Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
uns eine intensive Debatte.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
zu Beginn dieser Woche gemeinsam mit dem ungarischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre
Kertész der Opfer des Nationalsozialismus gedacht.
Heute wollte und sollte der türkische Schriftsteller und
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk nach Berlin
kommen, um die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin entgegenzunehmen. Orhan Pamuk hat nach
zahlreichen Drohungen der letzten Monate seinen Besuch ebenso wie die damit verbundene vorgesehene Lesereise durch vier deutsche Städte abgesagt, nachdem er
Anlass hatte, diese Drohungen nach dem Mord an seinem Freund und journalistischen Kollegen Dink besonders ernst zu nehmen.
Ich nutze diesen Anlass, um Orhan Pamuk die Hochachtung und die Solidarität des Deutschen Bundestages
auszudrücken
({0})
und die türkischen Behörden aufzufordern, alles zu tun,
um seine persönliche Sicherheit wie seine künstlerische
Freiheit zu gewährleisten.
({1})
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 27 a und
27 b auf:
27 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des
Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2})
- Drucksache 16/3100 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ({3})
- Drucksachen 16/3950, 16/4020 -
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung von Fusionsprozessen von
Krankenkassen
- Drucksache 16/1037 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksachen 16/4200, 16/4247 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann-Mauz
Heinz Lanfermann
Birgitt Bender
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/4222 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Ewald Schurer
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender,
Matthias Berninger, Dr. Thea Dückert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Solidarität und Ausbau des
Wettbewerbs - Für eine leistungsfähige Krankenversicherung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr
({7}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth,
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben
- Drucksachen 16/1928, 16/1997, 16/3096,
16/4200, 16/4247 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann-Mauz
Heinz Lanfermann
Birgitt Bender
Zu dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD sowie je ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sowie über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke werden wir
später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Krankenversicherung ist unter allen sozialen Sicherungssystemen etwas Besonderes; denn für einen kranken Menschen gibt es nichts Wichtigeres als die Sicherheit, dass ein gutes und bezahlbares Gesundheitswesen
für ihn da ist.
({0})
Das heute zu beschließende Gesetz wird diese Sicherheit für die Menschen auch in Zukunft bewahren. Wir
bauen das Gesundheitswesen um, damit es auch in Zukunft gute Leistungen für alle Menschen zu bezahlbaren
Preisen erbringen kann. Niemand wird behaupten, dass
dies eine einfache Aufgabe ist. Denn wir unterwerfen ein
kompliziertes Geflecht aus teilweise schwer durchschaubaren Zuständigkeiten und machtvollen Interessen dem
Zwang zur Veränderung.
Nutznießer werden vor allem die Versicherten, die Patientinnen und Patienten, sein. Nutznießer sind aber auch
diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die sich Tag für Tag, oft
bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit, für Menschen
einsetzen. Die Ärzte erhalten mit diesem Gesetz eine auf
Euro und Cent genaue, transparente Gebührenordnung.
Wir leisten einen Beitrag, ihr Wirkungsfeld zu entbürokratisieren. Wir verbessern die Versorgung. Wir stärken
die hausärztliche Versorgung. Drohender Unterversorgung in einigen Teilen Deutschlands, vor allen Dingen in
ländlichen Regionen, wirken wir entgegen, indem wir
verbesserte Sicherstellungszuschläge vorsehen. So können Anreize gesetzt werden, damit sich Ärztinnen und
Ärzte in unterversorgten Gebieten niederlassen bzw.
Ärztinnen und Ärzte nicht aus unterversorgten Gebieten
abwandern. Das dient der Versorgung von kranken Menschen; deshalb ist es ein wichtiger Schritt, den wir mit
diesem Gesetz gehen werden.
({1})
Dieses Gesetz stärkt aber auch die Beschäftigung im
Gesundheitswesen. Es bietet viele qualifizierte Arbeitsplätze für unterschiedliche Tätigkeiten, übrigens insbesondere für Frauen. Wir werden neue Chancen eröffnen,
indem wir die nichtärztlichen Berufe stärker in die integrative Versorgung einbeziehen.
({2})
Das Gesundheitswesen ist ein Beschäftigungsfeld, in
dem nach den neuesten statistischen Angaben immerhin
4,3 Millionen Frauen und Männer in unserem Land Beschäftigung finden. Selbst in dem schwierigen Jahr 2005
gab es einen Zuwachs von 27 000 Arbeitsplätzen. Auch
diesen Gesichtspunkt müssen wir bei jeder Reform bedenken. Dieses Gesetz ist gut für die Patientinnen und
Patienten, aber auch für die Beschäftigung in unserem
Land.
In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir
uns intensiv mit kritischen Argumenten auseinandergesetzt und haben sie bewertet. Lassen Sie mich zusammenfassend drei Gründe nennen, warum diese Reform
gut ist:
Erstens. Jede und jeder ist künftig gegen das Krankheitsrisiko versichert. Für Menschen ohne Schutz heißt
es jetzt: Willkommen in der Solidarität! Auch ihr findet
hier einen Platz.
({3})
Zweitens. Die Gedanken „Prävention vor Behandlung“ und „Rehabilitation vor Pflege“ ziehen sich konsequent durch die gesamte Versorgung. So soll es auch
sein. Insbesondere für ältere Menschen bedeutet dies ein
Mehr an Angeboten, um solange wie möglich selbstständig leben zu können. Auch schwerstkranken Menschen
und Menschen mit seltenen Erkrankungen wird mit diesem Gesetz besser geholfen.
Drittens. Gesundheit muss immer bezahlbar bleiben.
Dieses Gesetz durchforstet alle Bereiche des Gesundheitssystems, um zu sehen, wo es Ineffizienzen gibt und
wo Geld ausgegeben wird, das nicht für die Versorgung
kranker Menschen erforderlich ist. Das ist notwendig,
damit wir das Gesundheitswesen so gestalten können,
dass jeder Euro zielgenau dort ankommt, wo er für die
Versorgung von kranken Menschen dringend gebraucht
wird.
Das sind drei Gründe, die allein schon ausreichen, um
für dieses Gesetz zu stimmen. Es fällt schwer, ein Argument zu finden, warum man es verhindern sollte.
({4})
Ich will hier nur einige Beispiele dafür nennen, was
wir verändern. Wir schaffen für schwerstkranke Menschen einen Rechtsanspruch auf palliativmedizinische
Versorgung, damit sie das tun können, was sie möchten,
nämlich zu Hause gut versorgt zu werden und zu Hause
auch sterben zu dürfen. Das ist ein riesiger Fortschritt in
der Qualität der Versorgung.
({5})
Wir stärken in diesem Zusammenhang die Hospize.
Denn die Hospize und die vielen ehrenamtlich arbeitenden Frauen und Männer, die Tag für Tag kranke und sterbende Menschen begleiten, brauchen Unterstützung, damit sie diese Arbeit noch besser als bisher tun können,
und zwar ohne die Sorge, dass die nötigen Finanzen dafür nicht vorhanden sind.
({6})
Wir öffnen die Krankenhäuser für die ambulante
Versorgung von Menschen mit seltenen und schweren
Erkrankungen. Bis heute war ihnen verwehrt, von Spezialisten im Krankenhaus ambulant versorgt zu werden.
Damit machen wir Schluss. Auch Menschen, die gesetzlich versichert sind, sollen das Recht haben, sich ambulant im Krankenhaus von Spezialisten versorgen zu lassen.
({7})
Wir verbessern die Versorgung von behinderten Menschen, weil wir mehr auf ihre Belange eingehen. Wir
verwirklichen deren Ansprüche, zum Beispiel dass
Krankenhilfe auch in Heimen der Lebenshilfe gewährt
wird, weil das die Wohnung und die Heimat behinderter
Menschen ist. Wir können nicht so tun, als sei das nicht
mehr der Fall, wenn sie krank werden.
Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen werden in Zukunft sehr genau wissen, wie es um ihre Kassen
wirtschaftlich bestellt ist. Sie werden gut darüber informiert werden, was die Kassen mit dem Geld, das sie einzahlen, machen. Sie werden mehr Möglichkeiten haben,
Tarife und spezielle Angebote zu nutzen, die passgenau
auf ihre Versorgung zugeschnitten sind. Sie werden Anreize bekommen, sich kosten- und gesundheitsbewusst
zu verhalten. Das ist ein Fortschritt.
({8})
Angesichts mancher Kritik, zum Beispiel an möglichen Zusatzbeiträgen, auch aus den Reihen der Gewerkschaften oder mancher Sozialverbände, gestatten Sie mir
einige Bemerkungen zum Thema Solidarität. Niemand
kann plausibel begründen, warum heute zum Beispiel
eine Rentnerin mit 1 000 Euro Rente in der Kasse A
21 Euro mehr Beitrag zahlt als eine Rentnerin mit
1 000 Euro Rente in der Kasse B, und das bei gleichem
Leistungsanspruch. Alle gehen zum gleichen Arzt, alle
erhalten die gleichen Medikamente, und alle gehen ins
gleiche Krankenhaus.
({9})
In einem System, in dem alle Menschen, die dort versichert sind, den gleichen Anspruch auf Leistung haben,
und zwar unabhängig von der Höhe der eingezahlten
Beiträge, halte ich es für solidarisch, wenn auch alle den
gleichen Prozentsatz von ihrem Einkommen aufbringen,
um die Versorgung sicherzustellen.
({10})
Es kann niemand begründen, warum wir 250 Kassen
brauchen, die durch sieben Spitzenverbände mit sieben
dahinterliegenden teuren Bürokratien geführt werden
müssen.
({11})
Das Gesetz ändert dies. Denn Einsparen heißt auch: in
der Organisation der Krankenkassen einsparen und alles
so optimal organisieren, damit wir mehr Geld haben, das
für die Versorgung kranker Menschen eingesetzt wird.
({12})
Ich frage die, die gegen dieses Gesetz sind: Gibt es in
diesem Hause jemanden, der mit überzeugenden Argumenten die Auffassung vertreten kann, Kosten und Nutzen von Medikamenten oder von neuen Therapien dürften nicht wissenschaftlich bewertet werden? Das Gesetz
führt die Kosten-Nutzen-Bewertung ein, damit sichergestellt wird, dass der Preis, der für ein Medikament
oder eine Therapie verlangt wird, einen Bezug zum therapeutischen Nutzen im Vergleich zu bestehenden Therapien hat. Wir machen das doch nicht aus Jux und Tollerei, sondern wir machen dies, damit sichergestellt
wird, dass auch in Zukunft alle Menschen unabhängig
von dem, was sie in ihrem Portemonnaie haben, an den
Fortschritten in der Medizin teilhaben können, aber nur
an den Fortschritten, die tatsächlich etwas nutzen und
den Menschen mehr Versorgungsqualität bringen.
({13})
Schließlich: Die private Krankenversicherung
bleibt als Vollversicherung erhalten. Aber sie muss in
Zukunft wie die gesetzliche Krankenversicherung Men8008
schen unabhängig von ihrem individuellen Krankheitsrisiko, unabhängig davon, ob sie behindert sind, unabhängig davon, oder ob sie jung oder alt sind, versichern,
und zwar zu den Bedingungen, in dem Umfang, wie dies
auch die gesetzliche Krankenversicherung macht. Das
ist gegenüber dem Status quo ein Stück mehr Solidarität,
das wir mit diesem Gesetz einführen.
({14})
Nun zu dem neuen Finanzierungsinstrument, dem
Gesundheitsfonds. Erstaunlich einfach hat der einzige
deutsche Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Professor Reinhard Selten, am 19. Januar im „Magazin“ der „Süddeutschen Zeitung“ dazu ausgeführt - ich
zitiere -:
Der derzeit so heftig diskutierte Gesundheitsfonds
betrifft ja nur das Verhältnis von Zahlungen der
Versicherten und Einnahmen der Krankenkassen.
Wenige Zeilen weiter sagte er zu den Konsequenzen
- ich zitiere wieder -:
Es lohnt sich also gerade auch für die Versicherten
mit niedrigem Einkommen, eine ihren Bedürfnissen
entsprechende Kasse zu wählen. Daraus könnte ein
stärkerer Wettbewerb zwischen den Kassen entstehen, was sicher wünschenswert ist, weil dann Überaufwand abgebaut würde.
Deshalb ist bei vernünftiger Sicht der Dinge der Fonds
ein sehr nützliches Instrument, um die Solidarität und
die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen zu stärken,
und zwar in Gesamtdeutschland. Das stärkt insbesondere
die Versorgung in den neuen Bundesländern und die
Ressourcen, die dort zur Verfügung stehen. Aber es dient
auch dazu, Wettbewerb zu organisieren. Denn das Geld
der Versicherten wird gebündelt und gerechter verteilt.
Erst auf dieser Basis kann echter Wettbewerb zwischen
den Kassen um gute Qualität entstehen, kann der Druck
auf die Kassen steigen, bessere Versorgungsangebote für
ihre Versicherten zu organisieren. Ich sage Ihnen voraus:
Die Kassen werden dies tun müssen. Ansonsten werden
die Versicherten mit den Füßen abstimmen und sich die
Kasse wählen, die ihnen für gutes Geld gute Versorgungsangebote und gute Tarife bietet.
({15})
Wir geben den Kassen viele neue Möglichkeiten, über
Rabatte und Preise zu verhandeln, Ausschreibungen vorzunehmen, vor allen Dingen aber, mehr Einzelverträge
zu schließen - für eine bessere Qualität der Versorgung
und für bessere Angebote für die Versicherten.
Gesamtgesellschaftliche Aufgaben werden künftig
Schritt für Schritt ordnungspolitisch sauber durch Steuermittel finanziert.
({16})
Auch das ist ein richtiger Schritt, um die Lohnnebenkosten, die Kosten auf Arbeit, zu senken, damit Beschäftigung entsteht. Denn ein Mehr an Beschäftigung ist die
Voraussetzung dafür, dass wieder Geld in die Sozialkassen kommt, das zum Wohl der Menschen verteilt werden
kann.
({17})
Vielfach wird beklagt, die Reform sei ein Kompromiss. Damit kann ich leben. Denn der Kompromiss gehört zur Demokratie. Wo wären wir denn, wenn wir
keine Kompromisse schließen könnten? Mit diesem
Kompromiss werden die verschiedenen Auffassungen
und Ausgangspositionen zusammengefasst. Wenn der
Pulverdampf der Lobbyisten sich verzogen hat, wird
sich zeigen, was in dieser Reform alles steckt.
({18})
Noch unterbewertet wird zum Beispiel der große sozialpolitische Durchbruch, den wahrscheinlich nur eine
Große Koalition beschließen kann,
({19})
nämlich die Pflicht zur Versicherung in einer Krankenkasse.
Ich will Ihnen abschließend etwas zu dieser Diskussion sagen: Es grenzt an Zynismus,
({20})
wie über diese Entscheidung vonseiten der Opposition
manchmal geredet wird.
({21})
Sie sagen, dass es nur um 200 000 oder 300 000 Menschen gehe. Dagegen spricht, dass sich die Mehrheit der
Anrufe bei unserem Bürgertelefon mit diesen Fragen beschäftigt. Die Probleme des Einzelnen sind viel größer,
als die Gesellschaft das lange hat wahrnehmen wollen.
Das ist der erste Punkt.
({22})
Zweitens geht es aber nicht nur um die bisher Unversicherten. Vielmehr muss sich der Bundestag mit einer
veränderten Erwerbswelt auseinandersetzen - die
Große Koalition tut das auch -, in der die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach der Ausbildung, die
auch gleichzeitig den Krankenversicherungsschutz begründet hat, nicht mehr zum Alltag aller Menschen gehört, die die Schule verlassen.
Heute berichtet eine Zeitung über Hochschulabgänger, die dreieinhalb Jahre nach ihrem Abschluss zum
Prekariat zählen. Wir haben es inzwischen mit einer Generation Praktikum und einer Zunahme der Selbstständigkeit zu tun. Es ist eine Errungenschaft dieser Großen
Koalition, dass wir in der Lage sind, die KrankenversiBundesministerin Ulla Schmidt
cherung wie ein Band um diese vielen Eventualitäten des
Erwerbslebens herumzulegen. Das ist ein guter Schritt
für die Menschen in Deutschland, weil sie dadurch mehr
Schutz genießen.
({23})
All das spricht dafür, dass wir den Gesetzentwurf
heute mit großer Mehrheit verabschieden. Denn das Gesetz ist gut für die Versorgung der Menschen in Deutschland und bietet eine klare und überzeugende Orientierung für die Zukunft. Das Gesundheitswesen wird auch
weiterhin bezahlbar bleiben und mehr Qualität, Transparenz und Effizienz aufweisen.
Ich möchte nicht versäumen, mich bei den beteiligten
Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen und Ländern, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den
Mitarbeitern des Ministeriums und allen, die in den anderen Ministerien daran mitgearbeitet haben, zu bedanken. Alle zusammen haben in den letzten Monaten viele
Tage und auch Nächte gearbeitet, um dieses Ergebnis zustande zu bringen. Dafür bin ich dankbar. Denn es sichert eine gute Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Danke schön.
({24})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Vizepräsident des spanischen Parlaments,
Herr Gabriel Cisneros, mit einer Delegation der
Spanisch-Deutschen Parlamentariergruppe, der Herr
Cisneros vorsteht, Platz genommen.
({0})
Die Delegation hält sich seit Montagabend in Deutschland auf. Sie hat in den vergangenen Tagen an Kolloquien und auch an einer Sitzung unseres Europaausschusses teilgenommen.
Ich begrüße Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen des
spanischen Parlaments, sehr herzlich im Deutschen Bundestag. Es ist uns eine Freude, Sie in Deutschland begrüßen zu können. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.
({1})
Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern, insbesondere zwischen unseren
Parlamenten.
Das Wort erhält nun der Kollege Daniel Bahr für die
FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin Schmidt hat soeben festgestellt, eine solche Gesundheitsreform könne nur von einer Großen Koalition beschlossen werden.
({0})
- Das ist wohl wahr.
({1})
Zu einer Reform, die gegen den Rat aller Sachverständigen, aller im Gesundheitswesen Tätigen, ja sogar gegen
den Rat und die Überzeugung der eigenen Fachpolitiker
von Union und SPD in den letzten Tagen quasi durchgepeitscht worden ist,
({2})
ist in der Tat nur eine schwarz-rote Koalition in der
Lage, der es allein darum geht, die Macht zu sichern,
und nicht darum, die Sachprobleme zu lösen.
({3})
Interessant ist doch, was die Ministerin in ihrer Rede
verschwiegen hat. Aber dank des Finanzministers wissen wir, worüber die Damen und Herren von der Koalition heute auch abstimmen. Es geht eben nicht nur um
die Gesundheitsreform, über die heute abgestimmt wird,
sondern es soll auch eine Steuererhöhung beschlossen
werden. Im „Handelsblatt“ lässt Finanzminister
Steinbrück lancieren, dass er weitere Steuererhöhungen
plant. Der Minister will damit die Mehreinnahmen für
den steigenden Bundeszuschuss für das Gesundheitssystem finanzieren.
({4})
Zur Begründung wird das Finanzministerium zitiert:
Der Bundeszuschuss an die Krankenkassen ist nicht
allein durch Kürzungen von Ausgaben zu realisieren. Das geht nur, wenn zusätzlich die Steuern steigen.
Es wird aber verschwiegen, welche Steuern erhöht werden sollen. Dazu schweigt Herr Steinbrück vorerst. Um
14 Milliarden Steuerzuschuss gegenzufinanzieren,
müsste die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte erhöht
oder ein Gesundheitssoli auf die Einkommensteuer in
Höhe von etwa 7,5 Prozent erhoben werden.
Das ist die erste Gesundheitsreform, die mit einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge beginnt und eine
Steuererhöhung mit sich bringt.
({5})
Die Bürger in Deutschland werden zur Kasse gebeten,
weil die schwarz-rote Koalition nicht in der Lage war,
eine grundlegende Gesundheitsreform auf den Weg zu
bringen, die die Probleme anpackt.
({6})
Daniel Bahr ({7})
Für die Versicherten jedenfalls wird es nur teurer, aber
nicht besser.
({8})
Wofür soll eigentlich der Steuerzuschuss sein? Nachdem ich die Eckpunkte gelesen hatte, dachte ich, der
Steuerzuschuss sei für die Finanzierung der Kosten der
Kinder in der gesetzlichen Krankenversicherung. Jetzt
heißt es, der Steuerzuschuss diene dazu, die Beiträge in
der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken. Sie
haben sich ja gar nicht getraut, das, was die Union hier
immer verkauft, der Zuschuss sei für die Finanzierung
der Kosten der Kinder, ins Gesetz zu schreiben. Dann
müssten Sie nämlich auch die Kosten für die Kinder der
Privatversicherten zahlen. Alles andere würde das Bundesverfassungsgericht nicht mitmachen. Dazu haben Sie
aber nicht den Mut.
({9})
Jetzt wird der Zuschuss angeblich genutzt, um die
Krankenversicherungsbeiträge zu senken. Damit haben
wir doch schon Erfahrungen. Erinnern Sie sich nicht an
die Ökosteuer? Sie, die Union, haben die Einführung der
Ökosteuer - sie sollte zur Senkung der Rentenbeiträge
führen - damals zusammen mit uns kritisiert. Was haben
wir erlebt?
({10})
Die Rentenbeiträge sind zuletzt in diesem Jahr deutlich
gestiegen. Das zeigt doch: Steuermittel für die sozialen
Sicherungssysteme lösen keine Strukturprobleme. Sie
verschieben die Lasten nur in die nächsten Jahre, deshalb sollten Sie davon Abstand nehmen.
({11})
Zum Thema Verlässlichkeit. Schauen Sie sich einmal
an, was aus dem Bundeszuschuss aus den Einnahmen
der Tabaksteuererhöhung geworden ist. Was ist aus den
gesetzlichen Vorgaben geworden? Sie haben ihn zu Beginn der Legislaturperiode auf fast null reduziert, um ihn
anschließend ein wenig aufwachsen zu lassen. Wenn Sie
das für die gesamte Legislaturperiode berechnen, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Sie mit Ihren Maßnahmen den gesetzlichen Krankenkassen fast 4 Milliarden
Euro entziehen. Es kann also mitnichten davon gesprochen werden, dass Sie die Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung stabil gestalten, im Gegenteil. Das
zeigt doch nur die Unzuverlässigkeit Ihres Handelns.
Die gesetzlichen Krankenkassen und die gesetzlich
Krankenversicherten können sich nicht auf die Zahlung
des Steuerzuschusses verlassen.
({12})
Daran sehen wir doch, wie unzuverlässig diese Politik
ist. Demnächst werden wir sicher einen Streit zwischen
den Finanz- und den Gesundheitspolitikern erleben. Wir
werden doch immer wieder Streit darüber erleben, wie
viel Geld dem Gesundheitswesen für Verfügung gestellt
werden soll. Das wird Gesundheitspolitik nach Zuteilung und Kassenlage.
Demnächst wird es einen bundesweit einheitlichen
Beitragssatz geben, den eine wie auch immer geartete
Regierung jährlich im Herbst für das Folgejahr beschließt. Welche Folgen hat das, wenn die Gesundheitskosten steigen? Es ist egal, wer an der Regierung ist,
keine Regierung wird leichtfertig die Krankenkassenbeiträge par ordre du mufti erhöhen; denn das würde die
Lohnzusatzkosten erhöhen und den Arbeitsmarkt belasten.
({13})
Wir werden erleben, wie jedes Jahr kurzfristige Kostendämpfungspolitik betrieben wird, um den Beitragsanstieg zu verhindern, Herr Zöller. Das ist keine nachhaltige und stabile Finanzierung des Gesundheitswesens.
Das ist Gesundheit nach Zuteilung und Kassenlage.
({14})
Wenn die Krankenkassen mit dem Geld, das ihnen
aufgrund des bundesweit einheitlichen Beitragssatzes
zur Verfügung steht, nicht auskommen, soll der Wettbewerb wirken. Das Wichtigste für die Krankenkassen, die
Beitragsautonomie, dass sie nämlich den Beitrag im
Wettbewerb mit den anderen Kassen festlegen können,
wird ihnen ja durch den bundesweit einheitlichen Beitragssatz genommen.
({15})
Jetzt sagt die Union: Dann kommt der Zusatzbeitrag.
Was sollen die Kassen denn verlangen, wenn sie am
Geldtropf hängen und der Zusatzbeitrag bei 1 Prozentpunkt des Haushaltseinkommens gedeckelt ist? Es wird
keinen Wettbewerb um gute Versorgung, gute Qualität,
innovative Tarife, um Zusatzangebote und um günstige
Verwaltungskosten geben, vielmehr wird es einzig und
allein einen Wettbewerb um die Streichung freiwilliger
Leistungen geben. Es wird möglichst wenig zusätzlich
angeboten werden, damit man nicht in die Gefahr gerät,
den Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Das ist nicht der
Wettbewerb um bessere Leistungen, den wir in Deutschland haben wollen.
