Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({0}), 1413 ({1}), 1444
({2}), 1510 ({3}), 1563 ({4}), 1623 ({5})
und 1707 ({6}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/4298 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesaußenminister, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({8})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Wieder einmal beschäftigt das
Thema Afghanistan den Deutschen Bundestag. Schon
fünf Jahre lang engagieren wir uns für Frieden und Wiederaufbau in diesem Land. Die Erinnerung an die Anschläge von Washington und New York beginnt langsam
zu verblassen.
Alle Fraktionen haben damals hier, im Deutschen
Bundestag, versichert, dass der Kampf gegen den Terror uns erstens Kraft und zweitens einen langen Atem
abverlangen wird. So ist es gekommen. Unsere Geduld
und unsere Beharrlichkeit bei der Durchsetzung unseres
Konzeptes und der eingeschlagenen Politik werden jetzt
auf die Probe gestellt. Diese Probe müssen wir bestehen.
({0})
Wir haben in Afghanistan viel erreicht. Besonders im
Norden des Landes, wo die Bundeswehr arbeitet und
Verantwortung trägt, hat sich die Situation verbessert.
Wir haben Straßen und Schulen gebaut. Wir haben Brunnen gebohrt. Millionen von Flüchtlingen konnten zurückkehren. 7 Millionen Jungen und Mädchen können
wieder eine Schule besuchen.
({1})
Es muss aber auch gesagt werden: Vor allem im Süden des Landes hat sich die Situation im vergangenen
Jahr verschärft. Dort vollzieht sich der Wiederaufbau
für viele Afghanen nicht schnell genug. Dort kämpfen
die Taliban gegen den Fortschritt für die Menschen, weil
er aus dem Westen kommt und weil er den Erfolg ihrer
religiösen Ideologie untergräbt. Darum kämpfen die Talibankräfte dort nicht nur gegen die NATO, sondern zerstören auch gerade wieder aufgebaute Schulen und andere Projekte, die dem Wohle der Menschen dienen. Aus
diesem Grund darf der Einfluss der Taliban im Süden
und Südosten des Landes nicht weiter anwachsen.
({2})
Afghanistan wird nur dann eine gute Zukunft haben,
wenn auch der Süden und der Osten des Landes von der
wachsenden Stabilität, die wir im Norden sehen, profitieren. Diese Stabilität konnte erst durch das Tätigsein
nicht nur der Bundeswehr, sondern auch vieler ziviler
Hilfsorganisationen wachsen. Wir haben uns vielfach bei
den Soldaten der deutschen Bundeswehr bedankt. Das
wollen wir auch heute tun. Wir wollen uns heute aber
Redetext
auch bei den Helfern der vielen zivilen Hilfsorganisationen von dieser Stelle aus bedanken.
({3})
Wir können dennoch nicht darüber hinwegsehen, dass
die gegensätzliche Entwicklung in den einzelnen Teilen
Afghanistans, die ich gerade geschildert habe, auch das
Bündnis, die Solidarität innerhalb der NATO, auf eine
harte Probe stellt. Als vor Jahren verschiedene Verantwortlichkeitszonen in Afghanistan eingerichtet wurden,
war das in dieser Form vielleicht noch nicht absehbar.
Obwohl sich das Anschlagsniveau im Norden - ich
sprach gerade davon - im Laufe des letzten Jahres erhöht
hat, ist die Lage in den unter deutschem Command stehenden Nordprovinzen immer noch stabiler und ruhiger
als anderswo.
Andere Nationen - nicht nur die USA, sondern auch
die Niederlande, Dänemark und Kanada - befinden sich
im Süden des Landes in einem Einsatz, der viele ihrer
Soldaten das Leben gekostet hat. Manche werfen uns
und anderen vor, dass die Lastenverteilung im Bündnis
manchmal nicht fair ist. Um das ganz klar zu sagen: Ich
halte diesen Vorwurf, soweit er sich an uns gerichtet hat
- in der Debatte vor dem letzten NATO-Gipfel in Riga
haben das viele verfolgt -, für unberechtigt.
({4})
Denn es ist doch nach wie vor so, dass wir mit unseren
2 800 Soldaten zu den größten Truppenstellern innerhalb
der ISAF gehören. Wir Deutsche haben in den vergangenen Monaten viel dafür getan, unsere politischen Anstrengungen für die Zukunft Afghanistans weiter zu erhöhen. Dies geschieht bilateral und durch europäische
Initiativen.
Erst gestern hat die Bundesregierung angekündigt
- Dank an den BMZ-Haushalt -, unseren Anteil für den
zivilen Aufbau um weitere 20 Millionen Euro zu erhöhen.
({5})
Dieses Geld wird auch in Zukunft für Schulausbildung,
für Krankenversorgung und für Infrastruktur im weitesten Sinne zur Verfügung stehen. Nicht nur das: Sie wissen, dass wir uns auf europäischer Ebene mit anderen
dafür eingesetzt haben, dass unsere Anstrengungen und
die der Italiener beim Polizeiaufbau und beim Aufbau
des Justizapparates von anderen europäischen Nationen
unterstützt werden. Die entsprechenden Beschlüsse wurden im letzten Allgemeinen Rat vor zwei Wochen gefasst.
Im NATO-Rat - auch das muss erwähnt werden - haben wir mit anderen eine Debatte über eine bessere Verknüpfung von zivilen und militärischen Maßnahmen
angestrengt. Nicht nur das: Wir haben auch eine Debatte
über den Stellenwert ziviler Wiederaufbaumaßnahmen
angeregt.
Ich darf sagen: Ausnahmslos alle sehen die Notwendigkeit eines veränderten Auftritts der internationalen
Staatengemeinschaft. Kein NATO-Mitglied hat ein Interesse daran, in Afghanistan von der dortigen Bevölkerung sozusagen als Teil einer seelenlosen Besatzungsarmee wahrgenommen zu werden.
({6})
Alle kennen den Anlass ihrer Präsenz. Der Anlass ihrer
Präsenz ist: Afghanistan muss wieder auf die Beine
kommen, muss alleine lebensfähig werden.
Deshalb werden wir und viele andere ihre zivilen
Wiederaufbauanstrengungen ausweiten. Sie haben heute
Morgen gelesen, dass zum Beispiel Kanada die Eigenanstrengungen jetzt um weitere 100 Millionen Euro erhöht.
Das ist erfreulich. Aber so erfreulich das ist, es macht
unsere militärische Präsenz in Zukunft noch nicht überflüssig. Die NATO hat beim Einsatz für den Frieden in
der Vergangenheit zusätzliche Aufgaben übernommen
und den Bedarf für weitere Hilfe angemeldet. Ich halte
es für unabdingbar, an solche Hilfen zu denken, damit
der Einsatz der ISAF insgesamt gelingt.
Ob das nun so ist oder nicht, ob der eine oder andere
das wahrhaben will oder nicht: Die Aufklärung aus der
Luft kann nun einmal - der Verteidigungsminister wird
sicher darauf hinweisen - kein System so gewährleisten
wie die RECCE-Tornados unserer Bundeswehr. Ihre Bilder verbessern das Lagebild für die ISAF-Mission, dienen damit auch dem Schutz der ISAF-Soldaten, und
zwar in ganz Afghanistan, auch jener, die sich in besonders schwierigen Einsatzgebieten im Süden befinden.
Letztlich kommt ein verbessertes Lagebild - um das geht
es hier - auch den zivilen Helfern und der Bevölkerung
in Afghanistan selbst zugute.
({7})
Die Entsendung der Tornados ist ein Zeichen unserer Unterstützung der ISAF und der NATO in Afghanistan in zweifellos schwieriger Zeit. Ich sage: Aus meiner
Sicht sind wir diese Solidarität dem Bündnis schuldig.
Deshalb sind wir bei der schwersten Aufgabe in der Geschichte dieses politisch-militärischen Bündnisses jetzt
gefragt. Kanadier, Niederländer und US-Amerikaner bitten um die Tornados ausschließlich im Auftrag der
ISAF-Mission. Ich kann Ihnen versichern: Aufklärungsergebnisse werden eingeschränkt und kontrolliert an die
OEF-Mission übermittelt, die sich, wie Sie wissen, dem
Kampf gegen den Terror widmet. So steht es im ISAFOperationsplan.
Wir haben einen sogenannten Close Air Support in
diesem Mandat explizit ausgeschlossen. Aber es wäre
nicht ehrlich, wenn ich nicht hinzufügen würde: Die
OEF ist natürlich kein Teufelswerk, weil sie militärisch
für die langfristige Befriedung Afghanistans kämpft. Wir
haben seit Anbeginn beides, ISAF und OEF, für notwendig gehalten. Vergessen wir bitte nicht: Auch die ISAFMission ist auf Hilfe durch OEF-Soldaten angewiesen.
Wie ich weiß, haben manche im Bundestag die Sorge,
dass die Bundeswehr Zug um Zug in eine mehr oder weniger unkontrollierte militärische Auseinandersetzung
hineinschlittert. Ich teile diese Sorge nicht. Ich möchte
darauf hinweisen, dass wir bestimmte Formen des Einsatzes der Tornados, nämlich den unmittelbaren Kampfbezug, ausdrücklich ausgeschlossen haben. Wir stellen
die Tornados nur für Aufklärungszwecke zur Verfügung.
Ich verstehe das Unwohlsein einiger Abgeordneter
hier im Haus; das habe ich signalisiert. Viele fragen
- diese Fragen haben mich erreicht -, ob der militärische
Kampf im Süden Afghanistans nicht Ausdruck einer gewissen politischen Hilflosigkeit ist. Manche zweifeln, ob
ein langfristiger Frieden in Afghanistan mit dem derzeitigen Konzept möglich ist, und fragen nach einer
Exitstrategie.
Meine Damen und Herren, ich will all diesen unangenehmen Fragen nicht ausweichen, sondern eindeutig entgegnen: Nein, nach meiner festen Überzeugung ist der
Afghanistaneinsatz nicht gescheitert. Er wäre nur dann
gescheitert, wenn wir die erforderlichen Hilfen und Mittel für unsere politische Strategie zum Wiederaufbau,
die natürlich weiterhin von militärischen Einsätzen begleitet sein muss, jetzt nicht zur Verfügung stellen.
({8})
Niemand will, dass die Bundeswehr bis zum SanktNimmerleins-Tag in Afghanistan bleibt. Unser Konzept
zielt darauf, dass die Region um Afghanistan ihre Konflikte langfristig selbst löst. Darum arbeiten wir gemeinsam mit anderen Partnern zum Beispiel daran, dass die
Spannungen zwischen Afghanistan und Pakistan
überwunden werden und der Boden für eine rationale
Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ländern bereitet wird. Wir haben die Außenminister Afghanistans und
Pakistans gerade erst zum nächsten G-8-Außenministertreffen eingeladen, um die Möglichkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit zu schaffen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Wir müssen verhindern,
dass Afghanistan wieder zu einer Ausbildungsstätte für
den internationalen Terrorismus wird. Wir müssen den
Menschen in Afghanistan demonstrieren, dass die Teilhabe an Wohlstand, an Bildung und Forschung bessere
Chancen für ihre Kinder und Enkel birgt als ein Leben
unter den Zwängen radikaler Islamisten. Ich habe das
schon bei anderer Gelegenheit gesagt - der eine oder andere wird sich erinnern -, aber ich will es mit Nachdruck
wiederholen: Afghanistan ist nur verloren, wenn wir es
verloren geben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal finde ich es gut, dass wir uns heute mit
diesem Mandat befassen und in der nächsten Woche darüber entscheiden. Lange Zeit hat es nämlich so ausgesehen, als sollte der Deutsche Bundestag mit der Ausweitung dieses Mandates nicht befasst werden. Ich denke,
diese Ausweitung des Mandates bringt eine solch neue
Qualität der Mitwirkung der Bundeswehr mit sich, dass
es unverzichtbar ist, dass der Deutsche Bundestag darüber entscheidet; denn wir halten ohne Wenn und Aber an
der Parlamentsarmee fest.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg.
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]
Wir haben, als wir im Herbst über die Verlängerung von
OEF und ISAF debattiert haben, gedacht, dass wir, um
uns über die Entwicklung unserer mittel- und langfristigen Strategie für Afghanistan Gedanken zu machen,
bis zum Ende dieses Jahres Zeit hätten. Denn wir wissen
doch - in München ist es deutlich geworden -, dass zwei
entscheidende, große Fragen offen sind: Wie sieht es
mittel- und langfristig mit der Drogenproblematik aus?
Wie sieht es mit der offenen Flanke Pakistan aus? Auf
beide Fragen gibt es keine befriedigenden Antworten.
Deswegen sind die Fragen der mittel- und langfristigen
Entwicklung, die der Bundesminister eben angesprochen
hat, auch für uns von herausragender Bedeutung.
Aber es sind keine technischen Fragen oder irgendwelche Nickeligkeiten, die dazu führen, dass es uns in
der gegenwärtigen Diskussion so unwohl ist; ich spüre
das bei Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen.
Denn beide möglichen Entscheidungen, Ja oder Nein
- eine Enthaltung kann es hier wohl nicht geben -, sind
mit erheblichen Nachteilen und Bedenken verbunden.
Was würde ein Nein des Deutschen Bundestages bedeuten? Es würde zumindest zwei große Probleme aufwerfen: Wenn Deutschland eine Ressource, von der wir
mehr oder die wir besser als jeder andere in der NATO
zur Verfügung haben, verweigert, dann wird das im
Zweifel an die Grundfesten des Bündnisses und unsere
Fähigkeit, dort mitzuwirken, gehen; darüber müssen wir
uns im Klaren sein.
Zum Zweiten müssen wir uns darüber im Klaren sein,
was es bedeutet, wenn wir leichtfertig mit der Dimension Aufklärung umgehen, welche Risiken, welche Verantwortung wir auf uns nehmen, wenn wir es unmöglich
machen, Ergebnisse von Aufklärungsaktivitäten zur Verfügung zu stellen, die nicht nur dazu dienen können,
Ziele zu identifizieren, sondern die zunächst einmal dazu
dienen, überhaupt Lagebilder zu erstellen, die die Operation unserer eigenen Kräfte und die unserer Partner in
Afghanistan und damit auch das Leben der Menschen in
Afghanistan, auch im Hinblick auf die Vermeidung von
Kollateralschäden, sicherer machen können. Das ist die
eine Seite.
Auf der anderen Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen, spüre ich überall, dass kaum einer hier Lust hat,
sich geradezu auf eine schiefe Ebene zu begeben, mög8130
licherweise in etwas hineinzurutschen, was wir hinterher
nicht mehr kontrollieren können, hineinzurutschen in
eine Operationsführung, die wir, einschließlich der Bundesregierung, neulich bei der Verlängerung von OEF
und auch im Vorfeld des NATO-Gipfels von Riga noch
deutlich kritisiert haben. Deswegen ist es wichtig, dass
hier Brandmauern eingezogen werden. Wichtig ist hier
aber auch, dass sich die Rhetorik ändert. Ich sage einmal für meine Fraktion: Jeder rhetorische Versuch des
NATO-Generalsekretärs, der mehr auf die amerikanische
Kultur ausgerichtet ist als auf die europäische, bringt
mehr Neinstimmen für die Operation in meiner Fraktion.
Wir erwarten dringend, dass innerhalb der NATO rhetorisch abgerüstet wird, insbesondere bei dem zivilen politischen Führer dieses Bündnisses.
({0})
Wir dürfen auch nicht übersehen, was es bedeuten
würde, wenn wir nicht hinreichend Einfluss nehmen auf
die Kommandokette. Da sind gestern bei uns in der
Fraktion wichtige Antworten vom Verteidigungsminister
gegeben worden.
Die Bundesregierung hat das Abstimmungsverhalten
vieler hier im Hause, auch aus unserer Fraktion, noch
immer in der Hand, glaube ich. Wir wollen eben sehen,
dass tatsächlich ein Strategiewechsel des Bündnisses
auch insofern sichtbar wird, als die Priorität des Politischen vor dem Militärischen wieder deutlich erkennbar
wird; dass die Aufbauarbeit nicht nur als Nebenkriegsschauplatz begriffen wird, sondern als unsere Hauptaufgabe. Gleichwohl vergessen wir nicht, weswegen wir
überhaupt in Afghanistan sind, nämlich um nach den Ereignissen des 11. Septembers 2001 al-Qaida und die Taliban zu bekämpfen und den Terrorismus, der von diesen
Organisationen ausgeht, aus unserem eigenen Lande herauszuhalten; das darf man bei all dem nicht vergessen.
({1})
Die Bundesregierung wird uns auch deutlich machen
müssen, dass sie sich der Verantwortung für ISAF insgesamt bewusst ist. Es wird ja häufig so getan, als würden
wir schöne, saubere Aufgaben im Norden wahrnehmen,
während andere im Süden die Drecksarbeit machen. So
ist es nicht. Wir müssen uns klarmachen: Die NATO basiert im Grunde auf dem Konsensprinzip; das gilt dann
auch für eine NATO-Operation wie ISAF. Wir dürfen
nach meiner Auffassung auch nicht ungerecht sein gegenüber unseren Partnern, wenn wir unseren Ansatz im
Norden - die Vernetzung von Zivilem und Militärischem für überlegen halten. Allerdings müssen wir dem auch
Taten folgen lassen. Ich finde, die Ansätze im Bereich
Polizeizusammenarbeit, Justiz, Entwicklungspolitik sind
eher mäßig. Die Art der Zusammenarbeit mit der militärischen Seite ist es ebenfalls.
Von daher müssen wir sehr aufpassen, dass wir die
anderen nicht in ein falsches Licht rücken. Das gilt auch
für die Weitergabe von Ergebnissen. Dabei - das mag
Sie vielleicht überraschen - bin ich sehr viel großzügiger
als der Herr Bundesminister. Denn ich bin der Auffassung, dass es auch unter Bündnisgesichtspunkten fatal
wäre, wenn wir über Aufklärungsergebnisse verfügen
würden, die für OEF-Operationen wichtig sein könnten,
und sie verweigern würden mit der Folge, dass Soldaten
unserer Bündnispartner zu Schaden kommen. Auch das
könnten wir nicht vertreten.
({2})
Wir Liberalen werden den Antrag unvoreingenommen prüfen und am nächsten Dienstag darüber entscheiden. Wir sind uns der Verantwortung, die wir tragen, in
beiden Richtungen völlig bewusst.
({3})
Das Wort hat der Bundesverteidigungsminister
Dr. Franz Josef Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung hat entschieden, der Bitte
der NATO zu entsprechen und die Lücke hinsichtlich der
Fähigkeiten zur Luftaufklärung in Afghanistan zu
schließen, und sie bittet das Parlament, diese Entscheidung mit großer Zustimmung mitzutragen.
Was ist der Sinn und Zweck, diese Aufklärungslücke
zu schließen? Tatsache ist, dass sich die Sicherheitslage
in Afghanistan im letzten Jahr verschlechtert hat. Es ist
eine erhebliche Zunahme der Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe auf unsere Soldaten - sei es mit
Panzerfäusten oder anderen Geschossen - zu verzeichnen. Ich habe deshalb schon im letzten Jahr entschieden,
dass der Schutz unserer Soldaten erhöht wird, und zwar
durch geschützte Fahrzeuge, aber auch durch unsere
Aufklärungsdrohne LUNA, die der Aufklärung in einem
Radius von 40 Kilometern dient.
Jetzt geht es darum, die Aufklärungslücke für Gesamtafghanistan zu schließen, auch im Interesse des
Schutzes unserer Soldaten, der Soldaten von ISAF, der
Wiederaufbauteams, aber auch der zivilen Bevölkerung.
Dies entspricht der Bitte der NATO, und es ist der
Grund, warum wir um Zustimmung für dieses Mandat
nachsuchen.
({0})
Wir haben mit der NATO abgestimmt, wie wir die
Verantwortung wahrnehmen. Daran hat sich auch trotz
der einen oder anderen Irritation, die sich in der letzten
Woche vielleicht ergeben hat, nichts geändert. Tatsache
ist: Wir haben zunächst im Norden die Verantwortung
übernommen. Dann haben die Italiener im Westen die
Verantwortung übernommen, die Briten, Kanadier und
Niederländer im Süden, die Amerikaner im Osten und
die Franzosen in Kabul.
Die Ausweitung auf den Süden ist im Juli letzten Jahres und auf den Osten im Oktober des letzten Jahres abgeschlossen worden. Das hatte zur Folge, dass jetzt auch
die Amerikaner und die Briten dem ISAF-Mandat und
damit auch der NATO-Kommandoführung unterworfen
sind und dass wir eine Gesamtverantwortung für Sicherheit und Wiederaufbau in Afghanistan haben.
Das hat auch etwas damit zu tun, wie sich nunmehr
die Verantwortung unserer Soldaten in den Kommandostrukturen darstellt. Manchmal wird argumentiert, die Kommandostruktur sei einseitig durch die Vereinigten Staaten von Amerika geprägt. Dies ist nicht
zutreffend. Tatsache ist: Wir haben heute eine Kommandostruktur mit dem NATO-Oberbefehlshaber, General
Craddock - einem Amerikaner -, aber in der NATOKommandostruktur in Brunssum ist unser General
Ramms für Afghanistan verantwortlich. In der unmittelbaren Kommandostruktur in Afghanistan ist General
McNeil, ein Amerikaner, zuständig, aber Stabschef im
Hauptquartier der ISAF ist unser General Kasdorf.
Ich will damit deutlich machen, was für die Umsetzung, die militärische Verantwortung und die Gesamtstrategie, die wir für notwendig erachten - ich komme
gleich darauf zurück -, nämlich militärische Sicherheit
zu gewährleisten, aber auch den Wiederaufbau voranzutreiben, gilt: ohne Sicherheit keine Entwicklung, aber
ohne Entwicklung auch keine Sicherheit. Das ist die Philosophie, die sicherstellt, dass wir in Afghanistan erfolgreich sein werden.
({1})
Unsere Tornados haben hervorragende Fähigkeiten;
der Außenminister hat darauf hingewiesen. Sie können
bei der Tagaufklärung in einer Höhe von bis zu
8,5 Kilometern auch bei schlechtem Wetter und einer
Geschwindigkeit von über 1 000 km/h exakte Bilder liefern und Nachtaufklärung durch Infrarot betreiben. Sie
gewährleisten damit, dass Schutzfunktionen verhältnismäßiger und angemessener wahrgenommen und dass damit Risiken im Vorfeld beseitigt werden können. Das
macht den Schutz deutlich, den die Tornados gewährleisten.
Die Soldaten der Bundeswehr operieren mit einem
Mandat der Vereinten Nationen, und zwar sowohl im
Rahmen von ISAF als auch im Rahmen von OEF. Wir
operieren auf der Grundlage des Völkerrechtes. Andere
Darstellungen entsprechen nicht der Wahrheit; diese will
ich hier deutlich zurückweisen.
({2})
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat entschieden, dass selbstverständlich beide Mandate unterstützt
werden; denn die Operation „Enduring Freedom“, die
der Terrorismusbekämpfung dient, zielt genauso auf die
Gewährleistung der Sicherheit, die Stabilisierung und
den Wiederaufbau ab wie das ISAF-Mandat. Deshalb
haben wir klar und deutlich gemacht, dass die Anforderung der Tornados durch ISAF erfolgt, dass aber dann,
wenn es notwendig ist - so ist die Formulierung im Operationsplan -, die entsprechenden Daten an die OEF weitergegeben werden. Nur so kann Sicherheit im gesamten
Umfeld hergestellt werden und die ISAF zusätzliche Sicherheit gewährleisten.
Es ist ein entscheidender Punkt, dass nicht nur die Regierungschefs in Riga, sondern auch die Außen- und die
Verteidigungsminister die Bedeutung dieser Gesamtstrategie für die praktische Umsetzung deutlich unterstrichen haben und dass sich alle sehr nachdrücklich dazu
bekannt haben. Wenn sich nun in Afghanistan die zivile
und die militärische Seite mit der dortigen Regierung
beispielsweise in einem wöchentlichen Rhythmus treffen, um Maßnahmen abzustimmen, dann halte ich das
für den richtigen Weg; denn entscheidend ist, dass wir
nicht nur Sicherheit herstellen, sondern auch den Wiederaufbau vorantreiben, um so die Herzen der Menschen zu gewinnen. Nur so werden wir bei unserem Versuch erfolgreich sein, Afghanistan zu stabilisieren und in
eine positive Zukunft zu führen.
({3})
Die Bundeswehr hat bereits 630 Projekte in Angriff
genommen, von Schulen, Kindergärten über den Straßenbau und die Wasserversorgung bis hin zu Krankenhäusern. Wir planen seitens der Bundesregierung, bis
zum Jahr 2010 insgesamt 900 Millionen Euro hier zu investieren. Die Entwicklungsministerin hat nun einen Betrag von 20 Millionen Euro hinzugefügt. Es ist notwendig und wichtig, dass wir in einem sicheren Umfeld die
Wiederaufbaumaßnahmen vorantreiben, um dafür zu
sorgen, dass Afghanistan in der Lage ist, seine Sicherheit
selber zu gewährleisten. Selbstverständlich helfen wir
mit, Streitkräfte und Polizeistrukturen in Afghanistan
aufzubauen. Durch gemeinsame Operationen von ISAF
sowie afghanischen Streitkräften und afghanischer Polizei wird der Aufbau einer Sicherheitsphilosophie gewährleistet, die letztlich zu einer selbsttragenden Sicherheit führt; das ist unser Ziel. Wir wollen, dass dieses
Land, das nun eine demokratisch gewählte Regierung
und ein demokratisch gewähltes Parlament hat und das
sich in einer Entwicklungsphase befindet, die dadurch
gekennzeichnet ist, dass immerhin wieder 7 Millionen
Kinder zur Schule gehen und dass 80 Prozent der Bevölkerung basismedizinisch versorgt werden - Erfolge sind
also durchaus festzustellen -, in Zukunft in der Lage ist,
für seine Sicherheit selber zu sorgen und einen eigenen
Weg in eine gute Zukunft zu gehen.
({4})
Deshalb bitte ich Sie, diese Entscheidung der Bundesregierung zu unterstützen. Ich halte das auch im Hinblick
auf unsere Soldatinnen und Soldaten für notwendig.
Ich will noch einmal unterstreichen: Der Tornado hat
zwei Fähigkeiten. Er hat die Aufklärungsfähigkeit, und
er hat die Kampffähigkeit. Es wird jetzt eindeutig die
Aufklärungsfähigkeit nachgefragt. Selbstverständlich ist
der Selbstschutz gegeben. Aber ich will auch deutlich
sagen: Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten in
Afghanistan ist mit Risiken verbunden. Er ist mit Risiken auch für Leib und Leben unserer Soldaten verbunden. Sie machen dies im Interesse unserer Sicherheit und
einer Entwicklung, die dazu beiträgt, dass Afghanistan
nicht wieder zu einem Ausbildungszentrum für Terroristen wird. Um all das und um eine positive Entwicklung
zu gewährleisten - dazu dient jetzt unsere Entscheidung,
mit der Aufklärungsfähigkeit eine Lücke zu schließen.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Besten Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesem Haus fallen wichtige Entscheidungen, noch wichtigere und ganz besonders wichtige. Diese hier ist ganz
besonders wichtig. Es geht um die Frage: Verstrickt sich
die Bundesrepublik mit der Entsendung der Tornados
mehr und mehr in ein Kriegsgeschehen, aus dem es kein
Entrinnen mehr gibt, oder werden mit dem Nein zur Entsendung der Tornados die Weichen für einen Truppenabzug und für den zivilen Aufbau des Landes gestellt? Das
ist die Grundfrage.
({0})
Machen wir uns nichts vor: Mit den sechs bis acht
Tornados werden wir ein nicht mehr wegzudenkender
Bestandteil eines robusten Kampfeinsatzes, der mit einer
Frühjahrsoffensive der NATO - so heißt es - beginnt,
dessen Ende aber ungewiss ist. Machen wir uns nichts
vor: Die Bilder aus den Tornados sind nicht für das Familienalbum und nicht für die Wetterkarte. Hier werden
als militärisch wichtig erachtete Ziele aufgeklärt, die
dann mit militärischen Mitteln - sprich: Bomben und
Raketen - bekämpft werden sollen. Dass die gesamte
NATO-Armada inzwischen nicht unbeträchtlich aufgestockt wird, zeigt, wie ernst man das meint. Außerdem
sollen die Tornados die britischen Harriers ersetzen, die
damit für unmittelbare Kampfeinsätze frei werden. Gewalteskalation ist vorprogrammiert. Umso wichtiger ist
hier jetzt unser Nein.
({1})
ISAF war ursprünglich eine reine Schutztruppe der
NATO zur Sicherung des zivilen Aufbaus.
({2})
Zeitgleich wurde ein harter Kampf, ein harter Krieg gegen den Terror im Süden des Landes geführt. Jetzt haben
wir eine Ausweitung von ISAF. Man hätte annehmen
können, dass die allzu robusten Kampfverbände durch
eine Schutztruppe ersetzt würden. Aber wir erleben eine
eigenartige Umkehrung: ISAF führt heute Luftkrieg,
ISAF ist inzwischen an robusten Bodenoperationen beteiligt. ISAF und „Enduring Freedom“ sind zwar formal
noch getrennte, aber nicht mehr zu trennende Militäreinsätze, und die Tornadoerkenntnisse werden für diese
Kriegshandlungen genutzt werden.
({3})
Wir sollten in diesem Zusammenhang die Hinweise aus
dem Kreis von CDU/CSU-Kollegen, der Kollegen
Wimmer und Gauweiler, sehr ernst nehmen, die sagen:
Der Einsatz der deutschen Tornados kommt einer Teilnahme an Militäraktionen gleich, die vom Völkerrecht
und vom gültigen NATO-Vertrag nicht gedeckt sind. Genauso ist es.
({4})
Aus dem Irak ist doch zu lernen. Mit überlegenen
Streitkräften einen Krieg zu gewinnen, ist gar nicht so
schwierig. Mission accomplished, Mission erfüllt. Aber
eine dauerhafte Befriedung und eine nachhaltige demokratische Entwicklung sind nicht zu erreichen, dies nicht
zuletzt deshalb, weil viele Unschuldige sterben und
Menschen unter diesen Zerstörungen leiden müssen.
Die Militärs können Ihnen nicht garantieren, dass sie
Schmuggelkarawanen und lose Talibantrupps genau auseinanderhalten können. Sie können nicht garantieren,
dass man untergetauchte Widerstandskämpfer und Zivilisten fein säuberlich auseinanderhalten kann. Deshalb
ist klar: Es werden Unschuldige getötet werden, und das
werden bewaffnete Dschihadisten als Rechtfertigung dafür nehmen, dass sie den Terror hierher tragen. Wenn wir
dabei sind, wenn an der Gewaltspirale gedreht wird,
dann ist es nicht aus der Luft gegriffen, zu sagen:
Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch gefährdet.
({5})
Terroristen muss man entgegentreten - wohl wahr! -;
aber man darf ihnen keinerlei Nährboden bieten. Darüber, wie man diesen Nährboden trockenlegt, muss gesprochen werden. Gesprochen werden muss über den
Frust und den Zorn der Menschen, vor allem im Süden
und Osten des Landes. Dass es nicht vorangeht, dass sich
die Lage verschlechtert hat, zeigen neuere Studien, die
Sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen, zum Beispiel die
vom Senlis Council. Wir haben heute Morgen festgestellt, dass die Regierung diese Studie gar nicht kennt.
So ist die Lage.
Die Befürworter der Tornadoentsendung setzen ihre
Hoffnung jetzt auf eine Art Doppelstrategie: einerseits
mehr Krieg, andererseits mehr Entwicklungsinvestitionen. Aber das ist nicht einmal ein Nullsummenspiel. Wie
viele Mittel vor Ort tatsächlich ankommen, steht auf einem anderen Blatt.
Afghanistan gilt als das erste Beispiel eines von außen erzwungenen Regimewechsels. Heute gilt es auch
als Referenzprojekt für die NATO, um zu zeigen, wie
man gescheiterte Staaten aufzubauen gedenkt. Ich
glaube, dieser Weg führt in die Sackgasse. Wir sollten
daher umkehren, ehe es zu spät ist.
Das sieht übrigens die überwiegende Mehrzahl der
Deutschen genauso. Diese Menschen sind gegen die
Paul Schäfer ({6})
Tornadoentsendung. Wenn Politiker der Großen Koalition jetzt laut darüber nachdenken, ob wir zukünftig
mehr Vorratsbeschlüsse des Parlaments brauchen, so
zeugt das, wie ich finde, nicht von urdemokratischer Gesinnung. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Hören Sie
auf die Leute! Ändern Sie Ihre Politik! Fangen Sie damit
an, die deutschen Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen!
Danke.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man von der Linken und der PDS einmal konkret hören würde, wie nach ihrer Vorstellung der
internationale Terrorismus effektiv bekämpft, die zivile
Gesellschaft in Afghanistan unter den jetzt im Lande
herrschenden Bedingungen gestärkt und der Staat aufgebaut werden können,
({0})
dann würden sie an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aber
dazu sagen die Linken in diesen Debatten nie etwas.
({1})
Ich will für meine Fraktion sagen, dass wir zum deutschen und internationalen zivilen und auch militärischen
Engagement in Afghanistan im Grundsatz stehen. Wir
stehen zu ISAF als der klassischen Verbindung von militärischer Sicherheit auf der einen Seite und zivilem Aufbau und Nation-Building auf der anderen Seite.
Wir haben über den Antrag der Bundesregierung zu
entscheiden, ob man das ISAF-Mandat um den Einsatz
von sechs bis acht Tornados ergänzen soll. Das ist eine
schwierige Situation, die ich erläutern will. Die Situation
ist schwierig, weil nicht ganz klar ist - Herr Hoyer, erst
nach Prüfung dieser Frage wird meine Fraktion nächsten
Dienstag endgültig entscheiden -, ob der vieldiskutierte
Strategiewechsel im Zusammenhang mit dem, was in
Afghanistan bezüglich ISAF geschieht, tatsächlich stattfindet oder ob er nur auf der Ebene verbaler Bekundungen, sozusagen PR-mäßig bzw. proklamatorisch, abläuft.
Es geht darum, ob er vor Ort, also da, wo die Menschen
sind, wirklich umgesetzt wird. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt eine schwer entscheidbare Frage.
Mitglieder unserer Fraktion haben in unserer heutigen
Fraktionssitzung gesagt: Ich bin für ISAF und den damit
verbundenen Ansatz. - Diese Kollegen sind aber skeptisch, ob dieser Ansatz unter den jetzigen Bedingungen
durch den Einsatz von Tornados gestärkt werden kann.
Andere Mitglieder unserer Fraktion sagen: Jawohl, wir
unterstützen dies, weil wir die Hoffnung haben, dass ein
Strategiewechsel stattfindet und dass der Einsatz von
Tornados diesem Strategiewechsel sogar zugute kommt.
So ist die Lage bei uns.
Ich fordere die Bundesregierung auf, bei dem, was sie
heute hier tut, und bei dem, was sie im Ausschuss tut,
deutlich zu machen - dazu habe ich zu wenig gehört -,
in welcher Weise sie durch nationales Engagement, aber
auch durch internationales Engagement, also durch Engagement auf der Ebene der NATO oder in bilateralen
Gesprächen, etwa mit den Amerikanern, diesen Strategiewechsel wirklich effektiv voranbringt.
