Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/2/2007

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, und wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns eine intensive Debatte. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben zu Beginn dieser Woche gemeinsam mit dem ungarischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Heute wollte und sollte der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk nach Berlin kommen, um die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin entgegenzunehmen. Orhan Pamuk hat nach zahlreichen Drohungen der letzten Monate seinen Besuch ebenso wie die damit verbundene vorgesehene Lesereise durch vier deutsche Städte abgesagt, nachdem er Anlass hatte, diese Drohungen nach dem Mord an seinem Freund und journalistischen Kollegen Dink besonders ernst zu nehmen. Ich nutze diesen Anlass, um Orhan Pamuk die Hochachtung und die Solidarität des Deutschen Bundestages auszudrücken ({0}) und die türkischen Behörden aufzufordern, alles zu tun, um seine persönliche Sicherheit wie seine künstlerische Freiheit zu gewährleisten. ({1}) Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: 27 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2}) - Drucksache 16/3100 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ({3}) - Drucksachen 16/3950, 16/4020 - - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung von Fusionsprozessen von Krankenkassen - Drucksache 16/1037 - aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - Drucksachen 16/4200, 16/4247 - Berichterstattung: Abgeordnete Annette Widmann-Mauz Heinz Lanfermann Birgitt Bender bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/4222 - Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Ewald Schurer Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({6}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Matthias Berninger, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stärkung der Solidarität und Ausbau des Wettbewerbs - Für eine leistungsfähige Krankenversicherung Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert - zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr ({7}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen - zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben - Drucksachen 16/1928, 16/1997, 16/3096, 16/4200, 16/4247 Berichterstattung: Abgeordnete Annette Widmann-Mauz Heinz Lanfermann Birgitt Bender Zu dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sowie über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt. ({8})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Krankenversicherung ist unter allen sozialen Sicherungssystemen etwas Besonderes; denn für einen kranken Menschen gibt es nichts Wichtigeres als die Sicherheit, dass ein gutes und bezahlbares Gesundheitswesen für ihn da ist. ({0}) Das heute zu beschließende Gesetz wird diese Sicherheit für die Menschen auch in Zukunft bewahren. Wir bauen das Gesundheitswesen um, damit es auch in Zukunft gute Leistungen für alle Menschen zu bezahlbaren Preisen erbringen kann. Niemand wird behaupten, dass dies eine einfache Aufgabe ist. Denn wir unterwerfen ein kompliziertes Geflecht aus teilweise schwer durchschaubaren Zuständigkeiten und machtvollen Interessen dem Zwang zur Veränderung. Nutznießer werden vor allem die Versicherten, die Patientinnen und Patienten, sein. Nutznießer sind aber auch diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die sich Tag für Tag, oft bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit, für Menschen einsetzen. Die Ärzte erhalten mit diesem Gesetz eine auf Euro und Cent genaue, transparente Gebührenordnung. Wir leisten einen Beitrag, ihr Wirkungsfeld zu entbürokratisieren. Wir verbessern die Versorgung. Wir stärken die hausärztliche Versorgung. Drohender Unterversorgung in einigen Teilen Deutschlands, vor allen Dingen in ländlichen Regionen, wirken wir entgegen, indem wir verbesserte Sicherstellungszuschläge vorsehen. So können Anreize gesetzt werden, damit sich Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Gebieten niederlassen bzw. Ärztinnen und Ärzte nicht aus unterversorgten Gebieten abwandern. Das dient der Versorgung von kranken Menschen; deshalb ist es ein wichtiger Schritt, den wir mit diesem Gesetz gehen werden. ({1}) Dieses Gesetz stärkt aber auch die Beschäftigung im Gesundheitswesen. Es bietet viele qualifizierte Arbeitsplätze für unterschiedliche Tätigkeiten, übrigens insbesondere für Frauen. Wir werden neue Chancen eröffnen, indem wir die nichtärztlichen Berufe stärker in die integrative Versorgung einbeziehen. ({2}) Das Gesundheitswesen ist ein Beschäftigungsfeld, in dem nach den neuesten statistischen Angaben immerhin 4,3 Millionen Frauen und Männer in unserem Land Beschäftigung finden. Selbst in dem schwierigen Jahr 2005 gab es einen Zuwachs von 27 000 Arbeitsplätzen. Auch diesen Gesichtspunkt müssen wir bei jeder Reform bedenken. Dieses Gesetz ist gut für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Beschäftigung in unserem Land. In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir uns intensiv mit kritischen Argumenten auseinandergesetzt und haben sie bewertet. Lassen Sie mich zusammenfassend drei Gründe nennen, warum diese Reform gut ist: Erstens. Jede und jeder ist künftig gegen das Krankheitsrisiko versichert. Für Menschen ohne Schutz heißt es jetzt: Willkommen in der Solidarität! Auch ihr findet hier einen Platz. ({3}) Zweitens. Die Gedanken „Prävention vor Behandlung“ und „Rehabilitation vor Pflege“ ziehen sich konsequent durch die gesamte Versorgung. So soll es auch sein. Insbesondere für ältere Menschen bedeutet dies ein Mehr an Angeboten, um solange wie möglich selbstständig leben zu können. Auch schwerstkranken Menschen und Menschen mit seltenen Erkrankungen wird mit diesem Gesetz besser geholfen. Drittens. Gesundheit muss immer bezahlbar bleiben. Dieses Gesetz durchforstet alle Bereiche des Gesundheitssystems, um zu sehen, wo es Ineffizienzen gibt und wo Geld ausgegeben wird, das nicht für die Versorgung kranker Menschen erforderlich ist. Das ist notwendig, damit wir das Gesundheitswesen so gestalten können, dass jeder Euro zielgenau dort ankommt, wo er für die Versorgung von kranken Menschen dringend gebraucht wird. Das sind drei Gründe, die allein schon ausreichen, um für dieses Gesetz zu stimmen. Es fällt schwer, ein Argument zu finden, warum man es verhindern sollte. ({4}) Ich will hier nur einige Beispiele dafür nennen, was wir verändern. Wir schaffen für schwerstkranke Menschen einen Rechtsanspruch auf palliativmedizinische Versorgung, damit sie das tun können, was sie möchten, nämlich zu Hause gut versorgt zu werden und zu Hause auch sterben zu dürfen. Das ist ein riesiger Fortschritt in der Qualität der Versorgung. ({5}) Wir stärken in diesem Zusammenhang die Hospize. Denn die Hospize und die vielen ehrenamtlich arbeitenden Frauen und Männer, die Tag für Tag kranke und sterbende Menschen begleiten, brauchen Unterstützung, damit sie diese Arbeit noch besser als bisher tun können, und zwar ohne die Sorge, dass die nötigen Finanzen dafür nicht vorhanden sind. ({6}) Wir öffnen die Krankenhäuser für die ambulante Versorgung von Menschen mit seltenen und schweren Erkrankungen. Bis heute war ihnen verwehrt, von Spezialisten im Krankenhaus ambulant versorgt zu werden. Damit machen wir Schluss. Auch Menschen, die gesetzlich versichert sind, sollen das Recht haben, sich ambulant im Krankenhaus von Spezialisten versorgen zu lassen. ({7}) Wir verbessern die Versorgung von behinderten Menschen, weil wir mehr auf ihre Belange eingehen. Wir verwirklichen deren Ansprüche, zum Beispiel dass Krankenhilfe auch in Heimen der Lebenshilfe gewährt wird, weil das die Wohnung und die Heimat behinderter Menschen ist. Wir können nicht so tun, als sei das nicht mehr der Fall, wenn sie krank werden. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen werden in Zukunft sehr genau wissen, wie es um ihre Kassen wirtschaftlich bestellt ist. Sie werden gut darüber informiert werden, was die Kassen mit dem Geld, das sie einzahlen, machen. Sie werden mehr Möglichkeiten haben, Tarife und spezielle Angebote zu nutzen, die passgenau auf ihre Versorgung zugeschnitten sind. Sie werden Anreize bekommen, sich kosten- und gesundheitsbewusst zu verhalten. Das ist ein Fortschritt. ({8}) Angesichts mancher Kritik, zum Beispiel an möglichen Zusatzbeiträgen, auch aus den Reihen der Gewerkschaften oder mancher Sozialverbände, gestatten Sie mir einige Bemerkungen zum Thema Solidarität. Niemand kann plausibel begründen, warum heute zum Beispiel eine Rentnerin mit 1 000 Euro Rente in der Kasse A 21 Euro mehr Beitrag zahlt als eine Rentnerin mit 1 000 Euro Rente in der Kasse B, und das bei gleichem Leistungsanspruch. Alle gehen zum gleichen Arzt, alle erhalten die gleichen Medikamente, und alle gehen ins gleiche Krankenhaus. ({9}) In einem System, in dem alle Menschen, die dort versichert sind, den gleichen Anspruch auf Leistung haben, und zwar unabhängig von der Höhe der eingezahlten Beiträge, halte ich es für solidarisch, wenn auch alle den gleichen Prozentsatz von ihrem Einkommen aufbringen, um die Versorgung sicherzustellen. ({10}) Es kann niemand begründen, warum wir 250 Kassen brauchen, die durch sieben Spitzenverbände mit sieben dahinterliegenden teuren Bürokratien geführt werden müssen. ({11}) Das Gesetz ändert dies. Denn Einsparen heißt auch: in der Organisation der Krankenkassen einsparen und alles so optimal organisieren, damit wir mehr Geld haben, das für die Versorgung kranker Menschen eingesetzt wird. ({12}) Ich frage die, die gegen dieses Gesetz sind: Gibt es in diesem Hause jemanden, der mit überzeugenden Argumenten die Auffassung vertreten kann, Kosten und Nutzen von Medikamenten oder von neuen Therapien dürften nicht wissenschaftlich bewertet werden? Das Gesetz führt die Kosten-Nutzen-Bewertung ein, damit sichergestellt wird, dass der Preis, der für ein Medikament oder eine Therapie verlangt wird, einen Bezug zum therapeutischen Nutzen im Vergleich zu bestehenden Therapien hat. Wir machen das doch nicht aus Jux und Tollerei, sondern wir machen dies, damit sichergestellt wird, dass auch in Zukunft alle Menschen unabhängig von dem, was sie in ihrem Portemonnaie haben, an den Fortschritten in der Medizin teilhaben können, aber nur an den Fortschritten, die tatsächlich etwas nutzen und den Menschen mehr Versorgungsqualität bringen. ({13}) Schließlich: Die private Krankenversicherung bleibt als Vollversicherung erhalten. Aber sie muss in Zukunft wie die gesetzliche Krankenversicherung Men8008 schen unabhängig von ihrem individuellen Krankheitsrisiko, unabhängig davon, ob sie behindert sind, unabhängig davon, oder ob sie jung oder alt sind, versichern, und zwar zu den Bedingungen, in dem Umfang, wie dies auch die gesetzliche Krankenversicherung macht. Das ist gegenüber dem Status quo ein Stück mehr Solidarität, das wir mit diesem Gesetz einführen. ({14}) Nun zu dem neuen Finanzierungsinstrument, dem Gesundheitsfonds. Erstaunlich einfach hat der einzige deutsche Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Professor Reinhard Selten, am 19. Januar im „Magazin“ der „Süddeutschen Zeitung“ dazu ausgeführt - ich zitiere -: Der derzeit so heftig diskutierte Gesundheitsfonds betrifft ja nur das Verhältnis von Zahlungen der Versicherten und Einnahmen der Krankenkassen. Wenige Zeilen weiter sagte er zu den Konsequenzen - ich zitiere wieder -: Es lohnt sich also gerade auch für die Versicherten mit niedrigem Einkommen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Kasse zu wählen. Daraus könnte ein stärkerer Wettbewerb zwischen den Kassen entstehen, was sicher wünschenswert ist, weil dann Überaufwand abgebaut würde. Deshalb ist bei vernünftiger Sicht der Dinge der Fonds ein sehr nützliches Instrument, um die Solidarität und die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen zu stärken, und zwar in Gesamtdeutschland. Das stärkt insbesondere die Versorgung in den neuen Bundesländern und die Ressourcen, die dort zur Verfügung stehen. Aber es dient auch dazu, Wettbewerb zu organisieren. Denn das Geld der Versicherten wird gebündelt und gerechter verteilt. Erst auf dieser Basis kann echter Wettbewerb zwischen den Kassen um gute Qualität entstehen, kann der Druck auf die Kassen steigen, bessere Versorgungsangebote für ihre Versicherten zu organisieren. Ich sage Ihnen voraus: Die Kassen werden dies tun müssen. Ansonsten werden die Versicherten mit den Füßen abstimmen und sich die Kasse wählen, die ihnen für gutes Geld gute Versorgungsangebote und gute Tarife bietet. ({15}) Wir geben den Kassen viele neue Möglichkeiten, über Rabatte und Preise zu verhandeln, Ausschreibungen vorzunehmen, vor allen Dingen aber, mehr Einzelverträge zu schließen - für eine bessere Qualität der Versorgung und für bessere Angebote für die Versicherten. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben werden künftig Schritt für Schritt ordnungspolitisch sauber durch Steuermittel finanziert. ({16}) Auch das ist ein richtiger Schritt, um die Lohnnebenkosten, die Kosten auf Arbeit, zu senken, damit Beschäftigung entsteht. Denn ein Mehr an Beschäftigung ist die Voraussetzung dafür, dass wieder Geld in die Sozialkassen kommt, das zum Wohl der Menschen verteilt werden kann. ({17}) Vielfach wird beklagt, die Reform sei ein Kompromiss. Damit kann ich leben. Denn der Kompromiss gehört zur Demokratie. Wo wären wir denn, wenn wir keine Kompromisse schließen könnten? Mit diesem Kompromiss werden die verschiedenen Auffassungen und Ausgangspositionen zusammengefasst. Wenn der Pulverdampf der Lobbyisten sich verzogen hat, wird sich zeigen, was in dieser Reform alles steckt. ({18}) Noch unterbewertet wird zum Beispiel der große sozialpolitische Durchbruch, den wahrscheinlich nur eine Große Koalition beschließen kann, ({19}) nämlich die Pflicht zur Versicherung in einer Krankenkasse. Ich will Ihnen abschließend etwas zu dieser Diskussion sagen: Es grenzt an Zynismus, ({20}) wie über diese Entscheidung vonseiten der Opposition manchmal geredet wird. ({21}) Sie sagen, dass es nur um 200 000 oder 300 000 Menschen gehe. Dagegen spricht, dass sich die Mehrheit der Anrufe bei unserem Bürgertelefon mit diesen Fragen beschäftigt. Die Probleme des Einzelnen sind viel größer, als die Gesellschaft das lange hat wahrnehmen wollen. Das ist der erste Punkt. ({22}) Zweitens geht es aber nicht nur um die bisher Unversicherten. Vielmehr muss sich der Bundestag mit einer veränderten Erwerbswelt auseinandersetzen - die Große Koalition tut das auch -, in der die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach der Ausbildung, die auch gleichzeitig den Krankenversicherungsschutz begründet hat, nicht mehr zum Alltag aller Menschen gehört, die die Schule verlassen. Heute berichtet eine Zeitung über Hochschulabgänger, die dreieinhalb Jahre nach ihrem Abschluss zum Prekariat zählen. Wir haben es inzwischen mit einer Generation Praktikum und einer Zunahme der Selbstständigkeit zu tun. Es ist eine Errungenschaft dieser Großen Koalition, dass wir in der Lage sind, die KrankenversiBundesministerin Ulla Schmidt cherung wie ein Band um diese vielen Eventualitäten des Erwerbslebens herumzulegen. Das ist ein guter Schritt für die Menschen in Deutschland, weil sie dadurch mehr Schutz genießen. ({23}) All das spricht dafür, dass wir den Gesetzentwurf heute mit großer Mehrheit verabschieden. Denn das Gesetz ist gut für die Versorgung der Menschen in Deutschland und bietet eine klare und überzeugende Orientierung für die Zukunft. Das Gesundheitswesen wird auch weiterhin bezahlbar bleiben und mehr Qualität, Transparenz und Effizienz aufweisen. Ich möchte nicht versäumen, mich bei den beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen und Ländern, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Mitarbeitern des Ministeriums und allen, die in den anderen Ministerien daran mitgearbeitet haben, zu bedanken. Alle zusammen haben in den letzten Monaten viele Tage und auch Nächte gearbeitet, um dieses Ergebnis zustande zu bringen. Dafür bin ich dankbar. Denn es sichert eine gute Gesundheitsversorgung in Deutschland. Danke schön. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Vizepräsident des spanischen Parlaments, Herr Gabriel Cisneros, mit einer Delegation der Spanisch-Deutschen Parlamentariergruppe, der Herr Cisneros vorsteht, Platz genommen. ({0}) Die Delegation hält sich seit Montagabend in Deutschland auf. Sie hat in den vergangenen Tagen an Kolloquien und auch an einer Sitzung unseres Europaausschusses teilgenommen. Ich begrüße Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen des spanischen Parlaments, sehr herzlich im Deutschen Bundestag. Es ist uns eine Freude, Sie in Deutschland begrüßen zu können. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. ({1}) Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern, insbesondere zwischen unseren Parlamenten. Das Wort erhält nun der Kollege Daniel Bahr für die FDP-Fraktion. ({2})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt hat soeben festgestellt, eine solche Gesundheitsreform könne nur von einer Großen Koalition beschlossen werden. ({0}) - Das ist wohl wahr. ({1}) Zu einer Reform, die gegen den Rat aller Sachverständigen, aller im Gesundheitswesen Tätigen, ja sogar gegen den Rat und die Überzeugung der eigenen Fachpolitiker von Union und SPD in den letzten Tagen quasi durchgepeitscht worden ist, ({2}) ist in der Tat nur eine schwarz-rote Koalition in der Lage, der es allein darum geht, die Macht zu sichern, und nicht darum, die Sachprobleme zu lösen. ({3}) Interessant ist doch, was die Ministerin in ihrer Rede verschwiegen hat. Aber dank des Finanzministers wissen wir, worüber die Damen und Herren von der Koalition heute auch abstimmen. Es geht eben nicht nur um die Gesundheitsreform, über die heute abgestimmt wird, sondern es soll auch eine Steuererhöhung beschlossen werden. Im „Handelsblatt“ lässt Finanzminister Steinbrück lancieren, dass er weitere Steuererhöhungen plant. Der Minister will damit die Mehreinnahmen für den steigenden Bundeszuschuss für das Gesundheitssystem finanzieren. ({4}) Zur Begründung wird das Finanzministerium zitiert: Der Bundeszuschuss an die Krankenkassen ist nicht allein durch Kürzungen von Ausgaben zu realisieren. Das geht nur, wenn zusätzlich die Steuern steigen. Es wird aber verschwiegen, welche Steuern erhöht werden sollen. Dazu schweigt Herr Steinbrück vorerst. Um 14 Milliarden Steuerzuschuss gegenzufinanzieren, müsste die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte erhöht oder ein Gesundheitssoli auf die Einkommensteuer in Höhe von etwa 7,5 Prozent erhoben werden. Das ist die erste Gesundheitsreform, die mit einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge beginnt und eine Steuererhöhung mit sich bringt. ({5}) Die Bürger in Deutschland werden zur Kasse gebeten, weil die schwarz-rote Koalition nicht in der Lage war, eine grundlegende Gesundheitsreform auf den Weg zu bringen, die die Probleme anpackt. ({6}) Daniel Bahr ({7}) Für die Versicherten jedenfalls wird es nur teurer, aber nicht besser. ({8}) Wofür soll eigentlich der Steuerzuschuss sein? Nachdem ich die Eckpunkte gelesen hatte, dachte ich, der Steuerzuschuss sei für die Finanzierung der Kosten der Kinder in der gesetzlichen Krankenversicherung. Jetzt heißt es, der Steuerzuschuss diene dazu, die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken. Sie haben sich ja gar nicht getraut, das, was die Union hier immer verkauft, der Zuschuss sei für die Finanzierung der Kosten der Kinder, ins Gesetz zu schreiben. Dann müssten Sie nämlich auch die Kosten für die Kinder der Privatversicherten zahlen. Alles andere würde das Bundesverfassungsgericht nicht mitmachen. Dazu haben Sie aber nicht den Mut. ({9}) Jetzt wird der Zuschuss angeblich genutzt, um die Krankenversicherungsbeiträge zu senken. Damit haben wir doch schon Erfahrungen. Erinnern Sie sich nicht an die Ökosteuer? Sie, die Union, haben die Einführung der Ökosteuer - sie sollte zur Senkung der Rentenbeiträge führen - damals zusammen mit uns kritisiert. Was haben wir erlebt? ({10}) Die Rentenbeiträge sind zuletzt in diesem Jahr deutlich gestiegen. Das zeigt doch: Steuermittel für die sozialen Sicherungssysteme lösen keine Strukturprobleme. Sie verschieben die Lasten nur in die nächsten Jahre, deshalb sollten Sie davon Abstand nehmen. ({11}) Zum Thema Verlässlichkeit. Schauen Sie sich einmal an, was aus dem Bundeszuschuss aus den Einnahmen der Tabaksteuererhöhung geworden ist. Was ist aus den gesetzlichen Vorgaben geworden? Sie haben ihn zu Beginn der Legislaturperiode auf fast null reduziert, um ihn anschließend ein wenig aufwachsen zu lassen. Wenn Sie das für die gesamte Legislaturperiode berechnen, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Sie mit Ihren Maßnahmen den gesetzlichen Krankenkassen fast 4 Milliarden Euro entziehen. Es kann also mitnichten davon gesprochen werden, dass Sie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung stabil gestalten, im Gegenteil. Das zeigt doch nur die Unzuverlässigkeit Ihres Handelns. Die gesetzlichen Krankenkassen und die gesetzlich Krankenversicherten können sich nicht auf die Zahlung des Steuerzuschusses verlassen. ({12}) Daran sehen wir doch, wie unzuverlässig diese Politik ist. Demnächst werden wir sicher einen Streit zwischen den Finanz- und den Gesundheitspolitikern erleben. Wir werden doch immer wieder Streit darüber erleben, wie viel Geld dem Gesundheitswesen für Verfügung gestellt werden soll. Das wird Gesundheitspolitik nach Zuteilung und Kassenlage. Demnächst wird es einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz geben, den eine wie auch immer geartete Regierung jährlich im Herbst für das Folgejahr beschließt. Welche Folgen hat das, wenn die Gesundheitskosten steigen? Es ist egal, wer an der Regierung ist, keine Regierung wird leichtfertig die Krankenkassenbeiträge par ordre du mufti erhöhen; denn das würde die Lohnzusatzkosten erhöhen und den Arbeitsmarkt belasten. ({13}) Wir werden erleben, wie jedes Jahr kurzfristige Kostendämpfungspolitik betrieben wird, um den Beitragsanstieg zu verhindern, Herr Zöller. Das ist keine nachhaltige und stabile Finanzierung des Gesundheitswesens. Das ist Gesundheit nach Zuteilung und Kassenlage. ({14}) Wenn die Krankenkassen mit dem Geld, das ihnen aufgrund des bundesweit einheitlichen Beitragssatzes zur Verfügung steht, nicht auskommen, soll der Wettbewerb wirken. Das Wichtigste für die Krankenkassen, die Beitragsautonomie, dass sie nämlich den Beitrag im Wettbewerb mit den anderen Kassen festlegen können, wird ihnen ja durch den bundesweit einheitlichen Beitragssatz genommen. ({15}) Jetzt sagt die Union: Dann kommt der Zusatzbeitrag. Was sollen die Kassen denn verlangen, wenn sie am Geldtropf hängen und der Zusatzbeitrag bei 1 Prozentpunkt des Haushaltseinkommens gedeckelt ist? Es wird keinen Wettbewerb um gute Versorgung, gute Qualität, innovative Tarife, um Zusatzangebote und um günstige Verwaltungskosten geben, vielmehr wird es einzig und allein einen Wettbewerb um die Streichung freiwilliger Leistungen geben. Es wird möglichst wenig zusätzlich angeboten werden, damit man nicht in die Gefahr gerät, den Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Das ist nicht der Wettbewerb um bessere Leistungen, den wir in Deutschland haben wollen. ({16}) Das sind die Folgen des Gesundheitsfonds. Der Gesundheitsfonds ist nichts anderes als eine gigantische Geldsammelstelle. An dieser Feststellung ändert sich nichts, da können Sie, Frau Schmidt, Herrn Selten so viel zitieren, wie Sie wollen. Ich vermute, er hat den Gesetzentwurf überhaupt nicht gelesen; denn alle anderen, die in der Anhörung waren und den Gesetzentwurf gelesen haben, haben den Gesundheitsfonds kritisiert. Er wird kein einziges der Probleme, vor denen wir im Gesundheitswesen stehen, lösen, im Gegenteil: Bei der privaten Krankenversicherung gehen Sie über den Basistarif natürlich den Weg der Vereinheitlichung von privater Krankenversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung. Immer weniger Menschen werden die Möglichkeit haben, in eine private KrankenDaniel Bahr ({17}) versicherung zu wechseln. Darunter wird das Gesundheitswesen leiden, ({18}) weil immer weniger Menschen Altersrückstellungen für die Kosten, die durch eine alternde Bevölkerung noch auf uns zukommen, aufbauen werden. ({19}) Deshalb wird Ihre Reform dazu beitragen, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens weniger nachhaltig und noch unsicherer wird. Nun zu dem wichtigsten Punkt, den Sie, meine Damen und Herren, selbst in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: die Senkung der Lohnzusatzkosten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie denken gleichwohl an die Zeit!

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein letzter Punkt, Herr Präsident. Danke. - Bei der Senkung der Lohnzusatzkosten sind Sie kläglich gescheitert. Die FDP hat mehrere Konzepte vorgelegt. Wir haben vorgeschlagen, den Arbeitgeberbeitrag festzuschreiben und als Lohnbestandteil auszuzahlen, damit wir wirklich zu einer Abkoppelung der Finanzierung des Gesundheitswesens von den Lohnkosten kommen, damit wir nicht weiter den Arbeitsmarkt belasten. Wir haben vorgeschlagen, die Versicherungspflichtgrenze abzuschaffen, damit die Bürgerinnen und Bürger selbst die Wahl haben, wo sie sich versichern. Das ist eine wirkliche Pflicht zur Versicherung und nicht das, was Sie machen. ({0}) Das, was Sie machen, ist die Bürgerversicherung durch die Hintertür, indem Sie alle in ein staatlich reglementiertes und verwaltetes Krankenversicherungssystem zwingen. Das ist nicht eine Pflicht zur Versicherung mit größtmöglicher Wahlmöglichkeit, Eigenverantwortung, Transparenz und Wettbewerb, für die wir Liberale stehen. ({1}) Dieses Gesetz löst die Probleme nicht, es schafft nur neue. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden im Jahr 2008 das nächste größere Gesundheitsgesetz beraten, um dieses Gesetz zu korrigieren. Dann werden Sie die Leistungskürzungen nachholen, die Sie heute vermieden haben, um zu vermeiden, dass im Wahlkampfjahr 2009 die Lohnzusatzkosten auf ein Rekordniveau steigen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nehmen Sie es mir bitte ab, dass ich froh bin, wenn diese Debatte heute zu Ende ist. ({0}) Zum einen bin ich ganz persönlich froh, aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, in erster Linie wegen der Beteiligten - ob Patienten, ob Ärzte, ob Mitarbeiter in den Krankenkassen -, dass endlich Schluss ist mit den Verunsicherungen, die mit zum Teil unwahren Behauptungen hier betrieben wurden. ({1}) Herr Kollege Bahr, ich hätte sagen können: Es ist bar jeder Vernunft, was Sie hier wieder getan haben. ({2}) Das mache ich an einem Beispiel fest. Sie haben hier gesagt, selbst die Fachpolitiker der Union hätten dagegen gestimmt. ({3}) Wir haben einstimmig dafür gestimmt. Da müssen Sie wenigstens bei der Wahrheit bleiben, Herr Bahr. ({4}) - Nein, er hat „Union“ gesagt. Ich höre schon zu. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich eins feststellen: Die Gesundheitsreform ist wesentlich besser als ihr Ruf. Adressat und Nutznießer der Reform müssen nämlich in erster Linie die Versicherten und Patienten sein, und sie werden es sein. Dieses zentrale Anliegen unserer Reform scheint im Dickicht der jüngsten Diskussionen um Einzelfragen leider aus dem Blick geraten zu sein. Umso notwendiger ist es, allen Unkenrufen zum Trotz, zunächst einmal festzustellen: Unser Land verfügt nach wie vor über ein modernes, leistungsfähiges Gesundheitssystem, um das wir international beneidet werden. Bei der Versorgungsqualität gehört Deutschland zur absoluten Weltspitze, und kaum ein Gesundheitssystem gewährleistet einen besseren Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft oder finanzieller Leistungsfähigkeit. Dieses anerkannt hohe Niveau werden wir mit dieser Gesundheitsreform sichern. Diese Reform ist eine Reform für die Versicherten. Es wird immer gesagt, der Leistungsumfang werde gekürzt. Das stimmt nicht. Der Leistungsumfang wurde nicht eingeschränkt. Vielmehr verbinden sich erstmals mit einer Gesundheitsreform weder verschärfte Zuzahlungsregelungen noch Einschnitte in den Leistungskatalog. ({5}) Im Gegenteil: Mit dieser Reform werden bestehende Versorgungslücken zum Wohle der Versicherten geschlossen. Künftig werden alle Nichtversicherten wieder von der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung aufgenommen. Zur Krankheitsvorbeugung empfohlene Impfungen oder Mutter-Kind-Kuren werden von Ermessensleistungen zu Pflichtleistungen der Krankenkassen. Ältere und pflegebedürftige Menschen erhalten einen Rechtsanspruch auf Rehabilitation. Der gesamte Bereich der medizinischen Rehabilitation wird deutlich aufgewertet. Schwerstkranke erhalten eine spezialisierte Betreuung in ihrem vertrauten häuslichen Umfeld oder in Hospizen. Eine Verbesserung der Versorgung Sterbender nicht nur mit Schmerztherapie, sondern auch mit Sterbebegleitung ist eine wesentlich humanere und ethisch vernünftige Antwort auf die Diskussion über die aktive Sterbehilfe. ({6}) Weitere Verbesserungen ergeben sich durch eine engere Verzahnung an der Nahtstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowie - auch das wird unterschätzt - an der zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Versicherten erhalten zudem mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Die Versicherten werden künftig zwischen deutlich mehr Versorgungsmodellen und Versicherungstarifen bei den Krankenkassen wählen können. Dies ist das krasse Gegenteil der Behauptung staatlicher Einheitsmedizin. Ich will nur einige Stichpunkte der Vielfalt aufzählen: Selbstbehalttarife, Tarife zur Kostenerstattung, Hausarzttarife und Tarife für besondere Behandlungsmethoden, zum Beispiel die Homöopathie. All dies sind Maßnahmen zum Wohle der Patienten. Sie haben es verdient, in der öffentlichen Diskussion deutlich mehr Beachtung zu finden als bisher. ({7}) Weitere Schritte zur Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten wurden eingeleitet. Angesichts der Entwicklung in den letzten Jahren kommen wir nicht umhin festzustellen: Die solidarisch finanzierte gesetzliche Krankenversicherung als tragende Säule unseres Gesundheitssystems stößt mehr und mehr an ihre Leistungsgrenzen. Im Koalitionsvertrag von CDU/ CSU und SPD heißt es: Den Herausforderungen durch den medizinischen Fortschritt und die demografische Entwicklung „kann unser Gesundheitswesen nur dann gerecht werden, wenn seine Finanzierungsbasis durch wirtschaftliches Wachstum und insbesondere den Erhalt und die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen gestärkt wird“. Hierzu muss und kann die aktuelle Strukturreform selbst einen wesentlichen Beitrag leisten. Die Finanzierung unseres Gesundheitswesens darf nicht zum Hemmschuh für mehr Wachstum oder Arbeitsplätze werden. Notwendig ist nach wie vor eine Balance zwischen solidarischen und eigenverantwortlichen Finanzierungselementen. Wir brauchen Mechanismen, die den Druck steigender Gesundheitskosten nicht weiter ungebremst auf die Arbeitskosten entladen. Der Gesundheitsfonds leistet einen Beitrag zu einer nachhaltigen Finanzierung. Die drei Säulen lohnbezogener Beitrag, die Steuersäule und der Zusatzbeitrag oder die Zusatzprämie sind weitere Schritte in die richtige Richtung der Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten. ({8}) Wahr ist auch: Mit der deutlichen Senkung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung werden die Beitragszahler, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, trotz Erhöhung der Beitragssätze in der Rentenversicherung und der Krankenversicherung unter dem Strich durchschnittlich mit mehr als einem Beitragssatzpunkt entlastet. Auch diese Tatsache verdient durchaus etwas mehr Beachtung. ({9}) Dass diese positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stattfinden kann, ist natürlich auch Ergebnis der Politik, die sich konsequent dem Dreiklang Sanieren, Reformieren, Investieren - Sie kennen das - verpflichtet fühlt. Diese erfolgreiche Politik muss fortgeführt werden. Wir können nämlich die Sozialsysteme zu Tode reformieren, wenn uns aber die Einnahmen wegbrechen, werden wir nie zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können. ({10}) Strukturelle Veränderungen sind notwendig. Wer behauptet, strukturelle Veränderungen unseres Gesundheitswesens seien nicht notwendig, den straft die Entwicklung der letzten Jahre Lügen. Trotz einer Vielfalt kostendämpfender Maßnahmen stieß die gesetzliche Krankenversicherung mehr und mehr an ihre Leistungsgrenzen. Ob die zu verzeichnenden Ausgabensteigerungen dabei ausschließlich medizinisch bedingt waren, darf zumindest in dem einen oder anderen Bereich bezweifelt werden. Die Vermutung ist berechtigt, dass es nach wie vor in unserem Gesundheitssystem Effizienzreserven gibt. Ein Beispiel dafür sind die durchaus beachtlichen Erfolge, die sich mit den Maßnahmen zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit im Arzneimittelbereich verbinden. Darf ich an die Diskussion über dieses Gesetz erinnern, die wir im Mai letzten Jahres hier geführt haben? ({11}) Was ist das Ergebnis? Wenn wir heute genauso kritisch über diese Gesundheitsreform diskutieren und das Ergebnis genauso positiv wie das bei der Arzneimittelregelung ist, dann können wir mehr als zufrieden sein. ({12}) Die Regelung hat doch dazu geführt, dass die Patienten von jeglicher Zuzahlung zu Tausenden Medikamenten - inzwischen sind es über 10 000 Medikamente -, deren Preis unter 30 Prozent der Festbetragshöhe abgesenkt wurde, befreit sind. Der Erfolg dieser Maßnahme unterstreicht ein weiteres Mal, dass Wettbewerb am ehesten Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen kann. ({13}) Der zweite wichtige Punkt - der erste betraf die Patienten - ist der Wettbewerb. Wir wollen Reserven durch die Verankerung von deutlich mehr Wettbewerbselementen erschließen. Die Kassen erhalten eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten mit einzelnen Leistungserbringern, mit Gruppen von Leistungserbringern, und sie haben die Möglichkeit, Verträge mit Arzneimittelherstellern zu schließen und über Preise zu verhandeln. In dieses System wird Bewegung kommen. Zur Vielfalt der neuen Möglichkeiten hat ein Vorstandschef einer Krankenkasse festgestellt: Die Chancen sind viel größer als die Risiken. ({14}) Ich würde mir wünschen, diese zutreffende Einschätzung wäre unter den Akteuren unseres Gesundheitswesens weiter verbreitet. ({15}) Ich sage Ihnen eines voraus: Wenn das Gesetz heute beschlossen wird, werden spätestens morgen die Hauptkritiker versuchen, alle Chancen zu nutzen, um das Beste zu erreichen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. ({16}) Angesichts mancher Kritik muss ich mich schon wundern. Über Jahre beklagen etliche Leistungserbringer ihre allzu kleinen Handlungsspielräume. Jetzt, da sie neue wettbewerblich strukturierte Möglichkeiten erhalten, rufen manche schon wieder allzu ängstlich nach möglichst dichten Schutzzäunen. Diese Widerstände waren zum Teil zu erwarten. Es ist doch nicht verwunderlich. Auf kaum einem anderen Feld wie dem der Gesundheit sind die Reformanstrengungen so kontrovers diskutiert worden. Das ist auch logisch. Gegensätzliche ökonomische Interessen bei einem Verteilungsvolumen von 150 Milliarden Euro ergeben sich beinahe zwangsläufig, nicht nur zwischen Leistungserbringern, Kassen und Versicherern, sondern auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Der erzeugte Gegenwind konnte und kann uns nicht davon entbinden, notwendige Entscheidungen zu treffen. Genau hierum haben wir uns in der Großen Koalition gemeinsam bemüht. Wurden Änderungsvorschläge aufgegriffen, ja oder nein? An der Bereitschaft zum Dialog hat es ebenfalls nicht gefehlt. ({17}) Wir haben unzählige Gespräche geführt: mit Ärzten, Kliniken, Pharmazievertretern, Apothekern, Heilhilfsmittelerbringern, Kassen, Versicherungen, Vertretern der Rettungsdienste, Hospiz-/Palliativeinrichtungen sowie Patienten und Selbsthilfegruppen. ({18}) Die Anregungen aus den mehrtägigen Expertenanhörungen im Gesundheitsausschuss und die Änderungswünsche des Bundesrates wurden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens aufgegriffen. Verwundert bin ich jetzt allerdings darüber, dass bemängelt wird, dass so viele Änderungsanträge eingebracht wurden. Hätte man keine Änderungsanträge gestellt, hätte es geheißen: Die sind beratungsresistent. Bringt man Änderungsanträge ein, heißt es: Triumph der Lobby. Sie müssen sich schon für eine Seite entscheiden. ({19}) Ich darf mich an dieser Stelle für die Mitwirkung all derer bedanken, die sich in die Diskussion konstruktiv und über ihre Einzelinteressen hinweg eingebracht haben. ({20}) Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas anderes ansprechen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Zöller, würden Sie vorher noch eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert zulassen?