({16})
Das sind die Folgen des Gesundheitsfonds. Der Gesundheitsfonds ist nichts anderes als eine gigantische
Geldsammelstelle. An dieser Feststellung ändert sich
nichts, da können Sie, Frau Schmidt, Herrn Selten so
viel zitieren, wie Sie wollen. Ich vermute, er hat den Gesetzentwurf überhaupt nicht gelesen; denn alle anderen,
die in der Anhörung waren und den Gesetzentwurf gelesen haben, haben den Gesundheitsfonds kritisiert. Er
wird kein einziges der Probleme, vor denen wir im Gesundheitswesen stehen, lösen, im Gegenteil:
Bei der privaten Krankenversicherung gehen Sie
über den Basistarif natürlich den Weg der Vereinheitlichung von privater Krankenversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung. Immer weniger Menschen
werden die Möglichkeit haben, in eine private KrankenDaniel Bahr ({17})
versicherung zu wechseln. Darunter wird das Gesundheitswesen leiden,
({18})
weil immer weniger Menschen Altersrückstellungen für
die Kosten, die durch eine alternde Bevölkerung noch
auf uns zukommen, aufbauen werden.
({19})
Deshalb wird Ihre Reform dazu beitragen, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens weniger nachhaltig und
noch unsicherer wird.
Nun zu dem wichtigsten Punkt, den Sie, meine Damen
und Herren, selbst in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: die Senkung der Lohnzusatzkosten.
Herr Kollege, Sie denken gleichwohl an die Zeit!
Mein letzter Punkt, Herr Präsident. Danke. - Bei der
Senkung der Lohnzusatzkosten sind Sie kläglich
gescheitert. Die FDP hat mehrere Konzepte vorgelegt.
Wir haben vorgeschlagen, den Arbeitgeberbeitrag festzuschreiben und als Lohnbestandteil auszuzahlen, damit
wir wirklich zu einer Abkoppelung der Finanzierung des
Gesundheitswesens von den Lohnkosten kommen, damit
wir nicht weiter den Arbeitsmarkt belasten. Wir haben
vorgeschlagen, die Versicherungspflichtgrenze abzuschaffen, damit die Bürgerinnen und Bürger selbst die Wahl
haben, wo sie sich versichern. Das ist eine wirkliche
Pflicht zur Versicherung und nicht das, was Sie machen.
({0})
Das, was Sie machen, ist die Bürgerversicherung durch
die Hintertür, indem Sie alle in ein staatlich reglementiertes und verwaltetes Krankenversicherungssystem
zwingen. Das ist nicht eine Pflicht zur Versicherung mit
größtmöglicher Wahlmöglichkeit, Eigenverantwortung,
Transparenz und Wettbewerb, für die wir Liberale stehen.
({1})
Dieses Gesetz löst die Probleme nicht, es schafft nur
neue. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden im Jahr 2008
das nächste größere Gesundheitsgesetz beraten, um dieses
Gesetz zu korrigieren. Dann werden Sie die Leistungskürzungen nachholen, die Sie heute vermieden haben,
um zu vermeiden, dass im Wahlkampfjahr 2009 die
Lohnzusatzkosten auf ein Rekordniveau steigen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Grüß Gott, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nehmen Sie es mir bitte ab, dass ich froh bin,
wenn diese Debatte heute zu Ende ist.
({0})
Zum einen bin ich ganz persönlich froh, aber, meine sehr
geehrten Damen und Herren, in erster Linie wegen der
Beteiligten - ob Patienten, ob Ärzte, ob Mitarbeiter in
den Krankenkassen -, dass endlich Schluss ist mit den
Verunsicherungen, die mit zum Teil unwahren Behauptungen hier betrieben wurden.
({1})
Herr Kollege Bahr, ich hätte sagen können: Es ist bar
jeder Vernunft, was Sie hier wieder getan haben.
({2})
Das mache ich an einem Beispiel fest. Sie haben hier gesagt, selbst die Fachpolitiker der Union hätten dagegen
gestimmt.
({3})
Wir haben einstimmig dafür gestimmt. Da müssen Sie
wenigstens bei der Wahrheit bleiben, Herr Bahr.
({4})
- Nein, er hat „Union“ gesagt. Ich höre schon zu.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich eins feststellen: Die Gesundheitsreform ist wesentlich
besser als ihr Ruf. Adressat und Nutznießer der Reform
müssen nämlich in erster Linie die Versicherten und
Patienten sein, und sie werden es sein. Dieses zentrale
Anliegen unserer Reform scheint im Dickicht der jüngsten Diskussionen um Einzelfragen leider aus dem Blick
geraten zu sein.
Umso notwendiger ist es, allen Unkenrufen zum
Trotz, zunächst einmal festzustellen: Unser Land verfügt
nach wie vor über ein modernes, leistungsfähiges Gesundheitssystem, um das wir international beneidet werden.
Bei der Versorgungsqualität gehört Deutschland zur
absoluten Weltspitze, und kaum ein Gesundheitssystem
gewährleistet einen besseren Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und
Bürger, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft oder finanzieller Leistungsfähigkeit. Dieses anerkannt
hohe Niveau werden wir mit dieser Gesundheitsreform
sichern. Diese Reform ist eine Reform für die Versicherten. Es wird immer gesagt, der Leistungsumfang werde
gekürzt. Das stimmt nicht. Der Leistungsumfang wurde
nicht eingeschränkt. Vielmehr verbinden sich erstmals mit
einer Gesundheitsreform weder verschärfte Zuzahlungsregelungen noch Einschnitte in den Leistungskatalog.
({5})
Im Gegenteil: Mit dieser Reform werden bestehende
Versorgungslücken zum Wohle der Versicherten geschlossen. Künftig werden alle Nichtversicherten wieder von
der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung
aufgenommen. Zur Krankheitsvorbeugung empfohlene
Impfungen oder Mutter-Kind-Kuren werden von Ermessensleistungen zu Pflichtleistungen der Krankenkassen.
Ältere und pflegebedürftige Menschen erhalten einen
Rechtsanspruch auf Rehabilitation. Der gesamte Bereich
der medizinischen Rehabilitation wird deutlich aufgewertet. Schwerstkranke erhalten eine spezialisierte
Betreuung in ihrem vertrauten häuslichen Umfeld oder in
Hospizen. Eine Verbesserung der Versorgung Sterbender
nicht nur mit Schmerztherapie, sondern auch mit Sterbebegleitung ist eine wesentlich humanere und ethisch
vernünftige Antwort auf die Diskussion über die aktive
Sterbehilfe.
({6})
Weitere Verbesserungen ergeben sich durch eine engere
Verzahnung an der Nahtstelle zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung sowie - auch das wird unterschätzt - an der zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Versicherten erhalten zudem mehr Wahl- und
Entscheidungsmöglichkeiten. Die Versicherten werden
künftig zwischen deutlich mehr Versorgungsmodellen
und Versicherungstarifen bei den Krankenkassen wählen
können. Dies ist das krasse Gegenteil der Behauptung
staatlicher Einheitsmedizin. Ich will nur einige Stichpunkte
der Vielfalt aufzählen: Selbstbehalttarife, Tarife zur Kostenerstattung, Hausarzttarife und Tarife für besondere
Behandlungsmethoden, zum Beispiel die Homöopathie.
All dies sind Maßnahmen zum Wohle der Patienten. Sie
haben es verdient, in der öffentlichen Diskussion deutlich
mehr Beachtung zu finden als bisher.
({7})
Weitere Schritte zur Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten wurden eingeleitet. Angesichts der Entwicklung in den letzten Jahren kommen
wir nicht umhin festzustellen: Die solidarisch finanzierte
gesetzliche Krankenversicherung als tragende Säule
unseres Gesundheitssystems stößt mehr und mehr an
ihre Leistungsgrenzen. Im Koalitionsvertrag von CDU/
CSU und SPD heißt es: Den Herausforderungen durch
den medizinischen Fortschritt und die demografische
Entwicklung „kann unser Gesundheitswesen nur dann
gerecht werden, wenn seine Finanzierungsbasis durch
wirtschaftliches Wachstum und insbesondere den Erhalt
und die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätzen gestärkt wird“. Hierzu muss und kann die
aktuelle Strukturreform selbst einen wesentlichen Beitrag leisten.
Die Finanzierung unseres Gesundheitswesens darf
nicht zum Hemmschuh für mehr Wachstum oder
Arbeitsplätze werden. Notwendig ist nach wie vor eine
Balance zwischen solidarischen und eigenverantwortlichen Finanzierungselementen. Wir brauchen Mechanismen, die den Druck steigender Gesundheitskosten
nicht weiter ungebremst auf die Arbeitskosten entladen.
Der Gesundheitsfonds leistet einen Beitrag zu einer
nachhaltigen Finanzierung. Die drei Säulen lohnbezogener
Beitrag, die Steuersäule und der Zusatzbeitrag oder die
Zusatzprämie sind weitere Schritte in die richtige Richtung der Entkopplung der Gesundheitskosten von den
Arbeitskosten.
({8})
Wahr ist auch: Mit der deutlichen Senkung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung werden die
Beitragszahler, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, trotz
Erhöhung der Beitragssätze in der Rentenversicherung
und der Krankenversicherung unter dem Strich durchschnittlich mit mehr als einem Beitragssatzpunkt entlastet.
Auch diese Tatsache verdient durchaus etwas mehr
Beachtung.
({9})
Dass diese positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stattfinden kann, ist natürlich auch Ergebnis der
Politik, die sich konsequent dem Dreiklang Sanieren,
Reformieren, Investieren - Sie kennen das - verpflichtet
fühlt. Diese erfolgreiche Politik muss fortgeführt werden.
Wir können nämlich die Sozialsysteme zu Tode reformieren, wenn uns aber die Einnahmen wegbrechen, werden
wir nie zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können.
({10})
Strukturelle Veränderungen sind notwendig. Wer
behauptet, strukturelle Veränderungen unseres Gesundheitswesens seien nicht notwendig, den straft die Entwicklung der letzten Jahre Lügen. Trotz einer Vielfalt
kostendämpfender Maßnahmen stieß die gesetzliche
Krankenversicherung mehr und mehr an ihre Leistungsgrenzen. Ob die zu verzeichnenden Ausgabensteigerungen
dabei ausschließlich medizinisch bedingt waren, darf
zumindest in dem einen oder anderen Bereich bezweifelt
werden. Die Vermutung ist berechtigt, dass es nach wie
vor in unserem Gesundheitssystem Effizienzreserven
gibt. Ein Beispiel dafür sind die durchaus beachtlichen
Erfolge, die sich mit den Maßnahmen zur Erhöhung der
Wirtschaftlichkeit im Arzneimittelbereich verbinden.
Darf ich an die Diskussion über dieses Gesetz erinnern,
die wir im Mai letzten Jahres hier geführt haben?
({11})
Was ist das Ergebnis? Wenn wir heute genauso kritisch
über diese Gesundheitsreform diskutieren und das
Ergebnis genauso positiv wie das bei der Arzneimittelregelung ist, dann können wir mehr als zufrieden sein.
({12})
Die Regelung hat doch dazu geführt, dass die Patienten von
jeglicher Zuzahlung zu Tausenden Medikamenten - inzwischen sind es über 10 000 Medikamente -, deren Preis
unter 30 Prozent der Festbetragshöhe abgesenkt wurde,
befreit sind. Der Erfolg dieser Maßnahme unterstreicht
ein weiteres Mal, dass Wettbewerb am ehesten Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen kann.
({13})
Der zweite wichtige Punkt - der erste betraf die Patienten - ist der Wettbewerb. Wir wollen Reserven durch die
Verankerung von deutlich mehr Wettbewerbselementen
erschließen. Die Kassen erhalten eine Vielzahl von
Gestaltungsmöglichkeiten mit einzelnen Leistungserbringern, mit Gruppen von Leistungserbringern, und sie
haben die Möglichkeit, Verträge mit Arzneimittelherstellern zu schließen und über Preise zu verhandeln. In dieses
System wird Bewegung kommen. Zur Vielfalt der neuen
Möglichkeiten hat ein Vorstandschef einer Krankenkasse
festgestellt: Die Chancen sind viel größer als die Risiken.
({14})
Ich würde mir wünschen, diese zutreffende Einschätzung
wäre unter den Akteuren unseres Gesundheitswesens
weiter verbreitet.
({15})
Ich sage Ihnen eines voraus: Wenn das Gesetz heute
beschlossen wird, werden spätestens morgen die Hauptkritiker versuchen, alle Chancen zu nutzen, um das Beste
zu erreichen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
({16})
Angesichts mancher Kritik muss ich mich schon wundern. Über Jahre beklagen etliche Leistungserbringer
ihre allzu kleinen Handlungsspielräume. Jetzt, da sie
neue wettbewerblich strukturierte Möglichkeiten erhalten,
rufen manche schon wieder allzu ängstlich nach möglichst dichten Schutzzäunen. Diese Widerstände waren
zum Teil zu erwarten. Es ist doch nicht verwunderlich.
Auf kaum einem anderen Feld wie dem der Gesundheit
sind die Reformanstrengungen so kontrovers diskutiert
worden. Das ist auch logisch. Gegensätzliche ökonomische
Interessen bei einem Verteilungsvolumen von 150 Milliarden Euro ergeben sich beinahe zwangsläufig, nicht nur
zwischen Leistungserbringern, Kassen und Versicherern,
sondern auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Der erzeugte Gegenwind konnte und kann uns nicht davon entbinden, notwendige Entscheidungen zu treffen. Genau
hierum haben wir uns in der Großen Koalition gemeinsam bemüht.
Wurden Änderungsvorschläge aufgegriffen, ja oder
nein? An der Bereitschaft zum Dialog hat es ebenfalls
nicht gefehlt.
({17})
Wir haben unzählige Gespräche geführt: mit Ärzten, Kliniken, Pharmazievertretern, Apothekern, Heilhilfsmittelerbringern, Kassen, Versicherungen, Vertretern der
Rettungsdienste, Hospiz-/Palliativeinrichtungen sowie
Patienten und Selbsthilfegruppen.
({18})
Die Anregungen aus den mehrtägigen Expertenanhörungen im Gesundheitsausschuss und die Änderungswünsche des Bundesrates wurden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens aufgegriffen.
Verwundert bin ich jetzt allerdings darüber, dass bemängelt wird, dass so viele Änderungsanträge eingebracht wurden. Hätte man keine Änderungsanträge gestellt, hätte es geheißen: Die sind beratungsresistent.
Bringt man Änderungsanträge ein, heißt es: Triumph der
Lobby. Sie müssen sich schon für eine Seite entscheiden.
({19})
Ich darf mich an dieser Stelle für die Mitwirkung all
derer bedanken, die sich in die Diskussion konstruktiv
und über ihre Einzelinteressen hinweg eingebracht haben.
({20})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas anderes ansprechen.
Herr Kollege Zöller, würden Sie vorher noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Seifert zulassen?
Herr Kollege Seifert, ich glaube, unser Verhältnis ist
so gut, dass wir das auch privat klären können.
({0})
Wir haben der Bevölkerung den Blick für das Ganze
durch sehr viele Diskussionen über einzelne Punkte
nicht so vermitteln können, wie es notwendig ist.
({1})
Bei allen vorrangig gesundheitspolitischen Überlegungen dürfen wir die wachstums- und beschäftigungspolitischen Dimensionen des Gesundheitswesens nicht
übersehen. Sie standen auch deshalb - zu Recht - im
Mittelpunkt unserer Überlegungen. Schließlich ist unser
Gesundheitswesen kein missliebiger Kostenfaktor, sondern ein ökonomisch überaus bedeutsamer und dynamischer Wachstumsbereich. Im Gesundheitswesen arbeiten über 4 Millionen Menschen in über 800 Berufen. Der
Gesundheitssektor erwirtschaftet inzwischen 11 Prozent
des Bruttoinlandproduktes - mehr als die Autoindustrie -,
Tendenz steigend. Deutschland ist hinter den USA Weltmarktführer in der Medizintechnik,
({2})
die vorwiegend mittelständisch geprägt ist. Das Gesundheitswesen schafft Arbeitsplätze in Deutschland.
Ein wesentliches Ziel der Reformmaßnahmen ist die
Stärkung dieser echten Wachstumsbranche. Wir brauchen verlässliche Rahmenbedingungen für die Beteiligten. Eine leistungsgerechte Vergütung ist Voraussetzung
für Planungssicherheit und Perspektive im Gesundheitswesen. Ich jedenfalls bin zuversichtlich und davon überzeugt, dass dieses Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs
in der gesetzlichen Krankenversicherung beides leisten
wird:
Erstens. Die Gesundheitsreform sichert die Versorgungsqualität für die Versicherten und Patienten.
Zweitens. Sie schafft verlässliche Zukunftsperspektiven für alle Akteure im Gesundheitswesen.
Ich kann Ihnen deshalb mit gutem Gewissen Zustimmung empfehlen.
({3})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Seifert
das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ja, Herr Kollege
Zöller, es stimmt: Wir haben ein sehr gutes persönliches
Verhältnis. Das liegt daran, dass Sie es waren, der damals den Mut hatte, einem Antrag der PDS zuzustimmen, der die Verbesserung der Lage von behinderten
Menschen im Fokus hatte. Sie waren derjenige, der dem
Antrag im Ausschuss zugestimmt hat, was - weil alle
anderen sich enthalten haben - zur Folge hatte, dass dem
Antrag im Ausschuss stattgegeben wurde. Sie stehen
dazu genau wie ich, was ich nach wie vor würdige. Wir
haben also insofern ein gutes Verhältnis. Ich finde, die
Öffentlichkeit soll ruhig wissen, dass sowohl Sie als
auch ich dazu stehen: Man kann über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten.
({0})
- Ja, da könnt ihr ruhig klatschen. Das ist wichtig.
Aber Sie haben uns, die Opposition, dafür kritisiert,
dass wir entweder sagen, es seien zu wenig Änderungsanträge, oder dass wir sagen, es seien zu viele Änderungsanträge. Geben Sie der Öffentlichkeit doch bekannt, dass 81 Änderungsanträge am Tag vor der
Abstimmung um 21 Uhr in die Büros geschickt wurden!
({1})
Wer sollte sie dann noch lesen, geschweige denn mit seinen Kolleginnen und Kollegen beraten oder ernsthaft
analysieren? Sie haben 81 Änderungsanträge, die niemand ernsthaft behandeln konnte, im Ausschuss durchgepeitscht. Und dann präsentieren Sie uns das hier als etwas toll Diskutiertes. Das ist es, was ich kritisiere: Noch
nicht einmal die Verfahrensregeln wurden ernsthaft eingehalten.
({2})
Sie nehmen uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier gar nicht ernst. Wir müssen machen, was die Regierung will, statt der Regierung zu sagen, was sie machen soll, wie es unsere Aufgabe wäre. Das kritisiere ich
und ich finde, dem sollten Sie auch zustimmen.
({3})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Zöller.
Herr Kollege Seifert, wenn Sie das Verfahren kritisieren, so müssen Sie eines zur Kenntnis nehmen: All die
Änderungsanträge waren Ergebnisse aus Anhörungen
und aus Anregungen. Das heißt, die wurden auch schon
vorher diskutiert und sind dann formuliert worden.
({0})
Ich glaube, wir beide sollten mit dem Ergebnis zufrieden
sein, denn alle Änderungsanträge haben, speziell auch
für Behinderte, Verbesserungen gebracht. Das war mit
unser Anliegen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, ich
habe Ihnen sehr genau zugehört, und Sie waren ja auch
schon für die Gesundheitsreform 2003 zuständig. Ich
zitiere einmal einen Satz, den Sie damals gesagt haben
- für den Fall, dass Sie es vergessen haben sollten -: Die
Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung
werden bereits im nächsten Jahr von durchschnittlich
14,3 Prozent auf 13,6 Prozent und bis 2006 deutlich unter 13 Prozent sinken. ({0})
Die paritätischen Beitragssätze liegen inzwischen bei
14,2 Prozent
({1})
und werden durch Ihre Maßnahmen noch auf 14,8 Prozent steigen.
({2})
Deswegen sage ich Ihnen: Der Wahrheitsgehalt Ihrer damaligen Prognosen stimmt überein mit dem Wahrheitsgehalt Ihrer heutigen Prognosen.
({3})
Die Steigerung, die wir bei den Beiträgen erleben
werden, hängt damit zusammen, dass Sie entschieden
haben, dass alle gesetzlichen Krankenkassen bis
Ende 2008 entschuldet sein müssen.
({4})
Das können Sie nur über Beitragserhöhungen hinbekommen. Darüber haben Sie hier so gut wie gar nicht gereDr. Gregor Gysi
det. Denn das belastet die Unternehmen und die Versicherten.
Dann machen Sie einen weiteren Schritt, der - was
die FDP zu wenig betont - das eigentliche Ziel dieser
Gesundheitsreform betrifft: der Wirtschaft zu dienen.
Denn ab 2009 gibt es ja diesen bürokratischen Fonds. Ab
diesem Zeitpunkt dürfen nur noch die Beiträge der Versicherten erhöht werden. Die Sozialabgabe der Unternehmen darf prozentual dann nie wieder gesteigert werden.
({5})
Sie frieren die Beiträge der Wirtschaft zum Gesundheitswesen ein und sagen, dass die Versicherten das dann alleine bezahlen müssen. Das hat mit sozial und mit solidarisch gar nichts zu tun.
({6})
Sie gehen davon aus: Wenn die Beitragssätze zu stark
erhöht werden, dann können die Leute aus ihrer Krankenversicherung austreten und Mitglied einer anderen
Krankenversicherung werden. Aber auch Sie wissen,
dass keine gesetzliche Krankenkasse scharf darauf ist,
alle armen Schlucker der Republik aufzunehmen. Was
werden sie also machen? Wenn eine Krankenkasse ihren
Beitragssatz erhöht, dann erhöhen auch die anderen
Krankenkassen ihre Beitragssätze, damit nicht alle zu ihnen wechseln wollen. Das wird das Ergebnis Ihrer diesbezüglichen Politik sein.
({7})
Sie führen in die Gesundheitsversicherung eine Entsolidarisierung ein. Ich will Ihnen erklären, warum. Das
liegt daran, dass Sie aus der Gesundheitsversicherung
eine Art Autoversicherung machen. Eine Autoversicherung funktioniert aber nach anderen Kriterien. Sie führen
eine Beitragsrückerstattung und eine Teilkaskoversicherung ein. Was heißt das?
Zunächst zur Beitragsrückerstattung. Wenn ein Versicherter im Laufe eines Jahres bei seiner Krankenversicherung keine Rechnung einreicht und er seine Gesundheitskosten selbst bezahlt, dann bekommt er im
nächsten Jahr einen bestimmten Teil seiner Beiträge erstattet.
Nun zur Teilkaskoversicherung. Ein Versicherter
kann sich dafür entscheiden, einen bestimmten Anteil
der ihm entstehenden Gesundheitskosten selbst zu bezahlen - zum Beispiel, wie Sie es vorsehen, bis zu einem
Betrag von 900 Euro pro Jahr - und nur die Kosten, die
diesen Betrag übersteigen, zu versichern. Dies hätte eine
Senkung seines Beitragssatzes zur Folge. Wenn es um
eine Autoversicherung geht, kann man das machen.
Aber hier geht es um eine Gesundheitsversicherung.
({8})
Ich frage Sie: Warum entsolidarisieren Sie diese Versicherung? Nur ein Besserverdienender, nur ein Junger,
nur ein Gesunder kann diese Möglichkeit nutzen, weil er
weiß, dass er relativ geringe Kosten verursacht. Wenn er
aber älter ist und krank wird, dann werden sich auch diejenigen so verhalten, die dann jung sind. Damit entsolidarisieren Sie diese Versicherung.
({9})
Heute ist es so, dass die Jungen und Gesunden für die
Kranken bezahlen. Dieses Solidarprinzip lösen Sie auf.
Eines Ihrer Versprechen haben Sie gebrochen - es tut
mir leid, dass ich das ansprechen muss -: Sie haben eine
zusätzliche Tabaksteuer eingeführt und angekündigt,
dass sämtliche aus dieser Steuer erzielten Einnahmen in
das Gesundheitswesen fließen werden.
({10})
Im letzten Jahr betrugen die Einnahmen aus der Tabaksteuer 4,2 Milliarden Euro. Was wollen Sie heute beschließen? Dass Sie dem Gesundheitswesen im nächsten
und im übernächsten Jahr nur noch 2,5 Milliarden Euro
aus diesen Einnahmen zukommen lassen werden. Den
Rest kratzen Sie einfach weg. Wenn Sie solche scheinpädagogischen Steuern wie die Tabaksteuer erhöhen, das
eingenommene Geld dann aber ganz anders verwenden,
als Sie es versprochen haben, fordere ich Sie auf: Machen Sie keine Versprechen mehr!
({11})
Jetzt will ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das
mir wichtig ist, von dem bisher aber kaum gesprochen
worden ist: die Einführung des Verschuldensprinzips.
Erstens wollen Sie die Zuzahlungen von chronisch Kranken erhöhen, falls sie eine mangelnde Vorbeugung praktizieren oder Therapien ausgelassen haben.
({12})
Sie wollen also eine Art Strafgeld einführen.
({13})
Zweitens wollen Sie die Regelung einführen, dass die
Patienten die Kosten bestimmter Erkrankungen selbst zu
begleichen haben. Das gilt zum Beispiel für Gesundheitskosten, die als Folge von Tätowierungen, Piercings
und Schönheitsoperationen entstehen.
({14})
Sie wissen, dass sich die Bevölkerung für dieses Vorhaben nicht so sehr interessieren wird, nach dem Motto:
Piercings und Tätowierungen - was soll’s? Aber diese
Regelung ist grundgesetzwidrig. Jemand, der als Folge
eines Piercings eine schwere Entzündung bekommt und
die entstehenden Behandlungskosten selbst zahlen muss,
wird Ihnen die Frage stellen, warum ein Autofahrer, der,
weil er betrunken war, einen Unfall verursacht hat und
schwerverletzt ist, die Kosten seiner Behandlung nicht
selbst übernehmen muss. Verstehen Sie, was ich meine?