({2})
Da müssen wir abschichten, Herr Verteidigungsminister. Meiner Fraktion fällt eine Entscheidung manchmal
schwer, weil wir viele unsinnige Begründungen für den
Tornadoeinsatz hören, die es tatsächlich nicht sein können, manchmal - das ist unser Eindruck - nach dem
Muster: Lasst uns schnell Ja sagen, damit wir als Deutsche nicht mit Soldaten vor Ort im Süden Afghanistans
mehr tun müssen. - Das ist natürlich keine Begründung
für einen Tornadoeinsatz, über den das Parlament abstimmen soll, sondern eine Ausrede, um eine grundsätzlichere und schwierigere Debatte abzuwenden.
Als Sie, Herr Verteidigungsminister Jung, gesagt haben, mit dem Tornadoeinsatz könnten wir 2 000 potenzielle talibanische Selbstmordattentäter bekämpfen oder
aufklären, war das natürlich blanker Unsinn. Sorry, das
war blanker Unsinn. Sie können vielleicht Bewegungen
der Taliban und Veränderungen im Süden und im Osten
des Landes beobachten und damit mehr Sicherheit für
die ISAF-Truppen und vielleicht auch für den zivilen
Aufbau schaffen, aber Selbstmordattentäter können Sie
mit den Tornados nicht identifizieren. Das halten wir für
blanken Unsinn, und Sie sollten die Öffentlichkeit mit
solchen Begründungen verschonen.
({3})
Frau Bundeskanzlerin und Herr Außenminister, wenn
der Strategiewechsel tatsächlich stattfinden soll, dann sehen auch wir Möglichkeiten, durch einen Tornadoeinsatz
dazu einen Beitrag zu leisten. Aber dann müssen wir
über andere Punkte reden. Erstens müssen wir über die
Polizei reden. Beim Polizeiaufbau, für den die Deutschen ja verantwortlich sind, sind wir nicht so weit, wie
wir sein müssten. Die 42 Polizeiausbilder, die wir dort
im Land haben, reichen nicht aus. Meine Fraktion hat
eine Verdreifachung gefordert; Sie haben darauf bislang
nicht reagiert. Jetzt höre ich, Frau Bundeskanzlerin, dass
auf europäischer Ebene mehr für den Polizeiaufbau getan werden soll. Sagen Sie nächste Woche im Ausschuss
konkret, wie dies geschehen soll! Überzeugen Sie uns
davon, dass es um eine effektive Verbesserung des Polizeiaufbaus geht und nicht nur um einen Letter of Intent
oder eine Proklamation! Überzeugen Sie uns davon, dass
hier tatsächlich mehr gemacht wird!
({4})
Zweitens. Ich kenne kein überzeugendes Konzept der
Bundesregierung bei der wichtigen und entscheidenden
Frage der Drogenbekämpfung. Die Vorstellung, aus der
Luft Drogenfelder anzugreifen, reicht bei einem Land,
dessen Ökonomie tief durch Drogenökonomie gekennzeichnet ist, nicht aus. Hier gibt es keine einfache Antwort, aber wir müssen an einem Konzept arbeiten - auch
das würde zur Glaubwürdigkeit beitragen -, das die internationalen Partner im Rahmen von ISAF gemeinsam
tragen. Es darf nicht sein, dass der eine dieses und der
andere jenes sagt.
Drittens. Wir müssen mehr für den zivilen Aufbau
tun. Jetzt höre ich, dass die Bundesregierung zusätzlich
zu den bisher vorgesehenen 80 Millionen weitere
20 Millionen geben will. Das ist gut, aber trotzdem behaupte ich: Es ist zu wenig. Die Kanadier haben ihren
Beitrag um 200 Millionen erhöht, die Amerikaner um
viel, viel mehr.
Viertens. Zu Pakistan würde ich gerne von Ihnen,
Herr Außenminister, im Ausschuss oder hier an dieser
Stelle wissen, welche Initiativen Sie anregen, damit Pakistan auch durch internationalen Druck aus seiner Zwitterrolle - das Land gibt vor, die Terroristen zu bekämpfen, und unterstützt sie andererseits - herauskommen
kann.
Ich komme zum Schluss. Je mehr Sie die Perspektive
des Strategiewechsels stärken, umso klarer wird die Unterstützung in diesem Haus sein. Meine Fraktion bekennt
sich zu ISAF, sie hat aber noch unterschiedliche Positionen zu der Frage, ob der Einsatz der Tornados richtig ist
oder nicht. Es liegt an Ihnen, die Bedenken auszuräumen, aber mit klaren Konzepten und Begründungen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Walter Kolbow, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass
es gut ist, dass wir heute über diesen Antrag der Bundesregierung diskutieren und eine politische Entscheidung
hier in diesem Parlament einer juristischen Auslegung
vorziehen.
({0})
Natürlich sind die Fragen, die gestellt worden sind, bis
zur Entscheidung im Deutschen Bundestag in der nächsten Woche noch zu beantworten. Aber es ist auch schon
eine Reihe von Antworten gegeben worden. Wenn man
will, dann kann man diese Antworten zu seiner Entscheidungsfindung heranziehen.
({1})
Auch im Interesse der Zeitersparnis will ich hier auf
das verweisen dürfen, was der Außenminister und der
Verteidigungsminister zu den politischen, strategischen,
aber auch technisch-militärischen Abläufen gesagt haben. Eines ist sicherlich richtig: Die Frage des Tornadoeinsatzes ist der äußere Anlass; aber der Fortgang in
Afghanistan, die Entwicklung Afghanistans und natürlich auch die militärische Absicherung der Zukunft
Afghanistans - das ist das Entscheidende.
({2})
Deswegen müssen wir uns natürlich auch mit dem
Unbehagen - nicht nur in der Bürgerschaft, sondern
auch hier im Parlament - auseinandersetzen sowie des
Weiteren die Ratlosigkeit, die sich einschleicht, und die
um sich greifende Enttäuschung über das zu niedrige
Tempo bei Veränderungen und über Rückschläge beim
Wiederaufbau in Afghanistan aufgreifen; wir müssen
die Situation analysieren und definieren. Es ist richtig,
dass es die meisten Mängel und Defizite beim Wiederaufbau im Süden und Osten gibt.
Aschermittwoch war ein guter Tag für Afghanistan
und für die internationale Gemeinschaft. Da ist das
„Deutsche Haus“ in Kunduz eröffnet worden,
({3})
wo unsere vier Ministerien, die das integrierte Afghanistankonzept in der NATO, in den Vereinten Nationen und
in der Europäischen Union vertreten, deutlich gemacht
haben, dass sie Anlaufstationen für die Afghaninnen und
Afghanen, Ratgeber und Informationsgeber sind. Wir,
die Kollegen, die unter Federführung unseres Fraktionsvorsitzenden dort waren, haben von den afghanischen
Gästen den Auftrag bekommen, dem deutschen Parlament zuzurufen: Bitte entsendet die Tornados! Wir wollen Sicherheit im Fortschritt unseres Landes und beim
zivilen Wiederaufbau haben! - Gleiches ist uns in
Masar-i-Scharif von säkularen und nichtsäkularen Teilnehmerinnen und Teilnehmern solcher Gesprächsrunden
gesagt worden.
({4})
Also: Greifen wir es auf! Setzen wir im Süden und
Osten fort, was wir - wir wollen uns da nicht hervortun,
aber sollten das doch selbstbewusst sagen dürfen - im
Norden begonnen haben!
Ich bin schon der Meinung, verehrter Herr Kollege
Kuhn, dass der Strategiewechsel greift. Wenn Sie sich
die „development zones“ der Briten und auch die Entwicklung bei unseren amerikanischen Partnern anschauen, stellen Sie in diesem Zusammenhang Fortschritte fest. Die PRTs, die Stabilitätsinseln, von denen
aus in die Provinzen hinein das zivile Wiederaufbauelement gestärkt werden soll, sind mittlerweile unter ISAFKommando, und unsere Verbündeten nehmen mehr und
mehr die Ansicht auf, dass es ohne Fortschritt beim zivilen Wiederaufbau nicht geht.
({5})
Ich erwähne die 200 Millionen Dollar der Kanadier.
Ich will an dieser Stelle einmal sagen dürfen, dass unsere
kanadischen Freunde in Afghanistan einen beispielhaften Dienst leisten.
({6})
2 000 Soldaten und Soldatinnen von 33 000 insgesamt
sind im Süden Afghanistans. Sie haben jetzt
200 Millionen Dollar für den zivilen Wiederaufbau für
den Süden gegeben, natürlich auch deshalb, weil die
Freunde in Kanada erkannt haben, dass mit Mitteln für
den zivilen Aufbau auch Selbstschutz betrieben wird sowie natürlich den Afghaninnen und Afghanen genutzt
wird.
Das vermisse ich bei der sogenannten politischen Linken in diesem Hause.
({7})
Sie überinterpretieren das Militärische, und Sie sagen
kein Wort zum Gedanken des Schutzes unserer Soldatinnen und Soldaten,
({8})
kein Wort zum Gedanken des Schutzes der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und kein Wort zum Schutz
der afghanischen Bürgerinnen und Bürger vor terroristischen Anschlägen der Taliban.
({9})
Nun ein Satz zu denen, die der Meinung sind, wir
würden uns hier völkerrechtswidrig verhalten. Dies sind
Mandate, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen,
der Inhaber des internationalen Gewaltmonopols, beschlossen hat. In deren Rahmen handeln wir.
({10})
Unser Selbstverständnis, das der politischen, aber auch
der militärischen Leitung, nicht nur im Verteidigungsministerium, das Selbstverständnis dieser Republik
spricht für sich; völkerrechtswidrige Einsätze finden
nicht statt.
({11})
Ich denke, dass wir angesichts der Guerillataktik der
Taliban und des Risikos einer fortschreitenden Entfremdung der Bevölkerung aus verschiedenen Gründen, auch
wegen der Vernichtung von Mohnanbauflächen ohne
ausreichende Alternativen, verpflichtet sind, gerade im
Süden und im Osten verstärkt auf Stabilisierungsstrategien zu setzen. Ich denke, wo immer es geht, sollten wir
auf die gewonnenen lokalen und regionalen Erkenntnisse und auf die Unterstützung von Kräften aus diesem
Bereich setzen; darauf sollten wir nicht verzichten. Politische Komplementärkomponenten sollten wir auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene weiterentwickeln.
Frau Bundeskanzlerin, Herr Außenminister, Herr Verteidigungsminister, ich denke, dass da auch von der
Europäischen Union, die ein 600-Millionen-Euro-Programm eingebracht hat, insgesamt noch mehr getan werden kann, um die NATO zu ergänzen, die natürlich ein
politischer Partner ist, ein Partner, der aber mit seinem
militärischen Know-how recht verstandene ergänzende
Unterstützung seitens der Zivilmacht Europa gut gebrauchen kann.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion werden uns
diese Woche noch Zeit nehmen, bis wir zu einer Entscheidung kommen, und zwar aus Respekt vor den kritischen Nachfragen und den Gewissensgründen, die zu einer anderen Entscheidung führen können als zu der
möglichen Entscheidung der Mehrheit für eine Entsendung. Wir müssen dies sehr aufmerksam abwägen und
an das anknüpfen, was der Außenminister zum Schluss
gesagt hat:
Afghanistan ist nur verloren, wenn wir es verloren
geben.
Das wollen wir nicht. Wir knüpfen verantwortungsbewusst an unsere im Jahre 2001 getroffene Grundsatzentscheidung an, Afghanistan zu helfen, zu stärken und zu
einem vollen Mitglied der internationalen Gemeinschaft
zu machen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über einen Antrag der Bundesregierung zu einem Mandat, das für die Bundeswehr eine
neue Qualität des Einsatzes in Afghanistan bedeutet.
Deshalb ist es gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag über dieses Mandat diskutieren. Gerade in den letzten Wochen hat es immer wieder Versuche gegeben, die
Bundeswehr zu einer Regierungsarmee zu entwickeln.
Das ist eine völlig falsche Entwicklung; sie stößt auf entschiedenen Widerstand der FDP. Ich denke, es ist gut,
dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Das
bringen wir heute mit dieser Diskussion zum Ausdruck.
({0})
Der Auftrag, um den es hier geht, ist ein Aufklärungsauftrag. Es ist gerade in den letzten Tagen immer
wieder darüber diskutiert worden, was mit den Aufklärungsdaten passieren soll. Der Bundesaußenminister hat
hier gesagt, sie würden „eingeschränkt“ weitergegeben.
Im Antrag heißt es: „restriktive“ Übermittlung. Da frage
ich mich natürlich: Wird hier in irgendeiner Form die
Praxis verändert? Das ist wahrscheinlich nicht der Fall.
Dann soll die Bundesregierung aber auch dazu stehen.
Die Aufklärungsdaten werden weitergegeben, auch an
die Operation „Enduring Freedom“. Alles andere wäre
weltfremd, es wäre - ich sage es ausdrücklich dazu - in
bestimmten Situationen auch nicht verantwortbar.
Daraus leitet sich ganz klar ab: Wenn die Bundeswehr
Aufklärungsmaterial liefert, muss damit auch ein Einfluss auf die Kampfführung verbunden sein. Hier erwar8136
ten wir eine klare Aussage der Bundesregierung dazu,
welchen Einfluss wir hier haben.
({1})
Für die FDP-Bundestagsfraktion sind vier Punkte von
zentraler Bedeutung:
Erstens. Wir sind der Auffassung, dass es eine deutliche Verstärkung der Anstrengungen in der zivil-militärischen Zusammenarbeit und beim Wiederaufbau geben
muss. Wir sind nicht bereit, einfach nur eine zusätzliche
militärische Maßnahme zu beschließen; denn mit militärischen Maßnahmen allein werden die Probleme nicht zu
lösen sein. Wir brauchen verstärkte Wiederaufbauanstrengungen. Wir von der FDP-Bundestagsfraktion erwarten, dass die Bundesregierung nicht nur allgemeine
Erklärungen hierzu abgibt, sondern das aufgreift und uns
noch einmal darlegt, wie sie in den Bereichen, die sie
selbst beeinflussen kann, beispielsweise bei der Polizeiausbildung, weiterkommen will und welche konkreten
Schritte sie in diese Richtung tatsächlich unternimmt.
({2})
Zweitens. Nach den Diskussionen der letzten Wochen
innerhalb der NATO muss die Frage erlaubt sein - auch
darauf erwarten wir eine Antwort von der Bundesregierung -, ob mit diesem Mandat das Ende der Fahnenstange bei den Anforderungen an Deutschland erreicht
ist oder ob mit immer weiteren Anforderungen zu rechnen ist. Es muss aus unserer Sicht sichergestellt sein,
dass das jetzige Mandat keinen Einstieg in einen generellen Einsatz von Bodentruppen im Süden Afghanistans
darstellt.
({3})
Ein dritter Punkt, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, ist für uns von ganz entscheidender
Bedeutung. Sie haben beschlossen, dass die voraussichtlichen zusätzlichen Kosten in Höhe von 35 Millionen
Euro für diesen Einsatz bis zum 13. Oktober aus dem
Verteidigungshaushalt erbracht werden sollen. Ich halte
diese Entscheidung für falsch. Ich denke, wer zusätzliche Einsätze beschließt, muss das dafür nötige Geld
auch aus dem allgemeinen Haushalt bereitstellen.
({4})
Sie haben sich jetzt anders entschieden. Wir erwarten
nun aber, dass Sie uns darlegen, wie sichergestellt wird,
dass das nicht zulasten der Ausrüstung und Ausstattung
der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geht.
({5})
Ein letzter Punkt, der vierte, der aus unserer Sicht von
zentraler Bedeutung ist: Ich finde es nicht gut, dass sich
die mangelhafte Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber dem Parlament auch bei diesem Mandat,
das Sie jetzt zur Abstimmung stellen, weiter fortsetzt.
Bis heute haben Sie uns die Einsichtnahme in das Anforderungsschreiben der NATO verwehrt. Die FDP hält das
für nicht hinnehmbar. Es ist doch nicht so, dass es sich
bei diesem Schreiben um ein Privatschreiben handeln
würde. Es handelt sich um eine offizielle Anforderung
der NATO. Wir sind der Auffassung, dass es möglich
sein muss, dass auch das Parlament Einsicht in dieses
Anforderungsschreiben erhält. Wir fordern die Bundesregierung ausdrücklich auf, das jetzt noch nachzuholen.
({6})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie sehen, wir machen uns die Abwägung
nicht leicht. Ich möchte den Damen und Herren der Bundesregierung einfach nur mit auf den Weg geben: Es
lohnt sich, die offenen Fragen zu beantworten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag der Bundesregierung auf die Entsendung von Aufklärungstornados und eine Aufstockung der personellen
Obergrenze auf bis zu 3 500 Soldaten. Es handelt sich
um eine notwendige Ergänzung des bestehenden ISAFMandats. Es geht darum, eine durch die Ausweitung des
ISAF-Einsatzes auf ganz Afghanistan entstandene Fähigkeitslücke bei der Aufklärung aus der Luft zu
schließen. Das ist notwendig, um bei der derzeitigen Zuspitzung der Lage in Afghanistan Gefahren besser und
rechtzeitiger zu erkennen und damit unsere Soldaten, unsere Bündnispartner, die zivilen Aufbauhelfer und die
Bevölkerung in Afghanistan besser vor Terrorangriffen
durch die Taliban und durch al-Qaida zu schützen. Besserer Schutz durch verbesserte Aufklärung - darum geht
es; darum unterstützen wir diese Maßnahme.
Dass diese Fähigkeiten nicht nur im mandatierten
Einsatzgebiet im Norden eingesetzt werden sollen, sondern in ganz Afghanistan, vor allem eben auch im Süden
und im Osten, wo die Gefahren am größten sind, versteht
sich, auch aus Gründen der Bündnissolidarität, von
selbst. Weil es sich hierbei um eine nicht unbedeutende
Erweiterung des laufenden Mandats handelt, halten
auch wir es, nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit für unsere Soldaten, für richtig, gemäß dem Antrag
der Bundesregierung ein ergänzendes Mandat zu beschließen.
Diplomaten in Kabul sprechen von 2007 als dem Jahr
der Weichenstellung für Afghanistans Zukunft. Es gibt
stichhaltige Hinweise darauf, dass die Taliban intensiv
eine Frühjahrsoffensive vorbereiten, vor allem mit Angriffen in den südafghanischen Provinzen. Wenn es für
diese Zuspitzung der Gefahrenlage noch eines Hinweises bedurft hätte, dann ist dieser mit dem gestrigen
Selbstmordanschlag während des Besuchs von US-Vizepräsident Cheney vor der amerikanischen Basis in Bagram erfolgt. Wir sind froh, dass der amerikanische Vizepräsident unverletzt geblieben ist. Wir verurteilen
diesen Anschlag nachdrücklich und bedauern die Opfer
dieses Anschlages wie auch die Opfer der vielen anderen
Anschläge.
({0})
Die Anschläge vom 11. September 2001 auf New
York und Washington und auch die nachfolgenden Anschläge, etwa in London oder Madrid, wurden möglich,
weil sich Afghanistan zu einem Trainingszentrum für
Terroristen entwickelt hatte. Das aber zeigt, wie wichtig
die Aufgabe von ISAF und OEF ist, zu verhindern, dass
diese Kräfte wieder die Oberhand gewinnen und Afghanistan erneut ein Failing State wird, von dem eine terroristische Bedrohung für die internationale Gemeinschaft
und damit auch für unsere Sicherheit ausgeht. Das darf
nicht wieder der Fall sein.
({1})
Dass diese Gefahr besteht, ist nicht von der Hand zu
weisen. In ihrem neuesten Propagandavideo drohen die
Taliban und al-Qaida mit 4 000 bereitstehenden Selbstmordattentätern und 10 000 Dschihadkämpfern. Durch
die Entsendung der Tornados können wir durch Aufklärung über deren Aktivitäten unsere Bündnispartner unterstützen. In diesem Punkt, Herr Kollege Kuhn, muss
ich Ihre Darstellung korrigieren. Für eine effiziente Bekämpfung dieser Terrorkräfte muss es auch möglich
sein, die Ergebnisse unserer Aufklärungsflüge unseren
Verbündeten, wie es im Mandat heißt, restriktiv zur Verfügung zu stellen. Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität mit unseren Bündnispartnern, zumal ja auch die
Bundeswehr mit einem gültigen Mandat an OEF beteiligt ist. Je erfolgreicher unsere Verbündeten im Kampf
gegen die Taliban und al-Qaida sind, desto besser kann
ISAF seine Stabilisierungsaufgabe wahrnehmen.
({2})
Ich sage für meine Fraktion mit aller Deutlichkeit:
Wir halten an der bestehenden Aufteilung in Regionalkommandos fest. Deutschland leistet mit der Verantwortung für fünf Wiederaufbauteams in neun nordafghanischen Provinzen einen erfolgreichen Beitrag zur
Stabilisierung Afghanistans. Die Sicherheitsrisiken im
Norden des Landes sind zwar von anderer Qualität als
im Süden - der Außenminister hat es dargestellt -; doch
auch unsere Soldaten leisten einen gefährlichen und unverzichtbaren Einsatz. Dafür möchte ich unseren Soldatinnen und Soldaten besonders danken.
({3})
Zu unserer besonderen Verantwortung für das Regionalkommando Nord gehört auch, dass die Bundeswehr
für begrenzte Unterstützungsmaßnahmen in Gesamtafghanistan eingesetzt werden kann, und zwar, wie es im
ISAF-Mandat wörtlich heißt:
… für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen, sofern diese Unterstützungsmaßnahmen zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar sind.
In dieser Debatte sollte deshalb auch gesagt werden,
dass wir uns darauf einstellen müssen, dass unsere Partner im Süden uns aufgrund der zugespitzten Krisensituation zur Unterstützung anfordern. Dann sollten wir in der
Lage sein, effektiv und robust zu helfen. Auch das gehört zur Bündnissolidarität.
Wir beraten heute über einen militärischen Einsatz.
Doch haben alle Vorredner zu Recht auf die zivilen Unterstützungsleistungen hingewiesen. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Aufstockung der deutschen
Afghanistanhilfe um 20 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro im Jahr, und zwar auch im Süden.
({4})
Im Januar konstatierten die Teilnehmer des internationalen Koordinierungstreffens für Afghanistan drei
besonders wichtige Faktoren für die zivilen Aufbauleistungen: erstens die fortgesetzte Reform des Sicherheitssektors, zweitens eine bessere Verknüpfung ziviler und
militärischer Maßnahmen und drittens die Steigerung
der afghanischen Eigenverantwortung.
Heute hat sich das von uns entwickelte Konzept der
sogenannten PRTs im Bündnis durchgesetzt. Die Bundesregierung hat in den NATO-Gremien immer den
zivil-militärischen Ansatz vertreten. Jetzt zeigt sich, wie
richtig dieses Konzept ist.
Bei der Reform des Sicherheitssektors hat Deutschland mit 40 Polizeiausbildern mehr als 15 000 afghanische Polizeikräfte für die mittlere und höhere Laufbahn
ausgebildet. Ab Mai sollen diese Anstrengungen in eine
ESVP-Mission übergehen, wodurch die Zahl der Ausbilder, Herr Kollege Kuhn, auf 160 erhöht wird und flächendeckender ausgebildet werden kann.
Zudem sollen 70 Rechtsexperten entsandt werden, die
Italien beim Aufbau der afghanischen Justiz ablösen.
Diese europäische Bündelung im Sicherheitssektor ist
richtig. Was nützt eine gut ausgebildete Polizei, die Drogenhändler dingfest macht, wenn diese hinterher nicht
vor Gericht gestellt werden können?
Afghanistan kann nicht gewonnen werden, wenn
nicht im Süden Stabilität geschaffen wird. Die Bevölkerung dort muss schneller die Vorteile der internationalen
Hilfe spüren. Dazu gehören zunächst die Grundversorgung mit Wasser und Strom auf dem Lande, ein ständiger Dialog mit lokalen Vertretern und eine effiziente
Entwicklungshilfe. Entwicklungsprojekte müssen zudem als afghanische Projekte erkennbar sein. Dies ist
wichtig für das Selbstbewusstsein dieses stolzen Volkes
und für eine größere Loyalität der Bevölkerung gegenüber der Regierung Karzai.
Gestatten Sie mir zum Schluss ein Wort zu Pakistan.
Dort werden islamistische Terroristen ausgebildet und
ausgerüstet. Diese dringen dann über die 2 500 Kilometer lange Grenze wieder in den Süden Afghanistans
ein. Pakistan ist ein unverzichtbarer Partner zur Stabilisierung Afghanistans. Wir müssen beide Regierungen,
die Regierung in Kabul und die Regierung in Islamabad,
für eine stärkere Zusammenarbeit beim Aufbau einer gemeinsamen, wirksamen Grenzkontrolle gewinnen.
Wir müssen von unserem pakistanischen Partner
mehr Unterstützung und Kooperation im Kampf gegen
den Terror einfordern. Aber man darf ihn nicht wie im
Zusammenhang mit der amerikanisch-indischen Nuklearkooperation im vergangenen März vor den Kopf stoßen. Wir brauchen ein modernes und moderates Pakistan
als wichtigen Partner für die Bewältigung der Herausforderungen in Afghanistan, aber auch im Mittleren und
Nahen Osten insgesamt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Herr Kolbow, ich muss schon sagen: Was Sie hier an einem Punkt vorgetragen haben,
({0})
stimmt überhaupt nicht: Die OEF hat kein UNO-Mandat.
({1})
Sie können sich doch nicht hier hinstellen und sagen,
dass das alles verfassungs- und völkerrechtlich vollkommen gedeckt sei!
({2})
Selbst die ISAF verändert ihren Auftrag.
({3})
- Entschuldigen Sie bitte! Was sind denn die Gründe, die
einige Abgeordnete in diesem Haus dazu bewogen haben, die Frage zu stellen, ob sich der Deutsche Bundestag nach den Maßgaben unserer Verfassung mit dieser
Frage heute überhaupt beschäftigen kann?
({4})
Das hat doch nichts damit zu tun, ob wir eine Parlamentsarmee haben oder nicht. Entscheidend ist vielmehr
die Frage, ob es verfassungsrechtlich richtig ist, in diesem Rahmen zu verfahren. Wer denkt denn heute eigentlich noch an die Verfassung, wenn es um die Ausweitung
der Einsätze im Rahmen der Kriegsführung und damit
um ein verändertes NATO-Selbstverständnis geht? Das
ist die wichtige Frage, die wir zu stellen haben.
({5})
Es ist auch nicht statthaft, hier euphemistisch, ironisch oder sarkastisch aufzutreten. Herr Steinmeier, hier
stellt sich nicht die Frage nach der Geduld. Man kann
nicht nach sechs Jahren Krieg gegen Terror für noch
mehr Geduld werben, sondern man muss die Frage stellen, ob es richtig oder falsch ist, den Kampf gegen den
Terror mit Mitteln des Krieges zu führen.
({6})
Frau Kollegin, der Kollege Schockenhoff würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte sie nicht zulassen.
({0})
Der Afghanistaneinsatz - das weiß die Bevölkerung ist nicht auf dem Willen des gesamten Hauses gegründet.
Die Linke hat sich immer dagegen ausgesprochen. Herr
Kuhn und Herr Steinmeier, Sie wissen ganz genau, dass
damals, als es um den Afghanistankrieg ging, beide Regierungsparteien ihre Fraktionen mehr oder weniger
durch die Vertrauensfrage genötigt haben, diesem
Kriegseinsatz zuzustimmen.
({1})
Tun Sie nicht so, als werde diesem Krieg in diesem Haus
und in diesem Land nicht widersprochen! Das ist einfach
nicht wahr.
Man kann nicht, weil die militärische Strategie nicht
erfolgreich ist, sagen: Wir müssen noch mehr - von unserer Warte aus - Falsches tun. - Ist dies angesichts der
zu erwartenden Frühjahrsoffensive und der grauenvollen Ankündigung, dass schon 2 000 Selbstmordattentäter bereitstehen, wirklich richtig? Man muss sich diese
Dimension einmal vorstellen. Dieser Einsatz, der der
OEF dienlich sein soll, steht damit in Zusammenhang,
was seitens der CDU/CSU formuliert worden ist: Dieser
Konflikt kann den Erfolg nicht konterkarieren. - Welchen Erfolg, bitte sehr, kann dieser Krieg gegen den Terror vorweisen? Wenn wir die Kriterien von Good Governance heranziehen, müssen wir doch offen sagen: Die
Regierung Karzai ist von Korruption durchdrungen, und
die Drogenbarone sitzen in der Regierung.
({2})
Da sind doch keine Mohnfelder abzubrennen. Vielmehr
muss die Frage gestellt werden, ob das Ziel der ISAF,
diese Regierung zu schützen, überhaupt erfüllt werden
kann.
Wir argumentieren zielstrebig und lassen uns auch
nicht von einer verantwortungsvollen Exit-Strategie abbringen. Diese Exit-Strategie sieht nicht vor, dass morgen die Soldaten zurückgezogen werden. Sie gewährleistet vielmehr den Polizeiaufbau, sichert die zivilen
Infrastrukturen, stärkt kontinuierlich und massiv die Situation der Frauen
({3})
und beinhaltet eine neue Drogenpolitik.
Sie müssen die Frage beantworten, ob die Rekrutierung der Taliban nicht ursächlich etwas damit zu tun hat,
dass der Krieg gegen den Terror das falsche Mittel war.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Schockenhoff.
({0})
Liebe Frau Kollegin Knoche, ich setze Sie darüber in
Kenntnis, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
mit der Resolution 1373 die Operation „Enduring
Freedom“ mandatiert hat und dass damit eine eindeutige
völkerrechtliche Rechtsgrundlage für diese Operation
gegeben ist.
({0})
Frau Kollegin Knoche, bitte.
Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Wir in der
Fraktion diskutieren über eine solche Frage mit großer
Ernsthaftigkeit. Ob die OEF nur erwähnt wird oder ob
sie ein originäres Mandat hat, ist schon ein Unterschied.
Aber ich möchte etwas anderes sagen:
({0})
Ist die CDU/CSU nicht in der Lage, denjenigen prominenten und sehr kenntnisreichen Vertretern ihrer Fraktion, die verfassungsrechtliche Bedenken erhoben haben,
einige Minuten Redezeit einzuräumen, damit sie diese
hier vorne vortragen können? Das stünde meiner Ansicht
nach der CDU/CSU viel mehr an, als hier so zu tun, als
gebe es keine verfassungsrechtlichen Bedenken und als
seien alle Tätigkeiten, die vor Ort militärisch durchgeführt werden, von der UNO gedeckt. Das wird in Zweifel gezogen. Diese Zweifel sollten Sie nicht nivellieren.
({1})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu 90 Prozent dieses Hauses sind wir uns in der Schlüsselfrage einig: Wie kann die internationale Gemeinschaft
und dabei unverzichtbar ISAF in diesem sehr kritischen
Jahr für Afghanistan zum Erfolg kommen? Wer jetzt von
Exit-Strategie redet, vermittelt völlig kontraproduktive
Botschaften: Entmutigung für diejenigen Menschen, die
Aufbau und Frieden in Afghanistan wollen, und Ermutigung für diejenigen, die genau das Gegenteil vorhaben.
({0})
Nun komme ich aber zum Thema. Aus militärischer
Sicht ist ein Tornado in Afghanistan nützlich für mehr
Flexibilität bei der Aufklärung; je flexibler und präziser
die Aufklärung, desto besser. Allerdings muss man ehrlicherweise dazusagen, dass auch in Militärkreisen die
Dringlichkeit des Tornados für die Sicherheit von ISAF,
gelinde gesagt, strittig ist. Es ist aber eine Verharmlosung, wenn der Tornadoeinsatz nur als Hilfs- und
Schutzeinsatz beschrieben wird. Natürlich hat er diese
Teilfunktion. Vor allem im Süden hat er aber selbstverständlich auch die Teilfunktion der Kampfunterstützung. Das lässt sich nicht bestreiten.
Für mich und meine Fraktion ist klar - das ist keine
Grundsatzfrage -, dass in Afghanistan an verschiedenen
Stellen gekämpft werden muss. Die Frage ist allerdings,
wie und nach welcher Strategie die Kämpfe dort ablaufen. Dazu muss man zur Kenntnis nehmen, was ein
hochangesehener Thinktank aus London, das Senlis
Council, zweimal in Studien gesagt hat, zuletzt in diesem Februar: Es habe im Süden - bezogen auf die Provinzen Helmand und Kandahar - „mehr Zerstörung als
Aufbau“ gegeben, und es wurden „Freunde verloren und
Feinde gewonnen“. - Hierzu muss die Bundesregierung
etwas sagen. Bis heute Vormittag konnte die Bundesregierung dazu nichts sagen. Ich möchte sehr, dass sie
diese Aussagen widerlegen kann. Das ist ein wichtiger
Kontext für den Einsatz der Tornados.
Ein anderer Punkt ist der Strategiewechsel. Seit mehr
als einem halben Jahr wird dieser gefordert. Es geht um
die Gewichtung der militärischen und der zivilen Säule,
es geht um Koordination und Kohärenz. Auf dem
NATO-Gipfel wurde dies ebenfalls beschworen. Wenn
man genauer hinschaut, muss man feststellen, dass die
Umsetzung dieses Strategiewechsels in Trippelschritten
erfolgt, wo die Zeit enorm drängt.
({1})
Es ist gut, dass das Schlüsselprojekt Polizeiaufbau
jetzt mit der EU läuft. Aber wir müssen - anders als bisher - den Anspruch an den Herausforderungen messen.
Bezogen auf die Herausforderungen geschieht hier noch
viel zu wenig.
({2})
Die Drogenbekämpfung läuft ungebremst kontraproduktiv mit dem Vorrang für die Felderzerstörung. Solange in diesen Fragen keine Klarheit über die richtige
Richtung herrscht und solange kein deutlicher Strategiewandel glaubwürdig gemacht wird, so lange kann ich
eine Zustimmung nicht empfehlen.
Vor fünf Monaten hatten wir 14 Parlamentarierinnen
aus Afghanistan hier. Ich wiederhole, was ich denen damals gesagt habe: Erstens. Wir wissen, warum wir in
Afghanistan sind. Zweitens. Wir lassen Sie nicht im
Stich. Drittens. Wir versprechen, dass wir die notwendigen Strategieänderungen forcieren. - Sie haben gehört,
dass wir in unserer Fraktion bezogen auf den Einsatz der
Tornados uneinig sind. Aber bezogen auf diese Botschaft - und das ist unser Wille - sind wir uns sehr einig,
ich glaube, auch mit dem größten Teil dieses Hauses.
Danke.
({3})
Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki, SPDFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar,
dass wir diese Diskussion hier führen können. Mancher
Beitrag, der heute eingebracht worden ist, war notwendig und hilfreich. Dies signalisiert, dass wir diese Diskussion fortsetzen müssen, und zwar - ich appelliere
dazu zum wiederholten Male - nicht nur dann, wenn es
um ein militärisches Mandat geht.
({0})
Ich komme gerade aus Afghanistan. Ich war in der
letzten Woche dort, erst gemeinsam mit unserem Fraktionsvorsitzenden und Walter Kolbow in Kunduz und
Masar-i-Scharif und dann in Kabul. Ich will nicht arrogant oder borniert erscheinen, aber wenn ich gemessen
an meinen Eindrücken von dieser Reise diese Diskussion
verfolge, werde ich nachdenklich.