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Seifert, ich glaube, unser Verhältnis ist so gut, dass wir das auch privat klären können. ({0}) Wir haben der Bevölkerung den Blick für das Ganze durch sehr viele Diskussionen über einzelne Punkte nicht so vermitteln können, wie es notwendig ist. ({1}) Bei allen vorrangig gesundheitspolitischen Überlegungen dürfen wir die wachstums- und beschäftigungspolitischen Dimensionen des Gesundheitswesens nicht übersehen. Sie standen auch deshalb - zu Recht - im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Schließlich ist unser Gesundheitswesen kein missliebiger Kostenfaktor, sondern ein ökonomisch überaus bedeutsamer und dynamischer Wachstumsbereich. Im Gesundheitswesen arbeiten über 4 Millionen Menschen in über 800 Berufen. Der Gesundheitssektor erwirtschaftet inzwischen 11 Prozent des Bruttoinlandproduktes - mehr als die Autoindustrie -, Tendenz steigend. Deutschland ist hinter den USA Weltmarktführer in der Medizintechnik, ({2}) die vorwiegend mittelständisch geprägt ist. Das Gesundheitswesen schafft Arbeitsplätze in Deutschland. Ein wesentliches Ziel der Reformmaßnahmen ist die Stärkung dieser echten Wachstumsbranche. Wir brauchen verlässliche Rahmenbedingungen für die Beteiligten. Eine leistungsgerechte Vergütung ist Voraussetzung für Planungssicherheit und Perspektive im Gesundheitswesen. Ich jedenfalls bin zuversichtlich und davon überzeugt, dass dieses Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung beides leisten wird: Erstens. Die Gesundheitsreform sichert die Versorgungsqualität für die Versicherten und Patienten. Zweitens. Sie schafft verlässliche Zukunftsperspektiven für alle Akteure im Gesundheitswesen. Ich kann Ihnen deshalb mit gutem Gewissen Zustimmung empfehlen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ja, Herr Kollege Zöller, es stimmt: Wir haben ein sehr gutes persönliches Verhältnis. Das liegt daran, dass Sie es waren, der damals den Mut hatte, einem Antrag der PDS zuzustimmen, der die Verbesserung der Lage von behinderten Menschen im Fokus hatte. Sie waren derjenige, der dem Antrag im Ausschuss zugestimmt hat, was - weil alle anderen sich enthalten haben - zur Folge hatte, dass dem Antrag im Ausschuss stattgegeben wurde. Sie stehen dazu genau wie ich, was ich nach wie vor würdige. Wir haben also insofern ein gutes Verhältnis. Ich finde, die Öffentlichkeit soll ruhig wissen, dass sowohl Sie als auch ich dazu stehen: Man kann über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten. ({0}) - Ja, da könnt ihr ruhig klatschen. Das ist wichtig. Aber Sie haben uns, die Opposition, dafür kritisiert, dass wir entweder sagen, es seien zu wenig Änderungsanträge, oder dass wir sagen, es seien zu viele Änderungsanträge. Geben Sie der Öffentlichkeit doch bekannt, dass 81 Änderungsanträge am Tag vor der Abstimmung um 21 Uhr in die Büros geschickt wurden! ({1}) Wer sollte sie dann noch lesen, geschweige denn mit seinen Kolleginnen und Kollegen beraten oder ernsthaft analysieren? Sie haben 81 Änderungsanträge, die niemand ernsthaft behandeln konnte, im Ausschuss durchgepeitscht. Und dann präsentieren Sie uns das hier als etwas toll Diskutiertes. Das ist es, was ich kritisiere: Noch nicht einmal die Verfahrensregeln wurden ernsthaft eingehalten. ({2}) Sie nehmen uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier gar nicht ernst. Wir müssen machen, was die Regierung will, statt der Regierung zu sagen, was sie machen soll, wie es unsere Aufgabe wäre. Das kritisiere ich und ich finde, dem sollten Sie auch zustimmen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung, Herr Kollege Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Seifert, wenn Sie das Verfahren kritisieren, so müssen Sie eines zur Kenntnis nehmen: All die Änderungsanträge waren Ergebnisse aus Anhörungen und aus Anregungen. Das heißt, die wurden auch schon vorher diskutiert und sind dann formuliert worden. ({0}) Ich glaube, wir beide sollten mit dem Ergebnis zufrieden sein, denn alle Änderungsanträge haben, speziell auch für Behinderte, Verbesserungen gebracht. Das war mit unser Anliegen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, und Sie waren ja auch schon für die Gesundheitsreform 2003 zuständig. Ich zitiere einmal einen Satz, den Sie damals gesagt haben - für den Fall, dass Sie es vergessen haben sollten -: Die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung werden bereits im nächsten Jahr von durchschnittlich 14,3 Prozent auf 13,6 Prozent und bis 2006 deutlich unter 13 Prozent sinken. ({0}) Die paritätischen Beitragssätze liegen inzwischen bei 14,2 Prozent ({1}) und werden durch Ihre Maßnahmen noch auf 14,8 Prozent steigen. ({2}) Deswegen sage ich Ihnen: Der Wahrheitsgehalt Ihrer damaligen Prognosen stimmt überein mit dem Wahrheitsgehalt Ihrer heutigen Prognosen. ({3}) Die Steigerung, die wir bei den Beiträgen erleben werden, hängt damit zusammen, dass Sie entschieden haben, dass alle gesetzlichen Krankenkassen bis Ende 2008 entschuldet sein müssen. ({4}) Das können Sie nur über Beitragserhöhungen hinbekommen. Darüber haben Sie hier so gut wie gar nicht gereDr. Gregor Gysi det. Denn das belastet die Unternehmen und die Versicherten. Dann machen Sie einen weiteren Schritt, der - was die FDP zu wenig betont - das eigentliche Ziel dieser Gesundheitsreform betrifft: der Wirtschaft zu dienen. Denn ab 2009 gibt es ja diesen bürokratischen Fonds. Ab diesem Zeitpunkt dürfen nur noch die Beiträge der Versicherten erhöht werden. Die Sozialabgabe der Unternehmen darf prozentual dann nie wieder gesteigert werden. ({5}) Sie frieren die Beiträge der Wirtschaft zum Gesundheitswesen ein und sagen, dass die Versicherten das dann alleine bezahlen müssen. Das hat mit sozial und mit solidarisch gar nichts zu tun. ({6}) Sie gehen davon aus: Wenn die Beitragssätze zu stark erhöht werden, dann können die Leute aus ihrer Krankenversicherung austreten und Mitglied einer anderen Krankenversicherung werden. Aber auch Sie wissen, dass keine gesetzliche Krankenkasse scharf darauf ist, alle armen Schlucker der Republik aufzunehmen. Was werden sie also machen? Wenn eine Krankenkasse ihren Beitragssatz erhöht, dann erhöhen auch die anderen Krankenkassen ihre Beitragssätze, damit nicht alle zu ihnen wechseln wollen. Das wird das Ergebnis Ihrer diesbezüglichen Politik sein. ({7}) Sie führen in die Gesundheitsversicherung eine Entsolidarisierung ein. Ich will Ihnen erklären, warum. Das liegt daran, dass Sie aus der Gesundheitsversicherung eine Art Autoversicherung machen. Eine Autoversicherung funktioniert aber nach anderen Kriterien. Sie führen eine Beitragsrückerstattung und eine Teilkaskoversicherung ein. Was heißt das? Zunächst zur Beitragsrückerstattung. Wenn ein Versicherter im Laufe eines Jahres bei seiner Krankenversicherung keine Rechnung einreicht und er seine Gesundheitskosten selbst bezahlt, dann bekommt er im nächsten Jahr einen bestimmten Teil seiner Beiträge erstattet. Nun zur Teilkaskoversicherung. Ein Versicherter kann sich dafür entscheiden, einen bestimmten Anteil der ihm entstehenden Gesundheitskosten selbst zu bezahlen - zum Beispiel, wie Sie es vorsehen, bis zu einem Betrag von 900 Euro pro Jahr - und nur die Kosten, die diesen Betrag übersteigen, zu versichern. Dies hätte eine Senkung seines Beitragssatzes zur Folge. Wenn es um eine Autoversicherung geht, kann man das machen. Aber hier geht es um eine Gesundheitsversicherung. ({8}) Ich frage Sie: Warum entsolidarisieren Sie diese Versicherung? Nur ein Besserverdienender, nur ein Junger, nur ein Gesunder kann diese Möglichkeit nutzen, weil er weiß, dass er relativ geringe Kosten verursacht. Wenn er aber älter ist und krank wird, dann werden sich auch diejenigen so verhalten, die dann jung sind. Damit entsolidarisieren Sie diese Versicherung. ({9}) Heute ist es so, dass die Jungen und Gesunden für die Kranken bezahlen. Dieses Solidarprinzip lösen Sie auf. Eines Ihrer Versprechen haben Sie gebrochen - es tut mir leid, dass ich das ansprechen muss -: Sie haben eine zusätzliche Tabaksteuer eingeführt und angekündigt, dass sämtliche aus dieser Steuer erzielten Einnahmen in das Gesundheitswesen fließen werden. ({10}) Im letzten Jahr betrugen die Einnahmen aus der Tabaksteuer 4,2 Milliarden Euro. Was wollen Sie heute beschließen? Dass Sie dem Gesundheitswesen im nächsten und im übernächsten Jahr nur noch 2,5 Milliarden Euro aus diesen Einnahmen zukommen lassen werden. Den Rest kratzen Sie einfach weg. Wenn Sie solche scheinpädagogischen Steuern wie die Tabaksteuer erhöhen, das eingenommene Geld dann aber ganz anders verwenden, als Sie es versprochen haben, fordere ich Sie auf: Machen Sie keine Versprechen mehr! ({11}) Jetzt will ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir wichtig ist, von dem bisher aber kaum gesprochen worden ist: die Einführung des Verschuldensprinzips. Erstens wollen Sie die Zuzahlungen von chronisch Kranken erhöhen, falls sie eine mangelnde Vorbeugung praktizieren oder Therapien ausgelassen haben. ({12}) Sie wollen also eine Art Strafgeld einführen. ({13}) Zweitens wollen Sie die Regelung einführen, dass die Patienten die Kosten bestimmter Erkrankungen selbst zu begleichen haben. Das gilt zum Beispiel für Gesundheitskosten, die als Folge von Tätowierungen, Piercings und Schönheitsoperationen entstehen. ({14}) Sie wissen, dass sich die Bevölkerung für dieses Vorhaben nicht so sehr interessieren wird, nach dem Motto: Piercings und Tätowierungen - was soll’s? Aber diese Regelung ist grundgesetzwidrig. Jemand, der als Folge eines Piercings eine schwere Entzündung bekommt und die entstehenden Behandlungskosten selbst zahlen muss, wird Ihnen die Frage stellen, warum ein Autofahrer, der, weil er betrunken war, einen Unfall verursacht hat und schwerverletzt ist, die Kosten seiner Behandlung nicht selbst übernehmen muss. Verstehen Sie, was ich meine? Das, was Sie machen, geht nicht. Entweder führen Sie das Verschuldensprinzip ein oder Sie führen es nicht ein. ({15}) Der Stolz unserer Gesundheitsversicherung besteht darin, dass es ein Sachleistungsprinzip gibt, ({16}) dass also jeder Kranke behandelt und nicht darauf geachtet wird, ob er seine Krankheit selbst verschuldet hat oder nicht. ({17}) Indem Sie das Verschuldensprinzip einführen, lösen Sie jetzt eine Diskussion aus, die auch die Raucher betreffen wird. Abgesehen davon, dass diese Regelung grundgesetzwidrig ist - das sagte ich bereits -, machen Sie aber noch etwas anderes: Sie verändern den Beruf der Ärztin bzw. des Arztes. Durch Einführung der Kassengebühr von 10 Euro haben Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Kassenwarte gemacht. ({18}) Jetzt machen Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Gesundheitspolizistinnen und Gesundheitspolizisten. Denn in Zukunft müssen sie ermitteln, ob die notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, um die Patienten stärker zur Kasse bitten zu können. Wie Sie wissen, haben Ärztinnen und Ärzte den hippokratischen Eid geleistet. Der Beruf des Polizisten ist etwas anderes als der Beruf des Arztes. Den Beruf des Polizisten wollten die Ärzte nicht ergreifen. Aber Sie sorgen dafür, dass sie solche Aufgaben übernehmen müssen. ({19}) Lassen Sie mich noch kurz auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Herr Kollege Zöller, es liegen über 80 Änderungsanträge vor. Lassen Sie uns doch die Abgeordneten einmal fragen, ob sie wissen, welche Änderungen vorgenommen worden sind. Die Abgeordneten sollen abstimmen, wissen aber gar nicht, worüber. Das ist die Wahrheit. Dafür hätten sie nämlich mehr Zeit gebraucht. ({20}) Zu den sechs Abgeordneten der SPD möchte ich nur eine Bemerkung machen: Als sie diese Regelungen hätten verhindern können, sind sie nicht hingegangen. Aber heute stimmen sie dann ganz mutig mit Nein, da sie wissen, dass es auf ihre Stimmen nicht ankommt. Das ist das Gegenteil von Volksvertretung. ({21}) Sie beschließen hier heute nur Gemurkse. Aber Sie haben Recht, Frau Bundesgesundheitsministerin: Nur die Große Koalition war in der Lage, einen Beschluss zu fassen, der Gemurkse ist und durch den kein einziges Problem gelöst wird, sondern nur neue Probleme geschaffen werden. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Gesundheitsreform und damit eigentlich über eine Tragikomödie. So zumindest erleben wir das. Erinnern Sie sich einmal daran, wie es anfing. Im Juli des letzten Jahres haben wir folgende Szene erlebt: Frau Merkel und Herr Beck waren strahlend zur Pressekonferenz erschienen und haben mit einer gewissen Erleichterung, wenn auch mit Rändern um die Augen, die Eckpunkte der Gesundheitsreform vorgestellt. Frau Merkel hat damals gesagt: Das ist ein echter Durchbruch. ({0}) Herr Beck sagte, dies sei ein Kompromiss lang über den Tag hinaus. - Das war ein schönes Bild. Wir alle wissen, dass das nicht der letzte Durchbruch war, den die Koalition in dieser Sache verkündete. Er hielt auch nicht - da irrte Kurt Beck - lang über den Tag hinaus; diese Eckpunkte hatten nicht einmal eine Halbwertszeit von einigen Tagen. ({1}) Herr Zöller, ich verstehe ja, dass Sie bei der CDU/ CSU eine gewisse Erleichterung darüber empfinden, dass das Gesetz heute endlich durchgehen wird. Viele in dieser Republik empfinden auch ein Stück Erleichterung, aber schlicht und einfach deshalb, weil sie die Nase voll davon haben, dass alle vier Wochen wieder ein Durchbruch, ein Meisterstück verkündet wird, während sie am Ende feststellen müssen, dass auch dieser keine fünf Meter weit trägt, sondern dass diese neue Idee aus einer weiteren Nachtsitzung allenfalls dazu führen wird, dass die Beiträge der Versicherten erhöht werden. So viel zu Ihren Durchbrüchen. ({2}) Sie haben immer wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben und von Durchbrüchen gesprochen. Am Ende ist dabei die Illusion baden gegangen - mir kann es ja recht sein -, dass eine sogenannte Große Koalition große Probleme lösen kann. Die Gesundheitsreform, die Sie hier vorlegen, ist der Beweis des Gegenteils. ({3}) Deshalb kann man an dieser Stelle auch nur von einer Tragikomödie reden. ({4}) Wenn Sie sich als Koalitionspartner schon nicht darüber einigen konnten, wie das System künftig finanziert werden soll, dann hätten Sie sich wenigstens darum bemühen sollen, auf der Ausgabenseite massiv an den Stellschrauben zu drehen. Es ist besonders enttäuschend, dass auch das nicht passiert ist. Die letzten von Ihnen verkündeten Durchbrüche waren keine Durchbrüche, sondern Kniefälle vor den großen Lobbys im Bereich des Gesundheitswesens. ({5}) Der letzte Akt des Dramas fand ja wohl im Gesundheitsausschuss statt. Die Große Koalition sprach von großen Zielen: mehr Wettbewerb und Abbau von Bürokratie. Nichts davon wird erreicht. Das Einzige, was wir gesehen haben, waren die wehenden Jackett- und Rockschöße der Gesundheitsexperten dieser Koalition, die sich am Ende nicht mehr in den Ausschuss getraut haben, weil sie das Desaster von Hunderten von Seiten an Änderungsanträgen nach dem x-ten Durchbruch nicht mehr sehen wollten, und das sinkende Schiff deshalb verließen. ({6}) Das ist Ausdruck mangelnden Vertrauens in die eigene Arbeit. Heute sieht man - das gibt es selten -, wie die Koalitionspartner tatsächlich dazu stehen. In einer Zeitung habe ich ein Interview mit Ihrem Gesundheitsexperten Wolfgang Wodarg unter der Überschrift „Ich fühle mich belogen und betrogen“ gelesen. Ich meine, er wird es ja wohl wissen. Er macht an einigen Punkten klar, warum er sich belogen und betrogen fühlt: Meine Partei - die SPD hebt als besondere Errungenschaft die allgemeine Versicherungspflicht hervor. Dabei ist dies allein ein Geschenk an die privaten Krankenversicherungen. ({7}) Die Pflicht betrifft vor allem Selbstständige, die jetzt zu den Privaten getrieben werden. ({8}) Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie Sie das nennen, aber Sozialdemokraten dürften hier nicht von Gesundheitsreform mit dem Ziel von mehr Solidarität sprechen. ({9}) Schauen wir uns einmal das Resultat auf der Finanzierungsseite an! Wie entwickelt sich das Ganze in der nächsten Zeit? Sie haben immer behauptet, es gebe den Einstieg in eine stärkere Steuerfinanzierung - das ist hier schon einmal gesagt worden -, um die Kinder beitragsfrei mitzuversichern. Um Ihren Haushalt zu sanieren und um in Brüssel damit angeben zu können, dass man unter dem Maastrichtkriterium bleibt, ({10}) haben Sie die Steuerzuschüsse gesenkt ({11}) und sind mittlerweile so weit gekommen, dass für die Jahre 2007 und 2008 faktisch eine kräftige Kürzung zu verzeichnen ist. Selbst wenn Sie mittlerweile wieder rückwärtsgehen - das sagen Sie ja, Frau Ferner - und an dieser Stelle wieder etwas „on top“ geben, bleibt festzustellen: Erst einmal haben Sie bei den Krankenkassen etwas herausgeholt, um den Haushalt - scheinbar - komplett zu sanieren und in Brüssel durchzukommen. Jetzt bessern Sie wieder nach. Aber alles, was Sie nachbessern, ist finanziell nicht unterlegt. Das ist ein Handel mit ungedeckten Schecks. Das wissen alle in dieser Republik. ({12}) Heute können wir wieder etwas von Herrn Steinbrück lesen. Nachdem Sie sich gegenseitig düpiert haben und die CDU/CSU die Kanzlerin düpiert hat - sie überlegen, am Ende die Steuerfinanzierung doch wieder zu erhöhen; ein bisschen Ehrlichkeit ist noch da -, hat Herr Steinbrück mit der Ankündigung, dann müssten die Steuern ab 2010 erhöht werden, den Finger auf den wunden Punkt gelegt. Damit ist eines klar: Sie wissen, dass Sie mehr Steuermittel für die Krankenkassen brauchen. Sie wissen, dass Sie die eigentlich vor 2009 brauchen. Aber aus Koalitionsräson oder weil Sie vor den Ministerpräsidenten und deren Wahlkampf eingeknickt sind, packen Sie dieses Thema nicht an und lassen die Krankenkassen und die Versicherten damit allein. Dies ist kein Durchbruch. Dies ist ein Stümperwerk. ({13}) Am Ende ist das Resultat dieser nichtordentlichen Arbeit, dass Sie den Versicherten wieder in die Tasche greifen. Das ist die übliche Geschichte. Wenn Sie miteinander nächtliche Sitzungen veranstalten, denken draußen alle: Wir wissen schon, was kommt. - Wenn Sie sich nicht einigen können und den Haushalt nicht sanieren können, erhöhen Sie die Mehrwertsteuer. Jetzt greifen Sie den Bürgerinnen und Bürgern noch einmal in die Tasche. Das rechnen sogar viele Gesundheitsexperten aus der SPD vor. In diesem Jahr muss man von 0,6 bis 0,7 Beitragssatzpunkten mehr ausgehen. Im nächsten Jahr muss man von 0,3 Prozentpunkten mehr ausgehen. Im übernächsten Jahr, falls Ihr Gesundheitsfonds denn kommt und Sie nicht wieder einknicken, was man an der Stelle nur hoffen kann, würde noch etwas draufkommen. Das heißt: Ausgehend von den heutigen knapp 14 Prozent stünden uns noch zwei bis drei Erhöhungen bevor. Dann kämen wir auf einen Beitragssatz von ungefähr 15,5 Prozent. ({14}) Mit dem, was Sie hier immer verkauft haben - Lohnnebenkosten senken -, hat das gar nichts zu tun. Sie fassen dem kleinen Mann in die Tasche und verlängern die Privilegien der PKV. ({15}) Sie haben behauptet - Frau Schmidt hat es ebenfalls getan -, jetzt kämen die großen Strukturveränderungen. Aber alle Fachleute sagen: Es gibt zu wenig Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, vor allem keinen Wettbewerb um Qualität, keinen Wettbewerb um Wirtschaftlichkeit. Sehen Sie sich einmal an, was jetzt kommen soll! Es bleibt im Wesentlichen bei den Kollektivverträgen. Das heißt: Es gibt kaum Anreize für die einzelne Kasse, kaum Anreize für den einzelnen Arzt, wirklich mehr Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitswettbewerb zu praktizieren. Dabei ist das gesamte Apothekenwesen immer noch eine im Wesentlichen wettbewerbsfreie Zone. Das Wort Apothekenpreise als Synonym für überzogene, nicht faire Preise, mit denen die Verbraucher oder die Patienten abgezockt werden, wird bestehen bleiben, weil es die Realität im Apothekenwesen beschreibt. Das ändern Sie nicht. Sie haben diesen Lobbybereich nicht angepackt. ({16}) Sehen wir uns den Einheitsbeitrag für die GKV an! Es gibt kaum Wettbewerb um niedrigere Beitragssätze. Stattdessen werden wir jährlich erleben, wie zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Krankenkassen ein Tauziehen der Lobbygruppen um die Höhe des Beitragssatzes stattfinden wird. Sie haben eine Struktur gewählt, die viel Bürokratie bedeutet, die die Politiker und die Exekutiven beschäftigt, die aber auch ein Einfallstor zum Beispiel für die Arbeitgeberverbände darstellt, die sagen: Soll doch der Staat das Risiko tragen; holt mich da weiter raus! Mein letzter Punkt ist das Thema Bürokratieabbau Fehlanzeige an dieser Stelle. Der Gesundheitsfonds wird den Kropf vergrößern. Die staatliche Beitragsfestsetzung und die Gesundheitskartelle bleiben bestehen. Dieses Breittreten der Bürokratie ist das Gegenteil von schlanken Strukturen. Sie sind vor den Lobbyisten eingeknickt, und die Zeche zahlen wieder die Versicherten. - Es gibt jede Menge Zitate aus den Koalitionsfraktionen, gerade aus der SPD-Fraktion, und von anderen aus der SPD, die das treffend formulieren. - Durch Ihre fehlende Geschlossenheit und dadurch, dass Sie am Ende verschiedene Ziele den Lobbyisten geopfert haben, haben allen voran nun wieder die privaten Krankenkassen gewonnen - mit massiver Lobbyarbeit, mit massiver Öffentlichkeitsarbeit, mit Anzeigenschaltungen und mithilfe des für die PKVen erprobten Schutzengels der Unionsfraktion und der Bundesländer. ({17}) Wir können dazu nur sagen: Dies ist keine wirkliche Reform. Verzeihung, Frau Gesundheitsministerin Schmidt: Sie haben sich hier noch groß gelobt. Sie haben gesagt, die Welt sehe heute anders aus, die Probleme des Einzelnen seien größer als angenommen, zum Beispiel im Erwerbsleben; das Prekariat, die Praktikanten, sie alle müsse man einbeziehen. Frau Schmidt, das haben wir, unter anderem unsere früheren Fraktionsvorsitzenden, Ihnen schon in der letzten Legislaturperiode wiederholt geschrieben, und Sie haben zurückgeschrieben, dafür sei kein Geld da. Wir sind ja dankbar, dass auch Sie mittlerweile erkannt haben, dass die Menschen mit unsteten Erwerbslebensläufen und Arbeitslosenzeiten Probleme haben. Aber Ihre sogenannte Reform ist keine. Der einzig richtige Weg ist, ihr heute nicht zuzustimmen. Noch besser wäre es, wir gingen zurück auf null und fingen noch einmal ganz neu an, damit bei der Gesundheitsreform Solidarität und Wettbewerb herauskommen. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Was wir hier zum Teil von der Opposition an Debattenbeiträgen hatten, hat für meine Begriffe in etwa die gleiche Qualität wie angebliche Demonstrationen, die sich im Nachhinein als PR-Aktionen mit gemieteten und als Ärzte verkleideten Demonstranten herausgestellt haben, ({0}) oder wie die teilweise fingierten Briefe der PKV, die uns alle hier erreicht haben. Von der Qualität her ist das wirklich das Gleiche. ({1}) Es ist richtig: Wir haben lange um die Gesundheitsreform gerungen. Es war, glaube ich, auch richtig, sich die Zeit zu nehmen, weil es um sehr viel geht. Gesundheit geht alle an. Es ist ein Thema, das alle Menschen in dieser Republik interessiert. Deshalb muss man gerade, wenn man mit so unterschiedlichen Grundpositionen an das Thema herangeht, wie das ohne Zweifel hier der Fall gewesen ist, auch darauf achten, dass man wirklich Lösungen findet, die im Sinne der Versicherten und der Patienten und Patientinnen tragfähig sind. Wir haben ein leistungsfähiges und medizinisch hochstehendes Gesundheitswesen. Über 4 Millionen Menschen erbringen jeden Tag Dienstleistungen für andere Menschen. Das gilt für Ärzte und Ärztinnen genauso wie für Krankenschwestern, Krankenpfleger und andere Heilberufe. Ich glaube, dass das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung, nach dem die Jungen für die Älteren, die Gesunden für die Kranken und diejenigen mit mehr Einkommen für diejenigen mit weniger Einkommen einstehen, richtig ist. Es bedeutet seit BeElke Ferner ginn der gesetzlichen Krankenversicherung gelebte Solidarität, und das wird auch nach dieser Reform so bleiben. Wir haben es erreicht, dass es eine Versicherungspflicht für alle gibt. Sogar die FDP will jetzt eine Versicherungspflicht für alle, allerdings auf eine andere Weise. ({2}) Sie möchte nämlich, dass die guten Risiken, die heute in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, zur privaten Krankenversicherung abwandern. Es könnte also noch mehr Rosinenpickerei betrieben werden, und die Versicherten, die nicht abwandern, müssten alleine die Kosten für die Behandlung der kranken Menschen tragen. ({3}) Die FDP will weiterhin nicht, dass es durch Veränderungen bei den Strukturen zu Einsparungen kommt. Für einzelne Berufsgruppen im Gesundheitswesen sind Sie geradezu ein „Verfechter“ des Wettbewerbs. Frau Künast hat eben in diesem Zusammenhang die Apotheken erwähnt. In Wahrheit wollen Sie - dazu sollten Sie dann auch stehen - die Arbeitgeberbeiträge dauerhaft festschreiben. Mit diesem Vorgehen wollen Sie die Versicherten mit möglichen Kostensteigerungen in der Zukunft alleine lassen. Wer die erhöhten Beiträge nicht bezahlen kann, muss dann schauen, welche medizinische Versorgung er noch bekommt. Das ist nicht nur unsolidarisch; das würde unser Sozialsystem auf den Kopf stellen. Deshalb glaube ich, dass Sie bei der nächsten Bundestagswahl über 5 bis 8 Prozent Wählerzustimmung nicht hinauskommen werden. Die Menschen möchten sich nämlich im Falle einer Krankheit auf die Solidargemeinschaft verlassen können. ({4}) Es ist wichtig, noch einmal herauszustellen, dass dies die erste Gesundheitsreform seit langem ist, bei der es keine Leistungsausgrenzung, sondern eine Leistungsausweitung gibt. Ich bin froh, dass wir die Union davon überzeugen konnten, dass die gesundheitlichen Folgen von Unfällen auch weiterhin in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert bleiben und dass die Zuzahlungen nicht erhöht werden. Das gilt auch für die Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten. Wir stellen die Prävention in den Vordergrund. Nun zu dem, was Herr Gysi eben gesagt hat. Herr Gysi, ich würde mich an Ihrer Stelle schon fragen, ob diejenigen, die Ihnen einen solchen Unsinn aufschreiben, ihrer Verpflichtung nachkommen, Sie ordentlich zu informieren. ({5}) Es ist nämlich nicht richtig, dass chronisch Kranke jetzt 2 Prozent statt 1 Prozent zuzahlen sollen. Für diejenigen, die schon heute chronisch krank sind, wird sich überhaupt nichts ändern. Diejenigen, die in Zukunft Gesundheits-Check-ups oder Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, müssen nur 1 Prozent zuzahlen. Das gilt auch für diejenigen, die das nicht tun, sich aber in ein Chronikerprogramm einschreiben. Insofern wird die Prävention gestärkt, und es gibt keine Verlagerung der Lasten. ({6}) Nun zu dem Fall, dass Menschen chronisch krank sind, aber nicht an einem Chronikerprogramm teilnehmen. ({7}) Ich glaube schon, dass, wenn chronisch Kranke nicht bereit sind, bei der Behandlung mitzuwirken, entsprechende Incentives gesetzt werden müssen. Sie haben eben gesagt, die Selbstbehalte seien ein Skandal. Diese stehen aber schon heute im Gesetz. Sie sind doch Jurist, Herr Gysi. Schauen Sie sich doch erst einmal an, was im SGB V steht, bevor Sie hier solche Halbwahrheiten erzählen! ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben gerade erklärt, bei welchem Fehlverhalten es höhere Zuzahlungen für die chronisch Kranken geben wird. Ich frage Sie: Wurden nicht sogar bei Selbstverstümmelungen die Krankheitskosten immer vollständig bezahlt? Dass derjenige, der sich selbst verstümmelt, schuld ist, kann man überhaupt nicht leugnen. Verstehen Sie: Wenn Sie ein Verschuldensprinzip einführen - so wenig die Tür dafür jetzt auch geöffnet wird -, dann verändern Sie den Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist außerdem schwer, dieses Prinzip gerecht anzuwenden. Denn derjenige, der sich etwas zuschulden kommen lässt, wird darauf hinweisen, dass sein Fehlverhalten im Vergleich zu dem eines betrunkenen Autofahrers harmlos ist. Sie werden es nicht hinkriegen. Dieses Prinzip stimmt weder mit dem Grundgesetz überein, noch ist es überhaupt richtig, ein Verschuldensprinzip in die Krankenversicherung aufzunehmen. Das deutlich zu machen, war mein Anliegen. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Gysi, ich empfehle Ihnen, einen Blick ins geltende Gesetz zu werfen. Schauen Sie sich § 52 SGB V an! Dort ist schon heute die Möglichkeit gegeben, dass ein Versicherter an den Kosten beteiligt werden kann, wenn er sich die Krankheit vorsätzlich zugezogen hat. Die Regelung, die wir erarbeitet haben, soll ja nicht zur Folge haben, dass jemand nicht mehr behandelt wird. Es geht vielmehr darum, dass die Krankenkasse in bestimmten Fällen jemanden an den Kosten beteiligen kann, wenn sie das für richtig hält. Das ist ein Unterschied zur Ihrer Auffassung. Sie haben dies falsch dargestellt, und das ist das Populistische an all den Reden, die seitens Ihrer Fraktion gehalten werden. Sie haben eben gesagt - das kann man ja im Protokoll noch einmal nachlesen -, dass künftig bestimmte Dinge von der Kasse nicht mehr bezahlt werden. Das ist falsch. ({0}) Es erfolgt nach wie vor eine Behandlung. ({1}) - Herr Gysi, ich bin noch nicht fertig. Sie müssen wieder aufstehen, auch wenn Ihnen diese Antwort nicht gefällt. Die Kasse kann wie auch schon heute, allerdings jetzt unter präziseren Bedingungen, eine Mitbeteiligung des Versicherten einfordern. Ich glaube aber, dass das überhaupt nicht der Punkt ist. Das, was die Opposition und all diejenigen, die sich gegen die Gesundheitsreform wenden, eint, ist das, was sie nicht wollen. Aber es gibt überhaupt keine Einigkeit - weder in der Opposition noch bei den vielen Interessenverbänden draußen - in dem, was sie wollen. Das ist doch die eigentliche Wahrheit. ({2}) Wir werden mit dieser Reform die Leistungen für die Versicherten verbessern. Wir stärken die Prävention, wir stärken die Rehabilitation, und wir richten unser Gesundheitswesen auf eine älter werdende Gesellschaft aus. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere die Verbesserung bei der Palliativversorgung und den Hospizen betonen. Wir stärken die finanzielle Ausstattung und den integrativen Ansatz der Hospize. Ich möchte an dieser Stelle den vielen Männern und Frauen, die zum Teil ehrenamtlich jeden Tag in der Hospizbewegung die sicherlich sehr schwierige Aufgabe haben - diese Arbeit ist wahrscheinlich für sie persönlich nicht immer einfach -, es sterbenden Menschen zu erleichtern, ihren letzten Weg zu gehen, und deren Angehörige adäquat zu betreuen, ein herzliches Dankeschön sagen. ({3}) Ich hoffe, dass wir diese Möglichkeiten in Zukunft verbessern können. Wir werden auch die Versorgungsstrukturen effizienter machen und mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten schaffen; Herr Zöller hat eben schon einige Aspekte angesprochen. Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Es bleibt beim Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es wird keine einmalige Kostenerstattung geben, was bedeuten würde, dass man, wenn die Plombe draußen ist, erst einmal etwas unterschreiben muss, bevor man eine neue Plombe bekommt. Diese Behandlungssituation wird es nicht geben. Zudem müssen die Kassen ihre Versicherten über Vor- und Nachteile der Wahltarife umfassend informieren. Zur Öffnung der Krankenhäuser hat Ulla Schmidt schon einiges gesagt. Ich möchte auf die Vorwürfe zurückkommen, wir hätten die Einsparziele nicht erreicht. Es ist richtig: Es werden uns im Vergleich zu dem, was ursprünglich im Gesetzentwurf stand, ungefähr 300 Millionen Euro fehlen. Das hat aber nicht die Koalition in diesem Hause zu verantworten. ({4}) - Es geht um 300 Millionen. Sie sollten zuhören. ({5}) - Ich bitte Sie: Hören Sie zu, ({6}) dann können Sie es vielleicht auch verstehen. ({7}) Vielleicht können Sie es aber auch nicht verstehen. Wir haben das Einsparvolumen bei den Arzneimitteln beibehalten, wenn auch jetzt auf einem anderen Weg. ({8}) - Natürlich stimmt das. - Wir werden den Kassen erstmals die Möglichkeit bieten, dass Wirkstoff und Arzneimittel ausgeschrieben werden. Die Apotheken müssen das für die Kasse jeweils günstigste Arzneimittel abgeben. Der Apothekenrabatt wird dauerhaft erhöht, sodass jedes Jahr und nicht nur einmalig 130 Millionen Euro bei den Kassen eingespart werden können. Wir haben auch festgelegt, dass die Hilfsmittel ausgeschrieben werden. Wir haben die Anregung aus der Anhörung aufgegriffen, dass in Bezug auf diejenigen Hilfsmittel, bei denen eine individuelle Anpassung notwendig ist, eine wohnortnahe Versorgung sichergestellt werden muss. Dass wir in bestimmten Bereichen die Einsparziele nicht erreichen - das sind die Bereiche Krankenhaus und Rettungsdienste -, lag - so muss man sagen - am Bundesrat, der nicht zu mehr Zugeständnissen in diesen Bereichen bereit war. Ich glaube, zu einem wettbewerblich ausgerichteten Gesundheitssystem gehören mündige und informierte Patienten und Patientinnen sowie Versicherte. Mit der Patientenbeauftragten und den Patientenberatungsstellen haben wir einen Anfang gemacht. Deren Finanzierung wird jetzt auf eine bessere Grundlage gestellt. Ich kann nur an die Kassen appellieren, dass sie, wenn sich ihre Versicherten bei ihnen darüber beschweren, dass teilweise Leistungserbringer - es sind Gott sei Dank wenige - ihren Versicherten, wie zumindest ich gehört habe, Leistungen vorenthalten oder ihnen fälschlicherweise die Auskunft geben, dass die Kasse bestimmte Leistungen nicht bezahle, dieser Sache im Interesse ihrer Versicherten wirklich nachgehen. Ich glaube, dass wir mit der Öffnung der privaten Krankenversicherung zumindest einen kleinen Schritt in Richtung mehr Wettbewerb gemacht haben. Wir haben mehr gewollt; das weiß jeder. Ich bedauere sehr, dass die Bestandsversicherten weniger Wechselmöglichkeiten haben als diejenigen, die neu in der privaten Krankenversicherung versichert sind. Aber allein die Tatsache, dass die private Krankenversicherung erstmals kranke Menschen aufnehmen muss, was für eine Krankenversicherung eigentlich das Normalste der Welt sein sollte - sie versichert schließlich gegen Krankheit und nicht gegen Gesundheit -, ist ein Schritt in die richtige Richtung. In diesem Zusammenhang wird immer wieder mit Verfassungswidrigkeit argumentiert. Dazu muss ich sagen: Ich kann nicht erkennen, was daran verfassungswidrig sein soll, wenn die private Krankenversicherung auch Kranke versichern muss. Die gesetzliche Krankenversicherung hat das von Anfang an gemacht. Ich glaube, es ist richtig, dass das jetzt für alle Versicherungen gilt. ({9}) Wider besseres Wissen wird auch hier im Hause immer wieder gesagt, durch die Reform würden die Beiträge steigen. Das ist nicht der Fall. Die Beiträge sind bereits gestiegen. Die Reform wird zum 1. April 2007 in Kraft treten. ({10}) - Herr Spieth, das stimmt doch nicht. Sie müssten es doch viel besser wissen, als alle anderen in diesem Haus. ({11}) Erstens. Nach geltendem Recht müssten die Kassen bis zum Ende dieses Jahres entschuldet sein. Stimmt das oder stimmt das nicht? Es stimmt. ({12}) - Dann sagen Sie das bitte einmal den Landesaufsichten; denn die bundesunmittelbaren Kassen sind voll im Entschuldungsplan. Zweitens. Die Einsparungen, die wir durch diese Reform erzielen, sind in den Wirtschaftsplänen der Krankenkassen noch gar nicht enthalten. Drittens. Glauben Sie, dass der Steuerzuschuss ohne Reform nicht bei 2,5 Milliarden Euro liegen würde? Glauben Sie, er wäre geringer? Glauben Sie ernsthaft, dass ohne Reform alles besser wäre, dass die Beiträge niedriger wären? Das können Sie doch unmöglich behaupten wollen. Sie wissen es doch besser. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Ferner, ich vermute, dass Sie nach dem informellen Disput eine förmliche Frage zulassen wollen. Ich verbinde das aber mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die bei dem Gegenstand nahe liegende ausgeprägte Neigung zu Zwischenfragen und Kurzinterventionen mit der Vereinbarung und Beschlusslage einer zweieinhalbstündigen Debatte mit anschließenden namentlichen Abstimmungen im Ergebnis nur schwer zu vereinbaren ist. ({0}) Deswegen bitte ich alle Beteiligten, die Redner wie die nicht als Redner gemeldeten, aber durch Zwischenfragen am Protokoll interessierten Kolleginnen und Kollegen, dem Präsidium die Einhaltung der Beschlusslage des Plenums zu erleichtern. Bitte schön.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, dass mir trotz der Möglichkeit, nachher selber zu reden, eine Zwischenfrage gestattet wird. Kollegin Ferner, ich finde es abenteuerlich, dass Sie jetzt behaupten, dass es aufgrund des WSG keine Beitragerhöhungen geben wird. Man könnte in diesem Zusammenhang lange mit Zahlen operieren; im Ausschuss haben wir das auch getan. Das BMG war trotzdem nicht in der Lage, unsere Vorhaltungen zu entkräften. ({0}) Das Gesetz enthält eine Regelung, nach der die gesetzlichen Krankenversicherungen unabhängig davon, ob sie bundes- oder landesunmittelbar beaufsichtigt werden, aufgefordert sind, bis zum 31. Januar dieses Jahres darzulegen, wie sie der Entschuldungsverpflichtung nachkommen wollen. Ist Ihnen bekannt, welche Regelungen verfasst wurden? Sie waren bis vor 48 Stunden vorzulegen. Könnten Sie das Hohe Haus darüber aufklären, ob alle Kassen in der Lage sind, sich bis zum 31. Dezember 2008 - diese Ausnahmeregelung existiert tatsächlich zu entschuldigen, ({1}) zu entschulden?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Spieth, die Entschuldungspläne sind nicht den Abgeordneten, sondern dem Gesundheitsministerium vorzulegen. Da ich dem Parlament und nicht dem Ministerium angehöre, kenne ich das, was vorgelegt worden ist, nicht. Richtig ist aber - das werden Sie mir bestätigen -, dass die Regelung, dies bis zum 31. Januar dieses Jahres vorzulegen, nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsverfahrens ist, sondern schon im letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz beschlossen wurde. Richtig ist auch, dass im SGB V, also in dem Gesetz, über das wir heute beraten, steht, dass die Kassen bis zum 31. Dezember 2007 entschuldet sein müssen. Wir erweitern jetzt den Zeitraum bis 2008, wenn mit Zustimmung des jeweiligen Bundesverbandes ein tragfähiger Entschuldungsplan vorliegt. Das heißt, wir geben den Kassen mehr Spielraum. Ich bin sehr gespannt, wie das umgesetzt wird. Jedenfalls ist es bezeichnend, dass die bundesunmittelbaren Kassen, die der Aufsicht des Bundesversicherungsamtes unterliegen, mit ihrem Schuldenabbau im Zeitplan sind, während die landesunmittelbaren Kassen, die der Länderaufsicht unterliegen, in Teilen so hoch verschuldet sind, dass es schwierig werden könnte, bis zum 31. Dezember 2008 eine Entschuldung zu schaffen. Aber wir sind bereit, hier abzuwarten. Eines ist klar: Die Schulden der Kassen sind - darüber sollte man ehrlich reden nichts anderes als die Konsequenz aus unterlassenen Beitragssatzanhebungen in der Vergangenheit; nicht mehr, aber auch nicht weniger. ({0}) Der neue Risikostrukturausgleich, der mit dem Fonds in Kraft tritt und sicherstellt, dass die krankheitsbezogenen Ausgaben besser und fairer ausgeglichen werden, wird zu einer Besserstellung der Kassen führen, die eine, bezogen auf den Grundlohn, schwache Mitgliedschaft und gleichzeitig hohe Ausgaben für ihre Versicherten haben. Unter dem Strich gesehen haben wir einen tragfähigen Kompromiss erarbeitet. Ich verhehle nicht, dass wir uns an einigen Stellen mehr gewünscht hätten. Aber es gibt jetzt eine Versicherungspflicht für alle. Wir werden bessere Versorgungsstrukturen bekommen, und vor allen Dingen werden wir auch in Zukunft in der Situation sein, dass alle Versicherten, und zwar unabhängig davon, wo sie versichert sind, am medizinischen Fortschritt teilhaben können und das, was medizinisch notwendig ist, erhalten. Sehr wichtig wird sein, zu gegebener Zeit noch einmal über die Frage einer dauerhaft nachhaltigen Finanzierung zu reden. Wir haben mit der Steuerfinanzierung einen wichtigen Schritt in Richtung einer Verbesserung der Finanzbasis gemacht. Allerdings wird das nicht reichen. Erlauben Sie mir, Herr Präsident, in den letzten zehn Sekunden meiner Redezeit noch einen Dank an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Fraktionen und des Ausschusssekretariats zu richten, die diese Woche und in den vergangenen Wochen relativ viel arbeiten mussten. Natürlich geht mein Dank auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, ohne die wir unsere Arbeit wahrscheinlich nicht hätten fertigstellen können. Unter dem Strich ist es ein Kompromiss, dem man zustimmen kann. Ohne Reform würden die Beiträge höher steigen, und die Situation würde sich nicht verbessern. Es würde zu viel Geld auf der Strecke bleiben. Insofern: Lassen Sie uns das Gesetz heute beschließen und dann intensiv über das öffentlich berichten, was wirklich

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Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Ferner!