Das, was Sie machen, geht nicht. Entweder führen Sie
das Verschuldensprinzip ein oder Sie führen es nicht ein.
({15})
Der Stolz unserer Gesundheitsversicherung besteht
darin, dass es ein Sachleistungsprinzip gibt,
({16})
dass also jeder Kranke behandelt und nicht darauf geachtet wird, ob er seine Krankheit selbst verschuldet hat
oder nicht.
({17})
Indem Sie das Verschuldensprinzip einführen, lösen Sie
jetzt eine Diskussion aus, die auch die Raucher betreffen
wird.
Abgesehen davon, dass diese Regelung grundgesetzwidrig ist - das sagte ich bereits -, machen Sie aber noch
etwas anderes: Sie verändern den Beruf der Ärztin bzw.
des Arztes. Durch Einführung der Kassengebühr von
10 Euro haben Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Kassenwarte gemacht.
({18})
Jetzt machen Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Gesundheitspolizistinnen und Gesundheitspolizisten. Denn in
Zukunft müssen sie ermitteln, ob die notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, um die Patienten stärker zur
Kasse bitten zu können. Wie Sie wissen, haben Ärztinnen und Ärzte den hippokratischen Eid geleistet. Der
Beruf des Polizisten ist etwas anderes als der Beruf des
Arztes. Den Beruf des Polizisten wollten die Ärzte nicht
ergreifen. Aber Sie sorgen dafür, dass sie solche Aufgaben übernehmen müssen.
({19})
Lassen Sie mich noch kurz auf einen anderen Punkt
zu sprechen kommen. Herr Kollege Zöller, es liegen
über 80 Änderungsanträge vor. Lassen Sie uns doch
die Abgeordneten einmal fragen, ob sie wissen, welche
Änderungen vorgenommen worden sind. Die Abgeordneten sollen abstimmen, wissen aber gar nicht, worüber.
Das ist die Wahrheit. Dafür hätten sie nämlich mehr Zeit
gebraucht.
({20})
Zu den sechs Abgeordneten der SPD möchte ich nur
eine Bemerkung machen: Als sie diese Regelungen hätten verhindern können, sind sie nicht hingegangen. Aber
heute stimmen sie dann ganz mutig mit Nein, da sie wissen, dass es auf ihre Stimmen nicht ankommt. Das ist das
Gegenteil von Volksvertretung.
({21})
Sie beschließen hier heute nur Gemurkse. Aber Sie haben Recht, Frau Bundesgesundheitsministerin: Nur die
Große Koalition war in der Lage, einen Beschluss zu
fassen, der Gemurkse ist und durch den kein einziges
Problem gelöst wird, sondern nur neue Probleme geschaffen werden.
({22})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Gesundheitsreform und damit eigentlich über eine Tragikomödie. So zumindest erleben
wir das.
Erinnern Sie sich einmal daran, wie es anfing. Im Juli
des letzten Jahres haben wir folgende Szene erlebt: Frau
Merkel und Herr Beck waren strahlend zur Pressekonferenz erschienen und haben mit einer gewissen Erleichterung, wenn auch mit Rändern um die Augen, die Eckpunkte der Gesundheitsreform vorgestellt. Frau Merkel
hat damals gesagt: Das ist ein echter Durchbruch.
({0})
Herr Beck sagte, dies sei ein Kompromiss lang über den
Tag hinaus. - Das war ein schönes Bild.
Wir alle wissen, dass das nicht der letzte Durchbruch
war, den die Koalition in dieser Sache verkündete. Er
hielt auch nicht - da irrte Kurt Beck - lang über den Tag
hinaus; diese Eckpunkte hatten nicht einmal eine Halbwertszeit von einigen Tagen.
({1})
Herr Zöller, ich verstehe ja, dass Sie bei der CDU/
CSU eine gewisse Erleichterung darüber empfinden,
dass das Gesetz heute endlich durchgehen wird. Viele in
dieser Republik empfinden auch ein Stück Erleichterung, aber schlicht und einfach deshalb, weil sie die
Nase voll davon haben, dass alle vier Wochen wieder ein
Durchbruch, ein Meisterstück verkündet wird, während
sie am Ende feststellen müssen, dass auch dieser keine
fünf Meter weit trägt, sondern dass diese neue Idee aus
einer weiteren Nachtsitzung allenfalls dazu führen wird,
dass die Beiträge der Versicherten erhöht werden. So
viel zu Ihren Durchbrüchen.
({2})
Sie haben immer wieder eine neue Sau durchs Dorf
getrieben und von Durchbrüchen gesprochen. Am Ende
ist dabei die Illusion baden gegangen - mir kann es ja
recht sein -, dass eine sogenannte Große Koalition große
Probleme lösen kann. Die Gesundheitsreform, die Sie
hier vorlegen, ist der Beweis des Gegenteils.
({3})
Deshalb kann man an dieser Stelle auch nur von einer
Tragikomödie reden.
({4})
Wenn Sie sich als Koalitionspartner schon nicht darüber einigen konnten, wie das System künftig finanziert
werden soll, dann hätten Sie sich wenigstens darum bemühen sollen, auf der Ausgabenseite massiv an den
Stellschrauben zu drehen. Es ist besonders enttäuschend,
dass auch das nicht passiert ist. Die letzten von Ihnen
verkündeten Durchbrüche waren keine Durchbrüche,
sondern Kniefälle vor den großen Lobbys im Bereich
des Gesundheitswesens.
({5})
Der letzte Akt des Dramas fand ja wohl im Gesundheitsausschuss statt. Die Große Koalition sprach von
großen Zielen: mehr Wettbewerb und Abbau von Bürokratie. Nichts davon wird erreicht. Das Einzige, was wir
gesehen haben, waren die wehenden Jackett- und Rockschöße der Gesundheitsexperten dieser Koalition, die
sich am Ende nicht mehr in den Ausschuss getraut haben, weil sie das Desaster von Hunderten von Seiten an
Änderungsanträgen nach dem x-ten Durchbruch nicht
mehr sehen wollten, und das sinkende Schiff deshalb
verließen.
({6})
Das ist Ausdruck mangelnden Vertrauens in die eigene
Arbeit.
Heute sieht man - das gibt es selten -, wie die Koalitionspartner tatsächlich dazu stehen. In einer Zeitung
habe ich ein Interview mit Ihrem Gesundheitsexperten
Wolfgang Wodarg unter der Überschrift „Ich fühle mich
belogen und betrogen“ gelesen. Ich meine, er wird es ja
wohl wissen. Er macht an einigen Punkten klar, warum
er sich belogen und betrogen fühlt:
Meine Partei
- die SPD hebt als besondere Errungenschaft die allgemeine
Versicherungspflicht hervor. Dabei ist dies allein
ein Geschenk an die privaten Krankenversicherungen.
({7})
Die Pflicht betrifft vor allem Selbstständige, die
jetzt zu den Privaten getrieben werden.
({8})
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie Sie das
nennen, aber Sozialdemokraten dürften hier nicht von
Gesundheitsreform mit dem Ziel von mehr Solidarität
sprechen.
({9})
Schauen wir uns einmal das Resultat auf der Finanzierungsseite an! Wie entwickelt sich das Ganze in der
nächsten Zeit?
Sie haben immer behauptet, es gebe den Einstieg in
eine stärkere Steuerfinanzierung - das ist hier schon
einmal gesagt worden -, um die Kinder beitragsfrei mitzuversichern. Um Ihren Haushalt zu sanieren und um in
Brüssel damit angeben zu können, dass man unter dem
Maastrichtkriterium bleibt,
({10})
haben Sie die Steuerzuschüsse gesenkt
({11})
und sind mittlerweile so weit gekommen, dass für die
Jahre 2007 und 2008 faktisch eine kräftige Kürzung zu
verzeichnen ist. Selbst wenn Sie mittlerweile wieder
rückwärtsgehen - das sagen Sie ja, Frau Ferner - und an
dieser Stelle wieder etwas „on top“ geben, bleibt festzustellen: Erst einmal haben Sie bei den Krankenkassen etwas herausgeholt, um den Haushalt - scheinbar - komplett zu sanieren und in Brüssel durchzukommen. Jetzt
bessern Sie wieder nach. Aber alles, was Sie nachbessern, ist finanziell nicht unterlegt. Das ist ein Handel mit
ungedeckten Schecks. Das wissen alle in dieser Republik.
({12})
Heute können wir wieder etwas von Herrn Steinbrück
lesen. Nachdem Sie sich gegenseitig düpiert haben und
die CDU/CSU die Kanzlerin düpiert hat - sie überlegen,
am Ende die Steuerfinanzierung doch wieder zu erhöhen; ein bisschen Ehrlichkeit ist noch da -, hat Herr
Steinbrück mit der Ankündigung, dann müssten die
Steuern ab 2010 erhöht werden, den Finger auf den wunden Punkt gelegt.
Damit ist eines klar: Sie wissen, dass Sie mehr Steuermittel für die Krankenkassen brauchen. Sie wissen, dass
Sie die eigentlich vor 2009 brauchen. Aber aus Koalitionsräson oder weil Sie vor den Ministerpräsidenten
und deren Wahlkampf eingeknickt sind, packen Sie dieses Thema nicht an und lassen die Krankenkassen und
die Versicherten damit allein. Dies ist kein Durchbruch.
Dies ist ein Stümperwerk.
({13})
Am Ende ist das Resultat dieser nichtordentlichen Arbeit, dass Sie den Versicherten wieder in die Tasche greifen. Das ist die übliche Geschichte. Wenn Sie miteinander nächtliche Sitzungen veranstalten, denken draußen
alle: Wir wissen schon, was kommt. - Wenn Sie sich
nicht einigen können und den Haushalt nicht sanieren
können, erhöhen Sie die Mehrwertsteuer. Jetzt greifen
Sie den Bürgerinnen und Bürgern noch einmal in die Tasche. Das rechnen sogar viele Gesundheitsexperten aus
der SPD vor. In diesem Jahr muss man von 0,6 bis
0,7 Beitragssatzpunkten mehr ausgehen. Im nächsten
Jahr muss man von 0,3 Prozentpunkten mehr ausgehen.
Im übernächsten Jahr, falls Ihr Gesundheitsfonds denn
kommt und Sie nicht wieder einknicken, was man an der
Stelle nur hoffen kann, würde noch etwas draufkommen.
Das heißt: Ausgehend von den heutigen knapp
14 Prozent stünden uns noch zwei bis drei Erhöhungen
bevor. Dann kämen wir auf einen Beitragssatz von ungefähr 15,5 Prozent.
({14})
Mit dem, was Sie hier immer verkauft haben - Lohnnebenkosten senken -, hat das gar nichts zu tun. Sie fassen
dem kleinen Mann in die Tasche und verlängern die Privilegien der PKV.
({15})
Sie haben behauptet - Frau Schmidt hat es ebenfalls
getan -, jetzt kämen die großen Strukturveränderungen.
Aber alle Fachleute sagen: Es gibt zu wenig Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, vor allem keinen
Wettbewerb um Qualität, keinen Wettbewerb um Wirtschaftlichkeit. Sehen Sie sich einmal an, was jetzt kommen soll! Es bleibt im Wesentlichen bei den Kollektivverträgen. Das heißt: Es gibt kaum Anreize für die
einzelne Kasse, kaum Anreize für den einzelnen Arzt,
wirklich mehr Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitswettbewerb zu praktizieren.
Dabei ist das gesamte Apothekenwesen immer noch
eine im Wesentlichen wettbewerbsfreie Zone. Das Wort
Apothekenpreise als Synonym für überzogene, nicht
faire Preise, mit denen die Verbraucher oder die Patienten abgezockt werden, wird bestehen bleiben, weil es die
Realität im Apothekenwesen beschreibt. Das ändern Sie
nicht. Sie haben diesen Lobbybereich nicht angepackt.
({16})
Sehen wir uns den Einheitsbeitrag für die GKV an!
Es gibt kaum Wettbewerb um niedrigere Beitragssätze.
Stattdessen werden wir jährlich erleben, wie zwischen
Regierung, Arbeitgeberverbänden und Krankenkassen
ein Tauziehen der Lobbygruppen um die Höhe des Beitragssatzes stattfinden wird. Sie haben eine Struktur gewählt, die viel Bürokratie bedeutet, die die Politiker und
die Exekutiven beschäftigt, die aber auch ein Einfallstor
zum Beispiel für die Arbeitgeberverbände darstellt, die
sagen: Soll doch der Staat das Risiko tragen; holt mich
da weiter raus!
Mein letzter Punkt ist das Thema Bürokratieabbau Fehlanzeige an dieser Stelle. Der Gesundheitsfonds wird
den Kropf vergrößern. Die staatliche Beitragsfestsetzung
und die Gesundheitskartelle bleiben bestehen. Dieses
Breittreten der Bürokratie ist das Gegenteil von schlanken Strukturen.
Sie sind vor den Lobbyisten eingeknickt, und die Zeche zahlen wieder die Versicherten. - Es gibt jede
Menge Zitate aus den Koalitionsfraktionen, gerade aus
der SPD-Fraktion, und von anderen aus der SPD, die das
treffend formulieren. - Durch Ihre fehlende Geschlossenheit und dadurch, dass Sie am Ende verschiedene
Ziele den Lobbyisten geopfert haben, haben allen voran
nun wieder die privaten Krankenkassen gewonnen - mit
massiver Lobbyarbeit, mit massiver Öffentlichkeitsarbeit, mit Anzeigenschaltungen und mithilfe des für die
PKVen erprobten Schutzengels der Unionsfraktion und
der Bundesländer.
({17})
Wir können dazu nur sagen: Dies ist keine wirkliche Reform. Verzeihung, Frau Gesundheitsministerin Schmidt:
Sie haben sich hier noch groß gelobt. Sie haben gesagt,
die Welt sehe heute anders aus, die Probleme des Einzelnen seien größer als angenommen, zum Beispiel im Erwerbsleben; das Prekariat, die Praktikanten, sie alle
müsse man einbeziehen. Frau Schmidt, das haben wir,
unter anderem unsere früheren Fraktionsvorsitzenden,
Ihnen schon in der letzten Legislaturperiode wiederholt
geschrieben, und Sie haben zurückgeschrieben, dafür sei
kein Geld da. Wir sind ja dankbar, dass auch Sie mittlerweile erkannt haben, dass die Menschen mit unsteten Erwerbslebensläufen und Arbeitslosenzeiten Probleme haben. Aber Ihre sogenannte Reform ist keine. Der einzig
richtige Weg ist, ihr heute nicht zuzustimmen. Noch besser wäre es, wir gingen zurück auf null und fingen noch
einmal ganz neu an, damit bei der Gesundheitsreform
Solidarität und Wettbewerb herauskommen.
({18})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Was wir hier zum Teil von der Opposition an Debattenbeiträgen hatten, hat für meine Begriffe in etwa die gleiche Qualität wie angebliche Demonstrationen, die sich
im Nachhinein als PR-Aktionen mit gemieteten und als
Ärzte verkleideten Demonstranten herausgestellt haben,
({0})
oder wie die teilweise fingierten Briefe der PKV, die uns
alle hier erreicht haben. Von der Qualität her ist das
wirklich das Gleiche.
({1})
Es ist richtig: Wir haben lange um die Gesundheitsreform gerungen. Es war, glaube ich, auch richtig, sich die
Zeit zu nehmen, weil es um sehr viel geht. Gesundheit
geht alle an. Es ist ein Thema, das alle Menschen in dieser Republik interessiert. Deshalb muss man gerade,
wenn man mit so unterschiedlichen Grundpositionen an
das Thema herangeht, wie das ohne Zweifel hier der Fall
gewesen ist, auch darauf achten, dass man wirklich Lösungen findet, die im Sinne der Versicherten und der Patienten und Patientinnen tragfähig sind.
Wir haben ein leistungsfähiges und medizinisch hochstehendes Gesundheitswesen. Über 4 Millionen Menschen erbringen jeden Tag Dienstleistungen für andere
Menschen. Das gilt für Ärzte und Ärztinnen genauso wie
für Krankenschwestern, Krankenpfleger und andere
Heilberufe. Ich glaube, dass das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung, nach dem die Jungen
für die Älteren, die Gesunden für die Kranken und diejenigen mit mehr Einkommen für diejenigen mit weniger
Einkommen einstehen, richtig ist. Es bedeutet seit BeElke Ferner
ginn der gesetzlichen Krankenversicherung gelebte Solidarität, und das wird auch nach dieser Reform so bleiben.
Wir haben es erreicht, dass es eine Versicherungspflicht für alle gibt. Sogar die FDP will jetzt eine Versicherungspflicht für alle, allerdings auf eine andere
Weise.
({2})
Sie möchte nämlich, dass die guten Risiken, die heute in
der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert
sind, zur privaten Krankenversicherung abwandern. Es
könnte also noch mehr Rosinenpickerei betrieben werden, und die Versicherten, die nicht abwandern, müssten
alleine die Kosten für die Behandlung der kranken Menschen tragen.
({3})
Die FDP will weiterhin nicht, dass es durch Veränderungen bei den Strukturen zu Einsparungen kommt. Für
einzelne Berufsgruppen im Gesundheitswesen sind Sie
geradezu ein „Verfechter“ des Wettbewerbs. Frau Künast
hat eben in diesem Zusammenhang die Apotheken erwähnt.
In Wahrheit wollen Sie - dazu sollten Sie dann auch
stehen - die Arbeitgeberbeiträge dauerhaft festschreiben.
Mit diesem Vorgehen wollen Sie die Versicherten mit
möglichen Kostensteigerungen in der Zukunft alleine
lassen. Wer die erhöhten Beiträge nicht bezahlen kann,
muss dann schauen, welche medizinische Versorgung er
noch bekommt. Das ist nicht nur unsolidarisch; das
würde unser Sozialsystem auf den Kopf stellen. Deshalb
glaube ich, dass Sie bei der nächsten Bundestagswahl
über 5 bis 8 Prozent Wählerzustimmung nicht hinauskommen werden. Die Menschen möchten sich nämlich
im Falle einer Krankheit auf die Solidargemeinschaft
verlassen können.
({4})
Es ist wichtig, noch einmal herauszustellen, dass dies
die erste Gesundheitsreform seit langem ist, bei der es
keine Leistungsausgrenzung, sondern eine Leistungsausweitung gibt. Ich bin froh, dass wir die Union davon
überzeugen konnten, dass die gesundheitlichen Folgen
von Unfällen auch weiterhin in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert bleiben und dass die Zuzahlungen nicht erhöht werden. Das gilt auch für die Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten. Wir stellen die
Prävention in den Vordergrund.
Nun zu dem, was Herr Gysi eben gesagt hat. Herr
Gysi, ich würde mich an Ihrer Stelle schon fragen, ob
diejenigen, die Ihnen einen solchen Unsinn aufschreiben, ihrer Verpflichtung nachkommen, Sie ordentlich zu
informieren.
({5})
Es ist nämlich nicht richtig, dass chronisch Kranke
jetzt 2 Prozent statt 1 Prozent zuzahlen sollen. Für diejenigen, die schon heute chronisch krank sind, wird sich
überhaupt nichts ändern. Diejenigen, die in Zukunft Gesundheits-Check-ups oder Vorsorgeuntersuchungen in
Anspruch nehmen, müssen nur 1 Prozent zuzahlen. Das
gilt auch für diejenigen, die das nicht tun, sich aber in
ein Chronikerprogramm einschreiben. Insofern wird die
Prävention gestärkt, und es gibt keine Verlagerung der
Lasten.
({6})
Nun zu dem Fall, dass Menschen chronisch krank
sind, aber nicht an einem Chronikerprogramm teilnehmen.
({7})
Ich glaube schon, dass, wenn chronisch Kranke nicht bereit sind, bei der Behandlung mitzuwirken, entsprechende Incentives gesetzt werden müssen.
Sie haben eben gesagt, die Selbstbehalte seien ein
Skandal. Diese stehen aber schon heute im Gesetz. Sie
sind doch Jurist, Herr Gysi. Schauen Sie sich doch erst
einmal an, was im SGB V steht, bevor Sie hier solche
Halbwahrheiten erzählen!
({8})
Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Gerne.
Sie haben gerade erklärt, bei welchem Fehlverhalten
es höhere Zuzahlungen für die chronisch Kranken geben
wird. Ich frage Sie: Wurden nicht sogar bei Selbstverstümmelungen die Krankheitskosten immer vollständig
bezahlt? Dass derjenige, der sich selbst verstümmelt,
schuld ist, kann man überhaupt nicht leugnen.
Verstehen Sie: Wenn Sie ein Verschuldensprinzip
einführen - so wenig die Tür dafür jetzt auch geöffnet
wird -, dann verändern Sie den Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist außerdem schwer, dieses Prinzip gerecht anzuwenden. Denn derjenige, der
sich etwas zuschulden kommen lässt, wird darauf hinweisen, dass sein Fehlverhalten im Vergleich zu dem eines betrunkenen Autofahrers harmlos ist. Sie werden es
nicht hinkriegen. Dieses Prinzip stimmt weder mit dem
Grundgesetz überein, noch ist es überhaupt richtig, ein
Verschuldensprinzip in die Krankenversicherung aufzunehmen. Das deutlich zu machen, war mein Anliegen.
({0})
Herr Gysi, ich empfehle Ihnen, einen Blick ins geltende Gesetz zu werfen. Schauen Sie sich § 52 SGB V
an! Dort ist schon heute die Möglichkeit gegeben, dass
ein Versicherter an den Kosten beteiligt werden kann,
wenn er sich die Krankheit vorsätzlich zugezogen hat.
Die Regelung, die wir erarbeitet haben, soll ja nicht zur
Folge haben, dass jemand nicht mehr behandelt wird. Es
geht vielmehr darum, dass die Krankenkasse in bestimmten Fällen jemanden an den Kosten beteiligen
kann, wenn sie das für richtig hält. Das ist ein Unterschied zur Ihrer Auffassung.
Sie haben dies falsch dargestellt, und das ist das Populistische an all den Reden, die seitens Ihrer Fraktion
gehalten werden. Sie haben eben gesagt - das kann man
ja im Protokoll noch einmal nachlesen -, dass künftig
bestimmte Dinge von der Kasse nicht mehr bezahlt werden. Das ist falsch.
({0})
Es erfolgt nach wie vor eine Behandlung.
({1})
- Herr Gysi, ich bin noch nicht fertig. Sie müssen wieder
aufstehen, auch wenn Ihnen diese Antwort nicht gefällt. Die Kasse kann wie auch schon heute, allerdings jetzt
unter präziseren Bedingungen, eine Mitbeteiligung des
Versicherten einfordern.
Ich glaube aber, dass das überhaupt nicht der Punkt
ist. Das, was die Opposition und all diejenigen, die sich
gegen die Gesundheitsreform wenden, eint, ist das, was
sie nicht wollen. Aber es gibt überhaupt keine Einigkeit
- weder in der Opposition noch bei den vielen Interessenverbänden draußen - in dem, was sie wollen. Das ist
doch die eigentliche Wahrheit.
({2})
Wir werden mit dieser Reform die Leistungen für die
Versicherten verbessern. Wir stärken die Prävention, wir
stärken die Rehabilitation, und wir richten unser Gesundheitswesen auf eine älter werdende Gesellschaft
aus. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere
die Verbesserung bei der Palliativversorgung und den
Hospizen betonen. Wir stärken die finanzielle Ausstattung und den integrativen Ansatz der Hospize. Ich
möchte an dieser Stelle den vielen Männern und Frauen,
die zum Teil ehrenamtlich jeden Tag in der Hospizbewegung die sicherlich sehr schwierige Aufgabe haben
- diese Arbeit ist wahrscheinlich für sie persönlich nicht
immer einfach -, es sterbenden Menschen zu erleichtern,
ihren letzten Weg zu gehen, und deren Angehörige adäquat zu betreuen, ein herzliches Dankeschön sagen.
({3})
Ich hoffe, dass wir diese Möglichkeiten in Zukunft verbessern können.
Wir werden auch die Versorgungsstrukturen effizienter machen und mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten schaffen; Herr Zöller hat eben schon einige Aspekte angesprochen.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Es bleibt
beim Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es wird keine einmalige Kostenerstattung geben, was bedeuten würde, dass man, wenn die
Plombe draußen ist, erst einmal etwas unterschreiben
muss, bevor man eine neue Plombe bekommt. Diese Behandlungssituation wird es nicht geben. Zudem müssen
die Kassen ihre Versicherten über Vor- und Nachteile der
Wahltarife umfassend informieren. Zur Öffnung der
Krankenhäuser hat Ulla Schmidt schon einiges gesagt.
Ich möchte auf die Vorwürfe zurückkommen, wir hätten die Einsparziele nicht erreicht. Es ist richtig: Es werden uns im Vergleich zu dem, was ursprünglich im Gesetzentwurf stand, ungefähr 300 Millionen Euro fehlen.
Das hat aber nicht die Koalition in diesem Hause zu verantworten.
({4})
- Es geht um 300 Millionen. Sie sollten zuhören.
({5})
- Ich bitte Sie: Hören Sie zu,
({6})
dann können Sie es vielleicht auch verstehen.
({7})
Vielleicht können Sie es aber auch nicht verstehen.
Wir haben das Einsparvolumen bei den Arzneimitteln beibehalten, wenn auch jetzt auf einem anderen
Weg.