Ich will vorweg einige Eindrücke wiedergeben: Es ist
immer wieder spannend, unsere Bundeswehr im Einsatz
zu erleben. In Masar-i-Scharif habe ich im April des vergangenen Jahres in einer Einöde mit Mühe und Not in
einem Zelt ein bisschen Schatten gefunden. Heute gibt
es dort - das ist eine beachtliche logistische Leistung ein Zentrum, das der Bundeswehr vor Ort strategische
Möglichkeiten an die Hand gibt, das den Schutz der Soldaten gewährleistet und die Möglichkeit eröffnet, in die
Provinz hineinzuwirken.
Andererseits habe ich aber ein Land gesehen, in dem,
wenn man sich die Handys und die Autos wegdenkt,
eine Situation vorherrscht, wie sie in Deutschland möglicherweise nach dem Dreißigjährigen Krieg bestand.
Wenn ich vor diesem Hintergrund manche Forderung
und manchen Diskussionsbeitrag betrachte, muss ich
fragen: Was erwarten wir eigentlich? Was hat sich in
fünf Jahren überhaupt verändern können? - Die Menschen dort haben zum Teil noch höhere Erwartungen gehabt; deshalb ist ihre Enttäuschung umso größer. Wir
müssen daher immer wieder überlegen, wie wir ausgleichen können, wie wir helfen können, wie wir Hoffnung
machen können, wie wir mit konkreten Projekten das
tägliche Überleben sichern und Perspektiven eröffnen
können. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Deswegen bin ich immer wieder dankbar, wenn die zivile Komponente hier eingebracht wird.
Ich finde es wirklich gut - das ist eine der Botschaften, die mich nach meiner Rückkehr erfreut haben -,
dass wir im Rahmen der Afghanistanhilfe jetzt
20 Millionen Euro zusätzlich einbringen.
({1})
Man kann sich natürlich noch mehr wünschen; aber dank
dieser 20 Millionen Euro haben wir jetzt eine dreistellige
Summe, 100 Millionen Euro, zur Verfügung. Ich finde,
das ist eine ganz wichtige Botschaft.
({2})
Wir müssten viel mehr Zeit haben, um die kritischen
Argumente aufnehmen zu können. Ich habe mich immer
für einen Strategiewechsel ausgesprochen. Wir müssen
die Diskussion darüber aber so führen, dass wir nicht
borniert und arrogant erscheinen.
({3})
Die PRTs haben übrigens die Amerikaner erfunden; das
sage ich der Gerechtigkeit wegen.
Wir wissen, dass die USA ungefähr 50 Prozent der
materiellen Ressourcen in Afghanistan einbringen. Die
Polizei ist zu Recht angesprochen worden. Ich könnte einiges dazu sagen, auch im positiven Sinne. Wir haben einen Etat von 12 Millionen Euro. Die Amerikaner geben
mehr als 1 Milliarde Dollar in dieses Projekt. In diesem
Zusammenhang müsste man eigentlich über unser richtiges Konzept und das bedenkliche Konzept der amerikanischen Kollegen diskutieren. Ich frage einmal rhetorisch: Sind wir eigentlich richtig aufgestellt? Versetzen
wir unsere Regierung in die Lage, all das einzubringen
- auch in den internationalen Diskussionsprozessen -,
was notwendig wäre, um einen Strategiewechsel zu begünstigen? Ich bin der Meinung, dass zusätzliche Unterstützung notwendig ist. Man müsste schauen, ob die Botschaften wirklich optimal ausgestattet sind, ob die
personelle Ausstattung des BMZ wirklich optimal ist, ob
unsere Haushaltsordnung in Kabul eingehalten werden
muss oder ob wir uns nicht flexiblerer Instrumente bedienen sollten? Können wir vielleicht zu einer Auftragswirtschaft kommen, die sich an dem Notwendigen ausrichtet und nicht an der Kameralistik der Bundesrepublik
Deutschland?
({4})
Auch wenn ich damit in einer Diskussion über den
Einsatz von Tornados kleinkariert erscheinen könnte,
will ich Ihnen eines sagen: Lieber Kollege Kuhn, Sie haben zu Recht die Polizei angesprochen. Das Team, das
zurzeit vor Ort ist - sie sind immer für ein Jahr dort -,
hat einen hervorragenden Eindruck auf mich gemacht.
Es sind hochmotivierte Kollegen; sie sind unwahrscheinlich sympathisch, aus meiner Sicht auch sehr erfolgreich.
Unterhalten Sie sich einmal mit den Kollegen! Diese
Kollegen haben mir erzählt - ich muss jetzt zum Innenminister schauen -,
({5})
dass die Bundesreisekostenordnung angewandt wird,
was zur Folge hat - das ist abstrus -, dass ein lediger
Polizist die Heimreisekosten nicht erstattet bekommt,
obwohl er zu Hause zwei Kinder und eine feste Partnerin
hat. Ich will das nicht ausdehnen; aber solange eine Bundesregierung, ein Innenministerium nicht in der Lage ist,
ein Höchstmaß an Flexibilität zu gewährleisten, um die
jungen Leute für den Einsatz zu motivieren, frage ich
mich, wie wir unsere Vorschläge für die Weiterentwicklung Afghanistans umsetzen wollen.
({6})
Ich habe das ein wenig ironisch eingebracht, um aufzuzeigen, wie sehr wir selbst Gefangene unserer eigenen
Perfektion sind, was zur Folge hat, dass wir uns nicht in
der Weise entwickeln können, wie es eigentlich notwendig wäre.
Aus meiner Sicht signalisieren uns alle - das haben
die Gespräche mit den Regierungsmitgliedern gezeigt,
mit dem Außenminister, der als Gesprächspartner am
stärksten etwas einbringen kann, und mit dem Innenminister; aber ich denke hier auch an Tom Koenigs und
Herrn Vendrell von der Europäischen Union -, dass sie
den Tornadoeinsatz begrüßen, unterstützen und dass das
letztendlich - ich muss das aufgrund der Kürze der Zeit
so sagen - eine notwendige Aktion ist, um unsere Solidarität mit unseren Partnerinnen und Partnern zu zeigen.
Ich stelle einmal die rhetorische Frage - über die sollten wir einmal in den Ausschüssen diskutieren -, wie eigentlich unsere Haltung ist, wenn die Kanadier oder die
Niederländer sagen, dass sie nach Hause gehen. Wie
sieht denn dann unsere Gesamtkonzeption aus? Ich
schließe mich hier Winnie Nachtwei an, dessen Appell
ich voll unterstreiche. Wir haben den Parlamentarierinnen zugesagt, dass wir sie nicht allein lassen. Dann müssen wir aber insgesamt eine Atmosphäre herstellen, die
von Solidarität und gemeinsamer Verantwortung getragen ist. Wir müssen unseren Job so gut machen, dass wir
die Chance haben, dort zum Erfolg zu kommen.
Häufig wird von einer Exit-Strategie gesprochen.
({7})
- Ich habe das schon einmal hier im Plenum angesprochen, Frau Kollegin; aber ich will das nicht nur auf Ihre
Fraktion beziehen. - Ich empfehle allen Kolleginnen und
Kollegen - im Grunde wäre es eine viel spannendere Debatte gewesen, wenn wir darüber diskutiert hätten, welche Verpflichtungen die Regierung eingegangen ist, und
zwar nicht nur im Zusammenhang mit den Tornados -,
sich einmal den Afghanistan Compact anzusehen. Darin ist die Strategie beschrieben. Dort steht, welche Aufgaben wir im zivilen und im militärischen Bereich, also
zum Schutz, zu bewältigen haben und wie wir Afghanistan ausstatten und unterstützen wollen, bevor wir, wenn
die Selbstständigkeit erreicht ist, das Land wieder verlassen.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Wir haben eine Geschäftsordnung.
Liebe Frau Präsidentin, ich bedanke mich für Ihre Geduld. Sie war schon fast afghanisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns diesen Schritt machen und diesem Tornadoeinsatz zustimmen, und lassen Sie uns gleichzeitig die immer wieder
erklärte Verpflichtung realisieren, den zivilen Aufbau
voranzutreiben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich gegangen ist wie mir.
Bei der Lektüre des heute zur Debatte stehenden Antrages habe ich das Wort „Tornado“ gesucht. Wir reden seit
Monaten über die Verlegung von Tornados nach Afghanistan. Im Antrag der Bundesregierung suchte und
suchte ich die Tornados. Ich fand aber nur „Fähigkeiten“, so weit das Auge reicht, Fähigkeiten zu allem und
jedem: zur Sicherung, zur logistischen Unterstützung,
zur Führung, zur sanitätsdienstlichen Versorgung usw.
Ich war schon ganz verzweifelt und wollte aufgeben.
Ich glaubte, ich hätte die in allen Medien tobende Tornadodebatte der letzten Monate bloß geträumt. Doch da kamen sie doch noch, die Tornados, ganz hinten unter
Punkt 7 und unter Punkt 10, ganz klein und winzig, unschuldig, ganz versteckt, unter ferner liefen mit den
Worten „darüber hinaus“ eingeleitet, so als ginge es noch
um ein paar Gummibärchen für die Soldaten, damit sie
sich fern der Heimat nicht so einsam fühlen. Aber immerhin kommt Ihnen, meine Damen und Herren von der
Regierung, dann doch noch das Wort „Aufklärungsflugzeug“ aus der Feder. Da ist Ihnen beim Korrekturlesen
wohl der Schrecken in die Glieder gefahren; denn unter
Punkt 10 haben Sie die Tornados ganz flugs wieder zu
einem „Einsatzmodul“ verniedlicht. Das klingt so technisch harmlos, und die Menschen kriegen nicht so
schnell mit, dass es um Krieg geht. Schön verschleiern
wollen Sie das.
Das Wort „Tornado“ taucht übrigens nur zweimal in
Ihrem Antrag auf, der Begriff „Fähigkeiten“ dagegen
siebenmal. Wissen Sie was? Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie das Wort „Soldaten“ bei zukünftigen
Anträgen doch auch weg. Ersetzen Sie es durch das Wort
„Fähigkeiten“. Das hätte zwei Vorteile: Erstens könnte
man sich die weibliche Form einsparen. Zweitens müssten Sie dann auch nicht mehr über Ehrenmale nachdenken, zum Beispiel Ehrenmale für abhandengekommene
Fähigkeiten.
Dem Herrn Bundestagspräsidenten kann und will ich
keine Vorschriften machen. Ich kann nur sagen: Wäre
ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich dieses mit den
Koalitionsspitzen ausgehandelte Orwellsche Neusprechwerk nicht entgegengenommen. Es stellt den Versuch
dar, das Parlament und die Öffentlichkeit zu verdummen. Ich hätte zur Bundeskanzlerin gesagt: Thema verfehlt, setzen, sechs!
({0})
Denn dieser Antrag ist die würdelose Fortsetzung der
unsäglichen Versuche der Bundesregierung, einen glasklaren Kampfeinsatz in so etwas wie einen humanitären
Einsatz umzulügen.
({1})
Werte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einen
Blick in die Lehrunterlagen der Luftwaffe werfen, werden Sie Folgendes feststellen: Bei den sogenannten
Recce-Tornados handelt es sich um „Luftkriegsmittel“,
die im Rahmen verbundener Luftkriegsoperationen zur
Aufklärung eingesetzt werden. Luftkriegsoperationen
finden also nicht im Krankenhaus statt.
({2})
Mangels einer gegnerischen Luftwaffe dienen sie in Afghanistan der Bekämpfung des Gegners am Boden. Aufklärung ist nicht nur integraler Bestandteil dieses offensiven Krieges aus der Luft, sondern seine unabdingbare
Voraussetzung. Dies wird durch das Adjektiv „verbunden“ ausgedrückt. Im Klartext: Ohne Luftbilder keine
Bomben. Bomben führen zu Kollateralschäden, also zur
Tötung unschuldiger Zivilisten. Herr Kuhn, die Stärkung
der Zivilgesellschaft werden wir mit Sicherheit nicht
durch den Einsatz zusätzlicher Bomben erreichen. Dass
es um Bomben geht, wird im Antrag durch die Verwendung anderer Begriffe kaschiert.
Die Abgeordneten, die dem zustimmen, halten den
Krieg gegen Afghanen, die sich gegen ihre Besatzer
wehren, offensichtlich für richtig und wollen rund
35 Millionen Euro dafür ausgeben. Herr Verteidigungsminister, ich fordere Sie auf: Stehen Sie bitte auch
sprachlich zu Ihrem Antrag, nennen Sie die Dinge beim
Namen, und drücken Sie sie nicht verschlüsselt aus.
Oder schämen Sie sich Ihrer kriegerischen Absichten?
Tarnen, Täuschen und Tricksen hat in diesem Land
Tradition. Wie sagte der damalige Kanzler nach dem Beginn der Bombardierung Jugoslawiens am 24. März
1999 im Bundestag? Ich zitiere: „Wir führen keinen
Krieg.“ Zur gleichen Zeit schossen die 14 deutschen
ECR-Tornados den Jagdbombern den Weg für ihre tödliche Last frei. Bei diesem Krieg, der laut Herrn Schröder
keiner war, kamen übrigens über 2 000 unbeteiligte Zivilisten zu Tode, und das nicht vor Gram über die Lügen,
die vorher verbreitet worden waren.
Herr Kolbow, es ist wichtig, die Hirne und die Herzen
der Menschen in Afghanistan zu gewinnen. Das schafft
man bestimmt nicht dadurch, dass man mehrere Tornados dorthin schickt, die aufklären sollen, was andere
Flugzeuge dann mit Bomben vollenden.
({3})
Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte wirft die Fragen auf, welches
Bild von Afghanistan wir unserer Entscheidung zugrunde legen und welches Bild von Einsatzstrukturen
und Rechtsgrundlagen unsere Entscheidung bestimmt.
Ich muss sagen: Was die Rechtsgrundlagen anbelangt,
war Ihr Auftritt, Frau Knoche, bemerkenswert.
({0})
An dieser Stelle danke ich dem Kollegen Schockenhoff:
Lesen bildet und hebt gelegentlich das Niveau der eigenen Rede.
({1})
Ich komme auf unser Bild von Afghanistan zu sprechen. Sicherlich ist es wenig hilfreich, nur die Erfolge in
den Vordergrund zu stellen. Ebenso wenig hilfreich ist
es, nur die Defizite zu betonen. Fatal wird es allerdings
dann, meine Damen und Herren von der Linken, wenn
bewusst falsche Bilder gezeichnet und scheinbare Realitäten in die Welt gesetzt werden, um letztlich nur innenpolitischen Stimmungslagen zu genügen. Das reicht
nicht aus; denn der Konflikt in Afghanistan nimmt mit
Sicherheit keine Rücksicht darauf, was uns innenpolitisch zuzumuten ist. Hier sollten wir sehr vorsichtig argumentieren.
Was ist ein realistisches Bild von Afghanistan? Von
beiden Ministern wurde angesprochen, dass sich die
Lage im Jahre 2006 verschlechtert hat. Manche sprechen
sogar von einer dramatischen Verschlechterung. Ein
deutliches Wiedererstarken der Taliban ist unbestreitbar.
Der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen - andere auch -: Die Sicherheitsstatistiken machen deutlich,
dass sich die Zukunft Afghanistans im Süden des Landes
entscheiden wird. Nur wenn es gelingt, die Sicherheit
auch im Süden wiederherzustellen und zu gewährleisten,
dass die Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse befriedigen
kann, kann einem Erstarken der Taliban, einer Hinwendung zu den Taliban, plausibel und anständig entgegengewirkt werden. Gerade vor diesem Hintergrund macht
das vernetzte Sicherheitskonzept, das der Bundesverteidigungsminister angesprochen hat, Sinn, und es bringt
mich zu der Einschätzung, Herr Kollege Schäfer, dass
wir unsere Soldaten eben nicht aus Afghanistan abziehen
dürfen; dass wir dieses Land eben nicht in die Verantwortung der zivilen Kräfte übergeben und sich selbst
überlassen können; dass wir eben nicht davon ausgehen
können, dass Afghanistan in absehbarer Zeit ohne zivile
wie militärische Hilfe und Unterstützung von außen
funktionsfähig sein wird. Alles andere würde bedeuten,
einer Illusion zu erliegen.
({2})
Angesichts des Wiedererstarkens der Taliban darf
auch einmal ein Blick zurück gewagt werden: Im
Jahr 2001 kontrollierten die Taliban etwa 90 Prozent Afghanistans. Damals war es Mädchen verboten, zur
Schule zu gehen. Kino, Fernsehen, Internet, Kameras,
Video, weltliche Musik - das alles war damals verboten.
Frauen war jegliche Arbeit außerhalb des Hauses verboten; das führte dazu, dass viele Frauen dazu gezwungen
waren, auf der Straße zu betteln.
Herr Kollege, ich muss Sie unterbrechen, weil der
Kollege Gehrcke eine Zwischenfrage stellen möchte.
Zu den Damen in Afghanistan, Herr Kollege
Gehrcke? Gerne, bitte sehr.
Herr Dr. zu Guttenberg, Sie argumentieren ähnlich
wie der Außenminister und der Verteidigungsminister
damit, dass sich die Lage in Afghanistan verschlechtert
hat. Ich glaube, in diesem Punkt kann es keine Differenz
geben. Mich würde interessieren, ob Sie auch etwas dazu
sagen können, warum sich die Lage in Afghanistan dermaßen dramatisch verschlechtert hat, welche Hintergründe möglicherweise dazu geführt haben. Es nützt ja
nichts, zu sagen: „Es ist alles schlechter geworden - wir
haben nichts damit zu tun“, wenn man nicht über die
Hintergründe nachdenkt und argumentiert. Darum
möchte ich Sie gerne bitten.
({0})
Herr Kollege Gehrcke, vielen Dank für diese Nachfrage. Ihre Nachfrage bezieht sich im Grunde auf den
Süden und auf den Osten Afghanistans. Im Norden Afghanistans hat sich die Lage alles andere als verschlechtert, und zwar gerade aufgrund der Tatsache, dass wir
dort einem vernetzten Konzept nachgegangen sind - das
allerdings Soldaten impliziert. Diese Notwendigkeit,
Soldaten zu haben, wollen Sie weiterhin absprechen. Ich
möchte nicht wissen, wie es um den Norden Afghanistans heute ohne eine dortige Stationierung von Soldaten
stünde!
({0})
Blicken wir noch einmal zurück auf die Zeit der Taliban - diese Zeit blenden Sie ja völlig aus, Herr
Gehrcke -: Frauen hatten keine Rechte, sie mussten ihren Körper verhüllen. Frauen war ärztliche Behandlung
nur in männlicher Begleitung und nur durch weibliche
Ärzte erlaubt. - Dies muss man sich wieder einmal in
Erinnerung rufen! - Sie konnten also im Grunde überhaupt nicht behandelt werden; denn eine berufliche Tätigkeit war Frauen ja nicht erlaubt. Frauen durften das
Haus nur in Begleitung männlicher Verwandtschaft verlassen. Männer wurden inhaftiert und es wurde ihnen die
Prügelstrafe angedroht, wenn zum Beispiel der Bart zu
kurz war. Mutmaßlichen Verbrechern wurden Körperteile amputiert. Es gab öffentliche Hinrichtungen, Steinigungen und Erschießungen. Es gab die Zerstörung von
Götterbildnissen und ähnliche Dinge. Meine Damen und
Herren, Herr Gehrcke, wir sollten uns auch daran erinnern, wenn es darum geht, unser Afghanistan-Engagement der letzten Jahre zu beurteilen! Auch das muss von
unserer Seite berücksichtigt werden!
({1})
Der entscheidende Faktor ist das Zusammenspiel von
zivilem Aufbau und militärischer Befriedung. Wir
müssen uns bewusst sein: Verabschieden wir uns jetzt
bzw. in absehbarer Zeit - das ist gerade Ihr Vorschlag,
Herr Gehrcke - von einer dieser Komponenten, dann geben wir Afghanistan auf, dann geben wir diese Regierung auf, und dann geben wir faktisch die Menschen in
diesem Lande auf. Das kann nicht gewollt sein, das kann
nicht unser Ziel sein!
({2})
Das soll nicht bedeuten, dass wir nicht gelegentlich auch
selbstkritisch sein müssen, dass „zivilmilitärische“ Konzepte kein Verbesserungspotenzial enthielten und die
Abstimmung zwischen diesen beiden Komponenten
nicht weiter optimiert werden könnte. Es soll auch nicht
bedeuten, dass eine tatsächliche konzeptionelle Ressortkohärenz zwischen den beteiligten Ressorts nicht stattfinden darf und soll. Insbesondere müssen nämlich die
Konzepte der unterschiedlichen Bündnispartner zusammengeführt werden.
Zu OEF und ISAF: Grenzziehungen zwischen Mandaten sollten Trennlinien nicht kaschieren, sondern verdeutlichen. Es bleibt eine Aufgabe für uns alle - in der
Zukunft auch für die Bundesregierung -, uns immer wieder deutlich zu machen, wo diese Trennlinien verlaufen.
Schließlich darf der heute diskutierte und in meinen
Augen sehr wichtige Ausweitungsschritt nicht dazu führen, dass ein klaffend offenes Einfallstor für weitere Begehrlichkeiten gegenüber unseren Soldaten entsteht.
Darauf dürfen wir als Abgeordnete des Bundestags hinweisen.
Wir dürfen Afghanistan nicht aufgeben. Wir müssen
im Rahmen dessen bleiben, was wir auch tatsächlich anbieten und leisten können. Wir dürfen uns keiner Illusion
hingeben: Bis sich Afghanistan - auch im Interesse unserer eigenen Sicherheit - aus eigener Kraft über Wasser
halten kann und wird, werden noch einige Jahre vergehen. Diese Zeit werden wir brauchen. Aber wir müssen
dieses Ziel konsequent verfolgen. Deswegen ist unsere
Unterstützung angebracht, und diese Unterstützung werden wir nächste Woche auch leisten.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Gehrcke.
Herr Kollege zu Guttenberg, Ihre Antwort war, ehrlich gesagt, keine Antwort auf meine Frage, und das wissen Sie auch selber. Deswegen möchte ich ein paar
Punkte in Erinnerung rufen, die ich für unsere Debatte
enorm wichtig finde.
Kann es nicht sein, dass ein immer größer werdender
Teil der Bevölkerung in Afghanistan - sie unterscheidet
nicht zwischen ISAF und der Operation „Enduring Freedom“ - die Truppen immer stärker als Besatzungstruppen statt als Befreier empfindet? Ich habe mir die Mühe
gemacht, mit russischen bzw. damals sowjetischen Generälen zu reden, die in Afghanistan während der russischen Besatzung das Kommando innehatten. Deren Argumente waren fast identisch mit denen, die Sie heute
vorgetragen haben. Sie haben angeregt, zu vergleichen,
was zu der damaligen Zeit von den Regierungen - bei
denen es sich um von außen eingesetzte Regierungen gehandelt hat - an Frauenbefreiung, Bildung und Infrastruktur geleistet worden ist. Wenn Sie das mit der Situation heute vergleichen, ist festzustellen: Afghanistan war
schon sehr viel weiter, und trotzdem sind die sowjetischen Truppen geschlagen worden, weil man weder Revolution noch Demokratie nach westlichen Vorstellungen exportieren kann.
({0})
Das ist für mich der Hintergrund der gesamten Problematik. Sie wollen nicht verstehen, dass ein politischer
Kurswechsel erforderlich ist.
Der Krieg und auch die UN-Resolution hatten - wenn
ich das abschließend ansprechen darf - einen Hintergrund, nämlich die Abwehr einer unmittelbaren Gefahr.
Diese unmittelbare Gefahr besteht nicht mehr. Deswegen gibt es keine rechtliche Grundlage für das, was heute
auf den Weg gebracht wird.
({1})
Danke. - Herr Kollege, Sie können antworten.
Herr Kollege Gehrcke, vielen Dank. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie die heutige UN-Mission in einem
Atemzug mit der Besatzung Russlands nennen.
({0})
Das mag Ihrer Romantik entsprechen; unserer entspricht
es nicht.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4298 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Energie- und umweltpolitische Konsequenzen
der Bundesregierung aufgrund des Klimaberichtes des Weltklimarates IPCC
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Kauch, FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
IPCC-Klimareport und der Stern-Bericht machen deut-
lich: Wir müssen jetzt handeln, um kommenden Genera-
tionen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.
Nach Auffassung der FDP und - so denke ich - des gan-
zen Hauses müssen wir es schaffen, den Temperaturan-
stieg auf zwei Grad zu begrenzen. Dabei muss die Euro-
päische Union mit gutem Beispiel vorangehen. Die
einseitige Verpflichtung der EU auf dem letzten EU-Um-
weltrat, 20 Prozent CO2-Emissionen bis 2020 einzuspa-
ren, ist ein Anfang. Doch ich erinnere an Folgendes: Die
FDP und der gesamte Bundestag haben immer
1) Zu Protokoll gegebene Rede des Abg. Willy Wimmer ({0})
({1}) siehe Anlage 2
30 Prozent gefordert, und zwar unkonditioniert. Die
20-Prozent-Forderung stammt nicht von der Bundesregierung, sondern von der EU-Kommission. Deshalb
finde ich es schon bemerkenswert, dass sich der Bundesumweltminister vor die versammelte Öffentlichkeit
stellt und sagt: Das ist der Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft. - Gerade das ist es nicht.
({2})
Wir sollten nicht vergessen: Der europäische Anteil
an den globalen Emissionen beträgt nur etwa ein Fünftel.
Wenn wir einen Durchbruch im Klimaschutz erreichen
wollen, dann müssen wir die großen Emittenten mit ins
Boot holen: die USA, Indien und China. Das ist zwar
schwerer, als sich in der Europäischen Union durchzusetzen, aber nicht unmöglich. Die Chancen stehen so gut
wie lange nicht mehr. Wir erleben einen Stimmungswandel in den Vereinigten Staaten. Deshalb ist Ihre eigentliche Bewährungsprobe, Herr Gabriel, nicht der Europäische Rat; die Frage ist, ob sich die Bundesregierung
beim G-8-Gipfel im Juni in Heiligendamm durchsetzen
wird, damit wir hier zu verbindlichen Zielen für die weiteren Verhandlungen kommen.
({3})
Wir brauchen in Deutschland mehr Energieeffizienz
und einen Energiemix der Zukunft mit dem Ziel, die fossilen Energieträger nach und nach zu ersetzen. Dabei
müssen alle Seiten Ideologien über Bord werfen. Allen
voran brauchen wir deutlich mehr erneuerbare Energien.
Das geht nicht ohne staatliche Förderung.
({4})
Um die Klimaschutzziele in den nächsten 20 Jahren zu
erreichen, brauchen wir aber auch die Kernkraft als
Übergangstechnologie. Eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke ist erforderlich, solange erneuerbare Energien und CO2-freie Kohletechnik im Grundlastbereich nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung
stehen.
({5})
Studien der Internationalen Energieagentur zeigen aber,
dass vor allem die Energieeffizienz und die CO2-Abscheidung bei Kohlekraftwerken das größte globale Einsparpotenzial besitzen. Selbst wenn wir meinten, wir
bräuchten das Potenzial bei der CO2-Abscheidung in
Deutschland nicht zu nutzen: Die Kohle in Chinas Erde
wird verbrannt werden. Die Frage ist nur, mit welcher
Technologie. Ich meine, es sollte mit guter deutscher
Technologie geschehen. Deshalb müssen wir uns hier
engagieren.
({6})
Ich habe die erneuerbaren Energien angesprochen.
Jahrelang hat die Bundesregierung ihre Nutzung im
Wärmemarkt im Vergleich zur Stromproduktion vernachlässigt. Auch heute herrscht in der Koalition das
blanke Chaos, wenn es um die Frage geht, ob und wie
man den Entwurf eines Wärmegesetzes zur Förderung
erneuerbarer Energien durchbringen will. Der SPD fällt
nichts Besseres ein als die simple Kopie des EEG für die
Wärme. Die CDU/CSU weiß gar nicht, was sie will.
Frau Reiche, die heute leider nicht da ist, erzählt jede
Woche etwas anderes. Frau Dött, ich wüsste gleich von
Ihnen gerne, welche Position die Union in dieser Frage
einnimmt.
Für die FDP erkläre ich: Diese Regierung muss endlich den Entwurf eines Wärmegesetzes vorlegen, und
zwar auf der Basis einer Mengensteuerung. Langfristig
muss der Wärmebereich in den europäischen Emissionshandel einbezogen werden; denn durch einen sektorübergreifenden Handel mit der Industrie wird die Wirtschaft die kostengünstigsten Wege der CO2-Einsparung
finden. Das kann die Politik nicht selbst erreichen.
({7})
Neben der Biomasse hat die Solarenergie eine große
Zukunft. Deutsche Unternehmen haben hier die Technologieführerschaft. Das müssen wir nutzen, ökonomisch
und ökologisch. Gerade im Wärmemarkt und auf den
Auslandsmärkten liegen ungenutzte Chancen.
Doch was tut die Bundesregierung? Wirtschaftsministerium, Umweltministerium und Entwicklungshilfeministerium haben keine abgestimmte Strategie. Herr Glos
als federführender Minister verschläft das Thema total.
Schauen Sie sich an, was in Entwicklungsländern, beispielsweise in Afrika, passiert! Mitten in Wüstengebieten laufen Dieselgeneratoren, und die Stromversorgung
erfolgt in einer Insellösung. Das ist ein klassisches Feld
für Solarenergie, mit der man schon heute wirtschaftlich
arbeiten könnte. Wenn man sich aber auf den Auslandsmärkten nicht engagiert und stattdessen lieber im verregneten Deutschland Solaranlagen mit hohen Sätzen fördert, dann kommt so etwas heraus, und dann werden
Mittel falsch verwendet. Deshalb müssen wir an dieser
Stelle umsteuern.
Herr Kollege Kauch, in der Aktuellen Stunde beträgt
die Redezeit fünf Minuten.
Ja. - Abschließend möchte ich sagen, dass wir zusammen ein Klimaschutzprogramm erarbeiten müssen, das
wirklich konsistent ist; denn Klimaschutz ist mehr als
Glühbirnen, Toyota und andere Einzelvorschläge, die
täglich durch die Medien gejagt werden.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, eigentlich habe ich immer geglaubt, dass sich die FDP ernsthaft mit der Klimaschutzproblematik beschäftigt.
({0})
Die heutige Aktuelle Stunde belehrt mich jedoch eines
Schlechteren.
({1})
Sie erwarten doch nicht allen Ernstes, dass sich dieses
gewichtige Thema mal so in einer Stunde abhandeln
lässt.
({2})
Da zeigen die grünen Kollegen mehr Seriosität,
({3})
wenn sie für morgen eine geordnete Debatte über Klimaschutz und Verkehr auf die Tagesordnung heben. Mit einer aktuellen FDP-Stunde wird man diesem Thema nicht
gerecht.
Diese Aktuelle Stunde ist eher die verkrampfte Suche
nach einer weiteren Schlagzeile in den Medien. Schlagzeilen allerdings haben wir seit dem Bericht des Weltklimarates in den letzten Wochen zur Genüge gehabt. Woran es immer noch mangelt, sind realistische Vorschläge,
wie man den wachsenden Sorgen der Menschen begegnet. Darüber würde sich eine gutvorbereitete Diskussion
lohnen. Zugegebenermaßen ist das dann aber vielleicht
nicht ganz so schlagzeilenträchtig. Den „Schweiß der
Edlen“, wie unser Kollege Herr Riesenhuber immer sagt,
wäre es allemal wert.
Ich wundere mich in den letzten Tagen zunehmend
über den Einfallsreichtum aller politischen Parteien
- leider manchmal auch der meinen - im Erfinden von
Patentrezepten, mit denen wir den Klimawandel stoppen
sollen. Ein Glanzstück kreativer Realpolitik sind Diskussionen über Sonntagsfahrverbote, Politikerwerbung für
ausländische Automarken und Verbot von Glühbirnen
jedenfalls nicht. Mit solchen Kinkerlitzchen schaffen wir
es höchstens, dass sich die Leute wieder einmal mit
Schaudern von der Politik abwenden. Dem Klima hilft
das nicht.
Das Wettrennen um immer höhere Treibhausgasreduktionen und Ausbauziele für erneuerbare Energien
nimmt ebenso manchmal komödiantische - oder besser:
tragikomische - Züge an. Den Klimaoscar wird dann der
bekommen, der als erster hundert sagt. Das ist dann aber
dummerweise auch hundertprozentig unrealistisch. Seriöse
Politik läuft anders.
({4})
Real ist, dass die Zahl der Menschen auf diesem Planeten bis 2030 um etwa 50 Prozent ansteigen wird und
dass diese Menschen ein Recht auf eine gesicherte Versorgung mit Energie haben, das gleiche Recht wie wir.
Deshalb kann nur eine globale Gesamtstrategie etwas am
Klimawandel ändern. Nationale Alleingänge führen global wie national in die Sackgasse.
({5})
Wahr ist auch, dass der Anteil Deutschlands an den globalen CO2-Emissionen mit derzeit unter 4 Prozent schon
fast als verschwindend gering bezeichnet werden kann
und sich angesichts des weltweit wachsenden Energiehungers weiter vermindern wird. Selbst eine kurzfristige
Reduktion des deutschen CO2-Ausstoßes auf Null hätte
keine Wirkung auf den Klimawandel. Ich gehe darauf
gleich noch ein. Sie würde allerdings eines sicherlich
deutlich ansteigen lassen: die Arbeitslosigkeit in
Deutschland.
Die Klimapolitik muss daher von allen Akteuren und
insbesondere von denen, die sich im Wettrennen um immer höhere Treibhausgasreduktionszahlen und um den
Ausbau erneuerbarer Energien zu profilieren versuchen,
endlich als Teil der Gesamtpolitik und damit auch der
Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik begriffen
werden.
({6})
Das mag manche mentale Probleme bereiten; aber die
Wahrheit ist oftmals sehr hart.
Wahr ist auch, dass wir zum Beispiel bei der Nutzung
der Biomasse zur Energiegewinnung mancherorts
bereits jetzt an Grenzen stoßen. Horrend gestiegene
Maispreise in Mexiko, zunehmende Konversion landwirtschaftlich wertvoller Flächen von der Nahrungsgewinnung zur Energieerzeugung in Südamerika, Palmölplantagen statt Regenwald in Südostasien: Wer
angesichts solcher Entwicklungen die Nutzung der Biomasse noch immer wie eine allseligmachende Monstranz
vor sich herträgt, redet einem ökologischen Imperialismus das Wort.
({7})
Zur Wahrheit gehört auch, dass ein Verzicht auf die
friedliche Nutzung der Kernenergie alle Klimaziele - realistische und erst recht unrealistische - konterkariert.
({8})
Alle anderen um uns herum haben das verstanden und
schütteln zu Recht den Kopf über uns. Aber ich bin fest
überzeugt: Viele heutige Kernkraftgegner werden irgendwann in der Realität ankommen. Ich werde sie dann
herzlich willkommen heißen.
Zur Realität gehört weiter, dass Klimaschutz und
Energiepolitik nicht erst mit dem Bericht des Weltklimarates entdeckt wurden. Die Klimarahmenkonvention und
das Kiotoprotokoll wurden ganz wesentlich durch CDUUmweltminister zum Erfolg geführt. Klaus Töpfer und
Angela Merkel haben klimapolitische Geschichte geschrieben.
Der Klimawandel ist ein ernstes Problem, und deshalb sollten wir es ernsthaft diskutieren; das heißt Verzicht auf Schnellschüsse, populistische Phrasen
Frau Kollegin!