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und nicht über das, von dem manche meinen, es stehe so im Gesetz! Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Frau Kollegin Ferner, als Sie von den letzten zehn Sekunden Redezeit gesprochen haben, hatten Sie Ihre Redezeit schon überschritten. ({0}) - Ja, ich wollte nur noch einmal meine sprichwörtliche Großzügigkeit ins Protokoll bringen. ({1}) Allerdings verbinde ich dies mit dem Hinweis, dass ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, in der weiteren Debatte Zwischenfragen und Kurzinterventionen jedenfalls dann nicht zulasse, wenn die sich meldenden Kollegen ohnehin als Redner in der weiteren Debatte vorgesehen sind. ({2}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ({3})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist heute keine Debatte über Gesundheitstechnik, obwohl sie sich teilweise so anhört. Es geht auch nicht um irgendeine spezielle Frage des Gesundheitssystems. In Wahrheit geht es um eine grundsätzliche Weichenstellung gesellschaftspolitischer und sozialpolitischer Natur. Es geht um die Frage: Wollen wir in unserem Land bei Reformen mehr Freiheit durchsetzen, oder gehen wir den Weg in Richtung von noch mehr bürokratischer Staatswirtschaft? Sie haben sich für das Letztere entschieden und werden das heute beschließen. ({0}) Frau Bundeskanzlerin, deswegen, weil es nicht um eine fachliche Frage alleine geht, wäre es das Allermindeste, was man erwarten kann, dass sich die Regierungschefin bei dieser für unsere Bürgerinnen und Bürger so herausragenden Frage nicht hinter der Gesundheitsministerin versteckt, sondern selber im Parlament die Verantwortung übernimmt für den Murks, den Sie hier anrichten! ({1}) An Sie gerichtet, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, will ich nur Folgendes sagen - denn wir haben ja alle mitbekommen, wie kontrovers Sie auch in Ihren eigenen Fraktionen darüber beraten haben -: Viele von Ihnen handeln heute nach der Methode, die der Kollege Zöller vorgegeben hat: Augen zu und durch, Hauptsache es ist vorbei. - Nichts ist vorbei, wir werden Sie für diese falsche Entscheidung in Ihren Wahlkreisen zur Verantwortung ziehen. ({2}) Sie werden sich nicht hinter Ulla Schmidt oder hinter einem Koalitionskompromiss verstecken können. Sie sind Ihrem Gewissen und dem Volk verantwortlich - und nicht Angela Merkel und Franz Müntefering. Darum geht es: um Ihr Selbstverständnis. ({3}) Deswegen ist es erforderlich, dass wir auf das aufmerksam machen, was natürlich noch kommen wird. Denn es ist für Sie nicht vorbei, es kommt noch mehr, Herr Kollege Kauder: ({4}) „Steinbrück plant Steuererhöhungen“. ({5}) - Sie sagen, Herr Kollege, das sei Blödsinn? ({6}) Dann will ich erwähnen, was eine andere Zeitung schreibt - ziemlich das andere Ende des Spektrums der Berichterstattung -: „Gesundheitsreform reißt Riesenetatloch“, und zitiere den haushaltspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Carsten Schneider: „Vielen in der Koalition ist nicht bewusst, was dies für die Haushaltspolitik bedeutet.“ ({7}) Er rechnet mit einem zweistelligen Milliardenbetrag, der fehlt und der bereitgestellt werden muss. Er sagte der „Frankfurter Rundschau“ wörtlich: „Dann können alle Wünsche nach mehr Geld für Familien, für Forschung oder Infrastruktur nicht mehr erfüllt werden.“ ({8}) Was hier stattfindet, ist einmalig: Sie erhöhen die Beiträge, Sie führen mit dem Gesundheitsfonds die Planwirtschaft ein, Sie erhöhen die Steuern und Sie verringern die Leistungen für die Versicherten, für die Patienten. Eine so schlechte Reform verdient den Namen Reform in diesem Hohen Hause nicht! ({9}) Entlarvend war doch, dass die Gesundheitsministerin hier erklärt hat, es könne nicht richtig sein, dass es für dieselbe Leistung bei zwei Versicherungen einen Beitragsunterschied von 21 Euro geben könne. Wenn es nicht richtig sein kann, dass für dieselbe Leistung unterschiedliche Preise verlangt werden können, warum nennen Sie Ihr Gesetz ausgerechnet „Wettbewerbsstärkungsgesetz“? ({10}) Das ist ein Wettbewerbsverständnis, wie Sie es vielleicht bei den Jusos oder beim KBW gelernt haben. Doch mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. ({11}) Mit derselben Argumentation kann dieser Deutsche Bundestag demnächst den Brotpreis festsetzen! Das ist Planwirtschaft und hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun. Wenn Sie das mir nicht glauben, dann hören Sie sich an, was der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, Professor Lauk, in dieser Woche gesagt hat: Auf 500 Seiten Gesetzentwurf steht kein einziger wirklich wirkungsvoller Ansatz zur Kostensenkung. - Er fügt hinzu: Das wäre mit dem Vater der sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, nicht zu machen gewesen. - Das ist wohl wahr. Spätestens jetzt hätte er Ihre Partei verlassen, meine sehr geehrten Damen und Herren! ({12}) Ich muss hier gar nicht Friedrich Merz zitieren oder Michael Glos oder Philipp Mißfelder. Wir können sogar große geschichtliche Gestalten der sozialdemokratischen Fraktion anführen. Gerhard Schröder - ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn jemals freiwillig zitieren würde hat zur Gesundheitsreform festgestellt, das alles sei kein großer Wurf. ({13}) Den Gesundheitsfonds hat er gar als bürokratisches Monstrum bezeichnet, das der Programmatik beider Parteien widerspreche und den Versicherten nicht helfe. ({14}) Dies macht doch die Kompromissfindung zwischen den beiden Regierungsfraktionen deutlich, um die es sich in Wahrheit handelt und die zu diesem Ergebnis geführt hat. Das erinnert an ein schönes Bild: Zwei Wanderer wollen gemeinsam einen Weg beschreiten und kommen an einen Sumpf. Der eine will links vorbeigehen, der andere rechts. Weil sie sich nicht einigen können, sagen sie: Dann gehen wir halt glatt durch die Mitte. Als sie bis zur Hüfte im Sumpf stehen, streiten sie sich, ob der Sumpf 2,80 Meter oder 3,40 Meter tief ist. Zum ersten Mal, seit ich diesem Haus angehöre, beschließen zwei Regierungsfraktionen in einer fundamentalen Frage ein Vorhaben, von dem sie sich wünschen, dass es in dieser Republik niemals Wirklichkeit wird. Was haben Sie für ein Parlamentarismusverständnis? ({15}) Herr Lauterbach - ich weiß nicht, ob man Ihnen gegenüber den Namen noch erwähnen darf - war einst der Heilsbringer der Sozialdemokraten. Davon ist nichts geblieben. Sie haben sich entschieden, in einem parlamentarisch außerordentlich fragwürdigen Verfahren eine Gesundheitsreform zu beschließen, die in Wahrheit mit dem Gesundheitsfonds ein bürokratisches Monstrum schafft, die Beiträge erhöht, die Versicherten nicht stärkt und vor allem den Wettbewerb zwischen den Anbietern zum Erliegen bringt. Vor der Bundestagswahl haben wir gemeinsam das glatte Gegenteil gefordert. Reden Sie sich nicht zu Hause bei Ihren Wählerinnen und Wählern damit heraus, dass Sie es mit der FDP anders gemacht hätten bzw. anders machen werden! ({16}) Sie stehen als Abgeordnete in der Verantwortung für das, was Sie beschließen, und sollten auch gegenüber der Regierung so viel Stärke aufbringen, dass Sie sagen: Lieber keine Reform als diese vermurkste Reform! ({17}) „Mehr Freiheit wagen“, das wollten Sie mal. Heute beschließen Sie mehr Planwirtschaft. In den wenigen Minuten, die mir als Redezeit zur Verfügung stehen, ({18}) möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München, der der SPD angehört, sich mit dem dringlichen Anliegen an den Fraktions- und Parteivorsitzenden der FDP gewendet hat - was an sich schon ein bemerkenswerter Vorgang ist -, kräftig gegen die Gesundheitsreform zu Felde zu ziehen. Das sind spannende Zustände. ({19}) - Zu Ihnen komme ich noch, Herr Kollege Zöller. Übrigens - Sie gehören ja der CSU an, Herr Zöller -: Demnächst klebt die FDP in München ein Plakat mit der Aufschrift „Freiheit statt Sozialismus“ - gerichtet an die CSU. ({20}) Der Oberbürgermeister von München also hat mir in einem Brief geschrieben, die Gesundheitsreform sei ein Rückfall in eine konzeptionslose Kostendämpfung - er begründet das auf mehreren Seiten -, und berichtet, der Münchner Stadtrat habe sich einstimmig gegen das gewendet, was Sie heute beschließen wollen, und zwar aus demselben Grund wie die Krankenhausbetreiber, ({21}) weil 30 000 Arbeitsplätze verloren gehen. Das alles ist Ihnen nicht wichtig. Ihnen ist wichtig, dass Sie Ihr Gesicht nicht verlieren. Aber für Deutschland ist das so ziemlich das Unwichtigste. ({22}) Abschließend will ich noch Folgendes zu Protokoll geben - danach können Sie zu Ihrem Steh- und Sektempfang gehen, Frau Schmidt, zu dem Sie auf die Fraktionsebene eingeladen haben; ich werde übrigens nicht kommen, um mitzufeiern; bitte entschuldigen Sie mich, Frau Schmidt! -: Wenn Sie in der Nacht vor der Sitzung des Gesundheitsausschusses 81 Anträge einreichen und es am nächsten Tag ablehnen, dass diese Anträge in einer angemessenen Zeit ordnungsgemäß beraten werden können, dann ist auch das eine Verletzung des parlamentarischen Verfahrens. ({23}) Ich gebe das hier amtlich zu Protokoll, weil Sie das noch einholen und beschäftigen wird. Unterm Strich stelle ich fest: So viel Unfug hat dieses Haus schon lange nicht mehr gesehen. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Annette WidmannMauz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, das, was Sie hier heute abgeliefert haben, erinnert an das letzte Aufbäumen. Während die Kassen und die Ärzte die Fahnen schon eingeAnnette Widmann-Mauz zogen haben, erinnern Sie mich an die gemieteten Demonstranten vor dem Reichstag. Sie sind hier angetreten, um noch einmal starke Sprüche zu klopfen. ({0}) Für mich ist immer wieder erstaunlich, wie Sie das Schreckgespenst der Verstaatlichung an die Wand malen. Sie prangern verstaatlichte Institutionen an; wenn diese verstaatlichten Institutionen jedoch in Ihren Wahlkreis kommen sollen, sind Sie plötzlich dafür und bitten die Ministerin, sich dafür einzusetzen, dass eine solche Institution in Ihrem Wahlkreis angesiedelt ist. ({1}) Es ist auch interessant, dass Sie, Herr Kollege, kein einziges Wort zu Ihrem Wahlkampfschlager, nämlich Ihrem Gesundheitskonzept, gesagt haben. Das haben Sie heute wohlweislich unterlassen. Denn das, was Sie mit Ihrem Konzept einführen wollten, ist eine allgemeine Versicherungspflicht in Deutschland. Damit würden Sie die Menschen in einen Basistarif in der privaten Krankenversicherung zwingen, das Gesundheitsrisiko privatisieren und Risikozuschläge in der privaten Krankenversicherung gestalten. Finanzieren wollen Sie das Ganze, damit es einen sozialen Anstrich hat, aus Steuermitteln. Sie bleiben der deutschen Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag die Auskunft darüber schuldig, woher Sie das Geld dafür nehmen wollen. ({2}) Sie haben überhaupt kein Recht, hier auch nur die leiseste Kritik zu üben. Ich habe mir auch angehört, was Sie zu den Beratungen im Ausschuss gesagt haben. Bereits Anfang Januar haben wir über 100 Änderungsanträge vorgelegt. Mehrfach haben wir dem Ausschuss das Angebot unterbreitet, Sondersitzungen abzuhalten. ({3}) Am Montag haben wir Unterbrechungen beantragt, damit Sie genügend Zeit zum Lesen haben. Wer hat denn dagegengestimmt? Die FDP-Fraktion! ({4}) Ich kann nur sagen: Sie ziehen hier heute Morgen wirklich eine Show ab. ({5}) Wenn man die Berichterstattung der letzten Monate und die vom heutigen Morgen zum Maßstab nimmt, könnte man fast den Eindruck gewinnen, es gebe im deutschen Gesundheitswesen paradiesische Zustände, die Reform sei nicht nötig, alles sei besser als diese Reform. Ich will uns, vor allen Dingen aber den Menschen in unserem Land erklären, warum wir diese Reform brauchen. Haben Sie denn alle schon vergessen, wie die Wirklichkeit im deutschen Gesundheitswesen aussieht? Ich sage es Ihnen gern noch einmal: Wartelisten, überfüllte Wartezimmer, zu wenig Ärzte im ländlichen Raum, vor allem in den neuen Bundesländern, zu wenig Nachwuchs, Ärzte, die immer mehr Patienten behandeln müssen und dafür immer schlechter bezahlt werden, Ärzte, die immer mehr in Bürokratie ersticken und immer weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten haben. Die Ärzte verlieren die Freude am Beruf, sie verlassen unser Land und wandern aus. Folglich stehen sie den Patientinnen und Patienten nicht mehr zur Verfügung. Das ist die Folge jahrelanger Budgetierung. Es gibt bei uns keine leistungsgerechte Honorierung, deshalb zieht die Rationierung schleichend in unser Gesundheitssystem ein. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das trifft immer die Schwächsten zuerst, das sind die kranken Menschen in unserem Land. ({6}) Haben Sie vergessen, lieber Herr Spieth, wie intransparent unser Gesundheitssystem ist? Niemand weiß doch, welche Leistungen der Arzt abrechnet, was der Arzt von der Kasse für seine Leistungen erhält. Wer weiß denn, wofür die Krankenkassen die Beitragsmittel einsetzen, wie viel für die Verwaltung und die Funktionäre draufgeht, wie viel für die medizinischen Leistungen und wie hoch die Zinslasten für die Verschuldung in Wahrheit sind? Denken Sie an die Kartelle der Anbieter und auf der Kassenseite. So kann doch kein Wettbewerb in diesem Land entstehen. Dort, wo Transparenz fehlt, fehlt auch das Bewusstsein für Kosten und Leistungen. Da blühen Selbstbedienung und Verantwortungslosigkeit. Das hat mit informierten, mündigen Patienten und einem effizienten System nichts zu tun. Deshalb müssen wir handeln. ({7}) Hat dieses Hohe Haus denn schon vergessen, wie wenig Eigenverantwortung und wie wenige Wahlmöglichkeiten es in allen Bereichen und bei allen Beteiligten in diesem Gesundheitswesen gibt? Haben wir denn schon vergessen, dass wir neben Fortschritt auch noch nur scheinbaren Fortschritt mitfinanzieren und teuer bezahlen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wird Gesundheit immer nur teurer, und immer mehr Menschen können sich das nicht mehr leisten. Es gibt immer mehr Nichtversicherte in unserem Land. Damit dürfen wir uns doch nicht abfinden. In einer älter werdenden Gesellschaft mit neuen Möglichkeiten - dank medizinischen Fortschritts und gestiegenen Ansprüchen - führt dieses unweigerlich dazu, dass wir immer stärker die Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft erleben. Ich sage Ihnen: Das wollen wir nicht. ({8}) Wir wollen medizinischen Fortschritt für alle auch in Zukunft finanzierbar erhalten und deshalb heute im Interesse künftiger Generationen handeln. Haben wir schon vergessen, dass das Finanzierungssystem mit seiner Abhängigkeit ausschließlich von den Arbeitskosten nicht zukunftsfähig ist, eine Belastung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft darstellt und dann auch nicht ausreicht, um in einer älter werdenden Gesellschaft mit immer mehr Rentnern die Ausgaben zu finanzieren? Das ist doch die Situation, und deshalb brauchen wir die Reform. Heute bringt die Große Koalition nach einer zugegebenermaßen nicht ganz komplikationsfreien Schwangerschaft ein gesundes, kräftiges Kind zu Welt. ({9}) Auch wenn es nicht bei jedem das Wunschkind war und auf den ersten Blick - man hört es ja - auch noch nicht von jedem in seiner ganzen Schönheit erkannt wird, ({10}) die Geschwister, die Verwandten, die Ärzte und die Kassen, sie gewöhnen sich langsam an das Kind, und sie fangen auch schon an, es immer mehr zu mögen. Und ich sage Ihnen, so wie jedes Kind wird auch dieses Kind die Gesundheitswelt ganz deutlich verändern. Wir stellen die Finanzierung um. Mit dem Gesundheitsfonds schaffen wir den Einstieg in die Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten, denn wir schreiben zum ersten Mal den Arbeitgeberbeitrag temporär fest. Wir finanzieren versicherungsfremde Leistungen, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, mit dem Aufbau einer Steuersäule. Das ist doch die Voraussetzung dafür, dass jeder Versicherte für jede Kasse das gleiche Risiko darstellt, egal ob jung oder alt, ob gesund oder krank, ob arm oder reich. Jede Kasse erhält aus dem allgemeinen, einheitlichen und einkommensabhängigen Grundbeitrag die gleiche Pauschale pro Versicherten, wobei wir die unterschiedliche Verteilung der Krankheitsrisiken in den Kassen durch einen vereinfachten und zielgenauen Risikostrukturausgleich berücksichtigen. Das ist die Grundlage dafür, dass Wettbewerb, dass Transparenz und Gerechtigkeit überhaupt funktionieren können, und das hat mit Verstaatlichung überhaupt nichts zu tun. ({11}) Denn für die Kassen besteht jetzt zum ersten Mal nicht mehr der Anreiz, Jagd auf junge, gesunde Gutverdiener zu machen. Eine Kasse hat keine Nachteile mehr, wenn sie Menschen in Regionen versichert, obwohl dort hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Auf der anderen Seite bieten die Kassen individuelle Zusatzbeiträge an und können einen Bonus an die Versicherten auszahlen, sodass die Versicherten erkennen können, ob die Leistung der Kasse ihren Preis auch wert ist. Erst jetzt hat das Werben der Kassen um die „guten Risiken“, das in der Vergangenheit zu beobachten war, keine Chance mehr. Wir schaffen damit außerdem die Voraussetzung dafür, dass sich die Kassen anstrengen, schlanke Verwaltungsstrukturen zu entwickeln und ein gutes Versorgungsmanagement auf den Weg zu bringen. Ich nenne das Beispiel der AOK Baden-Württemberg, die schon im Vorfeld dieser Reform klare, mutige Entscheidungen zugunsten von mehr Effizienz in der Verwaltung getroffen hat. Dies ist richtig, weil man so Beitragsgelder für die Versorgung freischaufelt, anstatt sie für teure Gebäude und Bürokratie zu verschwenden. Es kommt also Bewegung in unser Gesundheitssystem. Es gibt mehr Vielfalt durch versichertenbezogene Versorgungsangebote und kassenspezifische Tarife. Selbst der Chef des AOK-Bundesverbandes sagt, das sei im Sinne der Versicherten. Voraussetzung ist aber die Möglichkeit, einzelvertragliche Regelungen zu treffen. Diese schaffen wir: mit Ärzten, Krankenhäusern, Arzneimittelherstellern und Apotheken. Wir schaffen mit dieser Reform mehr Wahlmöglichkeiten: Hausarzttarife, integrierte Versorgung, Kostenerstattungen und Selbstbehalttarife zum ersten Mal für Pflichtversicherte. Wir ermöglichen zudem Tarife für Homöopathie und Anthroposophie. Wir stärken des Weiteren die Eigenverantwortung; denn der geplante Zusatzbeitrag schafft gerade erst die Preissensibilität und das notwendige Kostenbewusstsein bei den Versicherten. Uns geht es aber nicht nur um die ökonomische Verantwortung, sondern auch um das persönliche Verhalten und den Lebensstil. Früherkennungsuntersuchungen sind wichtig. Wir müssen die Menschen stärker motivieren, sie wahrzunehmen. Ich habe großes Verständnis dafür, wenn Menschen sagen: Ich habe ein Recht auf Nichtwissen. Aber dieses Recht auf Nichtwissen korrespondiert nicht mit dem Recht auf Zuzahlungsreduzierung zulasten der Solidargemeinschaft. ({12}) Wir achten auch auf therapiegerechtes Verhalten. Das ist richtig; denn auch Ärzte haben gegenüber der Solidargemeinschaft die Verantwortung, dies mit ihren Patienten zu besprechen. Voraussetzung ist aber, dass sie eine leistungsgerechte Honorierung erhalten, damit sie diese vielfach „sprechende Medizin“ anwenden können. Deshalb etablieren wir eine leistungsgerechte Honorierung mit weniger Bürokratie bei den Chronikerprogrammen und den vielfältigen Prüfungen, denen sich Ärzte unterziehen müssen. Wir beenden die Budgetierung und führen stattdessen eine Vertragsgebührenordnung in Euro und Cent ein. Das Morbiditätsrisiko, also das Risiko einer kränker werdenden Gesellschaft, geht auf die Krankenkassen über und muss nicht aus dem Topf für die Ärzte bezahlt werden. Wir etablieren zudem Zuschläge für Ärzte in unterversorgten Regionen und Gebieten sowie dort, wo Unterversorgung erst in den nächsten Jahren droht. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Köhler, sagte gestern: Das hilft uns Ärzten. Und es kommt letztlich den Patienten zugute. ({13}) Wir leisten mit dieser Reform einen wichtigen Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Allein die Diskussion über den Verschuldensbegriff und die Insolvenzfähigkeit hat doch offenbart, wie groß das Ausmaß der Verschuldung und der nicht aufgebauten Altersrückstellungen in diesem System ist: 2 Milliarden Euro Altschulden, die in den nächsten beiden Jahren abgebaut werden müssen, und 10 Milliarden Euro nicht getroffene Pensionsrückstellungen. Wir schaffen einen einheitlichen Verschuldensbegriff und verpflichten die Krankenkassen, Rückstellungen aufzubauen. Ich kann nur sagen: Wer es mit der Generationengerechtigkeit ernst meint, der muss heute den Beitrag dazu leisten, dass diese Schulden nicht zu Beitragssatzsteigerungen für künftige Generationen werden. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Reform am heutigen Tag abzulehnen, heißt, den Lobbyisten im Gesundheitswesen nachzugeben und den Menschen alle Verbesserungen, die diese Reform bringt, vorzuenthalten: ({15}) den Schwerstkranken die Palliativversorgung, den Behinderten und Pflegebedürftigen die häusliche Krankenpflege und die Versorgung mit Hilfsmitteln, den Müttern und Vätern Eltern-Kind-Kuren, den Versicherten Wahlmöglichkeiten - so viel Kostenerstattung war nie in diesem Land - und den Nichtversicherten den Zugang zu bezahlbarem Versicherungsschutz in der gesetzlichen wie in der privaten Krankenversicherung. Diese Reform abzulehnen, heißt, auf der einen Seite Budgetierung und Rationierung und auf der anderen Seite Intransparenz und die Verschwendung knapper Ressourcen zu dulden und fortzusetzen. Diese Reform abzulehnen, heißt: weiter keine Verbreiterung der Finanzierungsbasis durch Steuern und damit weniger Gerechtigkeit und eine stärkere Belastung durch höhere Lohnnebenkosten. Deshalb sagen wir heute Ja zu dieser Reform, und wir nehmen unsere Verantwortung für die Menschen in unserem Land wahr. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Bunge das Wort.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben zur Ausschussarbeit eine Bemerkung gemacht, die mich als Ausschussvorsitzende zur Reaktion veranlasst. Wenn ich es diplomatisch ausdrücke, so hat uns die Koalition hier ein Verfahren aufgedrückt, das zwar nach der Geschäftsordnung zulässig, aber einem solch komplexen Reformwerk nicht angemessen ist. ({0}) Sie haben hier das Angebot von Sondersitzungen erwähnt. ({1}) Frau Widmann-Mauz, Sondersitzungen ergeben keinen Sinn, wenn sie ohne Vorlage der geplanten Änderungen stattfinden sollen. ({2}) Was sollen wir denn dort beraten? Wir brauchen doch nicht unsere Zeit abzusitzen. Als die Vorlagen da waren, war nächtens nur noch einige Stunden Zeit. Das ganze Verfahren führte dazu, dass ich als Ausschussvorsitzende ständig - das ist bis heute so - auf die Einhaltung der Geschäftsordnung achten musste. ({3}) Noch gestern Abend, nach Vorlage der Beschlussempfehlung, bin ich bedrängt worden, Buchstaben und Zahlen zu ändern, obwohl die Abstimmungen längst vorbei waren. Das ist der parlamentarischen Demokratie sehr abträglich. Das gehört sich einfach nicht für dieses deutsche Parlament. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie können antworten. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bunge, Sie wissen so gut wie ich, dass wir intensive Diskussionen und vielfache Beratungen im Ausschuss - auch in einer guten Atmosphäre - durchgeführt haben. Wir haben Ihnen viele Änderungsanträge in verschiedenen Sitzungen und teilweise auch übers Wochenende zugeleitet und intensiv darüber beraten. Wir haben jedem Parlamentarier die ausreichende Möglichkeit gegeben, sich mit der Materie zu befassen. Alle Berichterstatter, auch die der Oppositionsparteien, haben sowohl der Beschlussempfehlung als auch dem Bericht zugestimmt. ({0}) Wenn Ihr Fraktionskollege Spieth Briefe mit besonderen Wünschen, die er noch kurz vor Toresschluss hat, an Sie schreibt, dann bitte ich, das in Ihrer Fraktion zu klären. ({1}) Der Deutsche Bundestag und der Gesundheitsausschuss haben ein ordnungsgemäßes und kollegiales Verfahren durchgeführt. Sie wissen genau, dass Ihre Kritik erstens am heutigen Tag nicht angebracht ist und zweitens nicht den Tatsachen in der Ausschussberatung entspricht. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Lanfermann.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin WidmannMauz, als einer der angesprochenen Berichterstatter möchte ich doch auf Folgendes hinweisen: Erstens. Die Änderungsanträge, über die hier gesprochen worden ist, sind uns gegen 21.40 Uhr am Dienstagabend zugestellt worden. ({0}) Ich als Obmann der FDP-Fraktion habe zu Beginn der Ausschusssitzung am Mittwoch um 8.30 Uhr den Antrag gestellt, ({1}) dass wir zwei Stunden Lesezeit bekommen, um wenigstens festzustellen, was in den Änderungsanträgen steht. Dieser Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. ({2}) Zweitens. Sie haben mit Ihrer Mehrheit durchgesetzt, dass Beschlussempfehlung und Bericht an dieses Plenum getrennt wurden. Sie waren bei dem von Ihnen verursachten Chaos nicht in der Lage, beides gemeinsam so fertigstellen zu lassen, dass die Frist Mittwochabend 24 Uhr hätte gewahrt werden können, damit wir heute hier verhandeln können. Die Beschlussempfehlung selbst ist mir erst am späten Mittwochabend - nach mehrfacher Ankündigung und Verzögerung - zugestellt worden. Ich habe sie dann unterschrieben, damit hier verhandelt werden kann. Ansonsten hätte auf Ihren Druck hin das Plenum mit entsprechenden Kosten zu einer Sondersitzung, höchstwahrscheinlich in der nächsten Woche, zusammenkommen müssen. Das wollte ich nicht verantworten. Die Kollegen Spieth von der Linken und Bender, Grüne, haben genauso gehandelt. Drittens. Der Bericht, der dazu dienen soll, dass die Abgeordneten wissen, was eigentlich geschehen ist - er war für einen späteren Zeitpunkt am Mittwoch oder für Donnerstagmorgen angekündigt -, ist mir gestern Abend um 19.30 Uhr zugestellt worden. Ich bekenne - das fällt mir auch angesichts meiner beruflichen Vergangenheit schwer -, dass ich den Satz „nicht gelesen“ leider nicht hingeschrieben habe. Ich werde es nach Ihren soeben gemachten Ausführungen künftig anders machen. Beim nächsten Mal würde ich mich trotz aller Folgen weigern, ein Konvolut von über 100 Seiten zu unterschreiben, von dem sich zumindest ein ganz wichtiger Teil auf diejenigen Änderungen bezog, die in den letzten beiden Tagen nicht ordentlich behandelt werden konnten. Wenn dem Plenum überhaupt ein Bericht vorliegt, dann deswegen, weil auch die Berichterstatter der Opposition gestern Abend eine Unterschrift geleistet haben zu einem Gesetzgebungsverfahren, das wirklich jedem ordentlichen Parlamentarismus hohnspricht. Nehmen Sie diese Fakten bitte endlich zur Kenntnis und behaupten Sie nicht dauernd, es habe hier ein ordnungsgemäßes Verfahren stattgefunden! ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Widmann-Mauz, Sie können antworten.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Lanfermann, es ist jetzt schon zwei Tage her. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr korrekt an den Verlauf der Ausschusssitzung. Ich erinnere mich daran sehr wohl. ({0}) - Sie waren doch gar nicht dabei, Herr Kollege Westerwelle. ({1}) Wir haben ausführlich, über mehrere Stunden, Änderungsvorschlag für Änderungsvorschlag in die Änderungsanträge eingefügt. Unser Obmann, Kollege Jens Spahn, hat eine Sitzungsunterbrechung beantragt, um dem Wunsch der FDP, eine längere Beratungszeit in Anspruch zu nehmen, gerecht zu werden. ({2}) Die FDP hat diesem Antrag nicht zugestimmt. ({3}) Ich halte es zwar für politisch nachvollziehbar, Kollege Lanfermann, dass Sie, nachdem Sie gemerkt haben, dass Sie hier längst auf verlorenem Posten kämpfen, Probleme mit Formalitäten in den Raum stellen. Ich bin aber der festen Überzeugung: Dieses Verfahren ist ordnungsgemäß gewesen. Sie alle haben diese Berichte unterschrieben. Diese Berichte haben in den Fächern und zur Beratung fristgerecht vorgelegen. Sie sollten jetzt, nachdem die politischen Schlachten geschlagen sind, Ihre Fahne einziehen. Ich glaube, das ist an dieser Stelle in guter Kollegialität machbar. Ich sehe keinen Grund, hier weiter ein korrektes Verfahren von Ihnen infrage stellen zu lassen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Mir liegt ein weiterer Wunsch nach einer Kurzintervention, nämlich der der Kollegin Haßelmann, vor. ({0}) Ich bitte aber darum, dass das dann die letzte Kurzintervention ist. ({1}) - Herr Kollege Westerwelle, wenn Ihr Geschäftsführer eine Kurzintervention Ihrerseits anmeldet, dann erhalten Sie das Wort direkt nach Frau Haßelmann. Frau Widmann-Mauz, wenn es Ihnen recht ist, antworten Sie danach auf beide Kurzinterventionen. Frau Haßelmann, bitte.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau WidmannMauz, ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen - Ihre Rede gerade war ein bisschen taumelig -: Ich empfinde es als eine unglaubliche Frechheit, wie Sie gerade auf die Kurzintervention des Kollegen von der FDP geantwortet haben. ({0}) Sie können mit keiner einzigen noch so schnodderigen Bemerkung - vielleicht werden Sie auch auf die nächste Kurzintervention so erwidern - zurückweisen, dass es ein unglaublich schlechtes parlamentarisches Verfahren war, dass wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier - ich selbst bin stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuss ({1}) kaum die Chance hatten, Beratungen wirklich ordentlich durchzuführen. Ich empfinde es auch als Frechheit, wie Sie hier durch Ihre Zwischenrufe agieren. Ich glaube, das kann ich hier im Interesse vieler Parlamentarierinnen und Parlamentarier - egal, welcher Fraktion sie angehören - deutlich sagen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Jetzt der Herr Kollege Westerwelle. Dann, Frau Widmann-Mauz, können Sie antworten. Ich gebe Ihnen auch ausreichend Zeit zur Beantwortung von zwei Kurzinterventionen.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Kurzintervention wird sehr kurz sein; es ist eine Mitteilung. Nachdem die Regierungsfraktionen unter großem Beifall die Oppositionsfraktionen für eine Unterschrift verhaften wollen, die sie abgegeben haben, damit es in der nächsten Woche keine Sondersitzung des Deutschen Bundestages auf Kosten der Steuerzahler geben muss, kündige ich hiermit an: Herr Kollege Kauder, Herr Kollege Struck, wir als Opposition werden solches Entgegenkommen bei derartigen Abreden, die bisher eigentlich guter innerparlamentarischer Brauch waren, die aber nicht einen Verzicht auf die Sachargumentation bedeutet haben, künftig nicht mehr zeigen. Wir werden formal auf die Einhaltung von Fristen - auf Punkt und Komma, und wenn es eine Minute nach Zwölf ist - bestehen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben diese Reform seit September des letzten Jahres im Bundestagsausschuss für Gesundheit beraten - in vielen Wochen, in vielen Sitzungen. Wir haben nicht alle Änderungsanträge in der letzten Sitzung beraten, sondern viele bereits vorher. Es war so viel Zeit gegeben, dass am Ende sogar Oppositionsfraktionen einzelnen dieser Anträge zugestimmt haben. Ich muss schon sagen: Als Bundestagsabgeordnete werden wir nicht schlecht bezahlt. Wenn wir wissen, dass Beamtinnen und Beamte bei einem so großen Werk bis tief in die Nacht und bis in die letzte Stunde arbeiten müssen, dann können wir, finde ich, uns das auch zumuten. ({0}) Wir haben das getan. In diesem Sinne würde ich vorschlagen, dass wir dieses Verfahren auch so zum Abschluss bringen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Berlin, Katrin Lompscher. ({0})

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Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Ich bin in Berlin seit dem 23. November des letzten Jahres Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. Eine Woche vor meinem Amtsantritt hat das Land Berlin einen umfassenden Entschließungsantrag in den Gesundheitsausschuss des Bundesrates eingebracht, in dem ausführlich begründet worden ist, warum wir dieses Gesetzespaket zurückweisen. ({0}) Heute, nach monatelangen Verhandlungen zwischen Union und SPD, bleiben die wesentlichen Defizite des Gesetzentwurfes für eine Gesundheitsreform, die diesen Namen nicht verdient hat und die kaum noch jemand nachvollziehen kann, bestehen: Die Entsolidarisierung Senatorin Katrin Lompscher ({1}) der Versicherten wird festgeschrieben, Krankheitsrisiken werden privatisiert und die Selbstverwaltung der Kassen wird beschnitten. Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wird weder nachhaltig stabilisiert noch gerechter gestaltet. Die Finanzierung wird nicht auf alle Bürgerinnen und Bürger ausgedehnt. Weitere Einkommensarten werden nicht in das Solidarsystem einbezogen. Stattdessen werden Menschen mit geringem Einkommen durch den Zusatzbeitrag überproportional belastet. ({2}) Lassen Sie mich die Kritik aus Berliner Sicht verdeutlichen. Der Gesetzentwurf bringt extreme Nachteile insbesondere für diejenigen Krankenkassen, die Menschen mit großen gesundheitlichen Risiken und geringen Einkommen versichern - wie die Berliner AOK mit fast einer Million Versicherten. ({3}) Ohne die Einführung eines wirklich krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleichs können diese Kassen die gesundheitlichen Leistungen nur dann finanzieren, wenn sie jetzt von ihren Versicherten höhere Beiträge erheben als solche Kassen, deren Versicherte besser gestellt sind. Nach Einführung des Gesundheitsfonds im Jahre 2009 werden sie gezwungen sein, höhere Zusatzbeiträge zu erheben. Die AOK Berlin hat ohne Zweifel eine schlechte Einnahme- und Ausgabenstruktur. ({4}) Diese Situation wurde allerdings nicht durch Missmanagement und fehlende Aufsicht verursacht, wie in der Bundestagsdebatte vom September 2006 vom Unionsabgeordneten Jahr fälschlicherweise behauptet wurde. Die AOK Berlin engagiert sich für eine wirtschaftliche Krankenhausversorgung ({5}) und für verbesserte Präventionsangebote in Berlin. ({6}) Zwischen 1996 und 2004 wurden gegenüber der allgemeinen Entwicklung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung rund 304 Millionen Euro eingespart. Aber Sie dürfen nicht vergessen: 50 Prozent der AOK-Mitglieder sind Rentner, und viele haben geringe Einkommen. Daraus entstehen die Verluste. ({7}) Der vorliegende Gesetzentwurf löst diese Probleme nicht, sondern verschärft sie. ({8}) Der Zusatzbeitrag führt dazu, dass der Wettbewerb zwischen den Kassen künftig verstärkt um die gesunden und einkommensstarken Versicherten geführt wird, nicht um eine bessere Gesundheitsversorgung. Es ist zu befürchten, dass Krankenkassen durch diese Entwicklung bereits kurzfristig in ihrer Existenz bedroht werden. ({9}) Auch die notwendige Entlastung des Faktors Arbeit findet nicht statt. Im Gegenteil, der Gesundheitsfonds und weitere Maßnahmen führen zu weiteren Beitragserhöhungen. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf die angestrebte Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen eingehen, auch wenn sie noch nicht in diesem Gesetzentwurf geregelt werden soll. Hier bestehen offensichtlich verfassungsrechtliche Probleme. Es kommt sicherlich nicht alle Tage vor, dass wir uns als rot-rote Koalition auf Herrn Professor Dr. Rupert Scholz beziehen. ({10}) Doch seinem Gutachten ist vollkommen zuzustimmen. ({11}) Darin heißt es: Eine isolierte Anordnung der Insolvenzfähigkeit für Krankenkassen dürfte verfassungswidrig sein. ({12}) Der Bund würde sich damit seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung zur Funktionsgewährleistung für die gesetzliche Krankenversicherung entziehen. Der Bund ist aber aufgrund des Sozialstaatsprinzips und seiner Schutzpflicht für Leben und Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, ein funktionierendes System der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Die Große Koalition hat sich entschieden, die Höhe des sogenannten Sonderopfers der Krankenhäuser zu reduzieren. Der entstehende Schaden wird dadurch zwar verringert, aber nicht beseitigt. In Berlin gibt es das größte städtische Krankenhausunternehmen Deutschlands, die Vivantes GmbH, und das größte deutsche Universitätsklinikum, die Charité. ({13}) Diese Unternehmen wollen wir als landeseigene Unternehmen fortführen. ({14}) Wir widersetzen uns den Privatisierungsaufrufen und kümmern uns stattdessen darum, dass diese unverzichtbaren öffentlichen Unternehmen wirtschaftlich arbeiten. So haben wir zur Sanierung von Vivantes 230 Millionen Euro aufgebracht. Die Beschäftigten haben Einkommensverluste hingenommen. Zudem hat das Unternehmen die Kassen um 120 Millionen Euro entlastet. Unsere Sanierungserfolge werden durch Ihre Gesundheitsreform konterkariert. ({15}) Senatorin Katrin Lompscher ({16}) Die Bundesregierung erklärt einerseits vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wir würden unsere Hausaufgaben bei der Haushaltssanierung nicht machen, und untergräbt andererseits unsere Anstrengungen, die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand in Berlin zu sichern. ({17}) „Das Gesetz soll Ausdruck des Willens aller sein“, so die französische Schriftstellerin Marie Gouze. Diesem Anspruch wird der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht. Die Gesundheitsreform ist ein Gesetz gegen den Willen vieler: gegen den der Patientinnen und Patienten, gegen den der örtlichen Versorgerkassen und gegen den der im Gesundheitswesen Tätigen. Deshalb sollte sie abgelehnt werden. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben die Abgeordneten vorhin zur Nachtarbeit aufgefordert. Dazu bin ich gerne bereit. ({0}) Aber diesen Bericht, den ich unterschreiben sollte, hat man mir um 19.35 Uhr zugestellt, und bereits um 20.10 Uhr wurde mir über die parlamentarische Geschäftsführung die - freundlich ausgedrückt - dringende Bitte übermittelt, ich möge jetzt gefälligst unterschreiben. Daher lasse ich mir nicht von Ihnen vorhalten, es liege an meiner mangelnden Arbeitsbereitschaft, dass ich den Bericht alsbald abgegeben habe. Das ist einfach eine Unverschämtheit. ({1}) Offensichtlich ist Ihnen heute ja keine Schublade zu tief. Die Kollegin Ferner - jetzt ist sie nicht mehr da hat vorhin am Beginn ihres Redebeitrages die Abgeordneten der Opposition mit gemieteten Demonstranten verglichen. Welches Verhältnis haben Sie eigentlich zum Parlament und zur Demokratie? Ich kann nur sagen: Ich weise das in aller Form zurück und fordere die Kollegin auf, sich zu entschuldigen. ({2}) In Wirklichkeit ist es doch so, dass Sie schon mit der Einhaltung der Geschäftsordnung Schwierigkeiten haben und im Übrigen Widerspruch nicht ertragen. Das liegt daran, dass dieser schlecht gezimmerte Kompromiss ungeheuer brüchig ist. Schauen Sie doch nur einmal in die Reihen der SPD und der CDU/CSU. Wer ist da heute überhaupt anwesend? Die Opposition ist am besten vertreten. Wo sind denn diejenigen, die nicht nur hinter vorgehaltener Hand kritisieren? Ich könnte ja von Kollegen erzählen, deren müdes Grinsen ich schon kenne, wenn sie mir auf dem Gang sagen: Na ja, jetzt stimme ich halt auch zu. - Es gibt aber auch welche, die offen gesagt haben, dass sie das nicht tun. Wo sind die denn heute? Darf man von denen hier irgendetwas hören? ({3}) Nein, auf der Rednerliste stehen nur diejenigen, von denen man weiß, dass sie eine Lobhudelei für diesen verkorksten Kompromiss ausspucken werden. Das ist doch merkwürdig. ({4}) Dabei kann ich mit dem Kollegen Wodarg nur sagen: Dieses Gesetz ist Pfusch. - Recht hat er, der Kollege! ({5}) Es ging nur noch darum, irgendeine Reform durchzuziehen, weil die Großkopferten der Koalition Angst hatten, dass man ihnen sonst attestiert, dass diese sogenannte Große Koalition gar nichts zustande bringt. Gesundheitspolitischer Sachverstand wurde da nur noch als störend empfunden. Was haben Sie nicht alles gebastelt? Sie haben beschlossen, dass in Zukunft die Regierung in ihrer unerfindlichen Weisheit über das Geld der Kassen entscheidet. Denen wird dabei nicht genügend Geld zugestanden. Den Rest sollen sie sich über Zusatzbeiträge der Versicherten holen. Welches Ergebnis haben Sie dabei vereinbart? Leute mit einem Einkommen von weniger als 800 Euro zahlen am Ende mehr Zusatzbeiträge bei geringeren - ({6}) - Ja, ich bekomme das schon nicht mehr zusammen. Man kann es ja nicht auseinanderwirren. Jedenfalls ist es so, dass Sie, je nachdem, ob Sie Mitglied einer teureren oder einer billigeren Kasse sind, froh sein müssen, besonders wenig Einkommen zu haben. ({7}) Anders ausgedrückt: Sie haben zwei Sachverständige - Herrn Fiedler und Herrn Rürup - damit beauftragt, Ihnen einmal auseinanderzufieseln, ob das so geht. Diese kamen zu dem Ergebnis, dass es mit diesen Zusatzbeiträgen nicht funktionieren wird, weil gerade die Kassen, deren Mitglieder einkommensschwächer sind, die höchsten Zusatzbeiträge erheben und gleichzeitig die größten Schwierigkeiten haben werden, real an das Geld zu kommen. Das heißt, das ist kein Wettbewerb, sondern Wettbewerbsverzerrung. Haben Sie das daraufhin zurückgenommen, wie man das normalerweise tun würde? Nein. ({8}) Die Antwort heißt einfach: So what, wir machen weiter. Von diesen Beispielen könnte ich Dutzende aufzählen, dazu reicht aber leider meine Redezeit nicht. Herr Kollege Zöller, Sie feiern sich hier und sagen, es gebe keine Einschnitte für Patienten. Ich bitte Sie! Was ist das denn, wenn schwer Krebskranke in Zukunft zu hören bekommen, dass sie leider mehr zuzahlen müssen als nach den jetzt üblichen Regeln, ({9}) weil sie irgendwann nicht bei der Früherkennung - bei Untersuchungen, die hochumstritten sind, Herr Kollege waren? So etwas setzt eine Koalition durch, bei der zumindest in einem Teil immer von Eigenverantwortung gesprochen wird! Das ist doch ein Rohrstock und schwarze Pädagogik. ({10}) Die Ministerin feiert sich für die allgemeine Versicherungspflicht. Das hört sich schön an. Was ist das denn eigentlich? In der Sache ist das im Wesentlichen ein Rückkehrrecht von ehemals Privatversicherten, die von der privaten Krankenversicherung hinausgeworfen wurden. Das ist überfällig, aber doch keine sozialpolitische Großtat. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller?

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bender, gestehen Sie ein, dass in diesem Gesetz keine Verschlechterung für Krebskranke vorgesehen ist? Wenn Sie es nicht tun, dann sagen Sie mir die Stelle, wo das stehen soll!

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben in das Gesetz hineingeschrieben: Wer nicht zu Früherkennungsuntersuchungen geht, die ein Gremium, der Gemeinsame Bundesausschuss, festlegen soll, ({0}) wird in Zukunft durch erhöhte Zuzahlung bestraft werden. ({1}) Das ist eine Sonderbelastung von Schwerkranken, die keiner Ratio entspricht. ({2}) Was haben Sie nicht alles versprochen? Reden wir einmal über die private Krankenversicherung! Da stand doch in den Eckpunkten, diesem schönen Kompromiss mit dem Durchbruch - Sie erinnern sich -, es solle in Zukunft so sein, dass Versicherte ohne finanzielle Nachteile von einer PKV in die andere wechseln könnten. Was ist dabei herausgekommen? Wenn man schon privat versichert ist, darf man sich innerhalb eines halben Jahres entscheiden, ob man in einen Basistarif wechselt. Alles andere geht nicht. Ist das vielleicht Wettbewerb? Da kann ich nur wieder mit den Worten des Abgeordneten Wodarg sprechen, der sagte: Es ist unerträglich, wie zuvorkommend die PKV-Lobbyisten bei der Ausarbeitung dieses Gesetzes bedient wurden ({3}) und wie problematisch der Meinungsbildungsprozess mit den Abgeordneten gelaufen ist. - Ja, so ist es wohl gewesen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, der Herr Kollege Lauterbach möchte gern noch eine Zwischenfrage stellen. ({0}) Aber Ihre Redezeit ist bereits überschritten. Ich bitte Sie, nach der Beantwortung dann Schluss zu machen.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin nicht als uneingeschränkter Befürworter dieses Gesetzes bekannt, ({0}) aber ich sage: Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit und der Fairness, darauf hinzuweisen, dass sich gerade für Krebskranke die Situation sowohl bei der Behandlung als auch bei der Vorsorge deutlich verbessert; das muss eingeräumt werden. ({1}) Das haben wir immer durchgehalten. Es ist nicht fair, einen der zentralen Verbesserungspunkte zu zerreden. ({2}) Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen? Wenn nicht, dann muss die Verschlechterung ganz konkret benannt werden. Bisher nehmen nur 18 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen die Möglichkeit der Vorsorge wahr. Meine Frage ist: Gehen Sie davon aus, dass durch dieses Gesetz mehr Menschen die qualitativ hochwertige Vorsorge in Anspruch nehmen werden, ja oder nein? ({3})