({8})
- Natürlich stimmt das. - Wir werden den Kassen erstmals die Möglichkeit bieten, dass Wirkstoff und Arzneimittel ausgeschrieben werden. Die Apotheken müssen
das für die Kasse jeweils günstigste Arzneimittel abgeben. Der Apothekenrabatt wird dauerhaft erhöht, sodass
jedes Jahr und nicht nur einmalig 130 Millionen Euro
bei den Kassen eingespart werden können.
Wir haben auch festgelegt, dass die Hilfsmittel ausgeschrieben werden. Wir haben die Anregung aus der Anhörung aufgegriffen, dass in Bezug auf diejenigen Hilfsmittel, bei denen eine individuelle Anpassung notwendig
ist, eine wohnortnahe Versorgung sichergestellt werden
muss.
Dass wir in bestimmten Bereichen die Einsparziele
nicht erreichen - das sind die Bereiche Krankenhaus und
Rettungsdienste -, lag - so muss man sagen - am Bundesrat, der nicht zu mehr Zugeständnissen in diesen Bereichen bereit war.
Ich glaube, zu einem wettbewerblich ausgerichteten
Gesundheitssystem gehören mündige und informierte
Patienten und Patientinnen sowie Versicherte. Mit der
Patientenbeauftragten und den Patientenberatungsstellen haben wir einen Anfang gemacht. Deren Finanzierung wird jetzt auf eine bessere Grundlage gestellt. Ich
kann nur an die Kassen appellieren, dass sie, wenn sich
ihre Versicherten bei ihnen darüber beschweren, dass
teilweise Leistungserbringer - es sind Gott sei Dank wenige - ihren Versicherten, wie zumindest ich gehört
habe, Leistungen vorenthalten oder ihnen fälschlicherweise die Auskunft geben, dass die Kasse bestimmte
Leistungen nicht bezahle, dieser Sache im Interesse ihrer
Versicherten wirklich nachgehen.
Ich glaube, dass wir mit der Öffnung der privaten
Krankenversicherung zumindest einen kleinen Schritt in
Richtung mehr Wettbewerb gemacht haben. Wir haben
mehr gewollt; das weiß jeder. Ich bedauere sehr, dass die
Bestandsversicherten weniger Wechselmöglichkeiten
haben als diejenigen, die neu in der privaten Krankenversicherung versichert sind. Aber allein die Tatsache,
dass die private Krankenversicherung erstmals kranke
Menschen aufnehmen muss, was für eine Krankenversicherung eigentlich das Normalste der Welt sein sollte
- sie versichert schließlich gegen Krankheit und nicht
gegen Gesundheit -, ist ein Schritt in die richtige Richtung. In diesem Zusammenhang wird immer wieder mit
Verfassungswidrigkeit argumentiert. Dazu muss ich sagen: Ich kann nicht erkennen, was daran verfassungswidrig sein soll, wenn die private Krankenversicherung
auch Kranke versichern muss. Die gesetzliche Krankenversicherung hat das von Anfang an gemacht. Ich
glaube, es ist richtig, dass das jetzt für alle Versicherungen gilt.
({9})
Wider besseres Wissen wird auch hier im Hause immer wieder gesagt, durch die Reform würden die Beiträge steigen. Das ist nicht der Fall. Die Beiträge sind
bereits gestiegen. Die Reform wird zum 1. April 2007 in
Kraft treten.
({10})
- Herr Spieth, das stimmt doch nicht. Sie müssten es
doch viel besser wissen, als alle anderen in diesem Haus.
({11})
Erstens. Nach geltendem Recht müssten die Kassen
bis zum Ende dieses Jahres entschuldet sein. Stimmt das
oder stimmt das nicht? Es stimmt.
({12})
- Dann sagen Sie das bitte einmal den Landesaufsichten;
denn die bundesunmittelbaren Kassen sind voll im Entschuldungsplan.
Zweitens. Die Einsparungen, die wir durch diese Reform erzielen, sind in den Wirtschaftsplänen der Krankenkassen noch gar nicht enthalten.
Drittens. Glauben Sie, dass der Steuerzuschuss ohne
Reform nicht bei 2,5 Milliarden Euro liegen würde?
Glauben Sie, er wäre geringer? Glauben Sie ernsthaft,
dass ohne Reform alles besser wäre, dass die Beiträge
niedriger wären? Das können Sie doch unmöglich behaupten wollen. Sie wissen es doch besser.
({13})
Frau Kollegin Ferner, ich vermute, dass Sie nach dem
informellen Disput eine förmliche Frage zulassen wollen.
Ich verbinde das aber mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die bei dem Gegenstand nahe liegende ausgeprägte Neigung zu Zwischenfragen und Kurzinterventionen mit der Vereinbarung und Beschlusslage einer
zweieinhalbstündigen Debatte mit anschließenden namentlichen Abstimmungen im Ergebnis nur schwer zu
vereinbaren ist.
({0})
Deswegen bitte ich alle Beteiligten, die Redner wie die
nicht als Redner gemeldeten, aber durch Zwischenfragen
am Protokoll interessierten Kolleginnen und Kollegen,
dem Präsidium die Einhaltung der Beschlusslage des
Plenums zu erleichtern.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, dass mir trotz der Möglichkeit,
nachher selber zu reden, eine Zwischenfrage gestattet
wird.
Kollegin Ferner, ich finde es abenteuerlich, dass Sie
jetzt behaupten, dass es aufgrund des WSG keine Beitragerhöhungen geben wird. Man könnte in diesem Zusammenhang lange mit Zahlen operieren; im Ausschuss
haben wir das auch getan. Das BMG war trotzdem nicht
in der Lage, unsere Vorhaltungen zu entkräften.
({0})
Das Gesetz enthält eine Regelung, nach der die gesetzlichen Krankenversicherungen unabhängig davon,
ob sie bundes- oder landesunmittelbar beaufsichtigt werden, aufgefordert sind, bis zum 31. Januar dieses Jahres
darzulegen, wie sie der Entschuldungsverpflichtung
nachkommen wollen. Ist Ihnen bekannt, welche Regelungen verfasst wurden? Sie waren bis vor 48 Stunden
vorzulegen. Könnten Sie das Hohe Haus darüber aufklären, ob alle Kassen in der Lage sind, sich bis zum
31. Dezember 2008 - diese Ausnahmeregelung existiert tatsächlich zu entschuldigen,
({1})
zu entschulden?
Herr Spieth, die Entschuldungspläne sind nicht den
Abgeordneten, sondern dem Gesundheitsministerium
vorzulegen. Da ich dem Parlament und nicht dem Ministerium angehöre, kenne ich das, was vorgelegt worden
ist, nicht.
Richtig ist aber - das werden Sie mir bestätigen -,
dass die Regelung, dies bis zum 31. Januar dieses Jahres
vorzulegen, nicht Gegenstand dieses Gesetzgebungsverfahrens ist, sondern schon im letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz beschlossen wurde. Richtig ist auch, dass im SGB V, also in dem
Gesetz, über das wir heute beraten, steht, dass die Kassen
bis zum 31. Dezember 2007 entschuldet sein müssen.
Wir erweitern jetzt den Zeitraum bis 2008, wenn mit
Zustimmung des jeweiligen Bundesverbandes ein tragfähiger Entschuldungsplan vorliegt. Das heißt, wir geben
den Kassen mehr Spielraum. Ich bin sehr gespannt, wie
das umgesetzt wird.
Jedenfalls ist es bezeichnend, dass die bundesunmittelbaren Kassen, die der Aufsicht des Bundesversicherungsamtes unterliegen, mit ihrem Schuldenabbau im Zeitplan
sind, während die landesunmittelbaren Kassen, die der
Länderaufsicht unterliegen, in Teilen so hoch verschuldet
sind, dass es schwierig werden könnte, bis zum 31. Dezember 2008 eine Entschuldung zu schaffen. Aber wir
sind bereit, hier abzuwarten. Eines ist klar: Die Schulden
der Kassen sind - darüber sollte man ehrlich reden nichts anderes als die Konsequenz aus unterlassenen
Beitragssatzanhebungen in der Vergangenheit; nicht
mehr, aber auch nicht weniger.
({0})
Der neue Risikostrukturausgleich, der mit dem
Fonds in Kraft tritt und sicherstellt, dass die krankheitsbezogenen Ausgaben besser und fairer ausgeglichen
werden, wird zu einer Besserstellung der Kassen führen,
die eine, bezogen auf den Grundlohn, schwache Mitgliedschaft und gleichzeitig hohe Ausgaben für ihre Versicherten haben. Unter dem Strich gesehen haben wir einen
tragfähigen Kompromiss erarbeitet.
Ich verhehle nicht, dass wir uns an einigen Stellen mehr
gewünscht hätten. Aber es gibt jetzt eine Versicherungspflicht für alle. Wir werden bessere Versorgungsstrukturen
bekommen, und vor allen Dingen werden wir auch in
Zukunft in der Situation sein, dass alle Versicherten, und
zwar unabhängig davon, wo sie versichert sind, am
medizinischen Fortschritt teilhaben können und das, was
medizinisch notwendig ist, erhalten.
Sehr wichtig wird sein, zu gegebener Zeit noch einmal
über die Frage einer dauerhaft nachhaltigen Finanzierung
zu reden. Wir haben mit der Steuerfinanzierung einen
wichtigen Schritt in Richtung einer Verbesserung der
Finanzbasis gemacht. Allerdings wird das nicht reichen.
Erlauben Sie mir, Herr Präsident, in den letzten zehn
Sekunden meiner Redezeit noch einen Dank an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Fraktionen und des
Ausschusssekretariats zu richten, die diese Woche und in
den vergangenen Wochen relativ viel arbeiten mussten.
Natürlich geht mein Dank auch an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter im Ministerium, ohne die wir unsere
Arbeit wahrscheinlich nicht hätten fertigstellen können.
Unter dem Strich ist es ein Kompromiss, dem man zustimmen kann. Ohne Reform würden die Beiträge höher
steigen, und die Situation würde sich nicht verbessern.
Es würde zu viel Geld auf der Strecke bleiben. Insofern:
Lassen Sie uns das Gesetz heute beschließen und dann
intensiv über das öffentlich berichten, was wirklich
Frau Kollegin Ferner!
- und nicht über das, von dem manche meinen, es
stehe so im Gesetz!
Vielen Dank.
({0})
Liebe Frau Kollegin Ferner, als Sie von den letzten
zehn Sekunden Redezeit gesprochen haben, hatten Sie
Ihre Redezeit schon überschritten.
({0})
- Ja, ich wollte nur noch einmal meine sprichwörtliche
Großzügigkeit ins Protokoll bringen.
({1})
Allerdings verbinde ich dies mit dem Hinweis, dass
ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, in der weiteren
Debatte Zwischenfragen und Kurzinterventionen jedenfalls dann nicht zulasse, wenn die sich meldenden Kollegen
ohnehin als Redner in der weiteren Debatte vorgesehen
sind.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle
für die FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das ist heute keine Debatte über Gesundheitstechnik,
obwohl sie sich teilweise so anhört. Es geht auch nicht
um irgendeine spezielle Frage des Gesundheitssystems.
In Wahrheit geht es um eine grundsätzliche Weichenstellung gesellschaftspolitischer und sozialpolitischer Natur.
Es geht um die Frage: Wollen wir in unserem Land bei
Reformen mehr Freiheit durchsetzen, oder gehen wir
den Weg in Richtung von noch mehr bürokratischer
Staatswirtschaft? Sie haben sich für das Letztere entschieden und werden das heute beschließen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, deswegen, weil es nicht um eine
fachliche Frage alleine geht, wäre es das Allermindeste,
was man erwarten kann, dass sich die Regierungschefin
bei dieser für unsere Bürgerinnen und Bürger so herausragenden Frage nicht hinter der Gesundheitsministerin
versteckt, sondern selber im Parlament die Verantwortung übernimmt für den Murks, den Sie hier anrichten!
({1})
An Sie gerichtet, meine Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen, will ich nur Folgendes sagen - denn wir
haben ja alle mitbekommen, wie kontrovers Sie auch in
Ihren eigenen Fraktionen darüber beraten haben -: Viele
von Ihnen handeln heute nach der Methode, die der Kollege
Zöller vorgegeben hat: Augen zu und durch, Hauptsache
es ist vorbei. - Nichts ist vorbei, wir werden Sie für
diese falsche Entscheidung in Ihren Wahlkreisen zur
Verantwortung ziehen.
({2})
Sie werden sich nicht hinter Ulla Schmidt oder hinter einem
Koalitionskompromiss verstecken können. Sie sind
Ihrem Gewissen und dem Volk verantwortlich - und
nicht Angela Merkel und Franz Müntefering. Darum
geht es: um Ihr Selbstverständnis.
({3})
Deswegen ist es erforderlich, dass wir auf das aufmerksam machen, was natürlich noch kommen wird.
Denn es ist für Sie nicht vorbei, es kommt noch mehr,
Herr Kollege Kauder:
({4})
„Steinbrück plant Steuererhöhungen“.
({5})
- Sie sagen, Herr Kollege, das sei Blödsinn?
({6})
Dann will ich erwähnen, was eine andere Zeitung
schreibt - ziemlich das andere Ende des Spektrums der
Berichterstattung -: „Gesundheitsreform reißt Riesenetatloch“, und zitiere den haushaltspolitischen Sprecher der
SPD-Fraktion, Carsten Schneider: „Vielen in der Koalition ist nicht bewusst, was dies für die Haushaltspolitik
bedeutet.“
({7})
Er rechnet mit einem zweistelligen Milliardenbetrag, der
fehlt und der bereitgestellt werden muss. Er sagte der
„Frankfurter Rundschau“ wörtlich: „Dann können alle
Wünsche nach mehr Geld für Familien, für Forschung
oder Infrastruktur nicht mehr erfüllt werden.“
({8})
Was hier stattfindet, ist einmalig: Sie erhöhen die
Beiträge, Sie führen mit dem Gesundheitsfonds die Planwirtschaft ein, Sie erhöhen die Steuern und Sie verringern
die Leistungen für die Versicherten, für die Patienten.
Eine so schlechte Reform verdient den Namen Reform
in diesem Hohen Hause nicht!
({9})
Entlarvend war doch, dass die Gesundheitsministerin
hier erklärt hat, es könne nicht richtig sein, dass es für
dieselbe Leistung bei zwei Versicherungen einen Beitragsunterschied von 21 Euro geben könne. Wenn es nicht
richtig sein kann, dass für dieselbe Leistung unterschiedliche Preise verlangt werden können, warum nennen Sie
Ihr Gesetz ausgerechnet „Wettbewerbsstärkungsgesetz“?
({10})
Das ist ein Wettbewerbsverständnis, wie Sie es vielleicht bei den Jusos oder beim KBW gelernt haben.
Doch mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zu tun.
({11})
Mit derselben Argumentation kann dieser Deutsche
Bundestag demnächst den Brotpreis festsetzen! Das ist
Planwirtschaft und hat mit sozialer Marktwirtschaft
nichts zu tun.
Wenn Sie das mir nicht glauben, dann hören Sie sich
an, was der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, Professor Lauk, in
dieser Woche gesagt hat: Auf 500 Seiten Gesetzentwurf
steht kein einziger wirklich wirkungsvoller Ansatz zur
Kostensenkung. - Er fügt hinzu: Das wäre mit dem Vater
der sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders,
Ludwig Erhard, nicht zu machen gewesen. - Das ist
wohl wahr. Spätestens jetzt hätte er Ihre Partei verlassen,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
({12})
Ich muss hier gar nicht Friedrich Merz zitieren oder
Michael Glos oder Philipp Mißfelder. Wir können sogar
große geschichtliche Gestalten der sozialdemokratischen
Fraktion anführen. Gerhard Schröder - ich hätte nicht
gedacht, dass ich ihn jemals freiwillig zitieren würde hat zur Gesundheitsreform festgestellt, das alles sei kein
großer Wurf.
({13})
Den Gesundheitsfonds hat er gar als bürokratisches
Monstrum bezeichnet, das der Programmatik beider Parteien widerspreche und den Versicherten nicht helfe.
({14})
Dies macht doch die Kompromissfindung zwischen den
beiden Regierungsfraktionen deutlich, um die es sich in
Wahrheit handelt und die zu diesem Ergebnis geführt hat.
Das erinnert an ein schönes Bild: Zwei Wanderer wollen
gemeinsam einen Weg beschreiten und kommen an
einen Sumpf. Der eine will links vorbeigehen, der andere
rechts. Weil sie sich nicht einigen können, sagen sie:
Dann gehen wir halt glatt durch die Mitte. Als sie bis zur
Hüfte im Sumpf stehen, streiten sie sich, ob der Sumpf
2,80 Meter oder 3,40 Meter tief ist.
Zum ersten Mal, seit ich diesem Haus angehöre, beschließen zwei Regierungsfraktionen in einer fundamentalen Frage ein Vorhaben, von dem sie sich wünschen,
dass es in dieser Republik niemals Wirklichkeit wird.
Was haben Sie für ein Parlamentarismusverständnis?
({15})
Herr Lauterbach - ich weiß nicht, ob man Ihnen gegenüber den Namen noch erwähnen darf - war einst der
Heilsbringer der Sozialdemokraten. Davon ist nichts
geblieben. Sie haben sich entschieden, in einem parlamentarisch außerordentlich fragwürdigen Verfahren eine
Gesundheitsreform zu beschließen, die in Wahrheit mit
dem Gesundheitsfonds ein bürokratisches Monstrum
schafft, die Beiträge erhöht, die Versicherten nicht stärkt
und vor allem den Wettbewerb zwischen den Anbietern
zum Erliegen bringt.
Vor der Bundestagswahl haben wir gemeinsam das
glatte Gegenteil gefordert. Reden Sie sich nicht zu
Hause bei Ihren Wählerinnen und Wählern damit heraus,
dass Sie es mit der FDP anders gemacht hätten bzw.
anders machen werden!
({16})
Sie stehen als Abgeordnete in der Verantwortung für das,
was Sie beschließen, und sollten auch gegenüber der
Regierung so viel Stärke aufbringen, dass Sie sagen:
Lieber keine Reform als diese vermurkste Reform!
({17})
„Mehr Freiheit wagen“, das wollten Sie mal. Heute
beschließen Sie mehr Planwirtschaft.
In den wenigen Minuten, die mir als Redezeit zur
Verfügung stehen,
({18})
möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass
der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München,
der der SPD angehört, sich mit dem dringlichen Anliegen an den Fraktions- und Parteivorsitzenden der FDP
gewendet hat - was an sich schon ein bemerkenswerter
Vorgang ist -, kräftig gegen die Gesundheitsreform zu
Felde zu ziehen. Das sind spannende Zustände.
({19})
- Zu Ihnen komme ich noch, Herr Kollege Zöller. Übrigens
- Sie gehören ja der CSU an, Herr Zöller -: Demnächst
klebt die FDP in München ein Plakat mit der Aufschrift
„Freiheit statt Sozialismus“ - gerichtet an die CSU.
({20})
Der Oberbürgermeister von München also hat mir in
einem Brief geschrieben, die Gesundheitsreform sei ein
Rückfall in eine konzeptionslose Kostendämpfung - er
begründet das auf mehreren Seiten -, und berichtet, der
Münchner Stadtrat habe sich einstimmig gegen das
gewendet, was Sie heute beschließen wollen, und zwar
aus demselben Grund wie die Krankenhausbetreiber,
({21})
weil 30 000 Arbeitsplätze verloren gehen.
Das alles ist Ihnen nicht wichtig. Ihnen ist wichtig,
dass Sie Ihr Gesicht nicht verlieren. Aber für Deutschland ist das so ziemlich das Unwichtigste.
({22})
Abschließend will ich noch Folgendes zu Protokoll
geben - danach können Sie zu Ihrem Steh- und Sektempfang gehen, Frau Schmidt, zu dem Sie auf die Fraktionsebene eingeladen haben; ich werde übrigens nicht
kommen, um mitzufeiern; bitte entschuldigen Sie mich,
Frau Schmidt! -: Wenn Sie in der Nacht vor der Sitzung
des Gesundheitsausschusses 81 Anträge einreichen und
es am nächsten Tag ablehnen, dass diese Anträge in einer
angemessenen Zeit ordnungsgemäß beraten werden
können, dann ist auch das eine Verletzung des parlamentarischen Verfahrens.
({23})
Ich gebe das hier amtlich zu Protokoll, weil Sie das noch
einholen und beschäftigen wird.
Unterm Strich stelle ich fest: So viel Unfug hat dieses
Haus schon lange nicht mehr gesehen.
({24})
Das Wort erhält nun die Kollegin Annette WidmannMauz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Kollege Westerwelle, das, was Sie hier heute abgeliefert haben, erinnert an das letzte Aufbäumen. Während die Kassen und die Ärzte die Fahnen schon eingeAnnette Widmann-Mauz
zogen haben, erinnern Sie mich an die gemieteten
Demonstranten vor dem Reichstag. Sie sind hier angetreten, um noch einmal starke Sprüche zu klopfen.
({0})
Für mich ist immer wieder erstaunlich, wie Sie das
Schreckgespenst der Verstaatlichung an die Wand malen.
Sie prangern verstaatlichte Institutionen an; wenn diese
verstaatlichten Institutionen jedoch in Ihren Wahlkreis
kommen sollen, sind Sie plötzlich dafür und bitten die
Ministerin, sich dafür einzusetzen, dass eine solche Institution in Ihrem Wahlkreis angesiedelt ist.
({1})
Es ist auch interessant, dass Sie, Herr Kollege, kein
einziges Wort zu Ihrem Wahlkampfschlager, nämlich Ihrem Gesundheitskonzept, gesagt haben. Das haben Sie
heute wohlweislich unterlassen. Denn das, was Sie mit
Ihrem Konzept einführen wollten, ist eine allgemeine
Versicherungspflicht in Deutschland. Damit würden Sie
die Menschen in einen Basistarif in der privaten Krankenversicherung zwingen, das Gesundheitsrisiko privatisieren und Risikozuschläge in der privaten Krankenversicherung gestalten. Finanzieren wollen Sie das Ganze,
damit es einen sozialen Anstrich hat, aus Steuermitteln.
Sie bleiben der deutschen Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag die Auskunft darüber schuldig, woher Sie das
Geld dafür nehmen wollen.
({2})
Sie haben überhaupt kein Recht, hier auch nur die leiseste Kritik zu üben.
Ich habe mir auch angehört, was Sie zu den Beratungen im Ausschuss gesagt haben. Bereits Anfang Januar
haben wir über 100 Änderungsanträge vorgelegt. Mehrfach haben wir dem Ausschuss das Angebot unterbreitet,
Sondersitzungen abzuhalten.
({3})
Am Montag haben wir Unterbrechungen beantragt, damit Sie genügend Zeit zum Lesen haben. Wer hat denn
dagegengestimmt? Die FDP-Fraktion!
({4})
Ich kann nur sagen: Sie ziehen hier heute Morgen wirklich eine Show ab.
({5})
Wenn man die Berichterstattung der letzten Monate
und die vom heutigen Morgen zum Maßstab nimmt,
könnte man fast den Eindruck gewinnen, es gebe im
deutschen Gesundheitswesen paradiesische Zustände,
die Reform sei nicht nötig, alles sei besser als diese Reform. Ich will uns, vor allen Dingen aber den Menschen
in unserem Land erklären, warum wir diese Reform
brauchen. Haben Sie denn alle schon vergessen, wie die
Wirklichkeit im deutschen Gesundheitswesen aussieht?
Ich sage es Ihnen gern noch einmal: Wartelisten, überfüllte Wartezimmer, zu wenig Ärzte im ländlichen
Raum, vor allem in den neuen Bundesländern, zu wenig
Nachwuchs, Ärzte, die immer mehr Patienten behandeln
müssen und dafür immer schlechter bezahlt werden,
Ärzte, die immer mehr in Bürokratie ersticken und immer weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten haben. Die Ärzte verlieren die Freude am Beruf, sie verlassen unser Land und wandern aus. Folglich stehen sie den
Patientinnen und Patienten nicht mehr zur Verfügung.
Das ist die Folge jahrelanger Budgetierung. Es gibt
bei uns keine leistungsgerechte Honorierung, deshalb
zieht die Rationierung schleichend in unser Gesundheitssystem ein. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das trifft
immer die Schwächsten zuerst, das sind die kranken
Menschen in unserem Land.
({6})
Haben Sie vergessen, lieber Herr Spieth, wie intransparent unser Gesundheitssystem ist? Niemand weiß
doch, welche Leistungen der Arzt abrechnet, was der
Arzt von der Kasse für seine Leistungen erhält. Wer
weiß denn, wofür die Krankenkassen die Beitragsmittel
einsetzen, wie viel für die Verwaltung und die Funktionäre draufgeht, wie viel für die medizinischen Leistungen und wie hoch die Zinslasten für die Verschuldung in
Wahrheit sind?
Denken Sie an die Kartelle der Anbieter und auf der
Kassenseite. So kann doch kein Wettbewerb in diesem
Land entstehen. Dort, wo Transparenz fehlt, fehlt auch
das Bewusstsein für Kosten und Leistungen. Da blühen
Selbstbedienung und Verantwortungslosigkeit. Das hat
mit informierten, mündigen Patienten und einem effizienten System nichts zu tun. Deshalb müssen wir handeln.