- und Effekthascherei. Realismus ist das Gebot der
Stunde.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der dramatische IPCC-Bericht fordert ein energisches
Handeln, und zwar bereits in den nächsten zehn bis
15 Jahren. Wir sollten uns einmal bildlich vorstellen
- ich glaube, Herr Schellnhuber hat es so dargestellt -:
Es gibt ein Zeitfenster, das zehn bis 15 Jahre geöffnet ist,
bevor es unwiderbringlich geschlossen ist. Das müssen
wir den Kindern und den Kindeskindern sagen. Weltweit, in Europa und auch in der Bundesrepublik müssen
wir unserer Verantwortung gegenüber den zukünftigen
Generationen gerecht werden.
Ich komme jetzt auf das Ziel zu sprechen, bis
2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßes einzusparen. Sie
haben immer noch nicht verbindlich erklärt, dass unser
Land das einhalten will. Darauf warten wir immer noch.
({0})
- Herr Kelber, schauen Sie sich bitte den Beschluss an. Sie haben eine solche Erklärung an die EU-CO2-Minderung von 30 Prozent gekoppelt. Die EU hat allerdings
nicht beschlossen, 30 Prozent einzusparen; laut Energiepaket der Kommission soll sich die EU nur dann dazu
bekennen, 30 Prozent einzusparen, wenn sich alle Industriestaaten zur Erreichung dieses Ziels verpflichten. Ansonsten sind minus 20 Prozent anzustreben. Bitte,
schauen Sie in die Papiere.
Wir müssen Frau Merkel noch einmal dazu auffordern, im Rahmen der EU-Präsidentschaft und auch beim
G-8-Gipfel in Heiligendamm etwas durchzusetzen. In
Heiligendamm werden auch wir sie unterstützen.
({1})
- Das ist doch die Unterstützung.
({2})
Wir fordern von Frau Merkel eine klare Positionierung zum Klimaschutz. Wir meinen, dass sie das Ruder
bis zum Frühjahrsgipfel herumreißen muss, damit in
Deutschland dieser Beschluss gefasst wird. Dieser Beschluss muss von einem Energieeffizienzprogramm und
einer Technologieoffensive für Sonne, Wind und Wärme
flankiert werden.
Für die Atomkraft bleibt einfach kein Raum. Sie behindert einen grundlegenden Umbau unseres Energiesystems. Zum Thema Arbeitsplätze - stellen Sie selbst
den Vergleich an -: Regenerative Energien schaffen
neue, zukunftsfähige, existenzsichernde Arbeitsplätze.
Solche Arbeitsplätze wollen wir doch alle, oder, Frau
Dött?
({3})
Wohin sich der Energiemix in den nächsten 50 Jahren
entwickelt, wird insbesondere durch die Erneuerung des
Kraftwerkparks bestimmt, die zu großen Teilen in die
nächste Emissionshandelsperiode fallen wird. Darum ein
paar Worte zum jüngst revidierten NAP II, zum Verteilungsplan der Zertifikate.
({4})
Zu begrüßen ist hier die auf Druck der EU nunmehr
um 26 Millionen Tonnen deutlich nach unten korrigierte
Emissionsobergrenze.
({5})
Zum Vergleich: Der noch bis Ende dieses Jahres laufende erste Zuteilungsplan, welcher unter Rot-Grün verabschiedet wurde, sieht de facto eine Erhöhung der
Emissionen vor, und zwar um 6,5 Prozent.
({6})
Nun sind es mit den 456 Millionen Tonnen für den Zeitraum 2008 bis 2012 immerhin rund 7,5 Prozent weniger
gegenüber dem Vergleichszeitraum 2000 bis 2005.
Die Art der Zuteilung für Altanlagen hat sich geändert. Zukünftig orientiert sich die Zuteilung an festgelegten Standards und nicht mehr an den Emissionen der
Vergangenheit. Ich denke, die Lenkungswirkung wird
hier wesentlich besser sein.
Bedauerlich ist aus unserer Sicht allerdings die Trennung in Kraftwerke, die mit festen Brennstoffen, und
solche, die mit Gas betrieben werden. Dass die Erstgenannten so viele CO2-Zertifikate bekommen, wie ein
durchschnittliches Steinkohlenkraftwerk ausstoßen
würde, geht zulasten der klimaschädlicheren Braunkohle, was erst einmal in Ordnung ist. Es entsteht so
aber kaum Druck, von der Steinkohle auf das deutlich
emissionsärmere Gas zu wechseln; denn Gaskraftwerke
erhalten nur halb so viele Zertifikate.
Den intelligenteren Weg sind Schweden und Großbritannien gegangen. Dort erhalten alle Neuanlagen brennstoffunabhängig nur so viele Emissionsrechte, wie ein
effizientes Gaskraftwerk benötigen würde. Das nenne
ich einen Anreiz zum Brennstoffwechsel. Bitte überlegen Sie noch einmal!
Die große Frage ist nun, ob die vielen angekündigten
neuen Steinkohlenkraftwerke tatsächlich gebaut werden.
Das wäre, gelinde gesagt, eine Katastrophe; denn dann
würde Deutschland alle Klimaschutzziele verfehlen.
Bitte überlegen Sie noch einmal, in welche Richtung wir
gehen wollen. Wollen wir das wirklich, wollen wir wirklich CO2 emittieren?
Das größte Manko des aktuellen Zuteilungsplanes ist
- diesen Hinweis möchte ich Ihnen nicht ersparen; er gehört einfach dazu - die weiterhin kostenlose Vergabe der
Zertifikate. Sie sichert den Stromkonzernen Milliarden
Extraprofite zulasten der Verbraucher. Sie erzielen nach
unseren Berechnungen Windfall-Profits in Höhe von
5 Milliarden Euro im Jahr; es kann auch ein bisschen
mehr sein. Dieses Geld wollen wir für den Staatshaushalt haben. Wir hätten auch einen guten Vorschlag bezüglich der Verwendung: für regenerative Energien. Gemeinsam würde uns sehr viel einfallen. Da könnten wir
trefflich streiten im Sinne von CO2-Reduzierung und
Klimaschutz.
Danke.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach den Aussagen der diversen IPCC-Berichte - manche sind ja schon öffentlich
geworden, obwohl sie noch nicht offiziell veröffentlicht
worden sind; diese Aussagen sind alle sehr realistisch gibt es drei Erkenntnisse.
Erstens. Der Mensch ändert das Klima. Das ist nicht
mehr zu bestreiten.
Zweitens. Das hat jetzt und in Zukunft dramatische
Auswirkungen. Wenn wir das 2-Grad-Ziel nicht überschreiten wollen - das dürfen wir auch nicht -, dann
müssen wir uns bei ungefähr 420 ppm einpendeln und
dürfen nicht darüber hinausgehen. Es gibt also eine neue
Dramatik; denn bisher sind wir immer von 450 ppm ausgegangen.
Drittens. Wir haben vielleicht noch zehn bis 15 Jahre
Zeit, um massiv umzusteuern.
Das Ganze kann man jetzt so oder so sehen. Man
könnte sagen: Um Gottes willen, das ist ja eine erschreckende Erkenntnis. Unsere Lebensweise ist nicht zukunftsfähig. - Bei dieser Feststellung erschrickt man erst
einmal. Man könnte es aber auch positiver formulieren
und sagen: Es geht; denn es ist noch nicht zu spät.
Jetzt ist weder die Zeit für Untergangsphilosophien
noch ist es die Zeit für diejenigen, die weiter hinauszögern, verlangsamen und beschwichtigen wollen. Es ist
deshalb auch nicht die Zeit des Karl Feldmeyer, der in
der „Recklinghäuser Zeitung“ - Recklinghausen ist mein
Wahlkreis; aber er schreibt ja auch anderswo - am
24. Februar unter der Überschrift „Nur keine Panik“ einen Kommentar geschrieben hat. Ich erlebe das gleiche
Argumentationsmuster gelegentlich auch in der politischen Debatte. Er hat geschrieben:
Ob wir drei, dreieinhalb oder vier Prozent Kohlendioxid in die Luft blasen,
- mit „wir“ meint er Deutschland ist für den weiteren Verlauf der Klimaveränderung
nicht von entscheidender Bedeutung. Dazu ist unser
Ausstoß zu gering. Sich einzureden, von uns hinge
die weitere Entwicklung ab, wäre eine lächerliche,
maßlose Selbstüberschätzung.
Daran ist etwas wahr und etwas nicht wahr.
Wahr ist, dass die deutschen Emissionen - das ist gerade schon ausgeführt worden - weltweit 3 bis 4 Prozent
ausmachen. Die Welt wäre nicht dadurch zu retten - das
ist völlig klar -, dass diese 3 oder 4 Prozent nicht da wären.
Wahr ist allerdings auch, dass von uns sehr wohl die
weitere Entwicklung abhängt. Wir, die Abgeordneten
der G-8-Staaten und der fünf Schwellenländer, haben bei
einer Konferenz in Washington, in die die Kanzlerin ein
Grußwort eingespeist hat, gelernt, dass die Welt sehr
wohl auf Deutschland und auf Europa schaut, darauf,
was wir hier eigentlich machen, weil das Ganze nämlich
- ich habe es hier schon einmal gesagt - wie ein Dominoeffekt ist. Das Schwarzer-Peter-Spiel muss aufhören.
Diejenigen, die in den letzten 150 Jahren und darüber hinaus eine Lebensweise entwickelt haben, die eben nicht
zukunftsträchtig ist, müssen vorwegmarschieren. Wenn
wir hier in Deutschland das nicht tun, dann wird uns niemand folgen; dann werden wir niemanden in China und
Indien hinter dem Ofen hervorlocken können, weil die
Menschen dort zu Recht nicht einsehen, warum sie etwas tun sollen.
({0})
Die Logik ist also: Wir müssen vorwegmarschieren.
Wir müssen die USA dazubekommen. Da ist Bewegung.
Wir müssen es dann schaffen, auch die Schwellenländer,
wo die CO2-Emissionen in Zukunft steigen, dazuzubekommen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Debatte hat
in den letzten Monaten eine unglaubliche Dynamik bekommen - mit Auswirkungen auch für die Situation dieser Gesellschaft, glaube ich, die wir alle noch gar nicht
einschätzen können. Es gibt allerdings auch Stilblüten in
der Debatte. Eine Stilblüte war die Frage der Glühbirnen ein in der Tat sehr wichtiges und interessantes Thema.
Dass aber gerade die Australier, die pro Kopf den höchsten CO2-Ausstoß haben, jetzt mit solchen Vorschlägen
gekommen sind, vielleicht auch gedacht haben, das wäre
es dann gewesen, ist schon etwas seltsam.
Eine zweite Stilblüte ist in der Tat die Debatte um die
Atomenergie. Wer da alles jetzt Klimaschutz betreiben
will und schon immer der größte Klimaschützer war,
wundert schon sehr. Das sind nämlich diejenigen, die
- das Thema Emissionshandel ist gerade angesprochen
worden - unbedingt, auf Deuwel komm raus jetzt ein
Braunkohle-Benchmark durchsetzen wollen. Das sind
genau diejenigen, die sagen: Mit der Atomenergie wollen wir das Klima retten. - Hinter diese Argumentation
kann man schon ein Fragezeichen setzen. Man muss
vielleicht auch sagen: Manches in der Debatte führt in
die Irre.
({1})
Es gibt drei Bedingungen, dem Klimawandel zu begegnen. Erstens wissenschaftliche Erkenntnisse - die haben wir jetzt -, zweitens Unterstützung durch die Menschen, die Wählerinnen und Wähler - die haben wir
auch; das kann man feststellen - und drittens politischer
Mut; den brauchen wir, und zwar alle gemeinsam. Wir
brauchen klare, verbindliche Ziele. Wir brauchen Ziele
im Bereich der Energieeffizienz; denn die Energieeffizienz ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage
des Wollens. Ich finde es gut, dass man sich in den im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien offenbar auf
neue Ziele verständigt. Auch die Förderung der erneuerbaren Energien ist keine Frage des Könnens, sondern
eine Frage des Wollens.
Um das noch einmal klarzustellen: Wir wollen, dass
Europa bis 2012 30 Prozent einspart. Deutschland soll
sich bekennen - und bekennt sich - zum 40-ProzentZiel. Wir wollen dann mithelfen, anzustoßen, dass wir
alle gemeinsam im Dezember in Indonesien ein Verhandlungsmandat für Kioto II bekommen.
In der Debatte in den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass die Selbstverpflichtungen ausgedient haben. Das, denke ich, kann man hier feststellen, auch anlässlich der Debatte um den CO2-Ausstoß von PKWs.
({2})
Die Selbstverpflichtungen haben ausgedient. Es ist notwendig, dass Politik mutig ist, dass Politik Rahmenbedingungen setzt und bestimmte Grenzwerte vorgibt. Das
ist gut für das Weltklima, für die Debatte um den Klimawandel; es ist aber auch gut - davon bin ich fest überzeugt - für die heimische Wirtschaft und für die heimische Industrie, weil nur diejenigen, die zukünftig
Produkte klimagerecht herstellen, auch weltweit erfolgreich sein können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Loske für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ist es schwierig, in fünf Minuten in einer Aktuellen Stunde über dieses Thema zu reden. Ich will es
trotzdem versuchen, zumal man sich über jeden Lernfortschritt freuen sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der FDP. Ich erinnere mich noch an die Zeit zwischen 1998 und 2005, in der Sie von 18 Umweltgesetzen
18 abgelehnt haben, darunter auch das ErneuerbareEnergien-Gesetz. Sie sind nun einen Schritt weitergekommen, allerdings noch nicht so ganz weit; denn wenn
Sie sagen, man solle in Deutschland, diesem verregneten
Deutschland, wie wir gerade wieder sehen, darauf verzichten, die Nutzung der Solarenergie auszubauen, ist
das ein großer Fehler. Sie verkennen, dass man zuerst
auf den Heimatmärkten Kompetenz demonstrieren
muss, um dann durch große Serien Kostensenkungen zu
erreichen und auf den Weltmärkten mitzuspielen. Diese
Tatsache haben Sie noch nicht ganz verstanden.
({0})
Kollegin Dött sprach davon, dass Realismus das Gebot der Stunde sei. Dem will ich ausdrücklich beipflichten; allerdings denke ich, dass ich Realismus anders interpretiere als sie. Wenn man sich die Zahlen, die eben
schon vom Kollegen Schwabe angesprochen wurden,
vor Augen führt, dann kann einem ganz schön schwindelig werden - um das ganz deutlich zu sagen -: Vorindustriell lag die CO2-Konzentration bei 280 ppm, also Teilen pro Million; jetzt liegt sie bei 383 ppm, jedes Jahr
steigt die Zahl um 2,5 ppm. Die Klimaforscher sagen,
die Zahl müsse bei maximal 420 ppm stabilisiert werden, um einen Klimawandel zu verhindern, der nicht
mehr kontrollierbar wäre. Deswegen heißt Realismus in
der Problemanalyse heute Radikalität im Handeln. Das
ist unsere Interpretation des Ganzen.
({1})
Jetzt kurz zu dem, was aktuell beschlossen wird.
Wenn man sich diese Zahlen vor Augen führt - wir müssen bis 2050 mindestens minus 80 Prozent erreichen;
besser wäre, wir würden Mitte dieses Jahrhunderts kohlenstofffrei wirtschaften -, erkennt man, dass die Ziele,
die jetzt vom Umweltministerrat in Brüssel beschlossen
worden sind, keinen historischen Durchbruch bedeuten;
die Entscheidung ist eher ein bisschen hasenfüßig. Herr
Minister, Sie sagen, es sei ein historischer Durchbruch;
ich würde Ihnen gerne beipflichten. Selbst die Europäische Union nimmt sich nicht mehr vor, als den CO2-Ausstoß bis 2020 gegenüber 1990 um 20 Prozent zu reduzieren. Eine Reduzierung um 20 Prozent in 30 Jahren
bedeutet, dass der Ausstoß jährlich um nur ein zwei Drittel Prozentpünktchen gesenkt werden soll. Das ist kein
historischer Durchbruch; das ist Halbherzigkeit.
({2})
Hinzu kommt, dass jeder sein eigenes Handeln konditioniert. Es gibt im Moment das Paradox, dass jeder sein
Handeln an das Handeln anderer knüpft: Die Bundesregierung sagt: Wir reduzieren den CO2-Ausstoß um
40 Prozent, wenn die EU ihn um 30 Prozent senkt. Die
EU sagt: Wir senken den Ausstoß um 30 Prozent, wenn
andere ihn auch um 30 Prozent senken. Anstatt eine Vorreiterrolle einzunehmen, beäugt man sich gegenseitig.
Auch das zeugt nicht von besonderem Mut.
({3})
Wir kritisieren auch, dass die Ziele im Bereich der erneuerbaren Energien - ihr Anteil an der Energieversorgung soll 20 Prozent betragen - unverbindlich im Raum
stehen, also nicht verbindlich vereinbart worden sind.
Wir hätten von den Umweltministern mehr erwartet. Die
Energie- und Wirtschaftsminister haben es gerne unverbindlich; von den Umweltministern hätte ich allerdings
schon erwartet, dass sie sagen: Das muss verbindlich
festgeschrieben werden. Dies wurde aber nicht durchgesetzt.
Genauso ist es mit den CO2-Grenzwerten bei den Automobilen. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass sich
die Umweltminister, die normalerweise beim Klimaschutz am stärksten auf die Tube drücken, dem Vorschlag von Herrn Dimas - ein Grenzwert von
120 Gramm CO2 pro Kilometer bis 2012 - angeschlossen hätten und nicht den faulen Kompromiss nachgebetet hätten, der zwischen Industriekommissar Verheugen,
der Bundesregierung und der restlichen Kommission
vereinbart wurde. Es wäre mutig gewesen, sich Herrn
Dimas anzuschließen. An Mut fehlt es leider aber auch
hier.
({4})
Ich komme zu einem Thema, das innenpolitisch eine
Rolle spielt. Den Vorschlag, herkömmliche Glühlampen
zu verbieten, konnte man in der Tat karikieren. Der
Grundgedanke ist vollkommen richtig: Warum sollen
wir noch Technologien einsetzen, die einen Wirkungsgrad von nur 5 Prozent haben, die gar nicht mehr auf der
Höhe der Zeit sind? Wenn ich das richtig sehe, sagen wir
alle hier im Hause: Wir wollen den Top-Runner-Ansatz
verfolgen. Das heißt, bei elektrischen Anwendungen
setzt der Beste den Standard; wer diesen Standard nicht
innerhalb von drei oder fünf Jahren erfüllt, der fliegt
vom Markt. Das halte ich für einen guten Ansatz. Ich erwarte aber von der Bundesregierung, dass sie das nicht
nur als Idee in den Raum wirft, sondern dass sie jetzt bei
der Umsetzung der Eco-Design-Richtlinie und bei der
Energieeffizienzrichtlinie wirklich Nägel mit Köpfen
macht, sodass alle elektrischen Anwendungen, die nicht
effizient sind, so schnell wie möglich vom Markt fliegen. Das erreicht man nicht über Verbote, sondern über
den Top-Runner-Ansatz. Da muss jetzt aber etwas kommen. Wir erwarten, dass Sie nicht nur ankündigen, sondern auch wirklich liefern.
Ein weiterer Punkt: der Emissionshandel. Uns ist klar
geworden: Es ist überhaupt nicht ausreichend, wenn der
vorgeschriebene Wirkungsgrad von Kohlekraftwerken
demnächst von 35 Prozent auf 42 Prozent steigt. Vor allen Dingen ist zu beachten: Die Kraftwerke laufen bis
2050. Je mehr Kohlekraftwerke wir bauen, desto stärker
zieht sich der klimapolitische Handlungshorizont zu. Irgendwann können wir gar nichts mehr machen. Deshalb
können wir das, was im Zusammenhang mit Kohlekraftwerken geplant ist, nicht akzeptieren. Deswegen muss
der Emissionshandel weiter verschärft werden. Dies ist
von absolut zentraler Bedeutung.
({5})
Der letzte Punkt - dann bin ich fertig, Frau Präsidentin -: die Vorschläge von Herrn Tiefensee zur Umstellung bei der Kfz-Steuer. Man hätte sich darüber freuen
können, dass Herr Tiefensee vorschlägt, die Kfz-Steuer
so umzustellen, dass ihre Höhe vom CO2-Ausstoß abhängt. Darüber diskutieren wir schon seit Jahren. Dann
fragt man nach: Ist das im Kabinett abgestimmt? Die
Antwort lautet: Nein, das war so eine Idee. Ist das mit
den Ländern abgestimmt? Nein, das war so eine Idee.
Von der Regierung erwarte ich nicht nur gute Ideen, sondern auch umsetzungsfähige Vorschläge. Daran hapert es
bei dieser Regierung im Moment leider noch.
Danke schön.
({6})
Nun hat das Wort der Kollege Andreas Jung für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der neue Bericht des IPCC ist in dieser Deutlichkeit dramatisch; aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen:
Überraschen kann er niemanden. Wir haben ja über
Jahre den Erkenntnisfortschritt verfolgt; schon die letzten Berichte des IPCC sind in diese Richtung gegangen,
und wir selber merken, wenn wir nur herausschauen
oder herausgehen, dass sich schon heute etwas verändert. Spätestens jetzt müsste aber der Letzte kapiert haben: Wir reden nicht nur darüber, ob der Klimawandel irgendwann kommt, sondern der Klimawandel ist schon
da und beschleunigt sich.
Wir müssen jetzt handeln, weil wir - das ist schon angesprochen worden - nur noch ein Zeitfenster von zehn
oder 15 Jahren haben, um tatsächlich wirksam zu handeln. Deshalb geht von diesem Bericht an alle die Botschaft aus: Die Zeit des Redens und der schönen Worte
ist vorbei! Wir müssen entschieden, konsequent und entschlossen handeln!
Andreas Jung ({0})
({1})
Ich kann Sie beruhigen: Die Große Koalition hat dies
von der ersten Stunde an getan. Sie hat ja nicht nur das,
was Rot-Grün gemacht hat, weitergeführt - ich denke an
den Bereich der regenerativen Energien mit dem EEG,
wo wir genau das, was Sie getan haben, weitergeführt
haben -, sondern wir haben das Maßnahmenpaket sogar
noch aufgestockt. So haben wir für Energiesparprogramme und das Gebäudesanierungsprogramm Mittel in
erheblichem Umfange in die Hand genommen - über
4 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode - und machen damit in diesen Bereichen mehr als Rot-Grün in der
letzten Wahlperiode. Dasselbe gilt auch für den Nationalen Allokationsplan II. Wir haben die Ziele der Europäischen Kommission akzeptiert und machen damit auch in
diesem Bereich mehr als die Vorgängerregierung.
Vor allem: Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz persönlich haben sich darüber hinaus vom ersten Augenblick an zu der Vorreiterrolle bekannt, die die
Bundesrepublik Deutschland über viele Regierungen
hinweg im Klimaschutz eingenommen hat.
({2})
Deshalb hat sie im Rahmen der Vorbereitung der deutschen Präsidentschaften im Europäischen Rat und der
G 8 gesagt: Klimaschutz ist für uns ein Topthema. Ich
denke, hier müssen wir anknüpfen. Deshalb muss an
alle, die bisher beim Klimaschutz außen vor stehen
- von den Schwellenländern über China bis hin zu den
USA -, die Botschaft gesandt werden: Macht mit und
kommt mit ins Boot! Die USA müssen wir an ihre Verantwortung als Führungsmacht, die sie ja sein wollen, erinnern und ihnen deutlich machen: Eine Führungsmacht
kann nur ein solcher Staat sein, der sich bei Maßnahmen
gegen den Klimawandel nicht verweigert.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Handeln,
nicht Reden - das muss auch unsere Botschaft an die
Lufthansa und an die Schweiz sein. So droht nämlich
jetzt die Lufthansa damit, dass sie, wenn wir den Flugverkehr in den Emissionshandel miteinbeziehen - das
halte ich für notwendig und unverzichtbar -, Flüge von
Frankfurt nach Zürich verlagern würde. Das kann nicht
sein. Da müssen wir die Schweiz daran erinnern, dass ihr
zuständiger Minister Moritz Leuenberger in Nairobi
sagte, die Schweiz wolle eine weltweite CO2-Steuer.
Nachdem er in Nairobi so stark aufgetreten ist, erwarten
wir, dass er das dann auch zu Hause umsetzt. Die
Schweiz muss verhindern, dass sie zu einer CO2-Oase
für klimaschädlichen Flugverkehr wird.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, ich will auch Ihnen noch eine Botschaft mit auf den
Weg geben. Nachdem ich in der letzten Woche für die
Nutzung von Holz als Energieträger geworben habe, hat
mich Ihre Parteibasis kritisiert und gesagt, mit meiner
Werbeveranstaltung - so wurde das formuliert - für
Holzenergie und für Holzöfen würde ich eine fatale - so
heißt es wörtlich - Richtung einschlagen. Ein Stadtrat
der Grünen versteigt sich sogar zu der Behauptung:
Während der ganzen Fasnacht habe über Konstanz eine
riesige Feinstaubwolke gehangen, verursacht natürlich
von Holzöfen bzw., wie er es aus seiner Sicht formulierte, von Dreckschleudern.
Wenn man für Klimaschutz eintritt, sollte man wissen, dass Holz dazu einen wichtigen regionalen Beitrag
leisten kann. Zudem ist Feinstaub nicht gleich Feinstaub! Es gibt Feinstaub, der sehr viel gesundheitsschädlicher ist als der, der bei der Verbrennung von Holz entsteht, wie Wissenschaftler belegen, nämlich der, der bei
der Verbrennung von Öl und Diesel entsteht. Vor diesem
Hintergrund sollte man nicht so reden, wie es einige
Grüne getan haben. Vielmehr sollte man zur Kenntnis
nehmen, dass die Große Koalition das Thema Feinstaub
ernst nimmt und für neue Anlagen strengere Grenzwerte
einführen will. Für ein völlig falsches Signal halte ich es
aber, wenn man den Bürgerinnen und Bürgern, die in der
Vergangenheit durch die Politik motiviert wurden, einen
kleinen Holzofen einzubauen, um etwas für die Umwelt
zu tun, nun, wie es mancher tut, sagt, damit verursachten
sie das größte Problem für die Umwelt und die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Ich
glaube, das ist falsch. Deshalb bitte ich Sie, Ihrem Parteikollegen schöne Grüße auszurichten. Nicht jeder, der
an Fasnacht benebelt ist, sollte gleich an eine Feinstaubwolke glauben.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Gudrun Kopp
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Lassen Sie mich vorweg einmal klarstellen, was
der Kollege Kauch eben hier für die FDP-Bundestagsfraktion zur Nutzung der Solartechnologie gesagt hat.
Lieber Herr Loske, er hat ganz klar davon gesprochen,
dass der Schwerpunkt der Nutzung der Solartechnologie
auf ausländischen Märkten zu sehen sein soll; er hat
nicht gesagt, dass sie aus Deutschland zu verbannen sei.
Das ist ein sehr wichtiger Unterschied.
Im Übrigen vermisse ich in dieser Debatte wieder einmal konkrete Konzepte. Frau Dött, Sie haben hier Abwehrgefechte geführt, indem Sie gesagt haben, was alles
nicht geht und wer was wo und wie falsch macht. Aber
wir hätten heute sehr gerne einmal etwas über Ihr Konzept gehört. Wie steht beispielsweise diese Koalition
oder wenigstens die CDU/CSU zum Wärmegesetz? Will
sie das Wärmegesetz nun, oder will sie es nicht? Und
wie stehen Sie zu einem Wärmegesetz auf der Grundlage
einer Mengensteuerung, wie die FDP es vorgeschlagen
hat?
({0})
Aber vielleicht hören wir dazu ja noch etwas.
Die Grünen und andere sprechen sich gegen die Kohleverstromung aus. Außerdem lehnen die Grünen die
weitere Nutzung der Kernenergie ab; in der Koalition
gibt es über dieses Thema Streit. Wie wollen Sie denn
die Energieversorgung und den Umweltschutz zueinanderbringen? Natürlich muss man sehen, was realistisch
ist. Die fossilen Energieträger werden noch eine Weile
gebraucht werden. Allerdings müssen wir sehr großen
Wert darauf legen, dass die neuesten Technologien verwendet werden. Insofern setzen wir auf die verstärkte
Förderung der Clean-Coal-Technologie. Aber insgesamt
sind wir der Überzeugung, dass ein breit angelegter
Emissionshandel tatsächlich das beste Lenkungsinstrument sein könnte
({1})
und dass es neben dem Zertifikatehandel, unter den alle
Energiebereiche zu fassen sind, die Parallelinstrumente,
die wir heute haben, wie das EEG, die KWK oder vieles
mehr, nicht weiterhin geben sollte.
({2})
Verfügbare Energie ist ein Wohlstandsbarometer. Die
Klimaschutzdebatte ist ja nicht neu; wir müssten eigentlich längst wissen, was die Stunde geschlagen hat. In
diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen, vor allem an
die Adresse der Regierung und der Koalitionsfraktionen
gerichtet, etwas vorhalten. Die neueste Studie von A. T.
Kearney zeigt, dass in allen Ländern, in denen eine Liberalisierung und Regulierung des Energiemarktes erfolgt
ist, die jeweiligen Regierungen die Steuern und Abgaben
enorm erhöht haben. Durch die derzeitige Regulierung
wurde bislang - das hat die Bundesnetzagentur vor zwei
Tagen kundgetan - eine Kostenreduzierung der Netzgebühren im Strombereich von 2 Milliarden Euro und im
Gasbereich von 800 Millionen Euro erreicht. Das ist
positiv. Jetzt darf aber der Staat nicht diese Lücke füllen,
indem er die Steuern und Abgaben erhöht.
Ich nenne Ihnen einmal ein paar eindrucksvolle Zahlen aus dieser sehr interessanten Studie: Ein Durchschnittshaushalt hatte in 2006 Energiekosten von
681 Euro. Davon gingen Steuern und Abgaben in Höhe
von rund einem Drittel, nämlich 264 Euro, ab. Von diesen 264 Euro blieben 164 Euro im Staatshaushalt. Sie
wurden nicht zur Förderung der erneuerbaren Energien
oder von Ähnlichem eingesetzt, sondern über
10 Milliarden Euro wurden allein im vergangenen Jahr
in den Staatshaushalt geschleust.
({3})
Auch das muss man einmal sehen. In diesem Betrag, lieber Herr Kelber, ist noch nicht einmal die Mehrwertsteuererhöhung enthalten.
Man kann also sagen: Klimaschutz ist wichtig. Aber
wir müssen für einen breit angelegten Energiemix sorgen und den Wettbewerb stärken. Wir brauchen insgesamt eine Kostensenkung, damit sich viele Menschen in
unserem Land Energie leisten können. Auch die Wirtschaft dürfen wir nicht schwächen. Das bedeutet, dass
diese Bundesregierung aufhören muss, ständig an der
Steuer- und Abgabenschraube zu drehen. Das ist kontraproduktiv.
({4})
Ich bitte Sie, in Zukunft verstärkt darauf zu achten.
In bestimmten Bereichen wie dem Flugverkehr sollten wir beim Klimaschutz - das ist vorhin schon gesagt
worden - keine Alleingänge starten. Wir dürfen den
Standort Deutschland nicht in Gefahr bringen. Denken
Sie daran, dass der europäische Luftverkehr nur einen
Anteil von 0,5 Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß hat.
Wir dürfen nicht im Alleingang an dieser Schraube drehen. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass in diesem
Bereich internationale Vereinbarungen getroffen werden.
Wir müssen international und auf EU-Ebene zu Ergebnissen kommen, die dem Klimaschutz wirklich dienen
({5})
und die unseren Wirtschaftsstandort und die europäische
Wirtschaft nicht schwächen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun erteile ich das Wort für die SPD-Fraktion dem
Kollegen Dr. Sascha Raabe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Klimawandel hat negative Auswirkungen auf die Industrieländer und auf die gesamte Welt.
Besonders hart trifft es aber die Entwicklungsländer, die
unter diesem Wandel am stärksten leiden. Es gibt existenzbedrohende Überflutungen von Inselstaaten und von
Küstenmetropolen, wodurch Ernten vernichtet und viele
Menschenleben regelrecht weggeschwemmt werden.
Wir tragen eine besondere Verantwortung; denn während wir in den Industriestaaten mit einem relativ kleinen Anteil an der Weltbevölkerung den weitaus größten
Anteil am weltweiten Energieverbrauch haben, muss die
Mehrheit der Menschen in den armen Ländern, wo viel
weniger Energie als bei uns verbraucht wird, darunter
leiden.
Fast 2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu
moderner Energieversorgung. Beispielsweise werden in
Afrika 70 Prozent der Energie aus Holz gewonnen.
Wenn wir wollen, dass die Entwicklung in diesen Ländern vorankommt, dann müssen wir bei dem, was wir
tun, Vorbild sein. Das ist schon gesagt worden, und das
ist richtig.
Betrachten wir einmal Indien und China und das dortige Wirtschaftswachstum. In diesen beiden Ländern leben zusammen 2,4 Milliarden Menschen. Die USA und
die EU haben zusammen nur 789 Millionen Menschen.
Das heißt, in China und Indien leben schon jetzt dreimal
so viel Menschen wie in den USA und in der Europäischen Union. Diese Menschen haben ein Recht auf Entwicklung. Wie wir wollen sie im Wohlstand leben. Wir
dürfen ihnen das nicht verwehren.
Die Diskussion, ob ein paar Glühbirnen ausgetauscht
werden sollen, können wir völlig vergessen, wenn wir
nicht unseren Beitrag dazu leisten, dass die Entwicklung
in diesen Ländern anders verläuft als bei uns. Die Menschen dort sollen zu Wohlstand kommen, wobei aber
nicht die gleichen Fehler wie bei uns gemacht werden
sollen.
({0})
Herr Kauch, Sie hatten vorhin in Ihrer Rede vollkommen richtig ausgeführt: Wenn man China und Indien mit
ins Boot holen will, dann muss man dafür sorgen, dass
sie ihre Kohlekraftwerke mit deutscher Technologie ausstatten können. Davon profitiert unsere Wirtschaft, und
die Luft wird sauberer.
Aber angesichts der Tatsache, dass die FDP-Fraktion
diese Aktuelle Stunde beantragt hat, komme ich mir vor
wie im falschen Film. Denn Ihr Fraktions- und Parteivorsitzender Westerwelle sagt in jeder Debatte, beispielsweise auch in der Haushaltsdebatte: Wir verschwenden deutsche Steuergelder, wenn wir mit China
Entwicklungszusammenarbeit betreiben. - Was machen
wir denn in China? Wir geben China Anreize, saubere
Technologien einzusetzen. Wir geben den Chinesen beispielsweise die ersten zehn Kohlefilter umsonst mit dem
Ziel, dass sie die nächsten 100 selbst kaufen. Was Sie
richtigerweise für gut halten, prangert Ihr Partei- und
Fraktionsvorsitzender in jeder Rede an. Mittlerweile hat
ja selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie, der
BDI, der nun wirklich keine sozialdemokratische Umweltpolitik vertritt, Herrn Westerwelle angeschrieben und
gesagt, er schade dem deutschen Mittelstand, der deutschen Industrie und dem Weltklima.
