
Friedrich und Dr. Anton Hofreiter sowie die Kollegin
Heidrun Bluhm haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/3266 zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Freistellung der Kommunen von
der Mitfinanzierung bei Baumaßnahmen im Kreuzungsbereich von Eisenbahnen und Straßen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1657 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard
Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verlässliche und aussagekräftige Datenbasis
für die Ermittlung der Unternehmensteuern
erfassen
- Drucksache 16/4310 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Kollegen Peter Rzepka, Jörg-Otto Spiller und
Dr. Hermann Otto Solms sowie die beiden Kolleginnen
Dr. Barbara Höll und Christine Scheel haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4310 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
1) Anlage 6
2) Anlage 7
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Hans-Michael Goldmann, Detlef Parr,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sport- und Freizeitschifffahrt in Deutschland
erleichtern
- Drucksache 16/4061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Die Kolleginnen Renate Blank, Annette Faße und
Dorothée Menzner sowie die Kollegen Patrick Döring
und Peter Hettlich haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4061 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan
Aydin, Monika Knoche, Dr. Barbara Höll, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über
Heimarbeit
- Drucksachen 16/2677, 16/4316 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Walter Riester
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
Die Kollegen Dr. Wolf Bauer, Walter Riester, Dr. Karl
Addicks und Hüseyin-Kenan Aydin sowie die Kollegin
Ute Koczy haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 16/4316 zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ratifizierung des
IAO-Übereinkommens über Heimarbeit“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2677
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
3) Anlage 8
4) Anlage 9
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. März 2007, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.