({7})
Hat dieses Hohe Haus denn schon vergessen, wie wenig Eigenverantwortung und wie wenige Wahlmöglichkeiten es in allen Bereichen und bei allen Beteiligten in
diesem Gesundheitswesen gibt? Haben wir denn schon
vergessen, dass wir neben Fortschritt auch noch nur
scheinbaren Fortschritt mitfinanzieren und teuer bezahlen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wird Gesundheit
immer nur teurer, und immer mehr Menschen können
sich das nicht mehr leisten. Es gibt immer mehr Nichtversicherte in unserem Land. Damit dürfen wir uns doch
nicht abfinden. In einer älter werdenden Gesellschaft mit
neuen Möglichkeiten - dank medizinischen Fortschritts
und gestiegenen Ansprüchen - führt dieses unweigerlich
dazu, dass wir immer stärker die Entsolidarisierung in
unserer Gesellschaft erleben. Ich sage Ihnen: Das wollen
wir nicht.
({8})
Wir wollen medizinischen Fortschritt für alle auch in
Zukunft finanzierbar erhalten und deshalb heute im Interesse künftiger Generationen handeln.
Haben wir schon vergessen, dass das Finanzierungssystem mit seiner Abhängigkeit ausschließlich von den
Arbeitskosten nicht zukunftsfähig ist, eine Belastung für
die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft darstellt und dann auch nicht ausreicht, um in einer älter
werdenden Gesellschaft mit immer mehr Rentnern die
Ausgaben zu finanzieren? Das ist doch die Situation,
und deshalb brauchen wir die Reform.
Heute bringt die Große Koalition nach einer zugegebenermaßen nicht ganz komplikationsfreien Schwangerschaft ein gesundes, kräftiges Kind zu Welt.
({9})
Auch wenn es nicht bei jedem das Wunschkind war und
auf den ersten Blick - man hört es ja - auch noch nicht
von jedem in seiner ganzen Schönheit erkannt wird,
({10})
die Geschwister, die Verwandten, die Ärzte und die Kassen, sie gewöhnen sich langsam an das Kind, und sie
fangen auch schon an, es immer mehr zu mögen. Und
ich sage Ihnen, so wie jedes Kind wird auch dieses Kind
die Gesundheitswelt ganz deutlich verändern.
Wir stellen die Finanzierung um. Mit dem Gesundheitsfonds schaffen wir den Einstieg in die Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten, denn
wir schreiben zum ersten Mal den Arbeitgeberbeitrag
temporär fest. Wir finanzieren versicherungsfremde
Leistungen, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, mit dem
Aufbau einer Steuersäule. Das ist doch die Voraussetzung dafür, dass jeder Versicherte für jede Kasse das
gleiche Risiko darstellt, egal ob jung oder alt, ob gesund
oder krank, ob arm oder reich. Jede Kasse erhält aus dem
allgemeinen, einheitlichen und einkommensabhängigen
Grundbeitrag die gleiche Pauschale pro Versicherten,
wobei wir die unterschiedliche Verteilung der Krankheitsrisiken in den Kassen durch einen vereinfachten und
zielgenauen Risikostrukturausgleich berücksichtigen.
Das ist die Grundlage dafür, dass Wettbewerb, dass
Transparenz und Gerechtigkeit überhaupt funktionieren
können, und das hat mit Verstaatlichung überhaupt
nichts zu tun.
({11})
Denn für die Kassen besteht jetzt zum ersten Mal nicht
mehr der Anreiz, Jagd auf junge, gesunde Gutverdiener
zu machen. Eine Kasse hat keine Nachteile mehr, wenn
sie Menschen in Regionen versichert, obwohl dort hohe
Arbeitslosigkeit herrscht. Auf der anderen Seite bieten
die Kassen individuelle Zusatzbeiträge an und können
einen Bonus an die Versicherten auszahlen, sodass die
Versicherten erkennen können, ob die Leistung der
Kasse ihren Preis auch wert ist. Erst jetzt hat das Werben
der Kassen um die „guten Risiken“, das in der Vergangenheit zu beobachten war, keine Chance mehr.
Wir schaffen damit außerdem die Voraussetzung dafür, dass sich die Kassen anstrengen, schlanke Verwaltungsstrukturen zu entwickeln und ein gutes Versorgungsmanagement auf den Weg zu bringen. Ich nenne
das Beispiel der AOK Baden-Württemberg, die schon
im Vorfeld dieser Reform klare, mutige Entscheidungen
zugunsten von mehr Effizienz in der Verwaltung getroffen hat. Dies ist richtig, weil man so Beitragsgelder für
die Versorgung freischaufelt, anstatt sie für teure Gebäude und Bürokratie zu verschwenden.
Es kommt also Bewegung in unser Gesundheitssystem. Es gibt mehr Vielfalt durch versichertenbezogene
Versorgungsangebote und kassenspezifische Tarife.
Selbst der Chef des AOK-Bundesverbandes sagt, das sei
im Sinne der Versicherten. Voraussetzung ist aber die
Möglichkeit, einzelvertragliche Regelungen zu treffen.
Diese schaffen wir: mit Ärzten, Krankenhäusern, Arzneimittelherstellern und Apotheken. Wir schaffen mit
dieser Reform mehr Wahlmöglichkeiten: Hausarzttarife,
integrierte Versorgung, Kostenerstattungen und Selbstbehalttarife zum ersten Mal für Pflichtversicherte. Wir
ermöglichen zudem Tarife für Homöopathie und Anthroposophie. Wir stärken des Weiteren die Eigenverantwortung; denn der geplante Zusatzbeitrag schafft gerade erst
die Preissensibilität und das notwendige Kostenbewusstsein bei den Versicherten.
Uns geht es aber nicht nur um die ökonomische Verantwortung, sondern auch um das persönliche Verhalten
und den Lebensstil. Früherkennungsuntersuchungen
sind wichtig. Wir müssen die Menschen stärker motivieren, sie wahrzunehmen. Ich habe großes Verständnis dafür, wenn Menschen sagen: Ich habe ein Recht auf
Nichtwissen. Aber dieses Recht auf Nichtwissen korrespondiert nicht mit dem Recht auf Zuzahlungsreduzierung zulasten der Solidargemeinschaft.
({12})
Wir achten auch auf therapiegerechtes Verhalten. Das
ist richtig; denn auch Ärzte haben gegenüber der Solidargemeinschaft die Verantwortung, dies mit ihren Patienten zu besprechen. Voraussetzung ist aber, dass sie
eine leistungsgerechte Honorierung erhalten, damit sie
diese vielfach „sprechende Medizin“ anwenden können.
Deshalb etablieren wir eine leistungsgerechte Honorierung mit weniger Bürokratie bei den Chronikerprogrammen und den vielfältigen Prüfungen, denen sich Ärzte
unterziehen müssen. Wir beenden die Budgetierung und
führen stattdessen eine Vertragsgebührenordnung in
Euro und Cent ein. Das Morbiditätsrisiko, also das Risiko einer kränker werdenden Gesellschaft, geht auf die
Krankenkassen über und muss nicht aus dem Topf für
die Ärzte bezahlt werden. Wir etablieren zudem Zuschläge für Ärzte in unterversorgten Regionen und Gebieten sowie dort, wo Unterversorgung erst in den
nächsten Jahren droht. Der Chef der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, Dr. Andreas Köhler, sagte gestern:
Das hilft uns Ärzten. Und es kommt letztlich den Patienten zugute.
({13})
Wir leisten mit dieser Reform einen wichtigen Beitrag
zur Generationengerechtigkeit. Allein die Diskussion
über den Verschuldensbegriff und die Insolvenzfähigkeit
hat doch offenbart, wie groß das Ausmaß der Verschuldung und der nicht aufgebauten Altersrückstellungen in
diesem System ist: 2 Milliarden Euro Altschulden, die in
den nächsten beiden Jahren abgebaut werden müssen,
und 10 Milliarden Euro nicht getroffene Pensionsrückstellungen. Wir schaffen einen einheitlichen Verschuldensbegriff und verpflichten die Krankenkassen, Rückstellungen aufzubauen. Ich kann nur sagen: Wer es mit
der Generationengerechtigkeit ernst meint, der muss
heute den Beitrag dazu leisten, dass diese Schulden nicht
zu Beitragssatzsteigerungen für künftige Generationen
werden.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Reform am
heutigen Tag abzulehnen, heißt, den Lobbyisten im Gesundheitswesen nachzugeben und den Menschen alle
Verbesserungen, die diese Reform bringt, vorzuenthalten:
({15})
den Schwerstkranken die Palliativversorgung, den Behinderten und Pflegebedürftigen die häusliche Krankenpflege und die Versorgung mit Hilfsmitteln, den Müttern
und Vätern Eltern-Kind-Kuren, den Versicherten Wahlmöglichkeiten - so viel Kostenerstattung war nie in diesem Land - und den Nichtversicherten den Zugang zu
bezahlbarem Versicherungsschutz in der gesetzlichen
wie in der privaten Krankenversicherung. Diese Reform
abzulehnen, heißt, auf der einen Seite Budgetierung und
Rationierung und auf der anderen Seite Intransparenz
und die Verschwendung knapper Ressourcen zu dulden
und fortzusetzen. Diese Reform abzulehnen, heißt: weiter keine Verbreiterung der Finanzierungsbasis durch
Steuern und damit weniger Gerechtigkeit und eine stärkere Belastung durch höhere Lohnnebenkosten.
Deshalb sagen wir heute Ja zu dieser Reform, und wir
nehmen unsere Verantwortung für die Menschen in unserem Land wahr.
Vielen Dank.
({16})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Bunge
das Wort.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben zur Ausschussarbeit eine Bemerkung gemacht, die mich als
Ausschussvorsitzende zur Reaktion veranlasst. Wenn ich
es diplomatisch ausdrücke, so hat uns die Koalition hier
ein Verfahren aufgedrückt, das zwar nach der Geschäftsordnung zulässig, aber einem solch komplexen Reformwerk nicht angemessen ist.
({0})
Sie haben hier das Angebot von Sondersitzungen erwähnt.
({1})
Frau Widmann-Mauz, Sondersitzungen ergeben keinen
Sinn, wenn sie ohne Vorlage der geplanten Änderungen
stattfinden sollen.
({2})
Was sollen wir denn dort beraten? Wir brauchen doch
nicht unsere Zeit abzusitzen. Als die Vorlagen da waren,
war nächtens nur noch einige Stunden Zeit. Das ganze
Verfahren führte dazu, dass ich als Ausschussvorsitzende ständig - das ist bis heute so - auf die Einhaltung
der Geschäftsordnung achten musste.
({3})
Noch gestern Abend, nach Vorlage der Beschlussempfehlung, bin ich bedrängt worden, Buchstaben und Zahlen zu ändern, obwohl die Abstimmungen längst vorbei
waren. Das ist der parlamentarischen Demokratie sehr
abträglich. Das gehört sich einfach nicht für dieses deutsche Parlament.
({4})
Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie können antworten.
({0})
Frau Kollegin Bunge, Sie wissen so gut wie ich, dass
wir intensive Diskussionen und vielfache Beratungen im
Ausschuss - auch in einer guten Atmosphäre - durchgeführt haben. Wir haben Ihnen viele Änderungsanträge in
verschiedenen Sitzungen und teilweise auch übers Wochenende zugeleitet und intensiv darüber beraten. Wir
haben jedem Parlamentarier die ausreichende Möglichkeit gegeben, sich mit der Materie zu befassen. Alle Berichterstatter, auch die der Oppositionsparteien, haben
sowohl der Beschlussempfehlung als auch dem Bericht
zugestimmt.
({0})
Wenn Ihr Fraktionskollege Spieth Briefe mit besonderen
Wünschen, die er noch kurz vor Toresschluss hat, an Sie
schreibt, dann bitte ich, das in Ihrer Fraktion zu klären.
({1})
Der Deutsche Bundestag und der Gesundheitsausschuss
haben ein ordnungsgemäßes und kollegiales Verfahren durchgeführt. Sie wissen genau, dass Ihre Kritik
erstens am heutigen Tag nicht angebracht ist und zweitens nicht den Tatsachen in der Ausschussberatung entspricht.
({2})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich
dem Kollegen Lanfermann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin WidmannMauz, als einer der angesprochenen Berichterstatter
möchte ich doch auf Folgendes hinweisen: Erstens. Die
Änderungsanträge, über die hier gesprochen worden
ist, sind uns gegen 21.40 Uhr am Dienstagabend zugestellt worden.
({0})
Ich als Obmann der FDP-Fraktion habe zu Beginn der
Ausschusssitzung am Mittwoch um 8.30 Uhr den Antrag
gestellt,
({1})
dass wir zwei Stunden Lesezeit bekommen, um wenigstens festzustellen, was in den Änderungsanträgen steht.
Dieser Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
({2})
Zweitens. Sie haben mit Ihrer Mehrheit durchgesetzt,
dass Beschlussempfehlung und Bericht an dieses Plenum getrennt wurden. Sie waren bei dem von Ihnen verursachten Chaos nicht in der Lage, beides gemeinsam so
fertigstellen zu lassen, dass die Frist Mittwochabend
24 Uhr hätte gewahrt werden können, damit wir heute
hier verhandeln können.
Die Beschlussempfehlung selbst ist mir erst am späten Mittwochabend - nach mehrfacher Ankündigung
und Verzögerung - zugestellt worden. Ich habe sie dann
unterschrieben, damit hier verhandelt werden kann.
Ansonsten hätte auf Ihren Druck hin das Plenum mit
entsprechenden Kosten zu einer Sondersitzung,
höchstwahrscheinlich in der nächsten Woche, zusammenkommen müssen. Das wollte ich nicht verantworten.
Die Kollegen Spieth von der Linken und Bender, Grüne,
haben genauso gehandelt.
Drittens. Der Bericht, der dazu dienen soll, dass die
Abgeordneten wissen, was eigentlich geschehen ist - er
war für einen späteren Zeitpunkt am Mittwoch oder für
Donnerstagmorgen angekündigt -, ist mir gestern Abend
um 19.30 Uhr zugestellt worden. Ich bekenne - das fällt
mir auch angesichts meiner beruflichen Vergangenheit
schwer -, dass ich den Satz „nicht gelesen“ leider nicht
hingeschrieben habe. Ich werde es nach Ihren soeben gemachten Ausführungen künftig anders machen. Beim
nächsten Mal würde ich mich trotz aller Folgen weigern,
ein Konvolut von über 100 Seiten zu unterschreiben, von
dem sich zumindest ein ganz wichtiger Teil auf diejenigen Änderungen bezog, die in den letzten beiden Tagen
nicht ordentlich behandelt werden konnten.
Wenn dem Plenum überhaupt ein Bericht vorliegt,
dann deswegen, weil auch die Berichterstatter der Opposition gestern Abend eine Unterschrift geleistet haben zu
einem Gesetzgebungsverfahren, das wirklich jedem ordentlichen Parlamentarismus hohnspricht. Nehmen Sie
diese Fakten bitte endlich zur Kenntnis und behaupten
Sie nicht dauernd, es habe hier ein ordnungsgemäßes
Verfahren stattgefunden!
({3})
Frau Widmann-Mauz, Sie können antworten.
Herr Kollege Lanfermann, es ist jetzt schon zwei
Tage her. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr
korrekt an den Verlauf der Ausschusssitzung. Ich erinnere mich daran sehr wohl.
({0})
- Sie waren doch gar nicht dabei, Herr Kollege
Westerwelle.
({1})
Wir haben ausführlich, über mehrere Stunden, Änderungsvorschlag für Änderungsvorschlag in die Änderungsanträge eingefügt. Unser Obmann, Kollege Jens
Spahn, hat eine Sitzungsunterbrechung beantragt, um
dem Wunsch der FDP, eine längere Beratungszeit in Anspruch zu nehmen, gerecht zu werden.
({2})
Die FDP hat diesem Antrag nicht zugestimmt.
({3})
Ich halte es zwar für politisch nachvollziehbar, Kollege Lanfermann, dass Sie, nachdem Sie gemerkt haben,
dass Sie hier längst auf verlorenem Posten kämpfen,
Probleme mit Formalitäten in den Raum stellen. Ich bin
aber der festen Überzeugung: Dieses Verfahren ist ordnungsgemäß gewesen. Sie alle haben diese Berichte unterschrieben. Diese Berichte haben in den Fächern und
zur Beratung fristgerecht vorgelegen.
Sie sollten jetzt, nachdem die politischen Schlachten
geschlagen sind, Ihre Fahne einziehen. Ich glaube, das
ist an dieser Stelle in guter Kollegialität machbar. Ich
sehe keinen Grund, hier weiter ein korrektes Verfahren
von Ihnen infrage stellen zu lassen.
({4})
Mir liegt ein weiterer Wunsch nach einer Kurzintervention, nämlich der der Kollegin Haßelmann, vor.
({0})
Ich bitte aber darum, dass das dann die letzte Kurzintervention ist.
({1})
- Herr Kollege Westerwelle, wenn Ihr Geschäftsführer
eine Kurzintervention Ihrerseits anmeldet, dann erhalten
Sie das Wort direkt nach Frau Haßelmann. Frau
Widmann-Mauz, wenn es Ihnen recht ist, antworten Sie
danach auf beide Kurzinterventionen.
Frau Haßelmann, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau WidmannMauz, ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen - Ihre
Rede gerade war ein bisschen taumelig -: Ich empfinde
es als eine unglaubliche Frechheit, wie Sie gerade auf
die Kurzintervention des Kollegen von der FDP geantwortet haben.
({0})
Sie können mit keiner einzigen noch so schnodderigen Bemerkung - vielleicht werden Sie auch auf die
nächste Kurzintervention so erwidern - zurückweisen,
dass es ein unglaublich schlechtes parlamentarisches
Verfahren war, dass wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier - ich selbst bin stellvertretendes Mitglied im
Gesundheitsausschuss ({1})
kaum die Chance hatten, Beratungen wirklich ordentlich
durchzuführen. Ich empfinde es auch als Frechheit, wie
Sie hier durch Ihre Zwischenrufe agieren. Ich glaube,
das kann ich hier im Interesse vieler Parlamentarierinnen
und Parlamentarier - egal, welcher Fraktion sie angehören - deutlich sagen.
({2})
Jetzt der Herr Kollege Westerwelle. Dann, Frau
Widmann-Mauz, können Sie antworten. Ich gebe Ihnen
auch ausreichend Zeit zur Beantwortung von zwei Kurzinterventionen.
Meine Kurzintervention wird sehr kurz sein; es ist
eine Mitteilung. Nachdem die Regierungsfraktionen unter großem Beifall die Oppositionsfraktionen für eine
Unterschrift verhaften wollen, die sie abgegeben haben,
damit es in der nächsten Woche keine Sondersitzung des
Deutschen Bundestages auf Kosten der Steuerzahler geben muss, kündige ich hiermit an: Herr Kollege Kauder,
Herr Kollege Struck, wir als Opposition werden solches
Entgegenkommen bei derartigen Abreden, die bisher eigentlich guter innerparlamentarischer Brauch waren, die
aber nicht einen Verzicht auf die Sachargumentation bedeutet haben, künftig nicht mehr zeigen. Wir werden formal auf die Einhaltung von Fristen - auf Punkt und
Komma, und wenn es eine Minute nach Zwölf ist - bestehen.
({0})
Frau Kollegin Widmann-Mauz.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben diese
Reform seit September des letzten Jahres im Bundestagsausschuss für Gesundheit beraten - in vielen Wochen, in vielen Sitzungen. Wir haben nicht alle Änderungsanträge in der letzten Sitzung beraten, sondern
viele bereits vorher. Es war so viel Zeit gegeben, dass
am Ende sogar Oppositionsfraktionen einzelnen dieser
Anträge zugestimmt haben.
Ich muss schon sagen: Als Bundestagsabgeordnete
werden wir nicht schlecht bezahlt. Wenn wir wissen,
dass Beamtinnen und Beamte bei einem so großen Werk
bis tief in die Nacht und bis in die letzte Stunde arbeiten
müssen, dann können wir, finde ich, uns das auch zumuten.
({0})
Wir haben das getan. In diesem Sinne würde ich vorschlagen, dass wir dieses Verfahren auch so zum Abschluss bringen.
Das Wort hat die Senatorin für Gesundheit, Umwelt
und Verbraucherschutz des Landes Berlin, Katrin
Lompscher.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Ich bin in Berlin seit dem
23. November des letzten Jahres Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. Eine Woche vor
meinem Amtsantritt hat das Land Berlin einen umfassenden Entschließungsantrag in den Gesundheitsausschuss des Bundesrates eingebracht, in dem ausführlich
begründet worden ist, warum wir dieses Gesetzespaket
zurückweisen.
({0})
Heute, nach monatelangen Verhandlungen zwischen
Union und SPD, bleiben die wesentlichen Defizite des
Gesetzentwurfes für eine Gesundheitsreform, die diesen
Namen nicht verdient hat und die kaum noch jemand
nachvollziehen kann, bestehen: Die Entsolidarisierung
Senatorin Katrin Lompscher ({1})
der Versicherten wird festgeschrieben, Krankheitsrisiken
werden privatisiert und die Selbstverwaltung der Kassen
wird beschnitten. Die Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung wird weder nachhaltig stabilisiert
noch gerechter gestaltet. Die Finanzierung wird nicht auf
alle Bürgerinnen und Bürger ausgedehnt. Weitere Einkommensarten werden nicht in das Solidarsystem einbezogen. Stattdessen werden Menschen mit geringem Einkommen durch den Zusatzbeitrag überproportional
belastet.
({2})
Lassen Sie mich die Kritik aus Berliner Sicht verdeutlichen. Der Gesetzentwurf bringt extreme Nachteile insbesondere für diejenigen Krankenkassen, die Menschen
mit großen gesundheitlichen Risiken und geringen
Einkommen versichern - wie die Berliner AOK mit fast
einer Million Versicherten.
({3})
Ohne die Einführung eines wirklich krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleichs können diese Kassen die
gesundheitlichen Leistungen nur dann finanzieren, wenn
sie jetzt von ihren Versicherten höhere Beiträge erheben
als solche Kassen, deren Versicherte besser gestellt sind.
Nach Einführung des Gesundheitsfonds im
Jahre 2009 werden sie gezwungen sein, höhere Zusatzbeiträge zu erheben.
Die AOK Berlin hat ohne Zweifel eine schlechte
Einnahme- und Ausgabenstruktur.
({4})
Diese Situation wurde allerdings nicht durch Missmanagement und fehlende Aufsicht verursacht, wie in der
Bundestagsdebatte vom September 2006 vom Unionsabgeordneten Jahr fälschlicherweise behauptet wurde. Die
AOK Berlin engagiert sich für eine wirtschaftliche Krankenhausversorgung
({5})
und für verbesserte Präventionsangebote in Berlin.
({6})
Zwischen 1996 und 2004 wurden gegenüber der allgemeinen Entwicklung der Ausgaben der gesetzlichen
Krankenversicherung rund 304 Millionen Euro eingespart. Aber Sie dürfen nicht vergessen: 50 Prozent der
AOK-Mitglieder sind Rentner, und viele haben geringe
Einkommen. Daraus entstehen die Verluste.
({7})
Der vorliegende Gesetzentwurf löst diese Probleme
nicht, sondern verschärft sie.
({8})
Der Zusatzbeitrag führt dazu, dass der Wettbewerb
zwischen den Kassen künftig verstärkt um die gesunden
und einkommensstarken Versicherten geführt wird, nicht
um eine bessere Gesundheitsversorgung. Es ist zu befürchten, dass Krankenkassen durch diese Entwicklung
bereits kurzfristig in ihrer Existenz bedroht werden.
({9})
Auch die notwendige Entlastung des Faktors Arbeit findet nicht statt. Im Gegenteil, der Gesundheitsfonds und
weitere Maßnahmen führen zu weiteren Beitragserhöhungen.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich kurz
auf die angestrebte Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen eingehen, auch wenn sie noch nicht in diesem
Gesetzentwurf geregelt werden soll. Hier bestehen offensichtlich verfassungsrechtliche Probleme. Es kommt
sicherlich nicht alle Tage vor, dass wir uns als rot-rote
Koalition auf Herrn Professor Dr. Rupert Scholz beziehen.
({10})
Doch seinem Gutachten ist vollkommen zuzustimmen.
({11})
Darin heißt es: Eine isolierte Anordnung der Insolvenzfähigkeit für Krankenkassen dürfte verfassungswidrig
sein.
({12})
Der Bund würde sich damit seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung zur Funktionsgewährleistung für
die gesetzliche Krankenversicherung entziehen. Der
Bund ist aber aufgrund des Sozialstaatsprinzips und seiner Schutzpflicht für Leben und Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, ein funktionierendes
System der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Die Große Koalition hat sich entschieden, die Höhe
des sogenannten Sonderopfers der Krankenhäuser zu
reduzieren. Der entstehende Schaden wird dadurch zwar
verringert, aber nicht beseitigt. In Berlin gibt es das
größte städtische Krankenhausunternehmen Deutschlands, die Vivantes GmbH, und das größte deutsche Universitätsklinikum, die Charité.
({13})
Diese Unternehmen wollen wir als landeseigene Unternehmen fortführen.
({14})
Wir widersetzen uns den Privatisierungsaufrufen und
kümmern uns stattdessen darum, dass diese unverzichtbaren öffentlichen Unternehmen wirtschaftlich arbeiten.
So haben wir zur Sanierung von Vivantes 230 Millionen
Euro aufgebracht. Die Beschäftigten haben Einkommensverluste hingenommen. Zudem hat das Unternehmen die Kassen um 120 Millionen Euro entlastet.
Unsere Sanierungserfolge werden durch Ihre Gesundheitsreform konterkariert.