Ich fordere Ihre Fraktion auf: Hören Sie mit dem Unsinn auf, das zu geißeln, was gut für das Weltklima und
gut für die Menschen ist! Wir wollen den Einsatz der erneuerbaren Energien auch in China und in Indien. Das
sollten Sie, sehr geehrter Herr Kauch, dem Herrn
Westerwelle endlich einmal mit auf den Weg geben.
({1})
Das Gleiche gilt natürlich für unsere Solarenergie und
die anderen erneuerbaren Energien, die wir generell in
den Entwicklungsländern fördern. Fast 450 Millionen
bis 500 Millionen Euro im Jahr stellen wir weltweit im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich
der erneuerbaren Energien und für Energieeffizienz zur
Verfügung.
Hinzu kommen zum Beispiel 125 Millionen Euro für
den Tropenwaldschutz. Denn da gilt das Gleiche: Diese
Wälder sind eine Art Lunge für die Erde. Wir können natürlich den wirtschaftlichen Nutzen, den diese Wälder
den jeweiligen Ländern bieten, nicht übersehen und einfach sagen: Ihr müsst die Wälder stehen lassen. - Auch
wir haben unsere Wälder genutzt. Deswegen ist es richtig, dass wir diesen Ländern entweder Geld geben, um
die Wälder zu schützen, oder sie im Hinblick auf eine
nachhaltige Forstwirtschaft unterstützen, zum Beispiel
mit FSC-zertifiziertem Handel und Systemen.
({2})
Denn ich persönlich glaube: Nur wenn die Menschen,
die dort vor Ort leben, einen nachhaltigen Nutzen davon
haben, können die Wälder tatsächlich geschützt werden.
Liebe Frau Kopp und Herr Kauch, ich erinnere mich
daran, dass Sie von der FDP, wenn es in Diskussionen
darum ging, im Rahmen der WTO Umweltstandards zu
vereinbaren oder dafür zu sorgen, dass nur noch Holz
nach Deutschland eingeführt wird, das zertifiziert ist, das
immer als einen Anschlag auf den freien Welthandel und
die Marktwirtschaft angesehen und dies abgelehnt haben.
({3})
Jetzt beantragen Sie eine solche Aktuelle Stunde. Das ist
nicht redlich, Frau Kopp.
Sie haben gefragt: Wo ist unser Konzept? Unser Konzept ist, dass wir in den Entwicklungsländern mit
400 Millionen bzw. 500 Millionen Euro in den Bereich
der erneuerbaren Energien und für Energieeffizienz investieren, dass wir dafür sorgen, dass dort, wo die richtig
großen Potenziale sind, eine saubere Luft ist, und dass
wir das Klima schützen. Das ist immer noch besser als
der Marktradikalismus und Populismus Ihres Herrn
Westerwelle. Damit muss endlich einmal Schluss sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Georg
Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Der
Klimawandel ist und war von Anfang an, und zwar auch
schon vor dem Stern-Bericht, Thema der Großen Koalition. Wer es nicht glaubt, möge in den Koalitionsvertrag
blicken.
Aber der Klimawandel ist ein Thema - das hat eben
schon der Kollege Raabe ausgeführt -, das man national
nicht lösen kann. Da ist zunächst einmal die Europäische
Union gefragt, wo wir in unserer Ratspräsidentschaft natürlich Akzente setzen müssen. Ich persönlich wünsche
mir, dass wir solche Akzente auch über diese Präsidentschaft hinaus setzen können, dass es ein zentrales Thema
bleibt, auf das sich die Europäische Union im Sinne einer echten und notwendigen Subsidiarität konzentriert.
Mir wäre es lieber, die EU würde sich mit diesen Themen beschäftigen und nicht mit anderen, zum Beispiel
- um ein aktuelles Beispiel zu nennen - mit dem Grünbuch zum städtischen Nahverkehr und anderen Dingen,
bei denen die Leute nicht mehr verstehen, was das die
Europäische Union angeht.
Ich wünsche mir auch eine wohlausgewogene Lastenverteilung zwischen den EU-Staaten. Die deutsche Wirtschaft darf nicht über Gebühr belastet werden. Das ist
eine Frage der Akzeptanz sowohl der Europäischen
Union als auch des wichtigen Themas des Klimaschutzes.
Was Deutschlands nationales Handeln angeht, so leisten wir in Bezug auf klimaschädliche Emissionen einen
Beitrag von 3,19 Prozent. Das macht auf der einen Seite
deutlich, dass wir dieses Problem nicht allein lösen können. Auf der anderen Seite aber kann man nicht einfach
sagen: Dieses Thema geht uns nichts an. Wir müssen
vielmehr Vorbild im doppelten Sinne sein, nämlich zum
einen als moderner Industriestaat. Denn man wird uns
natürlich fragen - da bin ich bei den Entwicklungs- und
Schwellenländern, Herr Kollege -: Was muten wir uns
selbst zu? Gleichzeitig steht natürlich die Frage im
Raum: Was kann man von anderen verlangen, insbesondere von den Entwicklungsländern, die natürlich einen
Anspruch auf Entwicklung haben?
Wir haben in diesem Zusammenhang auch noch eine
andere Vorbildfunktion, nämlich im Sinne eines Technologieführers. Wir brauchen einen Technologietransfer
sowohl im Bereich der erneuerbaren Energien als auch
bei der Kernenergie. Wir können nicht wegdiskutieren,
dass es diese weltweit weiterhin geben wird.
({0})
Aus meiner Sicht und aus Sicht der CSU sind in diesem Zusammenhang zwei Instrumente entscheidend:
Das ist zum einen die Gebäudesanierung. Kollege
Loske, Sie haben uns vorhin vorgeworfen, wir seien da
zu zaghaft. Das hätten Sie in viel größerem Ausmaß
während Ihrer Regierungszeit machen können! Ich frage
mich, warum Sie es nicht getan haben.
({1})
Das andere entscheidende Instrument sind ganz klar
die erneuerbaren Energien. Wenn man sich die Bilanz
anschaut, stellt man fest, dass es im letzten Jahr gelungen ist, im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien 97 Millionen Tonnen CO2 einzusparen. 44 Millionen Tonnen davon stammen aus dem EEG, also aus dem
Strombereich. Da tut sich also einiges.
({2})
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil es in diesem
Hause den einen oder anderen gibt, der versucht, das
eine Instrument gegen das andere auszuspielen, der sagt,
der Emissionshandel sei viel besser und spannender. Ich
bitte jedoch, zu überlegen, um welche Größenordnung es
sich handelt. Beim Emissionshandel haben wir ein Einsparziel von 50 Millionen Tonnen bis zum Jahr 2012.
Trotz Diskussion auf gewiss hohem intellektuellem Niveau haben wir keinen solchen Wirkungsgrad wie bei
den erneuerbaren Energien. Ich bin der Meinung, wir
müssen dieses Instrument noch viel offensiver ausbauen.
Das gilt auch - das habe ich auch schon einmal als
meine persönliche Meinung dargestellt - im Bereich der
erneuerbaren Wärme, weil dort statistisch nachweislich
ein hohes Potenzial zu heben ist.
({3})
Ich sage abschließend: Wir müssen bei der ganzen
Diskussion zu dem Realismus zurückkehren, der vorhin
von der Kollegin Dött schon angemahnt worden ist. Wir
dürfen uns nicht besserrechnen als wir sind. Ich meine
damit die Prognosen zum Rückgang des Primärenergieverbrauchs. Hier nehmen wir Zahlen aus der Zeit der
Deutschen Einigung, übertragen diese einfach in die Zukunft und tun so, als ob der Energieverbrauch in
Deutschland zurückginge. Wir reden über Effizienzen,
die es dann nicht geben wird, wenn wir - was wir alle
wünschen - ein Wirtschaftswachstum haben werden.
Dann wird es nicht zu Energieeinsparungen kommen.
Wir brauchen einen Energiemix, der vertretbar und
realistisch den Energiebedarf dieses Landes deckt. Das
geht nur, wenn dieser Energiemix möglichst breit angelegt ist: von den erneuerbaren Energien bis hin zur Kernenergie. Lassen Sie uns diesen Weg vertretbar und vernünftig gehen, dann lösen wir Klimaprobleme und tun
auch etwas für Arbeitsplätze in diesem Land.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort
Herrn Bundesminister Dr. - nein, Entschuldigung Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin, das wäre „humoris causa“. Von daher vielen Dank.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat,
der IPCC-Bericht, der mehrfach zitiert wurde, also der
Bericht der Klimawissenschaftler und der Regierungsvertreter, sagt, dass wir zur Erreichung unseres Ziels, die
Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts unter
2 Grad zu halten, nur noch relativ wenig Zeit haben.
Die Prozentzahlen, die in der heutigen Debatte über
die Senkung der CO2-Emissionen eine Rolle gespielt haben, messen sich alle an diesem Ziel. Um die Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts unter 2 Grad zu
halten, müssen wir die CO2-Emissionen bis zur Mitte
des Jahrhunderts um 60 bis 80 Prozent reduziert haben.
Um das zu erreichen, müssen wir sie bis zum Jahr 2020
um 30 Prozent reduziert haben.
Jetzt fangen wir einmal an, darüber zu reden, was der
Umweltrat der Europäischen Union beschlossen hat.
Herr Dr. Loske, was Sie hier die ganze Zeit behaupten,
ist einfach falsch.
({0})
Der Umweltrat hat beschlossen: Wir wollen in Europa
dafür eintreten und in internationalen Verhandlungen erreichen, dass die CO2-Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts um 60 bis 80 Prozent sinken. In internationalen
Verhandlungen wollen wir eine Reduzierung um
30 Prozent bis zum Jahr 2020 erreichen. Das ist exakt
der Beschluss des Umweltrates. Das ist das, was der
Deutsche Bundestag immer wollte. Das ist das, was die
Klimawissenschaftler wollen. Es ist - nehmen Sie es mir
nicht übel; in der Debatte machen Sie sonst einen viel
gradlinigeren Eindruck - Volksverdummung, zu behaupten, die Europäische Union habe dieses 30-Prozent-Ziel
nicht beschlossen. Das ist unter der deutschen Ratspräsidentschaft beschlossen worden.
({1})
Vor zwei Jahren hätte kein Mensch gedacht, dass die
Europäische Union ein solches Ziel beschließen würde.
Damals ist nie von Binding Targets, von bindenden Zielen, die Rede gewesen. Darum ist es von historischer Bedeutung, dass die Europäische Union unter der deutschen Ratspräsidentschaft gesagt hat: Wenn wir in den
internationalen Verhandlungen eine Reduzierung um
30 Prozent nicht erreichen - also: im schlimmsten anzunehmenden Fall -, wird die Europäische Union eine Reduzierung um mindestens 20 Prozent im Alleingang vornehmen.
Herr Loske, kein Land, keine Region der Erde mit
Ausnahme der Europäischen Union hat bis zum heutigen
Tag einen solchen Beschluss gefasst. Das ist ein historischer Beschluss, der unglaublich wegweisend ist. Er ist
übrigens auch die Voraussetzung, um andere zu Verhandlungen zu bewegen. Wenn Sie denen sagen: „Völlig
egal, was ihr macht, wir reduzieren um 30 Prozent!“,
warum sollten diese Länder denn dann noch in Verhandlungen mit uns eintreten? Das ist ein wirklich wegweisender Beschluss.
Mit der beschlossenen Reduzierung um mindestens
20 Prozent sagen wir allen Investoren in der Energiewirtschaft und in den anderen Industriebereichen in Europa: Macht euch keine Illusionen. Selbst wenn die internationalen Klimaschutzverhandlungen scheitern, wird
es in Europa mit dem Klimaschutz vorangehen.
({2})
- Herr Fell, Sie wären froh gewesen, wenn Sie in Ihrer
Regierungszeit einen solchen Beschluss hätten durchsetzen können. Machen Sie doch nicht das klein, was Sie
mit Ihrer Arbeit in der rot-grünen Koalition begonnen
haben und was jetzt in der Großen Koalition zum Erfolg
geführt werden konnte. Reden Sie die internationale
Rolle Deutschlands doch nicht kleiner. Kein anderes
Land in Europa außer Deutschland hätte das, so glaube
ich, so ohne Weiteres hinbekommen. Ich weiß, wovon
ich rede. Die Vertreter der anderen europäischen Regierungen hatten doch keine Angst vor dem Beschluss einer
Reduzierung um 30 Prozent weltweit, sondern vor der
unilateral, innerhalb der Europäischen Union beschlossenen Reduzierung um 20 Prozent. Jetzt ist klar: Das
kommt auf jeden Fall. Genug Länder haben gehofft, dass
wir das auf die internationalen Verhandlungen vertagen,
nach dem Motto: Schauen wir einmal, was dabei herauskommt. Wir sagen der Energiewirtschaft: Macht Euch
keine Illusionen. Heute gilt das Ziel einer Reduzierung
um 8 Prozent gegenüber 1990. Nach 2012 gilt das Ziel
einer Reduzierung um mindestens 20 Prozent.
Das bedeutet übrigens auch eine Investitionssicherheit.
({3})
- Auch für die Kohle, na klar. Herr Fell, Ihr Parteitag hat
Ihre Illusionen abgelehnt, als Sie beantragt haben, die
Grünen mögen doch bitte den vollständigen Ausstieg aus
der Kohle beschließen.
({4})
Die Parteitagsmitglieder waren realistischer als die Vertreter der Grünen im Deutschen Bundestag. Das ist die
Realität in der Kohledebatte.
({5})
Der Ausstieg aus der Kernenergie bis 2020 bei einem
zeitgleichen Ausstieg aus der Kohle ist eine ziemlich
abenteuerliche Vorstellung. Was wir brauchen, sind bessere, effizientere Kohlekraftwerke als die alten Dinger,
die herumstehen. Sie machen den Leuten vor, dass wir
die auch noch abschalten könnten und wir bis 2020
100 Prozent des Energiebedarfs aus erneuerbaren Energieträgern gewinnen könnten. Das ist ein schöner
Traum. Wir wollen aber reale Politik machen. Wir wollen, dass sich im Klimaschutz wirklich etwas bewegt,
und nicht nur Reden im Bundestag halten. Herr Fell, das
ist der Unterschied zwischen uns.
({6})
- Ich habe mir das, was hier gesagt worden ist, genau angehört.
Die unilateral beschlossene Reduzierung um
20 Prozent ist die Voraussetzung für Verhandlungen.
Eine Reduzierung um 30 Prozent wollen wir erreichen.
Damit die Größenordnung dessen, was wir jetzt beschlossen haben, klar wird: In der Europäischen Union
- Stichwort: Kiotoprotokoll - haben wir jetzt ein Klimaschutzziel von 8 Prozent. Wir sind bei 1,2 Prozent und
damit weit weg von dem 8-Prozent-Ziel. Wir wollen eine
Reduzierung um 20 Prozent, eigentlich um 30 Prozent
erreichen. Das macht klar, dass wir hier nicht über ein
autofreies Wochenende oder so reden. Wir reden über
den Umbau der Industriegesellschaft bei der Form der
Energieproduktion und der Energiekonsumtion. Das ist
eine technologische Herausforderung, die es in diesem
Land so noch nicht gegeben hat.
Zur Rolle Deutschlands. Deutschland ist der größte
Emittent in der Europäischen Union, weil wir das größte
Industrieland sind und übrigens auch bleiben wollen. Allerdings haben wir den größten Beitrag zu den bisherigen Zielen der Europäischen Union geleistet. 75 Prozent
der Einsparungen der CO2-Emissionen in der Europäischen Union erbringt dieses Land. Man muss nun nicht
darüber jubeln, dass wir die größten Emittenten sind,
aber man sollte sagen, dass sich dieses Land zu seiner
Verantwortung für Klimaschutz bekennt, unter der deutschen Präsidentschaft allemal und übrigens auch schon
davor. Es gibt eine Kontinuität von Klaus Töpfer über
Angela Merkel, Jürgen Trittin bis zur heutigen Regierung. Ich finde, das darf man einmal sagen. Man muss
nicht alles in Grund und Boden reden, was dieses Land
auf die Beine gestellt hat. Das ist schon ganz bemerkenswert.
({7})
Übrigens ist die Reduktion der CO2-Emissionen um
40 Prozent, die der Bundestag kurz vor der Konferenz in
Nairobi beschlossen hat, ganz logisch. Wenn wir international 30 Prozent erreichen wollen, dann wird es Lastenverteilungen geben. Dies wird dazu führen, dass dieses
Land mehr erbringen muss als andere. Es war kein besonderer politischer Akt, dies zu beschließen. Sie müssen nur die Grundrechenarten beherrschen, dann kommen Sie, wenn Sie wollen, zu diesem Ergebnis.
Frau Kopp hat gefragt: Was ist das Konzept? Diese
Frage beantworte ich Ihnen. Das Konzept besteht aus
vier Instrumenten. Erstens gibt es den Emissionshandel.
Ich möchte einmal eine Größenordnung dazu nennen: In
der ersten Periode haben wir 2 Millionen Tonnen CO2
pro Jahr eingespart. Das war nicht besonders viel. Hier
gibt es sozusagen eine Lernkurve. Dann haben wir einen
Vorschlag gemacht. Dadurch haben wir 46 Millionen
Tonnen eingespart. Jetzt durch den EU-Beschluss, der in
Deutschland zu erheblichen Debatten geführt hat, sind
wir im Emissionshandel bei 57 Millionen Tonnen CO2,
die wir pro Jahr einsparen. Da haben alle eine Lernkurve
hinter sich; auch wir. Aber es ist allemal ein Ergebnis,
das sich im internationalen Vergleich sehen lassen kann.
Übrigens können wir nicht alles durch Gas ersetzen
- das war einer der Vorschläge von Herrn Loske und anderen -, weil es nicht genug Gas auf der Welt gibt und
weil das auch nicht bezahlbar wäre. Es gibt zu meinem
großen Bedauern in diesem Land noch Einkommensunterschiede. Darüber muss eine Bundesregierung nachdenken, auch wenn es die selbsternannte Linkspartei in
dieser Debatte nicht tut.
({8})
- Ich mache einmal mit Ihnen eine Veranstaltung mit
Personen, die nicht genug Geld haben, sich eine warme
Wohnung zu leisten. Dann wollen wir einmal sehen, wie
Sie danach reden.
({9})
Es geht auch darum, dass wir nicht nur darauf achten
müssen, was für die Wirtschaft verträglich ist - darüber
wird in Deutschland viel geredet -, sondern auch darauf,
was für die Menschen verträglich ist, die heute Schwierigkeiten haben, sich mit ihrem Nettoeinkommen eine
warme Wohnung oder eine Tankfüllung zu leisten.
({10})
Zweiter Punkt des Konzepts: der Ausbau erneuerbarer Energien. Das ist eine Erfolgsstory in der Bundesrepublik, übrigens gegen Ihren Widerstand. Herr Loske,
Sie haben an einer Stelle völlig Recht. Das verbindliche
Ziel, das die Räte in der Europäischen Union beschlossen haben, dass die erneuerbaren Energien einen Anteil
von 20 Prozent an der Primärenergie ausmachen sollen,
war unzureichend. Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin gesagt hat, dass sie das mit auf den Rat der Staatsund Regierungschefs nimmt. Allerdings, Herr Loske,
auch die Umweltminister gehen mit Kabinettsbeschlüssen dorthin. Das wissen Sie. Es ist unter anderem am
französischen Widerstand gescheitert.
Ich wäre dankbar, wenn die, die das wollen, nicht die
Bundesregierung dafür beschimpfen, dass sie für
20 Prozent eintritt, sondern vielleicht einmal in ihren
Gremien, zum Beispiel in den Fraktionen im Europäischen Parlament, dafür sorgen, dass durch ihre Schwester- und Brüderparteien zu Hause der Druck entwickelt
wird, von dem Sie vorgeben, dass Sie ihn hier entwickeln.
({11})
Herr Minister, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Dritter Punkt: Energieeffizienz. Dazu ist schon viel
gesagt worden.
Ich muss Sie dringend darauf hinweisen, dass Sie zum
Schluss kommen müssen.
Ja, vielen Dank, Frau Präsidentin.
Der letzte Punkt, über den wir wahrscheinlich noch
weiter debattieren werden, ist CCS.
Es geht für die Bevölkerung auf der Welt in der Tat
um ein Problem, das ähnlich gelagert ist wie die Bedrohung durch atomare Waffen. Deswegen werden wir uns
mit diesem Thema international weiter auseinandersetzen müssen. Aber die Führerschaft Europas und die Fähigkeit Deutschlands, das voranzutreiben, sollten wir im
eigenen Parlament nicht ständig unter den Scheffel stellen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist nun der Kollege Philipp Mißfelder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal, ohne dass der Eindruck entsteht, in der Großen Koalition sei man bei jedem Thema
einer Meinung,
({0})
das unterstützen, was der Minister vorhin zu den Beschlüssen auf europäischer Ebene gesagt hat. Ich glaube,
dass dies ein wirklicher Fortschritt ist und dass die
zweite Bemerkung dazu richtig war: Nicht nur die Absichts- und Zielbeschreibungen, die stattgefunden haben,
sind zu betrachten, sondern auch das, was tatsächlich erreicht worden ist.
Ich denke, in diesem Haus besteht ein grundsätzlicher
Konsens, dass wir mit dem, was wir bei der Emissionseinsparung bisher erreicht haben, noch weit von
dem entfernt sind, was wirklich notwendig wäre. Ich
glaube, die Diskussion der vergangenen Wochen war
sehr wichtig, um in der Bevölkerung ein Bewusstsein
dafür zu schaffen. Dass diese Debatte geführt wurde,
war für die Akzeptanz der Umweltpolitik von Bedeutung. Aber wir müssen besonders vorsichtig sein, wenn
versucht wird, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ich möchte jetzt keine Einzelbeispiele aufgreifen - in
den vergangenen Wochen ist schon viel zu den Themen
Hybridauto, erneuerbare Energien und Glühbirnen gesagt worden -, sondern nur festhalten: Nicht jeder Vorschlag, der gemacht wurde, ist tatsächlich realistisch.
Wir sollten aufpassen, welches Gesellschaftsbild wir
letztendlich vermitteln. Ist eine solche Gesellschaft überhaupt lebenswert? Sollte es das Ziel von Politik sein,
eine komplette Verbotsgesellschaft zu schaffen? Davor
muss man realistischerweise warnen.
({1})
- Herr Fell, wir vertreten zwar in vielen Punkten der
Umwelt- und insbesondere der Energiepolitik unterschiedliche Auffassungen. Aber wir stimmen doch darin
überein, dass wir vor allem Marktanreizmodelle schaffen
müssen, um die Interessen der Industrie und die ökonomischen Interessen unseres Landes mit unseren ökologischen Zielen in Einklang bringen zu können.
({2})
Man sollte bei allem, was vorgeschlagen wird, realistisch bleiben und auch die eigene Position immer wieder
überprüfen. Das geschieht, wie Sie beobachten können,
auch in der Union. Wir diskutieren munter darüber, welcher Weg in der Umweltpolitik der beste ist. Mittlerweile
findet man bei uns ein hohes Maß an Offenheit.
({3})
Die gleiche Offenheit, die Sie immer von uns einfordern, fordern wir von unserem Koalitionspartner und natürlich auch von den Grünen ein, wenn es darum geht, zu
überprüfen, welcher Weg in der Energiepolitik generell
der richtige ist. Wenn man über Klimaschutzziele
spricht, dann muss man die weltweiten Entwicklungen
zur Kenntnis nehmen. Es ist nun einmal so - ich weiß,
dass Sie sich gleich wieder aufregen werden -, dass zu
einer vernünftigen Klimapolitik auch die Kernenergie
gehört.
({4})
Die Panikmache, die an der einen oder anderen Stelle
betrieben wird, macht keinen Sinn. Man kann nicht einerseits vor der großen Klimakatastrophe warnen, ohne
gleichzeitig zu erklären, wie das Potenzial an Kernenergie, das als emissionsfreier Energieträger in Deutschland
vorhanden ist, eingespart und ersetzt werden kann.
({5})
Dazu gibt es keine realistischen Vorschläge.
({6})
Deshalb muss man über den besseren Weg in der Energiepolitik diskutieren.
Nachdem ich den Minister und die Sozialdemokraten
gelobt habe - Herr Kelber, das werde ich gerne wieder
tun, zumindest solange die Große Koalition hält -,
({7})
möchte ich nun meinem Wahlkreiskollegen Schwabe,
der sich gerade kritisch über die „Recklinghäuser Zeitung“ geäußert hat, erwidern: Der Kommentar, der in unserer Lokalzeitung stand, trifft tatsächlich das Bewusstsein vieler Menschen. Wir müssen in der Umweltpolitik
darauf achten, dass wir nicht durch viele Einzelvorschläge Panikmache betreiben und dadurch die Legitimation, die wir haben, um vernünftige politische Entscheidungen zu treffen, unnötig erschweren.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist nun der Kollege Marco Bülow
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Kolleginnen und Kollegen! Eine Schlagzeile nach dem
Erscheinen des IPPC-Berichts lautete: Der Mensch ist
verantwortlich für den Klimawandel. - Das wussten wir
schon vorher. Vor 30 Jahren haben ähnliche Berichte zutage gebracht, dass der Mensch höchstwahrscheinlich
dafür verantwortlich ist. Dass das Wort „höchstwahrscheinlich“ verwendet wurde, hat leider nicht dazu geführt, dass hinreichende Maßnahmen ergriffen wurden.
Sonst wären wir heute einen Riesenschritt weiter. Es
wurde zwar ein Anfang gemacht, und es wurden gute
Beschlüsse gefasst. Aber im Prinzip hat sich nur eines
verändert: Der CO2-Ausstoß ist weiter gestiegen.
Heute, 30 Jahre später, müssen alle, auch die großen
Skeptiker, zugeben, dass der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist und wir wohl das eine oder andere
werden unternehmen müssen. An der heutigen Debatte
zeigt sich allerdings auch, wie schnell wir immer noch
unterschiedlicher Meinung sind. Es wird darauf hingewiesen, dass wir der Wirtschaft nicht schaden dürfen und
noch einmal genau über die Ziele sprechen müssen, und
es wird die Frage gestellt, ob Deutschland bei diesem
Thema denn wirklich Vorreiter sein muss. Ich finde, in
den letzten 30 Jahren haben wir nicht sehr viel dazugelernt.Denn eines ist doch wohl klar: Wenn wir die erneuerbaren Energien ausbauen, wenn wir mehr für die Energieeffizienz tun, dann schaden wir der Wirtschaft nicht,
sondern wir nutzen ihr: Über 200 000 Menschen haben
im Bereich der erneuerbaren Energien Arbeit gefunden.
Bei mehr Energieeffizienz könnten es noch viel mehr
sein. Das spricht eine deutliche Sprache: Das Land, das
beim Klimaschutz Vorreiter sein wird, wird eine wirtschaftliche Macht entfalten, der wegen des Drucks, den
der Klimawandel ausübt, ganz viele Länder nachfolgen
müssen. Deswegen ist es keine Schadensrechnung, sondern eine Nutzenrechnung, die wir aufstellen müssen.
({0})
Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, ich bin nicht der
Erste, der das hier sagt; aber anscheinend muss man es
leider noch einmal wiederholen.
Ich finde es gut, dass wir diese Debatte führen, und
ich danke der FDP, dass wir heute darüber diskutieren
können.
({1})
Aber ich finde es schon abenteuerlich, dass die Hauptaussage der FDP ist, wir müssten über die Instrumente
- EEG, KWK usw. - noch einmal nachdenken. Damit
gefährden Sie eine Menge Arbeitsplätze. Ist Ihnen das
eigentlich bewusst? Wollen Sie jetzt die erneuerbaren
Energien? Herr Kauch hat dafür gesprochen, Frau Kopp
hat ungefähr das Gegenteil gesagt.
({2})
Die Differenzen, die Sie in der Union gesehen haben
wollen, scheinen bei Ihnen erst recht nicht ausgeräumt
zu sein. In dieser Frage ist unser Koalitionspartner doch
deutlich verlässlicher, glaube ich.
({3})
Die Hauptbotschaft des Berichtes muss doch lauten:
Wir müssen schnell handeln, und die Handlungen müssen weitreichend und mutig sein. Dazu müssen wir in
der Diskussion klarstellen, welche Maßnahmen wir
brauchen. Fangen wir mit denen an, bei denen wir uns
einig sind: Es gibt eine breite Mehrheit in diesem Haus,
dass wir Maßnahmen wie die Kraft-Wärme-Kopplung
und ähnliche brauchen. Da sollten wir den Anfang machen. Ich denke, dazu wird der Kollege Becker gleich
noch etwas sagen.
Zweitens. Wir müssen überlegen, wo wir bei uns anfangen können, damit wir glaubwürdig sind, damit die
Menschen nicht sagen, wir reden nur. Wir müssen also
auch selbst handeln. Wir sollten beispielsweise über die
Dienstwagenflotte des Bundestages einmal nachdenken.
({4})
Oder nehmen wir die Flüge, die die Bundestagsabgeordneten machen, zum Teil machen müssen. Es gibt ein Programm, bei dem man zuzahlen kann, um die Schäden,
die man anrichtet, zumindest zu neutralisieren.
Drittens. Wir müssen auch dort handeln, wo es Gegenwind gibt, wo Lobbygruppen sich stark aufgestellt
haben. Wir müssen auch Dinge beschließen, für die man
vielleicht nicht nur Beifall aus der Bevölkerung bekommt.
Viertens. Wir brauchen ein klares Bekenntnis
Deutschlands zu seiner Vorreiterrolle; der Bundesminister hat das auf den Konferenzen deutlich gemacht. Wir
brauchen diese technologische Vorreiterrolle aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch weil wir eine Verantwortung haben. Deshalb kann ich die Diskussion an
manchen Stellen nicht nachvollziehen. Im Durchschnitt
verursacht jeder Deutsche heute den Ausstoß von
10 Tonnen CO2 im Jahr. Jetzt kann man nicht sagen: Das
kann man schlecht vergleichen mit Brasilien oder China,
wir sind ja viel industrialisierter. 1950, als die Industrie
für 61 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich war,
war das so. Doch mittlerweile hat sich das Verhältnis in
Deutschland umgekehrt: Heute ist der größte Teil der
CO2-Emissionen dem Verkehr und den Verbrauchern geschuldet. Von daher glaube ich, dass wir gut daran tun,
wenn gerade Deutschland seine CO2-Emissionen reduziert. Das heißt nicht, dass sich die anderen europäischen
Staaten nicht auch bemühen müssten - im Gegenteil.
Aber wir müssen als Vorreiter vorangehen, um sagen zu
können: Wenn ihr es nicht tut - wir haben es gemacht.
Wir können andere nur dazu bewegen, zu folgen, wenn
wir selber Vorbild sind, wenn auch wir bereit sind, etwas
zu tun.
Der Klimawandel kommt; aber noch haben wir die
Chance, zumindest einige seiner Folgen abzuwenden.
Wir alle tragen eine Verantwortung dafür; das ist an vielen Stellen erwähnt worden. Es müssen mehrere Sachen
zusammenkommen. Natürlich kann Deutschland den
Klimawandel nicht allein abschwächen. Auch in China
muss es ein Umdenken geben. Dort gibt es einige Umweltbewegte, die sagen: So kann es nicht weitergehen,
auf diesem Weg darf China nicht bleiben. Diese Leute
müssen sich durchsetzen; sie müssen von uns gestärkt
werden. Auch in den USA muss es ein Umdenken geben. Auch dafür gibt es gute Anzeichen, gerade im Senat
und bei vielen Abgeordneten aus allen Parteien in den
USA. Wenn die drei Akteure China, die USA und die
Europäische Union - mit den Entscheidungen, die wir
schon getroffen haben; mit Deutschland als Vorreiter zusammenkommen, dann haben wir eine echte Chance,
dem Klimawandel zu begegnen, dann sind wir einen
Riesenschritt weiter. Aber dazu brauchen wir Mut, und
diesen Mut müssen wir nicht nur bei Reden, sondern vor
allem bei Entscheidungen unter Beweis stellen.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat das Wort der Kollege Dirk Becker für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir ging es ähnlich wie Frau Dött, als ich zur Kenntnis
nehmen musste, dass diese Aktuelle Stunde anberaumt
war. Die Motivation der FDP war nicht wirklich ein Rätsel. Sehr geehrter Herr Kauch, Kollegin Kopp, im Endeffekt sind die Erwartungen, die man an Ihren Beitrag
haben konnte, voll und ganz erfüllt worden: Ein kleiner
Anteil erneuerbarer Energien wird bejaht; ein bisschen
Effizienz wäre schön. In erster Linie darf es aber nicht
mehr kosten. Es darf nicht zulasten der Wirtschaft gehen. Marco Bülow hat es eben bereits angesprochen.
Dabei zeigt sich das Kurzzeitgedächtnis in der Politik.
Wir diskutieren über den IPCC-Bericht; hingegen ist der
Stern-Bericht, der uns klargemacht hat, dass Unterlassungen im Klimaschutz teurer werden als eine engagierte Politik, die frühzeitig zum Klimaschutz beiträgt,
anscheinend längst vergessen.
({0})
Von daher war Ihr Beitrag in dieser Aktuellen Stunde,
Frau Kopp - so leid es mir tut; ich schätze Sie als meine
Wahlkreiskollegin sehr -, deutlich am Thema vorbei.
({1})
Deutlich wird aber auch - das richtet sich an den Koalitionspartner -, dass die Diskussion über den Klimaschutz unterschwellig dafür genutzt wird, eine Renaissance der Atomenergie zu beflügeln. Es geht auf einmal
wieder die Mär um, die Technologie der Atomenergie sei
geeignet, unser Klima zu schützen. Wir brauchen aber an
dieser Stelle keinen energiepolitischen Salto rückwärts.
Einige sind offensichtlich beratungsresistent, was den
wirklichen Nutzen der Atomenergie und den Beitrag der
Kernenergie zur klimapolitischen Wende angeht. Daran
ändern auch die großen PR-Aktionen und Werbekampagnen nichts, die die Atomlobby derzeit schaltet.
Einer der größten Fehler in der gesamten Diskussion
ist, dass immer wieder Energie mit Strom gleichgesetzt
wird. Das ist mitnichten der Fall. Nur 16 Prozent des
weltweiten Energieverbrauchs beziehen sich auf den
Stromsektor. Die Möglichkeiten, allein auf dem Stromsektor bzw. über Atomkraftwerke zu nennenswerten Klimaschutzmaßnahmen zu kommen, stehen in keinem
Verhältnis zu anderen wirksamen Maßnahmen.
({2})
Verschiedene Studien zeigen, dass wir in Deutschland
40 neue Atomkraftwerke errichten müssten, um das Ziel
zu erreichen, komplett auf vermeintlich CO2-freie Technologie zu setzen.
Bei dieser Betrachtung wird ein gewaltiger Fehler begangen: Wir richten den Fokus nicht auf den Bereich der
Wärme, sondern allein auf die Stromerzeugung. Damit
komme ich zu dem, was Marco Bülow angesprochen
hat. Es gibt eine wesentlich bessere Möglichkeit, zu einer klimafreundlichen Nutzung der eingesetzten Energie
zu kommen, und zwar durch die Kraft-Wärme-Kopplung. Anders als bei der Atomenergie werden hierbei in
einem Prozess Strom und Wärme erzeugt. Wir können
so bis zu 90 Prozent der eingesetzten Energie in Wärme
und Strom umwandeln. Wir haben bei anderen klassischen Energieformen wie Kohle oder auch bei der
Atomenergie eine Nutzung von 30 bis 35 Prozent. Bei
modernen GuD-Kraftwerken liegt die Auslastung ungefähr bei 55 Prozent. Das heißt, im Bereich der KraftWärme-Kopplung ist eine zwei- bis dreifache Steigerung
der Energieeffizienz möglich. Daher ist für uns Sozialdemokraten die Kraft-Wärme-Kopplung eine der entscheidenden Punkte in der Diskussion über den Klimaschutz,
gerade mit Blick auf den Bereich der Energieeffizienz.