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich gehe davon aus, Herr Kollege, dass weniger Menschen Gelegenheit haben werden, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob sie zur Früherkennung gehen wollen. ({0}) Das hat man Ihnen in der Anhörung gesagt. Hätten Sie mal zugehört! Im Übrigen: Wenn Sie in den Gesundheitsausschuss gekommen wären, Herr Kollege - Sie sind Mitglied des Gesundheitsausschusses -, hätten wir darüber beraten können; das wäre vielleicht gescheiter gewesen. ({1}) Jetzt komme ich in der Tat zum Schluss und kann mich nur noch der Einschätzung der „Badischen Neuesten Nachrichten“ anschließen, die heute schreibt: Die nächste Reform kommt bestimmt. - Denn - so füge ich hinzu, meine Damen und Herren - bei dieser kann es ganz sicher nicht bleiben. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPDFraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Gesundheitssystem, so wie wir es heute kennen, ist das Ergebnis einer bis in die letzten Jahrhunderte zurückreichenden Entwicklung. Das zeigt sich beispielsweise an den zentralen Institutionen, deren formale Gründung inzwischen 120 Jahre zurückliegt. Wir alle wissen, dass etwas, was über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewachsen ist, sich manchmal nur schwer verändern lässt, vor allem in einem System, das so sehr von unterschiedlichen, auch machtvollen Einzelinteressen und gelegentlich vom Widerstand ganz allgemein gegen Veränderungen geprägt ist. Wir wissen aber, dass Veränderungen notwendig sind, damit wir die Leistungsfähigkeit unseres solidarischen Gesundheitssystems erhalten können. In den vergangenen Jahren haben wir bereits einige wichtige Veränderungen eingeleitet, um mehr Qualität, mehr Wirtschaftlichkeit und mehr Wettbewerb zu schaffen. Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf werden wir diesen Weg fortsetzen. Diese Reform ist ein wichtiger Schritt zur Anpassung unseres Gesundheitssystems an neue Rahmenbedingungen, damit es auch in Zukunft solidarisch und zugleich leistungsfähig bleibt, insbesondere für diejenigen, die auf ein funktionierendes und solidarisches System angewiesen sind. Kolleginnen und Kollegen, um dies zu erreichen, müssen auch Veränderungen an lange gewohnten, aber eben auch überholten Strukturen vorgenommen werden. Genau das setzen wir mit der Gesundheitsreform 2007 um, auch gegen den Widerstand einiger Seiten. Wichtige Neuerungen wird es insbesondere im Bereich der Krankenkassen geben. Aus der langen historischen Entwicklung heraus haben wir sieben verschiedene Kassenarten: Allgemeine Ortskrankenkassen, die gerade schon genannt wurden, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ersatzkassen, die Seekrankenkasse, die Landwirtschaftliche Krankenkasse und die Knappschaft. Wir werden die alte, aber nicht mehr zeitgemäße Aufteilung und Abschottung dieser verschiedenen Kassenarten jetzt endlich überwinden und erstmalig kassenartenübergreifende Fusionen ermöglichen. Zukünftig kann also eine Betriebskrankenkasse nicht nur mit einer anderen BKK fusionieren, sondern auch mit Ortskrankenkassen, Innungskrankenkassen und Ersatzkassen. Das ist so gewünscht. So machen wir den Weg frei für wettbewerbsund leistungsfähigere Kassen, was letztlich den Versicherten zugutekommt. ({0}) Darüber hinaus werden wir - Stichwort: Effizienz die Verbandsstrukturen der Krankenkassen straffen, um Entscheidungswege zu verkürzen. Statt bisher sieben wird künftig nur ein Spitzenverband Bund alle Kassen in der gemeinsamen Selbstverwaltung für alle Belange vertreten, die gemeinsam und einheitlich geregelt werden. Für die Beschäftigten der bisherigen Spitzenverbände sind für den Übergang zum neuen Spitzenverband Bund tragfähige Regelungen vorgesehen. Kollege Westerwelle, es mutet schon merkwürdig an, wenn man auf der einen Seite hier die Staatsmedizin geißelt, sich auf der anderen Seite aber gleichzeitig im eigenen Wahlkreis für den Sitz einer solchen Institution bewirbt. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, mit der Einrichtung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 werden die Finanzierungsstrukturen neu organisiert. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass es nun mit dieser Reform einen neuen, zielgenauen morbiditätsorientierten, also krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen geben wird. Somit werden endlich auch die unterschiedlich verteilten Krankheitsrisiken der Kassen in den Ausgleich mit einbezogen. Wir beenden damit den zugegebenermaßen schädlichen Wettbewerb, den wir jetzt haben, allein um junge, gesunde und gutverdienende Versicherte und schaffen einen Wettbewerb zwischen den Kassen um den besten Service, um die beste Versorgung und um die beste Betreuung der Versicherten. Kolleginnen und Kollegen, das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz beinhaltet eine ganze Reihe wichtiger Organisationsreformen, aber nicht nur das. Wir müssen bei unseren Reformbemühungen auch den demografischen Wandel, die älter werdende Gesellschaft und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Genau das tun wir mit dieser Reform. Wir werden gezielt Leistungen ausbauen, die in einer älter werdenden Gesellschaft benötigt werden, beispielsweise die palliativmedizinische Versorgung. Damit haben Schwerstkranke künftig erstmals einen Anspruch auf eine spezialisierte Schmerzbehandlung in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung. Das Gleiche gilt für alle Rehabilitationsleistungen, die in den Pflichtleistungskatalog aufgenommen werden. Insbesondere älteren Menschen wird dies zugutekommen. Für uns gilt der Grundsatz Reha vor Pflege. Alte Menschen sollen auch nach Krankheit oder Unfall so lange wie möglich ihre Selbstständigkeit erhalten können, und eine bessere Rehabilitation wird ihnen das ermöglichen. ({2}) Wir werden die integrierte Versorgung fortführen und weiter ausbauen. Ziel der integrierten Versorgung ist es, die Kooperation unterschiedlicher Leistungserbringer zu stärken und somit eine bessere Verzahnung zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen herzustellen. Auch die Pflege wird in die integrierte Versorgung eingebunden; denn sie spielt für den Behandlungserfolg gerade bei älteren Menschen eine ganz zentrale Rolle. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben der Organisationsreform sowie den gerade genannten Maßnahmen, die den veränderten Rahmenbedingungen im Bereich der Demografie und des medizinisch-technischen Fortschritts Rechnung tragen, könnte ich noch zahlreiche weitere Elemente der Reform nennen. Aber ich will nur eines noch hervorheben, und zwar die allgemeine Versicherungspflicht. Erstmals in der deutschen Sozialversicherungsgeschichte werden wir einen dauerhaften und bezahlbaren Versicherungsschutz für alle haben. Ich finde, das kann man gar nicht hoch genug einschätzen. ({4}) Natürlich hätte auch ich mir gewünscht, dass wir in manchen Punkten weiter gegangen wären. Hierzu kann ich aber nur sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Lassen Sie mich jetzt noch eine Bemerkung über die Art und Weise der Debatte in den zurückliegenden Monaten und auch heute in diesem Hause machen. Ich habe nichts gegen eine kritische, lebendige und zuweilen auch laute Opposition. Was wir aber nicht brauchen, ist eine Opposition, die seit Monaten nichts weiter von sich gibt als Destruktivrhetorik. ({5}) Kritik ist gut und wichtig. Sie sollte aber konstruktiv und der Sache angemessen sein. Ihre platten und pauschalen Murks- und Kassensozialismussprüche sind fehl am Platze und bringen uns in der Sache kein Stück weiter. ({6}) Die Bürgerinnen und Bürger werden in den Monaten nach Inkrafttreten der Reform merken, dass Ihre Weltuntergangsszenarien schlichtweg nicht eintreten werden. ({7}) Wenn es dann aber doch Argumente in der Sache gibt, sind sie häufig falsch. Herr Lauterbach hat gerade klargestellt: Gerade für die Krebserkrankten wird es mehr und bessere Behandlungsmöglichkeiten geben als bisher. ({8}) Kolleginnen und Kollegen, mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gehen wir einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Es wird natürlich nicht der letzte Schritt gewesen sein. Denn wir werden unser Gesundheitssystem immer wieder an Neuentwicklungen anpassen müssen. Keiner von uns kann diese Entwicklungen vorhersagen. Unsere Aufgabe wird es dabei sein, dafür zu sorgen, dass unser Gesundheitssystem weiter solidarisch finanziert bleibt und Schritt für Schritt auf eine breitere finanzielle Basis gestellt wird. ({9}) Mit dem vorliegenden Gesetz gehen wir den ersten verlässlichen Schritt. Deshalb kann ich Sie alle nur aufrufen, der nun vorliegenden Gesundheitsreform zuzustimmen und sich auf den Weg zu machen. Danke. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will zur Sache nichts mehr sagen. Aber da Sie, Frau Kollegin Reimann, wie auch die Kollegin Widmann-Mauz wiederholt behauptet haben, ich hätte mich einerseits gegen diese Gesundheitsreform gewendet, andererseits die von uns kritisierte Behörde nach Bonn eingeklagt, möchte ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Dies ist nicht richtig, auch wenn diese Behauptung in dieser Debatte mehrfach wiederholt wurde, und es ist von mir, als zum ersten Mal eine Zeitung darüber berichtet hat, richtiggestellt worden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dies zur Kenntnis nehmen würden. Dem Ganzen liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Als die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf eingebracht hat, haben sieben Abgeordnete dieses Hauses - sechs Abgeordnete der Koalitionsfraktionen, darunter der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Kelber, und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/ CSU, Bosbach, und ich für die Freien Demokraten - als Abgeordnete der Region an die Bundesregierung geschrieben und darauf aufmerksam gemacht, dass nach dem Berlin/Bonn-Gesetz der Gesundheitsstandort Bonn ist. Ich möchte nicht, dass eine falsche Darstellung wiederholt wird. Denn durch das Wiederholen wird sie nicht richtiger. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Reimann, Sie können antworten.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich nehme zur Kenntnis, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen in der Großen Koalition intensiv darum bemüht haben, Sie aber das nicht getan haben. Das haben Sie ja jetzt klargestellt. Danke. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Konrad Schily. ({0})

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre ein guter Tag für die Demokratie in unserem Land, wenn dieses Gesetz heute in der nun folgenden namentlichen Abstimmung keine Mehrheit gewinnen würde. ({0}) Denn wir wissen - auch diese Debatte hat es gezeigt -, dass dieses Gesetz in diesem Hause, aber auch in der Bevölkerung keine Mehrheit hat, auch wenn das hier geleugnet wird. Es ist eine machtmäßige Entscheidung. Deswegen wird es wohl zu einer Zustimmung kommen. Die sogenannten Abweichler in den Reihen der großen Koalition - Abweichler sind ausgerechnet die gewesen, die in der Sache kundig waren und sind - wurden gedrängt, sich der Fraktionsdisziplin zu fügen. Der ganze Prozess war nicht dialogisch. Das kurzfristige Überschütten mit Änderungsanträgen ist dafür nur ein Beispiel gewesen. Wir haben schon darüber gesprochen; ich will es nicht weiter ausführen. Deshalb wird dieser Tag kein guter Tag für die Demokratie werden. Es ist kein guter Tag für die freien Berufe und kein guter Tag für die Selbstverwaltung der Solidargemeinschaften, die in Zukunft zentralisiert und gegängelt werden sollen. ({1}) Dies ist kein guter Tag für den Wettbewerb. Er wird aufgelöst und durch zentrale politische Entscheidungen ersetzt. Dies ist kein guter Tag für die Versicherten und für die Patientinnen und Patienten; denn es wird eine Versorgung nach Kassenlage und nicht nach therapeutischen Erwägungen geben. ({2}) Das ist kein guter Tag für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen, auf deren Kosten und über deren Köpfe hinweg in Zukunft die Entscheidungen zentral getroffen werden sollen. ({3}) Aber es ist, wenn Sie so wollen, auch ein guter Tag. Es ist ein guter Tag für die Vertreter einer gelenkten Wirtschaft. Es ist ein guter Tag für den Bürokratieaufbau und ein guter Tag für die zunehmende Unübersichtlichkeit und Entmündigung im Gesundheitswesen. ({4}) Ein schlechter Tag ist es für die Sache des Sachverstandes. Mit aller Macht fährt die Regierung das Gesundheitswesen mit dieser sogenannten Reform in eine Sackgasse; aus Fehlern will sie nicht lernen. Es ist ein dunkler Tag für die Versorgung unserer Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen und auch ein dunkler Tag für den sozialen Ausgleich, weil die Regierung glaubt, die Preise und Leistungen im Gesundheitswesen in Zukunft zentral diktieren zu können. Es ist ein dunkler Tag für die Freiheit ({5}) und das eigenverantwortliche Miteinander in unserer Gesellschaft. ({6}) Hoffen wir, dass es für die Demokratie, den parlamentarischen Dialog, die Solidarität und die Freiheit in unserem Land auch wieder bessere Tage geben wird. Sie, die Abgeordneten der Großen Koalition, haben es heute in der Hand, einem unwürdigen Verfahren und einem unparlamentarischen Dialog eine mutige Abfuhr zu erteilen, indem Sie diesem Gesetz nicht zustimmen. ({7}) Bedenken wir, was der Präsident dieses Hohen Hauses, Dr. Lammert, auf der konstituierenden Sitzung dieses Parlamentes gesagt hat - dafür hat er von allen Fraktionen Beifall bekommen -, nämlich dass die Abgeordneten dem Volk und nicht der Regierung verpflichtet sind. Wenn Sie diesem Gesetz Ihre Zustimmung verweigern, wäre es ein guter Tag für die Demokratie, für den Parlamentarismus, für das Volk und auch für das Gesundheitswesen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf das eine oder andere von den Oppositionsrednern Gesagte eingehen. Frau Kollegin Bunge, zum Ersten möchte ich betonen, dass Sie selbst hier festgestellt haben, dass alles im Rahmen der Geschäftsordnung abgelaufen und formal vollkommen korrekt ist. Zum Zweiten stelle ich fest, dass wir nicht zuletzt auf Wunsch der Opposition über drei Tage ({0}) - genau, es waren sogar über vier Tage; wir haben auf Ihren Wunsch hin einen Tag angefügt - eine insgesamt 26 Stunden lange Anhörung durchgeführt und Sondersitzungen des Gesundheitsausschusses abgehalten haben, um Änderungsanträge einzubringen. Es gab also ein hinreichendes Angebot, und es war im Ausschuss und im Plenum, wo wir in Aktuellen Stunden und in vielen Debatten mehrfach über das ganze Thema diskutiert haben, genug Zeit vorhanden, den ursprünglichen Gesetzentwurf zu beraten und die Dinge zu ändern, die notwendig waren. Zum Dritten stelle ich fest, Frau Kollegin Künast: Eine Fraktion, die von der pharmazeutischen Industrie formulierte Änderungsanträge zu Tarifen von homöopathischen Arzneimitteln wortwörtlich übernimmt und einbringt, ({1}) darf mit den Vorwürfen, die Sie gerade vorgebracht haben, nicht arbeiten. Wir haben im Rahmen der Anhörung viele Vorschläge erhalten, die wir, wenn sie konstruktiv waren, eingearbeitet haben. Natürlich kamen diese Vorschläge auch zum Teil von Verbänden und anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Aber Ihr Antrag wie auch der Umstand, dass Sie im Gesundheitsausschuss sogar einzeln über solche Anträge haben abstimmen lassen, um dann dankenswerterweise zustimmen zu können, machen deutlich, dass wir alle ein Stück weit auf den Sach- und Fachverstand und die konstruktive Kritik von außerhalb hören. ({2}) Zudem muss ich, Frau Kollegin Bender, sagen, dass ich es für etwas unredlich halte, wie Sie vorhin die Krebskranken ein Stück weit als Geisel für Ihre Argumentation benutzt haben. In der Regelung, so wie sie im Gesetzentwurf steht, ist vorgesehen, dass jemand dann, wenn er die empfohlenen Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrnimmt - dies gilt nur für denjenigen, der von seinem Lebensalter her diese Chance überhaupt hat -, nicht den vergünstigten Zuzahlungssatz erhält und bei dem regulären bleibt. ({3}) Es handelt sich also nicht, wie Sie es fälschlicherweise seit Wochen und Monaten nennen, um eine „Strafzahlung“. Es ist vielmehr so, dass man die entsprechende Vergünstigung nicht bekommt. Man kann aber dennoch eine Vergünstigung erhalten, wenn man sich in ein entsprechendes Chronikerprogramm einschreibt. Sie sollten das Gesetz diesbezüglich noch einmal lesen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Frau Bender möchte eine Zwischenfrage stellen.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, dass die Regelung zum Beispiel für Krebskranke, die Sie gerade erwähnt haben, bedeutet, dass diejenigen, die nicht bei einer Früherkennungsuntersuchung waren, schlechter gestellt werden als die anderen chronisch Kranken, weil sie mehr zuzahlen müssen? ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu, Frau Kollegin Bender. Er erhält keine Vergünstigung, was etwas anderes ist. ({0}) Es mag erforderlich sein, nachzudenken, um das zu verstehen. Es besteht kein Anspruch auf eine Vergünstigung. Wir müssen gemeinsam konstatieren - der Kollege Lauterbach hat das gerade gesagt -, dass in diesem Land nicht einmal jeder fünfte Mann und nicht einmal jede zweite Frau ab einem bestimmten Alter Vorsorgeuntersuchungen, zum Beispiel Krebsvorsorgeuntersuchungen, in Anspruch nimmt. ({1}) Im Bereich der Zahnmedizin haben wir doch gesehen, dass jährliche Vorsorgeuntersuchungen angenommen werden, wenn man einen entsprechenden finanziellen Anreiz setzt. Ich finde, wir sollten dieses gute Instrument in allen Bereichen, in denen das möglich ist, ausbauen. Das tun wir. ({2}) Herr Kollege Gysi, Sie haben einmal mehr von Entsolidarisierung und Zweiklassenmedizin gesprochen. Ich habe Ihnen schon in der letzten Debatte gesagt: Von einer Partei, die die Rechtsnachfolgerin einer Partei ist, die für die Nomenklatura der DDR Westmedizin bezahlt hat, während der Rest sie nicht bekommen hat - das müssten Sie sehr genau wissen -, lasse ich mir hier nicht vorwerfen, dass wir eine Zweiklassenmedizin betreiben. Das will ich Ihnen deutlich sagen. ({3}) Nun zu den Gründen, aus denen ich diesem Gesetzentwurf - im Übrigen guten Gewissens, Herr Kollege Westerwelle - zustimmen kann. Es gibt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus dem Mai 2006, das sich mit dem Wettbewerb im Gesundheitswesen beschäftigt. Dort heißt es: Für einen funktionierenden Wettbewerb sind in den Augen des Beirats daher fünf Leitlinien zentral: Erste Leitlinie: Vertragsfreiheit zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern mit der Möglichkeit, ineffiziente Leistungserbringer auszuschließen Genau das machen wir an vielen Stellen möglich, indem wir Ausschreibungen bei Hilfsmitteln einführen, zum Teil monopolartige Kartelle aufbrechen, indem wir integrierte Versorgung verstärkt möglich machen und den Abschluss entsprechender Verträge ermöglichen. ({4}) Zweite Leitlinie des Beirates: Abschaffung des Zwangsvertragsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigungen Dieser Leitlinie entsprechen wir, indem wir es ermöglichen, jenseits der Kassenärztlichen Vereinigung entsprechende Verträge mit Ärzten und Arztgruppen abzuschließen. ({5}) Dritte Leitlinie des Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus dem Gutachten zum Wettbewerb: Kontrahierungszwang und Preisdiskriminierungsverbot seitens der Krankenversicherungen Mit Einführung des Basistarifs in der privaten Krankenversicherung verbunden mit der Portabilität der Altersrückstellungen entsprechen wir auch dieser Leitlinie des Beirates. Auch dort findet nunmehr Wettbewerb statt. Vierte Leitlinie: Preiswettbewerb zwischen Krankenversicherungen über einkommensunabhängige Versicherungsprämien … Genau das machen wir mit dem Zusatzbeitrag möglich. Die Ministerin hat das vorhin leider weggelassen, als sie über einen einheitlichen Beitragssatz sprach. Durch den Zusatzbeitrag ermöglichen wir Preistransparenz und Preiswettbewerb. Die Zusatzbeiträge betragen bei der einen Kasse 5 Euro, bei einer anderen 8 Euro und bei einer dritten 12 Euro, während ich bei einer anderen vielleicht 5 Euro zurückerhalte. Dadurch erhalten wir Transparenz und Wettbewerb, was in dem derzeitigen System mit prozentualen Beitragssätzen nicht gegeben ist. Fünfte Leitlinie: Verlagerung der Umverteilung von Reich nach Arm in das Steuer- und Transfersystem Ich will zugestehen, dass wir an dieser Stelle einen etwas kleineren Schritt machen; aber immerhin machen wir einen ersten Schritt, damit wir in den nächsten Jahren gesamtgesellschaftliche Aufgaben über die aufwachsenden Steuern finanzieren können. Sie haben das gerade heftig kritisiert, obwohl Ihr eigenes Wahlprogramm eine entsprechende Umverteilung mit entsprechenden Steuerausgaben in Milliardenhöhe vorsieht. Damit kann ich feststellen, dass wir die fünf Leitlinien, die der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft und Technologie zum Wettbewerb in der Krankenversicherung aufgestellt hat, erfüllen. Damit trägt dieses Gesetz seinen Titel zu Recht. ({6}) Ich möchte als jüngerer Abgeordneter zudem auf die Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit eingehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der erste Schritt, den man machen muss, bevor man über Kapitalrücklagen nachdenken kann, ist, über die Schulden im System - implizite wie explizite, ausgewiesene wie nicht ausgewiesene -, nachzudenken und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Zur AOK Berlin, Frau Senatorin: Die Aufsicht hat Ihr Haus. Die Aufsicht hat es zugelassen, dass dort solch hohe Schulden aufgebaut wurden. ({7}) - Das macht es ja nicht besser. Mit Erklärung oder ohne, es bleibt widerrechtlich, was da stattgefunden hat. ({8}) Wir werden durch dieses Gesetz Schulden bei den gesetzlichen Krankenversicherungen abbauen und sie zwingen, Pensionen für Angestellte - entsprechende Verpflichtungen bestehen - in Höhe von 10 bis 11 Milliarden Euro aufzubauen. Von daher hätte ich mir hinsichtlich der Kapitalrücklage sicherlich mehr gewünscht. Man muss aber auch - ich denke, das gehört für uns im Deutschen Bundestag dazu - gemeinsam anerkennen, dass wir beim Schuldenabbau einen großen Schritt getan haben und eine erste Voraussetzung für Nachhaltigkeit einführen. Ich sage aber genauso deutlich, Frau Präsidentin, dass es mir sehr wichtig ist, dass wir in diesem Jahr bei der Pflege8038 versicherung zu individualisierten Kapitalrücklagen kommen. ({9}) Abschließend möchte ich sagen, dass dies keine historische, keine Jahrhundertreform ist; ich denke, diese rhetorische Fallhöhe sollten wir nicht aufbauen. Aber es ist eine Reform, die an vielen Stellen in die richtige Richtung geht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Schily, Sie haben so getan, als sei Weisheit nur bei denen vorhanden, die mit Nein stimmen. Dazu sage ich Ihnen: Ich kann mit bestem Wissen und Gewissen, mit der besten Überzeugung, dass kleine Schritte in die richtige Richtung besser sind als keine, ({0}) diesem Gesetz zustimmen. Ich würde es schön finden, wenn die Opposition das Gute, das wir tun, einmal jenseits von Sprechblasen anerkennen würde. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Jetzt folgen zwei Kurzinterventionen. Herr Kollege Spahn, ich gebe Ihnen danach ausreichend Zeit zur Beantwortung beider Kurzinterventionen. Die erste Kurzintervention ist von Frau Dr. Bunge, die zweite von Klaus Ernst.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Spahn, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich davon gesprochen habe, dass es sich um ein nach Geschäftsordnung zulässiges Verfahren gehandelt hat. Dazu bin ich als Ausschussvorsitzende verpflichtet. Als Linkspolitikerin sage ich Ihnen - das habe ich vorhin schon gesagt -, dass ich es bei diesem Reformwerk für nicht angemessen halte; dies gilt insbesondere für die letzten 72 Stunden, also seit den Abmachungen am Dienstag in der Obleuteberatung. Die Einzelheiten sind von Kollege Lanfermann genannt worden. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Ernst, bitte.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Spahn, Sie haben bei Ihrem glänzenden intellektuellen Auftritt ({0}) die Frage meines Kollegen Gysi nach der Klassenmedizin mit dem Hinweis auf seine landsmännische Herkunft beantwortet. Ich stelle Ihnen die Frage - ich komme aus Bayern -, ob Sie bereit wären, mir zu widerlegen, dass es sich bei diesem Gesetzentwurf um Klassenmedizin handelt. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Spahn, bitte.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Bunge, ich nehme das, was Sie gesagt haben, gern zur Kenntnis und unterstreiche noch einmal, dass das Verfahren, das wir gewählt haben, von der Geschäftsordnung her zulässig und vollkommen okay ist. Lieber Herr Kollege Ernst, ich finde es sehr schade, dass Sie sich einer Partei anschließen, die eine solche Vergangenheit hat. ({0}) Dass Sie als Süddeutscher da eingetreten sind, ist besonders schade. Ich stelle fest, Herr Kollege Ernst, dass wir in diesem Land eine klasse Medizin haben. Nicht umsonst ist es so, dass jeder Deutsche, der im Ausland erkrankt, nichts Eiligeres zu tun hat, als in die Arme des deutschen Gesundheitswesens zurückzukehren. Das ist ein Zeichen dafür, wie klasse unser Gesundheitswesen ist. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon beeindruckend, die Diskussion hier zu verfolgen und die krampfhaften Verrenkungen zu sehen, mit der die Große Koalition versucht, ein Gesetz zu verteidigen, das im Wesentlichen eine Verschlimmbesserung der Situation der gesetzlichen Krankenversicherung bringen wird. ({0}) Es ist schon erstaunlich, wie hier der Versuch gemacht wird, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als finge heute alles an. Herr Spahn, Sie haben recht: Sie sind einer der jüngeren Abgeordneten. Sie können möglicherweise auf die Gnade der späten Geburt verweisen. Aber Sie sollten nicht so tun, als ob die Damen und Herren, die heute in diesem Hohen Hause wieder entscheiden werden, nicht mit verantwortlich sind für die Probleme. Sie sind maßgeblich für sie verantFrank Spieth wortlich. Denn die gesetzlichen Krankenkassen, insbesondere die großen Versorgerkassen, sind schließlich durch die Politik, die in diesem Haus fixiert worden ist, das GKV-Modernisierungsgesetz, dazu gezwungen worden, keine Beitragserhöhungen vorzunehmen. ({1}) Die Versorgerkassen sind gezwungen worden, die großen gesundheitlichen Risiken zu tragen, ohne dass mit einem Morbiditätsausgleich die besonderen Belastungen durch bestimmte Erkrankungen ausgeglichen worden wären. Gerade die Probleme der Versorgerkassen sind darauf zurückzuführen. Die Schulden sind nicht aus der Luft gekommen - sie hatten ihre Ursachen in unterlassener Politik der zurückliegenden Jahre. Das ist die Tatsache. ({2}) Es gäbe noch vieles zum Verfahren zu sagen; aber ich will mich auf ein paar grundsätzliche Themen konzentrieren. Beginnen wollte ich meine Rede eigentlich mit folgendem Beitrag: Gestern haben mich Schülerinnen und Schüler einer Regelschule aus Weimar in diesem Hause besucht und mit mir unter anderem die Frage diskutiert, wie das denn funktioniere mit der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung und warum wir gegen dieses Reformgesetz seien. Ich habe versucht, das mit einem Bild zu beschreiben. Ich habe gesagt: Ihr müsst euch folgende Situation vorstellen: Eine Familie besitzt ein Haus. Dieses Haus muss renoviert werden, weil es schon relativ alt ist. Dafür sind erhebliche Mittel aufzuwenden. Der Familienrat setzt sich zusammen und beratschlagt, wie das Ganze bezahlt werden soll. Entschieden wird, dass diejenigen in der Familie, die ein geringes Einkommen haben, die wesentlichen Kosten für die Renovierung zu tragen haben. Der einzige Spitzenverdiener in der Familie wird von der Finanzierung freigestellt. - Die Schüler haben mir gesagt: Die spinnen doch, das kann doch nicht gehen! - Da habe ich gesagt: Ich kann euch nicht widersprechen. ({3}) Aber genau das ist das Problem, mit dem wir es bei diesem Reformpaket zu tun haben. ({4}) Sie entlassen - das können Sie nicht verleugnen - die Gutverdienenden, die Kapital- und Vermögensbesitzer, aus der Finanzierung der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, der Finanzierung der Gesundheitsaufwendungen und der Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Dabei wissen Sie ganz genau, dass 90 Prozent davon von den gesetzlich Krankenversicherten finanziert werden. Die Gesundheitsinfrastruktur, die wir in Deutschland haben, wäre ohne die GKV-Versicherten unmöglich zu finanzieren. Die privat Krankenversicherten hätten kein Angebot. Das ist die Realität. ({5}) Ein Punkt ärgert mich wahnsinnig - deshalb will ich auf ihn eingehen -: Warum sollen die Aufgaben - auch die wenigen in diesem Gesetz vorhandenen strukturellen Fortschritte - wieder im Wesentlichen die Geringverdiener finanzieren? Mich fragt doch die Kassiererin bei Aldi: Warum zahle ich vor dieser Reform 14,8 Prozent und nach dieser Reform wahrscheinlich über 15 Prozent? Auch der Kollege in der Metallverarbeitung oder am Bau fragt mich: Warum muss ich das voll von meinem Einkommen bestreiten? Warum muss er 15 Prozent zahlen, und warum müssen Bundestagsabgeordnete nicht 15 Prozent von ihrem Einkommen zahlen? Erzählen Sie in der Öffentlichkeit nicht, dass das der Fall ist! ({6}) - Vielleicht zahlen Sie ebenso wie ich noch als einer der wenigen Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung, Herr Zöller. ({7}) Aber Sie vergessen dabei, dass Ihre Beitragspflicht bei einer Einkommensgrenze von 3 562 Euro endet. ({8}) Sie zahlen eben keine Beiträge in Höhe von 15 Prozent Ihres Einkommens, sondern im höchsten Fall 7 Prozent. Das ist die Wahrheit, und das hat nichts mit Solidarität und Gerechtigkeit zu tun. Es ist eher so, als wollten Sie den Menschen zumuten, morgens ihre Hose mit der Beißzange anzuziehen. ({9}) Viele Menschen durchschauen aber, was Sie machen. ({10}) Mich haben - wie sicherlich auch Sie - ungeheuer viele Schreiben erreicht. Ich will vor allem auf ein Schreiben eingehen, das ich von Sozialdemokraten erhalten habe, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Haus. Vor kurzem haben mir Sozialdemokraten aus Köln und anderen Teilen Nordrhein-Westfalens einen offenen Brief mit einer Unterschriftenliste geschickt, in dem gefragt wird, wie wir dieses Gesundheitsdiktat verhindern können. Wie können wir das, was heute beschlossen werden soll, aber von allen Sachverständigen, vielen Sozialdemokraten und nicht zuletzt von Ihrem früheren gesundheitspolitischen Sprecher, Klaus Kirschner, als Fehlentscheid bezeichnet wird, verhindern? Ich habe geantwortet, dass wir das nicht verhindern werden, weil es nämlich heute nicht darum geht, eine vernünftige Gesundheitsreform durchzuführen; es geht vielmehr ausschließlich darum, die Große Koalition zu bestätigen, damit sie bis zum Jahr 2009 weiterwursteln kann. Ich hoffe, Sie sind angezählt wie ein Boxer, damit Sie 2009, wenn der Gong ertönt, endlich die Regierungsverantwortung verlieren. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Georg Faust, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt zitiert man gern Hippokrates, der viel Bedenkenswertes gesagt hat, unter anderem, dass es oberstes Ziel ist, dem Patienten zu nützen, ihm aber in keinem Fall zu schaden. In diesem Sinne hat die Regierungskoalition mit dem Reformgesetz ein gutes Gesetz gestaltet. ({0}) Daran, dass dieses Gesetz in erster Linie dem Patienten nützt, kann kein ernsthafter Zweifel bestehen. Dass die Patienten und Versicherten aber von vielen Gruppierungen des Gesundheitswesens, die für sich wenig Nutzen in diesem Gesetz sehen, dazu benutzt werden, dagegen Stimmung zu machen, kann ebenfalls nicht ernsthaft bezweifelt werden. ({1}) Was diese Gruppierungen betrifft - seien es private oder gesetzliche Krankenversicherungen, Leistungserbringer wie Ärzte und Krankenhäuser, Apotheker, Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten oder gar die Pharmaindustrie -, so sind wir als Politiker zur Sorgfalt verpflichtet. Wo die ernsthafte Sorge um den Patienten im Vordergrund steht, sind die gewachsenen Strukturen unseres Gesundheitswesens angemessen zu berücksichtigen. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf getan. Wie wir wissen, ist der Beifall in der Öffentlichkeit relativ gering und steigerungsfähig. Ich denke aber, dass nach Inkrafttreten des Gesetzes seine Schätze von denen, die das Gesetz umsetzen wollen - das werden täglich mehr - gehoben werden. ({2}) Es nützt dem Patienten, wenn in einer alternden Gesellschaft geriatrische Rehabilitationsleistungen und spezialisierte ambulante Palliativmedizin Pflichtleistungen der Krankenkassen werden. Es nützt dem Menschen, wenn er gar nicht erst zum Patienten wird, weil empfohlene Schutzimpfungen ebenfalls zu den Pflichtleistungen der Krankenkasse gehören. Es nützt dem Patienten, wenn er in der hausarztzentrierten Versorgung wissenschaftlich begründet und praxiserprobt zugleich individuell versorgt wird. Es nützt ihm, wenn er mit einer seltenen Erkrankung die Krankenhausambulanz, die sich darauf spezialisiert hat, sofort aufsuchen kann. Es schadet nicht, vielmehr nützt es ihm und allen anderen Patienten, wenn die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss neue Rechte und Möglichkeiten bekommen. Zusammengefasst: Dieses Gesetz ist in erster Linie ein Gesetz für die Patienten. ({3}) Doch alles nützt dem Patienten nichts, wenn er keinen Arzt hat, der ihn behandelt: 12 500 junge Ärzte im Ausland, drohende Überalterung bei den Hausärzten, drohende Unterversorgung in den neuen Bundesländern, ernstzunehmende Hinweise auf materielle Sorgen in Arztpraxen, auch da, wo gewiss nicht von Missmanagement gesprochen werden kann. Diese Hinweise aus Ost und West haben uns betroffen gemacht und zu maßgeblichen Veränderungen im Gesetzgebungsverfahren geführt, die ich vor einem Vierteljahr kaum für möglich gehalten hätte. ({4}) Natürlich kann man sich immer mehr vorstellen. Manche Ärzte im Westen haben von einem durchgehenden Prinzip der Kostenerstattung, dem Patienten als Privatpatienten, geträumt. Viele Ärzte im Osten hätten gern auch für die nächsten zwei Jahre des Übergangs eine Vergütungsangleichung statt der von den Kassen zu bezahlenden Sicherstellungszuschläge gewollt. Das eine aber hätte eine in der Großen Koalition nicht durchsetzbare Systemänderung und das andere eine in der Großen Koalition nicht durchsetzbare Beitragssatzsteigerung bedeutet. Die Botschaft an die Ärzte jedoch lautet: statt Budgets sich an der Zahl von Krankheitsfällen und Kostenentwicklungen in Arztpraxen orientierende Vergütungen, statt des Muschelgeldes floatender Punktwerte feste Vergütungen in Euro und Cent, statt der starren Anbindung an die Grundlohnsummenentwicklung Freiheiten, die das System atmen lassen. Die Regelungen für die Umstellung und für den Umgang mit Leistungsmengen sind so gestaltet, dass die Selbstverwaltungspartner sie gut werden umsetzen können. Sie sind einfacher, unbürokratischer und transparenter geworden. Damit ist die Prognose für unser Vertragsarztsystem gut. ({5}) Ich bin sicher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit Blick auf das sensible Arzt-PatientenVerhältnis hier zukunftsorientierte Regelungen geschaffen haben. Alles, was dazu führt, dass dieses empfindliche Vertrauensverhältnis nicht gestört wird, und Jungmedizinern den Mut gibt, in zwei, drei oder vier Jahren wieder optimistisch in ihre berufliche Zukunft zu blicken und für die Patienten da zu sein, nützt auch dem Patienten und rechtfertigt damit unser Gesetz. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Peter Friedrich, SPD-Fraktion. ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Bender, Sie haben uns vorhin vorgeworfen, wir könnten nicht mit Widerspruch umgehen. ({0}) Nun mag es sein, dass dies dem einen oder anderen schwerfällt. Uns fällt es besonders schwer, mit den Widersprüchlichkeiten umzugehen, die wir heute von der Opposition zu hören bekommen haben. Herr Bahr kritisierte als Erstes die Beitragserhöhungen, anschließend kritisierte er, dass durch den gesetzlichen Beschluss zur Beitragshöhe keine Erhöhungen mehr möglich seien. Frau Künast erwartet Massenabwanderungen in die PKV. Frau Bender sagte, die PKV-Lobbyisten reüssierten. Herr Bahr und Herr Schily, die das alles nicht anficht, fürchten den schleichenden Tod der PKV und bangen um die Neuzugänge, die dieses System doch bräuchte. ({1}) Frau Künast sagte, es werde keinen Wettbewerb geben, weil es Kollektivverträge gebe. Herr Westerwelle sprach von Planwirtschaft. Herr Spieth erwähnt bei jeder Gelegenheit, der Wettbewerb werde in diesem System gnadenlos agieren. Sie kritisieren immer wieder Beitragserhöhungen, aber auch, dass Steuergelder in das System fließen sollen. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt die komplette Bandbreite der Lobbyistenszene wider, spiegelt aber nicht wider, was wirklich in diesem Gesetzentwurf steht. ({2}) Es mag Ihnen schwerfallen, das zu akzeptieren, aber wir entscheiden uns in der Tat nicht zwischen dem Weg links oder rechts um den Sumpf, den Herr Westerwelle beschrieben hat, sondern wir entscheiden uns dafür, einen stabilen Damm durch diesen Sumpf hindurchzubauen. Der ist nämlich auch nötig. Zu den Widersprüchlichkeiten gehört vielleicht auch, dass in der Frage des Sitzes des Spitzenverbandes vorhin von Ihnen, Herr Westerwelle, in einer Kurzintervention gesagt wurde, Sie hätten sich nur im Rahmen des Bonn/ Berlin-Gesetzes dafür eingesetzt. Mir liegt ein Schreiben vor, in dem es heißt: „Frau Ministerin, wir wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie sich in den laufenden Verhandlungen dafür einsetzten, dass der neue“ - ich betone: neue - „Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen seinen Sitz in Bonn nimmt.“ ({3}) Das ist in der Wahlkreisarbeit legitim, aber dann sollten Sie bitte schön auch dazu stehen. ({4}) Meine Damen und Herren, mit dieser Reform schaffen wir mehr Solidarität im Gesundheitswesen und nicht weniger. Zum ersten Mal gilt für alle Menschen in Deutschland eine Versicherungspflicht, aber auch ein Versicherungsrecht. Es kann doch nicht ernsthaft angehen, dass wir für Tausende akzeptieren, dass Krankheit mit Armut gleichbedeutend ist. Das kann nicht unser Interesse sein. Das ist ein dringend gebotener Fortschritt. Wenn die Grünen glauben, das sei nur ein kleiner Schritt, frage ich mich - wenn dem denn so wäre -, warum der erst jetzt möglich ist. ({5}) Diese Reform schafft aber auch mehr Solidarität durch den Risikostrukturausgleich, der kommt. Frau Lompscher, wenn Sie sagen, es komme kein gescheiter Risikostrukturausgleich: Wir erreichen über den Fonds und den Morbiditäts-RSA, der jetzt kommt - ein schwieriges Wort, das keiner mag, gleichwohl eine wichtige Einrichtung -, einen 100-prozentigen Einkommensausgleich. Ich weiß gar nicht, ob Ihre Partei sich getraut hat, das in der Vergangenheit zu fordern. Wir erreichen das. ({6}) Wir vollenden dadurch die innere soziale Einheit Deutschlands, wenn Sie einmal ehrlich zu sich selber sind. Da ziemt es sich wenig, hier in der Debatte genau dies zu kritisieren. Dieses Gesetz schafft auch mehr Wettbewerb und nicht weniger Wettbewerb. Es schafft nämlich Wettbewerb auf der richtigen Seite. Bisher haben wir einen Kampf der Versicherungen um den gesündesten Versicherten über den niedrigsten Beitragssatz. Worin liegen denn die Unterschiede von bis zu einem Viertel bei den Beitragssätzen? Die Ursachen liegen darin, dass die eine Krankenversicherung, zum Beispiel in der BKK, einen Rentneranteil von 6 Prozent hat, die AOK aber von 36 Prozent. Das ist kein Unterschied in den Verwaltungskosten, das ist kein Unterschied in der Fähigkeit des Managements, das ist ein Unterschied in der Risikostruktur der Versicherten. Dafür schaffen wir einen Ausgleich. ({7}) Deswegen führen wir auch den einheitlichen Beitragssatz ein. Diesen Wettbewerb um die Gesunden werden wir verändern. Wir werden ihn beenden und stattdessen einen Wettbewerb um die beste Leistung schaffen. Denn in Zukunft sind die Kassen in der Lage, Verträge abzuschließen. Herr Schily, wenn Sie sagen, das sei ein dunkler Tag für die Freiheit: Wenn wir in den Märkten, in denen quasi Monopole vorhanden sind - wo Mondpreise für Hilfsmittel genommen werden, für Dinge, derer Menschen dringend bedürfen -, endlich Ausschreibungen einführen, damit wir in Deutschland vernünftige Preise zu Wettbewerbsbedingungen bekommen, ist das kein schwarzer Tag für die Freiheit, Herr Schily, mit Verlaub. ({8}) Das führt auch zu mehr Freiheit für die Versicherten. Wir bieten Wahltarife an, die von vielen schon lange gewollt wurden. Hausarzttarife sind drin, Kostenerstattung - was Sie immer wünschen -, das können Menschen jetzt machen, wenn sie es wollen. Wir führen auch Tarife ein, die die Kosten für Naturheilverfahren erstatten. All dies machen wir möglich. Gleichzeitig verbessern wir die Versorgung im Bereich Impfungen, ElternKind-Kuren, Rehabilitation und Öffnung der Krankenhäuser - alles schon erwähnt. Das alles machen wir gleichzeitig möglich. Ich möchte noch auf das Thema Generationengerechtigkeit eingehen. Es gibt eine ganze Reihe von kritischen Stimmen, die dieser Reform vorwerfen, sie sei nicht nachhaltig genug. Wir wissen alle miteinander, dass sich der veränderte Altersaufbau im Gesundheitswesen massiv bemerkbar machen wird. Ich halte es aber für wenig durchdacht, diesen Vorwurf damit zu verknüpfen, man werde jetzt nicht zustimmen, denn es gebe keine Elemente von Kapitaldeckung. Die zentrale Baustelle für Generationengerechtigkeit in der Krankenversicherung ist nicht die Kapitaldeckung, sondern die Prävention. ({9}) Wer Kapitaldeckung im gesetzlichen Gesundheitssystem ernsthaft erwägt, der muss den Menschen sagen, dass dafür tatsächlich nur drei Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Entweder wir machen das, indem wir mehr Bundesschulden aufnehmen, um damit einen Stock in der Versicherung zu finanzieren. Oder wir machen das, indem wir die jüngere Generation heute doppelt belasten, weil sie gleichzeitig für die jetzige Versorgung zahlen müsste und für die Kapitalrückstellung, falls sie bedürftig wird. So etwas funktioniert in der Rente, wo sie individuelle Konten bilden können, weil das Äquivalenzprinzip gilt. Man bekommt raus, was man eingezahlt hat. Im Gesundheitswesen funktioniert so etwas eben nicht. Die dritte Möglichkeit: Wir bilden Rückstellungen, indem wir Behandlungen nicht mehr erstatten. Wer glaubt - das geht jetzt auch besonders an die Adresse der jungen Kollegen in der Union -, durch Leistungsausgrenzung, also durch das Vorenthalten von medizinisch Notwendigem, Ersparnisse erwirtschaften zu können, die dann künftigen Generationen zugutekommen sollen, der spielt die Generationen gegeneinander aus. ({10}) Deshalb sage ich: Wer die Generationengerechtigkeit ernst nimmt, der muss sich um Prävention kümmern. In diese Richtung gehen wir mit der Reform einige wichtige Schritte; die Debatte hat es bereits gezeigt. Mit dem Präventionsgesetz werden wir einen weiteren Beitrag dazu leisten. Durch Prävention können wir ein Vielfaches dessen einsparen, was wir an Kapitalrückstellungen überhaupt bilden könnten. Nebenbei verbessern wir die Lebensqualität der Menschen. Diese Reform führt zu mehr Solidarität, mehr Wettbewerb an der richtigen Stelle, nämlich bei der Leistungserbringung, und führt zu einer besseren Versorgung der Patientinnen und Patienten. Mit dieser Reform gehen wir den richtigen Weg der Nachhaltigkeit. Jeder kann aus meiner Sicht diesem Gesetzentwurf zustimmen. Jeder, der die Menschen und nicht die Funktionäre oder Aktionäre in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik stellt, sollte diesem Gesetzentwurf auch zustimmen. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach einem langen - vielleicht für viele zu langen - Diskussionsprozess werden wir heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes im Hohen Haus verabschieden. Es ist allen Unkenrufen zum Trotz ein gutes Gesetz. ({0}) Es stärkt die Wettbewerbsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Vor allen Dingen baut es unser erfolgreiches Gesundheitssystem für die Zukunft aus. ({1}) Es wurde oft kritisiert, dass die Menschen im Land das Gesetz - angeblich - nicht verstanden hätten. Man darf aber nicht vergessen, dass der bisherige Diskussionsprozess nur von denjenigen gestaltet wurde, die auf irgendeine Art und Weise als Leistungserbringer an unserem Gesundheitssystem partizipieren. Die Belange der Versicherten kamen letztendlich in der Öffentlichkeit zu wenig zur Sprache. Deshalb ist es, glaube ich, entscheidend, darzulegen: Die Versicherten sowie die Patientinnen und Patienten sind die Nutznießer dieser Reform. ({2}) Wir werden Leistungsausweitungen vornehmen. Der Kollege Friedrich hat darauf bereits hingewiesen. Ich glaube, vor allem die medizinische und die geriatrische Rehabilitation sind als zukünftige Pflichtleistungen eine große Errungenschaft für die Patientinnen und Patienten. ({3}) Wenn Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Kuren zukünftig Pflichtleistungen sind, stärkt das die Familien in unserem Land. Wenn wir Schutzimpfungen als Pflichtleistungen in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufnehmen, stärkt das die Vorsorge bei den Versicherten. Die Botschaft muss also lauten: Wir haben die Versichertenrechte und vor allen Dingen die Leistungen für die Versicherten in großartiger Weise ausgeweitet. Dazu stehen wir, die Große Koalition. ({4}) Wir werden zudem den Wettbewerb bei der Leistungserbringung stärken. Wir ermöglichen die GestalMax Straubinger tung verschiedener Vertragsformen und den Zusammenschluss von Ärzten, um mit den Krankenkassen externe Leistungsverträge abzuschließen. Ich bin überzeugt, dass die Gestaltungsmöglichkeiten für mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sorgen. Vor allem wird der Wettbewerb zu schlankeren Verwaltungen führen. Der erste Erfolg dieser Gesundheitsreform ist bereits heute nachzulesen. Ich zitiere aus einer Zeitung aus Baden-Württemberg: AOK-Verwaltung schrumpft auf 14 Direktionen; der Kunde wird nichts merken, hat Geschäftsführer Stutz versprochen. ({5}) Das ist letztendlich ein Erfolg dieser Gesundheitsreform: schlankere Verwaltungen. Den Versicherten ist nicht zuzumuten und auch nicht zu erklären, dass es Krankenkassen in unserem Lande gibt, die nur 80 Euro Verwaltungskosten pro Versicherten haben, während andere Krankenkassen 180 Euro Verwaltungskosten pro Versicherten haben. ({6}) Ich bin der Meinung, dass die Differenz in Höhe von 100 Euro besser für die Erbringung von Leistungen für die Patientinnen und Patienten und die Versicherten in unserem Lande angelegt ist. ({7}) Ich glaube auch, dass vor allen Dingen der Fonds vielfach von der Opposition falsch dargestellt wird. Wenn er startet, wird er zu 100 Prozent aus Beitragsmitteln gespeist, nicht aus Zusatzbeiträgen. Es kann genauso gut aber auch umgekehrt kommen: Wenn Kassen vernünftig arbeiten, dann können sie den Versicherten Geldmittel zurückerstatten, anstatt einen Zusatzbeitrag zu erheben. ({8}) - Herr Kollege Spieth, so muss der Wettbewerb funktionieren. Auch Sie haben dann auf Ihre eigene Kasse Einflussmöglichkeiten. Ich bin verwundert, dass sich Herr Kollege Gysi heute gegen den Schuldenabbau gewandt hat. Ich glaube, dass der Schuldenabbau eines der wichtigsten und zentralen Elemente für die nachhaltige Finanzierung unseres Gesundheitssystems ist. ({9}) Die Schulden müssen letztendlich die Beitragszahler bezahlen. Es handelt sich dabei auch um Leistungen aus der Vergangenheit. Auch wenn Sie, Herr Gysi, zu bestimmen hätten, wäre das nicht anders möglich, es sei denn, Sie führten wieder einmal einen Staatsuntergang herbei, wie es in der Vergangenheit der Fall war, weil nicht ordentlich finanziert worden ist. Auch das muss man sehen. Wir haben eine fundierte Beitragsgestaltung, die für die Versicherten auch nachvollziehbar sein wird, wenn der Fonds in Zukunft eingerichtet wird. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern verdeutlichen, dass Höchstleistungen in der Medizin ihren Preis haben. ({10}) Wir können den Bürgerinnen und Bürgern nicht immer nur erklären, dass wir eine Höchstleistungsmedizin wollen, gleichzeitig aber nur den Preis für ein Goggomobil bezahlen wollen. Das wird es nicht geben. Wer Höchstleistungsmedizin haben möchte, der muss auch bereit sein, die entsprechenden Beitragsmittel aufzubringen. ({11}) Das geschieht sowohl im System der gesetzlichen Krankenversicherung als auch im System der privaten Krankenversicherung. Bei dem Fonds in der gesetzlichen Krankenversicherung ist entscheidend - dafür haben wir als Union stark gekämpft -, dass die Versorgung der Menschen in unseren Bundesländern weiterhin auf höchstem Niveau gewährleistet ist. Wenn es Beitragsmittelverschiebungen zwischen den Bundesländern gibt, dann ist es notwendig, dass es mit der Konvergenzklausel einen Ausgleich gibt, damit es nicht zu Versorgungsengpässen in den einzelnen Bundesländern kommt. ({12}) Dazu stehen wir. Dazu hat auch unser bayerischer Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber seinen Beitrag geleistet. ({13}) Das ist im Sinne der Versicherten und der Patientinnen und Patienten in den einzelnen Bundesländern. ({14}) Hören wir auf, immer zwischen gesetzlich Krankenversicherten und privat Krankenversicherten zu unterscheiden und ständig zu behaupten, die privat Versicherten seien die Entsolidarisierer und die Privilegierten in unserem Land. Gerade Sie, Herr Kollege Spieth, haben das versucht, indem Sie so getan haben, als ob alle Abgeordneten privat versichert sind. Ich bin gesetzlich krankenversichert und zahle den Höchstbeitrag meiner gesetzlichen Krankenversicherung wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, könnten Sie ein Augenmerk auf die Uhr vor Ihnen richten?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Sinne wünsche ich, dass sich viele heute bereitfinden, diesem Gesetz mit großer Überzeugung zuzustimmen. Ich kann es auf alle Fälle tun. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksache 16/3100. Bevor wir zur Abstimmung kommen, weise ich da- rauf hin, dass es 83 persönliche Erklärungen von Kolle- ginnen und Kollegen nach § 31 der Geschäftsordnung gibt. 1) Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4200, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({0}) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und einigen Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion und aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Es ist namentliche Abstim- mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an diese namentliche Abstimmung noch eine weitere namentliche Abstimmung durchführen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Nachdem jedes Mitglied des Hauses seine Stimme abgegeben hat, schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege- ben.2) Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die Entschließungsanträge. Ich gehe davon aus, dass Sie da- mit einverstanden sind, wenn wir mit dem Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke, über den nament- lich abzustimmen ist, fortfahren. - Ich sehe keinen Widerspruch. Wir kommen damit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4221. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe- nen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung zum Antrag der Fraktion Die Linke. 1) Anlagen 2 bis 9 2) Seite 8045 A Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Karte noch nicht abgegeben hat? - Ja, dann würde ich sagen: Schnell zur Urne! Ich frage noch einmal: Ist ein Mitglied des Hauses an- wesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.3) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zu Ihren Plätzen zu begeben, da wir jetzt noch über eine Reihe weiterer Vorlagen abstimmen müssen. Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- sache 16/4220. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen bei Gegenstim- men der Oppositionsfraktionen angenommen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 16/4217? - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4218? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü- nen abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss- empfehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/4200 fort. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kran- kenversicherung auf Drucksachen 16/3950 und 16/4020 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit, den vom Bundesrat einge- brachten Gesetzentwurf zur Verbesserung von Fusions- prozessen von Krankenkassen für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hau- ses angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/4200 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1928 mit dem Titel „Stärkung der Solidarität und Ausbau des Wettbewerbs - Für eine leis- tungsfähige Krankenversicherung“. Wer stimmt für 3) Seite 8049 B Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1997 mit dem Titel „Für Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4200 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3096 mit dem Titel „Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 27 a und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 16/3100 und 16/4200, bekannt: Abgegebene Stimmen 593. Mit Ja haben gestimmt 378, mit Nein haben gestimmt 207, Enthaltungen 8. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 592 davon ja: 378 nein: 206 enthalten: 8 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Gitta Connemann Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Ilse Falk Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Franz Josef Jung Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Jens Koeppen Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({8}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({9}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Laurenz Meyer ({10}) Maria Michalk Hans Michelbach Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({11}) Bernward Müller ({12}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Bernd Neumann ({13}) Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({14}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Peter Rzepka Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({15}) Andreas Schmidt ({16}) Ingo Schmitt ({17}) Dr. Andreas Schockenhoff Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Bernd Siebert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({18}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({19}) Gerald Weiß ({20}) Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Willy Wimmer ({21}) Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gregor Amann Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({22}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({23}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({24}) Edelgard Bulmahn Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Martin Gerster Iris Gleicke Dieter Grasedieck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({25}) Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({26}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({27}) Frank Hofmann ({28}) Klaas Hübner Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({29}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kelber Astrid Klug Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({30}) Waltraud Lehn Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Caren Marks Katja Mast Markus Meckel Petra Merkel ({31}) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({32}) Michael Müller ({33}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Steffen Reiche ({34}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({35}) Michael Roth ({36}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({37}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({38}) Bernd Scheelen Marianne Schieder Otto Schily Ulla Schmidt ({39}) Silvia Schmidt ({40}) Renate Schmidt ({41}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({42}) Carsten Schneider ({43}) Olaf Scholz Swen Schulz ({44}) Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Dr. h. c. Wolfgang Thierse Jörn Thießen Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Simone Violka Jörg Vogelsänger Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Waltraud Wolff ({45}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries Nein CDU/CSU Dorothee Bär Thomas Bareiß Jochen Borchert Ingrid Fischbach Klaus-Peter Flosbach Erich G. Fritz Dr. Reinhard Göhner Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg Olav Gutting Andreas Jung ({46}) Julia Klöckner Michael Kretschmer Friedrich Merz Philipp Mißfelder Stefan Müller ({47}) Michaela Noll Beatrix Philipp Peter Rauen Albert Rupprecht ({48}) Anita Schäfer ({49}) Marco Wanderwitz Ingo Wellenreuther Klaus-Peter Willsch SPD Niels Annen Klaus Barthel Willi Brase Renate Gradistanac Angelika Graf ({50}) Bettina Hagedorn Eike Hovermann Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Lothar Mark Hilde Mattheis Andrea Nahles René Röspel Ottmar Schreiner Ewald Schurer Andreas Steppuhn Jella Teuchner Rüdiger Veit Dr. Wolfgang Wodarg Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Christian Ahrendt Daniel Bahr ({51}) Uwe Barth Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({52}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther ({53}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Sibylle Laurischk Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link ({54}) Markus Löning Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({55}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg Rohde Dr. Konrad Schily Marina Schuster Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Christoph Waitz Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({56}) Martin Zeil DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Dr. Lothar Bisky Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Diana Golze Heike Hänsel Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Jan Korte Katrin Kunert Oskar Lafontaine Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kornelia Möller Kersten Naumann Wolfgang Nešković Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({57}) Volker Schneider ({58}) Dr. Herbert Schui Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({59}) Volker Beck ({60}) Cornelia Behm Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Hans Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({61}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Undine Kurth ({62}) Markus Kurth Monika Lazar Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({63}) Winfried Nachtwei Omid Nouripour Brigitte Pothmer Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({64}) fraktionslos Henry Nitzsche Gert Winkelmeier Enthalten CDU/CSU Veronika Bellmann Kristina Köhler ({65}) Gunther Krichbaum Dr. Ole Schröder SPD Christian Kleiminger Dr. Hermann Scheer Dr. Marlies Volkmer Gert Weisskirchen ({66}) ({67}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer - Drucksache 16/4029 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({68}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke. ({69})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schade, dass die Frau Bundeskanzlerin gerade den Saal verlässt; denn sie war vergangene Woche auch in Davos, wo sich 24 Staats- und Regierungschefs und über 900 führende Industriemanagerinnen und Industriemanager trafen. ({0}) Der Ruf, der aus den Schweizer Bergen erscholl und den mir Frau Kanzlerin bestätigen könnte, war schon interessant. Von den Mächtigen dieser Welt erscholl nämlich der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle und einer höheren Besteuerung von Privilegierten. ({1}) Sie können davon ausgehen, dass wir nicht eingeladen waren und nicht schuld daran sind, dass solche Töne von den Mächtigen dieser Welt kamen. Sie waren nämlich einfach gezwungen, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, dass durch die Globalisierung nach neoliberalem Strickmuster weltweit Millionen von Menschen in Armut gestürzt werden und ihnen jegliche Lebensperspektive genommen wird. Die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich wurde von den führenden Ökonomen der Welt als gefährlich für den Gesamtprozess der Globalisierung eingeschätzt. Insbesondere bemerkten sie, dass ein Absturz der Mittelklasse zu befürchten ist und dass die einseitige Einkommenskonzentration dramatisch ist, so dramatisch wie zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg. Der US-Ökonom Roubini äußerte, dass die Menschen weltweit qualifiziert werden müssen. Dieser Forderung müssten auch wir uns annehmen - auch für die Bürgerinnen und Bürger hier -, um überhaupt wieder mithalten zu können. Wir brauchen ein soziales Netz und eine stärkere öffentliche Hand. Eine stärkere Besteuerung der Reichen wurde in diesem Zusammenhang vom Finanzexperten Robert Shiller gefordert - ich zitiere -: Wenn die Einkommen einmal sehr ungleich sind, ist es schwer, das zu korrigieren. Recht hat er. Was hat dies nun mit unserem Antrag zur Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer zu tun? ({2}) Nun, sehr viel, weil genau diese Nichterhebung von Steuern auf die Umsätze des Kapitalverkehrs hier in Deutschland ein Teil des Problems ist. ({3}) Ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung Deutschlands ist ein Hauptgewinner der Globalisierung. Die Umverteilung von unten nach oben wird hier massiv betrieben. Aufgrund unserer Wirtschaftskraft könnten wir natürlich zu einem wirklichen Motor einer gerechteren Umverteilung werden, indem wir hier Zeichen setzen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Gestern gab es hier ja eine große Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht. Auch dort hat sich wieder manifestiert: In Deutschland gibt es die Entwicklung, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer geringer am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt sind. ({4}) Dies ist das Ergebnis einer Politik - auch der Politik von Rot-Grün -, die die Mehrheit der Großen Koalition fortführt. Steigende Gesundheitskosten - eben verabschiedet -, ({5}) steigende Lebenshaltungskosten, Belastungen durch die Steuerpolitik - Mehrwertsteuererhöhung, Veränderung bei der Entfernungspauschale - treffen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Masse der Bürgerinnen und Bürger wird permanent zur Kasse gebeten. Das verunsichert natürlich, und es erzeugt Demokratiefrust. Die Börsenumsatzsteuer wurde bereits 1885 als eine Art Wertpapierumsatzsteuer eingeführt. Zum 1. Januar 1991 wurde sie wieder abgeschafft. Als Gründe wurden genannt: Wettbewerbsnachteile, Schwächung des Finanzmarkts Deutschland, Verhinderung kurzfristiger Transaktionen und, wie immer in solchen Zusammenhängen, technische Schwierigkeiten der Erhebung. Als Ergebnis dessen haben wir eine absurde steuerliche Ungleichbehandlung der Umsätze. Waren und Dienstleistungen werden besteuert - seit dem 1. Januar dieses Jahres sogar mit 19 Prozent -, während die Umsätze am Kapitalmarkt hier nicht besteuert werden, weder mit 0,1 noch mit 0,5, noch mit 1 Prozent. ({6}) Das ist ein klarer Fall steuerlicher Ungleichbehandlung. Es kommt auch zu enormen Einnahmeausfällen. Als Ergebnis Ihrer gesamten Steuerpolitik, als Ergebnis all dessen, was Sie machen, mutiert Deutschland zu einem Lohn- und Steuerdumpingland in der EU. Zu nennen ist auch Ihre Verweigerung zur Einführung des Mindestlohns; das gehört zusammen. Deutschland mutiert also zu einem Dumpingland in der Steuer- und Lohnpolitik. ({7}) Wir haben einen klaren Antrag vorgelegt. Erheben Sie die Börsenumsatzsteuer! Führen wir sie wieder ein! ({8}) Bei einem Steuersatz von 1 Prozent kommt man bei den Börsenumsätzen von 2005 auf Einnahmen von 38 Milliarden Euro. ({9}) Rechnet man konservativ - bei einer Besteuerung fällt natürlich ein Teil der spekulativen Geschäfte weg -, könnten wir immer noch Einnahmen von 30 Milliarden Euro pro Jahr erzielen. Ständig wird bejammert, es sei kein Geld da. Wo Geld da ist, sind Sie zu feige, es zu nehmen. Sie sind einfach nicht gewillt, das Geld dort einzusammeln. Das ist die Realität. ({10}) 19 Prozent Mehrwertsteuer, eine allgemeine Belastung, das trauen Sie sich, weil die Bürgerinnen und Bürger sich in der Allgemeinheit sehr schlecht wehren können. Dafür, tatsächlich an die Reichen, an die Vermögenden in dieser Gesellschaft zu gehen, fehlt Ihnen der Mut. ({11}) Mit diesen 30 Milliarden Euro könnten Sie in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sofort etwa 500 000 Arbeitsplätze schaffen. Machen Sie das! Damit helfen Sie den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich. Es würde gleichzeitig der Effekt eintreten, dass die Finanzmärkte entschleunigt würden ({12}) und die Börsenspekulationen zurückgingen. Sie werden in der Debatte sicherlich wieder die Wettbewerbsnachteile anführen und sagen, dass wir uns das nicht leisten können. Zufälligerweise gibt es in Großbritannien - vielleicht nicht der kleinste Finanzstandort ({13}) und Börsenstandort; ich nenne nur die Londoner Börse eine Börsenumsatzsteuer in Höhe von 0,5 Prozent. ({14}) In Finnland gibt es eine Börsenumsatzsteuer in Höhe von 1,6 Prozent. In Indien gibt es eine. Herr Schüssel in Österreich hatte einst verkündet, dass er auch darüber nachdenkt, eine solche Steuer einzuführen. Warten wir einmal, was die neue Regierung in dem finanzpolitisch ja konservativen Land tun wird. ({15}) Damit wird klar: Man kann nicht damit argumentieren, dass ein Wettbewerbsnachteil entsteht. Sie müssen nur endlich den Mut aufbringen, das Geld tatsächlich da zu holen, wo es ist, um dann im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung, der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande etwas zu tun. ({16}) Deshalb unser Antrag. Ich bin gespannt, wie Sie sich dazu verhalten werden. Danke. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4221 lautet: Abgegebene Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt 53, mit Nein haben gestimmt 489, Enthaltungen 47. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 589 davon ja: 53 nein: 489 enthalten: 47 Ja DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Dr. Lothar Bisky Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Diana Golze Heike Hänsel Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Jan Korte Katrin Kunert Oskar Lafontaine Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kornelia Möller Kersten Naumann Wolfgang Nešković Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({0}) Volker Schneider ({1}) Dr. Herbert Schui Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Sabine Zimmermann fraktionslos Gert Winkelmeier Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({2}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({3}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Gitta Connemann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Ilse Falk Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({4}) Dirk Fischer ({5}) Axel E. Fischer ({6}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({8}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({9}) Volker Kauder Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({10}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({11}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({12}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({13}) Maria Michalk Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Carsten Müller ({14}) Stefan Müller ({15}) Bernward Müller ({16}) Bernd Neumann ({17}) Michaela Noll Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({18}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({19}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({20}) Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({21}) Andreas Schmidt ({22}) Ingo Schmitt ({23}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({24}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({25}) Gerald Weiß ({26}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({27}) Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gregor Amann Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({28}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({29}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({30}) Edelgard Bulmahn Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Martin Gerster Iris Gleicke Renate Gradistanac Angelika Graf ({31}) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({32}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({33}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({34}) Frank Hofmann ({35}) Eike Hovermann Klaas Hübner Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({36}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kelber Christian Kleiminger Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({37}) Waltraud Lehn Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel ({38}) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({39}) Michael Müller ({40}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Steffen Reiche ({41}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({42}) Michael Roth ({43}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({44}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({45}) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Otto Schily Dr. Frank Schmidt Ulla Schmidt ({46}) Silvia Schmidt ({47}) Renate Schmidt ({48}) Heinz Schmitt ({49}) Carsten Schneider ({50}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz ({51}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. h. c. Wolfgang Thierse Jörn Thießen Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({52}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({53}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Christian Ahrendt Daniel Bahr ({54}) Uwe Barth Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({55}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther ({56}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Sibylle Laurischk Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link ({57}) Markus Löning Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({58}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg Rohde Dr. Konrad Schily Marina Schuster Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Christoph Waitz Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({59}) Martin Zeil BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Matthias Berninger fraktionslos Henry Nitzsche Enthalten BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({60}) Volker Beck ({61}) Cornelia Behm Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Hans-Josef Fell Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({62}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Markus Kurth Undine Kurth ({63}) Monika Lazar Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({64}) Winfried Nachtwei Omid Nouripour Brigitte Pothmer Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({65}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({66})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir hier im Plenum anlässlich des Jahreswirtschaftsberichtes 2007 über die aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung gesprochen. Wir waren weitgehend einig, dass trotz erfreulichem Aufschwung in den letzten Monaten die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine große Herausforderung für Politik und Wirtschaft bleibt. Besonders problematisch ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen und die große Anzahl langzeitarbeitsloser Menschen. Über die Problematik der älteren arbeitslosen Menschen werden wir gleich bei unserer Debatte über den fünften Altenbericht noch mehr hören. Die Große Koalition hat bereits verschiedene Maßnahmen gerade zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergriffen, und die Diskussion über weitere mögliche politische Ansatzpunkte geht innerhalb der Koalitionsfraktionen weiter. Jeder ist herzlich dazu eingeladen, sich an dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Die Betonung liegt dabei auf „konstruktiv“. Das Arbeitsmarktkonzept, das Sie, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, Anfang Januar bei Ihrer Klausurtagung der Öffentlichkeit präsentiert haben, verdient dieses Attribut mit Sicherheit nicht. ({0}) Im Gegenteil: Ihr jüngster arbeitsmarktpolitischer Beitrag ist leider wieder einmal nicht mehr als der Griff in die ideologische Mottenkiste, wie auch bei diesem Antrag zu sehen ist. Ihr Konzept lautet: Wir schaffen 500 000 Arbeitsplätze durch Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer. ({1}) Sie gaukeln der Bevölkerung allen Ernstes vor, dass der Staat aktiv Arbeitsplätze schaffen könne. Dabei schwebt Ihnen vor, dass der Staat in einer Art Robin-HoodManier von den bösen vermögenden Menschen die Börsenumsatzsteuer kassiert, ({2}) um damit Arbeitsplätze im gemeinwohlorientierten Bereich zu schaffen und zu finanzieren. ({3}) Diesmal ist es der Ansatz der Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer. Ich warte auf die Wiedervorlage Ihrer Anträge zur Tobin-Steuer, mit der Sie ja auch bestimmte internationale Spekulationen belegen wollten, und darauf, dass Sie die Plenarzeit sinnvoll mit einem solchen Thema ausfüllen. ({4}) Ich erspare uns allen jetzt einen volkswirtschaftlichen Exkurs darüber, wie Arbeitsplätze mit Perspektive entstehen und welche Rolle der Staat dabei spielen soll. ({5}) Nicht ersparen kann ich Ihnen, meine Damen und Herren der Linken, aber eine Auseinandersetzung mit Ihren wohlfeilen Thesen zur Börsenumsatzsteuer, die wir selber im Jahre 1990 in Deutschland abgeschafft haben. ({6}) In Ihrem heute zur Beratung anstehenden Antrag führen Sie im Wesentlichen drei Argumente für die Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer in Deutschland an. Auf diese drei Thesen möchte ich im Folgenden kurz eingehen. Zunächst behaupten Sie, dass sich der deutsche Finanzplatz eine Börsenumsatzsteuer leisten könne, ohne dadurch im internationalen Vergleich signifikante Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Ihr vermeintlicher Beleg: Auch andere EU-Länder, wie beispielsweise Großbritannien, hätten eine Börsenumsatzsteuer. Es ist richtig, dass es heute noch in elf von vormals 25 EUStaaten eine Börsenumsatzsteuer gibt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ebenso wahr ist auch, dass in keinem der EU-Staaten in den letzten 20 Jahren eine Börsenumsatzsteuer neu eingeführt wurde. Lediglich die Schweden haben im Jahre 1983 eine entsprechende Steuer eingeführt, diese aber bereits acht Jahre später wieder abgeschafft, und zwar aus einem Grund, der sehr deutlich macht, dass eine Börsenumsatzsteuer schädlich für den Finanzplatz ist: Ein großer Anteil des schwedischen Börsenumsatzes verlagerte sich damals an ausländische Handelsplätze. Der Trend sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch international geht eindeutig in Richtung Abschaffung der Börsenumsatzsteuer. In den USA, Frau Kollegin Höll, gibt es bereits seit 1966 keine Börsenumsatzsteuer mehr, in Japan seit 1999. Aber Großbritannien, werden Sie, meine Damen und Herren der Linken, einwerfen, habe doch die Börsenumsatzsteuer, und der Börsenumsatz dort wachse trotzdem. Ja; die Betonung liegt hier aber eindeutig auf „trotzdem“. ({7}) Wenn wir einmal von der isolierten Betrachtung der Börsenumsatzsteuer abrücken und uns die eigentlich interessante Gesamtsteuerbelastung in diesem Bereich auf den Finanzmärkten ansehen - denn das ist der Maßstab und nicht, ob ein Teil dieser Belastung in Form der Börsenumsatzsteuer besteht -, dann stellen wir fest, dass der deutsche Finanzplatz bereits jetzt steuerliche Nachteile gegenüber den Briten hat. Diese Nachteile sollten wir nicht durch eine Börsenumsatzsteuer noch weiter verstärken. Kommen wir nun zu Ihrer zweiten These, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke. Diese läuft unter einem Gerechtigkeitsbegriff, der wieder einmal Ihr fehlendes Verständnis für die volkswirtschaftliche BeLeo Dautzenberg deutung des Finanzmarktes erkennen lässt. Sie argumentieren, dass die Mehrwertsteuererhöhung vor allem die Menschen mit niedrigen Einkommen belastet, und folgern daraus, dass zur Konsolidierung des Staatshaushaltes nun auch die Vermögenden in besonderer Weise herangezogen werden müssten. Als Steuer für die Vermögenden schlagen Sie die Börsenumsatzsteuer vor. Meine Damen und Herren von der Linken, Sie vergessen bei dieser Argumentation, dass die Börse nicht nur ein Thema für die Vermögenden ist, sondern dass eine Börsenumsatzsteuer auch jeden einzelnen Sparer, der in Wertpapiere investiert, treffen würde. Unsere Zielvorstellung ist, dass die Beteiligung am Produktivvermögen für breite Kreise der Bevölkerung weiter erschlossen werden soll und dass wir unsere Aktienkultur weiterentwickeln. ({8}) Daher ist Ihr Ansatz kontraproduktiv. Mit dieser Steuer würden gerade die Bereiche belastet werden, die eigentlich nicht belastet werden sollten. Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Angesichts der vorhandenen Systeme des Aktienhandels auf den internationalen Finanzmärkten muss man sagen, dass Sie mit Ihren Vorschlägen an der Gruppe der Besserverdienenden, die Sie erfassen wollen, vorbeigehen. Außerdem würden Sie dem normalen Anleger Liquidität entziehen, wodurch ein liquiditätsorientierter Kurs verhindert wird. Ihr Vorschlag würde also auf kontraproduktive Weise wirken. ({9}) Ihre dritte These lautet, die Börsenumsatzsteuer sei ein geeignetes Instrument gegen die übertriebene Spekulation mit Wertpapieren, die sich verheerend auf Investitionen, Wachstum und Beschäftigung auswirke. Auch diese These verdeutlicht wieder einmal mehr Ihr tiefes Misstrauen in den Finanzmarkt. Allem, was Sie nicht selber kontrollieren können, begegnen Sie sofort mit Misstrauen. Wohin das führt, konnten wir vor der Wiedervereinigung Deutschlands sehen. ({10}) Sie versprechen sich von einer Börsenumsatzsteuer volkswirtschaftlich positive Lenkungseffekte. Dabei überwiegen ganz eindeutig die negativen Auswirkungen. Ich möchte hier nur einige kurz skizzieren. Was Sie, isoliert betrachtet, als erstrebenswerte Verminderung der spekulativen Käufe und Verkäufe beschreiben, könnte in Wahrheit eine Verminderung der Handelsumsätze bedeuten. Eine Verminderung der Handelsumsätze ist keinesfalls erstrebenswert, weil sich dadurch die Liquidität des Handels verringern und damit die Kursfeststellung an den Börsen verschlechtern würde. Damit einher geht ein weiteres volkswirtschaftliches Argument gegen die Börsenumsatzsteuer, nämlich die Beeinträchtigung der Kapitalproduktivität. Eine Börsenumsatzsteuer würde eine optimale Kapitalallokation insofern erschweren, als die Investoren und Sparer ihre Anlageentscheidung nicht mehr rein renditeorientiert, sondern vermehrt steuerinduziert treffen würden. Außerdem würden wir mit einer Börsenumsatzsteuer einen weiteren Anreiz zur Steuerflucht geben. Diese Erfahrungen haben, wie gesagt, die Schweden in den 80er-Jahren gemacht. Nachher haben sie die Börsensteuer wieder abgeschafft. Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zu den mutmaßlichen staatlichen Einnahmen durch eine Börsenumsatzsteuer sagen. Sie haben sie in Ihrem Antrag und auch in Ihrer Rede quantifiziert. Die Linke führt ins Feld, das Ergebnis könnten 38 Milliarden Euro Steuereinnahmen sein. Das ist eine absurde Zahl, Frau Kollegin Höll. Das zeigt schon ein Blick auf die Länder, in denen es gegenwärtig noch eine Börsenumsatzsteuer gibt. Selbst in Großbritannien, einem der größten Finanzplätze der Welt, liegen die Einnahmen aus der Börsenumsatzsteuer mit durchschnittlich 4,5 Milliarden Euro jährlich weit unter den von Ihnen proklamierten Zahlen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich bitte um Verständnis, dass ich diese Frage nicht zulasse. Wenn meine bisherigen Ausführungen nicht zur Erhellung beigetragen haben, dann wird es die Beantwortung der Zwischenfrage ebenfalls nicht tun. ({0}) Um es kurz zu machen: Ihr Antrag zur Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, ist finanzmarktschädlich und läuft von seiner Intention her, nämlich Staatseinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe zu erzielen, vollkommen ins Leere. Für meine Fraktion lehne ich diesen Antrag ab. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Höll zu einer Kurzintervention. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nur kurz, Herr Kollege Dautzenberg. Erstens möchte ich Sie fragen, ob ich Sie richtig verstanden habe, dass Sie - denn Sie haben argumentiert, dass die Börsenumsatzsteuer von 1 Prozent insbesondere die kleinen Anleger belasten würde - in einem nächsten Schritt einen Gesetzentwurf vorlegen werden, in dem Sie die Halbierung des Sparerfreibetrages zurücknehmen; denn damit haben Sie die kleinen Sparer nun wirklich getroffen. ({0}) Zweitens möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit wären, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Börsenumsätze 2005 einen Umfang von 38 Milliarden Euro hatten und wir in unserem Antrag von einer konservativen Rechnung, nämlich von 30 Milliarden Euro, ausgegangen sind. ({1}) Dass die Börse nicht wegen einer 1-prozentigen Belastung zusammenbrechen wird, darin sind wir uns doch wohl sicher einig. Das geschieht ja auch nicht bei einer Mehrwertsteuer von 19 Prozent. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Dautzenberg, wollen Sie erwidern? ({0}) Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Schäffler von der FDP-Fraktion. ({1})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke geht in die völlig falsche Richtung. Er ist aber heute ganz gut platziert; denn auch die eben beschlossene sogenannte Gesundheitsreform geht in die völlig falsche Richtung. ({0}) Der einzig richtige Punkt in Ihrem Antrag ist, dass Sie die Mehrwertsteuererhöhung kritisieren. Aber Ihre Antwort darauf ist eine immer neue Steuererhöhung an anderer Stelle, in diesem Fall sogar die Wiedereinführung einer Steuer, die die Union und die FDP 1990 abgeschafft haben. Wir haben damals übrigens in einem Gesetz die Börsenumsatzsteuer, die Gesellschaftsteuer und die Wechselsteuer abgeschafft. Es ist schön, dass wir uns heute noch einmal an diese Bürokratiebeseitigungsgesetze erinnern. ({1}) Es geht in der Politik also auch anders, meine Damen und Herren von der Union. Für eine Fraktion wie Die Linke ist die Börse natürlich der Hort des unbändigen Kapitalismus. Daher passt der Antrag zur Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer zu Ihrer Ablehnung der sozialen Marktwirtschaft. ({2}) Tatsächlich ist der Antrag aber eine Schmalspurversion einer von Ihnen geforderten Tobin-Steuer auf Geldtransfers. Schon dieser Vorschlag gehört in die Mottenkiste der Wirtschaftswissenschaften. Aber dann in Ihrem Antrag Keynes zu zitieren, zeigt mir, wie weltfremd die Linke ist. Dass die Umsetzung der Theorien von Keynes erst zu der gigantischen Staatsverschuldung geführt hat, die wir heute mühsam bedienen müssen, ({3}) lassen Sie völlig außer Acht. ({4}) Es ist nicht nur in Zeiten der EU-Ratspräsidentschaft wichtig, davon zu lernen, was unsere europäischen Nachbarn machen. Herr Dautzenberg hat es gesagt: Die Schweden haben 1985 eine Börsenumsatzsteuer, wie Sie sie fordern, eingeführt, jedoch schon 1992 wieder abgeschafft. Die Steuereinnahmen waren nämlich viel geringer als erwartet. 165 Millionen Euro pro Jahr wurden erwartet; 9 Millionen Euro pro Jahr waren es tatsächlich im Maximum. Der Finanzplatz wurde trotz geringer Einnahmen jedoch erheblich beschädigt. Der Handel mit Bonds ging bereits eine Woche nach Einführung dieser Steuer um 85 Prozent zurück. Das Handelsvolumen von Futures und Optionen sank sogar um 98 Prozent. Der Handel verlagerte sich in ganz erheblichem Umfang nach London. Das Beispiel Schweden zeigt, dass Ihre Einnahmeerwartungen reine Spekulation sind. Sie glauben immer noch, dass möglichst hohe Steuern zu besonders hohen Einnahmen führen. Die enormen Steuererhebungskosten müssten Sie natürlich gegenrechnen. Sie wollen die deutsche Steuerbürokratie und damit die Staatswirtschaft ausweiten. Wir wollen das Gegenteil. Unser Ziel sollten gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa sein. Der Trend in der EU und auch die Bestrebungen der Kommission gehen aber gerade weg von der Börsenumsatzsteuer. In Großbritannien, das Sie als Beispiel anführen, gibt es übrigens eine Reihe von Ausnahmen. Es werden nur Transaktionen in Aktien von Unternehmen herangezogen, die ihren Rechtssitz in Großbritannien haben. Renten und Derivate werden von der dortigen Stempelsteuer gar nicht erfasst. Die Diskussionen in Großbritannien zeigen, dass die Börsenumsatzsteuer inzwischen kritisch gesehen wird. Studien für die London Stock Exchange haben klar nachgewiesen, dass die Steuer die Börsenumsätze senkt und das gesamtwirtschaftliche Wachstum hemmt. Eine Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer wäre also das Schlechteste, was wir unserem Finanzplatz antun könnten. ({5}) Es würde ferner unsere Bemühungen zur Integration des europäischen Finanzdienstleistungsmarktes unglaubwürdig machen. Union und FDP haben die Börsenumsatzsteuer 1990 gemeinsam abgeschafft. Das waren keine schlechten Zeiten für unser Land. ({6}) Wir haben gemeinsam Steuersenkungs- und Steuervereinfachungspolitik betrieben. Daran sollte die Union, dieses Parlament insgesamt, wieder anknüpfen. Dann gäbe es am Ende dieses schlechten Tages für Deutschland mit dem Einstieg in die sozialistische Einheitskasse doch noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nina Hauer von der SPD-Fraktion.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Höll, bei einer Sozialdemokratin brauchen Sie nicht für die Idee zu werben, dass große Vermögen ihren Anteil zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben leisten. Bei uns brauchen Sie auch nicht für die Idee zu werben, dass Investoren sich ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortung stellen müssen. ({0}) Das Instrument, das Sie vorschlagen, ist aber nicht geeignet, um das zu erreichen, was Sie erreichen wollen. ({1}) Ihren Vergleich mit der Mehrwertsteuer finde ich regelrecht abenteuerlich. Frau Dr. Höll, wenn Sie ein Paar Socken kaufen, ({2}) dann zahlen Sie Mehrwertsteuer. Wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird, zahlen Sie mehr Mehrwertsteuer. Wenn Sie aber den Kaufvorgang besteuern - das verbirgt sich hinter der Börsenumsatzsteuer -, dann müssen Sie damit rechnen, dass die Leute sagen: Ich drücke mich um den Kaufvorgang, auf den die Steuer erhoben wird, herum. Ich bekomme, was ich will, und spare beide Steuern. - Die großen Investoren, die auf dem Finanzmarkt mit Millionen arbeiten, werden genau das tun. Sie treffen mit der Börsenumsatzsteuer nur die kleinen Sparer, die ihr erarbeitetes Vermögen oder ihre erwirtschafteten Gewinne, ihre Altersversorgung an der Börse anlegen. Das werden nämlich diejenigen sein, die sich um die Kaufsteuer nicht herumdrücken können. Bei den Socken ist es anders als bei den Finanzprodukten. Die Socken kaufen Sie, um sie zu besitzen. Ein Finanzprodukt hingegen kaufen Sie, um einen Zins- und Zinseszinsgewinn zu erhalten. Wenn Sie ein Finanzprodukt mit einer durchschnittlichen Rendite von 4 Prozent kaufen, für das ihre Bank inklusive Börsenumsatzsteuer einen Aufschlag von 1,25 Prozent verlangt - Sie müssen dafür schon eine gute Kundin sein; Sie müssen viel Geld angelegt haben -, dann zahlen Sie, wenn Sie das Produkt kaufen, 1,25 Prozent, und wenn Sie das Produkt wieder verkaufen, um den Zinsgewinn zu erhalten, zahlen Sie erneut 1,25 Prozent. Das bedeutet: 2,5 Prozent Kosten bei 4 Prozent Gewinn. Damit schränken Sie die Möglichkeiten derjenigen, die sich für diese Produkte interessieren, ein. Am Ende bleiben 1,5 Prozent übrig. Auch Ihr Vergleich mit den Steuerfreibeträgen und den Sparerfreibeträgen hilft nicht weiter, weil davon eine Gruppe betroffen ist, die schon einiges angelegt hat, die jedenfalls den Gewinn schon hat. Sie wollen ja überhaupt eine Zugangsbarriere aufbauen. Das hätte zur Folge, dass Leute ihre Gelder für die Altersversorgung oder ihr über Jahre aufgebautes Vermögen nicht am Kapitalmarkt anlegen können. Das finde ich nicht gerecht. Wir wollen, dass die Leute ihr Geld auf dem Kapitalmarkt anlegen. Wir wollen, dass diejenigen, die nur ein kleines Vermögen angespart haben, ({3}) dieses Geld sicher anlegen können. Sie sagen: Wenn ich einen großen Gewinn machen will, dann muss ich mehr Risiko eingehen. Das ist am Finanzmarkt so. - Das können die millionenschweren Investoren, aber diejenigen, die von dieser Steuer am meisten betroffen wären, können das nicht. Sie müssten dann in Anlagen gehen, die entweder ganz wenig bringen, oder sie gehen woanders hin, zum Beispiel auf Abenteuertour mit Finanzmarktprodukten, die für die Altersversorgung eigentlich nicht geeignet sind. ({4}) Sie treffen damit auch kleine Unternehmen, also diejenigen, die wir am Finanzmarkt haben wollen, damit sie sich dort Kapital holen können. Sie drängen sie im Endeffekt auf abenteuerliche Finanzierungswege. Mir ist neu, dass Ihnen die Börse weniger lieb ist als die dunklen Finanzierungswege von Private Equity. Aber das wäre das Ergebnis dessen, was Sie hier vorschlagen. ({5}) Ich muss sagen: Sie haben einige große Weltökonomen in Ihrer Fraktion. Daher bin ich verwundert, dass Sie überhaupt nicht beachten, was Sie am Kapitalmarkt anrichten. Denn die Börsenumsatzsteuer ist, theoretisch gesehen, ein prozyklisches Instrument. Sie führt dazu, dass Börsenkurse am Ende volatiler werden, das heißt, dass sie stärker nach oben und unten ausschlagen. ({6}) Auch das ist gerade für kleine Anleger ein höheres Risiko, weil sie das nicht ausgleichen können. Sie sorgen dafür, dass Anleger steuergelenkt und nicht mehr renditegelenkt investieren. Es mag Ihnen unmoralisch vorkommen, ({7}) wenn jemand renditegelenkte Anlage betreibt; unromantisch ist es wahrscheinlich auch. ({8}) Aber am Ende würde dies dazu führen, dass sich Kapital verteuert und dass die Falschen unser Geld, das wir den Unternehmen zur Verfügung stellen wollen, bekommen, weil Unternehmer, Investoren und kleine Anleger danach entscheiden, wo sie besser Steuern sparen, und nicht danach, wo ihr Geld am besten aufgehoben ist. Das wäre das genaue Gegenteil eines Finanzmarktes, der dafür sorgt, dass wir mehr Wachstum und am Ende mehr Beschäftigung haben. Sie sagen, dass die anderen Finanzmärkte das auch machen. Die Mutter aller Finanzmärkte in Großbritannien hat eine Börsenumsatzsteuer von 0,5 Prozent auf die Aktien von inländischen Unternehmen. Wenn Sie sich den Finanzplatz London ansehen, dann erkennen Sie, dass seine Stärke vor allen Dingen im Handel mit internationalen Wertpapieren besteht. Diese Steuer führt letztendlich dazu, dass britische Papiere weniger konkurrenzfähig sind. Das ist der Grund, warum beide Parteien in jedem Wahlkampf darüber diskutieren, ob diese Steuer eigentlich Sinn macht. ({9}) Das Beispiel Schweden wurde schon genannt. Die Schweden haben 1983 die Umsatzsteuer für die Börse eingeführt. Sie haben Einnahmen in Höhe von 165 Millionen Euro erwartet. Sie haben nur 9 Millionen Euro eingenommen - so viel dazu, dass Ihre Rechnungen der Realität standhalten können -, ({10}) weil das Handelsvolumen bei den Bonds um 85 Prozent eingebrochen ist. Das ist kein Anlageprodukt, dem man nachsagen kann, es sei hochspekulativ. 50 Prozent aller Werte, die vorher in Schweden gehandelt wurden, sind dann in London über die Theke gegangen. ({11}) Das kann nicht Ihr Ernst sein; das würde unseren Finanzmarkt kaputtmachen. Das war auch nicht die Absicht in Schweden. Sie haben die Steuer 1992 abgeschafft. Andere Staaten, die diese Steuer haben - das sind wenige -, nehmen börsengehandelte Wertpapiere aus, also gerade das, von dem Sie sagen, dass es die vielversprechendsten Einnahmen bringt. Oder diese Staaten gewähren andere Steuervorteile. Dazu sage ich Ihnen als Sozialdemokratin: Das finde ich übertrieben. Es sind das nämlich Steuervorteile, die wir hier in Deutschland nicht haben wollen. In der Europäischen Union gibt es kein Land, das in den letzten 20 Jahren eine Börsenumsatzsteuer eingeführt hat. Die meisten haben sie abgeschafft. Wir würden durch Einführung dieser Steuer Kleinanlegern schaden und Investoren ins Dunkle treiben, in die Finanzierung von Unternehmungen, bei denen es nicht um die Börsennotierung und die Öffentlichkeit geht, sondern um den Weg weg von der Öffentlichkeit ins Dunkle. Unser Finanzplatz wäre nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie mögen denken, dass dies bedeutet, dass die mit dem ganz feinen weißen Kragen sich einen neuen Job suchen müssen. Ich lade Sie gerne einmal nach Hessen ein. In meinem Wahlkreis und an den Grenzen meines Wahlkreises zur Stadt Frankfurt verdienen viele Menschen ihr Geld mit dem Finanzmarkt. Sie verdienen es nicht nur, indem sie jeden Tag Millionen umsetzen, von denen ihnen die Hälfte gehört, sondern indem sie bei Finanzmarktunternehmen beschäftigt sind, ({12}) und zwar in vielen verschiedenen Tätigkeiten mit ganz unterschiedlichen Qualifikationen. Der Finanzmarkt ist zur Jobmaschine geworden, nicht nur bei uns in der Region, in Hessen, sondern auch in anderen Bundesländern. Mit einer solchen Steuer würden wir dafür sorgen, dass die Leute, die dort arbeiten, ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Sie stellen Forderungen, überlegen aber nicht, welche Konsequenzen diese für unser Land und für die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, haben. ({13}) Ich hätte gerne gehört, was Ihr Kollege, der ehemalige Ministerpräsident des Saarlandes, zur Börsenumsatzsteuer, die Sie fordern, sagt. ({14}) Denn ich habe mit Überraschung festgestellt, dass er bei Abschaffung der Kapitalverkehrsteuer im Bundesrat - wo leider nicht festzustellen ist, wer wie abgestimmt hat - nichts gesagt hat; so wild scheint die Aufregung damals also nicht gewesen zu sein. ({15}) Dafür können Sie natürlich nichts. Doch Sie versuchen jetzt, mit Ihrem Antrag eine so alte Idee wiederzubeleben. Zugegeben: Diese Idee hört sich gut an, und es gibt bestimmt viele, die so etwas als gerecht empfinden. Aber wenn man sich näher mit der Sache befasst, muss man feststellen: Das schadet unserem Standort, das schadet den Menschen, die ihr Geld dem Finanzplatz anvertrauen, das schadet denen, die am Finanzplatz arbeiten, und das schadet am Ende unserem Wachstum. Außerdem wollen wir doch, dass die Menschen nicht nur Geld für die Altersvorsorge dem Finanzplatz anvertrauen, sondern dass sie auch in die Unternehmen in Deutschland investieren und sie damit finanzieren. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linksfraktion hat wieder einmal einen Dreizeiler vorgelegt. Ich habe nichts gegen Dreizeiler; doch wenn sie schon so kurz sind, dann sollten sie wenigstens gereimt sein. ({0}) Es ist zwar nicht so, dass sich Inhalt und Länge von Anträgen immer genau entsprechen. Aber man merkt an den dürren, kurzen Worten Ihres Antrags schon, dass Sie sich verschiedene Aspekte des Themas noch nicht genau angeschaut haben. ({1}) Ich habe den Eindruck, Sie haben das „Statistische Jahrbuch“ genommen, nach großen Summen Ausschau gehalten und dann den Stift fallen lassen, und auf das, wo er gelandet ist, wollen Sie jetzt eine Steuer erheben. So kann man soziale Gerechtigkeit nicht formulieren; da muss man schon früher aufstehen! ({2}) Ein paar Punkte sind schon angesprochen worden. Der erste ist der Vergleich mit Großbritannien. Wollen Sie wirklich das Steuersystem am Finanzplatz London als Vorbild für Deutschland nehmen und die Privilegien für Spitzenverdiener in den Banken eins zu eins auf Deutschland übertragen? - In Hessen ist das übrigens konkret vorgeschlagen worden. - Man kann doch nicht einen Einzelpunkt herausgreifen, aber das Umfeld außen vor lassen! ({3}) Also: Wollen wir es vergleichen, oder wollen wir es nicht vergleichen? Ich bin jedenfalls nicht dafür, London insgesamt zum Vorbild zu nehmen. ({4}) Wenn Sie allerdings nur diesen einen Aspekt herausgreifen wollen, müssen Sie sich damit auseinandersetzen, wie sich das auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. ({5}) Der zweite Punkt. Sie behaupten, Spekulation werde dadurch eingeschränkt. Wissen Sie, Derivate - der spekulativere Teil der Finanzgeschäfte - sind in London von dieser Steuer ausgenommen. Das Londoner Modell zu übertragen, heißt also nicht, Spekulation zu unterbinden. Wenn Sie aber die spekulativen, die derivativen Finanzinstrumente einbeziehen wollen, müssen Sie sich genau anschauen, was das für den Wettbewerb zwischen den Standorten bedeutet. Ihr einfacher Vergleich funktioniert also nicht. Für unsere Seite, für die Grünen, möchte ich noch das verbraucherpolitische Argument hervorheben. Wenn wir eine reine Börsenumsatzsteuer einführen, dann heißt das, dass wir die Umsätze entweder in die weniger transparente Internalisierung drängen oder in die Over-theCounter-Geschäfte, also die, die nicht an geregelten Plätzen stattfinden. Das ist das Gegenteil dessen, was wir wollen. Wir wollen, dass die Geschäfte transparent und sichtbar für die Verbraucher stattfinden. Man müsste sich also überlegen, wie eine Besteuerung auszusehen hätte, damit der Handel weiter an den geregelten Finanzplätzen stattfindet. ({6}) Das sind verschiedene Punkte, bei denen sichtbar wird, dass Sie das Vorhaben nicht zu Ende gedacht haben und dass der Impetus, etwas für soziale Gerechtigkeit tun zu wollen, nicht zu konkreten und machbaren Vorschlägen führt. Wenn Sie über Finanztransaktionen sprechen wollen, dann möchte ich Ihnen eine Bitte mit auf den Weg geben: Beachten Sie das bitte bei der nächsten großen Finanztransaktion in Berlin, die Sie mitverantworten werden! Das wird wichtige Auswirkungen auf den Finanzplatz haben. Ich möchte noch einige Gegenargumente aufgreifen und kommentieren. Frau Hauer, Sie haben gesagt, man müsse den Sozialdemokraten nicht viel über Soziales erzählen. Ich glaube aber, dass man ständig an seinem Ruf arbeiten muss. ({7}) Insofern meine ich nicht, dass dieses Argument ausreicht. Ich würde mir vielmehr konkrete Vorschläge wünschen. Die verkorkste Reichensteuer, die Sie mitverantwortet haben, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, wenn es um eine soziale Steuerpolitik geht. ({8}) Das Argument der Jobmaschine kann immer herangezogen werden, auch wenn es um die Sockenindustrie geht. Den Hinweis auf die Mehrwertsteuer halte ich als generelles Argument ebenfalls nicht für tragfähig. Bei diesem Thema ist eine andere, spezifische Argumentation notwendig. Ich möchte noch ein weiteres Argument aufgreifen. Herr Schäffler hat bemerkt, das Vorhaben passe gut zur Gesundheitsreform. Ich habe den Eindruck: Die Große Koalition geht häufig so vor, dass sie erst etwas abschafft und es dann wieder einführt. Vielleicht bietet es sich auch bei der Börsenumsatzsteuer an, diese Richtung einzuschlagen. Sie haben zuerst die Abschreibungsbedingungen erleichtert; jetzt werden sie wieder eingeschränkt. Sie haben zuerst den Steuerzuschuss zur Krankenversicherung gesenkt; jetzt soll er wieder erhöht werden. Zu diesem Kurs würde es sehr gut passen, die Börsenumsatzsteuer, die Sie seinerzeit abgeschafft haben, wieder einzuführen. Aber zurück zum Ernst der Lage: Sie haben heute im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform Steuererhöhungen angekündigt. ({9}) - Der Finanzminister der von Ihnen getragenen Regierung hat Steuererhöhungen angekündigt. - Wenn Sie alle steuerpolitischen Vorschläge - so dünn sie auch sein mögen - ablehnen, dann müssen Sie auch sagen, was Sie konkret vorhaben und an welchen steuerpolitischen Vorschlägen Sie arbeiten. Das Argument, dass Finanztransaktionen in Deutschland keiner wie auch immer gearteten Umsatzsteuer unterliegen und dass es insofern eine Sonderregelung gibt, ist nicht zurückzuweisen. Ich kann deshalb für unsere Fraktion feststellen, dass wir uns mit den Vorschlägen gründlich befassen werden. Sie können sich darauf verlassen: Wenn die Grünen einen Vorschlag zu einer sozial gerechteren Steuerpolitik vorlegen, dann wird er mehr als drei Zeilen umfassen und etwas besser durchdacht sein. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir vermissen den Weltkökonomen Oskar Lafontaine in dieser Debatte. ({0}) Auch Herr Ernst hat uns schon verlassen. Angesichts der durchschlagenden Argumentation, mit der der Antrag begründet wird, kann die deutsche Öffentlichkeit sehr froh sein, dass Oskar Lafontaine in den Jahren 1998 und 1999 nicht länger als knapp fünf Monate Finanzminister dieses Landes war. Sie rechnen in Ihrem Antrag zur Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer mit sagenhaften 38 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen. In der Debatte haben Sie diesen Betrag auf immerhin 30 Milliarden Euro reduziert. Die Summe erklärt sich mit einer klassischen Milchmädchenrechnung: Bei einem Börsenumsatz von 3,8 Billionen Euro in Deutschland entspricht 1 Prozent 38 Milliarden Euro. Das ist rechnerisch richtig und klingt auf den ersten Blick auch logisch. Auf den zweiten Blick jedoch stellt sich der Antrag als völliger Unfug heraus, ({1}) mit dem die Linksfraktion ihren alten Schlager „Wir sind die sozialste Partei, greifen den Großkapitalisten in die Tasche und verteilen das Geld an die armen Leute“ in leicht veränderter Melodie neu aufführen möchte. ({2}) Dabei übersehen Sie leider zwei maßgebliche Punkte. Erstens geht Ihre Rechnung nicht auf. 38 Milliarden Euro bzw. 30 Milliarden Euro Einnahmen sind eine völlige Utopie. Das von Ihnen gerne angeführte Beispiel Großbritannien - immerhin einer der größten Finanzmärkte der Welt - nimmt durch die Stamp Duty im Schnitt 4,6 Milliarden Euro ein. Sie übersehen zweitens, dass inzwischen nicht mehr nur der klassische Großkapitalist mit Aktien handelt, sondern durchaus auch der sogenannte kleine Mann, ({3}) der damit zum Beispiel seine private Altersversorgung betreibt. ({4}) Die Börsenumsatzsteuer ist ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Sie ist ursprünglich aus der fiskalischen Belastung von Urkunden des Börsenverkehrs hervorgegangen, für die früher behördlich gestempeltes Papier zu verwenden war. 1881 wurden erstmals Schlussnoten über gewisse Wertpapieranschaffungen mit einer fixen Stempelabgabe belegt. Die Börsenumsatzsteuer, die ihren Ursprung, wie gesagt, im vorvergangenen Jahrhundert hat, wurde nicht zuletzt nach klaren Einlassungen der damaligen unionsgeführten Bundesregierung 1991 durch das Finanzmarktförderungsgesetz abgeschafft. Die Begründungen für diesen Schritt sind heute noch so aktuell wie damals. Erstens. Kapitalverkehrsteuern behindern die Kapitalbeschaffung zur Stärkung des Eigenkapitals. Zweitens. Kapitalverkehrsteuern behindern die Mobilität des Finanzkapitals. Drittens. Kapitalverkehrsteuern laufen dem Gedanken einer EU-weiten Integration der Märkte völlig zuwider. Viertens. Kapitalverkehrsteuern stellen einen Wettbewerbsnachteil für den Finanzplatz Deutschland dar. ({5}) Gemessen an ihrem fiskalischen Nutzen sind ihre Nachteile für Wettbewerb, Wachstum und Arbeitsplätze groß. Ich weiß, jetzt kommt das Argument, dass andere Staaten ebenfalls eine Börsenumsatzsteuer haben und wir mit anderen Staaten im Wettbewerb stehen. Das ist richtig, in elf Ländern der Europäischen Union gibt es eine sogenannte Transaction Tax. Ihre Höhe liegt zwischen 0,005 und 1 Prozent. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass in einem Großteil der Länder, die die Transaction Tax erheben, ganz wesentliche Ausnahmeregelungen zugrunde liegen. So wird in Finnland, Italien, Malta, Polen, Portugal und Slowenien - immerhin in sechs von den elf Staaten keine Transaction Tax auf an der Börse gehandelte Wertpapiere erhoben, sondern lediglich auf außerbörsliche Geschäfte sowie auf Immobilien und Grundbesitz. ({6}) Das ist genau im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrem Antrag verlangen. In dem immer wieder gern angeführten Großbritannien gilt die Stamp Duty Reverse Tax nur auf inländische Transaktionen. Zudem sind weitere Finanzprodukte wie Renten, Derivate, Exchange Traded Funds und ausländische Aktien ausgenommen. Nebenbei bemerkt: Die Höhe der Einnahmen aus der Stamp Duty in Großbritannien erklärt sich unter anderem dadurch, dass in Großbritannien auch sehr starke Anlageprodukte wie beispielsweise die Immobilien-AG - Stichwort REITs - gehandelt werden dürfen. Das wollen Sie ja unter allen Umständen verhindern. Wir erwarten eine spannende Debatte. Festzuhalten ist auch, dass in keinem EU-Mitgliedstaat in den letzten 20 Jahren eine Transaction Tax für Börsengeschäfte eingeführt wurde. Über Schweden wurde bereits gesprochen. Schauen Sie sich die Realität an. Schweden hat 1983 mit 165 Millionen Euro pro Jahr gerechnet, es sind aber durchschnittlich nur 9 Millionen Euro geworden. Schweden hat dieses Projekt schnellstmöglich wieder eingestellt. ({7}) Das Gegenteil ist richtig. Die meisten Staaten in der Europäischen Union haben die Börsenumsatzsteuer abgeschafft: Spanien 1988, die Niederlande 1990, Dänemark 1999 und Österreich 2000. In anderen nichteuropäischen Finanzplätzen wie zum Beispiel den USA und Japan ist die Börsenumsatzsteuer ebenfalls abgeschafft worden, in den Vereinigten Staaten 1966 und in Japan 1999. Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, sehen: Die Entwicklung hinsichtlich der Börsenumsatzsteuer in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zeigt deutlich einen Trend hin zur Abschaffung. Selbst Länder, die die Steuer erheben, haben in den letzten Jahren Anpassungen vorgenommen. Vor kurzem ist in Großbritannien wieder eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Stamp Duty vor dem Hintergrund der aktuellen MiFID-Umsetzung, also der europaweiten Richtlinie zur Regulierung der Finanzmärkte, überhaupt noch gerechtfertigt ist. Denn derzeit ist noch vollkommen unklar, inwieweit die europaweite Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie nicht auch generell zu einer Abschaffung der Börsenumsatzsteuer in der EU führen wird; denn sie stellt für ausländische Anleger ein Marktzugangshindernis dar. Genau solche Hindernisse wollen wir jetzt aber im Zuge der geplanten Finanzmarktintegration abbauen. Sie wollen sie mit einer Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer mittelfristig wieder einbauen. Meine Damen und Herren, das passt dann auch zum politischen Ansatz Ihres Weltökonomen: heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders. Ich kann Sie nur bitten: Tun Sie uns allen einen Gefallen, bleiben Sie mit solchen Vorschlägen zu Hause, kümmern Sie sich um Haus und Hof, sparen Sie dem deutschen Steuerzahler Geld und uns Zeit und Nerven. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Jörg-Otto Spiller das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gäbe es die begründete Aussicht - wie uns die PDS Glauben machen will -, ({0}) dass man mit der Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer jährlich Steuermehreinnahmen in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro erzielen könnte, ({1}) bekämen viele von uns in allen Fraktionen große Augen. Und ich bin ganz sicher, alle Finanzminister, die nach der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer diese Erwartung hätten haben dürfen, hätten sofort gesagt: Das machen wir! - Ob sie nun Waigel, Eichel, Steinbrück oder Oskar Lafontaine heißen. ({2}) Aber Oskar Lafontaine hat das natürlich nicht gemacht. Der dachte überhaupt nicht daran, ({3}) denn das ist ein richtig intelligenter Mann, ({4}) wenn auch etwas unstet. ({5}) Sie werden das wahrscheinlich wissen, Frau Dr. Höll. Aber es war jedenfalls so: Als Lafontaine in der Verantwortung für die Bundesfinanzen war, ({6}) da ist er nie auf die Idee gekommen, die Börsenumsatzsteuer wieder einzuführen. Wir in der Fraktion hätten uns das sehr ruhig angehört, aber Oskar Lafontaine hat natürlich auch die wahrscheinlichen Auswirkungen gegeneinander abgewogen: Wie hätte sich das am Finanz8060 platz Deutschland, insbesondere auf Frankfurt, ausgewirkt, und wie viel Einnahmen hätte man tatsächlich erzielen oder erwarten können? Nebenbei bemerkt: Die Börsenumsatzsteuer hat in Deutschland im letzten Jahr ihrer Erhebung umgerechnet ungefähr 400 Millionen Euro gebracht. ({7}) - Ja, D-Mark, aber umgerechnet etwa 400 Millionen Euro. Das ist ein bisschen weniger als 38 Milliarden Euro. Aber Lafontaine ist eben nie auf die Idee gekommen, einen solchen Schritt zu gehen. Als der Bundesrat - es war ja eine Idee von Hessen, die Börsenumsatzsteuer abzuschaffen - darüber beraten hat, hat sich das Saarland auch gar nicht zu Wort gemeldet. Das war denen nicht sonderlich wichtig. Sie können ihn ja gelegentlich einmal fragen, warum er so spät auf diese Idee gekommen ist. Er weiß aber natürlich auch, dass diese 38 oder auch nur 30 Milliarden Euro eine gänzliche Luftnummer sind. Alle Kollegen - mit Ausnahme von Ihnen -, die vorher gesprochen haben, haben schon darauf hingewiesen, zu welchen Belastungen dies in London, aber auch woanders führen würde und welche Ausnahmen es geben würde. Zum Beispiel unterlägen alle deutschen Aktien, die in London gehandelt würden, keiner Besteuerung, und in Luxemburg wäre das genauso. Das war auch der Grund dafür, weshalb damals gesagt worden ist: Das lassen wir lieber, wir schwächen nur unseren Finanzplatz, aber auf Dauer Geld einnehmen, das werden wir nicht. Also, das müssen Sie einmal mit Ihrem Kollegen Fraktionsvorsitzenden besprechen. Das ist eine Luftnummer. ({8}) Es schadet eigentlich auch Ihrer Partei, dass Sie solche Dinge fordern, zu denen jeder, der sich damit ernsthaft befasst, sagt: Das hat der Lafontaine nie gewollt. Und wenn der irgendwo wieder in der Verantwortung wäre, ({9}) würde er solchen Unfug auch gar nicht machen. Aber dazu kommt es ja wahrscheinlich nicht. Nun zu der Frage, was wir im Bereich der Besteuerung von in diesem Fall nicht Börsenumsätzen, sondern von Veräußerungsgewinnen tun werden. Was haben wir gemacht und was werden wir tun? Ich finde, das ist eine sehr viel seriösere Fragestellung. Wir haben in der letzen Legislaturperiode - damals zusammen mit den Grünen - durchgesetzt, dass die Erfassung von Veräußerungsgewinnen innerhalb der sogenannten Spekulationsfrist von einem Jahr bei den Banken korrekt erfolgt und dass jeder Kunde eine Erträgnisaufstellung bekommt, die er zusammen mit seiner Steuererklärung abgeben muss. Wir werden darüber hinaus - das haben wir in der Großen Koalition vereinbart - mit der Einführung einer Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge, aber auch auf Veräußerungsgewinne die Spekulationsfrist abschaffen. Das ist nicht selbstverständlich. Darüber haben wir debattiert. Ich weiß, dass das insbesondere den Kollegen von der Union nicht leichtfiel. Aber ich finde, dieser Weg ist sehr viel vernünftiger und gerechter. Meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Ihr Antrag liefe darauf hinaus, dass beispielsweise ein Rentner, der sich von Bundesobligationen im Wert von 2 000 Euro trennt, weil er größere Anschaffungen vornehmen will, Börsenumsatzsteuer zahlen muss. Wenn sich jemand aus Enttäuschung über die Kursentwicklung von seinen Telekom-Aktien trennt, zahlt er nach Ihrem Vorschlag ebenfalls Börsenumsatzsteuer. Wir wollen dagegen Veräußerungsgewinne fair besteuern. Das halten wir für vernünftig. Im Übrigen wünsche ich mir, dass Sie, wenn Sie Anträge einbringen, einmal darüber nachdenken, ob die Autoren, deren Namen oben auf dem Antrag stehen, überhaupt dahinterstehen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4029 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatzpunkt 12 auf: 29 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 16/2190 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Das neue Bild vom Alter - Vielfalt und Potenziale anerkennen - Drucksache 16/4163 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Zu dem Bericht zur Lage der älteren Generation liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. ({2})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Aussage des fünften Altenberichts ist: Ältere Menschen verfügen über Potenziale, die wir als Gesellschaft noch längst nicht ausgeschöpft haben. Wir werden in Zukunft viel mehr ältere Menschen unter uns haben. Laut Statistik wird es in 40 Jahren etwa doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene geben. Aber es gab noch nie eine ältere Generation - das ist das Entscheidende -, die so gut ausgebildet und so gesund war wie die Älteren heute. Die Lebenserwartung eines heute geborenen Mädchens liegt bei rund 81 Jahren und die eines kleinen Jungen bei über 75 Jahren. Das sind nicht nur zusätzliche Jahre, sondern gewonnene Jahre, wenn es uns gelingt, sie aktiv zu nutzen. Entscheidend ist: Wer heute zum Beispiel 60 Jahre ist, der ist biologisch gesehen fünf oder sechs Jahre jünger, als es ein 60-Jähriger vor 30 Jahren war. Das heißt, diese Jahre können tatsächlich als gewonnene Jahre für diese Generation angesehen werden. Natürlich können wir die demografische Entwicklung nicht wegdiskutieren. Das möchten wir auch nicht. Aber - auch das halte ich für wichtig - wenn wir heute über Szenarien im Jahr 2030 oder 2050 sprechen, dann haben wir heute auch die Zeit und die Pflicht, die Weichen dafür zu stellen, ({0}) damit wir keine vergreisende Gesellschaft werden, sondern - ein schöner Begriff - eine Gesellschaft des langen Lebens. ({1}) Das sind die Potenziale des Alters, von denen der fünfte Altenbericht spricht. Der Altenbericht betont auch - das halte ich für besonders wichtig -, dass die Potenziale des Alters Potenziale für die ganze Gesellschaft sind, also nicht nur für diese Altersgruppe. Wir müssen ein neues Bild des Alters zeichnen. Es gibt eine schöne Geschichte von Paul Baltes, dem Altersforscher, der sagte: Wissen Sie, es ist, wie wenn man zu einem Klassentreffen geladen hat und diejenigen kommen, die vor 60 Jahren Abitur gemacht haben. Man denkt, die einen hätten ihre Kinder mitgebracht und die anderen ihre Eltern. - Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, wie wir uns in der Zeit vor dem Alter verhalten. Wir werden anders arbeiten, und wir werden länger arbeiten. Wenn wir uns überlegen, dass heute nur 4 Prozent der Weiterbildungsmaßnahmen von über 45-Jährigen wahrgenommen werden, dann müssen wir zu dem Schluss kommen, dass das nicht richtig sein kann. Das müssen mehr werden. Genau in diesem Alter zeigt sich nämlich, ob wir es mit dem Begriff des lebenslangen Lernens ernst meinen. Wenn heute nur 45 Prozent der 55- bis 65-Jährigen in Deutschland arbeiten, dann lassen wir Potenziale des Alters brachliegen. ({2}) Wenn wir sehen, dass in Schweden rund 70 Prozent und in Dänemark rund 60 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig sind, dann muss das für uns ein Ansporn sein. Dass es geht, zeigt das Beispiel Finnland. Dort stieg die Erwerbsquote der 55- bis 65-Jährigen von 1997 bis 2005 um jährlich annähernd 2 Prozentpunkte, nämlich von 37 Prozent auf 53 Prozent. Mit anderen Worten: Es geht; wir können besser werden, und wir müssen besser werden. ({3}) Im Alter sind Innovationen und Fortschritt möglich. Es gibt eine schöne Antwort von dem Cellospieler Pablo Casals, der gefragt wurde, warum er als 93-Jähriger immer noch täglich stundenlang Cello übe: Weil ich das Gefühl habe, immer noch besser zu werden. - Diese Einstellung wünsche ich mir. Das neue Bild des Alters betrifft auch die Frage, ob wir eigentlich angemessen auf die Bedürfnisse der Älteren eingehen. In der Europäischen Union ist der schöne Begriff der Silver Economy geprägt worden, der silberne Markt. Schon heute bestreiten die über 60-Jährigen ein Drittel des privaten Konsums in Deutschland. Das sind allein 316 Milliarden Euro. Wenn wir uns die Haushalte der 75-Jährigen und Älteren in Deutschland anschauen, dann stellen wir fest, dass diese Gruppe in den letzten zehn Jahren ihren Gesamtkonsum von 40 Milliarden Euro auf 80 Milliarden Euro erhöht hat. Da ist ein ganzes Segment von Produkten und Dienstleistungen, das wir besser ausschöpfen können. Wir sollten uns sputen, dies zu tun, ehe andere Länder erkennen, welches Potenzial in diesem silbernen Marktsegment liegt. Schließlich wird es in einer Gesellschaft des langen Lebens zwei Währungen geben: nicht nur die des Euro, sondern auch die der sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Angesichts der Tatsache, dass sich in den nächsten 40 Jahren die Anzahl der über 80-Jährigen verdreifachen wird und viele davon kinderlos sein wer8062 den, müssen wir heute über soziale Netze nachdenken. In der Pflege gilt auch das, was für Kinder gilt. Eine moderne Gesellschaft mit einem menschlichen Gesicht muss Zeit für gute Arbeit, aber auch Zeit für Fürsorge gleichmäßig auf alle verteilen. Das heißt, die Pflege der älteren Generation wird nicht allein auf den Schultern der Töchter bleiben können. Söhne werden sich Zeit für Pflege nehmen, und junge Alte werden sich verstärkt um hochbetagte Alte kümmern. Wir werden ein neues Dreieck der Pflege zwischen Familie, Ehrenamtlichen und Fachkräften bilden müssen. Deshalb haben wir heute bei der Verabschiedung der Gesundheitsreform - das begrüße ich gerade als Seniorenministerin - bewusst mehr Leistungen für Palliativmedizin, für Schmerztherapie und für Hospize beschlossen. ({4}) Der Gedanke des zivilgesellschaftlichen Einsatzes der älteren Generation liegt den generationenübergreifenden Freiwilligendiensten zugrunde, die nach dem Prinzip des freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres gestrickt sind. Das ist ursprünglich ein Angebot für junge Menschen, das auf die ältere Generation übertragen wird. Wir dürfen nicht mehr erwarten, dass man sich nach dem Arbeitsleben in das Privatleben zurückzieht; vielmehr sollte man sich dann in eine andere aktive Phase aufmachen. Ich denke zum Beispiel an ehrenamtlichen Einsatz. ({5}) Im Altenbericht ist von Netzwerken die Rede, und gemeint sind damit die Familien, in denen ältere Angehörige nicht nur gepflegt werden, sondern vorher selbst vielerlei Unterstützung erfahren und leisten. Gemeint sind aber auch neue Netzwerke: in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in der Kommune. Unsere Aufgabe ist es heute, die Strukturen dafür zu schaffen, zum Beispiel durch die Bildung von Mehrgenerationenhäusern. Der fünfte Altenbericht macht deutlich: Das Alter hat Potenzial. Unsere Aufgabe ist es, dieses Potenzial zu entwickeln. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die demografische Entwicklung ist die zentrale politische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, weil sie in sämtliche Lebensbereiche der Bürger eingreift. Weder lässt sich diese Entwicklung verhindern noch wesentlich abschwächen. Die FDP begrüßt es außerordentlich, dass die Bundesregierung sich nach langem Zögern mit dem seit August 2005 vorliegenden Bericht befasst hat. Wir begrüßen es noch mehr, dass sich der Deutsche Bundestag nun endlich auch mit dem fünften Altenbericht beschäftigt. Leider wird es zur Gewohnheit, dass die Altenberichte erst jahrelang anstauben, bevor sie diskutiert werden, was weder dem Inhalt der Berichte noch der Bedeutung des Themas gerecht wird. Schwerpunkt des Berichts sind die speziellen Herausforderungen, mit denen sich die alternde Gesellschaft befassen muss. Wir diskutieren bereits die Auswirkungen, Stichwort „Rente mit 67“. Es ist aber zu kurz gegriffen, wenn die Regierung auf der einen Seite Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme mit dem demografischen Wandel begründet, ({0}) auf der anderen Seite Denkansätze im fünften Altenbericht, die Perspektiven für die Gestaltung des demografischen Wandels bieten, nicht diskutiert. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist unglaubwürdig, wenn Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände den Renteneintritt mit 67 begrüßen und es gleichzeitig in den Managementetagen eine generalistische Vorgehensweise gibt, Ältere noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen einzuladen. ({1}) Die Anerkennung und Akzeptanz des Leistungsvermögens der älteren Generation ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Medien, Verbänden, und sie ist insbesondere eine Aufgabe jedes einzelnen Bürgers. Wir alle sind gefordert, uns auf ein höheres Lebensalter, als es frühere Generationen erwarten konnten, einzustellen. Das Schlüsselwort für unsere Zukunft ist meiner Ansicht nach lebenslange Bildung. Wir können nicht erst mit Erreichen des 50. Lebensjahres anfangen, darüber nachzudenken, wie es weitergehen könnte. Schon in sehr jungen Jahren muss die Erziehung zur körperlichen Leistungsfähigkeit und gesunden Lebensführung eine Selbstverständlichkeit werden. Der Sportunterricht als Sparbüchse der Bildungspolitik muss einen neuen Stellenwert bekommen. Körperliche Betätigung von Jugend an führt zu körperlicher Leistungsfähigkeit auch im höheren und hohen Alter. Aber auch das lebenslange Lernen als Selbstverständlichkeit in einer lebendigen Gesellschaft muss unser Ziel sein. Hier leisten beispielsweise die Volkshochschulen Hervorragendes. Aber auch die Tatsache, dass immer mehr Rentner studieren, zeigt, dass Bildung ein Anspruch des Alters sein kann. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem bürgerschaftlichen Engagement zu, das geradezu ein Lebensmodell für die ältere Generation sein wird. Es ist gerade dann sinnvoll, wenn es den Kontakt zu jüngeren Generationen herstellt. An dieser Stelle wird auch das Konzept von Mehrgenerationenhäusern ansetzen, die ja gerade den Zweck haben, eine Begegnungsstätte für Alt und Jung zu sein und beispielsweise Bildungsaktivitäten zu vernetzen. Das von der Kommission geforderte neue Leitbild des produktiven Alterns umzusetzen, ist dringend nötig. Erst wenn das Altersbild in den Köpfen wieder der Realität entspricht, wird es möglich sein, den demografischen Wandel positiv zu gestalten. Besonders die Medien müssen sich mit mehr Fingerspitzengefühl dem demografischen Wandel nähern. Schreckensszenarien, es käme zu einem „Aufstand der Alten“ oder zu einem „Generationenkrieg“, sind nach meinem Dafürhalten absurd. ({2}) Wichtig ist die Erkenntnis, dass der demografische Wandel Veränderungen mit sich bringen wird, von denen alle Bereiche der Gesellschaft betroffen sind und denen wir uns stellen müssen. Der FDP kommt es nicht nur darauf an, Risiken und Gefahren einer Überalterung zu erkennen, sondern auch darauf, die Potenziale des Alters zu benennen und Visionen für die spätere Lebenszeit zu entwickeln. Hierzu gehören sowohl im Dienstleistungsals auch im Konsumbereich neue Angebote, die auf die spezifischen Bedürfnisse einer älteren Generation ausgerichtet sind und neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen. Wenn wir im demografischen Wandel bestehen wollen, müssen wir akzeptieren, dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind ({3}) und dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit 50 enden. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rot-grüne Bundesregierung hat den fünften Altenbericht in der letzten Legislaturperiode richtigerweise unter das Motto „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“ gestellt. Dies eröffnet endlich eine neue, eine positive Perspektive auf das Alter. Der Bericht gibt uns wegweisende Handlungsempfehlungen und bietet damit eine gute Grundlage, den demografischen Wandel aktiv anzugehen und die Gesellschaft für neue Altersbilder - weg von der Gebrechlichkeit, hin zum vollen Leben - zu sensibilisieren. ({0}) Vieles in diesem Altenbericht war und ist neu - auch die Informationspolitik im Vorfeld. Unsere ehemalige Ministerin Renate Schmidt hat erstmals dafür gesorgt, dass nicht nur die Fachöffentlichkeit, sondern alle interessierten Seniorinnen und Senioren schon frühzeitig über die Themenfelder informiert wurden und mitdiskutieren konnten. Der Bericht hat dadurch bereits im Vorfeld ein Vielfaches der Aufmerksamkeit erfahren, die bisherige, nicht minder wichtige und gute Berichte hatten. Als Landesvorsitzende der bayerischen SPD-Seniorenarbeitsgemeinschaft 60 plus bin ich mir dessen sehr bewusst, dass das finanzielle Auskommen der Senioren ebenso wie ihre soziale Absicherung und die Gesundheitsversorgung von zentraler Bedeutung sind. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass es dem Thema nicht zuträglich ist, die Diskussion der Situation Älterer zum Beispiel auf das Renteneinstiegsalter zu reduzieren. Denn der Bericht zeigt, dass es hierzu sehr unterschiedliche Stellungnahmen gibt. Der fünfte Altenbericht macht deutlich, dass die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt eine logische Konsequenz des demografischen Wandels ist und bisher sträflich vernachlässigt wurde. ({1}) Dabei ist - wie das Grünbuch der EU zum demografischen Wandel zeigt - die Alterung der Gesellschaft ein Thema in ganz Europa. Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind unverzichtbar für die Gestaltung einer humanen Arbeitswelt, aber auch für wirtschaftlichen Erfolg. ({2}) Leider beschäftigen aber zurzeit 41 Prozent der Betriebe keine Menschen mehr, die älter als 50 Jahre sind. Sie tun das, weil es sich für sie über Jahre hinweg gelohnt hat, ältere Mitarbeiter frühzeitig in die Rente oder in die Arbeitslosigkeit zu schicken. ({3}) - Diese Praxis, liebe Frau Lenke, hat in einer schwarzgelben Koalition ihren Ursprung und ist nicht zukunftstauglich. Mit der Forderung in Ihrem Entschließungsantrag - auch das betrifft Sie, Frau Lenke -, den Kündigungsschutz für Ältere zu reduzieren, setzen Sie sich, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP, über eine gegenteilig lautende Handlungsempfehlung des fünften Altenberichts hinweg. Zudem kann ich Ihnen bei der Behauptung, dass ein Schutz eine Benachteiligung sei, schon rein logisch nicht folgen. Bildung ist übrigens die Schlüsselkategorie, auch im hohen Lebensalter. ({4}) „Was hat den größten Einfluss auf Gesundheit?“, fragte uns Herr Professor Kruse, der Vorsitzende der Altenberichtskommission, im Ausschuss. „Bildung“ war die Antwort. Im fünften Altenbericht wird eindrucksvoll aufgezeigt - Stichwort: lebenslanges Lernen -, dass Investitionen seitens der Betriebe in die Weiterbildung auch älterer Menschen in höchstem Maße effektiv sind. Durch die gezielte Weiterbildung älterer Arbeitnehmer wird die Zahl der Frühverrentungen gesenkt, eine bessere Ruhe8064 Angelika Graf ({5}) standsfähigkeit bewirkt und der ökonomische Output erhöht. Der fünfte Altenbericht macht deutlich: Die Investitionen kommen dreifach zurück. Ich begrüße deshalb außerordentlich, dass der Bundesminister für Arbeit, Franz Müntefering, diese Bevölkerungsgruppe mit der Initiative „50 plus“ und weiteren Beschäftigungsprogrammen verstärkt auf die Agenda des Ministeriums setzt. ({6}) Zudem wurden im fünften Altenbericht zum ersten Mal bislang eher vernachlässigte Bevölkerungsgruppen ins Auge genommen. Neben älteren Homosexuellen, die sich vielfach aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte und der Tatsache, dass sie selten Kinder haben, in einer speziellen Lebenslage befinden, sind in diesem Altenbericht erstmals auch ältere Migrantinnen und Migranten berücksichtigt worden. Beide Bevölkerungsgruppen geben der sogenannten Bevölkerungsmehrheit interessante Hinweise auf das eigene Altern. Kinderlose ältere Menschen wissen um die Bedeutung, auch das nichtfamiliäre soziale Netzwerk über die Lebensspanne hinweg zu pflegen. Die Perspektive älterer Migrantinnen und Migranten ist für eine realistische Altenhilfe- und Zuwanderungspolitik wertvoll. Dadurch, dass in den Berichtsauftrag zum ersten Mal das Altwerden in der Fremde aufgenommen wurde, haben wir für unsere politische Arbeit sehr wichtige Erkenntnisse darüber gewonnen, dass unsere ausländischen Mitbürger zum Teil unter schwierigeren oder zumindest spezifischen Bedingungen altern, die dringend noch weiter erforscht werden müssen. Der fünfte Altenbericht ist ein Sprachrohr von bislang ungehörten älteren Menschen. Er macht deutlich, dass Seniorinnen und Senioren nicht nur einfach Alte sind, die angeblich überdurchschnittlich reich oder unterdurchschnittlich gesund sind. Er ruft uns auf, zu differenzieren: bei der Einkommenslage, beim ehrenamtlichen Engagement, bei der Wirtschaftskraft und beim Renteneintrittsalter. Das Alter und das Altern sind individuell und haben viele Gesichter. Für ein individuelles Altern müssen wir auf allen Gebieten der Seniorenpolitik wie auf allen anderen betroffenen Politikfeldern die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. ({7}) Für mich heißt dies auch, den älteren Menschen vielfache und vielleicht bislang noch nicht bedachte Möglichkeiten der Teilhabe zu ermöglichen. Neues soziales Engagement, neue Teilzeitarbeitstätigkeiten und neue Bildungsmaßnahmen müssen geschaffen werden, um die Potenziale der Älteren heben zu können. Lebenslanges Lernen ist eines der wichtigen Stichworte, das aber noch mit Fleisch gefüllt werden muss. Das verstärkte Nutzen der Chancen und Potenziale erfordert allerdings eine gezielte Zusammenarbeit der Älteren mit allen ihnen nützlichen Akteuren. Ich fordere deshalb insbesondere die ältere Generation auf, sich stärker in das öffentliche Geschehen einzubringen. Die Entwicklung seniorengerechter Produkte, die Etablierung der Seniorenwirtschaft und andere Potenziale des Alters gelingen, wie im fünften Altenbericht beschrieben wird, nicht ohne die gezielte Thematisierung durch die ältere Generation. Wie sagte Marcus Tullius Cicero im Jahre 73 vor Christi Geburt - ich zitiere selten, aber dieser Satz ist wirklich schön -: Nicht das Alter ist das Problem, sondern unsere Einstellung dazu. ({8}) - Cicero hat immer recht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wachsende Zahl der älteren Menschen und die veränderten Vorstellungen vom Alter, die sich von Versorgung und Pflege bis hin zu Selbstbestimmung und Eigeninitiative wandeln, bedürfen neuer Bilder vom Alter und ein Umdenken in der Politik. Nicht die ältere Generation hat ein Problem mit dieser Gesellschaft und der Politik. Nein, Ihre Politik - wir reden heute über den Bericht der Bundesregierung - hat ein Problem im Umgang mit einer stark wachsenden, sehr selbstbewussten und aktiven älteren Generation. Allein die Vielfalt der Namen für diese Generation ist ein Beleg dafür, wie hilflos Politik und Wirtschaft letztlich sind. Sie heißen Golden Oldies oder Generation Gold, Silver Consumer, Best Ager, Master Consumer, Woopies - Abkürzung für Well-off older People - oder gar Selpies, die Second Life People. Das ist eine tolle Kreativität, die jedoch ein ganz abruptes Ende findet, wenn es in der Politik um konkrete Alternativen für diese älteren Menschen gehen soll. Frau von der Leyen, Sie haben hier von Haushaltszahlen in Milliardenhöhe gesprochen. Nun frage ich Sie: Wie viel Unverfrorenheit muss man als Sozialdemokrat und als Christlich-Sozialer, die sich, wie ich gestern gehört habe, angeblich auf ihre Werte beziehen, eigentlich besitzen, um, wie es seit geraumer Zeit geschieht, den jüngeren und den älteren Menschen in diesem Lande ein schlechtes Gewissen einzureden, indem man sie für eine verfehlte Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verantwortlich zeichnen will? ({0}) Vor gut drei Stunden - das Wort schwebt in der Marienkirche noch in der Luft - hat Bischof Huber gesagt: Gemeinwesen und Gemeinwohl sind uns Christen als Auftrag mit auf den Weg gegeben. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. ({1}) - Ich weiß, Herr Singhammer, Bischof Huber ist ein Protestant. Sie als Katholik halten nicht so viel davon. ({2}) Sie tolerieren Horrorszenarien, schüren Angst mit Blick auf das Leben in der Zukunft und wollen bei über 4 Millionen Arbeitslosen - von der Zahl der verdeckten Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen - glauben machen, dass mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre viele Probleme gelöst werden, obwohl das völlig an der Realität vorbeigeht. Welch ein Zynismus! ({3}) Eiskalt kehren Sie unter den Teppich, was Sie von Ihren ehemals gemachten Wahlversprechungen einhalten, dass Sie von diesen meilenweit entfernt sind. Sie schämen sich auch nicht, einzugestehen, dass Ihnen die Courage fehlt, politischen Willen für wirkliche Reformen im Interesse der Menschen aufzubringen. Aus Ihrem Munde kommend werden Begriffe wie „Demokratie“ und „Solidarität der Generationen“ zur Farce. ({4}) - Das ist die Realität. - Sie haben keine Beziehung mehr zur wahren Demokratie. Sie handeln als Volksvertreter eigenverantwortlich im Sinne des Wortes „eigen“ und ohne Eingriffsmöglichkeiten durch das Volk. Sie alleine, meine Damen und Herren der Koalition und der Regierung, tragen die politische Verantwortung für den von Ihnen produzierten Zeitgeist. Das Resultat werden Sie irgendwann bekommen, wenn die 70 Prozent, die Sie gewählt haben, merken, dass sie zu über 92 Prozent belogen wurden und werden. ({5}) Sie schüren mit Ihrer Politik offensichtlich und bewusst - das hat die heutige Debatte über die Gesundheitsreform auch gezeigt - Angst, Sorge, Unsicherheit und Verzweiflung. ({6}) Menschen, vor allem Kinder und Ältere, brauchen für eine gesunde Entwicklung Sicherheit und Geborgenheit. Wenn sie Sicherheit und Geborgenheit haben, dann erfüllen sich junge Familien auch Kinderwünsche. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzen Sie allerdings, der Tradition folgend, Ihre unsoziale Politik und eine bereits gescheiterte Rentenpolitik fort. Der Perversitäten nicht genug: Heute Morgen haben Sie mit Ihrer Gesundheitspolitik noch einen draufgesetzt. Sie missbrauchen und instrumentalisieren die Sozial-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik für eine Politik gegen die Menschen, weil Sie einzig und allein der Logik der Finanzmärkte folgen. Es ist Ihnen auch nicht zu schade, die vorhandenen Sicherungssysteme wissentlich aufzuweichen, indem Sie sich nach und nach von der öffentlichen Daseinsvorsorge verabschieden und an das bürgerschaftliche Engagement sowie an die Eigeninitiative der Einzelnen, insbesondere der Älteren, appellieren. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie eine Politik verfechten, die vor allem wirtschaftspolitisch und interessengeleitet ist und zum Nutzen des globalen Wettbewerbs allein die private Vorsorge als Alternative anbietet. ({7}) Wir lehnen eine solche Entsolidarisierung in der Gesellschaft genauso ab wie eine Dramatisierung der demografischen Entwicklung und eine Stigmatisierung des Alters als Katastrophenfall. ({8}) Ich zitiere einmal den Präsidenten des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts und Professor für Volkswirtschaft an der Uni Hamburg, der im „Rheinischen Merkur“ gesagt hat: Es ist lebensverachtend, die demografische Alterung als gesellschaftliches Problem zu bezeichnen. ({9}) Es macht schon Mühe, politische Ansätze und Alternativen zu entwickeln, durch die die Erfahrungen, Kompetenzen und Ansprüche auch und besonders der älteren Generation eingebunden werden. Deshalb ist es für mich umso verwerflicher, dass die Bundesregierung die Vorschläge der Altenberichtskommission in großen Teilen ignoriert. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie sich als Koalition und Regierung immer mehr von dem außerparlamentarischen Sachverstand und der Meinung aus dem Volk entfernen. Für meine Fraktion kann ich mit Blick auf den fünften Altenbericht nur fordern: Eine vorausschauende Seniorenpolitik braucht ein realistisches Altenbild. Das Altenbild der Linkspartei ist davon bestimmt, dass heute Menschen nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben länger als früher aktiv und gesund sind. Trotz möglicher Einschränkungen bleibt eine höhere Lebenserwartung ein großer zivilisatorischer Wert; sie ist erstrebenswert. ({10}) Alter ist für uns ein Lebensabschnitt mit eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen, der nicht auf Begriffe wie Rente, Pflege oder Kosten reduziert werden darf und an dessen Mitgestaltung Seniorinnen und Senioren aktiv teilhaben sollen. ({11}) Selbstbestimmtes Altern in Würde ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Schutz der Menschenwürde, Recht auf Selbstbestimmung, Verbot der Altersdiskriminierung - diese Prämissen sind längst festgeschrieben: ({12}) im Grundgesetz, in verbindlichen Richtlinien der Europäischen Union und in zahlreichen Erklärungen nationaler und weltweit agierender Seniorenverbände. Es erfüllt mich deshalb mit Sorge, dass die Bundesregierung fortfährt, durch ihre unsoziale Politik die Grundlagen dafür zu untergraben und die Altersarmut zu einer ernst zu nehmenden Gefahr für die Zukunft zu machen. Aber irgendwann - da bin ich mir sicher - wird auch hier die Realität Sie einholen. Da Frau Graf schon so schön zitiert hat, spare ich mir das heute. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Herr Staatssekretär Thönnes - auch Ihr Ministerium ist ja berührt, wenn wir über das Thema „ältere Menschen“ und über die Potenziale der Menschen im Alter reden -, ich beginne mit dem, was uns sicherlich eint. Aus meiner Sicht ist es höchste Zeit, sich mit der Vielfalt des Alters zu beschäftigen und sich gerade mit den Potenzialen und den Chancen des Alters auseinanderzusetzen. Die jüngsten Medienberichterstattungen haben gezeigt, dass wir hier alle gefordert sind, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und auch die anderen Fraktionen im Hause. Es ist jetzt anderthalb Jahre her, dass der Altenbericht fertiggestellt und der Bundesregierung übergeben wurde. Frau Ministerin und Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Warum hat es eigentlich so lange Zeit gedauert, bis Sie dem Parlament und den entsprechenden Ausschüssen die Ergebnisse des fünften Altenberichts vorgelegt haben? Fehlt Ihnen der Mut für eine konsequente Umsetzung der Erkenntnisse, die im Altenbericht von allen Expertinnen und Experten eindeutig formuliert worden sind, oder wissen Sie nicht, wie Sie die notwendigen Veränderungen in Politik und Gesellschaft bewirken sollen? Gerade vor dem Hintergrund so mancher öffentlichen Diskussion und Medienberichterstattung, die ein Bild vom Alter zeigen, das von Düsterkeit, Krankheit und Einsamkeit geprägt ist, ist es umso wichtiger, dass wir als Deutscher Bundestag - damit auch die die Bundesregierung tragenden Fraktionen - diesem Bild endlich etwas entgegensetzen. ({0}) Es muss uns doch zu denken geben, dass nach Umfragen und Studien gerade die Menschen hier bei uns in Deutschland diejenigen sind, die am meisten Angst vor dem Alter haben. In einer kürzlich erschienen Umfrage erklärte sogar jede dritte bzw. jeder dritte Befragte, lieber den Freitod wählen als zum Pflegefall werden zu wollen. Das ist - das gebe ich zu - ein absolut drastisches Beispiel, aber es zeigt eben einen Aspekt des Alters. Es ist dringend geboten, dass wir uns damit auseinandersetzen, vor allem auch damit, wie weit verbreitet die Unsicherheit beim Thema Älterwerden in dieser Gesellschaft ist. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt reicht völlig aus, um zum Teil zu verstehen, warum das so ist. Hier wie in Unternehmen glaubt man immer noch, mit 50 Jahren verliere man schlagartig die Leistungsbereitschaft und die Innovationskraft. Denn anders ist es doch nicht zu erklären, dass jemand, der mit 55 Jahren zum Arbeitsamt geht, eigentlich überhaupt keine Chance auf Vermittlung mehr hat und jemand, der mit 50 oder 55 Jahren eine Weiterbildungsmaßnahme beginnen will, eher fragend angesehen als unterstützt wird. Die unglaubliche Jugendzentriertheit der Unternehmen hält nach wie vor an, auch wenn wir seit längerer Zeit darüber diskutieren und diesen Zustand beklagen. Es ist eine unglaubliche gesellschaftliche Ausgrenzung älterer Menschen, die besonders unverständlich ist angesichts des demografischen Wandels und der eigentlich völlig klar auf der Hand liegenden Notwendigkeit, dass auch ältere Menschen als Fachkräfte gebraucht werden. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung werden in Zukunft immer weniger junge Menschen mit immer mehr älteren Menschen zusammenleben. Darauf werden wir uns einzustellen haben. An dieser Stelle sind wir nicht mehr einer Meinung. Ich finde, es reicht nicht, dass Sie in Bezug auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen in diesem Bereich seit anderthalb Jahren immer, wenn wir über dieses Thema sprechen, die Initiative „50 plus“, die schon in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht wurde, oder die Mehrgenerationenhäuser zum Allheilmittel erklären. Hier ist aus meiner Sicht die Bundesregierung gefordert, systematisch alle Politikfelder daraufhin durchzugehen, wo Diskriminierung von alten Menschen wirksam entgegengewirkt werden kann, mit unterschiedlichen Maßnahmen, die wir in diesem Haus auf den Weg bringen. ({1}) Meine Damen und Herren, der Auftrag, den die rotgrüne Bundesregierung noch in der letzten Legislaturperiode an die Kommission zur Erstellung des Altenberichts stellte, lautete, ausdrücklich die sogenannte Habenseite des Alters zu betrachten: Was ist möglich, wo liegen Stärken und Potenziale alter und älterer Menschen? - Wir reden ja nicht über eine homogene Gruppe. Wir reden über Menschen ab 60, die vielleicht 90 Jahre alt werden, und sprechen mittlerweile längst über einen dritten und vierten Lebensabschnitt. Wir reden nicht über eine Gruppe von Menschen, die einfach alt ist und einem bestimmten stereotypen Bild entspricht. Was stellt sich heraus - und verwundert eigentlich niemanden, wenn man einmal links und rechts von sich schaut? Ältere Menschen sind wichtige Stützen familiärer Netzwerke und sozialer Netze. Ihr bürgerschaftliches Engagement in dieser Gesellschaft ist kennzeichnend. Ihr Erfahrungswissen und Innovationspotenzial nicht nur am Arbeitsmarkt sind unerlässlich für diese Gesellschaft. ({2}) Ihr Einfluss als Konsumenten und Konsumentinnen ist schon jetzt prägend. Sie sind - das ist völlig klar - ein aktiver Bestandteil dieser Gesellschaft. Dabei spielen für das Leben im Alter viele Faktoren eine Rolle. Hierzu gehören etwa ein über die Jahre geführter gesunder Lebensstil, aber auch das Interesse oder die Verpflichtung - auch darüber werden wir diskutieren müssen - zur Weiterbildung, Qualifikation und Bildungspotenzialentwicklung. Die geringste Rolle in der Wahrnehmung älterer Menschen in dieser Gesellschaft spielt heutzutage eigentlich das Erreichen der Altersgrenze. Menschen mit sozialen Kontakten, sei es über Familie oder andere Netzwerke, sind und bleiben aktiv eingebunden in dieser Gesellschaft und werden das auch nicht aufgeben wollen, nur weil sie eine bestimmte Altersgrenze erreicht haben. Die Chance auf Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Leben beanspruchen wir alle ganz selbstverständlich für uns. Das sollten wir natürlich auch allen anderen Menschen ermöglichen, egal wie alt sie sind. ({3}) Deshalb ist es umso bedeutender, dass wir uns endlich mit der Vielfalt des Alters, mit den Potenzialen und Chancen beschäftigen. ({4}) Wir werden gleich in der Aktuellen Stunde auch noch die andere Seite des Alters, nämlich die Pflegebedürftigkeit und die Hilfe und Unterstützung, die Menschen in dem Lebensabschnitt des Alters brauchen, diskutieren. Aber ich fordere Sie an dieser Stelle auf, mit konkreten Maßnahmen über die Initiative „50 plus“ und die Mehrgenerationenhäuser hinaus jetzt endlich aktiv zu werden und deutlich zu machen, dass wir die Potenziale alter Menschen in dieser Gesellschaft brauchen.Ich glaube, es muss Schluss sein mit den Sonntagsreden. Wir müssen endlich etwas tun. Deshalb haben wir heute einen Antrag vorgelegt. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Blumenthal von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Haßelmann, Sie sprachen Ihren Antrag an. Ich habe ihn mir sehr aufmerksam durchgelesen. Ihre wegweisenden Worte - das muss ich deutlich sagen - habe ich dort nicht wiedergefunden. ({0}) Ich freue mich, dass wir im Ausschuss gemeinsam darüber diskutieren können. Vielleicht kommen wir dann zu gemeinsamen Erkenntnissen. Ich verstehe die Einbringung des Berichtes heute als eine Aufforderung, uns damit hinterher ganz intensiv auseinanderzusetzen. In der letzten Legislaturperiode, als die Fraktion der Grünen der Regierungskoalition angehörte, gab es lange Diskussionen. Ich erinnere mich auch an Gemeinsamkeiten; das sollten wir hier nicht einfach so beiseiteschieben. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass wir uns darüber nur streiten sollten. ({1}) Man kann unterschiedliche Sichtweisen haben, aber man sollte doch versuchen, einen gemeinsamen Weg zu finden. Auf Herrn Wunderlich möchte ich gar nicht eingehen. Ich hatte den Eindruck, er hat heute die falsche Rede, jedenfalls keine zum fünften Altenbericht, herausgezogen. ({2}) - Ganz ruhig! Hören Sie erst einmal zu. Der fünfte Altenbericht verfolgt das Ziel, die von finanziellen und gesundheitlichen Argumenten geprägte Diskussion des demografischen Wandels neu zu justieren und sie, anders als bisher, an den Chancen und Möglichkeiten dieses Wandels auszurichten. Auf wissenschaftlich fundierter Basis hat die Altenberichtskommission die „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“ aufgezeigt. Sie gibt uns, der Politik, Handlungsempfehlungen mit auf den Weg, damit diese Potenziale genutzt und unterstützt werden können. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels geht der fünfte Altenbericht den grundlegenden Fragen nach, welche Rolle ältere Menschen im solidarischen Miteinander der Generationen derzeit spielen, und vor allem, welche Rolle sie in Zukunft spielen können. Allein diese Fragestellung sollte uns deutlich vor Augen führen, welchen tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen wir uns gegenübersehen, und zwar nicht nur aus demografischer Sicht. Weil aber der Anteil derjenigen, die 60 Jahre und älter sind, im Jahr 2050 bei etwa 40 Prozent liegen wird, tun wir gut daran, bis dahin unsere Hausaufgaben gemacht zu haben. Dann müssen wir nämlich Antworten auf die Frage haben, wie wir erreichen können, dass die Erfahrungen, das Wissen und Engagement älterer Menschen wieder ganz selbstverständlich zum Arbeits- und Familienleben gehören. In Deutschland sind heute gerade noch vier von zehn Men8068 schen im Alter von 55 bis 64 Jahren erwerbstätig. In vielen Betrieben gibt es keine Beschäftigten, die älter als 50 Jahre sind. Die Zahl der älteren Langzeitarbeitslosen, aber auch die der Vorruheständler sprechen eine deutliche Sprache. Ich denke, hier sind wir uns einig: Das kann nicht der richtige Weg sein. ({3}) Wenn der Anteil der Menschen mit höherem Lebensalter steigt und der Anteil jüngerer Menschen gleichzeitig rückläufig ist, dann kommen wir nicht umhin, dass ältere Menschen zu einer gesellschaftlichen Komponente werden. Die Lebensphase des Alters kann und darf deshalb keinesfalls länger mit Unproduktivität und Krankheit gleichgesetzt werden. Wir können es uns aus vielfältigen Gründen schlichtweg nicht leisten, auf die Potenziale des Alters zu verzichten; aber genau das tun wir zurzeit. Der fünfte Altenbericht hält fest, dass die Potenziale noch viel zu wenig erkannt und genutzt werden. Solange ältere Menschen lediglich als eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme wahrgenommen werden, solange sich die übrige Gesellschaft vor allem auf ihre Schwächen und auf körperliche Alternsprozesse konzentriert und solange die Fähigkeiten, die Wünsche und das Engagement Älterer nicht angemessen berücksichtigt werden, müssen wir daran arbeiten, ein neues Bild des Alterns nicht nur zu entwerfen, sondern es auch in den Köpfen der Menschen zu verankern. Ich denke, der fünfte Altenbericht leistet einen hervorragenden Beitrag dazu, ein neues Altersbild in der Gesellschaft zu verankern. Der Bericht konzentriert sich auf die Analyse der zentralen altersrelevanten Themen und gibt uns ganz konkrete Handlungsempfehlungen. Als eine Grundlage der besseren Nutzung der Potenziale des Alters sehen wir die Erkenntnis an, dass die allermeisten Beiträge, die ältere Menschen zum Gemeinwohl leisten und in Zukunft leisten werden, auf freiwilliger Basis geschehen. Wenn wir von einer besseren Nutzung der Potenziale sprechen, müssen wir uns vor Augen führen, dass ältere Menschen in der Regel schon ein arbeitsreiches Leben hinter sich haben. Wie bereits während des Arbeitslebens leisten sie auch nach der Erwerbszeit in erheblichem Umfang freiwillige und vor allem gemeinwohlorientierte Tätigkeiten. Sie engagieren sich in den traditionellen Ehrenamtsfeldern Sport, Kirche und soziale Organisationen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass zukunftsweisende Formen des Engagements erprobt und entwickelt werden, Formen, die innovative Antworten auf die Herausforderungen der Zeit und der demografischen Alterung geben. Denn nicht nur in Deutschland festigt freiwilliges Engagement den Zusammenhalt der Generationen. Diese Freiwilligkeit ist für uns ein zentraler Baustein des neuen Altersbildes. Deshalb werden wir uns für eine weitergehende Förderung des Ehrenamtes einsetzen. ({4}) Im generationenübergreifenden Engagement können Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden, in denen die Generationen die Rollen der Wissensvermittler und der Lernenden einnehmen - und das in beide Richtungen oder, besser gesagt, wechselseitig. Dabei ist es besonders wichtig, dass die bislang bildungs- und engagementfernen Gruppen näher an das bürgerliche Engagement herangeführt werden. Ein weiterer zentraler Aspekt des fünften Altenberichtes ist das lebenslange Lernen. Durch lebenslang anhaltende Bildungsprozesse können wir nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit verbessern, sondern gleichzeitig die individuelle Beschäftigungsfähigkeit der Menschen erhalten. Außerdem tragen lebenslanges Lernen bzw. Bildung ganz allgemein zu mehr Freiheiten und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, und zwar ganz besonders im Alter. Wir werden uns deshalb dafür einsetzen, die Erwachsenenbildung - vor allem die von geringer qualifizierten Menschen - besser als bisher zu fördern. Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen. Wir sind der Ansicht, dass eine Schwierigkeit hinsichtlich der heute geltenden gesetzlich festgeschriebenen oder tariflich festgesetzten Altersgrenzen besteht und wir diese beseitigen müssen. ({5}) Denn wir können nicht sagen, dass Menschen, die ein bestimmtes Alter erreichen, ganz bestimmte Berufe nicht mehr ausüben dürfen, obwohl sie nach wie vor dazu in der Lage sind. ({6}) Wir sind der Meinung, dass solche Altersgrenzen unzeitgemäß und diskriminierend sind. Deswegen werden wir uns im Ausschuss ganz intensiv damit auseinandersetzen müssen. ({7}) Der fünfte Altenbericht macht aber auch deutlich, dass der demografische Wandel in absehbarer Zeit zu einer deutlichen Verschiebung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen führen wird. Bis heute tut sich die Wirtschaft leider noch relativ schwer, ältere Menschen als eigenständige Zielgruppe anzusprechen. Die Wirtschaftskraft und die Konsumwünsche älterer Menschen werden bislang kaum berücksichtigt. Glücklicherweise fangen die Unternehmen mittlerweile an, zu erkennen, dass die Märkte für ältere Menschen, die sogenannten Silbermärkte, ein ganz enormer Wirtschaftsfaktor sind. Die Erschließung dieser Silbermärkte kann nicht nur zu mehr Wirtschaftswachstum und einer besseren Befriedigung der Nachfrage führen, sondern erhöht auch die Chancen der Schaffung neuer Arbeitsplätze für jüngere und ältere Menschen. Deshalb müssen die Zukunftsmärkte der Generation 60 plus erschlossen und die Unternehmen dafür sensibilisiert werden. Meine Damen und Herren, wenn man sich den fünften Altenbericht anschaut, sieht man sich einer Vielzahl von Ergebnissen und Handlungsempfehlungen gegenüber, die der Politik einen klaren Weg aufzeigen. Ich persönlich nehme aus diesem Bericht vor allem eine Schlussfolgerung mit: Solange sich das Bild des Alters, das wir alle noch in den Köpfen haben, nicht verändert, werden alle Vorhaben nur mit halber Kraft ausgeführt. Deshalb sollten wir alle gemeinsam anfangen, nicht nach dem Motto „Alt sind nur die anderen“ zu denken, sondern uns den Problemen zu stellen und die Chancen und Potenziale des Alters zu nutzen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Graf, ich würde Sie gerne ansprechen, weil ich mit dem, was Sie zur Frühverrentung ausgeführt haben, nicht einverstanden bin. Die rot-grüne Bundesregierung hat das Ende der Frühverrentungsregelung auf das Jahr 2010 verschoben. Wenn Sie nun beklagen, dass die Unternehmen Ältere nicht in ihren Unternehmen belassen, dann müssen Sie ehrlicherweise sagen, dass die Politik der Großen Koalition dazu beiträgt. ({0}) - Ich will ja nur meine Meinung dazu sagen. ({1}) - Ich will Sie aufklären, warum ich gerade dazwischengerufen habe. Ihnen ist sicherlich bekannt, dass aufgrund der Verlängerung der Frühverrentungsmöglichkeit im Jahr 2005 Hunderttausende Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Das hat 1 Milliarde Euro gekostet. Frau von der Leyen, es wäre besser gewesen, wenn wir diese 1 Milliarde Euro in Krippenplätze in den Städten und Gemeinden investiert hätten, anstatt ältere Menschen von der Arbeit fernzuhalten. ({2}) Hierin ist - das müssen wir ganz selbstkritisch sagen eine Ursache zu sehen. Der Altenbericht belegt, dass der Ruhestand zum Unruhestand werden soll. Als Bürgerin hätte ich angesichts dieser Reden den Eindruck, dass man die Menschen wieder in die Beschäftigung treiben will. Wir müssen immer wieder sagen, dass jeder, der sein Erwerbsleben hinter sich hat, die Freiheit hat, zu entscheiden, was er macht. Wir Politiker müssen ihn vom bürgerschaftlichen Engagement überzeugen; wir dürfen den Älteren kein schlechtes Gewissen machen. Es ist wichtig, dass wir die Kirche im Dorf lassen. ({3}) Ich möchte zum Gender-Mainstreaming kommen. In unserer Gesellschaft herrscht eine starre Rollenverteilung vor. Die Männer arbeiten in der Regel bis zum Ruhestand sehr intensiv, vielleicht auch, um die Familie zu ernähren. Im Alter stellt sich dann die Frage, welche Form bürgerschaftlichen Engagements jemand, der 60 bis 70 Stunden in der Woche gearbeitet hat, in seinem Wohnumfeld erbringen kann. Ich muss sagen: Ein 70-Jähriger kann kein Fußballtrainer in einem Verein mehr sein. ({4}) - Ehrenamtlich! ({5}) Mit 70 Jahren suchen die Männer in unserer Gesellschaft, so denke ich, eine andere Form bürgerschaftlichen Engagements. Es ist die Aufgabe von Kommunalpolitikern, diese Veränderungen zu erkennen. Wir können hier reden, soviel wir wollen; wenn die Kommunalpolitiker nicht mitziehen, ändert sich nichts. ({6}) Die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft sieht anders aus. Frauen - wir alle bedauern das, aber es ist nun einmal so - pflegen nach der Erziehung der Kinder im Alter die hochbetagten Eltern und Schwiegereltern. Ich bedanke mich bei Frau von der Leyen, die sehr deutlich gesagt hat, dass sich diese Aufgabenteilung ändern muss. Wir brauchen professionelle Pflege, familiäre Unterstützung, bürgerschaftliches Engagement und neue Netzwerke. Frau von der Leyen, es bedarf eines neuen Konzeptes. Es wäre gut, wenn Sie entsprechende Initiativen in den Bundestag einbringen würden. Die FDP wird ihre Ideen dazu genauso wie alle anderen Fraktionen in den Bundestag einbringen. Ebenso wie die Grünen haben wir einen Antrag eingebracht. Ich komme zum Schluss. Der fünfte Altenbericht ist es wert, nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Städten, Gemeinden und Landkreisen beraten zu werden. Sonst bleibt alles, was wir heute gesagt haben, eine Worthülse. In meiner Heimatregion will ich gerne dazu beitragen, dass diese Diskussion weitergeführt wird. Es wäre gut, wenn wir alle das machen würden; denn das wäre ein Schritt auf dem Weg in eine fröhliche alternde Gesellschaft. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte hat gezeigt, dass Frau Blumenthal recht hat. Es gibt offensichtlich eine ganze Menge Gemeinsamkeiten. Was die Analyse des demografischen Wandels und seine Auswirkungen betrifft, stimmen wir absolut überein. Lediglich bei den Instrumenten gibt es hier und da unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube, es ist nicht unwichtig, dass wir diese Gemeinsamkeiten bei der Pflege aller Unterschiedlichkeiten hier, im Deutschen Bundestag, herausarbeiten. Es gibt aber auch Grenzen der Gemeinsamkeiten. Herr Wunderlich, ich gestehe Ihnen gerne zu, dass Sie durchaus sympathische Züge haben. Aber ein Auftritt wie Ihrer heute im Deutschen Bundestag ist nahezu unerträglich. ({0}) Wenn Sie uns bescheinigen, keine Beziehungen mehr zur wahren Demokratie zu haben, dann haben Sie die Grenze des Tolerierbaren eindeutig überschritten. ({1}) Lesen Sie bitte einmal Ihre Rede im Protokoll nach. Sie enthält eine Aneinanderreihung von wüsten Unterstellungen und eine Polemik, die man, wenn man sie wortwörtlich und ernst nehmen würde, nicht dulden könnte. Das große Verdienst des Altenberichtes ist - darauf wurde heute schon mehrfach hingewiesen -, dass er einen Schwerpunkt auf die Potenziale des Alters und auf den Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen gesetzt hat. Das ist ein wichtiger Akzent angesichts - darauf hat Frau Laurischk hingewiesen - einer Medienberichterstattung mit Katastrophenszenarios, wie wir sie vor kurzem erlebt haben, aber auch angesichts der gegenteiligen Tendenz, bei der unterstellt wird, der demografische Wandel sei nur ein Vorwand, um ganz bestimmte politische Maßnahmen durchsetzen zu können, er sei sozusagen eine Art gesellschaftspolitischer Popanz. Das wird der tatsächlichen Entwicklung genauso wenig gerecht wie das Katastrophenszenario. ({2}) Es ist eindeutig: Wir werden älter, wir werden bunter, und wir werden weniger. Natürlich gibt es große regionale Unterschiede. Das wird allzu häufig vergessen. Ganz entscheidend - das ist mehrfach unterstrichen worden; deswegen kann ich das relativ kurz fassen - ist das Bild, das wir vom Alter haben. Frau Ministerin, dass sich die Kommission demnächst mit den Bildern vom Alter auseinandersetzen soll, ist ein guter Ansatz, weil er das, was hier vorgelegt wird, vertieft. Manchmal - ich sage Ihnen das ganz offen - finde ich es ja putzig, wie in diesem Haus über meine Generation gesprochen wird, vor allen Dingen, wenn sich jemand zum Anwalt meiner Generation erhebt. Diesen Anwalt wollen wir nicht. Manches ist schon merkwürdig, aber wir sind uns einig: Das Alter ist differenziert zu betrachten. Die Vielfalt ist bereits betont worden. So sehr wir uns hier als Fürsprecher meiner Generation fühlen - ich sage bewusst: meiner Generation -, so überzeugt bin ich davon, dass viele von uns eine politische Sozialisation hinter uns haben und dass wir uns schon um uns selbst kümmern werden. Keine Sorge! ({3}) Viele von Ihnen sind von diesem Alter gar nicht so weit weg. Ich denke, auch Sie werden das dann tun. ({4}) Wir müssen aufpassen: Sicherlich müssen wir die Potenziale, die Stärken der älteren Generation betonen. Allerdings dürfen wir die, wie Professor Kruse im Ausschuss sagte - dieser Begriff hat mir gut gefallen -, Verletzlichkeit der älteren Menschen bis hin zur Pflegebedürftigkeit der Hochbetagten nicht aus dem Auge verlieren. Das gehört zusammen. Ich glaube, wenn wir nur auf die Potenziale, nur auf die Stärken schauen, laufen wir Gefahr, dass wir die Zerrbilder des Jugendwahns auf die ältere Generation übertragen. So etwas gibt es ja auch: der ewig Fitte, der ewig Dynamische usw. Zusammenhalt der Generationen und Generationensolidarität: Eigentlich erfährt das - das muss man gar nicht im Altenbericht nachlesen - jeder von uns bei sich selbst. Wir sind die Kinder von Eltern, viele von uns haben Kinder und Enkelkinder. Wir selbst, jeder einzelne von uns, sind in der Generationenkette verortet. Das ist uns allen klar. Nur ist es etwas anderes, das gesellschaftlich zu verdeutlichen und umzusetzen. Ich habe einmal den fünften Altenbericht, den zwölften Kinder- und Jugendbericht und den siebten Familienbericht nebeneinandergelegt. Das ist spannend, und ich empfehle es uns allen für die kommenden Beratungen. Vor allen Dingen der siebte Familienbericht, dessen neuer Ansatz - Perspektiven einer lebenslaufbezogenen Familienpolitik - uns alle so fasziniert hat, könnte dabei helfen, das im Zusammenhang zu sehen, was in diesen drei Berichten separat beschrieben wird. Für Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, und den Familienausschuss - er ist ein Querschnittsausschuss, der diese Möglichkeit hat - besteht die Notwendigkeit, diese Zusammenschau vorzunehmen. Vielleicht gelingt es uns ja, auszuloten, ob man aus diesen Berichten und aus der öffentlichen Debatte so etwas wie eine „gesellschaftspolitische Gesamtorientierung“ ableiten kann. Oder man nennt es „Strategie“; die Mutigen unter uns nennen es vielleicht „Vision“. Die Berichte - davon bin ich überzeugt - können bei dieser gesellschaftspolitischen Gesamtorientierung überaus hilfreich sein. Entscheidend ist nicht die heutige erste Debatte - das haben mehrere gesagt -, entscheidend ist, welche Konsequenzen wir ziehen. Wir sind gut beraten, die konkreten Empfehlungen, die im Bericht stehen, Punkt für Punkt durchzugehen und abzuklopfen. Wir sollten uns diese Mühe machen. Sonst loben wir diesen Bericht, nehmen ihn aber nicht ernst. Damit will ich nicht sagen, dass wir die Empfehlungen nicht eins zu eins umsetzen wollen bzw. können, auch wenn so etwas natürlich vorWolfgang Spanier kommt: So hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Bereich Erwerbsarbeit eine Reihe von Vorschlägen nicht akzeptiert, nicht übernommen. Ich denke, wir alle wären froh, wenn diese Debatte nicht nur hier im Bundestag stattfände. Die Entstehungsgeschichte des Altenberichts zeigt, dass er schon damals eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst hat. Eine solche breite gesellschaftliche Debatte, die den Zusammenhalt der Generationen betont, die die Alten nicht zu Kostgängern macht und die Jungen nicht zu einer armen, verfolgten Minderheit, sondern die Generationensolidarität in den Mittelpunkt stellt, ist dringend notwendig. ({5}) Dann haben diese Fehlinterpretationen - die Katastrophenszenarios einerseits und die Abqualifizierung des demografischen Wandels als Popanz andererseits - keine Chance. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Christel Humme von der SPDFraktion.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich freue mich, dass heute mit der ersten Debatte über den fünften Altenbericht der Startschuss gelungen ist. Wir sind weg von diesen Horrorszenarien, weg von den schrecklichen Bildern in den Medien, und kommen zu einem ganz neuen Bild des Alters. Ich glaube, es ist wichtig, wie Herr Spanier und Frau Lenke gesagt haben, eine breite öffentliche Diskussion anzuzetteln, damit das, was in diesem Bericht festgehalten ist, in allen Gremien diskutiert werden kann. Von Henning Scherf - er ist prominenter Rentner, ein Betroffener! - stammt der Ausspruch „Grau ist bunt“. Dem kann man nur zustimmen; viele haben das in ihren Reden heute auch gesagt. Gehen Sie doch einmal auf die Internetseite www.senioren.de! Was finden Sie da? Sie finden fitte Senioren, die sich ihr Leben im Alter mit Reisen versüßen, Sie finden Angebote von hervorragenden Wohnformen, von Wohnen auf hohem Niveau - und Sie finden Partnerbörsen für ein zukunftsorientiertes Leben zu zweit. ({0}) Das sind ganz andere Dimensionen für die lange Zeit nach der Arbeit. Entspricht diese Darstellung der Wirklichkeit in unserer Gesellschaft? Ein Teil mit Sicherheit; aber ich glaube, nicht in dieser reinen Lehre. Wichtig ist - das haben alle in ihren Reden bestätigt -, dass wir erkennen, dass wir in der Tat älter werden. So haben meine Töchter eine Chance von 25 Prozent, 100 Jahre alt zu werden, sie haben also noch ein langes Leben vor sich. Genau das gibt uns der fünfte Altenbericht zum Auftrag: die Potenziale dieser Zeit auszuschöpfen. Auch darüber müssen wir eine breite öffentliche Diskussion anzetteln. Wenn ich mir die heutige Gesellschaft ansehe, muss ich feststellen: Da tut sich schon einiges, Herr Wunderlich, das ist nicht so schwarz, wie Sie das malen. Im Gegenteil, die Dinge entwickeln sich fast unmerklich - ohne dass wir Politikerinnen und Politiker viel dazutun. Ich nenne nur ein paar Punkte: „Enkel dich fit!“ lautet zum Beispiel das Motto des Großelterndienstes in Berlin. Dabei handelt es sich um ein Projekt, bei dem Alleinerziehende Hilfe finden können. Großeltern und Enkel finden sich in diesem wunderschönen Projekt. Seit 1983 - ich war selber überrascht, dass es dieses Projekt schon seit 24 Jahren gibt - gibt es den „Senior Experten Service“ mit 7 000 Mitgliedern aus allen Berufen. Sie stellen erfolgreich unter Beweis, wie gefragt und notwendig der Erfahrungs- und Wissensaustausch der Generationen ist. Dies alles zeigt, dass ein unglaubliches Potenzial an Wissen und Kreativität vorhanden ist. Wir tun gut daran, diese Schätze nicht ungenutzt zu lassen. Das Jahr 2007 ist das Europäische Jahr der Chancengleichheit. Ich halte es nach wie vor für einen Skandal - viele Redner haben es schon angesprochen -, dass Menschen über 50 aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Auf der einen Seite werden wir immer älter - das ist Fakt -; auf der anderen Seite werden aber die Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, immer jünger. Das hat mit Chancengleichheit nichts zu tun. Darin sind wir uns sicherlich einig. Wir geben aber schon jetzt Antworten, Herr Wunderlich. Unser Programm „Perspektive 50 plus“ ist unsere Antwort, um die Generation der über 50-Jährigen auf dem Arbeitsmarkt zu halten. Wir haben noch etwas erreicht, was wir uns vielleicht noch nicht ausreichend bewusst gemacht haben. Wir brauchen das Grundgesetz nicht zu bemühen, Herr Wunderlich. Darin finden Sie die Altersdiskriminierung nicht. Wir haben aber das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschaffen, das seit August 2006 in Kraft ist. Mit diesem Gesetz können wir der Altersdiskriminierung entgegenwirken. Ein Gesetz ist kein Allheilmittel. Darin gebe ich der FDP ausnahmsweise einmal recht. ({1}) - Ausnahmsweise. Das dürfen Sie ruhig hervorheben. Notwendig ist auch ein Mentalitätswechsel in der Gesellschaft und in den Unternehmen. Wir brauchen einen gesunden Mix aus jungen und alten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, damit das Motto „Grau ist bunt“ auch hier zur Selbstverständlichkeit wird. Es gibt ohne Frage viele Möglichkeiten, sich im Alter einzubringen. Bürgerschaftliches Engagement - das heute schon mehrfach erwähnt wurde und das sicherlich keine regulären Arbeitsplätze gefährdet - ist dabei ein wichtiger Faktor. Auch dabei kann man auf Modellprojekte wie das Projekt „Pflegebegleiter“ zurückgreifen, das schon 2004 unter der alten Bundesregierung ins Leben gerufen wurde und mich sehr beeindruckt hat. In diesem Projekt werden über 50-Jährige gezielt geschult, um ehrenamtlich Angehörige zu unterstützen, die ihrerseits ältere Menschen pflegen. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir heute schon Brücken zwischen den Generationen schlagen. Die von mir genannten Beispiele zeigen, dass der Zusammenhalt der Generationen schon jetzt tatsächlich gelebt wird. Das weiterzuentwickeln, ist sicherlich eine wichtige Aufgabe.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Schluss. Ich möchte abschließend Henning Scherf zitieren, der sehr viel Nettes gesagt hat. Er sagte unter anderem: Ich will nicht herumsitzen, sondern etwas tun und bewirken. Insofern empfinde ich das Alter als späte Freiheit … Ich habe viel Energie und andere in meinem Alter haben diese Energie auch. Unsere Aufgabe im politischen Bereich wird es sein, diese Energie für die Gesellschaft zu nutzen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/2190 und 16/4163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/4219 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2190 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Lothar Mark, Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept - Drucksachen 16/3502, 16/4132 Berichterstattung: Abgeordnete Willy Wimmer ({1}) Harald Leibrecht Monika Knoche Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile als erstem Redner dem Staatsminister Günter Gloser das Wort.

Not found (Gast)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kulturelle Ausstrahlung und wissenschaftlich-technologische Leistungskraft tragen entscheidend zum positiven Bild Deutschlands im Ausland bei. Dies spiegelt sich im hohen Stellenwert der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik als integralem Bestandteil der deutschen Außenpolitik wider. Die auswärtige Kulturund Bildungspolitik ermöglicht Verständigung und schafft Verständnis. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor sind die unabhängigen Mittler- und Partnerorganisationen. Ihre Arbeit ist anerkannt, und ihre Glaubwürdigkeit ist hoch. In der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik spielt das Goethe-Institut eine zentrale Rolle. Es ist das kulturelle Gesicht Deutschlands im Ausland. Zugleich ist es ein wichtiger Akteur der internationalen kulturellen Zusammenarbeit. Seine Programm- und Spracharbeit ist anerkannt, die weltweite Präsenz mit 129 Instituten und die daraus entstandenen Netzwerke sind entscheidende, über Jahrzehnte aufgebaute Stärken. Auch in Zeiten knapper Kassen dürfen diese Errungenschaften nicht aufs Spiel gesetzt werden. ({0}) Erfolgreich bleibt das Goethe-Institut nur, wenn es seine Strukturen und Aufgaben den sich verändernden politischen, wirtschaftlichen und kulturpolitischen Rahmenbedingungen anpasst. Dieser Herausforderung haben sich das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut mit dem gemeinsam erarbeiteten Reformkonzept gestellt. Ich finde, das Ergebnis ist überzeugend. Die Reform des Goethe-Instituts, in die Anregungen aus dem parlamentarischen Raum eingeflossen sind, steht auf zwei miteinander verbundenen Säulen: erstens die Modernisierung der Strukturen und die Steigerung der Effizienz des Goethe-Instituts in der Zentrale in München wie in den Auslandsinstituten und zweitens die Sicherung des Netzwerks und die Anpassung an neue Aufgaben. Das Institutsnetz muss die gewachsene globale Verantwortung und die Interessen Deutschlands widerspiegeln. Kein Standort wird aufgegeben. Zu dem oft kolportierten „Rückzug aus Europa“ kommt es nicht. In Regionen wie Asien, vor allem in China und Indien, Nah- und Mittelost/Golfregion muss das Goethe-Institut aber verstärkt präsent sein. Der Ausbau in Ost- und Südosteuropa soll konsolidiert werden. Dies sind langfristig lohnende Investitionen in die Zukunft Deutschlands. Die traditionellen Partnerregionen Europa, USA, Lateinamerika und Afrika werden hierbei nicht vernachlässigt. Inhaltlich wird sich das Goethe-Institut wieder stärker auf die im Rahmenvertrag mit dem Auswärtigen Amt vereinbarten Kernaufgaben konzentrieren: Förderung der deutschen Sprache im Ausland, Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und Vermittlung eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben. Reformen kosten Geld. Im Rahmen der bisherigen Finanzplanung hätte sich das Reformkonzept nicht umsetzen lassen. Auswärtiges Amt und Goethe-Institut haben im Bundestag intensiv für das Reformkonzept geworben. Das Echo war bei allen Fraktionen positiv. Der Bundestag - das unterstreicht das - hat einstimmig beschlossen, die institutionelle Förderung des GoetheInstituts im Haushaltsjahr 2007 um 13,5 Millionen Euro zu erhöhen. Diese Trendwende im Sinne einer besseren Mittelausstattung unterstreicht den hohen Stellenwert von Kultur und Bildung in der deutschen Außenpolitik. Die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltene Bewertung der vor dem Goethe-Institut liegenden Herausforderungen wird von der Bundesregierung geteilt. Neben der Konzentration auf die Kernaufgaben sind dies die Sicherung und der Ausbau des Netzwerks, die Weiterentwicklung der Budgetierung, die Reorganisation der Zentrale in München und die verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Mittlern der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Weitere Maßnahmen zielen auf die Prüfung günstigerer Unterbringungsmöglichkeiten im Ausland, höhere Einnahmen aus Sponsoring sowie die stärkere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und privaten Kulturstiftungen. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ausdrücklichen Dank an die Abgeordneten aus dem Haushaltsausschuss, aus dem Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und aus dem Ausschuss für Kultur und Medien für ihr Engagement richten. Wir haben in der Vergangenheit bei der Begleitung der Arbeit des GoetheInstituts eng zusammengearbeitet. Ich versichere Ihnen, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Die Bundesregierung will ein zukunftsgerichtetes und wettbewerbsfähig aufgestelltes Goethe-Institut, das nachhaltig arbeitet und wirkt. Das Reformkonzept schafft hierfür die Basis. Die Unterstützung der Koalitionsfraktionen, die im vorliegenden Antrag zum Ausdruck kommt, trägt zur erfolgreichen Umsetzung dieser Reformanstrengungen entscheidend bei. Vielen Dank für Ihre Unterstützung. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion. ({0})

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die herausragende Rolle, die dem Goethe-Institut in der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zukommt, ist unbestritten. Unter Rot-Grün war das allerdings nicht immer der Fall, da ist es auf diesem Gebiet durchaus zu einem Winterschlaf gekommen, notwendige Reformen wurden damals eben nicht angepackt. ({0}) Ich begrüße es deshalb sehr, dass jetzt durch den Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik neuer Schwung in die Debatte kommt und die Bundesregierung hier auch handelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das GoetheInstitut steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Mit der Erhöhung des Budgets hat der Bundestag deutlich gemacht, dass er die Goethe-Institute bei der Bewältigung dieser Herausforderungen auch unterstützen will. Dabei ist es wichtig, dass die Fraktionen bei diesem Thema an einem Strang ziehen. Aus diesem Grund erklärte ich mich auch bereit, den FDP-Antrag zum Thema Finanzierung des Goethe-Institutes, den wir Liberalen bereits letzten Juni eingebracht hatten, zugunsten des Antrages der Großen Koalition zurückzuziehen. ({1}) Ich bin seinerzeit noch davon ausgegangen, dass wir vielleicht doch noch einen interfraktionellen Antrag hinbekommen. Das ist uns leider nicht ermöglicht worden, vielleicht war es auch zu kurzfristig. Ich bedauere das sehr. Nun gut, uns Liberalen geht es aber um die Sache, deshalb werden wir den Antrag der Großen Koalition auch unterstützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Recht weist der Antrag auf die neuen Wachstumsregionen und die damit verbundenen neuen Herausforderungen hin. Darum muss sich das Goethe-Institut richtig aufstellen, um mit dieser Dynamik mithalten zu können. Natürlich dürfen und werden wir den europäischen GoetheInstituten nicht den Rücken zukehren. Aber dem Ungleichgewicht zwischen dem Engagement des GoetheInstituts in Europa einerseits und in China und Indien andererseits müssen wir uns stellen. ({2}) Weiterhin möchte ich auch einen intensiven Austausch mit den Vereinigten Staaten, zumal die transatlantische Wertegemeinschaft derzeit immer wieder vor eine Zerreißprobe gestellt wird. ({3}) Natürlich ist es auch wichtig, dass wir bestehende Einrichtungen, auch Einrichtungen hier im eigenen Land, immer wieder auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls hinterfragen. Meine Damen und Herren, auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist keine Einbahnstraße, sondern eine Investition in die Zukunft. Die Goethe-Institute, aber auch die deutschen Auslandsschulen, zeigen dies immer wieder sehr eindrucksvoll. Die Teilnehmer und die Absolventen machen eine positive Erfahrung mit Deutschland, mit seiner Kultur und seiner Sprache. Viele von ihnen besetzen später wichtige, auch politisch wichtige Ämter in ihrer Heimat. Und gerade hierin liegt auch der Grundstein für eine enge, vertrauensvolle und nachhaltige Beziehung zwischen Deutschland und anderen Ländern. Deutschland hat viel zu bieten, sowohl kulturell als auch gesellschaftlich. Mit der Kultur meine ich nicht nur die Hochkultur, Kultur steckt heute ja überall drin, ob im Konzertsaal, im Museum, im Buch, in der Sprache, im Club - eigentlich in fast allen Lebensbereichen. Die Aufgabe des Goethe-Institutes ist es, sowohl diesen vielseitigen Begriff von deutscher Kultur als auch die Schönheit unserer Sprache und Literatur im Ausland zu vermitteln. Hierfür brauchen wir eine breite politische Unterstützung. Ich glaube, mit diesem Antrag, den wir heute verabschieden, wird das Goethe-Institut diese Unterstützung auch bekommen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als sich ein Kollege aus dem Gesundheitsausschuss heute Nachmittag von mir verabschiedet hat, sagte er: Ihr müsst jetzt nachsitzen für Goethe. ({0}) Das stimmt, aber das tun wir gern, denn wenn wir diesen heutigen Beschluss nach langen und ausführlichen Beratungen durchgesetzt haben werden, dann hat der Deutsche Bundestag eine institutionelle und personelle Neuorganisation des Goethe-Institutes auf den Weg gebracht. Es geht aber auch sonst um eine große Sache. Kurz nach der Wiedervereinigung hat der englische Literatur- und Geisteswissenschaftler Nicholas Boyle von der Universität Cambridge in seiner hochgerühmten, monumentalen Biografie über Goethe auch zeitlich-geschichtlich Aktuelles geschrieben. Er beschreibt ihn als einen freien Mann, der auf die sozialen, spirituellen und geistigen Anforderungen der Moderne in dem Maße reagierte, wie sie sich in seiner Umwelt artikulierten. Dann schreibt er: Ich hege die Hoffnung, dass die folgenden Seiten auch Leser in Deutschland ansprechen mögen; wurden sie doch in der Überzeugung geschrieben, dass die Bundesrepublik nicht nur für das steht, was das Beste und das Älteste in den politischen Traditionen der Nation ist, sondern auch für das, was dem Geist Goethes am nächsten kommt, und dass es für das übrige Europa an der Zeit ist, hierfür zu danken. Das sind goldene Worte, die man in das Programm des Goethe-Instituts aufnehmen könnte. Das ist aber vor allem auch ein Angebot von außen, auf das wir Antwort geben wollen. Die Große Koalition hat sich bemüht, mit ihrem Koalitionsvertrag Bewegung in die auswärtige Kulturpolitik zu bringen. Wie wir wissen, wurde die Haushaltslage des Goethe-Instituts nach dem Prozess der Neufindung in den Jahren nach 1990 trotz der immensen Herausforderungen, die sich für die Kulturaußenpolitik des wiedervereinigten Landes stellten, leider nur angepasst, das heißt nichts anderes als gesenkt, und das trotz steigender Personal- und Sachkosten. Wenn wir aber die Beschlussempfehlung und den Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem zur Diskussion stehenden Antrag lesen, dann stellen wir fest, dass der Finanzkrise des Goethe-Instituts nicht nur Sparmaßnahmen, sondern auch innere Schwierigkeiten zugrunde lagen, die sich unter anderem in zahlreichen Wechseln innerhalb der Führungsspitze ausdrückten. ({1}) In der laufenden Legislaturperiode haben wir deshalb als Erstes eine große Anhörung durchgeführt, in der Kritik und Anregungen in Sachen Goethe-Institut gebündelt und offen ausgesprochen wurden. Die Sachverständigen gingen in ihren Äußerungen teilweise so weit, im Zusammenhang mit der Programmarbeit des Goethe-Instituts von einer Flucht vor Kultur zu sprechen. Dies bestärkt uns darin, einen grundlegenden Wandel anzustreben. In diesem Sinne wurde bereits etwas erreicht: Erstens. Der finanzielle und strukturelle Abbau wurde nicht nur gestoppt, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Die Mittel der Goethe-Institute wurden - darauf haben Sie bereits hingewiesen, Herr Staatsminister - beachtlich aufgestockt. Zweitens. Die auswärtige Kulturpolitik ist wieder - das möchte ich betonen - Chefsache geworden. Ich finde, es ist beachtlich, dass der neue Außenminister Steinmeier in den ersten zwölf Monaten seiner Amtszeit mehr Goethe-Institute besucht hat als sein Vorgänger in sieben Jahren. ({2}) Das sind erste Ansätze, die zeigen, dass wir das Gebot einer grundsätzlichen Trendwende ernst nehmen. Ich sagte anfangs: Es geht um eine große Sache. Deutschland überlebt als Kulturnation, oder es überlebt als Nation gar nicht. Deswegen haben wir - fundamental, wie wir beide sind, Frau Griefahn - in unseren Antrag hineingeschrieben: Das Goethe-Institut vertritt und vermittelt die Tradition und die Gegenwart der deutschen Kultur in ihren vielfältigen Aspekten und Fassetten. … Im Mittelpunkt der Tätigkeit stehen die an Deutschland, seiner Sprache und seiner Kultur interessierten Menschen. Dieses Interesse zu wecken, zu fördern und zu befriedigen ist die erste und wichtigste Aufgabe des Goethe-Instituts. Die erste Priorität ist also die Vermittlung der deutschen Kultur. Was wir hier zu bieten haben, haben die Sachverständigen in eindrucksvoller Weise dargestellt. Kein Land der Welt hat - da zitiere ich den Sachverständigen Dr. Steinfeld von der „Süddeutschen Zeitung“ -, nicht zuletzt durch seinen Föderalismus, eine derartige kulturelle Infrastruktur anzubieten wie das wiedervereinigte Deutschland. Natürlich muss der politische Rahmen für die Reform die Konzentration auf die Kernkompetenz darstellen. Es ist jetzt von der Zeit her müßig, haushaltspolitische Beispiele zu nennen. So könnte man beispielsweise die 40 000 Euro, die für die Bibliothek in Helsinki benötigt werden, den Mitteln gegenüberstellen, die allein im letzten Jahr für den Bundeswehreinsatz im Kongo aufgebracht wurden. Man lese beispielsweise den Kulturpressespiegel über Informationen über eine angebliche Schließung der deutschen Bibliothek in Paris. Das hat einen Sturm von Einsprüchen ausgelöst. Daran sieht man, wie groß das Interesse der Außenstehenden an dem Gebiet ist, über das wir hier reden. Es ist richtig, dass wir zu dieser Kernkompetenz auch die Präsenz und den Ausbau unserer Tätigkeit in Europa rechnen. Ich möchte auch noch einen Punkt ansprechen, der für uns ganz wesentlich ist. Wir haben in diesem Antrag auch etwas über einen Bereich, der sehr umstritten war, geschrieben, nämlich über die Goethe-Institute im Inland: Die Goethe-Institute im Inland leisten hervorragende Arbeit bei der Sprachvermittlung und der Verbreitung des Deutschlandbildes bei ausländischen Gästen. … Ein Einbrechen der Erfolgsgeschichte des Goethe-Institutes bei der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik durch ein Nachlassen der Sprachnachfrage im Inland sollte bereits strukturell verhindert werden. Wir sind uns klar darüber, dass es hier erhebliche Reformen geben muss. Die Obleute, die sich heute Morgen mit diesbezüglichen Vorhaben beschäftigt haben, sagen, dass als Nächstes die diesbezügliche Konzeption auf den Tisch muss, Herr Staatsminister. ({3}) Wir sind unangenehm berührt, dass, während wir diesen Antrag beraten, die Schließung von inländischen Goethe-Instituten - Beispiel Prien - in die Wege geleitet wird. Parlamentarische Gremien dürfen nicht aus den Medien erfahren, welche Schließungen geplant sind. So macht man sich keine Freunde. Ich darf auch daran erinnern, dass die Zustimmung und die Gemeinsamkeit, die wir im letzten Bundestag beim Einwanderungsgesetz gefunden haben, letzten Endes auf dem gemeinschaftlichen durchgesetzten Willen des Gesetzgebers zu einer umfängliche verbreiteten Sprachförderung im Inland beruht haben. Alle Fraktionen des Hauses waren sich einig, dass in dieser Beziehung etwas getan und verbessert werden muss. Das neu gegründete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bündelt derzeit die Integrationsmaßnahmen. Im Jahr 2005 gab es über 8 000 Integrationskurse mit über 100 000 Teilnehmern. Aber kein einziges Goethe-Institut war an diesen Kursen beteiligt, weil bis zur Stunde über die Höhe des Betrages je Teilnehmer gestritten wird. Lieber werden keine Kurse angeboten bzw. Kurszuschüsse ausgeschlagen, und lieber werden Institute geschlossen, in die schon einige Millionen Euro gesteckt worden sind. Das geht nicht, und das können Sie nicht machen. Deswegen bitten wir Sie ganz herzlich, eine Änderung dieser Zustände beim Goethe-Institut auf der Grundlage des heutigen Beschlusses herbeizuführen. ({4}) „Mit Politik kann man keine Kultur machen …“, hat Theodor Heuss gesagt. Das stimmt. Das wissen wir nur allzu gut. Aber unsere auswärtige Kulturpolitik kann die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass deutsche Kultur rund um den Globus für den Künstler, für sein Werk und für sein Land werben und Verständnis zwischen den Völkern und Freundschaft und Respekt für unsere Nation begründen kann. Das ist der Auftrag des Goethe-Instituts. Dass es diesen Auftrag im Namen der Bundesrepublik Deutschland erfüllen kann, dafür schafft der heutige Antrag die politischen Rahmenbedingungen. Ich möchte allen, die an diesem Antrag so intensiv mitgearbeitet haben, meinen herzlichen Dank aussprechen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Willkommen heute Nachmittag im Kammerspieltheater zur Thematik des Goethe-Instituts! Gestern haben wir ausführlich und grundsätzlich über die Chancen und Herausforderungen diskutiert, die mit der Aufgabe verbunden sind, kulturelle Vielfalt zu erhalten und allen Menschen zugänglich zu machen. Heute befassen wir uns mit einem herausragenden konkreten Beispiel dieser kulturellen Vielfalt, dem Goethe-Institut oder besser: den Goethe-Instituten, 15 hierzulande, 129 im Ausland. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt, diese traditionsreiche Institution durch ein neues Konzept zu stärken. Wir begrüßen diesen Antrag und werden ihm auch zustimmen. ({0}) Wir finden, dass die Regierungsparteien gute Arbeit geleistet haben. Das ist ein Grund für die Opposition, dies anzuerkennen. Viele Forderungen im Antrag richten sich vor allem an die Haushälter dieses Parlaments. In der Tat: Nach gravierenden Sparmaßnahmen in den letzten Jahren und notwendigen Reformen des Apparates wird es in Zukunft vor allem darum gehen, dem Institut zu helfen, die neu definierten Aufgaben bewältigen zu können. Diese Aufgaben tragen im Kern allerdings ein Zerreißpotenzial in sich. Denn was alles verlangen wir vom Goethe-Institut? Einerseits, in Asien und im Nahen und im Mittleren Osten verstärkt präsent zu sein; andererseits, sich weiterhin in den Weltregionen, zu denen es langjährige Verbindungen gibt - etwa Afrika und Lateinamerika -, zu engagieren. Dann verlangen wir vom Goethe-Institut auch noch, Europa nicht zu vernachlässigen und Deutschland nicht zu vergessen. Gerade die Arbeit im Inland muss nun zügig neu durchdacht und vor allem transparent gemacht werden. Der Kollege Gauweiler hat darauf ausführlich hingewiesen, Stichwort „kulturelle Integrationsangebote für Zuwandererfamilien“, also Deutschkurse für Migrantinnen und Migranten. Die Schönheit der deutschen Sprache, wie der Kollege von der FDP vorhin gesagt hat, kann, soll und müsste nun auch einmal in Deutschland aufleuchten. Da erwarten wir vom Goethe-Institut also eine wirkliche Initiative. Ich finde, es ist viel Zeit vergangen, die nicht genutzt wurde. Wenn man sich den ganzen Aufgabenkatalog vornimmt, drängt sich natürlich die Frage auf: Geht es hier nicht um die Quadratur des Kreises? Dennoch: Die Arbeit muss geschultert werden. Die Alternative wäre nicht zu akzeptieren. Was die Inhalte der künftigen Struktur des Goethe-Instituts betrifft, erscheint mir eine Aufgabe noch besonders wichtig. Im Antrag heißt es: Das Goethe-Institut wird die Entwicklung einer Bürgergesellschaft und einer europäischen kulturellen Öffentlichkeit unterstützen … Sehr einverstanden! Weiter heißt es: … und sich an der Weiterentwicklung einer transatlantischen Wertegemeinschaft beteiligen. Das wäre wahrlich des Schweißes der Edlen wert. Eine Weiterentwicklung der transatlantischen Wertegemeinschaft muss jene neuen kritischen kulturellen und politischen Kräfte in den USA einbeziehen, die die Zustände verändern wollen, die dort zurzeit herrschen und die leider auch, von dort ausgehend, in so vielen Ländern dieser Welt das Bild prägen. Gerade für diese Arbeit wünschen wir dem Goethe-Institut Erfolg. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Uschi Eid für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem guten Jahr ist das Goethe-Institut in die Schlagzeilen geraten, nicht unbedingt durch eigenes Verschulden; das muss man dazusagen. Zum Beispiel schreckte das finanzielle Defizit von 11 Millionen Euro auf. Die angekündigten regionalen Schwerpunktverlegungen hin nach Asien und in die arabischen Staaten auf Kosten der Arbeit in Europa provozierten Widerspruch und lösten eine breite Debatte aus. Es war allerhöchste Zeit, über die neuen Herausforderungen, vor allem über finanzielle und konzeptionelle Konsequenzen ernsthaft zu beraten. Ich danke allen Beteiligten für das inzwischen vorliegende Reformkonzept. Der zuständige Unterausschuss führte eine Anhörung mit Experten durch, und die Fraktionen zogen ihre Schlussfolgerungen aus den Beratungen. Aus Sicht meiner Fraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, sind für die Zukunft des Goethe-Instituts folgende Punkte wichtig: Erstens. Wenn es neue Goethe-Institute geben soll, dann muss es dafür zusätzliches Geld geben. ({0}) Die Eröffnung von Instituten in neuen Weltregionen darf auf keinen Fall zulasten der Kulturarbeit in Europa gehen. ({1}) Zweitens. Die aktuellen Spannungen in Europa, die Verfassungs- und Vertrauenskrise, aber auch die Herausforderungen durch die Erweiterung der Europäischen Union machen es vielmehr notwendig, die Kulturarbeit innerhalb Europas zu intensivieren. Drittens. Es gibt langfristig gewachsene Beziehungen zu vielen - manchmal durchaus kleinen - Ländern in Afrika und Lateinamerika. Auch bei der unbestrittenen Notwendigkeit, die Kulturarbeit zum Beispiel in arabische und asiatische Regionen auszudehnen, dürfen diese Länder keinesfalls vernachlässigt werden. Viertens. Der Wertedialog mit unseren amerikanischen Freunden scheint mir dringender denn je. Angesichts des Auseinanderklaffens in der Beurteilung weltpolitischer Herausforderungen oder auch gesellschaftlicher Entwicklungen - zum Beispiel des Vormarschs der Kreationisten ergibt sich dringend die Notwendigkeit, diesem Auseinanderdriften in grundlegenden Fragen etwas entgegenzusetzen und den transatlantischen Dialog zu intensivieren. ({2}) Fünftens. Das vorliegende Reformkonzept ist der Beginn eines Prozesses, der allen Beteiligten Kraft abverlangen wird. Auch das Goethe-Institut ist in der Pflicht, die begonnenen Reformanstrengungen weiterzuführen. Das heißt zum Beispiel, bei den eigenen Mitarbeitern oder vor Ort für Akzeptanz zu sorgen, wenn es um institutionellen Umbau oder um andere Arbeitsformen geht. Das gilt sowohl für die Auslandsinstitute wie für Goethe-Institute im Inland. Darauf gehe ich jetzt nicht näher ein; das haben die Kollegen ja schon ausgeführt. Wir wollen das Goethe-Institut in seinen Reformbemühungen unterstützen und dazu beitragen, dass diese in den nächsten Jahren konsequent, aber auch transparent umgesetzt werden, Herr Staatsminister. Dazu gehört es, über den Stand der Umsetzung zu berichten, weitere Erfordernisse offen zu benennen und die geleistete Kulturarbeit zu evaluieren. Sehr geehrte Damen und Herren, nachhaltige Kulturarbeit gehört zum Leitbild des Goethe-Instituts. Denn Freunde in der Welt gewinnt man nicht durch kurzatmige und spektakuläre Einzelevents - egal welcher Größenordnung. Deshalb sind das bestehende weltweite Kontakt- und Institutsnetz und die gewachsenen Verbindungen zu Menschen in aller Welt die wichtigsten und wertvollsten Ressourcen des Goethe-Instituts. Das Netz muss fraglos an die gegenwärtigen Bedingungen des globalen Kulturaustausches angepasst werden. Das Institut muss sich mit anderen Kulturmittlern vor Ort besser vernetzen und Synergien erzielen. Ziel ist es, das Netz der Kulturbeziehungen so weit wie möglich zu erhalten und zeitgemäß zu erweitern, um vielen Menschen Zugang zur deutschen Kultur und Sprache zu ermöglichen. Frau Präsidentin, im Zuge der Beratungen des Koalitionsantrags haben beide Koalitionsparteien unsere Anregungen übernommen. Ich bedanke mich sehr. Das war wirklich eine sehr produktive, konstruktive Zusammenarbeit, sodass es uns von Bündnis 90/Die Grünen heute möglich ist, dem Koalitionsantrag zuzustimmen. Ich bedanke mich. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn für die SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“, sagte - na ja, wer wohl? - natürlich Goethe. Er hat Recht. Ich habe das sehr plastisch erlebt, als wir das Goethe-Institut in Afghanistan vor fast vier Jahren eröffnet haben. Damals hat ein bayerischer Zitherspieler gemeinsam mit afghanischen Musikern auf traditionellen Instrumenten, die sie sechs Jahre lang nicht auspacken durften, musiziert. Das mitzubekommen war sehr bewegend. Denn sie konnten nicht miteinander sprechen, aber miteinander musizieren. Und obwohl die Stadt im Aufbau war und obwohl die Leute andere Sorgen hatten, war das Goethe-Institut voll. Das zeigt uns, dass das Goethe-Institut eben nicht nur, wie oft behauptet wird, elitäre Kreise anspricht, sondern auch Menschen im Alltag. Jährlich sind das weltweit 13 Millionen Menschen und inzwischen zusätzlich 8 Millionen über das Internet. Damit ist das Goethe-Institut die größte Mittlerorganisation in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Ich freue mich, dass wir es - dank unseres Außenministers, Frank Walter Steinmeier, aber auch dank der gemeinsamen Kraft des Haushaltsausschusses, der verschiedenen Ausschüsse für Außenpolitik und Kultur und Medien und des Unterausschusses „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ - geschafft haben, in diesem Jahr mehr Geld für die Goethe-Institute auf den Weg zu bringen und, was mir noch wichtiger ist, die Budgetierung ab 2008 endlich zu verankern. Wir fordern das schon seit fast zehn Jahren. Lothar Mark und ich haben schon im Jahre 1998 einen solchen Antrag eingebracht. Jetzt ist es endlich so weit: Die Budgetierung kommt. In diesen Wochen werden die entsprechenden Zielvereinbarungen formuliert. Aber ein bisschen fehlt noch - das ist ein Auftrag an die Regierung -: Es müssen ein flexibler Stellenplan und ein modernes Liegenschaftsmanagement her; denn wenn mit diesem Geld nicht frei operiert werden kann, nützt die Budgetierung nichts. Das konnten wir gerade erst am Beispiel der neuen Institute beobachten. Dort fehlte der Stellenplan. Deswegen konnten dort, obwohl das Geld da ist, bisher keine Leute eingestellt werden. Hier muss noch nachgearbeitet werden. ({0}) Im Hinblick auf die Umsetzung des Neukonzeptes möchte ich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Goethe-Instituts meinen Dank aussprechen. Sie haben aufgrund der Neustrukturierung harte Arbeit hinter sich, aber auch noch vor sich; denn überall ist eine Überprüfung des Vorgehens erforderlich. Das Personal in der Zentrale wird um 70 Stellen reduziert. Einzelne Standorte werden evaluiert. Es wird geprüft, wie die Präsenzform geändert werden muss. Es werden zwar keine Institute geschlossen, aber unter Umständen ändert sich die Präsenzform. Das heißt, das eine Mal gibt es einen Lesesaal, ein anderes Mal ein Infozentrum oder ein Vollinstitut, oder es werden Sprachkurse angeboten. Viel Neuorganisation ist zu bewältigen. Für die große Mühe und das Engagement, mit dem im Moment sehr viel auf die Beine gestellt wird, bedanke ich mich herzlich. ({1}) Wichtig ist: Wir wollen vor Ort immer jeweils einen Raum und Mitarbeiter behalten. Alle Redner haben da8078 rauf hingewiesen, dass auf europäischer Ebene und im transatlantischen Verhältnis mehr geschehen muss. In dieser Hinsicht war die Schließung sicherlich ein Fehler. Auch in Indien kam es schon im Jahre 1996 zur Schließung von Goethe-Instituten, zum Beispiel in Hyderabad, was nicht besonders klug war. Ich möchte ganz deutlich sagen: Das ist nicht unter Rot-Grün geschehen, sondern dafür waren Sie von der FDP verantwortlich. Aber das ist jetzt egal. Heute haben wir alle erkannt, dass wir an dieser Stelle weitermachen müssen. Ich sage nur: Jeder hat sein Scherflein beizutragen. In diesem Jahr werden neue Präsenzformen entstehen: vier in Indien, acht in China und 13 bis 14 in der islamischen Welt. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Projektmittel. Auch hier müssen wir, wie ich glaube, nacharbeiten. Die institutionellen Projekte wurden auf den Weg gebracht. In Mittelostafrika gibt es neben dem Institut in Addis Abeba nur das Institut in Nairobi. Dafür stehen pro Jahr Projektmittel in Höhe von insgesamt 43 600 Euro zur Verfügung. Von diesem Betrag werden allerdings auch noch die Spracharbeit und die Anschaffungen für die Bibliothek bezahlt. Hier müssen wir mehr tun. ({2}) Wichtig ist mir - auch das ist ein Auftrag an das Auswärtige Amt -: Wenn wir den kulturellen Dialog, der zur Kernkompetenz des Goethe-Instituts gehört, organisieren, dann müssen wir dafür sorgen, dass im Rahmen der Zielvereinbarungen keine Einzelzuweisungen für Projekte erfolgen, sondern dass die kulturelle Eigenständigkeit der Goethe-Institute - die eine große Stärke ist erhalten bleibt. ({3}) Ich freue mich auf die weitere fraktionsübergreifende Zusammenarbeit im Unterausschuss. Wir diskutieren konstruktiv und begleiten das Auswärtige Amt in einem ordentlichen Dialog. Ich glaube, die Arbeit, die wir tun, ist gut. Das Goethe-Institut kann sich also von uns unterstützt fühlen. Wir werden uns im Zusammenhang mit den Berichten und, wenn die Zielvereinbarungen abgeschlossen sind, noch einmal im Einzelnen informieren. Ich hoffe auf ein weiterhin gutes Gelingen, auch gemeinsam im zuständigen Ausschuss. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/4132 zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3502 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Steuervereinfachung - Lohnsteuerklassen III, IV und V abschaffen - Drucksache 16/3023 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt werden zu Protokoll gegeben. Es sind dies die Reden der Kollegin Patricia Lips von der Unionsfraktion, der Kollegin Gabriele Frechen von der SPD-Fraktion, des Kollegen Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion, der Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke und der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für ein Turkmenistan mit Zukunft - Drucksache 16/4049 - Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Das sind im Einzelnen die Beiträge des Kollegen Haibach aus der Unionsfraktion, der Kollegin Wegener aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Müller-Sönksen aus der FDP-Fraktion, des Kollegen Gehrcke aus der Fraktion Die Linke und der Kollegin Marieluise Beck aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.2) Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/4049 mit dem Titel „Für ein Turkmenis- tan mit Zukunft“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die- ser Antrag mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die 1) Anlage 10 2) Anlage 11 Vizepräsidentin Petra Pau Stimmen der Antragsteller und der FDP-Fraktion abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 sowie den Zusatzpunkt 13 auf: 33 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Verfassung der Europäischen Union - Drucksache 16/3402 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU im 21. Jahrhundert - Drucksache 16/4171 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir nehmen die Reden des Kollegen Thul aus der Unionsfraktion, des Kollegen Roth aus der SPD-Frak- tion, des Kollegen Löning aus der FDP-Fraktion, des Kollegen Ulrich aus der Fraktion Die Linke und des Kol- legen Steenblock aus der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen zu Protokoll.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3402 und 16/4171 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Erneute Verschiebung der Reform der Pflege- versicherung - Auswirkungen auf die Pflege- bedürftigen und ihre Angehörigen Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Scharfenberg für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. 1) Anlage 12