({15})
Senatorin Katrin Lompscher ({16})
Die Bundesregierung erklärt einerseits vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wir würden unsere
Hausaufgaben bei der Haushaltssanierung nicht machen,
und untergräbt andererseits unsere Anstrengungen, die
Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand in Berlin zu
sichern.
({17})
„Das Gesetz soll Ausdruck des Willens aller sein“, so
die französische Schriftstellerin Marie Gouze. Diesem
Anspruch wird der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht. Die Gesundheitsreform ist ein Gesetz gegen den
Willen vieler: gegen den der Patientinnen und Patienten,
gegen den der örtlichen Versorgerkassen und gegen den
der im Gesundheitswesen Tätigen. Deshalb sollte sie abgelehnt werden.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben die Abgeordneten
vorhin zur Nachtarbeit aufgefordert. Dazu bin ich gerne
bereit.
({0})
Aber diesen Bericht, den ich unterschreiben sollte, hat
man mir um 19.35 Uhr zugestellt, und bereits um
20.10 Uhr wurde mir über die parlamentarische Geschäftsführung die - freundlich ausgedrückt - dringende
Bitte übermittelt, ich möge jetzt gefälligst unterschreiben. Daher lasse ich mir nicht von Ihnen vorhalten, es
liege an meiner mangelnden Arbeitsbereitschaft, dass
ich den Bericht alsbald abgegeben habe. Das ist einfach
eine Unverschämtheit.
({1})
Offensichtlich ist Ihnen heute ja keine Schublade zu
tief. Die Kollegin Ferner - jetzt ist sie nicht mehr da hat vorhin am Beginn ihres Redebeitrages die Abgeordneten der Opposition mit gemieteten Demonstranten verglichen. Welches Verhältnis haben Sie eigentlich zum
Parlament und zur Demokratie? Ich kann nur sagen: Ich
weise das in aller Form zurück und fordere die Kollegin
auf, sich zu entschuldigen.
({2})
In Wirklichkeit ist es doch so, dass Sie schon mit der
Einhaltung der Geschäftsordnung Schwierigkeiten
haben und im Übrigen Widerspruch nicht ertragen. Das
liegt daran, dass dieser schlecht gezimmerte Kompromiss ungeheuer brüchig ist. Schauen Sie doch nur einmal in die Reihen der SPD und der CDU/CSU. Wer ist
da heute überhaupt anwesend? Die Opposition ist am
besten vertreten. Wo sind denn diejenigen, die nicht nur
hinter vorgehaltener Hand kritisieren? Ich könnte ja von
Kollegen erzählen, deren müdes Grinsen ich schon
kenne, wenn sie mir auf dem Gang sagen: Na ja, jetzt
stimme ich halt auch zu. - Es gibt aber auch welche, die
offen gesagt haben, dass sie das nicht tun. Wo sind die
denn heute? Darf man von denen hier irgendetwas hören?
({3})
Nein, auf der Rednerliste stehen nur diejenigen, von denen man weiß, dass sie eine Lobhudelei für diesen verkorksten Kompromiss ausspucken werden. Das ist doch
merkwürdig.
({4})
Dabei kann ich mit dem Kollegen Wodarg nur sagen:
Dieses Gesetz ist Pfusch. - Recht hat er, der Kollege!
({5})
Es ging nur noch darum, irgendeine Reform durchzuziehen, weil die Großkopferten der Koalition Angst hatten, dass man ihnen sonst attestiert, dass diese sogenannte Große Koalition gar nichts zustande bringt.
Gesundheitspolitischer Sachverstand wurde da nur noch
als störend empfunden.
Was haben Sie nicht alles gebastelt? Sie haben beschlossen, dass in Zukunft die Regierung in ihrer unerfindlichen Weisheit über das Geld der Kassen entscheidet. Denen wird dabei nicht genügend Geld zugestanden.
Den Rest sollen sie sich über Zusatzbeiträge der Versicherten holen. Welches Ergebnis haben Sie dabei vereinbart? Leute mit einem Einkommen von weniger als
800 Euro zahlen am Ende mehr Zusatzbeiträge bei geringeren - ({6})
- Ja, ich bekomme das schon nicht mehr zusammen.
Man kann es ja nicht auseinanderwirren. Jedenfalls ist es
so, dass Sie, je nachdem, ob Sie Mitglied einer teureren
oder einer billigeren Kasse sind, froh sein müssen, besonders wenig Einkommen zu haben.
({7})
Anders ausgedrückt: Sie haben zwei Sachverständige
- Herrn Fiedler und Herrn Rürup - damit beauftragt, Ihnen einmal auseinanderzufieseln, ob das so geht. Diese
kamen zu dem Ergebnis, dass es mit diesen Zusatzbeiträgen nicht funktionieren wird, weil gerade die Kassen,
deren Mitglieder einkommensschwächer sind, die
höchsten Zusatzbeiträge erheben und gleichzeitig die
größten Schwierigkeiten haben werden, real an das Geld
zu kommen. Das heißt, das ist kein Wettbewerb, sondern
Wettbewerbsverzerrung. Haben Sie das daraufhin
zurückgenommen, wie man das normalerweise tun
würde? Nein.
({8})
Die Antwort heißt einfach: So what, wir machen weiter.
Von diesen Beispielen könnte ich Dutzende aufzählen,
dazu reicht aber leider meine Redezeit nicht.
Herr Kollege Zöller, Sie feiern sich hier und sagen, es
gebe keine Einschnitte für Patienten. Ich bitte Sie! Was
ist das denn, wenn schwer Krebskranke in Zukunft zu
hören bekommen, dass sie leider mehr zuzahlen müssen
als nach den jetzt üblichen Regeln,
({9})
weil sie irgendwann nicht bei der Früherkennung - bei
Untersuchungen, die hochumstritten sind, Herr Kollege waren? So etwas setzt eine Koalition durch, bei der zumindest in einem Teil immer von Eigenverantwortung
gesprochen wird! Das ist doch ein Rohrstock und
schwarze Pädagogik.
({10})
Die Ministerin feiert sich für die allgemeine Versicherungspflicht. Das hört sich schön an. Was ist das
denn eigentlich? In der Sache ist das im Wesentlichen
ein Rückkehrrecht von ehemals Privatversicherten, die
von der privaten Krankenversicherung hinausgeworfen
wurden. Das ist überfällig, aber doch keine sozialpolitische Großtat.
({11})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Zöller?
Gern.
Frau Kollegin Bender, gestehen Sie ein, dass in diesem Gesetz keine Verschlechterung für Krebskranke
vorgesehen ist? Wenn Sie es nicht tun, dann sagen Sie
mir die Stelle, wo das stehen soll!
Sie haben in das Gesetz hineingeschrieben: Wer nicht
zu Früherkennungsuntersuchungen geht, die ein Gremium, der Gemeinsame Bundesausschuss, festlegen
soll,
({0})
wird in Zukunft durch erhöhte Zuzahlung bestraft werden.
({1})
Das ist eine Sonderbelastung von Schwerkranken, die
keiner Ratio entspricht.
({2})
Was haben Sie nicht alles versprochen? Reden wir
einmal über die private Krankenversicherung! Da
stand doch in den Eckpunkten, diesem schönen Kompromiss mit dem Durchbruch - Sie erinnern sich -, es solle
in Zukunft so sein, dass Versicherte ohne finanzielle
Nachteile von einer PKV in die andere wechseln könnten. Was ist dabei herausgekommen? Wenn man schon
privat versichert ist, darf man sich innerhalb eines halben Jahres entscheiden, ob man in einen Basistarif wechselt. Alles andere geht nicht. Ist das vielleicht Wettbewerb? Da kann ich nur wieder mit den Worten des
Abgeordneten Wodarg sprechen, der sagte: Es ist unerträglich, wie zuvorkommend die PKV-Lobbyisten bei
der Ausarbeitung dieses Gesetzes bedient wurden
({3})
und wie problematisch der Meinungsbildungsprozess
mit den Abgeordneten gelaufen ist. - Ja, so ist es wohl
gewesen.
Frau Kollegin, der Herr Kollege Lauterbach möchte
gern noch eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Aber Ihre Redezeit ist bereits überschritten. Ich bitte Sie,
nach der Beantwortung dann Schluss zu machen.
Ich bin nicht als uneingeschränkter Befürworter dieses Gesetzes bekannt,
({0})
aber ich sage: Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit und der
Fairness, darauf hinzuweisen, dass sich gerade für
Krebskranke die Situation sowohl bei der Behandlung
als auch bei der Vorsorge deutlich verbessert; das muss
eingeräumt werden.
({1})
Das haben wir immer durchgehalten. Es ist nicht fair, einen der zentralen Verbesserungspunkte zu zerreden.
({2})
Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen? Wenn
nicht, dann muss die Verschlechterung ganz konkret benannt werden.
Bisher nehmen nur 18 Prozent der Männer und
45 Prozent der Frauen die Möglichkeit der Vorsorge
wahr. Meine Frage ist: Gehen Sie davon aus, dass durch
dieses Gesetz mehr Menschen die qualitativ hochwertige
Vorsorge in Anspruch nehmen werden, ja oder nein?
({3})
Ich gehe davon aus, Herr Kollege, dass weniger Menschen Gelegenheit haben werden, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob sie zur Früherkennung
gehen wollen.
({0})
Das hat man Ihnen in der Anhörung gesagt. Hätten Sie
mal zugehört!
Im Übrigen: Wenn Sie in den Gesundheitsausschuss
gekommen wären, Herr Kollege - Sie sind Mitglied des
Gesundheitsausschusses -, hätten wir darüber beraten
können; das wäre vielleicht gescheiter gewesen.
({1})
Jetzt komme ich in der Tat zum Schluss und kann
mich nur noch der Einschätzung der „Badischen Neuesten Nachrichten“ anschließen, die heute schreibt: Die
nächste Reform kommt bestimmt. - Denn - so füge ich
hinzu, meine Damen und Herren - bei dieser kann es
ganz sicher nicht bleiben.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Unser Gesundheitssystem, so wie wir es heute
kennen, ist das Ergebnis einer bis in die letzten Jahrhunderte zurückreichenden Entwicklung. Das zeigt sich beispielsweise an den zentralen Institutionen, deren formale
Gründung inzwischen 120 Jahre zurückliegt.
Wir alle wissen, dass etwas, was über Jahrzehnte, ja
Jahrhunderte gewachsen ist, sich manchmal nur schwer
verändern lässt, vor allem in einem System, das so sehr
von unterschiedlichen, auch machtvollen Einzelinteressen und gelegentlich vom Widerstand ganz allgemein
gegen Veränderungen geprägt ist.
Wir wissen aber, dass Veränderungen notwendig
sind, damit wir die Leistungsfähigkeit unseres solidarischen Gesundheitssystems erhalten können. In den
vergangenen Jahren haben wir bereits einige wichtige
Veränderungen eingeleitet, um mehr Qualität, mehr
Wirtschaftlichkeit und mehr Wettbewerb zu schaffen.
Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf werden wir diesen Weg fortsetzen. Diese Reform ist ein wichtiger Schritt zur Anpassung unseres Gesundheitssystems an neue Rahmenbedingungen, damit
es auch in Zukunft solidarisch und zugleich leistungsfähig bleibt, insbesondere für diejenigen, die auf ein funktionierendes und solidarisches System angewiesen sind.
Kolleginnen und Kollegen, um dies zu erreichen, müssen auch Veränderungen an lange gewohnten, aber eben
auch überholten Strukturen vorgenommen werden. Genau das setzen wir mit der Gesundheitsreform 2007 um,
auch gegen den Widerstand einiger Seiten. Wichtige
Neuerungen wird es insbesondere im Bereich der Krankenkassen geben. Aus der langen historischen Entwicklung heraus haben wir sieben verschiedene Kassenarten:
Allgemeine Ortskrankenkassen, die gerade schon genannt wurden, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ersatzkassen, die Seekrankenkasse, die Landwirtschaftliche Krankenkasse und die Knappschaft. Wir
werden die alte, aber nicht mehr zeitgemäße Aufteilung
und Abschottung dieser verschiedenen Kassenarten jetzt
endlich überwinden und erstmalig kassenartenübergreifende Fusionen ermöglichen. Zukünftig kann also
eine Betriebskrankenkasse nicht nur mit einer anderen
BKK fusionieren, sondern auch mit Ortskrankenkassen,
Innungskrankenkassen und Ersatzkassen. Das ist so gewünscht. So machen wir den Weg frei für wettbewerbsund leistungsfähigere Kassen, was letztlich den Versicherten zugutekommt.
({0})
Darüber hinaus werden wir - Stichwort: Effizienz die Verbandsstrukturen der Krankenkassen straffen, um
Entscheidungswege zu verkürzen. Statt bisher sieben
wird künftig nur ein Spitzenverband Bund alle Kassen
in der gemeinsamen Selbstverwaltung für alle Belange
vertreten, die gemeinsam und einheitlich geregelt werden. Für die Beschäftigten der bisherigen Spitzenverbände sind für den Übergang zum neuen Spitzenverband
Bund tragfähige Regelungen vorgesehen.
Kollege Westerwelle, es mutet schon merkwürdig an,
wenn man auf der einen Seite hier die Staatsmedizin geißelt, sich auf der anderen Seite aber gleichzeitig im eigenen Wahlkreis für den Sitz einer solchen Institution bewirbt.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, mit der Einrichtung des
Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 werden die Finanzierungsstrukturen neu organisiert. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass es nun mit dieser Reform einen
neuen, zielgenauen morbiditätsorientierten, also krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den
Kassen geben wird. Somit werden endlich auch die unterschiedlich verteilten Krankheitsrisiken der Kassen in
den Ausgleich mit einbezogen. Wir beenden damit den
zugegebenermaßen schädlichen Wettbewerb, den wir
jetzt haben, allein um junge, gesunde und gutverdienende Versicherte und schaffen einen Wettbewerb zwischen den Kassen um den besten Service, um die beste
Versorgung und um die beste Betreuung der Versicherten.
Kolleginnen und Kollegen, das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz beinhaltet eine ganze Reihe wichtiger
Organisationsreformen, aber nicht nur das. Wir müssen
bei unseren Reformbemühungen auch den demografischen Wandel, die älter werdende Gesellschaft und den
medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Genau das
tun wir mit dieser Reform. Wir werden gezielt Leistungen ausbauen, die in einer älter werdenden Gesellschaft
benötigt werden, beispielsweise die palliativmedizinische Versorgung. Damit haben Schwerstkranke künftig
erstmals einen Anspruch auf eine spezialisierte Schmerzbehandlung in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung.
Das Gleiche gilt für alle Rehabilitationsleistungen,
die in den Pflichtleistungskatalog aufgenommen werden.
Insbesondere älteren Menschen wird dies zugutekommen. Für uns gilt der Grundsatz Reha vor Pflege. Alte
Menschen sollen auch nach Krankheit oder Unfall so
lange wie möglich ihre Selbstständigkeit erhalten können, und eine bessere Rehabilitation wird ihnen das ermöglichen.
({2})
Wir werden die integrierte Versorgung fortführen
und weiter ausbauen. Ziel der integrierten Versorgung ist
es, die Kooperation unterschiedlicher Leistungserbringer
zu stärken und somit eine bessere Verzahnung zwischen
den verschiedenen Leistungsbereichen herzustellen.
Auch die Pflege wird in die integrierte Versorgung eingebunden; denn sie spielt für den Behandlungserfolg gerade bei älteren Menschen eine ganz zentrale Rolle.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben der
Organisationsreform sowie den gerade genannten Maßnahmen, die den veränderten Rahmenbedingungen im
Bereich der Demografie und des medizinisch-technischen Fortschritts Rechnung tragen, könnte ich noch
zahlreiche weitere Elemente der Reform nennen. Aber
ich will nur eines noch hervorheben, und zwar die allgemeine Versicherungspflicht. Erstmals in der deutschen
Sozialversicherungsgeschichte werden wir einen dauerhaften und bezahlbaren Versicherungsschutz für alle haben. Ich finde, das kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
({4})
Natürlich hätte auch ich mir gewünscht, dass wir in
manchen Punkten weiter gegangen wären. Hierzu kann
ich aber nur sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Lassen Sie mich jetzt noch eine Bemerkung über die
Art und Weise der Debatte in den zurückliegenden Monaten und auch heute in diesem Hause machen. Ich habe
nichts gegen eine kritische, lebendige und zuweilen auch
laute Opposition. Was wir aber nicht brauchen, ist eine
Opposition, die seit Monaten nichts weiter von sich gibt
als Destruktivrhetorik.
({5})
Kritik ist gut und wichtig. Sie sollte aber konstruktiv und
der Sache angemessen sein. Ihre platten und pauschalen
Murks- und Kassensozialismussprüche sind fehl am
Platze und bringen uns in der Sache kein Stück weiter.
({6})
Die Bürgerinnen und Bürger werden in den Monaten
nach Inkrafttreten der Reform merken, dass Ihre Weltuntergangsszenarien schlichtweg nicht eintreten werden.
({7})
Wenn es dann aber doch Argumente in der Sache gibt,
sind sie häufig falsch. Herr Lauterbach hat gerade klargestellt: Gerade für die Krebserkrankten wird es mehr
und bessere Behandlungsmöglichkeiten geben als bisher.
({8})
Kolleginnen und Kollegen, mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gehen wir einen wichtigen Schritt
in die richtige Richtung. Es wird natürlich nicht der
letzte Schritt gewesen sein. Denn wir werden unser Gesundheitssystem immer wieder an Neuentwicklungen
anpassen müssen. Keiner von uns kann diese Entwicklungen vorhersagen. Unsere Aufgabe wird es dabei sein,
dafür zu sorgen, dass unser Gesundheitssystem weiter
solidarisch finanziert bleibt und Schritt für Schritt auf
eine breitere finanzielle Basis gestellt wird.
({9})
Mit dem vorliegenden Gesetz gehen wir den ersten
verlässlichen Schritt. Deshalb kann ich Sie alle nur aufrufen, der nun vorliegenden Gesundheitsreform zuzustimmen und sich auf den Weg zu machen.
Danke.
({10})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Westerwelle das Wort.
Ich will zur Sache nichts mehr sagen. Aber da Sie,
Frau Kollegin Reimann, wie auch die Kollegin
Widmann-Mauz wiederholt behauptet haben, ich hätte
mich einerseits gegen diese Gesundheitsreform gewendet, andererseits die von uns kritisierte Behörde nach
Bonn eingeklagt, möchte ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Dies ist nicht richtig, auch wenn diese Behauptung in dieser Debatte mehrfach wiederholt wurde,
und es ist von mir, als zum ersten Mal eine Zeitung darüber berichtet hat, richtiggestellt worden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dies zur Kenntnis nehmen würden.
Dem Ganzen liegt folgender Sachverhalt zugrunde.
Als die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf eingebracht hat, haben sieben Abgeordnete dieses Hauses
- sechs Abgeordnete der Koalitionsfraktionen, darunter
der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Kelber,
und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/
CSU, Bosbach, und ich für die Freien Demokraten - als
Abgeordnete der Region an die Bundesregierung geschrieben und darauf aufmerksam gemacht, dass nach
dem Berlin/Bonn-Gesetz der Gesundheitsstandort Bonn
ist.
Ich möchte nicht, dass eine falsche Darstellung wiederholt wird. Denn durch das Wiederholen wird sie nicht
richtiger.
({0})
Frau Kollegin Reimann, Sie können antworten.
Herr Kollege, ich nehme zur Kenntnis, dass sich
meine Kolleginnen und Kollegen in der Großen Koalition intensiv darum bemüht haben, Sie aber das nicht getan haben. Das haben Sie ja jetzt klargestellt.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konrad Schily.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre
ein guter Tag für die Demokratie in unserem Land, wenn
dieses Gesetz heute in der nun folgenden namentlichen
Abstimmung keine Mehrheit gewinnen würde.
({0})
Denn wir wissen - auch diese Debatte hat es gezeigt -,
dass dieses Gesetz in diesem Hause, aber auch in der Bevölkerung keine Mehrheit hat, auch wenn das hier geleugnet wird.
Es ist eine machtmäßige Entscheidung. Deswegen
wird es wohl zu einer Zustimmung kommen. Die sogenannten Abweichler in den Reihen der großen Koalition
- Abweichler sind ausgerechnet die gewesen, die in der
Sache kundig waren und sind - wurden gedrängt, sich
der Fraktionsdisziplin zu fügen. Der ganze Prozess war
nicht dialogisch. Das kurzfristige Überschütten mit Änderungsanträgen ist dafür nur ein Beispiel gewesen. Wir
haben schon darüber gesprochen; ich will es nicht weiter
ausführen. Deshalb wird dieser Tag kein guter Tag für
die Demokratie werden.
Es ist kein guter Tag für die freien Berufe und kein
guter Tag für die Selbstverwaltung der Solidargemeinschaften, die in Zukunft zentralisiert und gegängelt werden sollen.
({1})
Dies ist kein guter Tag für den Wettbewerb. Er wird
aufgelöst und durch zentrale politische Entscheidungen
ersetzt. Dies ist kein guter Tag für die Versicherten und
für die Patientinnen und Patienten; denn es wird eine
Versorgung nach Kassenlage und nicht nach therapeutischen Erwägungen geben.
({2})
Das ist kein guter Tag für die Leistungserbringer im
Gesundheitswesen, auf deren Kosten und über deren
Köpfe hinweg in Zukunft die Entscheidungen zentral getroffen werden sollen.
({3})
Aber es ist, wenn Sie so wollen, auch ein guter Tag.
Es ist ein guter Tag für die Vertreter einer gelenkten
Wirtschaft. Es ist ein guter Tag für den Bürokratieaufbau und ein guter Tag für die zunehmende Unübersichtlichkeit und Entmündigung im Gesundheitswesen.
({4})
Ein schlechter Tag ist es für die Sache des Sachverstandes. Mit aller Macht fährt die Regierung das Gesundheitswesen mit dieser sogenannten Reform in eine
Sackgasse; aus Fehlern will sie nicht lernen. Es ist ein
dunkler Tag für die Versorgung unserer Bevölkerung mit
Gesundheitsleistungen und auch ein dunkler Tag für den
sozialen Ausgleich, weil die Regierung glaubt, die Preise
und Leistungen im Gesundheitswesen in Zukunft zentral
diktieren zu können.
Es ist ein dunkler Tag für die Freiheit
({5})
und das eigenverantwortliche Miteinander in unserer
Gesellschaft.
({6})
Hoffen wir, dass es für die Demokratie, den parlamentarischen Dialog, die Solidarität und die Freiheit in unserem Land auch wieder bessere Tage geben wird.
Sie, die Abgeordneten der Großen Koalition, haben es
heute in der Hand, einem unwürdigen Verfahren und einem unparlamentarischen Dialog eine mutige Abfuhr zu
erteilen, indem Sie diesem Gesetz nicht zustimmen.
({7})
Bedenken wir, was der Präsident dieses Hohen Hauses,
Dr. Lammert, auf der konstituierenden Sitzung dieses
Parlamentes gesagt hat - dafür hat er von allen Fraktionen Beifall bekommen -, nämlich dass die Abgeordneten dem Volk und nicht der Regierung verpflichtet sind.
Wenn Sie diesem Gesetz Ihre Zustimmung verweigern, wäre es ein guter Tag für die Demokratie, für den
Parlamentarismus, für das Volk und auch für das Gesundheitswesen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst auf das eine oder andere
von den Oppositionsrednern Gesagte eingehen. Frau
Kollegin Bunge, zum Ersten möchte ich betonen, dass
Sie selbst hier festgestellt haben, dass alles im Rahmen
der Geschäftsordnung abgelaufen und formal vollkommen korrekt ist.
Zum Zweiten stelle ich fest, dass wir nicht zuletzt auf
Wunsch der Opposition über drei Tage
({0})
- genau, es waren sogar über vier Tage; wir haben auf
Ihren Wunsch hin einen Tag angefügt - eine insgesamt
26 Stunden lange Anhörung durchgeführt und Sondersitzungen des Gesundheitsausschusses abgehalten haben,
um Änderungsanträge einzubringen. Es gab also ein hinreichendes Angebot, und es war im Ausschuss und im
Plenum, wo wir in Aktuellen Stunden und in vielen Debatten mehrfach über das ganze Thema diskutiert haben,
genug Zeit vorhanden, den ursprünglichen Gesetzentwurf zu beraten und die Dinge zu ändern, die notwendig
waren.
Zum Dritten stelle ich fest, Frau Kollegin Künast:
Eine Fraktion, die von der pharmazeutischen Industrie
formulierte Änderungsanträge zu Tarifen von homöopathischen Arzneimitteln wortwörtlich übernimmt und einbringt,
({1})
darf mit den Vorwürfen, die Sie gerade vorgebracht haben, nicht arbeiten. Wir haben im Rahmen der Anhörung
viele Vorschläge erhalten, die wir, wenn sie konstruktiv
waren, eingearbeitet haben. Natürlich kamen diese Vorschläge auch zum Teil von Verbänden und anderen, die
im Gesundheitswesen tätig sind. Aber Ihr Antrag wie
auch der Umstand, dass Sie im Gesundheitsausschuss
sogar einzeln über solche Anträge haben abstimmen lassen, um dann dankenswerterweise zustimmen zu können, machen deutlich, dass wir alle ein Stück weit auf
den Sach- und Fachverstand und die konstruktive Kritik
von außerhalb hören.