({3})
Ich möchte daher auch sehr deutlich an den Koalitionsvertrag erinnern. Beide Koalitionsparteien haben
sich im Koalitionsvertrag zur Kraft-Wärme-Kopplung
geäußert. Uns liegt mittlerweile der Bericht des Wirtschaftsministeriums und des Umweltministeriums vor.
Wir wissen, dass die bisherigen Klimaschutzziele nicht
erreicht werden können. Von daher bedarf es nun einer
engagierten Ausformulierung und Novellierung des
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes.
Ich möchte an den Koalitionspartner appellieren, nun
auch in diesem Bereich die Vereinbarung umzusetzen.
Für die SPD-Fraktion gestatten Sie mir, darauf hinzuweisen, dass wir im März den Entwurf einer Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes vorlegen
werden. Für uns geht es darum, nicht nur die Modernisierung im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung, sondern
ausdrücklich auch den Neubau von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zu fördern.
Darüber hinaus bekennen wir uns zu unserem Ziel,
den Anteil der Stromerzeugung durch Kraft-WärmeKopplung bis zum Jahr 2020 auf 25 Prozent zu erhöhen.
Um die Frage zu beantworten: Es gibt klare Handlungsfelder in der Großen Koalition. Wir haben Strategien in den Bereichen der erneuerbaren Energien, des
Energiesparens und der Energieeffizienz. Das sind die
Konsequenzen, die wir Sozialdemokraten aus den Erfordernissen des Klimaschutzes ziehen. Wir werden daher
diese Politik kontinuierlich fortsetzen. Den Atomnostalgikern muss ich sehr deutlich sagen: Ihren Weg werden
wir nicht mitgehen; denn dieser Weg ist aus unserer
Sicht ein Weg in die energiepolitische Sackgasse.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Fortentwicklung des Gentechnikrechts.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich würde eigentlich lieber über den - wie
ich gerade erfahren habe - sagenhaften Überschuss der
Krankenkassen im Jahr 2006 infolge der vorletzten Gesundheitsreform reden. Aber ich rede jetzt über den heutigen Kabinettsbeschluss zum Gentechnikrecht.
Das Bundeskabinett hat heute ein umfassendes Eckpunktepapier zur Novellierung des Gentechnikrechts beschlossen. In unserer Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, dass die Anwendung und die Entwicklung der
Gentechnik in Deutschland befördert werden sollen, und
zwar unter dem obersten Gebot des Schutzes von
Mensch und Umwelt, was das Gentechnikrecht seit vielen Jahren bestimmt. Ich möchte mich bei meinem einleitenden Bericht auf die zwei wesentlichen Säulen des
Eckpunktepapiers konzentrieren, nämlich zum einen auf
das Kapitel Forschung und zum anderen auf die wirtschaftliche Anwendung in dem einzigen Bereich, der
zurzeit in Deutschland ökonomisch eine Rolle spielt, den
Genmais.
Bei der Forschung wird es eine Reihe von Verbesserungen geben. Das geht von der Einbeziehung der
Pflanzen- und Biotechnologie in die Forschungsexzellenzinitiative der Bundesregierung über Verfahrenserleichterungen bei Freisetzungen, also Forschungsvorhaben, in
der Bundesrepublik Deutschland bis zu einer thermischen Verwertung von Ernten, die infolge von Forschungsfreisetzungen kontaminiert sind. Ich denke, dass
die Stärkung der Forschung in der Bundesrepublik
Deutschland aus einem einfachen Grund gerechtfertigt,
ja sogar notwendig ist: Wir haben es mit einer sehr jungen Technologie zu tun, die in den Bereichen Sicherheit
und Entwicklung gerade mit der nächsten Generation der
Gentechnik eine ganze Reihe von Fragen aufwirft. Für
ein hochentwickeltes Land wie die Bundesrepublik
Deutschland sollte es eigentlich logisch sein, dass wir
die durch eine junge Technologie aufgeworfenen Fragen
durch Forschung in Deutschland beantworten und nicht
durch das Aufbauen überzogener Hürden dazu beitragen
dürfen, dass die Forschung anderenorts stattfindet, sodass uns vielleicht in fünf oder zehn Jahren die gestellten
Fragen von Chinesen oder Indern beantwortet werden.
Wenn ich mit Gentechnikskeptikern diskutiere, bin
ich froh, dass prinzipiell eingeräumt wird: Es ist logisch,
wenn wir offene Fragen durch Forschung in der Bundesrepublik Deutschland beantworten. Auch die Forschung
erfolgt immer nach dem obersten Prinzip des Schutzes
von Mensch und Umwelt. Hier werden keine, auch nicht
die geringsten Risiken für Mensch und Umwelt eingegangen. Anderenfalls darf schon nach dem geltenden
Gentechnikrecht eine Freisetzungsgenehmigung nicht
erteilt werden.
Ich habe heute im Kabinett gesagt, dass nach meiner
Auffassung für die Forscher in Deutschland Bedingungen bestehen, die besser als in jedem anderen europäischen Land sind. Wir haben gute Bedingungen für die
Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere um Sicherheitsfragen und Entwicklungsfragen
zu beantworten.
Der zweite Komplex betrifft die wirtschaftliche Anwendung. Die spielt bei uns in Deutschland im Moment
nur bei Genmais eine Rolle. Von der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche werden im Moment für den
Anbau von Genmais 0,006 Prozent genutzt. Weltweit
sind es einschließlich von Soja und Raps etwa 2 Prozent
der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Nun ist alles,
was mit der ökonomischen Anwendung von Gentechnik
zusammenhängt, europarechtlich geregelt. Wir haben
vor allem im Bereich der Haftung und der Koexistenz
nationale Regelungsmöglichkeiten. Die wollen wir auch
ausfüllen, und zwar besser, als das in der Vergangenheit
der Fall war.
Koexistenz heißt nach Auffassung der Bundesregierung, dass es im Regelfall bei der wirtschaftlichen Anwendung nicht zu Auskreuzungen kommen soll und dass
alle Bedingungen für den Anbau von gentechnisch veränderten Organismen so gestaltet sein sollen, dass im
Regelfall Nachbarn nicht beeinträchtigt werden, sondern
nur im Ausnahmefall. Wenn man von dieser Grundphilosophie der Koexistenz ausgeht, spielt natürlich der Abstand zu benachbarten Feldern eine beachtliche Rolle.
Der Vorschlag von 150 Metern Abstand zwischen einem gentechnischen Anbau und einem konventionellen
oder einem ökologischen Anbau, den ich dem Kabinett
gemacht habe, ist vom Kabinett gebilligt worden. Das
Eckpunktepapier sieht allerdings auch ausdrücklich vor,
dass gerade Dinge wie der Abstand permanent wissenschaftlich begleitet und untersucht werden müssen. Als
ich mein Amt begann, wurde mir beim Genmais ein Abstand von 20 Metern nahegelegt, und das wurde auch in
weiten Teilen der Bundesrepublik Deutschland praktiziert. Also für alle diejenigen, die gelegentlich sagen, die
Bundesregierung gehe leichtfertig vor: 150 Meter sind
bekanntlich das 7,5-fache von 20 Metern. Hier ist ein
ganzes Stück mehr an Sicherheit und Vorsicht eingekehrt.
Es bleibt im Kern bei der bestehenden Haftungsregelung. Sie wird nicht verändert. Ich hatte persönlich im
Vorfeld dieses Kabinettsbeschlusses Kontakte mit der
betroffenen Wirtschaft, auch mit der Versicherungsbranche. Versicherungsmäßig ist das im Moment nicht zu
kalkulieren und deshalb auch nicht zu versichern.
({0})
Ich war sehr froh, dass die deutsche Wirtschaft erklärt
hat, sie sei bereit, anstelle eines gesetzlichen Haftungsfonds in Individualverträge mit den Anbauern einzutreten, um mögliche wirtschaftliche Schäden aufzufangen.
Wichtig ist mir, dass es bei der wirtschaftlichen Anwendung von Gentechnik nicht zu einer Haftung aus Steuergeldern und damit aus dem Bundeshaushalt kommt.
Ich glaube, dass es mit diesem Punkt und einer ganzen Reihe weiterer Punkte, die in diesem hochkomplexen Gebilde eine Rolle spielen, gelungen ist, eine sehr
verantwortliche und sensible Interessensabwägung
durchzuführen. Vor allem ist es uns mit diesem Eckpunktepapier gelungen, diesen Interessenausgleich, den
die Bevölkerung von uns erwartet, zu wahren, nämlich
dass wir einerseits vorsichtig und zurückhaltend mit dem
Thema umgehen, andererseits aber auch die Chancen für
die Bundesrepublik Deutschland, die sich mit einer
neuen Technologie ergeben, nicht verspielen.
Nun wird die Umsetzung in Gesetze und Verordnungen erfolgen. Die Koexistenzregeln werden in erster Linie in Form einer Rechtsverordnung umzusetzen sein,
manche Regeln, zum Beispiel das vereinfachte Verfahren bei der Freisetzung, in Form von Gesetzen.
Dann besteht auf europäischer Ebene noch eine dritte
Säule, zum Beispiel die generelle Kennzeichnung von
gentechnisch veränderten Produkten oder die Frage des
Schwellenwertes für Pflanzensorten. Das ergibt nur auf
europäischer Ebene Sinn. Es ergibt keinen Sinn, für
Deutschland einen Schwellenwert für Pflanzensorten
festzulegen, um dann zu erleben, dass aus Frankreich
jede Pflanze jenseits des in Deutschland festgelegten
Schwellenwertes nach Deutschland importiert werden
kann. Das wäre eine Diskriminierung der inländischen
Wirtschaft. Deshalb müssen wir gewisse Dinge auf europäischer Ebene vorantreiben: die Kennzeichnung, die
Schwellenwerte für die Sorten.
Wir haben in der Koalition auch vereinbart - das habe
ich heute ebenfalls im Kabinett gesagt -, dass wir
schwierigste Fragen wie Testkosten oder die Haftung,
die sich oft aus den Verträgen ergibt - jenseits der gesetzlichen Grundlagen verpflichten sich Erzeuger gegenüber dem Handel durch Verträge, ganz andere Regeln zu
befolgen -, in den nächsten Monaten in hochkarätigen
Symposien bearbeiten werden. Dabei handelt es sich
nämlich um ganz schwierige Fragen des Nachbarschaftsrechts. Jede Veränderung des Nachbarschaftsrechts hat
natürlich nicht nur im Bereich der Gentechnik Bedeutung, sondern auch in allen anderen Fragen des Zivilrechts.
Das ist die Grundregel, die heute beschlossen worden
ist. Wir werden jetzt zügig darangehen, diese Eckpunkte
so umzusetzen, dass sich in absehbarer Zeit auch das
Parlament damit beschäftigen kann.
Vielen Dank, Herr Minister.
Wir kommen zunächst zu den Fragen zu diesem Themenbereich. Ich darf schon jetzt darauf hinweisen, dass
mir eine Fülle von Wortmeldungen vorliegt. Es wäre im
Interesse aller, wenn sich alle Beteiligten möglichst stark
konzentrierten.
Als Erster hat der Kollege Bleser das Wort.
Herr Minister, zunächst einmal möchte ich Ihnen ein
Kompliment dafür machen, dass es innerhalb der Bundesregierung gelungen ist, die Ressortabstimmung über
ein Eckpunktepapier zustande zu bringen. Das war nicht
so einfach.
Bei jeder neuen Technologie - diese neue Technologie möchte ich als Zukunftstechnologie bezeichnen gibt es Ängste und Befürchtungen. Können Sie präzisieren, wie es die Bundesregierung und dieses Parlament
bewerkstelligen können, dass die Wahlfreiheit des Verbrauchers, aber auch die Koexistenz aufseiten der Landwirte sichergestellt ist, damit jeder weiß, dass er nicht
gezwungen ist, diese Technologie beim Anbau zu verwenden? Ich bitte Sie, zu präzisieren, in welchem Zeitrahmen wir Parlamentarier in zielführende gesetzgeberische Beratungen einsteigen können.
Die Souveränität des Verbrauchers lässt sich am ehesten durch Kennzeichnung gewährleisten. Sie haben zu
Recht gesagt: Der Verbraucher soll souverän entscheiden. Wenn das so sein soll, dann muss er wissen, was er
kauft. Das ist mit Kennzeichnung gemeint. Deshalb werden wir auf europäischer Ebene auf eine Verbesserung
der Kennzeichnung hinarbeiten.
Ich persönlich kann mir durchaus vorstellen, dass wir
auch national eine Regel für diejenigen entwickeln, die
ihre Produkte als gentechnikfrei bezeichnen wollen;
auch das müssen wir im parlamentarischen Verfahren
vertiefen. Die Souveränität, also die Wahlfreiheit der
Produzenten lässt sich am ehesten durch saubere Regeln
der Koexistenz und der guten fachlichen Praxis gewährleisten. Meine Grundüberzeugung ist: Die Regeln sollten
so aussehen, dass das Nebeneinander im Regelfall ohne
Beeinträchtigung des Nachbarn stattfindet.
Ich vergleiche das immer mit dem Straßenverkehr:
Der Bürger stellt an uns, den Gesetzgeber, mit Recht den
Anspruch, die Regeln so zu gestalten, dass man im Normalfall davon ausgehen darf, unfallfrei wieder nach
Hause zu kommen. Wenn der Regelfall bei der Nutzung
der Gentechnik die Auskreuzung, die Kontamination
wäre, dann wäre die Koexistenzregel nicht in Ordnung.
Deshalb muss die Kontamination der Ausnahmefall sein.
Das hängt mit Abständen, mit Regeln der guten fachlichen Praxis zusammen. Wenn wir diese Regeln überzeugend formulieren, und zwar nicht aufgrund von Ideologie, sondern aufgrund von wissenschaftlichen
Erkenntnissen, dann wird das auf allen Seiten auch ein
Stück Vertrauen in die Praxis schaffen.
Was den Zeitrahmen, nach dem Sie gefragt haben, angeht: Der Wunsch des ganzen Kabinetts, insbesondere
der Kanzlerin, ist gewesen, dass wir diesen Schwung im
Zusammenhang mit den Eckpunkten für eine zügige
Umsetzung nutzen. Natürlich werden wir bei der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe eine Rückkopplung mit den
Koalitionsfraktionen vornehmen, damit möglichst vieles von dem, was die Abgeordneten schon heute bewegt,
bereits im Entwurf ausreichend berücksichtigt werden
kann. Wir wollen dabei sehr zügig vorgehen.
Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Tackmann.
Herr Minister, ich habe natürlich eine ganze Menge
Fragen, aber ich muss mich ja konzentrieren. Also fange
ich gleich mit der ersten Frage an.
Sie führen zu der Festlegung der Mindestabstände einige Prämissen aus, die Sie dabei berücksichtigen wollen. Eine lautet: „Er muss aus den neuesten und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, insbesondere der
Ressortforschung des Bundeslandwirtschaftsministeriums, abgeleitet werden.“ Unter dem nächsten Spiegelstrich heißt es: „Er muss so bemessen sein, dass der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in Deutschland
nicht faktisch unmöglich gemacht wird.“
Was machen Sie denn, wenn Ihre Bundesforschungsanstalt sagt, dass der Abstand von 150 Metern nicht ausreicht und der Anbau dann doch unmöglich ist? Welche
Prämisse setzen Sie da?
Ich habe eine zweite Frage - wenn sie mir noch gestattet ist - zum Kennzeichnungsschwellenwert 0,9.
Dazu sagen Sie: „Es darf keine von der Saatgutwirtschaft in der Praxis nicht erfüllbare Anforderung gestellt
werden.“ Ich frage Sie: Stehen nun der Verbraucherschutz und der Schutz der Nichtanwender im Vordergrund oder die Interessen der Saatgutwirtschaft?
Es steht das Interesse des Menschen und der Umwelt
im Vordergrund. Das ist seit Anfang der 90er-Jahre die
Grundregel in der Gentechnik. Alles andere wäre bei einer neuen Technologie auch nicht zu verantworten.
Was die Abstände betrifft, ist der Satz, den Sie zitiert
haben, so zu verstehen: Man kann jetzt nicht hergehen
- das haben manche europäische Staaten versucht - und
sagen, jenseits jeder wissenschaftlichen Erkenntnis
wähle ich einen Abstand zwischen den Feldern, der gewährleistet, dass in meinem Land Gentechnik nicht stattfindet. Das ist auch europarechtlich nicht zulässig. Dazu
hat der Europäische Gerichtshof Entscheidungen gefällt;
Stichwort Österreich.
Sie müssen bei der Regelung des Abstands wissenschaftlich vorgehen. Einige nachgeordnete Bundesbehörden in meinem Bereich haben solche wissenschaftlichen Versuche gemacht. Sie kennen diese Versuche.
Beim Mais - nur darüber reden wir jetzt; bei anderen
Fruchtarten schaut es wieder ganz anders aus, insbesondere beim Raps, der ja mit jeder Wildpflanze kreuzt kann man die Faustregel aufstellen: Bei einem Abstand
unter 50 Metern kommt es zu einer durchaus beachtlichen Auskreuzung, dann nimmt sie rapide ab, und ab
100 Meter Abstand können Sie sie völlig vernachlässigen.
Meine persönliche Entscheidung lautete deshalb: Wir
addieren aus den genannten Gründen - die Auskreuzung
soll die absolute Ausnahme sein - zu den 100 Metern sicherheitshalber die Hälfte dazu und kommen dann auf
150 Meter. Einfach ins Blaue hinein zu sagen, wir fordern Abstände von 300 oder 500 oder 800 Metern, ist
nicht sachgerecht. Vor allen Dingen dürfen wir nicht Abstände von 5 Kilometern festlegen, weil ein solcher Abstand faktisch die Verhinderung bedeutet, und das ist europarechtlich nicht möglich.
Ich komme zu Ihrer zweiten Frage.
({0})
- Es läuft nicht so, wie uns immer unterstellt wird, dass
wir als Regierung warten, bis uns jemand sagt, was wir
tun dürfen, und es dann tun.
Wir wollen in Deutschland eine relativ junge
Technologie, wenn man sie in großem Maßstab betrachtet, dort nutzen, wo sie Chancen bietet, insbesondere in
der Forschung, aber wir wollen dort, wo wir Risiken sehen, die Risiken ausschalten. Das ist das Motiv. Wir bedienen uns des Sachverstands von Wissenschaftlern, der
Wirtschaft und von Kritikern - ich habe mit allen Kritikern mehrfach gesprochen -, und dann ist es politische
Verantwortung, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Wir lassen uns nicht von irgendjemand bevormunden.
Nun erteile ich der Kollegin Cornelia Behm das Wort.
Herr Minister, vielen Dank für den Bericht.
Sie wären vor der Zulassung neuer gentechnisch veränderter Sorten vielleicht gut beraten gewesen, die gute
fachliche Praxis, von der so viel die Rede ist, zu regeln.
Eine Anhörung zu diesem Thema hat traurige Ergebnisse ausgewiesen. Es bestehen große Unsicherheiten.
Sie sprechen jetzt von 150 Metern Abstand. Ich frage
mich natürlich ganz besorgt, wie Sie bei einem Abstand
von 150 Metern zum Feld mit gentechnisch veränderten
Pflanzen - welche auch immer das dann sein mögen die Interessen der Imker berücksichtigen wollen und
werden; denn Bienen haben bekanntermaßen einen sehr
weiten Aktionsradius.
Ebenso besorgt stimmt mich die Frage: Wie regeln
Sie denn die Koexistenz der Stoffströme bei der guten
fachlichen Praxis? Dazu habe ich überhaupt noch kein
Wort gehört. Es ist ein essenzielles Anrecht der Verbraucherinnen und Verbraucher, dass Folgendes hundertprozentig sichergestellt ist: Wenn auf dem Weg vom Acker
zum Nutzungsort Bestandteile gentechnisch veränderter
Produktion in die Nahrungs- oder Futtermittel kommen,
geht das nicht ohne Kennzeichnung. Uns ist bei der Anhörung aufgezeigt worden, wie viele Möglichkeiten der
Vermischung es gibt. Darauf hätte ich gerne eine Antwort.
Zum Ersten. Auch wenn es immer wieder behauptet
wird, wird es nicht richtig: Ich habe noch keine einzige
gentechnisch veränderte Pflanze zugelassen. Das war alles vor meiner Zeit. Daran waren Sie nicht unbeteiligt.
({0})
Das Einzige, was ich nach dem Regierungsantritt zu verantworten habe: Eine gentechnisch zugelassene Pflanze
wurde ins Sortenregister der Bundesrepublik Deutschland eingetragen.
({1})
Das hat aber mit einer gentechnischen Genehmigung
nichts zu tun, null Komma null zu tun. Meine Vorgängerin, der Sie nicht ganz fernstehen, war an der gentechnischen Zulassung von Pflanzen entschieden mehr beteiligt als ich.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Bundesregierung Österreich und Ungarn auf der europäischen Ebene jüngst unterstützt hat, als die Kommission
wegen der Nichtanwendung von MON 810 gegen die
beiden Länder vorgehen wollte. Dadurch haben wir die
erforderlichen Mehrheiten erreicht.
Das Zweite, zu den Stoffströmen. Ich sage ja: Das
können wir nur auf europäischer Ebene erreichen. Ich
habe vor einiger Zeit eine interessante Fernsehdiskussion geführt. Die wunderschöne Frage der Moderatorin
an einen Babynahrungshersteller, ob er garantieren
könne, dass in seinem Produkt keinerlei gentechnisch
veränderte Organismen - also auch Enzyme oder Vitaminstoffe oder Ähnliches - enthalten seien, ist mit einer
bemerkenswerten Ungenauigkeit beantwortet worden.
Genau das ist das Ergebnis einer umfassenden Kennzeichnung.
Wir haben in sehr vielen Bereichen gentechnisch veränderte Organismen. Aber auch das ist nicht in der Zeit
unter Horst Seehofer entstanden. Sie waren sieben Jahre
an der Regierung beteiligt.
({2})
Die einzige Antwort auf diese Frage der Ströme ist die
Kennzeichnung.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Dr. Anton
Hofreiter.
Vielen Dank, Herr Minister, für den Bericht.
Vorweg ein ganz kurzer Punkt und dann eine Frage
zum Raps. Sie haben vorhin recht damit gehabt, dass
Raps ein ganz großes Problem ist. Aber ich kann Sie
trösten: Raps kreuzt nicht mit jeder Wildpflanze aus, wie
Sie gemeint haben; Raps kreuzt nur mit einem Teil der
Wildpflanzen aus dem Bereich der Kreuzblütler aus.
Meine Frage dazu ist: Wie wollen Sie das beim Raps
sicherstellen? Machen Sie ein Gentechnikgesetz nur für
Mais, oder machen Sie ein Gentechnikgesetz, das generell gilt? Wir alle wissen: Raps hat nahe Verwandte in
der einheimischen Flora. Die kreuzen aus. Abstandsregelungen sind damit nicht möglich usw. Deshalb meine
Frage: Ist Ihr Gentechnikgesetz für Mais, oder ist es ein
generelles Gentechnikgesetz?
Wenn wir Bayern „jeder“ sagen, ist auch „viele“ gemeint. Also, wir haben beide recht.
({0})
Trotzdem bleibt das Problem. Ich halte das Problem
beim Raps nicht für lösbar, wenn es um die Koexistenz
geht. Ob Sie mit „viele“ recht haben oder ich mit „jeder“
recht habe, es ist nicht lösbar, wenn es um die Koexistenz geht - jedenfalls so, wie ich Koexistenz definiere.
Das Gentechnikgesetz ist ein Gesetz, das generell gilt.
Die guten Regeln der fachlichen Praxis, die in einer
Rechtsverordnung festgelegt werden sollen, müssen wir
auf einzelne Pflanzensorten abstellen. Was wir jetzt regeln, bezieht sich auf den Mais.
Nun hat das Wort die Kollegin Ursula Heinen.
Herr Minister, auch von mir herzlichen Dank für die
Darstellung, insbesondere für den wichtigen Teil Präzisierung der Haftungsregelungen.
Nachdem es nicht dazu gekommen ist, dass ein Haftungsfonds oder Ausgleichsfonds etc. gebildet wird,
würde mich in dem Zusammenhang interessieren, wie
jetzt die Selbstverpflichtung der Wirtschaftsverbände
aussehen wird. Es geht ja darum, Landwirte, die die gute
fachliche Praxis einhalten, besonders zu schützen, wenn
es doch zu Verunreinigungen etc. gekommen ist.
Ich gebe das Ergebnis unserer fast einjährigen Untersuchung und all der Gespräche, die stattgefunden haben,
wieder: Eine Versicherung ist aus versicherungsmathematischen Gründen momentan nicht möglich. Ich habe
selbst mehrfach mit den Versicherungschefs gesprochen:
Es gebe noch viele Unwägbarkeiten, die eine Versicherungslösung unmöglich machen.
Zum Haftungsfonds möchte ich sagen: Stellen Sie
sich vor, die Regierung hätte heute ein Gesetz beschlossen, das eine neue Abgabe in der Bundesrepublik
Deutschland vorsieht und regelt, wer sie bezahlt, welche
Höhe sie hat, wo sie hinterlegt wird, für welche Schäden
man damit aufkommt, was geschieht, wenn nicht bezahlt
wird. Sie kennen die Situation im wirtschaftlichen Bereich: Dort sind sehr viele Kleine, aber auch sehr starke
Große unterwegs. Deshalb ist es objektiv betrachtet
nicht möglich, einen Haftungsfonds einzurichten. Die
Wirtschaft hat uns übermittelt, dass ein gesetzlicher Haftungsfonds keine adäquate Lösung sei. Sie hat in der Sache recht.
Wir waren sehr erfreut, dass die Wirtschaft und andere, zum Beispiel der Bauernverband, sagen: Die Haftung soll nicht dem einzelnen Bauern überlassen sein.
Die Wirtschaft insgesamt, beispielsweise die Sortenhersteller, wird - sie hat einer entsprechenden Selbstverpflichtung zugestimmt - für den Schaden des einzelnen
Anbauers haften. Die Selbstverpflichtung ist in meiner
Anwesenheit abgegeben und auch schriftlich festgehalten worden. Sie muss jetzt spezifiziert werden. Die Wirtschaft hat den Anspruch, dass die Regierung sagt, wie
sie sich das insgesamt vorstellt.
Der nächste Schritt, bei dem die Selbstverpflichtung
konkretisiert wird, steht jetzt bevor. Das könnte zum
Beispiel so aussehen: Man könnte schlicht und einfach
die Differenz zwischen dem theoretisch erzielbaren Preis
einer Ökoware und dem Marktpreis der kontaminierten
Ware ausgleichen. Man könnte - in anderen europäischen Ländern wird so verfahren - die kontaminierte
Ernte herauskaufen und thermisch verwerten; mit dem
Eckpunktpapier wollen wir das ermöglichen.
Ich bin froh, dass die Wirtschaft selbst hier in ihre
Verantwortung eintritt. Es ist der Teil der Wirtschaft
- das darf man nicht vergessen -, der die Gentechnik
ökonomisch stärker nutzen will. Ich kann es nur ausdrücklich begrüßen, dass dieser Teil der Wirtschaft sagt:
Wir stehen zu unserer Verantwortung und gehen die
Selbstverpflichtung ein, weil uns das lieber ist als ein gesetzlich vorgeschriebener Haftungsfonds.
Nun hat das Wort der Kollege Johannes Röring.
Herr Minister Seehofer, vielen Dank für den Bericht. Bislang wurde bei dieser neuen Technologie immer nur
von den Vorteilen berichtet, die die Agrarwirtschaft selber hat. Sehen Sie in dieser neuen Technologie auch
neue Möglichkeiten für andere Bereiche? Könnte man
zum Beispiel in den Bereichen Umwelt und Energieeffizienz davon profitieren?
Ich denke, dass es vor allem in der nächsten Generation dieser Technologie mehr nützliche Anwendungsmöglichkeiten geben wird als heute im Lebensmittelbereich. Im Lebensmittelbereich sieht es beim Genmais im
Moment so aus, dass der Mehraufwand für eine gentechnisch veränderte Sorte in etwa dem entspricht, was man
an Minderaufwand für Pflanzenschutzmittel und Ähnliches hat. In der nächsten Generation - da habe ich mich
auch jenseits unserer Grenzen ein bisschen umgehört
und umgesehen - wird es viele zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten geben: bei der Reduzierung des
Wasserverbrauchs beim Anbau einer Stärkekartoffel,
beim Anbau von Wirkstoffen für Medikamente.
Auch wird uns in der nächsten Zeit das Problem sehr
beschäftigen, das Wachstum von Pflanzen unter besonderen klimatischen Bedingungen, bei besonderer Feuchtigkeit oder Trockenheit, zu ermöglichen. Ich habe mir
das in Israel angesehen: Dort bezieht man 40 Prozent der
landwirtschaftlichen Produktion aus der Wüste, wo man
zum Beispiel durch intelligente Bewässerung unter extremen klimatischen Bedingungen ernten kann. Ebenso
gibt es im Hinblick auf die Überwindung des Hungers in
bestimmten Regionen unseres Planeten interessante Ansätze.
Ich glaube, es wäre unverantwortlich, wenn ein hochentwickeltes Land wie die Bundesrepublik Deutschland
etwa im Hinblick auf solche Entwicklungsforschungen
politisch zu dem Ergebnis käme: Wir beteiligen uns
nicht am Erkenntnisgewinn in diesem Bereich. - Aus
diesem Erkenntnisgewinn wird nämlich eines Tages
auch ein Nutzungsgewinn entstehen. Ich sehe gerade in
der nächsten Generation gewaltige Chancen dafür.
Das Wort erteile ich nun der Kollegin Christel
Happach-Kasan.
Herr Minister, vielen Dank für den Vortrag, den Sie
hier gehalten haben. Es gilt ja das Wort: Allzu viel Weihrauch schwächt den Heiligen. Ich möchte Sie diesem Effekt nicht aussetzen; das wäre sicherlich auch für Sie
nicht so gut.
Nun zu meiner Frage. Aus dem Koalitionsvertrag
geht sehr eindeutig hervor, was in diesem Bereich die
Marschrichtung der Koalition ist: verstärkte Forschung
und verstärkter Anbau. Von fachlicher Seite her ist unbestritten, dass die infrage stehenden neuen Sorten unbedenklich für Umwelt und Gesundheit sind. Der Senat der
Forschungsanstalten hat das auch sehr eindrucksvoll im
Forschungsreport I/2006 belegt. Vor diesem Hintergrund
würde ich gerne von Ihnen wissen, Herr Minister, warum Sie in der Weise, wie Sie es getan haben, im vergangenen Jahr die Diskussion über gentechnisch veränderte
Pflanzen intoniert haben. Nach meiner Einschätzung haben Sie damals eher in die Richtung derjenigen geblinkt,
die der Gentechnik skeptisch gegenüberstehen. Mit dem
nun vorliegenden Eckpunktepapier, von dem, wie ich
hoffe, viele Punkte umgesetzt werden, fahren Sie aber
nun in eine andere Richtung. Was haben Sie damit bezweckt, dass Sie eine entsprechende Diskussion, die ja
für viel Aufregung in der Bundesrepublik Deutschland
gesorgt hat, mit Ihrer damaligen Zielrichtung angestoßen
haben?
Erstens bedanke ich mich für Ihre fürsorgliche Eingangsbemerkung.
Zweitens blinke ich nicht links und fahre dann rechts
bzw. umgekehrt. Ich habe meine Position seit den Sommermonaten des letzten Jahres. Hier hat es nur in einem
Punkt eine Veränderung gegeben, was aber nicht auf
mich zurückgeht, sondern auf wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt.
Es ging um die Frage des vorgegebenen Sicherheitsabstandes von 20 Metern. Ich habe mir die Studien über
den Anbau von Mais genau angeschaut und dabei festgestellt, dass nur unter ganz bestimmten Studienbedingungen die Aussagen zutreffen. Darüber haben wir auch in
unserer Fraktion in einer fraktionsoffenen Sitzung gesprochen. Vielfach wurde nämlich neben der abstrakten
Aussage, dass 20 Meter Abstand bestehen muss, die
weitere Bedingung, dass das angrenzende Feld eine bestimmte Mindestbreite haben muss, damit der Schwellenwert von 0,9 unterschritten wird, verschwiegen. Das
Ergebnis einer Studie schaut natürlich schon völlig anders aus, wenn die weitere Bedingung, dass das angrenzende Feld wenigstens 90 Meter breit sein muss, nicht
mitgeteilt wird.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich persönlich
sehr um eine ideologiefreie Antwort auf die Frage bemüht, welche Aussagen wissenschaftlich belegt sind.
Das ist der Wandel, der bei mir stattgefunden hat. Wenn
einem, sobald man einen Erkenntnisgewinn auf wissenschaftlicher Grundlage in die eigene Positionierung einbringt, vorgehalten wird, man würde links blinken und
rechts fahren, dann wird Politik schwierig. Ich vertrete
diese Position jedenfalls seit den Sommermonaten des
letzten Jahres.
Ich habe da auch nichts intoniert. Wir werden hierüber in den nächsten Monaten noch eine sehr muntere
öffentliche Debatte führen müssen, weil es diesbezüglich
noch ein großes Informationsdefizit in der Öffentlichkeit
gibt. Da können viele Ängste bedient werden. Das kenne
ich schon. Ich war ja als Gesundheitsminister in den
90er-Jahren schon einmal für die gesamte Gentechnik
zuständig. Ich orientiere mich an den Erfahrungen, die
ich damals im Medizinbereich gesammelt habe. Da begann die Diskussion genauso wie jetzt hier ziemlich
emotional mit Begriffen wie „Eingriff in die Schöpfung“, „unchristlich“ usw. Wir haben dann drei oder vier
Jahre über die ethischen Grundregeln für die Nutzung
der Roten Gentechnik in der Medizin diskutiert und den
gesellschaftlichen Konsens hergestellt: Gentherapie ja,
aber kein Eingriff in die menschliche Keimbahn und
keine Schaffung eines künstlichen Menschen.
Einen gesellschaftlichen Konsens in dem Bereich,
über den wir jetzt reden, herzustellen, ist noch ein Stückchen schwieriger, da die Nützlichkeit der Genforschung
bei Lebensmitteln, Futtermitteln und Pflanzen für die
breite Öffentlichkeit nicht so leicht einsehbar ist wie die
in der Medizin. Dieser Mühsal müssen wir uns aber unterziehen. Ich möchte nämlich unter allen Umständen
vermeiden, dass in der Bundesrepublik Deutschland darauf verzichtet wird, den Erkenntnisgewinn, der gerade
in der nächsten Generation stattfinden wird, zu erzielen.