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Hohen Haus werden sehr gerne Zitate benutzt. Wir haben das in den letzten Stunden gemerkt. Ich möchte das heute auch tun, aber ich möchte hier keinen Dichter und Denker zu Wort kommen lassen, sondern ganz einfach die Stimme des Volkes. Ich beziehe mich damit nicht auf die Debatte zur Gesundheitsreform, die wir heute geführt haben. Das hatte mit der Stimme des Volkes nichts mehr zu tun. Das war eher der Schlachtruf der Großen Koalition. ({0}) Mit der Stimme des Volkes meine ich ganz einfach einen Nachbarn von mir, den ich heute früh im Treppenhaus getroffen habe. Er fragte mich: Was steht denn heute auf der Tagesordnung? Als ich ihm das gesagt hatte, sagte er ganz einfach zu mir: Setzen Sie sich für das Wohl der Menschen ein. - Das war eine ganz klare Ansage und eine berechtigte Forderung, und das ist auch unsere Aufgabe. Deshalb ist eine erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung ganz einfach und ganz klar ein gesellschaftspolitischer Skandal. ({1}) Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die dringend auf diese Reform angewiesen sind: ein Schlag ins Gesicht von über 2 Millionen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen und ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte, ob sie professionell oder ehrenamtlich tätig sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Großen Koalition, diese Menschen lassen Sie einfach im Regen stehen. Wie wichtig dieser Regierung das Thema Pflege ist, sehen wir ja an dieser Aktuellen Stunde. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes das Letzte. Das ist nämlich das letzte Thema, über das wir in dieser Sitzungswoche fernab von jedem öffentlichen Interesse debattieren. So also sieht Ihr ungeheures Engagement für die Pflege aus, das Sie ja fortwährend sehr betroffen und mit sehr blumigen Worten beteuern. Fakt ist aber: Das nimmt Ihnen keiner mehr ab. Fakt ist: Sie kriegen diese Reform nicht auf die Reihe, nicht in diesem Jahr und auch nicht im nächsten Jahr. Fakt ist: Die Pflege sitzt bei dieser Koalition am Katzentisch. ({2}) Aber die Horrorszenarien eines Aufstands der Alten flimmern durch die Wohnzimmer dieser Nation, und Sie reden an dem Problem völlig vorbei und ignorieren die Ängste der Menschen. Wie bei der Gesundheitsreform verheddern Sie sich schon wieder in albernen Finanzdebatten. Das möchte kein Mensch mehr hören. ({3}) Es geht bei dieser Reform um nicht weniger als um ein menschenwürdiges Leben - und das auch im Pflegefall. Wir alle wissen ganz genau: In diesem Land ist für viele Pflegebedürftige die Wahrung der Menschenwürde keine Selbstverständlichkeit. - Das ist der Grund dafür, dass wir alle unruhig auch auf unsere eigene Zukunft im Alter sehen. Bei Umfragen geben 30 Prozent aller Befragten an - meine Kollegin Frau Haßelmann hat es vorhin schon angeführt -, dass sie im Pflegefall lieber den Freitod wählen würden. Diese Antwort sollte doch wirklich ausreichen. Die Pflegebedürftigen, die völlig überlasteten Angehörigen und die Pflegekräfte brauchen jetzt das Signal dieser Regierung, dass sie etwas für die Menschen tun will, und zwar schnell. Aber nein! Nun hört man, es müsse noch ganz viel besprochen werden, zum Beispiel, ob die Dynamisierung der Pflegeleistungen nicht doch zu teuer sei. Da bin ich wirklich fassungslos. Dann hört man, die Pflegeversicherung habe außerdem 2006 einen Überschuss erzielt; deswegen sei der Zeitdruck nicht mehr so groß. Offensichtlich hat sich für Sie jeglicher Druck in Luft aufgelöst. Dann hört man, dass Sie, Frau Ministerin, ganz eng mit Frau von der Leyen oder Herrn Seehofer zusammenarbeiten wollen. Mit Herrn Seehofer? Als bayerische Abgeordnete kann ich Ihnen versichern, dass Herr Seehofer derzeit ganz andere, nämlich bayerische Probleme löst. Ich finde es schön, wenn die Ressorts sich absprechen. Aber was, bitte, soll dabei herauskommen, was wir nicht schon wissen? Wir alle - ich betone: wir alle - haben über die Jahre nun wirklich zur Genüge geredet und getagt und nichts unternommen. Ich nenne nur den „Runden Tisch Pflege“ oder den Beirat zur Reform des Pflegebegriffs. Der wird vor Ende 2008 aber nicht zu Potte kommen. Es gibt nichts mehr zu reden. Es gibt kein Erkenntnisproblem mehr. Es gibt zig gute Beispiele dafür, wie gute Pflege transparent und nutzerorientiert funktionieren kann. Es gibt leider auch zig Beispiele dafür, wie schlechte Pflege aussieht. Sie müssen sich jetzt an die Umsetzung der vorhandenen Erkenntnisse machen. Wir Grünen empfehlen Ihnen dazu unser Eckpunktepapier. Wir nennen im Gegensatz zu Ihnen Ross und Reiter. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen: Wenn Sie meinen, Sie könnten sich auch ohne Pflegereform bis zu den nächsten Wahlen schummeln, dann könnten Sie durchaus recht haben. Sie verspielen damit aber den letzten Rest Vertrauen der Menschen in diese Koalition. Das ist mir, ehrlich gesagt, gleichgültig. Was mir aber nicht gleichgültig ist, ist Ihr Signal an uns alle: Menschenwürdige Pflege ist ein Ziel zweiter, dritter, vielleicht sogar vierter Klasse. Damit setzen Sie die Bereitschaft der Menschen aufs Spiel, sich als Gesellschaft für eine menschenwürdige Pflege verantwortlich zu fühlen und sich dafür zu engagieren. Das, meine Damen und Herren, geht wirklich uns alle an. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Willi Zylajew. ({0})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 war zweifelsfrei ein Meilenstein der deutschen Sozialpolitik. Wir haben es seinerzeit erreichen können, dass die Pflegeleistungen nicht mehr nach Haushaltslage auf kommunaler Ebene gewährt werden, sondern dass in der Versorgungsschiene Verlässlichkeit eingekehrt ist. Wir haben für Berechenbarkeit für ältere Menschen, für ihre Familien, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Bereich und für die Träger gesorgt. Dieser Fortschritt ist untrennbar mit der CDU/CSU-Fraktion und dem Namen Norbert Blüm verbunden. Diese Pflegeversicherung hat sich über Jahre bewährt. Wir haben qualitativ und quantitativ Hervorragendes erreicht. ({0}) Natürlich wäre es nötig gewesen, nach 1998 eine Fortentwicklung in der Pflege zu erreichen. Das war die Phase, verehrte Kollegin Scharfenberg, als die Grünen in der Regierung waren. Da ist aber nichts passiert: Rückbau der Bürokratie - nichts; keinen einzigen Handschlag haben Sie da gemacht. Optimierung des Fachkräfteanteils, Steigerung des Ansehens der Pflegeberufe, mehr Hilfe für Alte und Schwache - von den Grünen kam nichts, überhaupt nichts. ({1}) Es ist irrsinnig, was Sie jetzt alles fordern. Ausbau von teilstationären Angeboten, Kurzzeitpflege, unbürokratische Verzahnung von ambulant und stationär - 1998 bis 2005 nichts. Wir haben uns im Büro einmal die Mühe gemacht, zusammenzutragen, was es aus der CDU/CSU-Fraktion an Fragen gegeben hat und was von Ihnen an Antworten kam. Ich nenne Ihnen wegen der Kürze der Zeit nur Stichworte. Da hört man nichts von Dichtern und Denkern, sondern allerhöchstens von Ablenkern. ({2}) Die Kollegin Nickels hat am 30. November 1998 erklärt: Alles in Ordnung; wir prüfen entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998, aber die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Im folgenden Jahr, am 14. Juli 1999, war die Antwort der Frau Nickels wieder: Im Grunde genommen alles in Ordnung; das entwickelt sich prächtig, da haben wir nichts zu tun. Dann der Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/ Die Grünen, am 9. September 1999: Ich bin auch sicher, daß die finanzielle Basis der Pflegeversicherung nach wie vor auf einem derart hohen Niveau ist, daß wir eine dauerhafte Sicherung der Pflege in Deutschland garantieren können … Am 27. Januar 2000 sagen Sie in einer von der CDU/ CSU-Fraktion beantragten Aktuellen Stunde: Herr Zöller, Sie werfen der Bundesregierung vor, dass die im Koalitionsvertrag angestrebte Verbesserung der Situation der Dementen nicht eingetreten sei. Wir arbeiten intensiv daran … ({3}) - Ja, aber nichts geschafft, gar nichts! ({4}) Und jetzt, nach Jahren, seid ihr plötzlich so klug und habt Ideen. ({5}) Kollegin, schauen Sie in die Drucksache 14/3592 wieder nur: Haben wir nicht. Das geht so weit, dass Sie sagen, die Finanzierung sei bis 2006 gesichert. Gott sei Dank waren Sie 2006 nicht mehr an der Regierung. ({6}) Aber es ist ein Stück, das ins Tollhaus passt, was Sie hier geliefert haben. ({7}) - Kollege Bahr, ich bedanke mich; Sie sind ein verlässlicher Zwischenrufer. Wir packen das jetzt an und verbessern die Qualität der Pflege eindeutig. Das wird der Kollege Hermann Scharf noch ausführen. Aber zunächst einmal haben wir die Verpflichtung, eine Reserve für die Zeit aufzubauen, die in 20 Jahren beginnt, in der wir sehr viel weniger Beitragszahler und sehr viele Pflegebedürftige haben werden. Davon werden Sie uns nicht abbringen. ({8}) 1998 haben wir Ihnen eine Pflegeversicherung übergeben, die finanziell solide war. Sie können sicher sein - Sie haben ja Gott sei Dank nichts kaputt gemacht; Sie haben nichts vernünftiger, aber auch nichts schlechter gemacht -, dass wir dafür sorgen werden, dass sie nun so reformiert wird, dass wir mit Blick auf die demografische Entwicklung eine ordentliche personenbezogene Reserve ansparen und aufbauen. Das ist das alles Entscheidende. Außerdem wird es inhaltliche Verbesserungen geben. Da sind wir im Unterschied zu Ihnen absolut verlässlich und gut. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Lanfermann für die FDPFraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht ein wenig nach dem Motto „Nach dem Murks ist vor dem Murks.“ Heute Morgen haben Sie die Gesundheitsreform durchs Parlament gebracht, und jetzt treffen wir uns in einem überschaubaren Kreis, um über die Reform der Pflegeversicherung zu sprechen. Das Ganze hat mit der Koalitionsvereinbarung angefangen, in der sehr viele Versprechen enthalten sind. Die ersten Versprechen hat Frau Caspers-Merk wieder eingesammelt, indem sie sagt, nur mit höheren Beiträgen sei eine Dynamisierung möglich. Da man davor aber Angst hat, kann man also eine Dynamisierung vergessen. Dabei sind die Leistungen mittlerweile schon 13 Prozent weniger wert als beim Start der Pflegeversicherung, weil man bislang keine Dynamisierung vorgenommen hat. Das ist eine der Schwächen des Systems, das Herr Blüm damals erfunden hat und auf das Sie immer noch stolz sind. Den Zeitplan können Sie auch nicht mehr einhalten. Denn im Koalitionsvertrag stand, ein entsprechender Gesetzentwurf solle Mitte 2006 vorliegen. Das hören Sie nicht mehr so gerne. Dann hieß es, ein Gesetzentwurf würde nach der Gesundheitsreform vorgelegt. Das wäre jetzt der Fall. Sie haben zwar einige Vorschläge in den Schubladen liegen. Aber Sie trauen sich nicht, sie hervorzuziehen. Es gibt immer zwei Papiere. Das eine Papier ist für die eine Hälfte und das andere für die andere Hälfte dieses Hauses. Die mutigen Worte hinsichtlich der Kapitalreserve, die Herr Zylajew hier gefunden hat, werden wir Ihnen in den nächsten zwei Jahren noch oft genug vorhalten. Mittlerweile wissen wir, dass die Vorlage eines Gesetzentwurfs andauernd verschoben wird. Frau Caspers-Merk, die dafür zuständig ist, solche Wahrheiten langsam unter das Volk zu bringen - die Ministerin wird nachher noch sprechen und uns kompetent Auskunft geben -, hat gesagt, es werde jetzt doch April oder Juli 2008. Angesichts der Landtagswahlen, die vorher und nachher stattfinden, und angesichts der Tatsache, dass es allerspätestens im September 2009 Bundestagswahlen gibt, bin ich bereit, Wetten anzunehmen, dass Sie keine Reform zustande bringen. Darüber können wir uns noch gerne unterhalten. Tatsächlich ist es so, dass es keine Einigung geben kann, wenn beide Seiten der Koalition auch nur halbwegs bei dem bleiben, was sie mittlerweile der Bevölkerung versprochen haben. Frau Ferner und andere sagen für die SPD, sie wollen die Bürgerversicherung - sprich: Abkassieren bei allem, was die Bürger an Einnahmen und Vermögen haben -, um damit die Pflegeversicherung zu bezahlen. Eine Reserve in nennenswerter Größenordnung, ob sie nun Demografiereserve oder Kapitalrückstellung heißt, wollen sie praktisch nicht. Die CDU/CSU hat, wenn ich das einmal so locker sagen darf, mittlerweile die Backen doch kräftig aufgeblasen. Herr Laumann, der in Nordrhein-Westfalen für diesen Bereich zuständige Minister, hat dies bei einer Veranstaltung des BPA am Montag getan. Einige von uns waren dort zugegen. Er hat gesagt, ohne eine anständige Kapitaldeckung und ohne eine Rücklage mit Blick auf die jungen Menschen, um die es hauptsächlich geht, wird es mit der Union eine Reform der Pflegeversicherung nicht geben. Das haben wir gehört, notiert und auf Wiedervorlage gelegt. Tatsächlich ist es so, dass das, was wir bei der Gesundheitsreform erlebt haben, sich natürlich wiederholen wird. Wir werden uns in vielen Diskussionsrunden wiederfinden und werden immer wieder hören, was die beiden Seiten wollen. Aber sie werden nicht zusammenkommen. Während dieser Zeit steigen aber die Kosten und die Eigenbeteiligungen weiter. Ich zitiere jetzt aus der Pflegestatistik 2005 des Statistischen Bundesamtes. Ein Pflegeplatz in der Pflegestufe 3 kostet im Durchschnitt 2 128 Euro. Davon zahlt die Pflegeversicherung 1 432 Euro. Bleiben also knapp 700 Euro Eigenbeteiligung übrig. Hinzu kommen Unterkunfts- und Verpflegungskosten in Höhe von knapp 580 Euro. So kommt man auf über 1 270 Euro Eigenbeteiligung im Monat. Diesen Betrag können viele natürlich nicht aufbringen. Dann sind es die Angehörigen oder die Sozialkasse, die zahlen. Diese Ausgaben steigen. Je länger man wartet, desto länger schiebt man das Problem vor sich her. All die sachlichen Probleme, Frau Kollegin Scharfenberg, die Sie immer anführen, sind drängend. Jeder möchte etwas zur Lösung beitragen. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass das Vorhaben, Demenzkranken zu helfen, von der Koalition zu Beginn ihrer Arbeit in den Vordergrund gestellt wurde. Davon ist jetzt auch nicht mehr so viel die Rede. Denn das kostet noch einmal extra. Sie sind nicht in der Lage, das System zukunftssicher zu machen und dafür zu sorgen, dass wenigstens die Kosten, die jetzt anfallen, in der Zukunft bezahlt werden können. Erst recht sind Sie nicht in der Lage, den demografischen Wandel zu begleiten. Sie wissen genau, dass der Beitragssatz der Pflegeversicherung in den nächsten Jahrzehnten auf mindestens 4 bzw. an die 5 Prozent steigen wird, wenn man nichts tut. Das will natürlich niemand. Aber wenn das so ist, dann müssen Sie endlich auch einmal springen und sagen: Jawohl, wir schaffen jetzt ein zukunftssicheres System, indem wir ein Prämiensystem einführen; denn nur damit können Sie eine Kapitalrückstellung bilden, ({0}) die die Probleme der Zukunft löst. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Margrit Spielmann für die SPD-Fraktion.

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP sagt uns heute schon den ganzen Vormittag, was nicht geht und was schlecht ist. Aber ich habe nicht einen einzigen Hinweis - auch nicht von Ihnen, Herr Lanfermann - zu einem Konzept gehört, wie man es besser machen kann. ({0}) Wir haben immer gesagt - daran besteht kein Zweifel, Frau Scharfenberg -: Die Pflegereform folgt der Gesundheitsreform. Daran halten wir uns auch. Aufgrund unserer älter werdenden Gesellschaft ist die Reform der Pflegeversicherung in der Tat eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre. Dieser werden wir uns stellen. Die Ministerin hat darauf in all ihren Gesprächen, die sie geführt hat, immer wieder hingewiesen; ich denke, sie wird es nachher auch wieder tun. Wir sollten uns dieser Problematik aber mit der notwendigen Sorgfalt und ohne Hektik stellen; denn eine über das Knie gebrochene Reform schadet den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen mehr, als dass sie nützt. Frau Scharfenberg, Sie beklagen, bei der SPD sei nichts über Strukturen und Konzepte zu hören. Das wundert mich schon sehr. Wir haben in der letzten Legislaturperiode - auch damals war ich für die Pflege verantwortlich - mit Ihrer damaligen Kollegin gemeinsame Konzepte hinsichtlich der Pflege entwickelt, sehr viele Ziele formuliert und diese auch umgesetzt. Ich denke, ich sollte sie Ihnen noch einmal kurz erläutern. Wir haben zum Beispiel den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ als einen ganz wichtigen in allen unseren Dokumenten aufgenommen. Heute Morgen haben wir mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in Form der integrierten Versorgung eine bessere Zusammenarbeit zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung sowie zwischen Pflegekräften und Hausärzten beschlossen. Außerdem haben wir einen Leistungsanspruch für Ältere und Pflegebedürftige auf geriatrische Rehabilitation geschaffen. Dies ist übrigens wichtig, um diesen Grundsatz zu verwirklichen. Um diesen Grundsatz aber auch mit den entsprechenden Menschen, mit Pflegerinnen und Pflegern, auszufüllen, spielt die Pflegeausbildung eine wichtige Rolle. Wir haben - übrigens mit Ihnen gemeinsam - diese Pflegeausbildung weiterentwickelt. Die Finanzierung, die vakant war, haben wir heute übrigens auch beschlossen. Auch der Pflegebedürftigkeitsbegriff war Gegenstand unserer und Ihrer Überlegungen. Wir sind uns sicher, dass wir diesen Pflegebedürftigkeitsbegriff unbedingt ändern müssen. Er ist zu sehr am Somatischen, am Körper orientiert. ({1}) Menschen, die an Demenz erkranken oder geistig behindert sind, oder Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen anders betreut werden. Wir wollen einen Pflegebegriff, der auch aktuelle Erkenntnisse der Pflegewissenschaft berücksichtigt, der von einer Assistenz und Begleitung ausgeht und die Menschen aktiviert. Damit diese Ziele umgesetzt werden, hat das Bundesministerium für Gesundheit, wie Sie wissen, einen Beirat eingeDr. Margrit Spielmann setzt, der ein neues Begutachtungsverfahren entwickeln soll. Wir fördern darüber hinaus ein professionelles Pflegemanagement. Wir wollen, dass die Menschen nicht ohne Perspektive auf eine Anschlussbehandlung aus dem Krankenhaus entlassen werden. Bei vielen ist damit der Weg in das Pflegeheim vorprogrammiert. Wir fordern deshalb das Entlassungsmanagement. Wir wollen eine bessere Zusammenarbeit - ich sagte es schon - von Ärzten und Therapeuten mit den Pflegeheimen. Wir wollen eine Verzahnung zwischen RehaEinrichtungen und Pflegeheimen sowie eine stärkere Einbindung ehrenamtlich Helfender in vorhandene Versorgungsstrukturen. Ich habe nun versucht, das Ganze in fünf Minuten darzustellen. Ich verstehe die gesamte Aufregung und Diskussion nicht. Wir sollten nicht nur draufschlagen, sondern mit gemeinsamen Konzepten an dem weiterarbeiten, was wir in den letzten sieben Jahren, also in den letzten beiden Wahlperioden, miteinander vereinbart haben. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Betroffene an den Fernsehschirmen und auf den Tribünen! Wenn man sich ansieht, welche Reformen von dieser Koalition schon verzapft wurden - die Arbeitsmarktreform und heute Vormittag die Gesundheitsreform -, könnte man fast froh sein, wenn die Pflegereform verschoben wird. ({0}) Bedauerlicherweise geht das aber am Leben vorbei. Es ist nämlich notwendig, dass das, was an Pflege zurzeit finanziert wird, reformiert wird. Es muss uns klar sein, dass das weit über die Pflegeversicherung hinausgeht. Deshalb möchte ich heute nun drei Punkte nennen, die sofort, noch heute, geändert werden könnten. Ich möchte erstens etwas über die Situation derjenigen sagen, die die assistierende Pflege brauchen, zweitens etwas zur Situation derjenigen, die die pflegende Assistenz leisten, und drittens zur Situation der Betroffenen, die sie selbst bezahlen könnten. Zu den Betroffenen, die die assistierende Pflege brauchen: Wenn wir nicht endlich einen teilhabeorientierten Pflegebegriff einführen, dann kommen wir nie voran. Liebe Kollegin Spielmann, wir brauchen keinen Pflegebedürftigkeitsbegriff, sondern einen Pflegebegriff, der sich von der Somatik entfernt, der die Aktivierung und die Teilhabeorientierung bringt. ({1}) Liebe Frau Ministerin, im Dezember vorigen Jahres ist Ihnen von Ihrer Behindertenbeauftragten ein hervorragendes Konzept für teilhabeorientierte Pflege überreicht worden. Was haben Sie bei der Überreichung gesagt? Prima, was ihr hier aufgeschrieben habt. Wir machen es aber genau andersherum. - In dem Papier steht: Wir brauchen einen vernünftigen Pflegebegriff. Von diesem Pflegebegriff ausgehend müssen entsprechende Maßnahmen abgeleitet werden. - Sie haben gesagt: Wir machen es umgedreht. Wir werden jetzt erst einmal ein paar Maßnahmen beschließen. Anschließend, ganz am Ende, ändern wir den Pflegebegriff. - Das ist ein absolut verkehrtes Herangehen. Es ist aber eine gute Methode, wenn man verhindern will, dass endlich fortschrittliches, teilhabeorientiertes Pflegen, ein assistierendes Begleiten beginnt. Zweiter Punkt: die Betroffenen, die die pflegende Assistenz leisten sollen. Warum entwerfen wir kein Berufsbild der Alltagsassistentin, des Alltagsassistenten? Damit kämen wir von der Gesundheitsorientierung weg. Die assistierende Pflege oder pflegende Assistenz muss nicht von Krankenpflegern geleistet werden. Wir brauchen vielmehr Menschen, die sozial ausgebildet und teilhabeorientiert sind, die wissen, dass man sich an den Menschen orientieren muss, die die Pflege und die Assistenz brauchen, dass deren Wünsche erfüllt werden müssen und dass es nicht darum geht, die Wünsche irgendwelcher Institutionen zu erfüllen oder sich an Dienstpläne zu halten. Lassen Sie uns dieses Berufsbild, das bereits angedacht ist, entwickeln und umsetzen! Lassen Sie uns zum Beispiel Menschen, die arbeitslos sind, in dieser Richtung ausbilden! Die machen das gerne. ({2}) Dritter Punkt. Lassen Sie uns von den Parolen wegkommen. Wenn ich die Losung „Ambulant vor stationär“ höre, dreht sich mir inzwischen der Magen um. Sie bauen fröhlich neue Pflegeheime. Machen Sie doch etwas anderes: Nehmen Sie die Aktion „Daheim statt Heim“! Bauen Sie keine neuen Heime mehr! Lassen Sie die Leute gut betreut zu Hause, damit sie selbst bei einem hohen pflegerischen Aufwand zu Hause leben können! Die Aktion „Daheim statt Heim“ wird von Ihrer Kollegin Silvia Schmidt besonders gefördert. Unterstützen Sie Ihre Kollegin! Ich habe kein Problem damit, jemanden aus der SPD zu unterstützen, wenn sie etwas Vernünftiges macht. ({3}) Das Gleiche betrifft die tolle Losung „Reha statt Pflege“. Ich habe sie heute x-mal gehört. Da kriege ich das Kichern. Diese Losung höre ich seit 17 Jahren. Es ändert sich aber nichts. Wir brauchen „Reha plus Pflege“ oder „Reha bei Pflege“. Auch pflegebedürftige Menschen müssen einen Anspruch auf eine vernünftige RehaMaßnahme haben, und zwar regelmäßig, mindestens alle zwei Jahre für vier Wochen. Das ist aber nicht drin. Dennoch brauchen wir das und nicht solche Parolen. ({4}) Zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte: Wovon soll es denn bezahlt werden? Herr Zylajew möchte gerne einen Kapitalstock aufbauen. Das ist ja toll. Ich freue mich schon darauf, wenn dann mit der Pflege an der Börse spekuliert wird. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Schließen Sie die private Pflegeversicherung! Geben Sie denjenigen, die dort bereits Ansprüche erworben haben, einen Bestandschutz aus den 12,5 Milliarden Euro Rücklagen, die es gibt! Davon können Sie alle Ansprüche der dort Versicherten ihr Leben lang sehr gut bedienen. Schließen Sie die private Pflegeversicherung, und überführen Sie alle, die jetzt dort versichert sind, in die gesetzliche Pflegeversicherung! Dann würden Sie jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr einnehmen, als Sie ausgeben. Das sagt die private Pflegeversicherung selbst. Sie nimmt jedes Jahr 2 Milliarden Euro ein und gibt nur 500 Millionen Euro aus. Dort gibt es schon jetzt eine richtige Reserve. Nutzen Sie das! Machen Sie es! Dann brauchen wir nicht darüber zu reden, ob Demente einbezogen werden oder nicht. Dann ist ein bisschen Geld da. Wenn wir dann noch davon wegkommen, eine Teilkaskoversicherung zu machen, sondern den ganzen Menschen sehen, dann haben wir wirklich etwas erreicht. Fassen Sie es an! Machen Sie das, was gleich möglich ist, sofort, und das andere lassen Sie uns in Ruhe gemeinsam mit den Betroffenen machen und nicht gegen sie! Danke schön. ({5}) - Das ist aber nicht meine Klientel.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat das Wort der Kollege Hermann-Josef Scharf. ({0})

Hermann Josef Scharf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003876, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der demografische Wandel unserer Gesellschaft hat nun auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen erreicht. Der Dreiteiler „2030 - Aufstand der Alten“ hat eine breite und vielschichtige Debatte ausgelöst. Dass wir und mit uns unsere Gesellschaft immer älter werden, ist heute so gut wie bewiesen. Aber wie wir diesen Prozess gestalten und ob wir ihn auch als Chance verstehen, können wir selbst entscheiden und dann die nötigen Weichen stellen. ({0}) Darum wird es bei der anstehenden Pflegereform gehen, die wir als Große Koalition umsetzen werden. Wir werden die finanzielle Belastung der Pflegeversicherung auf breitere Schultern stellen. Im Jahr 2030 wird einem Rentner nur noch ein Erwerbstätiger gegenüberstehen. Das ist keine Schwarzmalerei, die in dieser Debatte völlig fehl am Platze wäre, sondern das sind die nüchternen Fakten. Deshalb muss die rein umlagefinanzierte Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte private Zusatzversicherung ergänzt werden. ({1}) Wir als Union schlagen ein Modell vor, das einen monatlichen Beitrag unabhängig vom Einkommen vorsieht. Die immer kleiner werdenden Generationen unserer Nachkommen können die steigenden Versicherungsleistungen nicht mehr uneingeschränkt finanzieren. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird mit der steigenden Lebenserwartung wachsen wie auch die qualitativen Ansprüche an die Pflege selbst. Deshalb muss es bei der Pflegereform zusammen mit dem Aufbau einer nachhaltigen Finanzierungsgrundlage auch um eine Neuausrichtung im Leistungsbereich gehen. Die Gesundheitsreform, die wir heute Morgen verabschiedet haben, hat bereits viele Aspekte aufgegriffen, die den pflegebedürftigen Menschen in unserem Land helfen werden. Ich nenne hier nur: Reha vor Pflege, die Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung, den Leistungsanspruch auf Palliativversorgung oder den künftigen Anspruch auf geriatrische Rehabilitation. ({2}) Die meisten Pflegebedürftigen wünschen sich, daheim gepflegt zu werden. Herr Seifert, deswegen werden wir uns weiterhin für die Stärkung von „Ambulant vor stationär“ einsetzen. Die Einführung der Pflegezeit ist ein wichtiger Baustein, die Pflege von Angehörigen und den Beruf besser zu vereinbaren. Wir werden aber noch weitere solcher innovativer Schritte benötigen, um eine angemessene Pflege zu ermöglichen. ({3}) Denn auch die Familienpflege wird aufgrund der demografischen Entwicklung ihre Grenzen haben. Immer mehr Ältere haben keine Kinder, oder die Zahl der Geschwister ist so gering, dass die Pflege nicht geteilt werden kann. In den seltensten Fällen leben die Kinder heute noch in der Nähe des Wohnortes der Eltern. Wir werden in Zukunft mehr professionelle Hilfe brauchen und den Ausbau der Pflege- und Versorgungsdienste verstärken müssen. Die Altenpflege bietet ein enormes Potenzial an Arbeitsplätzen und an neuen Möglichkeiten im Ausbildungsbereich, das heute noch weit unterschätzt wird. Unsere Pflegereform wird sich mit vielschichtigen und komplexen Fragestellungen auseinandersetzen. Die Finanzierungsfrage ist das eine, Strukturveränderungen sind ein Weiteres. Wir als Unionsfraktion sind uns der Dringlichkeit dieser Reform bewusst. Doch gilt auch hier der Grundsatz: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. ({4}) Das sind wir den pflegebedürftigen Menschen wie all unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern schuldig. Sehr geehrte Kolleginnen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - die Kollegen sind Ihnen heute Mittag abhandengekommen; so viel zur Wichtigkeit dieser Debatte, Frau Scharfenberg -, ({5}) Sie haben während Ihrer siebenjährigen Regierungsverantwortung die Pflegereform völlig außer Acht gelassen. Jetzt regen Sie sich auf, wenn wir, die Große Koalition, die Pflegereform gründlich vorbereiten - das ist mehr als lächerlich. Im Gegensatz zu Ihnen werden wir diese Pflegereform mit Herz, Hand und Verstand in Angriff nehmen. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eben gedacht: Es mag ja sein, dass man in Bayern manchmal vieles fordern muss, um überhaupt gehört zu werden. Aber die heutige Debatte hier unter dem Titel „Erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung …“ ist so überflüssig wie ein Kropf. Denn wir haben im letzten Jahr ganz deutlich gemacht, dass wir zuerst die Gesundheitsreform unter Dach und Fach bringen. Vielleicht erinnern Sie sich, dass wir vor einigen Stunden hier im Deutschen Bundestag die zweite und die dritte Lesung der Gesundheitsreform hatten und sie verabschiedet wurde. Jetzt werden wir die Pflegeversicherung angehen, und wir werden das gründlich tun. Von einer Verschiebung kann keine Rede sein. Manche äußern sich sehr populistisch, verlieren aber kein Wort darüber, wie eine vernünftige Pflege finanziert werden kann, leisten keinen Beitrag dazu, einmal in dieser Gesellschaft darüber zu diskutieren, was uns eine gute Pflege wert ist, was der Einzelne dafür zu geben bereit ist, gehen nicht darauf ein, welche Vorschläge eigentlich debattiert werden. Im Gegensatz zu diesen Leuten nehmen wir das Thema Pflege ernst. Heute Morgen haben sie dagegen gestimmt, dass es Verbesserungen für pflegebedürftige, für behinderte Menschen gibt. ({0}) Weder von der Seite der Linken noch von den Grünen - die FDP nehme ich gar nicht dazu; das ist ein ganz anderer Bereich - ist überhaupt etwas zu den Verbesserungen, die mit der Gesundheitsreform verbunden sind, gekommen. Sie haben alle gesagt: Das ist so unwichtig für uns, dass es nicht einmal wert ist, hier diskutiert zu werden. ({1}) Das konnte jeder sehen, der heute Morgen bei der Debatte dabei war. Sie haben nichts dazu gesagt, was wir tun, um die Versorgung der älteren Menschen zu verbessern. Sie haben nichts dazu gesagt, was wir dafür tun, um die medizinische Versorgung und die Pflegeversorgung zu verbessern. Heute Morgen hat die Große Koalition entschieden, dass wir die Verträge über integrierte Versorgung nicht nur wollen, um die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Ärzten in Krankenhäusern zu verbessern, sondern um einen bevölkerungsbezogenen Ansatz zu verfolgen und Anreize dafür zu setzen, dass ältere Menschen solange irgend möglich selbstständig, das heißt zu Hause leben können. Darum geht es uns, wenn wir davon reden, dass wir die Pflegeversorgung verbessern wollen. Für uns kommt es auf den einzelnen Menschen an. Wir haben nicht die Zeit, nur über irgendwelche populistischen Themen zu diskutieren. Was den Vorschlag der Linken angeht, einfach das Geld der Privatversicherten zur Finanzierung heranzuziehen: Ich hätte gedacht, dass Sie das Grundgesetz besser kennen, das dies nämlich verbietet. ({2}) Im Gegensatz zu Ihnen und Ihrer Partei müssen wir nämlich die Frage der Finanzierung beantworten und Lösungen dafür finden, wie wir die Menschen einbeziehen können. ({3}) Von uns erwartet man auch Verantwortung, wenn es darum geht, was der Einzelne beitragen kann. Es wäre gut gewesen, wenn wir eine Debatte über die Anforderungen im Pflegebereich begonnen hätten. Aber dass Sie an dem Tag, an dem die Gesundheitsreform beschlossen wurde, eine Debatte über eine angebliche Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung - das steht für uns als nächstes Projekt an - beantragen, zeigt, dass es Ihnen in einzelnen Bereichen an inhaltlicher Substanz fehlt. ({4}) Uns geht es um die Menschen. Ich bin sehr viel unterwegs - wahrscheinlich mehr als Sie alle -, um mir ein Bild von der Pflegesituation zu machen. Ich informiere mich über Projekte und frage, was wir tun können, um dem Wunsch der Menschen, zu Hause zu leben, gerecht zu werden. Die stationäre Pflege muss beibehalten werden, aber es müssen zusätzliche Angebote geschaffen werden. Ich frage danach, was wir dazu beitragen können, welche Projekte wir fördern und wie wir eine gute Versorgung gewährleisten können. ({5}) Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns. Dabei beziehen wir viele Anregungen der Menschen vor Ort mit ein. ({6}) Wenn wir ein Finanzierungskonzept entwickeln, dann muss das auch tragen. Ich halte die Einführung der Pflegeversicherung nach wie vor für eine großartige politische Leistung. Denn erst mit dem eigenständigen Zweig der Pflegeversicherung - die FDP hat übrigens seinerzeit mitregiert, als wir das Vorhaben umgesetzt haben, auch wenn sie es jetzt ablehnt, als wäre es Teufelswerk konnten wir in unserem Land eine enorme Infrastruktur in diesem Bereich schaffen. ({7}) Aber, Herr Kollege Zylajew, Herr Blüm hat schon damals darauf hingewiesen, dass das, was wir damals verabschiedet haben, von der FDP als Koalitionspartner blockiert wurde, sodass die Reform nicht so weitreichend sein konnte, wie es eigentlich vorgesehen war. ({8}) Die damals verabschiedeten Regelungen waren für zehn Jahre gedacht. So lange hatten wir relative Sicherheit. Jetzt muss man darüber reden, wie es weitergeht. ({9}) Genauso, wie wir mit der heute Morgen getroffenen Entscheidung verhindert haben, dass das Gesundheitssystem für die Generationen unserer Kinder gegen die Wand gefahren wird - statt es wie andere vorzuziehen, gar nichts zu tun -, und uns entschlossen haben, zu handeln und Kompromisse zu finden, damit wir ein bezahlbares Gesundheitssystem und eine gute Versorgung der kranken Menschen in diesem Lande gewährleisten können, wird auch die Pflege ein Thema sein, das diese Koalition mit großer Ernsthaftigkeit angehen wird. Wir werden das Thema gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen so beraten, dass es ein Erfolg wird, und zwar für alle, für die Pflegebedürftigen und die, die andere pflegen. Uns kommt es darauf an, auch die Situation der vielen Frauen und Männer in diesem Land zu verbessern, die Tag für Tag unter sehr harten Bedingungen im Pflegebereich tätig sind. Auch für diese Menschen wollen wir die Bedingungen so verändern, dass sie nicht nur vernünftig bezahlt werden, sondern dass auch die Arbeitszeit angemessen und bedarfsgerecht geregelt wird. Das kann nicht auf die Schnelle erfolgen. Wir werden die Beratungen in diesem Jahr durchführen. Im kommenden Jahr wird dann die Pflegereform in Kraft treten. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Scharf, es ist interessant, von Ihnen zu hören, dass Debatten nur dann wichtig sind, wenn sie von Männern geführt werden. Bei den Grünen ist das ein wenig anders. Im Übrigen sage ich Ihnen zum Thema Interesse: Bei uns sind immerhin 10 Prozent der Fraktion anwesend, bei Ihnen sind es nur 5 Prozent. Bei gleichem Prozentanteil müssten es nämlich 22 sein. So viel zu der Frage, ob man diese Debatte wichtig nimmt, auch wenn sie am Freitagnachmittag stattfindet. ({0}) Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, angesichts der Dissense bei der Gesundheitsreform überlege man in der SPD-Fraktion, ob man nicht die Fachleute aus dem Gesundheitsausschuss, die nicht zugestimmt haben, abzieht. ({1}) Ich will das gar nicht kommentieren; das ist eine Angelegenheit der SPD-Fraktion. Interessant war jedoch die mitgelieferte Begründung. Sie lautete, sonst gäbe es eine Neuauflage der Debatte beim Thema Pflege. ({2}) Im Klartext heißt das, dass die Koalitionsspitzen bereits damit rechnen, dass es eine ähnlich vermurkste Reform geben könnte, ({3}) dass es zu einem Kompromiss kommen könnte, der niemanden überzeugt und bei dem die Fachleute von der Fahne gehen. Davor kann ich Sie wirklich nur warnen. Dafür ist das Thema Pflege zu wichtig. ({4}) Herr Kollege Zylajew, Sie haben sich dafür feiern lassen, dass es die Union mit Norbert Blüm war, die die Pflegeversicherung eingeführt hat. Das sei Ihnen zugestanden. ({5}) Auch ich bin der Meinung, dass das in der Tat ein sozialpolitischer Meilenstein war. Fragen Sie aber heute einmal die Junge Union, ob sie Ihnen zustimmt. Der KolBirgitt Bender lege Mißfelder sagt zu dieser Frage etwas ganz anderes. Wenn es nach Ihren jungen Leuten geht, dann sollte die jetzige Pflegeversicherung abgeschafft und komplett auf eine private Kapitaldeckung umgestellt werden. ({6}) Es ist ja nicht nur so, dass es innerhalb der Sozialdemokratie und zwischen Rot und Schwarz Differenzen gibt; ({7}) vielmehr ist es so, dass auch die Schwarzen untereinander genügend Diskussionsbedarf haben. ({8}) Die Frage ist doch: Führen Sie diese Diskussion, und kommen Sie dabei zu einer gemeinsamen Idee? Herr Kollege Zylajew, Sie haben die Antwort einer grünen Staatssekretärin aus dem Jahr 1998 zitiert, die gesagt hat: Damals war die Pflegeversicherung finanziell in Ordnung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Drei Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung war das so. ({9}) Jetzt schreiben wir das Jahr 2007, und jetzt wird es dringend. Ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass es bereits in der letzten Legislaturperiode dringend war. ({10}) Aber denken Sie daran, dass unsere Eckpunkte nicht nur wegen der Schwierigkeiten innerhalb der Koalition nicht umgesetzt werden konnten, sondern auch deshalb nicht, weil wir es mit einer Blockademehrheit im Bundesrat zu tun hatten. ({11}) Dieses Problem - so behaupten Sie jedenfalls - haben Sie nicht mehr. Also könnten Sie wirklich ein Konzept vorlegen. ({12}) Ein Konzept, das sich mit den Finanzen befasst, gibt es bisher nicht. Die einen sprechen von privater Kapitaldeckung mit Kopfpauschale - davon sprach gerade auch der Kollege Scharf -, ({13}) die anderen sprechen von einer Bürgerversicherung oder von gar nichts. Wahr ist, dass die Bürgerversicherung, so richtig sie für den Bereich der Pflege ist, das finanzielle Problem nicht lösen wird. ({14}) Mit dem veränderten Altersaufbau der Bevölkerung und der deswegen zu erwartenden Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen wird man mehr als eine Bürgerversicherung brauchen. ({15}) Deswegen braucht man in der Tat eine Demografiereserve. Darüber wird auch schon länger diskutiert. Aber das, Frau Kollegin Widmann-Mauz, heißt noch lange nicht, dass man sie durch private Kapitaldeckung herstellen muss. ({16}) Das kann man genauso gut in einem Kollektivsystem machen. Darüber werden Sie sich einigen müssen. ({17}) Ich bin froh, dass es bei der Union, Kollege Scharf, Erkenntnisse darüber gibt, dass die Familien - oder sagen wir besser: die Frauen; es sind ja immer die Töchter und Schwiegertöchter, die die Pflege übernehmen ({18}) die Pflege nicht mehr allein tragen können. So wie sich unsere Gesellschaft entwickelt, wird professionelle Pflege in immer größerem Ausmaß notwendig. Das heißt, wir werden auch etwas für das kooperative Miteinander von Laien- und Profipflege, von bürgerschaftlich engagierten und professionellen Pflegekräften tun müssen. Dafür brauchen wir andere Strukturen und andere Wohnformen. Es kann nicht bei der strikten Trennung von eigener Wohnung und einem Heimplatz bleiben. Daneben brauchen wir eine bessere Beratung und Begleitung von Betroffenen und Angehörigen. Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb nur auffordern: Schieben Sie eine solche Reform nicht auf die lange Bank! Diesmal wird die Große Koalition nicht damit durchkommen, wenn sie keine gemeinsame politische Leitidee entwickelt und stattdessen nur einen Kompromiss als Attrappe hinstellt. Diesmal lassen wir Sie da nicht raus. Irgendwann müssen Sie auch einmal liefern. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat jetzt die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Gäste! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte mich natürlich als Erstes dagegen verwahren, dass das hier das Letzte ist; denn dann wäre ich als letzte Rednerin ja heute das Allerletzte. Das geht natürlich nicht. Ich finde, dass das dem Thema nicht angemessen ist. Ich möchte darum bitten, wenn wir das Thema Pflege ernsthaft und zum Wohle der Menschen betrachten wollen, nicht das Zitat zu wiederholen: Im Pflegefall lieber den Freitod. Ich bitte darum, dabei zu bedenken: Man redet immer über anderer Leute Leben. Wir sollten hier keine falschen Grenzen ziehen, sondern die Notwendigkeiten sehen. ({0}) Es ist schon zu Recht dargestellt worden, dass dieses Nölen und Nörgeln über die erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung am heutigen Tag, wo wir die Gesundheitsreform verabschiedet haben, zu einer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung führt. Das ist dem Thema nicht angemessen. ({1}) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung etwas zum Pflegebegriff, zum notwendigen Leitbild, zur Sicherung der nachhaltigen und gerechten Finanzierung gesagt, aber auch zur Verbesserung der Leistungsseite. Ja, es wird auch Diskussionen dazu geben, wie die Finanzierung erfolgen soll. Es hat solche Diskussionen auch schon gegeben, wie in der Zeitung zu lesen war. Für die SPD kann ich selbstverständlich sagen, dass wir auch Privatversicherte stärker zur Kasse bitten möchten und hiermit den sozialen Pflegebegriff deutlicher machen wollen. ({2}) Wir werden uns darüber austauschen müssen, wie es mit der Forderung aussieht, die zusätzliche Finanzierung über Kapitaldeckungsverfahren vorzusehen. Wir werden diese Diskussionen führen. Es wäre unsinnig, davon auszugehen, dass dieses Thema ausgeklammert werden könnte. ({3}) Richtig ist aber auch, dass die häusliche Pflege - einer der ganz wesentlichen Aspekte - gestärkt werden muss. Wir haben vor kurzem noch einmal die Zahlen zur Kenntnis nehmen können. Waren es 1999 noch circa 2 Millionen pflegebedürftige Menschen, waren es 2003 schon über 100 000 mehr. Richtig ist auch: Pflege findet zu zwei Dritteln zu Hause statt. Ich halte es für eine falsche Alternative, die stationäre Unterbringung und die Pflege gegen die ambulante Pflege auszuspielen; denn beides ist notwendig. ({4}) Wir alle wissen - darüber ist auch schon in anderen Zusammenhängen diskutiert worden -, das Familienbild ändert sich. Das traute Dreigenerationenhaus gibt es zumindest in der Stadt nur noch recht selten; vielleicht auf dem Land noch häufiger. Selbstverständlich gilt auch hier: Die Jüngeren, die Erwerbstätigen müssen nicht nur professionell pflegen können, sie müssen auch die Chance haben, in ihrer Familie zu leben. Hier brauchen wir externe und vor allen Dingen professionelle Hilfe. Die Kultur des Helfens auf Gegenseitigkeit, der Ausbau von bürgerschaftlichem Engagement ist ebenso wichtig und gefragt. Ich bedanke mich für das Lob der Initiative unserer Kolleginnen Silvia Schmidt und Ute Kumpf. Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ich denke, dieser Aspekt muss in dieser Diskussion verstärkt berücksichtigt werden. Denn unsere Altenpflegesysteme sind hinsichtlich dessen noch nicht sensibel genug, was man kulturelle Öffnung nennt. Auch hiermit werden wir uns in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen. Richtig und wichtig ist das, was zur Professionalisierung der Pflege gesagt worden ist, zu einem neuen Pflegebegriff und auch zur Anerkennung. Dabei geht es nicht nur um Wertschätzung. Als Frauenpolitikerin sage ich vielmehr: Pflege kostet Geld, und die Pflegenden haben nicht nur immateriell ein billiges Dankeschön, sondern tatsächlich eine anständige finanzielle Aufwandsentschädigung verdient, um ihre Existenz zu sichern. Auch hierfür werden wir sorgen müssen. Ich hoffe, dass wir das Thema nicht kaputtnörgeln, sondern dass wir uns gemeinsam und tatkräftig dem Thema im Interesse der Bevölkerung, der Jungen, der Alten und der mittleren Generation sach- und fachgerecht zuwenden werden. Ich wünsche uns allen ein wunderbares Wochenende. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. Februar 2007, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles Gute für die Heimreise und weitere Veranstaltungen und vielleicht auch ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.