({2})
Zudem muss ich, Frau Kollegin Bender, sagen, dass
ich es für etwas unredlich halte, wie Sie vorhin die
Krebskranken ein Stück weit als Geisel für Ihre Argumentation benutzt haben. In der Regelung, so wie sie im
Gesetzentwurf steht, ist vorgesehen, dass jemand dann,
wenn er die empfohlenen Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrnimmt - dies gilt nur
für denjenigen, der von seinem Lebensalter her diese
Chance überhaupt hat -, nicht den vergünstigten Zuzahlungssatz erhält und bei dem regulären bleibt.
({3})
Es handelt sich also nicht, wie Sie es fälschlicherweise
seit Wochen und Monaten nennen, um eine „Strafzahlung“. Es ist vielmehr so, dass man die entsprechende
Vergünstigung nicht bekommt. Man kann aber dennoch
eine Vergünstigung erhalten, wenn man sich in ein entsprechendes Chronikerprogramm einschreibt. Sie sollten
das Gesetz diesbezüglich noch einmal lesen.
({4})
Herr Kollege, Frau Bender möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Bitte.
Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, dass die Regelung
zum Beispiel für Krebskranke, die Sie gerade erwähnt
haben, bedeutet, dass diejenigen, die nicht bei einer
Früherkennungsuntersuchung waren, schlechter gestellt werden als die anderen chronisch Kranken, weil sie
mehr zuzahlen müssen?
({0})
Ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu, Frau Kollegin Bender. Er erhält keine Vergünstigung, was etwas
anderes ist.
({0})
Es mag erforderlich sein, nachzudenken, um das zu verstehen. Es besteht kein Anspruch auf eine Vergünstigung.
Wir müssen gemeinsam konstatieren - der Kollege
Lauterbach hat das gerade gesagt -, dass in diesem Land
nicht einmal jeder fünfte Mann und nicht einmal jede
zweite Frau ab einem bestimmten Alter Vorsorgeuntersuchungen, zum Beispiel Krebsvorsorgeuntersuchungen, in Anspruch nimmt.
({1})
Im Bereich der Zahnmedizin haben wir doch gesehen,
dass jährliche Vorsorgeuntersuchungen angenommen
werden, wenn man einen entsprechenden finanziellen
Anreiz setzt. Ich finde, wir sollten dieses gute Instrument
in allen Bereichen, in denen das möglich ist, ausbauen.
Das tun wir.
({2})
Herr Kollege Gysi, Sie haben einmal mehr von Entsolidarisierung und Zweiklassenmedizin gesprochen. Ich
habe Ihnen schon in der letzten Debatte gesagt: Von einer Partei, die die Rechtsnachfolgerin einer Partei ist, die
für die Nomenklatura der DDR Westmedizin bezahlt hat,
während der Rest sie nicht bekommen hat - das müssten
Sie sehr genau wissen -, lasse ich mir hier nicht vorwerfen, dass wir eine Zweiklassenmedizin betreiben. Das
will ich Ihnen deutlich sagen.
({3})
Nun zu den Gründen, aus denen ich diesem Gesetzentwurf - im Übrigen guten Gewissens, Herr Kollege
Westerwelle - zustimmen kann. Es gibt ein Gutachten
des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus dem Mai 2006,
das sich mit dem Wettbewerb im Gesundheitswesen beschäftigt. Dort heißt es:
Für einen funktionierenden Wettbewerb sind in den
Augen des Beirats daher fünf Leitlinien zentral:
Erste Leitlinie:
Vertragsfreiheit zwischen Krankenversicherungen
und Leistungserbringern mit der Möglichkeit, ineffiziente Leistungserbringer auszuschließen
Genau das machen wir an vielen Stellen möglich, indem
wir Ausschreibungen bei Hilfsmitteln einführen, zum
Teil monopolartige Kartelle aufbrechen, indem wir integrierte Versorgung verstärkt möglich machen und den
Abschluss entsprechender Verträge ermöglichen.
({4})
Zweite Leitlinie des Beirates:
Abschaffung des Zwangsvertragsmonopols der
Kassenärztlichen Vereinigungen
Dieser Leitlinie entsprechen wir, indem wir es ermöglichen, jenseits der Kassenärztlichen Vereinigung entsprechende Verträge mit Ärzten und Arztgruppen abzuschließen.
({5})
Dritte Leitlinie des Beirates beim Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie aus dem Gutachten zum
Wettbewerb:
Kontrahierungszwang und Preisdiskriminierungsverbot seitens der Krankenversicherungen
Mit Einführung des Basistarifs in der privaten Krankenversicherung verbunden mit der Portabilität der Altersrückstellungen entsprechen wir auch dieser Leitlinie
des Beirates. Auch dort findet nunmehr Wettbewerb
statt.
Vierte Leitlinie:
Preiswettbewerb zwischen Krankenversicherungen
über einkommensunabhängige Versicherungsprämien …
Genau das machen wir mit dem Zusatzbeitrag möglich.
Die Ministerin hat das vorhin leider weggelassen, als sie
über einen einheitlichen Beitragssatz sprach. Durch den
Zusatzbeitrag ermöglichen wir Preistransparenz und
Preiswettbewerb. Die Zusatzbeiträge betragen bei der einen Kasse 5 Euro, bei einer anderen 8 Euro und bei einer
dritten 12 Euro, während ich bei einer anderen vielleicht
5 Euro zurückerhalte. Dadurch erhalten wir Transparenz
und Wettbewerb, was in dem derzeitigen System mit
prozentualen Beitragssätzen nicht gegeben ist.
Fünfte Leitlinie:
Verlagerung der Umverteilung von Reich nach Arm
in das Steuer- und Transfersystem
Ich will zugestehen, dass wir an dieser Stelle einen etwas
kleineren Schritt machen; aber immerhin machen wir einen ersten Schritt, damit wir in den nächsten Jahren gesamtgesellschaftliche Aufgaben über die aufwachsenden Steuern finanzieren können. Sie haben das gerade
heftig kritisiert, obwohl Ihr eigenes Wahlprogramm eine
entsprechende Umverteilung mit entsprechenden Steuerausgaben in Milliardenhöhe vorsieht.
Damit kann ich feststellen, dass wir die fünf Leitlinien, die der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium
für Wirtschaft und Technologie zum Wettbewerb in der
Krankenversicherung aufgestellt hat, erfüllen. Damit
trägt dieses Gesetz seinen Titel zu Recht.
({6})
Ich möchte als jüngerer Abgeordneter zudem auf die
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit eingehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der erste
Schritt, den man machen muss, bevor man über Kapitalrücklagen nachdenken kann, ist, über die Schulden im
System - implizite wie explizite, ausgewiesene wie nicht
ausgewiesene -, nachzudenken und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Zur AOK Berlin, Frau Senatorin: Die Aufsicht hat Ihr Haus. Die Aufsicht hat es zugelassen, dass dort solch hohe Schulden aufgebaut wurden.
({7})
- Das macht es ja nicht besser. Mit Erklärung oder ohne,
es bleibt widerrechtlich, was da stattgefunden hat.
({8})
Wir werden durch dieses Gesetz Schulden bei den gesetzlichen Krankenversicherungen abbauen und sie
zwingen, Pensionen für Angestellte - entsprechende
Verpflichtungen bestehen - in Höhe von 10 bis
11 Milliarden Euro aufzubauen.
Von daher hätte ich mir hinsichtlich der Kapitalrücklage sicherlich mehr gewünscht. Man muss aber auch
- ich denke, das gehört für uns im Deutschen Bundestag
dazu - gemeinsam anerkennen, dass wir beim Schuldenabbau einen großen Schritt getan haben und eine
erste Voraussetzung für Nachhaltigkeit einführen. Ich
sage aber genauso deutlich, Frau Präsidentin, dass es mir
sehr wichtig ist, dass wir in diesem Jahr bei der Pflege8038
versicherung zu individualisierten Kapitalrücklagen
kommen.
({9})
Abschließend möchte ich sagen, dass dies keine historische, keine Jahrhundertreform ist; ich denke, diese rhetorische Fallhöhe sollten wir nicht aufbauen. Aber es ist
eine Reform, die an vielen Stellen in die richtige Richtung geht.
Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Schily, Sie haben so getan, als sei Weisheit nur bei denen
vorhanden, die mit Nein stimmen. Dazu sage ich Ihnen:
Ich kann mit bestem Wissen und Gewissen, mit der besten Überzeugung, dass kleine Schritte in die richtige
Richtung besser sind als keine,
({0})
diesem Gesetz zustimmen. Ich würde es schön finden,
wenn die Opposition das Gute, das wir tun, einmal jenseits von Sprechblasen anerkennen würde.
({1})
Jetzt folgen zwei Kurzinterventionen. Herr Kollege
Spahn, ich gebe Ihnen danach ausreichend Zeit zur Beantwortung beider Kurzinterventionen.
Die erste Kurzintervention ist von Frau Dr. Bunge,
die zweite von Klaus Ernst.
Kollege Spahn, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen,
dass ich davon gesprochen habe, dass es sich um ein
nach Geschäftsordnung zulässiges Verfahren gehandelt
hat. Dazu bin ich als Ausschussvorsitzende verpflichtet.
Als Linkspolitikerin sage ich Ihnen - das habe ich vorhin
schon gesagt -, dass ich es bei diesem Reformwerk für
nicht angemessen halte; dies gilt insbesondere für die
letzten 72 Stunden, also seit den Abmachungen am
Dienstag in der Obleuteberatung. Die Einzelheiten sind
von Kollege Lanfermann genannt worden.
({0})
Herr Kollege Ernst, bitte.
Herr Kollege Spahn, Sie haben bei Ihrem glänzenden
intellektuellen Auftritt
({0})
die Frage meines Kollegen Gysi nach der Klassenmedizin mit dem Hinweis auf seine landsmännische Herkunft
beantwortet. Ich stelle Ihnen die Frage - ich komme aus
Bayern -, ob Sie bereit wären, mir zu widerlegen, dass
es sich bei diesem Gesetzentwurf um Klassenmedizin
handelt.
({1})
Herr Kollege Spahn, bitte.
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Bunge, ich nehme
das, was Sie gesagt haben, gern zur Kenntnis und unterstreiche noch einmal, dass das Verfahren, das wir gewählt haben, von der Geschäftsordnung her zulässig und
vollkommen okay ist.
Lieber Herr Kollege Ernst, ich finde es sehr schade,
dass Sie sich einer Partei anschließen, die eine solche
Vergangenheit hat.
({0})
Dass Sie als Süddeutscher da eingetreten sind, ist besonders schade.
Ich stelle fest, Herr Kollege Ernst, dass wir in diesem
Land eine klasse Medizin haben. Nicht umsonst ist es so,
dass jeder Deutsche, der im Ausland erkrankt, nichts
Eiligeres zu tun hat, als in die Arme des deutschen Gesundheitswesens zurückzukehren. Das ist ein Zeichen
dafür, wie klasse unser Gesundheitswesen ist.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist
schon beeindruckend, die Diskussion hier zu verfolgen
und die krampfhaften Verrenkungen zu sehen, mit der
die Große Koalition versucht, ein Gesetz zu verteidigen,
das im Wesentlichen eine Verschlimmbesserung der Situation der gesetzlichen Krankenversicherung bringen
wird.
({0})
Es ist schon erstaunlich, wie hier der Versuch gemacht wird, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als finge heute alles an. Herr Spahn, Sie haben
recht: Sie sind einer der jüngeren Abgeordneten. Sie
können möglicherweise auf die Gnade der späten Geburt
verweisen. Aber Sie sollten nicht so tun, als ob die Damen und Herren, die heute in diesem Hohen Hause wieder entscheiden werden, nicht mit verantwortlich sind
für die Probleme. Sie sind maßgeblich für sie verantFrank Spieth
wortlich. Denn die gesetzlichen Krankenkassen, insbesondere die großen Versorgerkassen, sind schließlich
durch die Politik, die in diesem Haus fixiert worden ist,
das GKV-Modernisierungsgesetz, dazu gezwungen
worden, keine Beitragserhöhungen vorzunehmen.
({1})
Die Versorgerkassen sind gezwungen worden, die großen gesundheitlichen Risiken zu tragen, ohne dass mit
einem Morbiditätsausgleich die besonderen Belastungen
durch bestimmte Erkrankungen ausgeglichen worden
wären. Gerade die Probleme der Versorgerkassen sind
darauf zurückzuführen. Die Schulden sind nicht aus der
Luft gekommen - sie hatten ihre Ursachen in unterlassener Politik der zurückliegenden Jahre. Das ist die Tatsache.
({2})
Es gäbe noch vieles zum Verfahren zu sagen; aber ich
will mich auf ein paar grundsätzliche Themen konzentrieren. Beginnen wollte ich meine Rede eigentlich mit
folgendem Beitrag: Gestern haben mich Schülerinnen
und Schüler einer Regelschule aus Weimar in diesem
Hause besucht und mit mir unter anderem die Frage diskutiert, wie das denn funktioniere mit der Solidarität in
der gesetzlichen Krankenversicherung und warum wir
gegen dieses Reformgesetz seien. Ich habe versucht, das
mit einem Bild zu beschreiben. Ich habe gesagt: Ihr
müsst euch folgende Situation vorstellen: Eine Familie
besitzt ein Haus. Dieses Haus muss renoviert werden,
weil es schon relativ alt ist. Dafür sind erhebliche Mittel
aufzuwenden. Der Familienrat setzt sich zusammen und
beratschlagt, wie das Ganze bezahlt werden soll. Entschieden wird, dass diejenigen in der Familie, die ein geringes Einkommen haben, die wesentlichen Kosten für
die Renovierung zu tragen haben. Der einzige Spitzenverdiener in der Familie wird von der Finanzierung freigestellt. - Die Schüler haben mir gesagt: Die spinnen
doch, das kann doch nicht gehen! - Da habe ich gesagt:
Ich kann euch nicht widersprechen.
({3})
Aber genau das ist das Problem, mit dem wir es bei
diesem Reformpaket zu tun haben.
({4})
Sie entlassen - das können Sie nicht verleugnen - die
Gutverdienenden, die Kapital- und Vermögensbesitzer,
aus der Finanzierung der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, der Finanzierung der Gesundheitsaufwendungen
und der Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Dabei
wissen Sie ganz genau, dass 90 Prozent davon von den
gesetzlich Krankenversicherten finanziert werden. Die
Gesundheitsinfrastruktur, die wir in Deutschland haben, wäre ohne die GKV-Versicherten unmöglich zu finanzieren. Die privat Krankenversicherten hätten kein
Angebot. Das ist die Realität.
({5})
Ein Punkt ärgert mich wahnsinnig - deshalb will ich
auf ihn eingehen -: Warum sollen die Aufgaben - auch
die wenigen in diesem Gesetz vorhandenen strukturellen
Fortschritte - wieder im Wesentlichen die Geringverdiener finanzieren? Mich fragt doch die Kassiererin bei
Aldi: Warum zahle ich vor dieser Reform 14,8 Prozent
und nach dieser Reform wahrscheinlich über 15 Prozent? Auch der Kollege in der Metallverarbeitung oder
am Bau fragt mich: Warum muss ich das voll von meinem Einkommen bestreiten? Warum muss er 15 Prozent
zahlen, und warum müssen Bundestagsabgeordnete
nicht 15 Prozent von ihrem Einkommen zahlen? Erzählen Sie in der Öffentlichkeit nicht, dass das der Fall ist!
({6})
- Vielleicht zahlen Sie ebenso wie ich noch als einer der
wenigen Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung, Herr Zöller.
({7})
Aber Sie vergessen dabei, dass Ihre Beitragspflicht bei
einer Einkommensgrenze von 3 562 Euro endet.
({8})
Sie zahlen eben keine Beiträge in Höhe von 15 Prozent
Ihres Einkommens, sondern im höchsten Fall 7 Prozent.
Das ist die Wahrheit, und das hat nichts mit Solidarität
und Gerechtigkeit zu tun. Es ist eher so, als wollten Sie
den Menschen zumuten, morgens ihre Hose mit der
Beißzange anzuziehen.
({9})
Viele Menschen durchschauen aber, was Sie machen.
({10})
Mich haben - wie sicherlich auch Sie - ungeheuer
viele Schreiben erreicht. Ich will vor allem auf ein
Schreiben eingehen, das ich von Sozialdemokraten erhalten habe, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der
sozialdemokratischen Fraktion in diesem Haus. Vor kurzem haben mir Sozialdemokraten aus Köln und anderen
Teilen Nordrhein-Westfalens einen offenen Brief mit einer Unterschriftenliste geschickt, in dem gefragt wird,
wie wir dieses Gesundheitsdiktat verhindern können.
Wie können wir das, was heute beschlossen werden soll,
aber von allen Sachverständigen, vielen Sozialdemokraten und nicht zuletzt von Ihrem früheren gesundheitspolitischen Sprecher, Klaus Kirschner, als Fehlentscheid
bezeichnet wird, verhindern? Ich habe geantwortet, dass
wir das nicht verhindern werden, weil es nämlich heute
nicht darum geht, eine vernünftige Gesundheitsreform
durchzuführen; es geht vielmehr ausschließlich darum,
die Große Koalition zu bestätigen, damit sie bis zum
Jahr 2009 weiterwursteln kann.
Ich hoffe, Sie sind angezählt wie ein Boxer, damit Sie
2009, wenn der Gong ertönt, endlich die Regierungsverantwortung verlieren.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Georg Faust,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Arzt zitiert man gern Hippokrates, der viel Bedenkenswertes gesagt hat, unter anderem, dass es oberstes
Ziel ist, dem Patienten zu nützen, ihm aber in keinem
Fall zu schaden. In diesem Sinne hat die Regierungskoalition mit dem Reformgesetz ein gutes Gesetz gestaltet.
({0})
Daran, dass dieses Gesetz in erster Linie dem Patienten nützt, kann kein ernsthafter Zweifel bestehen. Dass
die Patienten und Versicherten aber von vielen Gruppierungen des Gesundheitswesens, die für sich wenig Nutzen in diesem Gesetz sehen, dazu benutzt werden, dagegen Stimmung zu machen, kann ebenfalls nicht ernsthaft
bezweifelt werden.
({1})
Was diese Gruppierungen betrifft - seien es private
oder gesetzliche Krankenversicherungen, Leistungserbringer wie Ärzte und Krankenhäuser, Apotheker, Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten oder gar die Pharmaindustrie -, so sind wir als Politiker zur Sorgfalt
verpflichtet. Wo die ernsthafte Sorge um den Patienten
im Vordergrund steht, sind die gewachsenen Strukturen
unseres Gesundheitswesens angemessen zu berücksichtigen. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf getan.
Wie wir wissen, ist der Beifall in der Öffentlichkeit
relativ gering und steigerungsfähig. Ich denke aber, dass
nach Inkrafttreten des Gesetzes seine Schätze von denen,
die das Gesetz umsetzen wollen - das werden täglich
mehr - gehoben werden.
({2})
Es nützt dem Patienten, wenn in einer alternden Gesellschaft geriatrische Rehabilitationsleistungen und spezialisierte ambulante Palliativmedizin Pflichtleistungen
der Krankenkassen werden. Es nützt dem Menschen,
wenn er gar nicht erst zum Patienten wird, weil empfohlene Schutzimpfungen ebenfalls zu den Pflichtleistungen
der Krankenkasse gehören. Es nützt dem Patienten,
wenn er in der hausarztzentrierten Versorgung wissenschaftlich begründet und praxiserprobt zugleich individuell versorgt wird. Es nützt ihm, wenn er mit einer seltenen Erkrankung die Krankenhausambulanz, die sich
darauf spezialisiert hat, sofort aufsuchen kann. Es schadet nicht, vielmehr nützt es ihm und allen anderen Patienten, wenn die Patientenvertreter im Gemeinsamen
Bundesausschuss neue Rechte und Möglichkeiten bekommen. Zusammengefasst: Dieses Gesetz ist in erster
Linie ein Gesetz für die Patienten.
({3})
Doch alles nützt dem Patienten nichts, wenn er keinen
Arzt hat, der ihn behandelt: 12 500 junge Ärzte im Ausland, drohende Überalterung bei den Hausärzten, drohende Unterversorgung in den neuen Bundesländern,
ernstzunehmende Hinweise auf materielle Sorgen in
Arztpraxen, auch da, wo gewiss nicht von Missmanagement gesprochen werden kann. Diese Hinweise aus Ost
und West haben uns betroffen gemacht und zu maßgeblichen Veränderungen im Gesetzgebungsverfahren geführt, die ich vor einem Vierteljahr kaum für möglich gehalten hätte.
({4})
Natürlich kann man sich immer mehr vorstellen.
Manche Ärzte im Westen haben von einem durchgehenden Prinzip der Kostenerstattung, dem Patienten als Privatpatienten, geträumt. Viele Ärzte im Osten hätten gern
auch für die nächsten zwei Jahre des Übergangs eine
Vergütungsangleichung statt der von den Kassen zu bezahlenden Sicherstellungszuschläge gewollt. Das eine
aber hätte eine in der Großen Koalition nicht durchsetzbare Systemänderung und das andere eine in der Großen
Koalition nicht durchsetzbare Beitragssatzsteigerung bedeutet.
Die Botschaft an die Ärzte jedoch lautet: statt Budgets
sich an der Zahl von Krankheitsfällen und Kostenentwicklungen in Arztpraxen orientierende Vergütungen,
statt des Muschelgeldes floatender Punktwerte feste Vergütungen in Euro und Cent, statt der starren Anbindung
an die Grundlohnsummenentwicklung Freiheiten, die das
System atmen lassen.
Die Regelungen für die Umstellung und für den Umgang mit Leistungsmengen sind so gestaltet, dass die
Selbstverwaltungspartner sie gut werden umsetzen
können. Sie sind einfacher, unbürokratischer und transparenter geworden. Damit ist die Prognose für unser
Vertragsarztsystem gut.
({5})
Ich bin sicher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit Blick auf das sensible Arzt-PatientenVerhältnis hier zukunftsorientierte Regelungen geschaffen haben. Alles, was dazu führt, dass dieses empfindliche Vertrauensverhältnis nicht gestört wird, und Jungmedizinern den Mut gibt, in zwei, drei oder vier Jahren
wieder optimistisch in ihre berufliche Zukunft zu blicken
und für die Patienten da zu sein, nützt auch dem Patienten und rechtfertigt damit unser Gesetz.
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Friedrich, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Bender, Sie haben uns vorhin vorgeworfen,
wir könnten nicht mit Widerspruch umgehen.
({0})
Nun mag es sein, dass dies dem einen oder anderen
schwerfällt.
Uns fällt es besonders schwer, mit den Widersprüchlichkeiten umzugehen, die wir heute von der Opposition
zu hören bekommen haben. Herr Bahr kritisierte als Erstes die Beitragserhöhungen, anschließend kritisierte er,
dass durch den gesetzlichen Beschluss zur Beitragshöhe
keine Erhöhungen mehr möglich seien. Frau Künast erwartet Massenabwanderungen in die PKV. Frau Bender
sagte, die PKV-Lobbyisten reüssierten. Herr Bahr und
Herr Schily, die das alles nicht anficht, fürchten den
schleichenden Tod der PKV und bangen um die Neuzugänge, die dieses System doch bräuchte.
({1})
Frau Künast sagte, es werde keinen Wettbewerb geben,
weil es Kollektivverträge gebe. Herr Westerwelle sprach
von Planwirtschaft. Herr Spieth erwähnt bei jeder Gelegenheit, der Wettbewerb werde in diesem System gnadenlos agieren. Sie kritisieren immer wieder Beitragserhöhungen, aber auch, dass Steuergelder in das System
fließen sollen. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt die
komplette Bandbreite der Lobbyistenszene wider, spiegelt aber nicht wider, was wirklich in diesem Gesetzentwurf steht.
({2})
Es mag Ihnen schwerfallen, das zu akzeptieren, aber
wir entscheiden uns in der Tat nicht zwischen dem Weg
links oder rechts um den Sumpf, den Herr Westerwelle
beschrieben hat, sondern wir entscheiden uns dafür, einen stabilen Damm durch diesen Sumpf hindurchzubauen. Der ist nämlich auch nötig.
Zu den Widersprüchlichkeiten gehört vielleicht auch,
dass in der Frage des Sitzes des Spitzenverbandes vorhin
von Ihnen, Herr Westerwelle, in einer Kurzintervention
gesagt wurde, Sie hätten sich nur im Rahmen des Bonn/
Berlin-Gesetzes dafür eingesetzt. Mir liegt ein Schreiben
vor, in dem es heißt: „Frau Ministerin, wir wären Ihnen
daher sehr dankbar, wenn Sie sich in den laufenden Verhandlungen dafür einsetzten, dass der neue“ - ich betone: neue - „Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen seinen Sitz in Bonn nimmt.“
({3})
Das ist in der Wahlkreisarbeit legitim, aber dann sollten
Sie bitte schön auch dazu stehen.
({4})
Meine Damen und Herren, mit dieser Reform schaffen wir mehr Solidarität im Gesundheitswesen und nicht
weniger. Zum ersten Mal gilt für alle Menschen in
Deutschland eine Versicherungspflicht, aber auch ein
Versicherungsrecht. Es kann doch nicht ernsthaft angehen, dass wir für Tausende akzeptieren, dass Krankheit
mit Armut gleichbedeutend ist. Das kann nicht unser Interesse sein. Das ist ein dringend gebotener Fortschritt.
Wenn die Grünen glauben, das sei nur ein kleiner Schritt,
frage ich mich - wenn dem denn so wäre -, warum der
erst jetzt möglich ist.