An die Adresse der FDP möchte ich noch sagen:
Weite Teile der Ernährungswirtschaft - ich denke an die
Bauern und den Handel -, die mit diesen Dingen zu tun
haben, stehen all dem eigentlich sehr ablehnend gegenüber. Ich beziehe mich hierbei gar nicht auf die Haltung
von Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen, sondern
gehe von der Wirtschaft aus. Ich habe darüber zum Beispiel in Brüssel mit dem Präsidenten des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels diskutiert,
der nicht im Verdacht steht, zukünftigen Entwicklungen
nicht offen gegenüberzustehen. Er hat mit sehr drastischen Worten dargestellt, warum die deutsche Wirtschaft
solche Dinge nicht ins Regal stellt. Auch das müssen wir
sehen, wenn wir darüber diskutieren.
Nun hat die Kollegin Mechthild Rawert das Wort.
Herr Minister, ich begrüße außerordentlich, dass Sie
bekräftigt haben, dass der Schutz von Mensch und Tier
eine ganz wesentliche Intention ist. Ich möchte im Rahmen der Diskussion um die Ethik, wie sie vorhin er8166
wähnt worden ist, eine Frage in dem Kontext von Transparenz und Partizipation stellen.
In den Eckpunkten heißt es unter der Überschrift „Die
Betroffenen informieren - Transparenz sichern“, dass im
öffentlichen Teil des Standortregisters nur die Gemarkung angegeben werden soll und eine Auskunft zu dieser
Gemarkung nur demjenigen erteilt werden soll, der ein
Interesse darlegt und bei dem zu vermuten ist, dass keine
Zerstörungsabsicht vorliegt, die Auskunft also nur unter
eingeschränkten Bedingungen erfolgen soll.
Meine Frage ist: Wer prüft das anhand welcher Kriterien, und - da wir uns alle dem Bürokratieabbau verschrieben haben - wird dadurch nicht noch ein zusätzliches bürokratisches Monster geschaffen?
Eine zweite Frage ist: Aus welchen Gründen soll das
öffentliche Standortregister mit der flurstücksgenauen
Angabe der Freisetzungsflächen eingeschränkt werden,
wie es auch auf den Internetseiten nachzulesen ist, zumal
es ja eigentlich keinen Zusammenhang zwischen der
Feldzerstörung und diesem transparenten Standortregister gibt? Da beziehe ich mich auf die Aussage von
Staatssekretär Paziorek am 3. November 2006, dass im
Jahr 2005 kein Anstieg der Anzahl von Feldzerstörungen von Freisetzungsversuchen mit gentechnisch veränderten Pflanzen festgestellt werden konnte.
Man kann in der Tat aus guten Gründen zwei Denkschulen vertreten: die flurnummergenaue Transparenz
und das Gegenteil. Ich bin der Meinung, in einer Zeit,
wo Menschen in nicht unerheblichem Umfang Eigentum
nicht mehr geachtet und Felder zertrampelt haben, darf
es einem Staat erlaubt sein, Informationen zu rechtswidrigem Handeln gewissermaßen nicht auf dem Silbertablett zu präsentieren. Das ist meine persönliche Überzeugung. Deshalb neige ich mehr zu der zweiten
Denkschule; man sollte also den Gegnern von Freisetzungsversuchen, denen, die Eigentum verletzen und
Schaden anrichten, die entsprechenden Informationen
nicht gewissermaßen frei Haus liefern.
Trotzdem ist in diesem Bereich eine Transparenz vorhanden, mit der wir im internationalen Maßstab sehr gut
dastehen: Wer gentechnisch veränderte Organismen anbaut, muss mit seinen Nachbarn Kontakt aufnehmen und
sie informieren; im Standortregister erfolgt eine Benennung der Gemarkung; für jeden, der ein berechtigtes Interesse hat - das ist übrigens im öffentlichen Recht, im
Grundbuchrecht und anderswo, selbstverständlich -, besteht ein Auskunftsrecht. Ich finde, diese drei Punkte
schaffen eine saubere Transparenz.
Ich habe einen inneren Widerstand gegenüber der anderen Denkschule; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Aufgabe eines Rechtsstaats ist es auch, Rechtsgüter
zu schützen und nicht gewissermaßen die Handlungsanleitung zur Zerstörung mitzuliefern.
Nun kommen wir zur Frage der Kollegin Ulrike
Höfken.
Herr Minister Seehofer, wenn es um den Schutz von
Eigentum und Wahlfreiheit geht, dann müssen doch sicher in erster Linie die gentechnikfreie Produktion und
der Wunsch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
gentechnikfreien Produkten gemeint sein. Da müssen
sich diejenigen, die Sie als verlässlichen Partner gesehen
haben, in der letzten Zeit sogar die Biobauern, doch betrogen fühlen, und zwar in erster Linie von der Industrie,
die hier unter dem Deckmantel der Forschung daherkommt.
Wenn Sie zum Beispiel, wie Sie es gerade noch einmal getan haben, sagen, die Anwendung der Gentechnik
bei Raps sei für Sie in Deutschland nicht vorstellbar, warum haben Sie dann gentechnisch veränderten Raps auf
Forschungsfeldern zugelassen? Warum erlauben Sie
dann die Möglichkeit der Auskreuzung, der Kontamination von Nachbarfeldern durch Forschungsfelder, auch
wenn das Anbauprodukt nicht zum Essen verwendet
werden soll? Warum wird die Haftung im Falle von Forschung im Hinblick auf Beeinträchtigungen von Grundstücken neu definiert? Warum soll es keine modernen
Nachweisverfahren geben? Die Intention ist wohl, keine
genauen Angaben zur Belastung machen zu müssen.
Warum soll geprüft werden, inwieweit der Bund für Forschungsvorhaben die Haftung im Falle von Auskreuzungen auf den entsprechenden Flächen übernehmen kann?
Bedeutet das nicht alles in allem, dass die Forschung
aus ihrer Verantwortung entlassen wird?
Wir sehen das nicht so. Wir wollen bürokratische
Hemmnisse, die die Forschung behindern, beseitigen,
ohne - ich sage es noch einmal - die Umwelt und den
Menschen im Geringsten zu gefährden.
Wenn eine Freisetzungsgenehmigung für einen
Standort A erteilt worden ist, dann wollen Sie doch nicht
ernsthaft fordern, dass für die Standorte B, C und D dieses Verfahren noch einmal durchgeführt werden soll. Mit
dem vereinfachten Verfahren sorgen wir dafür, dass eine
Grundentscheidung für die Standorte B, C und D nicht
noch einmal getroffen werden muss.
Wenn für die Sicherheitsstufe 1 - per Definition besteht bei dieser Sicherheitsstufe für Mensch und Umwelt
keine Gefahr - anstelle der Genehmigung eine Anmeldung erfolgt, wird man doch nicht im Ernst behaupten
können, dass dies eine Verschlechterung der Situation
für Umwelt und Mensch ist. Hinzu kommt, dass man
solche bürokratischen Hürden niemandem erklären
kann.
Wir ändern die Genehmigungsbedingungen einer
Freisetzung für die Forschung in keiner Weise. Die Regelungen, die seit über zehn Jahren im Gentechnikrecht
enthalten sind und die durch europäische Richtlinien
mehrfach bestätigt worden sind, besagen, dass eine Genehmigung für ein Forschungsvorhaben unter Freilandbedingungen an ganz eng gefasste Voraussetzungen zu
knüpfen ist, was dazu führt, dass nach menschlichem Ermessen eine Gefahr ausgeschlossen werden kann. Das
hat zum Beispiel in Gatersleben, wo Winterweizen angebaut wird, dazu geführt, dass ein Abstand von
500 Metern eingehalten wird und dass durch eine Einzäunung des Feldes mit einem engmaschigen Zaun sichergestellt wird, dass die dort lebenden Hamster - es
wurde behauptet, dass es sie dort gibt; sie wurden aber
noch nicht beobachtet - von den Keimen ferngehalten
werden.
Diese Punkte machen deutlich, dass mit maximalen
Auflagen in Bezug auf Sicherheit dafür gesorgt wird,
dass sich durch Forschung im Freiland keine negativen
Auswirkungen ergeben. Ich habe mich beim Präsidenten
des Umweltbundesamtes erkundigt: Es gibt keinen einzigen Fall, bei dem behauptet werden kann, es gebe eine
Gefährdung. Das gilt auch für Ihre Regierungszeit, als
das gleiche Recht galt.
Ich muss noch Folgendes ergänzen: Zunächst erfolgt
ohnehin die Forschung im Labor. Die Forschung im
Freiland ist das letzte Glied in der Kette. Wenn vor der
Erprobung unter natürlichen Bedingungen jahrelang in
geschützten Labors geforscht wird, um eine gewisse
Sicherheit zu gewährleisten - so wird es mit Arzneimitteln ebenfalls gemacht, die nach einer Erprobungszeit in
Krankenhäusern getestet werden -, dann wird man nicht
im Ernst sagen können, dass hier leichtfertig vorgegangen wird.
Nun hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß das
Wort.
Herr Minister, Sie klangen sehr zufrieden, als Sie über
die Einbringung des Eckpunktepapiers im Kabinett berichtet haben. Sie können sich aber vorstellen, dass einige wie auch ich nicht ganz mit dem zufrieden sind,
was heute eingebracht worden ist. Wir haben durchaus
noch Fragen zu den Eckpunkten. Ich hoffe natürlich,
dass wir in der nächsten Zeit diese Fragen miteinander
klären können. Die Reaktionen, die wir schon heute
Nachmittag per E-Mail und telefonisch erhalten haben,
bestärken uns in diesem Vorgehen.
Sie haben besonders herausgestellt, dass Sie die Forschung voranbringen wollen. Dazu würde ich gerne eine
Frage stellen.
Ich zitiere:
Entsprechend der geltenden Rechtslage wird klargestellt, dass die verschuldensunabhängige Haftung
… auf die aus der Grundstücksbeeinträchtigung resultierenden Schäden begrenzt ist.
Meine Frage ist: Was bedeutet das denn konkret,
wenn etwa von einem Versuchsfeld gentechnisch veränderter Reis, für den keine Genehmigung des Inverkehrbringens vorliegt und der nicht an Dritte weitergegeben
werden darf, in die Nahrungsmittelkette gelangt? Das
soll es ja tatsächlich geben, wie die Vergangenheit bewiesen hat.
({0})
Dann ist für mich wichtig: Wer haftet denn dann in so einem Fall, und wer kommt für diese Schäden auf?
Was die Zufriedenheit betrifft: Sie werden mir nachsehen können, dass es, wenn innerhalb des Kabinetts bei
einem so komplexen und sensiblen Feld der Interessenausgleich gelingt, weltfremd wäre, wenn man damit
nicht zufrieden wäre.
Der andere Punkt: Wir ändern - auch dies sollten Sie
zitieren - das Gesetz nicht. Wir stellen nur das klar, was
heute im Gesetz steht, nämlich dass - jedenfalls dann,
wenn kein Verschulden vorliegt - für die Folgenbeseitigung kein Anspruch auf Schadenersatz gegenüber dem
Anbauer besteht. Sie kennen das berühmte Beispiel der
Bahlsen-Kekse: Wenn weiterverarbeitet wird und kein
Verschulden vorliegt, fallen all die Schäden, die daraus
entstehen, nicht auf den Anbauer zurück. Das ist einer
der Punkte - das hatte ich mit Ihrer Fraktion besprochen -,
den wir in den nächsten Monaten im Rahmen des Symposiums zu Haftungsfragen etc. mit der Elite des deutschen Haftungsrechts durchleuchten werden.
Fragen kann man immer schnell stellen, auch die
Frage: Wer zahlt die Testkosten?
({0})
Man kommt dann aber immer an den Punkt - dieses Problem haben Sie genauso wie wir -: Wie löst man diese
Frage, die man in den Raum stellt? Natürlich werden wir
im Gesetzgebungsverfahren weiter Gehirnschmalz einsetzen; das ist ja der Sinn eines parlamentarischen Verfahrens.
Frau Kollegin, Sie haben in diesem Zusammenhang
den Eingang von E-Mails und Ähnlichem angesprochen.
Wir haben als Parlamentarier schon die Aufgabe, Menschen von einer Sache zu überzeugen, und dürfen nicht
einfach Stimmungen aufnehmen. Ich habe das Beispiel
aus der Medizin nicht umsonst genannt: Die gleichen
Leute, die oft fundamentalistisch gegen die Nutzung einer Technologie zu Felde ziehen, sind dann, wenn der
Segen der Anwendung zur Verfügung steht, die Ersten,
die den Segen in Anspruch nehmen wollen. Ich möchte
vermeiden, dass wir dort, wo es in der Gentechnik positive Chancen gibt, diese verschlafen und dann die jeweiligen Produkte oder auch das Wissen aus dem Ausland
beziehen. Das ist meine Motivation.
({1})
Aber das geht - das sollte klar sein - nicht um den
Preis der Fahrlässigkeit.
Darüber sollten wir mit den Menschen diskutieren.
Denn wenn Sie die E-Mails, die wir bekommen, anschauen, dann stellen Sie fest, dass die jeweiligen Verfasser es am liebsten hätten, wenn wir uns mit dem ganzen Thema gar nicht beschäftigen und so etwas in der
Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht stattfinden
lassen würden.
({2})
Wir haben die Zeit schon etwas überschritten, Frau
Kollegin.
Ich beeile mich. Wenn Sie sagen, dass wir bei der Roten Gentechnik diese Ängste irgendwann einmal überwunden haben, muss ich dann davon ausgehen, dass wir
jetzt einfach warten und die Zeit für uns arbeiten lassen,
um auch die Ängste im Hinblick auf die Grüne Gentechnik zu überwinden?
Nein, ich habe schon vor ein paar Minuten ausdrücklich hinzugefügt, dass die Nützlichkeit der Pflanzen, die
im Lebensmittel- und Futtermittelbereich von Bedeutung sind, von den Menschen nicht so hoch eingeschätzt
wird, wie das in der Medizin der Fall ist. Das wird ein
anderer Prozess werden.
Aber ich rede ja hauptsächlich über die nächste Generation. Im Food-Bereich wird es sehr schwer werden. Sie
erleben doch das Gleiche wie ich: Wo immer ich in
Deutschland hinkomme, ist - jedenfalls in den meisten
Bereichen - eine ganze Menge Widerstand seitens der
Kirchen, der Landfrauen, der Gemeinden, der kommunalen Politiker und der Wirtschaft vorhanden.
({0})
Diesen Widerstand müssen wir ernst nehmen. Ich
glaube, die Regierung hat dies sehr sensibel in dieses
Eckpunktepapier aufgenommen.
({1})
Herr Minister, ich danke Ihnen für die Beantwortung
der Fragen. Wir haben zwar die dafür vorgesehene Zeit
etwas überschritten. Aber ich denke, das ist angesichts
der Bedeutung dieses Themas angemessen.
Ich beende die Regierungsbefragung und rufe
Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/4367, 16/4390 Zu Beginn kommen wir zu den dringlichen Fragen.
Zum einen liegt uns die dringliche Frage 1 der Kollegin
Cornelia Hirsch zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vor. Diese ist zurückgezogen.
Zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes liegen
uns die dringlichen Fragen 2 und 3 des Kollegen Volker
Beck ({0}) vor. Sie sind ebenfalls zurückgezogen.
Damit kommen wir zu den Fragen auf Drucksache
16/4367 in der üblichen Reihenfolge.
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Die
Fragen 1 und 2 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die
Frage 3 der Kollegin Cornelia Hirsch wird ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Die Frage 4 des Kollegen Dr. Karl
Addicks wird auch schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Barbara
Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter
auf:
Was hat die Bundesregierung dazu veranlasst, sich mit den
Finanzbehörden der Länder darüber zu einigen, dass die unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Parkraum/Stellplätzen generell nicht zu besteuern ist, und warum sind dagegen Zuschüsse des Arbeitgebers zu den Fahrtkosten des
öffentlichen Verkehrs als geldwerter Vorteil zu versteuern?
Frau Staatssekretärin, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Hofreiter, zum steuerpflichtigen Arbeitslohn des Arbeitnehmers gehören alle
Leistungen des Arbeitgebers, die dem Arbeitnehmer in
Form von Bezügen oder geldwerten Vorteilen zufließen.
Arbeitslohn wird nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofes dann angenommen, wenn der Entlohnungscharakter für die Zurverfügungstellung der Arbeitskraft im Vordergrund steht. Hingegen wird kein
Arbeitslohn angenommen, wenn die Leistung im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers
erbracht wird. Hiervon wird im Einvernehmen mit den
obersten Finanzbehörden der Länder ausgegangen, wenn
dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber kostenlos oder verbilligt Parkplätze zur Verfügung gestellt werden. Dass
auch der Arbeitnehmer hieran ein Interesse hat, ist in
diesem Fall von untergeordneter Bedeutung.
Barzuschüsse des Arbeitgebers zu Fahrten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte gehören und gehörten auch
in der Vergangenheit auch bei Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel zum steuerpflichtigen Arbeitslohn. Hier
bestand und besteht lediglich die Möglichkeit, dass der
Arbeitgeber diese Zuschüsse mit 15 Prozent pauschal
versteuert und insofern eine Steuerpflicht beim empfangenden Arbeitnehmer nicht mehr eintritt.
Durch die Neugestaltung der Entfernungspauschale
ist die Pauschalversteuerung ab 2007 jedoch erst ab dem
21. Entfernungskilometer in Höhe der Entfernungspauschale zulässig.
Vorteilhafter für die Arbeitnehmer ist es allerdings,
wenn der Arbeitgeber für seine Arbeitnehmer selbst sogenannte Jobtickets erwirbt und an die Arbeitnehmer
weitergibt. In diesem Fall ist die Weitergabe des Jobtickets steuerfrei, wenn der Wert des Tickets abzüglich
eventueller Zuzahlungen des Arbeitnehmers die 44-EuroFreigrenze nach § 8 Abs. 2 Einkommensteuergesetz
nicht übersteigt.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Dr. Hofreiter?
Ja. Mir leuchtet überhaupt nicht ein, warum es für den
Arbeitgeber im stärkeren eigenen Interesse sein soll,
wenn die Arbeitskräfte selber mit dem Auto statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen. Das ist mir einfach
unklar. Dass Sie sagen, es sei im Interesse des Arbeitgebers, den Arbeitskräften einen kostenlosen Parkplatz zur
Verfügung zu stellen, damit diese nicht nach einem suchen müssen, leuchtet mir ein. Aber wieso ist das Interesse daran im Verhältnis höher als daran, dass sie mit
öffentlichen Verkehrsmitteln kommen? Dies könnte von
weitaus größerem Interesse für den Arbeitgeber sein, da
die Arbeitnehmer weniger gestresst und entspannter ankommen. Es kommt zu weniger Ausfällen, da es sicherer
ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, usw.
Herr Kollege Hofreiter, das ist in der Tat eine Einschätzung, die nicht vollständig von der Hand zu weisen
ist. Ich kann Ihre Beurteilung aus Ihrer Sicht sehr gut
verstehen.
Ich hatte Ihnen aber gerade gesagt, dass nach objektiven Gesichtspunkten entschieden wird, welches Interesse im Vordergrund steht: das Arbeitgeber- oder das
Arbeitnehmerinteresse. Der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes liegt genau
diese Beurteilung zugrunde. Es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass bei einer Einstellungsänderung von Arbeitgebern die höchstrichterliche Rechtsprechung in Zukunft
möglicherweise anders erfolgen könnte. Natürlich können sich Wertungen - Wie beurteilt man A oder B? auch bei den Gerichten ändern. Das ist keine Frage.
Ich hatte aber den Ausweg gleichsam gewiesen, indem ich auf die Jobtickets hingewiesen habe. Entscheidend ist, wie man im Betrieb damit umgeht. Gibt man
den Arbeitnehmern einen Barzuschuss, damit sie sich
ein Ticket des öffentlichen Personennahverkehrs erwerben, oder erwirbt die Personalabteilung für die Beschäftigten des Unternehmens die Jobtickets, die gewöhnlich
von den Verkehrsunternehmen rabattiert werden, weil
eine größere Anzahl von Tickets erworben wird, und
gibt dann die Tickets an die Arbeitnehmer ab, möglicherweise mit einem eigenen Obolus des Arbeitnehmers?
Die Ausgestaltung ist freigestellt. Wenn man dem Arbeitnehmer ein solches Jobticket gibt, ist das steuerfrei.
Vor dem Hintergrund der jetzigen Rechtslage und der
Auslegung der bestehenden Gesetze, auch durch die
obersten Gerichte, ist es auch derzeit möglich, durch betriebliche Praxis eine Steuerfreiheit im Wert von 44 Euro
pro Monat herbeizuführen. Damit kommt man beim Jobticket schon ganz schön weit.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Nein.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Dr. Hermann Otto
Solms auf:
Hat die Bundesregierung Informationen darüber, dass private Veräußerungsgewinne in der Schweiz, Österreich, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden sowie den USA besteuert werden, und, wenn ja, welche
Steuersätze, Freibeträge und Spekulationsfristen für private
Veräußerungsgewinne gelten in den genannten Ländern?
Herr Kollege Solms, nach vorliegenden Informationen werden private Veräußerungsgewinne in Frankreich,
Italien, Luxemburg, Schweden, Großbritannien wie in
insgesamt 17 Mitgliedstaaten der Europäischen Union
und den USA besteuert. In Österreich sind private Veräußerungsgewinne grundsätzlich nicht steuerpflichtig, es
sei denn, es handelt sich um Spekulationsgeschäfte oder
wesentliche Beteiligungen.
({0})
Soweit Sie dies wünschen, bin ich gern bereit, Ihnen zur
konkreten Ausgestaltung der Steuerpflicht in den von Ihnen genannten Ländern eine Aufzeichnung zu übersenden. In der Schweiz sind private Veräußerungsgewinne
steuerfrei.
Sie haben eine Zusatzfrage, bitte.
Ich möchte die Zusatzfragen gerne nach Beantwortung der zweiten Frage stellen.
Dann rufe ich die Frage 7 des Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms auf:
Vizepräsidentin Petra Pau
Sieht die Bundesregierung angesichts der in der Schweiz,
Österreich, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, Italien,
Schweden und den USA geltenden Regelungen für private
Veräußerungsgewinne die Gefahr, dass es bei Einführung einer Abgeltungsteuer in Höhe von circa 28,5 Prozent inklusive
Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer zu einer Kapitalflucht
aus Deutschland kommen könnte?
Die Bundesregierung teilt derartige Befürchtungen
nicht. Zum einen müssen Steuerpflichtige auch bei einer
Kapitalanlage im Ausland die steuerrelevanten Tatbestände, also laufende Zinsen, Dividenden oder Veräußerungsgeschäfte, in der Einkommensteuererklärung angeben, da eine Kapitalanlage im Ausland die deutsche
Steuerpflicht nicht entfallen lässt und das Besteuerungsregime im Ausland insoweit nicht von Belang ist. Zum
anderen wird eine verstärkte Abwanderung von Kapital
ins Ausland gerade dadurch vermieden, dass die Steuerpflichtigen hinsichtlich ihrer Zinseinkünfte zukünftig
nicht mehr dem bisher geltenden progressiven Steuersatz
von 42 bzw. bis zu 45 Prozent zuzüglich Solidaritätszuschlag sowie gegebenenfalls Kirchensteuer unterliegen,
sondern lediglich ein die Einkommensteuer abgeltender
Steuersatz von 25 Prozent zuzüglich Solidaritätszuschlag sowie gegebenenfalls Kirchensteuer Anwendung
findet.
Weiterhin wird die im Rahmen der Unternehmensteuerreform beabsichtigte Einführung einer Besteuerung
von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften
außerhalb der bisherigen Einjahresfrist nicht zu einer
massiven Verlagerung von Depots ins Ausland führen.
Es trifft zwar, isoliert betrachtet, zu, dass die Einführung
einer uneingeschränkten Wertpapierveräußerungsgewinnbesteuerung bei einer Haltedauer von mehr als einem Jahr für den Anleger bei Veräußerungsgewinnen zu
einer steuerlichen Mehrbelastung führen kann; genauso
richtig ist allerdings auf der anderen Seite, dass Veräußerungsverluste künftig auch nach Ablauf eines Jahres
steuermindernd zu berücksichtigen sein werden. Bereits
diese Wechselwirkung zeigt, dass die Beurteilung des
Gesamtkonzepts der Abgeltungsteuer nicht auf einzelne
Teilaspekte eingeengt werden darf.
Außerdem fallen im Zusammenhang mit der Kapitalanlage in Wertpapieren neben einmaligen Veräußerungsgewinnen auch laufende Zinsen und Dividenden an. Für
den Anleger ist daher neben der steuerrechtlichen Behandlung langfristiger Veräußerungsgewinne ebenso die
Frage bedeutsam, wie kurzfristige Umschichtungen im
Depot und laufende Erträge künftig behandelt werden.
Die Abgeltungsteuer wird dabei für die meisten privaten
Anleger insgesamt gesehen gegenüber dem derzeitigen
Recht die deutlich attraktivere Alternative darstellen, zumal sich die geringere steuerliche Belastung der laufenden Erträge auch auf die Wertentwicklung langfristiger
Anlagen vorteilhaft auswirkt.
Im Übrigen wird die einheitliche Behandlung der unterschiedlichen Kapitalanlageformen gegenüber dem
heutigen Recht ein Höchstmaß an steuerrechtlicher
Transparenz und übrigens auch Vereinfachungen bieten.
Die Rendite wird sich künftig nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien richten, sodass die Einschätzung
von Anlagerisiken nicht mehr von steuerlichen Überlegungen überlagert wird, wie dies gegenwärtig insbesondere in der Grauzone der Abgrenzung der Besteuerung
von Veräußerungsgewinnen gegenüber laufenden Kapitalerträgen der Fall ist. Gerade dieser Gesichtspunkt
sollte nicht unterschätzt werden. Er wird auch vonseiten
der Banken hervorgehoben.
Sie haben insgesamt vier Nachfragemöglichkeiten.
Frau Staatssekretärin, der internationale Vergleich ist
jetzt natürlich nicht möglich, weil Sie die einzelnen Kriterien und Abgrenzungsmöglichkeiten bei der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen in den anderen Ländern noch nicht genannt haben. Diesen Vergleich wird
man noch ziehen müssen.
Ich möchte auf die Aktiengewinne eingehen. Angesichts der Tatsache, dass Veräußerungsgewinne, die hier
bislang steuerfrei waren und in der Schweiz und in Österreich weiterhin steuerfrei sein werden, hier nun in die
Besteuerung einbezogen werden, erscheint es mir ziemlich weltfremd, zu sagen, dass dies keinen Einfluss auf
das Verhalten der Vermögensbesitzer oder anlagebereiten Menschen haben wird.
Herr Kollege, wenn Sie dies annehmen, dann unterstellen Sie zugleich Steuerhinterziehung, weil ein in der
Bundesrepublik ansässiger Aktiendepotbesitzer, der sein
Aktiendepot nach Österreich verlegt, gleichwohl in
Deutschland steuerpflichtig ist. Wenn Sie dies also annehmen, dann unterstellen Sie allen Anlegern, dass sie
vorhaben, Steuerhinterziehung zu begehen. Dies will ich
den Vermögenden in der Bundesrepublik Deutschland
nicht pauschal unterstellen.
Wir gehen ja von der Realität aus, Frau Staatssekretärin, nicht vom Ideal. Die Realität ist so, dass es viele
Deutsche gibt, die Konten im Ausland unterhalten und
den Finanzbehörden nicht über alle Konten Bericht erstatten.
({0})
Unser gemeinsames Interesse ist es, diese Anleger dazu
zu bewegen, ihr Anlagekapital zu offenbaren oder nach
Deutschland zurückzutransferieren.
Deswegen ist es doch wichtig, zu überlegen, welche
Motive die Menschen bewegen könnten, diesen Weg zu
gehen. Ich glaube, die Androhung, dass Veräußerungsgewinne, die bislang steuerfrei waren, nun mit knapp
30 Prozent besteuert werden sollen, ist für die betroffenen Personen keine Anregung, ihr Anlagekapital nach
Deutschland zurückzuverlagern.
Herr Kollege Solms, mir ist bisher in allen Debatten,
die wir im Zusammenhang mit der Abgeltungsteuer hatten - wir führen solche Debatten im politischen Raum
seit vielen Jahren -, immer dargetan worden, dass den
Vermögenden daran läge, Anonymität zu bewahren und
dass sie deswegen eine Abgeltungsteuer befürworteten,
die anonym und direkt von der Quelle her, nämlich von
der depotführenden Bank - sofern es sich um Veräußerungsgewinne oder um Dividendenerträge handelt -, an
das Finanzamt abgeführt würde, ohne dass die Anonymität des Inhabers eines solchen Depots oder Kontos offenbar wird.
Nachdem dies ab dem Jahr 2009 durch eine anonyme
Abgeltungsteuer sichergestellt werden soll, erhebt sich
jetzt eine neue Debatte, die Sie hier darstellen. Ich gehe
davon aus, dass Sie sie sich nicht persönlich zu eigen
machen. Man kann von einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht erwarten, dass er in diesem Hohen Hause Verständnis für Steuerhinterziehung äußert;
das nehme ich von Ihnen nicht an. Insofern glaube ich,
dass wir jetzt nicht in eine neue Schieflage der Debatte
kommen sollten. Die Anonymität wird zukünftig gewährleistet sein.
Der Bürger, der möglicherweise gleichzeitig Veräußerungsverluste geltend machen will, tut gut daran, sich
von seiner Bank die Erträgnisaufstellung geben zu lassen
und sie aufzubewahren, damit er in einem späteren Fall
die Saldierung machen kann. Wenn er zu einem späteren
Zeitpunkt Veräußerungsverluste erleidet, wird er diese
geltend machen können. Das wird in dieser sogenannten
Schedule eingearbeitet sein. Früher versteuerte Gewinne
werden mit anfallenden Verlusten verrechnet werden
können. Dies ist neu. Insofern müsste insbesondere jemand, der zu risikoreichen Anlagen neigt, daran interessiert sein, sich die Möglichkeit der Verlustverrechnung
zu eröffnen.
Im Übrigen ist die abgeltende Wirkung der Kapitalertragsbesteuerung und der Veräußerungsgewinnbesteuerung für die große Mehrheit der Steuerpflichtigen eine
Erleichterung. Denn wir bleiben auf jeden Fall - auch
inklusive Solidaritätszuschlag und möglicherweise Kirchensteuer - in einer Größenordnung von etwa 28 Prozent, also deutlich unter 30 Prozent. Unter den Kapitalanlegern befindet sich ein überproportional hoher Anteil
von Bürgerinnen und Bürgern, die aufgrund ihres Einkommens dem Spitzensteuersatz unterliegen.
Sie haben die Möglichkeit zu zwei weiteren Nachfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, nur damit es hier kein Missverständnis gibt: Die Abgeltungsteuer auf Zinsen und Dividenden wird von uns
ausdrücklich begrüßt. Dies wird zu einer deutlichen Vereinfachung der Verfahren und zu mehr Vertrauen bei den
Anlegern führen. Es geht mir darum, ob die Bundesregierung durch die Einbeziehung der Veräußerungsgewinne in die Abgeltungsteuer, die nicht zwingend notwendig wäre, tatsächlich das erreicht, was sie eigentlich
erreichen will.
Ich möchte meine Frage ergänzen: Welche Auswirkungen wird das auf die auch von der Bundesregierung
unterstützten Anstrengungen im Hinblick auf die private
Altersvorsorge haben? Denn unter Einbeziehung der Besteuerung der Veräußerungsgewinne werden auch private Sparpläne, in welcher Form auch immer, ganz anders behandelt bzw. von ganz anderer Attraktivität sein
- sie werden an Attraktivität verlieren -, als es bisher der
Fall war. Diese Entwicklung wäre sehr negativ. Schließlich wissen wir alle, dass wir in Zukunft sehr viel stärker
auf die private Altersvorsorge angewiesen sein werden.
Herr Kollege Solms, ich bin davon überzeugt, dass
wir diesen besonderen Aspekt - die private Altersvorsorge durch Fondssparpläne - im anstehenden Gesetzgebungsverfahren noch erörtern werden.
Danke.
Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf.
Die Fragen 8 und 9 der Kollegin Bärbel Höhn werden
schriftlich beantwortet. Die Frage 10 der Kollegin
Cornelia Behm wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf.
Die Frage 11 des Kollegen Hettlich wird schriftlich
beantwortet. Die Fragen 12 und 13 der Kollegin Lötzsch
werden schriftlich beantwortet. Auch meine Fragen, die
Fragen 14 und 15 der Abgeordneten Pau, werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Hier hätte der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Hermann Kues zur Beantwortung zur Verfügung gestanden. Aber aufgrund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien
für die Fragestunde werden die Fragen 16 und 17 der
Kollegin Deligöz, die Fragen 18 und 19 der Kollegin
Sager und die Fragen 20 und 21 der Kollegin Hinz
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Die Fragen 22 und 23 der Kollegin Höfken werden
schriftlich beantwortet.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Frage 24 der Kollegin Bender auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der Tagung der Gesundheitsministerkonferenz zum Thema Schutz
vor Passivrauchen vom 23. Februar 2007, und warum nutzt
die Bundesregierung die Möglichkeit im Arbeitsschutz nicht,
um für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konsequente Regelungen zum Schutz vor Passivrauchen vorzuschlagen?
Für die Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Marion Caspers-Merk zur Verfügung.
Ich würde die beiden Fragen der Kollegin Bender
gerne gemeinsam beantworten.
Gut. Dann rufe ich auch die Frage 25 der Kollegin
Bender auf:
Wie lautet die im Referentenentwurf „Gesetz zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchs“ vorgesehene Änderung
der Arbeitsstättenverordnung, die laut Kritik von Verbänden,
die sich für den Schutz vor Passivrauchen einsetzen, keine
Veränderung der Rechtslage bedeuten würde, und welche Vorschläge machen zum Beispiel die Deutsche Hauptstelle für
Suchtfragen oder der Ärztliche Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit zu diesem Punkt?
Danke schön, Frau Präsidentin. - Die Bundesregierung begrüßt, dass sich die Gesundheitsminister der Länder auf einheitliche Regelungen zum Nichtraucherschutz
verständigt haben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Regelungen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes. Weitergehende Regelungen für den Gaststättenbereich konnten aus verfassungsrechtlichen Gründen
nicht getroffen werden. Die Kompetenz für den Arbeitsschutz erfasst ausschließlich Regelungen im Verhältnis
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht aber zum
Verhalten Selbstständiger oder Dritter. Gastbezogene
Regelungen des Nichtraucherschutzes fallen, soweit sie
zugleich dem Schutz der in der Gastronomie Beschäftigten dienen, unter das Gaststättenrecht, sodass hierfür allein die Länder gesetzgebungsbefugt sind.
Wie an der Diskussion der Gesundheitspolitikerinnen
und Gesundheitspolitiker dieses Hauses zu erkennen
war, gab es hierzu unterschiedliche Einschätzungen.
Letztendlich war man sich jedoch einig, dass der Arbeitsschutz im Prinzip nur eine Struktur hätte regeln
können, in der der Beschäftigte betroffen ist. Wenn eine
Gaststätte zum Beispiel in Familienbesitz ist und dort
nur Mitglieder der Familie arbeiten, aber keine Beschäftigungsverhältnisse im klassischen Sinne vorhanden
sind, hätten die Regelungen des Arbeitsschutzes nicht
gegolten.
Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass man Scheinselbstständigkeit verhindern wollte, die dadurch hätte
entstehen können, dass über Umgehungstatbestände
selbstständige Beschäftigungsverhältnisse in Gaststätten
geschaffen und damit Arbeitsschutz und Nichtraucherschutz ausgehebelt worden wären.
Die entscheidende Stelle des Gesetzentwurfes, den
das Kabinett beschlossen hat, lautet wie folgt:
Soweit erforderlich, hat der Gesetzgeber ein allgemeines oder auf einzelne Bereiche der Arbeitsstätte
beschränktes Rauchverbot zu erlassen.
Das unterstützt die Vorhaben der Länder im Hinblick auf
das Gaststättenrecht und es stellt klar, dass das Rauchverbot erlassen werden kann.
Bereits nach der geltenden Rechtslage ist der Arbeitgeber verpflichtet, in der Arbeitsstätte Maßnahmen zum
Schutz der nichtrauchenden Beschäftigten zu ergreifen.
Der jetzt angefügte Satz bringt zum Ausdruck, dass insbesondere ein allgemeines Rauchverbot für den gesamten Betrieb oder ein auf einzelne Bereiche der Arbeitsstätte beschränktes Rauchverbot geeignete Maßnahmen
im Sinne der Arbeitsstättenverordnung sind.
Sie fragten, wie wir einschätzen, was Experten zu diesem Punkt gesagt haben. Die Deutsche Hauptstelle für
Suchtfragen, die Sie insbesondere zitieren, geht in ihrer
Stellungnahme davon aus, dass diese Arbeitsstättenverordnung nur aufzuheben sei. Dem schließt sich der Ärztliche Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit an. Wir müssen allerdings sagen: Solange es keine landesrechtlichen
Regelungen gibt, stehen diesen Forderungen verfassungsrechtliche Hindernisse entgegen. Deshalb können
sie, um einen effektiven Nichtraucherschutz in Gaststätten zu garantieren - eine Forderung, die uns Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker eint -,
nicht zum Zuge kommen.
Frau Bender, Sie haben jetzt die Möglichkeit, vier
Nachfragen zu stellen. Bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin,
meine erste Zusatzfrage lautet: Was ändert die im Kabinett beschlossene Formulierung am Regelungsgehalt der
Arbeitsstättenverordnung der Sache nach? Denn es war
dem Arbeitgeber ja schon bisher möglich, Rauchverbote
zu erlassen.
Das ist richtig. Es ist ihm möglich, Rauchverbote zu
erlassen. Es gibt aber die Einschränkung mit dem Publikumsverkehr. Im Prinzip ist jetzt klargestellt, dass der
Arbeitgeber solche Rauchverbote überall erlassen kann.
Aber wie ich sagte: Das Ganze macht nur Sinn im Zusammenhang mit der Regelung im Gaststättenrecht, die
die Länder erlassen werden. Sie wissen ja, dass man sich
bei dem Treffen in Hannover geeinigt hat, dass die Länder in ihrem Verantwortungsbereich, dem Gaststättenrecht, Regelungen treffen wollen. Das unterstreicht noch
einmal, dass man in diesem Bereich Regelungen treffen
kann, und macht die Absicht des Gesetzgebers klarer.
Die Debatte, ob man über den Arbeitsschutz ein
Rauchverbot in Gaststätten erreichen kann, ob also der
Bund die entsprechende Kompetenz hat, ist von den GeParl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
sundheitspolitikern geführt worden, und dieser Weg ist
verfassungsrechtlich geprüft worden. Doch dem standen
die Bedenken entgegen, weil über den Arbeitsschutz nur
Arbeitplatzregelungen erlassen werden können, aber
keine allgemeinen Regelungen, die den Gast einschließen. Solche Regelungen würden insbesondere dort nicht
gelten, wo es keine klassischen Beschäftigungsverhältnisse gibt, also in eigentümergeführten Gaststätten. Einen solchen Flickenteppich - dass dort, wo der Eigentümer nicht in der Gaststätte steht, ein Rauchverbot über
den Arbeitsschutz gilt, aber dort, wo der Eigentümer in
der Gaststätte steht, keines gilt - hätte man sicher nicht
gewollt. Ich glaube, das wäre keine sinnvolle Regelung
gewesen.
Ihre zweite Frage. Bitte.
Frau Staatssekretärin, die Länder haben den Bund
aufgefordert, so etwas über den Arbeitsschutz zu regeln,
Sie hingegen halten es für entscheidend, dass die Länder
dies über ihre Gaststättengesetze tun. Könnte es sein,
dass hier Schwarzer Peter gespielt wird, dass die eine
Ebene behauptet, die andere sei zuständig, und am Ende
gar nichts passiert?
Diesen Eindruck habe ich nicht, Frau Kollegin
Bender. Sie kennen wie ich die Diskussion über den
Nichtraucherschutz und wissen, dass sie schon lange
Jahre geführt wird. Sie wissen, der Nichtraucherschutz
ist mir ein persönliches Anliegen. Es war in allen Fraktionen und in allen Parlamenten in Deutschland nicht immer einfach - ich sage es einmal vorsichtig -, Mehrheiten für den Nichtraucherschutz zu organisieren. Deshalb
bin ich sehr froh, dass Bund und Länder jetzt gemeinsam
vorgehen: Der Bund hat einen Gesetzentwurf vorgelegt;
er regelt, was in seiner Kompetenz zu regeln ist. Hierbei
finde ich insbesondere die Heraufsetzung der Altersgrenze für die Abgabe von Tabakwaren von 16 auf
18 Jahre, die entsprechende Ergänzung dieser Regelung
im Arbeitsstättenrecht und die Regelungen für die Bundeseinrichtungen wichtig.
Die Länder haben sich verpflichtet, in ihrem Einflussbereich die Regelungen zu komplettieren. Das betrifft
Schulen und Kindergärten, aber auch Gaststätten und
Krankenhäuser. Insofern gibt es eine gemeinsame Stellungnahme, die beim Nichtrauchergipfel in Hannover
vereinbart wurde. Darin begrüßen die Länder ausdrücklich die Ergänzung der Regelung im Arbeitsstättenrecht,
die sie als Unterstützung betrachten, und machen deutlich, dass sie - weil sie die Zuständigkeit im Gaststättenrecht übertragen bekommen wollten - handeln müssen
und handeln werden.
Ihre dritte Nachfrage, bitte.
Zum Handeln der Länder: Die Länder NordrheinWestfalen und Niedersachsen, in denen immerhin
30 Prozent der Bevölkerung leben, haben sich vorbehalten, das Gaststättenrecht so zu regeln, dass ganze Gaststätten zu Rauchergaststätten werden können. Wie bewertet die Bundesregierung dieses Ausscheren aus der
ansonsten etwas verbindlicheren Stellungnahme der
Länder?
Zunächst einmal finde ich es erfreulich, dass die Befürchtung vonseiten des Bundes, dass es zu einem Flickenteppich von Regelungen kommt, nicht eingetroffen
ist. Vielmehr wurde über die gemeinsame Stellungnahme mit 16 : 0 abgestimmt.
Zwei Länder, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, haben in einer Protokollnotiz - das ist ein deutlich
abgeschwächtes Instrument - festgehalten, dass sie sich
vorbehalten, zu prüfen, inwieweit einzelnen gastronomischen Betrieben ermöglicht wird, sich zu Rauchergaststätten zu erklären. Das ist ein Prüfauftrag; es bedeutet
kein Abweichen von der generellen Linie, dass auch in
Gaststätten der Nichtraucherschutz verstärkt werden
muss.
Ich halte es für wichtig, dass dieser Grundkonsens
von allen Bundesländern getragen wurde und dass alle
Bundesländer bereit waren, entsprechende Regelungen
zu schaffen. Ich glaube, dass in Zukunft die Akzeptanz
in der Bevölkerung dazu beitragen wird, dass einheitlichere Strukturen entstehen. Denn Umfragen zufolge
wünschen sich 70 Prozent der Bevölkerung klare Regelungen zum Nichtraucherschutz.
Wir kommen damit zur Frage 26 des Kollegen
Dr. Harald Terpe:
Worin besteht aus Sicht der Bundesregierung im Vergleich
zur jetzigen Praxis die grundsätzliche Neuerung der im Referentenentwurf „Gesetz zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchs“ in Bezug auf den öffentlichen Nahverkehr und die
Eisenbahnen enthaltenen Vorschrift zur Einrichtung gesonderter Raucherräume, und in welchem Verhältnis steht diese Vorschrift zur schrittweisen Einführung vollständig rauchfreier
Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn?
Herr Kollege Terpe, die grundsätzliche Neuerung der
Vorschrift besteht darin, dass nun grundsätzlich für alle
öffentlichen Verkehrsmittel die gleichen Mindeststandards für den Schutz vor Passivrauch gelten. Für Bereiche, in denen bereits auf freiwilliger Basis weitergehende Rauchverbote bestehen - zum Beispiel in
Passagierflugzeugen oder in Nahverkehrszügen -, bedeutet dies in der Praxis keine Änderung, sondern eine
gesetzliche Normierung.
In Teilen des öffentlichen Personennahverkehrs
kommt es zu Verbesserungen des gesetzlichen Nichtraucherschutzes. Hier sind insbesondere die Taxen zu nen8174
nen, die mit dieser Regelung erfasst werden, was bislang
nicht der Fall war.
Auch wenn die Deutsche Bahn beispielsweise weitergehende Regelungen geschaffen hatte, ist zu berücksichtigen, dass es in Deutschland neben der Deutschen Bahn
auch private Betreiber gibt. Mit der Vorschrift werden
einheitliche Mindeststandards geschaffen. Man darf weitergehen, aber nicht dahinter zurückfallen. Insofern bedeutet das eine deutliche Verbesserung bei allen Beförderungsmitteln. Wir sind sehr froh, dass uns das
Verkehrsministerium beim Schutz der Nichtraucher unterstützt hat.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, ich habe eine
Nachfrage. Bestehen Ihrerseits Befürchtungen, dass
durch die gesetzliche Normierung - ich gebe Ihnen
Recht, dass dadurch Standards geschaffen werden - die
freiwilligen Vereinbarungen wieder auf das Niveau der
Normierung zurückgeführt werden?
Unsere Gespräche haben ergeben, dass diese Befürchtung nicht eintreffen wird; man will vielmehr an dem
festhalten, was man beim Nichtraucherschutz erreicht
hat. Man möchte aber gleiche Bedingungen für alle haben. Insofern ist das ein Stück Fortschritt, der dort erzielt
wird.
Haben Sie eine zweite Nachfrage?
Nein.
Dann rufe ich die Frage 27 des Kollegen Dr. Harald
Terpe auf:
Warum ist im Referentenentwurf „Gesetz zum Schutz vor
den Gefahren des Passivrauchs“ nicht vorgesehen, dass Inhaber des Hausrechts oder Betreiber von Verkehrsmitteln für die
Durchsetzung der vorgesehenen Rauchverbote verantwortlich sind, und wie stellt sich die Bundesregierung die Durchsetzung der vorgesehenen Rauchverbote alternativ vor?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Die Bundesregierung hält es für nicht erforderlich, die
Verantwortung für die Durchsetzung der vorgesehenen
Rauchverbote auf die Inhaber des Hausrechts und die
Betreiber von Verkehrsmitteln zu übertragen. Auch bisherige Regelungen zu Rauchverboten im gewerblichen
Straßenpersonenverkehr sehen dies nicht vor. Im Bereich
des Bundes ist davon auszugehen, dass das Gesetz auch
ohne eine gegen den Inhaber des Hausrechts wirkende
Sanktionsregelung umgesetzt wird.
Im Übrigen stellt das Rauchen in einem Bereich mit
Rauchverbot eine Ordnungswidrigkeit dar. Deshalb gilt
hier das Ordnungswidrigkeitenrecht. Das ist unseres Erachtens die geeignete Maßnahme, um Rauchverbote
durchzusetzen; denn Ordnungswidrigkeiten können hier
in einem gewissen finanziellen Rahmen geahndet werden. Wenn man etwas zahlen muss, weil man ordnungswidrig gehandelt hat, dann tut das dem Betreffenden
weh. Mit dieser Maßnahme wird auf jeden Fall eine angemessene Durchsetzung der Rauchverbote gewährleistet.
Haben Sie eine Nachfrage? - Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zu Frage 28 der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg:
Fällt der Deutsche Bundestag unter den Regelungsbereich
des Referentenentwurfs „Gesetz zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchs“, das heißt unter „sonstige öffentliche
Einrichtungen des Bundes“, falls nein, wie begründet die
Bundesregierung dies?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Scharfenberg, ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie danach fragen, ob die Regelungen des Gesetzes auch für den Deutschen Bundestag gelten. Ich
würde mich sehr freuen, wenn der Deutsche Bundestag
von seinen Regelungsrechten Gebrauch macht. Das ist
eine Frage, die sowohl im Präsidium als auch im Ältestenrat des Deutschen Bundestages zu stellen sein wird.
Wir kommen nach intensiver juristischer Prüfung zu
dem Ergebnis, dass der Bereich der Verwaltung des
Deutschen Bundestages unter die Regelung fällt, weil es
sich um eine Verwaltungsstruktur des Bundes handelt.
Der Bundestag als Verfassungsorgan sollte nach Auffassung der Bundesregierung eigenständig über ein Rauchverbot in seinem Bereich, also in den Abgeordnetenbüros, dem Plenargebäude und in sonstigen Arbeitsräumen,
entscheiden. Dies ist jederzeit möglich. Es war schon in
der Vergangenheit jederzeit möglich.
Haben Sie eine Nachfrage? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 29 der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg auf:
Welche Kriterien müssen nach Ansicht der Bundesregierung die im Referentenentwurf „Gesetz zum Schutz vor den
Gefahren des Passivrauchs“ vorgesehenen speziellen Raucherräume erfüllen, und aufgrund welcher Kriterien dürfen
solche Raucherräume überhaupt eingerichtet werden?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Sie fragen nach den Kriterien, die die sogenannten
speziellen Raucherräume erfüllen müssen, die als AusParl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
nahme zulässig sind. Die Grundphilosophie des Gesetzentwurfes ist: Generell gilt die Regel „nicht rauchen“, es
sei denn, es werden eigenständige, abgeschlossene
Räume vorgesehen, die als solche gekennzeichnet sind.
Aus dem Gesetzentwurf ergibt sich, dass es sich um einen gesonderten Raum handeln muss und dass eine ausreichende Zahl von Räumen vorhanden sein muss. Das
heißt, die überwiegende Zahl dem Nichtraucherschutz
dienend. In der Begründung werden nähere Erläuterungen gegeben, zum Beispiel dass es keine Hauptaufenthaltsräume und im Bereich des Bundes keine Dienstoder Arbeitsräume sein dürfen. Weitere Kriterien können
in einer Rechtsverordnung festgelegt werden.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - In dem Referentenentwurf ist von Raucherräumen und Raucherbereichen die Rede. Ist davon auszugehen, dass damit das
Gleiche gemeint ist, oder handelt es sich dabei um verschiedene Definitionen bzw. verschiedene Räumlichkeiten?
Für uns ist von der Anlage des Gesetzentwurfes her
ganz klar, dass wir nur den abgeschlossenen Raum meinen. Wenn man in einem Raum Nichtraucher- und Raucherzonen hat, dann ist der Nichtraucherschutz faktisch
nicht mehr gewährleistet. Insofern ist wichtig, dass der
Raucherraum abgeschlossen ist.
Haben Sie noch eine weitere Nachfrage? - Das ist
nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Die Fragen 30 und 31 des Kollegen Jörg Rohde werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter
auf:
Wann wird die Strecke München-Kempten-Immenstadt-Lindau, deren Infrastrukturertüchtigung für den Neigetechnikzugeinsatz laut Unterlagen der DB Regio von 1999
schon 2001 abgeschlossen sein sollte, für bogenschnelles Fahren hergerichtet sein, und warum wurden die dazu erforderlichen Baumaßnahmen nicht in die im November 2006 beendete
Generalsanierung des Schienennetzes im Allgäu integriert?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Hofreiter, bei der Strecke München-Kempten-Immenstadt-Lindau handelt es
sich um eine Strecke des Schienenpersonennahverkehrs.
Die Länder, in diesem Fall der Freistaat Bayern, können
in ihrer Funktion als Aufgabenträger für den SPNV die
Prioritäten für Investitionen in die Infrastruktur des
SPNV gemäß der gesetzlichen Regelung, § 8 Abs. 2
Satz 2 des Bundesschienenwegeausbaugesetzes, selbst
bestimmen und mit der Deutschen Bahn AG vereinbaren, in welche Projekte investiert werden soll. Nach Angaben der DB Netz AG besteht für das Projekt kein eindeutiges Projektziel mehr, da der Freistaat Bayern seinen
Bedarf für den Neigetechnikausbau der Strecke München-Kempten-Lindau nicht mehr im bisherigen Umfang aufrechterhält und eine neue verkehrliche Aufgabenstellung noch nicht formuliert hat.
Die Realisierung einer Neigetechnikertüchtigung der
Strecke oder einzelner Streckenabschnitte für den bogenschnellen Einsatz der Neigetechnikzüge bleibt bis
zum Vorliegen des überarbeiteten Angebotskonzepts, für
das noch kein Termin bekannt ist, und einer daraus abzuleitenden verbindlichen Angebotsbestellung durch den
Freistaat zurückgestellt. Der Bund ist an diesem Abstimmungsprozess nicht beteiligt und wirkt bei der Auswahl
der Vorhaben nicht mit. Nach Auskunft der DB Netz AG
ist es bisher nicht zu einer Einigung mit dem Freistaat
Bayern über den Ausbau der Strecke gekommen.
Die erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank für diese doch relativ klaren Ausführungen, Frau Staatssekretärin. Ich hätte schon noch eine
Frage. Wie erklären Sie sich eigentlich das Verhalten der
DB AG, die zu 100 Prozent in Bundesbesitz ist und daher eigentlich komplett in die Verantwortung Ihres Ministeriums fällt? Sie ist in Bundesbesitz und nicht in
Länderbesitz. Diese Firma, für die Ihr Ministerium verantwortlich ist, schreibt: Die Realisierung des Konzeptes
Allgäu-Schwaben-Takt-Neu und der Einsatz von Neigetechnikzügen sind ab dem Fahrplanwechsel 2001 vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Ertüchtigung der
Infrastruktur abgeschlossen sein. - Das ist offensichtlich
eine Falschaussage, die die DB AG getroffen hat. Das ist
nur ein Beispiel von ganz vielen. Hat das irgendwelche
Konsequenzen?
Herr Kollege Hofreiter, wie ich ausgeführt habe, haben sich in der Prioritätensetzung des Freistaates Bayern
Veränderungen ergeben. Was die Investitionen angeht,
so ist die Prioritätensetzung allein Sache des Freistaates
Bayern. Insofern wird sich auch die DB AG an die Veränderungen des Bestell- und Investitionsverhaltens des
Freistaates Bayern anzupassen haben. Es ist auch deutlich geworden, dass es zwischen den beiden Partnern
noch keine Einigung gibt. Insofern dürfte das, was Sie
zitiert haben, eine Aussage der Vergangenheit sein, aber
nicht eine der Gegenwart.
Sie können eine zweite Nachfrage stellen.
Wann haben sich denn diese Prioritätensetzungen exakt verändert? War das 1999, oder war das 2001? Sie haben relativ klar gesagt, dass der Freistaat Bayern das prioritär nicht mehr will. Aber er wollte es einmal. Wann
exakt war der Zeitpunkt?
Ich kann Ihnen diese Auskunft nicht geben, weil mir
die Unterlagen dazu nicht vorliegen. Ich werde aber prüfen, ob wir das feststellen können. Dann werden wir Sie
darüber informieren.
Danke.
Wir kommen zur Frage 33 des Kollegen Barth:
Trifft es zu, dass der Deutsche Wetterdienst, eine teilrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, seine Niederlassung in Leipzig von derzeit
70,5 Planstellen auf 17 Planstellen verkleinern wird, und,
wenn ja, was sind die Gründe hierfür?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Barth, der Deutsche
Wetterdienst plant, den Personalbestand seiner Niederlassung in Leipzig von derzeit 70,5 Stellen auf 17 Stellen
zu verringern. Dieser Vorschlag ist Teil eines Maßnahmenpakets im Rahmen der Weiterentwicklung der Strategie des Deutschen Wetterdienstes bis zum Jahr 2015,
das dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Prüfung und Zustimmung vorliegt. Der
Deutsche Wetterdienst hat seit 1993 die gesetzlichen
Stelleneinsparungen erfüllt. Er muss auch weiterhin mit
einem Rückgang der ihm zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen rechnen.
Gleichzeitig fällt ihm als wissenschaftlich-technischem Dienstleister mit umfassender Verantwortung für
die Daseinsvorsorge in den Bereichen Meteorologie und
Klimaüberwachung die Aufgabe zu, die operativen Prozesse der Wettervorhersage und der Wetterwarnungen
weiter zu optimieren. Dazu bedarf es einer mittelfristig
ausgerichteten Strategie. Diese sieht vor, die Produktionsverfahren stärker zu zentralisieren und kleinere
dezentrale Niederlassungen zu schließen. Ohne eine signifikante Straffung seiner Standortstruktur wird der
Deutsche Wetterdienst weiteren Personaleinsparungen
nicht entsprechen können.
Nach diesen Überlegungen erhält Leipzig in Zukunft
den Status einer regionalen Wetterberatungsstelle, die
vom nationalen Warndienst der Vorhersage- und Beratungszentrale in Offenburg rund um die Uhr mit Informationen versorgt wird und die in konkreten Warnsituationen den ständigen Kontakt zu den Kunden und
insbesondere zu den Katastrophenschutzeinrichtungen
der Länder halten soll. Im Bereich der Luftfahrtberatung
ist eine Konzentration auf eine geringe Anzahl von Luftfahrtberatungszentren vorgesehen.
Für den Flughafen Leipzig schlägt der Deutsche Wetterdienst vor, den Beratungsdienst von der benachbarten
Luftfahrtberatungszentrale in Potsdam durchführen zu
lassen. Ferner sieht die Strategie des Deutschen Wetterdienstes für die Betreuung der Messnetze eine Konzentration auf eine geringere Zahl an Standorten vor.
Sie haben die Möglichkeit, zwei Nachfragen zu stellen.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Sie haben hier die Strategie des Deutschen Wetterdienstes und die damit verbundenen inhaltlichen Änderungen vorgetragen. Ich möchte zunächst einmal sagen,
dass es mir zwar schwerfällt, ich aber trotzdem dem Impuls, den Antrag zu stellen, den zuständigen Minister
herbeizubitten, auch angesichts der Mehrheitsverhältnisse nicht nachgebe. Es hätte mich allerdings schon interessiert, was er als ehemaliger Oberbürgermeister der
betroffenen Stadt - es geht ja um den Wetterdienst in
Leipzig - hierzu auch persönlich zu sagen gehabt hätte.
Ich sage ausdrücklich: Ich widerstehe diesem Impuls.
Sie haben gesagt, dass diese Strategie des Deutschen
Wetterdienstes dem Ministerium zur Begutachtung und
zur Zustimmung vorliegt; das muss auch so sein. Wie
wird sich das Ministerium zu dieser Strategie und damit
auch zu den Auswirkungen, insbesondere zu dem geplanten Personalabbau, positionieren?
Was das Thema Personalabbau angeht, müssen wir
zusehen, dass die Auflagen, die auch vom Bundestag beschlossen werden, erfüllt werden. Deshalb wird dieses
Konzept zurzeit in unserem Ministerium beraten. Es gibt
noch keine abschließende Zustimmung. Auf jeden Fall
erwarten wir von unseren Behörden zunächst einmal
konzeptionelle Vorschläge, wie beim Thema Personaleinsparungen vorgegangen werden soll. Wenn diese Vorschläge vorliegen, wird entschieden.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Ich mache es ganz kurz: Wann wird diese Entschei-
dung getroffen?
Wir sind zurzeit in den Abstimmungen. Sie müssen
Verständnis dafür haben, dass es noch viele Gespräche
geben wird. Daher werde ich Ihnen hier jetzt keinen
Zeitpunkt nennen können. Wir sind aber auf einem guten
Weg. Wir müssen mit den Mitarbeitern und mit den
Menschen, die diese Konzepte umsetzen wollen, reden.
Daran arbeiten wir.
Wir kommen zur Frage 34, ebenfalls vom Kollegen
Uwe Barth:
Welche berufliche Perspektive wird den betroffenen Mit-
arbeitern geboten, und wie schätzt die Bundesregierung die
Folgen einer Konzentration der jeweiligen Dienste an einzel-
nen Standorten im Bundesgebiet ein?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Barth, im Zusammen-
hang mit den Auswirkungen der in der Beantwortung
von Frage 33 genannten Maßnahmen auf die Mitarbeiter
ist zu berücksichtigen, dass von den derzeit 70 Beschäf-
tigten der Niederlassung Leipzig 17 bis zum 31. Dezem-
ber 2015 in Ruhestand gehen werden. Darüber hinaus
sind weitere Anträge auf Gewährung von Altersteilzeit
zu erwarten, sodass sich die Anzahl der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter im Jahr 2015 nach heutigem Erkenntnis-
stand auf etwa 35 bis 40 reduziert.
Nach Billigung der DWD-Strategie, also der Strategie
des Deutschen Wetterdienstes, für den Zeitraum bis zum
Jahr 2015 durch das Ministerium wird der Deutsche
Wetterdienst Umsetzungskonzepte auch in personeller
Hinsicht für die einzelnen Maßnahmen entwickeln. Da-
bei werden soziale Gesichtspunkte berücksichtigt, so-
weit dies im Rahmen der dienstlichen Vorgaben möglich
ist. Soweit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Wege
der späteren Umsetzung der Wetterdienststrategien neue
Aufgaben zugewiesen werden, sind Qualifizierungs- und
Umschulungsprogramme vorgesehen, um die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter auf die Wahrnehmung neuer
bzw. veränderter Aufgabenprofile innerhalb und außer-
halb des Wetterdienstes vorzubereiten.
Der Wetterdienst wird in seiner Eigenschaft als wis-
senschaftlich-technischer Dienstleister auch in Zukunft
darauf angewiesen sein, seine Verfahren weiter zu opti-
mieren. Deshalb werden die vorgeschlagenen Maßnah-
men zur Verringerung und Konzentration der Standort-
struktur einhergehen mit entsprechend ausgearbeiteten
Fachkonzepten, die eine Ertüchtigung des Dienstes si-
cherstellen sollen.
Ihre erste Nachfrage. - Sie verzichten.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin
und des Bundeskanzleramtes auf. Der Staatsminister
Bernd Neumann wird die Fragen beantworten.
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Dr. Diether Dehm
auf:
Wie viele zulässige Auskunftsverlangen sind an die Bun-
desbeauftragte für die Stasiunterlagen, BStU, Marianne
Birthler, seit dem Inkrafttreten des Siebenten Gesetzes zur
Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, StUG, gestellt wor-
den, die nach der zuvor geltenden Fassung nicht mehr hätten
beantwortet werden dürfen, und wie sind die Personen, zu de-
nen Auskünfte begehrt wurden, auf die in § 20 Abs. 1 Nr. 6
bzw. 7 StUG genannten Personengruppen aufzugliedern?
Bitte, Herr Staatsminister.
Grundsätzlich wären nach der alten Fassung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes durch Ablauf der in Abs. 3
vorgesehenen Frist alle Überprüfungen nach den § § 20,
21 Nr. 1 Abs. 1 Nr. 6 und 7 Stasi-Unterlagen-Gesetz ab
dem 29. Dezember 2006 unzulässig geworden. Entspre-
chende Auskunftsverlangen hätten also abschlägig be-
schieden werden müssen. Ausnahmen hätten sich ledig-
lich aus entsprechender Anwendung des § 52 Abs. 1 des
Bundeszentralregistergesetzes, also wenn die Sicherheit
der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder
eine Ausnahme zwingend gebietet, ergeben.
Demgegenüber ist durch die Gesetzesänderung ein
großer Teil der Überprüfungsmöglichkeiten erhalten ge-
blieben. Einige Tatbestände sind neu geregelt worden.
Die Erhebung aller zwischen dem 29. Dezember 2006
und dem 13. Februar 2007 eingegangenen Überprü-
fungsgesuche ergibt folgendes Bild - das ist ja der Kern
Ihrer Frage, Herr Abgeordneter. Ich muss sehen, dass ich
die Antwort so knapp wie möglich halte. Wir beziehen
uns jetzt immer auf § 20 Abs. 1 Nr. 6, so wie Sie das an-
gesprochen haben. Ich setze voraus, dass Sie die Titel
kennen; sonst müsste ich sie im Einzelnen vorlesen. a):
eine Person, b): 63 Personen, c): keine, d): zwei Perso-
nen, e): keine, f): keine, g): zwei Personen. Dasselbe be-
zogen auf Nr. 7: a): eine Person, b) bis f): jeweils keine
Person.
Damit müsste ich Ihre Frage, auch in den Einzelheiten, mindestens formal beantwortet haben.
Herr Kollege Dehm hat die Möglichkeit zu zwei
Nachfragen.
({0})
Ich rufe dann auch die Frage 36 des Kollegen Diether
Dehm auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Nutzen der Gesetzesänderung für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und für das Ansehen der Verfassungsorgane?
Bitte, Herr Staatsminister.
Die erhebliche Anzahl an Überprüfungsgesuchen belegt den nach wie vor hohen Bedarf und das Interesse an
Aufklärung. Durch den Erhalt weitgehender Überprüfungsmöglichkeiten kann gewährleistet werden, dass
keine ehemaligen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes unerkannt Mitglieder der Bundesregierung oder einer
Landesregierung, Abgeordnete, Angehörige kommuna8178
ler Vertretungskörperschaften, kommunale Wahlbeamte,
Behördenleiter, Richter sowie hohe Soldaten werden.
Dass die Öffentlichkeit auf diese Gewissheit vertrauen
kann, bewertet die Bundesregierung als überaus wichtig
für das Ansehen der Verfassungsorgane.
Soweit die Frage auf den Nutzen für die Sicherheit
der Bundesrepublik Deutschland abhebt, zielt sie offenbar auf die nunmehr explizit geregelten Sicherheits- und
Zuverlässigkeitsüberprüfungen. Dass insoweit eine eindeutige Regelung geschaffen worden ist und nicht der
mit einer gewissen Auslegungsunsicherheit behaftete
Ausnahmetatbestand des § 52 Abs. 1 des Bundeszentralregistergesetzes bemüht werden muss, bewertet die Bundesregierung als Gewinn für die Sicherheit der Bundesrepublik.
Die auffallend hohen Antragszahlen in diesem Bereich sprechen für sich.
So weit die Antwort auf Ihre Fragen.
Danke, Herr Staatsminister. - Kollege Dehm, Sie haben das Wort für die erste Nachfrage.
Herr Staatsminister, vielleicht kann ich die beiden
Fachfragen im Zusammenhang stellen; das würde Zeit
sparen.
Zu Beginn der Legislatur hat eine Kollegin der Grünen bei einem Redebeitrag von mir dazwischengerufen,
ich hätte Wolf Biermann für die damalige Stasi als dessen damaliger Manager bespitzelt. Ich habe der Kollegin
daraufhin angeboten, dass sie in meinem Büro die zugeschriebene Akte mit meiner Abschöpfung einsehen
kann.
Darin ist nämlich nachzulesen, dass die Akte bereits
wenige Wochen, nachdem ich Anfang 1977 Biermanns
Manager geworden war, vom MfS mit dem enttäuschten
Hinweis beendet wurde, ich stünde unbelehrbar zu
Bahro und Biermann.
({0})
1977 legte mich die Stasi darum sogar in die DDR-Einreisefahndung.
Dennoch gab es 1996 eine Pressekampagne mit dem
Hinweis, ich sei IM gewesen und bis zur Wende geblieben.
Meine erste Frage ist, warum die rechtsstaatliche
Unschuldsvermutung in die Akteneinsichtspraxis der
Birthler-Behörde keinen Eingang gefunden hat.
Ich konnte mich gegen die Vorwürfe zunächst überhaupt nicht wehren.
Kollege Dehm, bitte versuchen Sie, die Frage zu formulieren.
Das war die erste Frage. Ich würde gern die zweite
Frage anschließen.
In Ordnung. Dann stellen Sie bitte die Frage.
Die zweite Frage. - Gegen diesen Rufmord konnte
ich mich nicht wehren, weil im Rahmen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes die Gauck-Behörde mir auf meine Anfrage mitgeteilt hatte, es gebe keine Unterlagen, während
sie diese Unterlagen bereits an WDR, „Spiegel“ und
„Bild“-Zeitung gegeben hatte. Ich bekam wochenlang
keine Einsicht in diese Akte. Das heißt: Ich konnte mich
wochenlang nicht wehren, weil ich, als Täter verdächtigt, keinen Zugang zu der Akte, keine Einsicht in die
Akte hatte.
Ich komme zur Frage.
Jeder Schwerverbrecher, der unter dem Verdacht
steht, ein Totschlagsdelikt begangen zu haben, hat mehr
Rechte; die Verjährung beträgt da 15 Jahre. 23 Jahre,
nachdem die Stasi ohne mein Wissen eine Akte angelegt
hatte, hatte ich nicht die Gelegenheit, in die Akte einzusehen und meine Unschuld zu beweisen, während bereits
eine Pressekampagne lief.
Ich frage Sie, wie lange die Bundesregierung noch zulassen möchte, dass diese Praxis abseits von Rechtsstaatlichkeit, Akteneinsichtsrecht und Unschuldsvermutung
in der Bundesrepublik anhält.
({0})
Der Staatsminister hat die Möglichkeit, auf die Fragen zu antworten.
({0})
Herr Kollege Dehm, in Ihrer Frage kommt die persönliche Betroffenheit zum Ausdruck; das ist nachvollziehbar. Ich bin jetzt nicht in der Lage, Ihren Fall im Einzelnen zu bewerten - ganz abgesehen davon, dass ich nicht
Mitarbeiter der Birthler-Behörde bin. Dazu müsste man
dort nachfragen.
Generell möchte ich sagen, dass die weitere Überprüfungsmöglichkeit für besondere Verantwortungsträger,
insbesondere im öffentlichen Bereich, die wir geschaffen
haben, auch die Chance bietet, Klärung herbeizuführen.
Es geht nicht immer nur um Belastung, sondern auch um
die Chance, Auskunft zu bekommen.
({0})
Das bietet auch die Möglichkeit, von Verdächtigungen
freizukommen. Das kann ich generell dazu sagen.
Deshalb glaube ich, dass die Novellierung, die wir
Ende des letzten Jahres mit großer Mehrheit beschlossen
haben, rechtsstaatlich ist und auch jeder rechtlichen
Überprüfung durch die zuständigen Gerichte standhalten
wird. Insofern glaube ich, dass dies verantwortbar ist.
Aber Ihren Einzelfall kann ich, wie gesagt, aus dem
Stand nicht beurteilen. Das steht mir auch nicht zu. Das
müsste gegebenenfalls von denen, die dafür zuständig
sind, beantwortet werden.
Danke, Herr Staatsminister.
Da die Fragen 37 und 38 des Kollegen Waitz und
ebenso die Fragen 39 und 40 des Kollegen Otto ({0}) schriftlich beantwortet werden, sind wir damit am
Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Die Frage 41 des Kollegen Niebel sowie die Fragen 42 und 43 des Kollegen
Burgbacher werden schriftlich beantwortet. Die
Frage 44 der Kollegin Hirsch wurde zurückgezogen.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Fragen 45 und 46 des Kollegen
Steenblock werden schriftlich beantwortet; die Frage 47
der Kollegin Behm wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 1. März 2007,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg bei all Ihren Vorhaben heute Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.