({5})
Diese Reform schafft aber auch mehr Solidarität
durch den Risikostrukturausgleich, der kommt. Frau
Lompscher, wenn Sie sagen, es komme kein gescheiter
Risikostrukturausgleich: Wir erreichen über den Fonds
und den Morbiditäts-RSA, der jetzt kommt - ein schwieriges Wort, das keiner mag, gleichwohl eine wichtige
Einrichtung -, einen 100-prozentigen Einkommensausgleich. Ich weiß gar nicht, ob Ihre Partei sich getraut hat,
das in der Vergangenheit zu fordern. Wir erreichen das.
({6})
Wir vollenden dadurch die innere soziale Einheit
Deutschlands, wenn Sie einmal ehrlich zu sich selber
sind. Da ziemt es sich wenig, hier in der Debatte genau
dies zu kritisieren.
Dieses Gesetz schafft auch mehr Wettbewerb und
nicht weniger Wettbewerb. Es schafft nämlich Wettbewerb auf der richtigen Seite. Bisher haben wir einen
Kampf der Versicherungen um den gesündesten Versicherten über den niedrigsten Beitragssatz. Worin liegen
denn die Unterschiede von bis zu einem Viertel bei den
Beitragssätzen? Die Ursachen liegen darin, dass die eine
Krankenversicherung, zum Beispiel in der BKK, einen
Rentneranteil von 6 Prozent hat, die AOK aber von
36 Prozent. Das ist kein Unterschied in den Verwaltungskosten, das ist kein Unterschied in der Fähigkeit
des Managements, das ist ein Unterschied in der Risikostruktur der Versicherten. Dafür schaffen wir einen Ausgleich.
({7})
Deswegen führen wir auch den einheitlichen Beitragssatz ein. Diesen Wettbewerb um die Gesunden werden wir verändern. Wir werden ihn beenden und stattdessen einen Wettbewerb um die beste Leistung
schaffen. Denn in Zukunft sind die Kassen in der Lage,
Verträge abzuschließen.
Herr Schily, wenn Sie sagen, das sei ein dunkler Tag
für die Freiheit: Wenn wir in den Märkten, in denen
quasi Monopole vorhanden sind - wo Mondpreise für
Hilfsmittel genommen werden, für Dinge, derer Menschen dringend bedürfen -, endlich Ausschreibungen
einführen, damit wir in Deutschland vernünftige Preise
zu Wettbewerbsbedingungen bekommen, ist das kein
schwarzer Tag für die Freiheit, Herr Schily, mit Verlaub.
({8})
Das führt auch zu mehr Freiheit für die Versicherten.
Wir bieten Wahltarife an, die von vielen schon lange
gewollt wurden. Hausarzttarife sind drin, Kostenerstattung - was Sie immer wünschen -, das können Menschen jetzt machen, wenn sie es wollen. Wir führen auch
Tarife ein, die die Kosten für Naturheilverfahren erstatten. All dies machen wir möglich. Gleichzeitig verbessern wir die Versorgung im Bereich Impfungen, ElternKind-Kuren, Rehabilitation und Öffnung der Krankenhäuser - alles schon erwähnt. Das alles machen wir
gleichzeitig möglich.
Ich möchte noch auf das Thema Generationengerechtigkeit eingehen. Es gibt eine ganze Reihe von kritischen Stimmen, die dieser Reform vorwerfen, sie sei
nicht nachhaltig genug. Wir wissen alle miteinander,
dass sich der veränderte Altersaufbau im Gesundheitswesen massiv bemerkbar machen wird. Ich halte es aber
für wenig durchdacht, diesen Vorwurf damit zu verknüpfen, man werde jetzt nicht zustimmen, denn es gebe
keine Elemente von Kapitaldeckung. Die zentrale Baustelle für Generationengerechtigkeit in der Krankenversicherung ist nicht die Kapitaldeckung, sondern die Prävention.
({9})
Wer Kapitaldeckung im gesetzlichen Gesundheitssystem ernsthaft erwägt, der muss den Menschen sagen,
dass dafür tatsächlich nur drei Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Entweder wir machen das, indem wir mehr
Bundesschulden aufnehmen, um damit einen Stock in
der Versicherung zu finanzieren. Oder wir machen das,
indem wir die jüngere Generation heute doppelt belasten, weil sie gleichzeitig für die jetzige Versorgung zahlen müsste und für die Kapitalrückstellung, falls sie bedürftig wird. So etwas funktioniert in der Rente, wo sie
individuelle Konten bilden können, weil das Äquivalenzprinzip gilt. Man bekommt raus, was man eingezahlt
hat. Im Gesundheitswesen funktioniert so etwas eben
nicht. Die dritte Möglichkeit: Wir bilden Rückstellungen, indem wir Behandlungen nicht mehr erstatten.
Wer glaubt - das geht jetzt auch besonders an die
Adresse der jungen Kollegen in der Union -, durch Leistungsausgrenzung, also durch das Vorenthalten von medizinisch Notwendigem, Ersparnisse erwirtschaften zu
können, die dann künftigen Generationen zugutekommen sollen, der spielt die Generationen gegeneinander
aus.
({10})
Deshalb sage ich: Wer die Generationengerechtigkeit
ernst nimmt, der muss sich um Prävention kümmern. In
diese Richtung gehen wir mit der Reform einige wichtige Schritte; die Debatte hat es bereits gezeigt. Mit dem
Präventionsgesetz werden wir einen weiteren Beitrag
dazu leisten. Durch Prävention können wir ein Vielfaches dessen einsparen, was wir an Kapitalrückstellungen
überhaupt bilden könnten. Nebenbei verbessern wir die
Lebensqualität der Menschen.
Diese Reform führt zu mehr Solidarität, mehr Wettbewerb an der richtigen Stelle, nämlich bei der Leistungserbringung, und führt zu einer besseren Versorgung der
Patientinnen und Patienten. Mit dieser Reform gehen wir
den richtigen Weg der Nachhaltigkeit. Jeder kann aus
meiner Sicht diesem Gesetzentwurf zustimmen. Jeder,
der die Menschen und nicht die Funktionäre oder Aktionäre in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik stellt,
sollte diesem Gesetzentwurf auch zustimmen.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max
Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Nach einem langen - vielleicht für viele zu langen - Diskussionsprozess werden wir heute in zweiter und dritter
Lesung den Entwurf eines GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes im Hohen Haus verabschieden. Es ist allen Unkenrufen zum Trotz ein gutes Gesetz.
({0})
Es stärkt die Wettbewerbsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Vor allen Dingen baut es unser erfolgreiches
Gesundheitssystem für die Zukunft aus.
({1})
Es wurde oft kritisiert, dass die Menschen im Land
das Gesetz - angeblich - nicht verstanden hätten. Man
darf aber nicht vergessen, dass der bisherige Diskussionsprozess nur von denjenigen gestaltet wurde, die auf
irgendeine Art und Weise als Leistungserbringer an unserem Gesundheitssystem partizipieren. Die Belange der
Versicherten kamen letztendlich in der Öffentlichkeit zu
wenig zur Sprache. Deshalb ist es, glaube ich, entscheidend, darzulegen: Die Versicherten sowie die Patientinnen und Patienten sind die Nutznießer dieser Reform.
({2})
Wir werden Leistungsausweitungen vornehmen. Der
Kollege Friedrich hat darauf bereits hingewiesen. Ich
glaube, vor allem die medizinische und die geriatrische
Rehabilitation sind als zukünftige Pflichtleistungen eine
große Errungenschaft für die Patientinnen und Patienten.
({3})
Wenn Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Kuren zukünftig
Pflichtleistungen sind, stärkt das die Familien in unserem Land. Wenn wir Schutzimpfungen als Pflichtleistungen in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufnehmen, stärkt das die Vorsorge bei den Versicherten. Die
Botschaft muss also lauten: Wir haben die Versichertenrechte und vor allen Dingen die Leistungen für die Versicherten in großartiger Weise ausgeweitet. Dazu stehen
wir, die Große Koalition.
({4})
Wir werden zudem den Wettbewerb bei der Leistungserbringung stärken. Wir ermöglichen die GestalMax Straubinger
tung verschiedener Vertragsformen und den Zusammenschluss von Ärzten, um mit den Krankenkassen externe
Leistungsverträge abzuschließen. Ich bin überzeugt, dass
die Gestaltungsmöglichkeiten für mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sorgen.
Vor allem wird der Wettbewerb zu schlankeren Verwaltungen führen. Der erste Erfolg dieser Gesundheitsreform ist bereits heute nachzulesen. Ich zitiere aus einer Zeitung aus Baden-Württemberg: AOK-Verwaltung schrumpft
auf 14 Direktionen; der Kunde wird nichts merken, hat Geschäftsführer Stutz versprochen.
({5})
Das ist letztendlich ein Erfolg dieser Gesundheitsreform:
schlankere Verwaltungen. Den Versicherten ist nicht zuzumuten und auch nicht zu erklären, dass es Krankenkassen in unserem Lande gibt, die nur 80 Euro Verwaltungskosten pro Versicherten haben, während andere
Krankenkassen 180 Euro Verwaltungskosten pro Versicherten haben.
({6})
Ich bin der Meinung, dass die Differenz in Höhe von
100 Euro besser für die Erbringung von Leistungen für
die Patientinnen und Patienten und die Versicherten in
unserem Lande angelegt ist.
({7})
Ich glaube auch, dass vor allen Dingen der Fonds
vielfach von der Opposition falsch dargestellt wird.
Wenn er startet, wird er zu 100 Prozent aus Beitragsmitteln gespeist, nicht aus Zusatzbeiträgen. Es kann genauso gut aber auch umgekehrt kommen: Wenn Kassen
vernünftig arbeiten, dann können sie den Versicherten
Geldmittel zurückerstatten, anstatt einen Zusatzbeitrag
zu erheben.
({8})
- Herr Kollege Spieth, so muss der Wettbewerb funktionieren. Auch Sie haben dann auf Ihre eigene Kasse Einflussmöglichkeiten.
Ich bin verwundert, dass sich Herr Kollege Gysi heute
gegen den Schuldenabbau gewandt hat. Ich glaube,
dass der Schuldenabbau eines der wichtigsten und zentralen Elemente für die nachhaltige Finanzierung unseres
Gesundheitssystems ist.
({9})
Die Schulden müssen letztendlich die Beitragszahler bezahlen. Es handelt sich dabei auch um Leistungen aus
der Vergangenheit. Auch wenn Sie, Herr Gysi, zu bestimmen hätten, wäre das nicht anders möglich, es sei
denn, Sie führten wieder einmal einen Staatsuntergang
herbei, wie es in der Vergangenheit der Fall war, weil
nicht ordentlich finanziert worden ist. Auch das muss
man sehen. Wir haben eine fundierte Beitragsgestaltung,
die für die Versicherten auch nachvollziehbar sein wird,
wenn der Fonds in Zukunft eingerichtet wird.
Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern verdeutlichen, dass Höchstleistungen in der Medizin ihren Preis
haben.
({10})
Wir können den Bürgerinnen und Bürgern nicht immer
nur erklären, dass wir eine Höchstleistungsmedizin wollen, gleichzeitig aber nur den Preis für ein Goggomobil
bezahlen wollen. Das wird es nicht geben. Wer Höchstleistungsmedizin haben möchte, der muss auch bereit
sein, die entsprechenden Beitragsmittel aufzubringen.
({11})
Das geschieht sowohl im System der gesetzlichen Krankenversicherung als auch im System der privaten Krankenversicherung.
Bei dem Fonds in der gesetzlichen Krankenversicherung ist entscheidend - dafür haben wir als Union stark
gekämpft -, dass die Versorgung der Menschen in unseren Bundesländern weiterhin auf höchstem Niveau gewährleistet ist. Wenn es Beitragsmittelverschiebungen
zwischen den Bundesländern gibt, dann ist es notwendig, dass es mit der Konvergenzklausel einen Ausgleich
gibt, damit es nicht zu Versorgungsengpässen in den einzelnen Bundesländern kommt.
({12})
Dazu stehen wir. Dazu hat auch unser bayerischer Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber seinen Beitrag geleistet.
({13})
Das ist im Sinne der Versicherten und der Patientinnen
und Patienten in den einzelnen Bundesländern.
({14})
Hören wir auf, immer zwischen gesetzlich Krankenversicherten und privat Krankenversicherten zu unterscheiden und ständig zu behaupten, die privat Versicherten seien die Entsolidarisierer und die Privilegierten in
unserem Land. Gerade Sie, Herr Kollege Spieth, haben
das versucht, indem Sie so getan haben, als ob alle Abgeordneten privat versichert sind. Ich bin gesetzlich
krankenversichert und zahle den Höchstbeitrag meiner
gesetzlichen Krankenversicherung wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch.
({15})
Herr Kollege, könnten Sie ein Augenmerk auf die Uhr
vor Ihnen richten?
In diesem Sinne wünsche ich, dass sich viele heute
bereitfinden, diesem Gesetz mit großer Überzeugung zuzustimmen. Ich kann es auf alle Fälle tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in
der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksache
16/3100.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, weise ich da-
rauf hin, dass es 83 persönliche Erklärungen von Kolle-
ginnen und Kollegen nach § 31 der Geschäftsordnung
gibt. 1)
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4200,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({0})
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen
der Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, FDP
und einigen Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion und
aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an diese
namentliche Abstimmung noch eine weitere namentliche
Abstimmung durchführen.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Nachdem jedes Mitglied
des Hauses seine Stimme abgegeben hat, schließe ich die
Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.2)
Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die
Entschließungsanträge. Ich gehe davon aus, dass Sie da-
mit einverstanden sind, wenn wir mit dem Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke, über den nament-
lich abzustimmen ist, fortfahren. - Ich sehe keinen
Widerspruch.
Wir kommen damit zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4221. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen
besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung
zum Antrag der Fraktion Die Linke.
1) Anlagen 2 bis 9
2) Seite 8045 A
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Karte noch nicht abgegeben hat? - Ja, dann würde ich
sagen: Schnell zur Urne!
Ich frage noch einmal: Ist ein Mitglied des Hauses an-
wesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? -
Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.3)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zu
Ihren Plätzen zu begeben, da wir jetzt noch über eine
Reihe weiterer Vorlagen abstimmen müssen.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/4220. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Regierungsfraktionen bei Gegenstim-
men der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/4217? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/4218? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü-
nen abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 16/4200 fort.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung auf Drucksachen 16/3950 und 16/4020
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss für Gesundheit, den vom Bundesrat einge-
brachten Gesetzentwurf zur Verbesserung von Fusions-
prozessen von Krankenkassen für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4200 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/1928 mit dem Titel „Stärkung der
Solidarität und Ausbau des Wettbewerbs - Für eine leis-
tungsfähige Krankenversicherung“. Wer stimmt für
3) Seite 8049 B
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/1997 mit dem Titel „Für
Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenverantwortung und
Wettbewerb im Gesundheitswesen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4200 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/3096 mit dem Titel „Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung
der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 27 a
und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD zur Stärkung des Wettbewerbs in der
gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 16/3100
und 16/4200, bekannt: Abgegebene Stimmen 593. Mit Ja
haben gestimmt 378, mit Nein haben gestimmt 207, Enthaltungen 8. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 592
davon
ja: 378
nein: 206
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({9})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({10})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({11})
Bernward Müller ({12})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({13})
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Peter Rzepka
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({15})
Andreas Schmidt ({16})
Ingo Schmitt ({17})
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({19})
Gerald Weiß ({20})
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Willy Wimmer ({21})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({22})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({23})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({25})
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({26})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({27})
Frank Hofmann ({28})
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({29})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Astrid Klug
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Caren Marks
Katja Mast
Markus Meckel
Petra Merkel ({31})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({32})
Michael Müller ({33})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Steffen Reiche ({34})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({35})
Michael Roth ({36})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({37})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({38})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt ({39})
Silvia Schmidt ({40})
Renate Schmidt ({41})
Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt ({42})
Carsten Schneider ({43})
Olaf Scholz
Swen Schulz ({44})
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({45})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Jochen Borchert
Ingrid Fischbach
Klaus-Peter Flosbach
Erich G. Fritz
Dr. Reinhard Göhner
Karl-Theodor Frhr. zu
Guttenberg
Olav Gutting
Andreas Jung ({46})
Julia Klöckner
Michael Kretschmer
Friedrich Merz
Philipp Mißfelder
Stefan Müller ({47})
Michaela Noll
Beatrix Philipp
Peter Rauen
Albert Rupprecht ({48})
Anita Schäfer ({49})
Marco Wanderwitz
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
SPD
Niels Annen
Klaus Barthel
Willi Brase
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({50})
Bettina Hagedorn
Eike Hovermann
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Lothar Mark
Hilde Mattheis
Andrea Nahles
René Röspel
Ottmar Schreiner
Ewald Schurer
Andreas Steppuhn
Jella Teuchner
Rüdiger Veit
Dr. Wolfgang Wodarg
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({51})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({52})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({53})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({54})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({55})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({56})
Martin Zeil
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({57})
Volker Schneider
({58})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({59})
Volker Beck ({60})
Cornelia Behm
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({61})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({62})
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({63})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({64})
fraktionslos
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Veronika Bellmann
Kristina Köhler ({65})
Gunther Krichbaum
Dr. Ole Schröder
SPD
Christian Kleiminger
Dr. Hermann Scheer
Dr. Marlies Volkmer
Gert Weisskirchen
({66})
({67})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN
Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer
- Drucksache 16/4029 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({68})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke.
({69})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es schade, dass die Frau Bundeskanzlerin gerade den Saal verlässt; denn sie war vergangene Woche
auch in Davos, wo sich 24 Staats- und Regierungschefs
und über 900 führende Industriemanagerinnen und Industriemanager trafen.
({0})
Der Ruf, der aus den Schweizer Bergen erscholl und den
mir Frau Kanzlerin bestätigen könnte, war schon interessant. Von den Mächtigen dieser Welt erscholl nämlich
der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle und einer höheren Besteuerung von Privilegierten.
({1})
Sie können davon ausgehen, dass wir nicht eingeladen waren und nicht schuld daran sind, dass solche Töne
von den Mächtigen dieser Welt kamen. Sie waren nämlich einfach gezwungen, die Realität zur Kenntnis zu
nehmen, dass durch die Globalisierung nach neoliberalem Strickmuster weltweit Millionen von Menschen in
Armut gestürzt werden und ihnen jegliche Lebensperspektive genommen wird.
Die immer größer werdende Kluft zwischen Arm
und Reich wurde von den führenden Ökonomen der
Welt als gefährlich für den Gesamtprozess der Globalisierung eingeschätzt. Insbesondere bemerkten sie, dass
ein Absturz der Mittelklasse zu befürchten ist und dass
die einseitige Einkommenskonzentration dramatisch ist,
so dramatisch wie zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg.
Der US-Ökonom Roubini äußerte, dass die Menschen
weltweit qualifiziert werden müssen. Dieser Forderung
müssten auch wir uns annehmen - auch für die Bürgerinnen und Bürger hier -, um überhaupt wieder mithalten
zu können. Wir brauchen ein soziales Netz und eine stärkere öffentliche Hand. Eine stärkere Besteuerung der
Reichen wurde in diesem Zusammenhang vom Finanzexperten Robert Shiller gefordert - ich zitiere -:
Wenn die Einkommen einmal sehr ungleich sind, ist
es schwer, das zu korrigieren.
Recht hat er.
Was hat dies nun mit unserem Antrag zur Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer zu tun?
({2})
Nun, sehr viel, weil genau diese Nichterhebung von
Steuern auf die Umsätze des Kapitalverkehrs hier in
Deutschland ein Teil des Problems ist.
({3})
Ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung Deutschlands ist
ein Hauptgewinner der Globalisierung. Die Umverteilung von unten nach oben wird hier massiv betrieben.
Aufgrund unserer Wirtschaftskraft könnten wir natürlich zu einem wirklichen Motor einer gerechteren Umverteilung werden, indem wir hier Zeichen setzen. Das
Gegenteil ist aber der Fall. Gestern gab es hier ja eine
große Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht. Auch dort
hat sich wieder manifestiert: In Deutschland gibt es die
Entwicklung, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer geringer am gesellschaftlichen Reichtum
beteiligt sind.
({4})
Dies ist das Ergebnis einer Politik - auch der Politik von
Rot-Grün -, die die Mehrheit der Großen Koalition fortführt. Steigende Gesundheitskosten - eben verabschiedet -,
({5})
steigende Lebenshaltungskosten, Belastungen durch die
Steuerpolitik - Mehrwertsteuererhöhung, Veränderung
bei der Entfernungspauschale - treffen die Mehrheit der
Bevölkerung. Die Masse der Bürgerinnen und Bürger
wird permanent zur Kasse gebeten. Das verunsichert natürlich, und es erzeugt Demokratiefrust.
Die Börsenumsatzsteuer wurde bereits 1885 als eine
Art Wertpapierumsatzsteuer eingeführt. Zum 1. Januar 1991 wurde sie wieder abgeschafft. Als Gründe
wurden genannt: Wettbewerbsnachteile, Schwächung
des Finanzmarkts Deutschland, Verhinderung kurzfristiger Transaktionen und, wie immer in solchen Zusammenhängen, technische Schwierigkeiten der Erhebung.
Als Ergebnis dessen haben wir eine absurde steuerliche Ungleichbehandlung der Umsätze. Waren und
Dienstleistungen werden besteuert - seit dem 1. Januar
dieses Jahres sogar mit 19 Prozent -, während die Umsätze am Kapitalmarkt hier nicht besteuert werden, weder mit 0,1 noch mit 0,5, noch mit 1 Prozent.
({6})
Das ist ein klarer Fall steuerlicher Ungleichbehandlung.
Es kommt auch zu enormen Einnahmeausfällen.
Als Ergebnis Ihrer gesamten Steuerpolitik, als Ergebnis all dessen, was Sie machen, mutiert Deutschland zu
einem Lohn- und Steuerdumpingland in der EU. Zu nennen ist auch Ihre Verweigerung zur Einführung des Mindestlohns; das gehört zusammen. Deutschland mutiert
also zu einem Dumpingland in der Steuer- und Lohnpolitik.
({7})
Wir haben einen klaren Antrag vorgelegt. Erheben Sie
die Börsenumsatzsteuer! Führen wir sie wieder ein!
({8})
Bei einem Steuersatz von 1 Prozent kommt man bei den
Börsenumsätzen von 2005 auf Einnahmen von 38 Milliarden Euro.
({9})
Rechnet man konservativ - bei einer Besteuerung fällt
natürlich ein Teil der spekulativen Geschäfte weg -,
könnten wir immer noch Einnahmen von 30 Milliarden
Euro pro Jahr erzielen.
Ständig wird bejammert, es sei kein Geld da. Wo Geld
da ist, sind Sie zu feige, es zu nehmen. Sie sind einfach
nicht gewillt, das Geld dort einzusammeln. Das ist die
Realität.
({10})
19 Prozent Mehrwertsteuer, eine allgemeine Belastung, das trauen Sie sich, weil die Bürgerinnen und Bürger sich in der Allgemeinheit sehr schlecht wehren können. Dafür, tatsächlich an die Reichen, an die
Vermögenden in dieser Gesellschaft zu gehen, fehlt Ihnen der Mut.
({11})
Mit diesen 30 Milliarden Euro könnten Sie in einem
öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sofort etwa
500 000 Arbeitsplätze schaffen. Machen Sie das! Damit
helfen Sie den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich. Es
würde gleichzeitig der Effekt eintreten, dass die Finanzmärkte entschleunigt würden
({12})
und die Börsenspekulationen zurückgingen.
Sie werden in der Debatte sicherlich wieder die Wettbewerbsnachteile anführen und sagen, dass wir uns das
nicht leisten können. Zufälligerweise gibt es in Großbritannien - vielleicht nicht der kleinste Finanzstandort
({13})
und Börsenstandort; ich nenne nur die Londoner Börse eine Börsenumsatzsteuer in Höhe von 0,5 Prozent.
({14})
In Finnland gibt es eine Börsenumsatzsteuer in Höhe
von 1,6 Prozent. In Indien gibt es eine. Herr Schüssel in
Österreich hatte einst verkündet, dass er auch darüber
nachdenkt, eine solche Steuer einzuführen. Warten wir
einmal, was die neue Regierung in dem finanzpolitisch
ja konservativen Land tun wird.
({15})
Damit wird klar: Man kann nicht damit argumentieren, dass ein Wettbewerbsnachteil entsteht. Sie müssen
nur endlich den Mut aufbringen, das Geld tatsächlich da
zu holen, wo es ist, um dann im Interesse der Mehrheit
der Bevölkerung, der Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger in diesem Lande etwas zu tun.
({16})
Deshalb unser Antrag. Ich bin gespannt, wie Sie sich
dazu verhalten werden.
Danke.
({17})
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4221 lautet: Abgegebene Stimmen 589.
Mit Ja haben gestimmt 53, mit Nein haben gestimmt
489, Enthaltungen 47. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 589
davon
ja: 53
nein: 489
enthalten: 47
Ja
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({0})
Volker Schneider
({1})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
fraktionslos
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({2})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({3})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({8})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({10})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({11})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({12})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({13})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({14})
Stefan Müller ({15})
Bernward Müller ({16})
Bernd Neumann ({17})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({18})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({19})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({20})
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({21})
Andreas Schmidt ({22})
Ingo Schmitt ({23})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({24})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({25})
Gerald Weiß ({26})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({27})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({28})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({29})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({30})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({31})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({32})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({33})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({34})
Frank Hofmann ({35})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({36})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({37})
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({38})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({39})
Michael Müller ({40})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Steffen Reiche ({41})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({42})
Michael Roth ({43})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({44})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({45})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({46})
Silvia Schmidt ({47})
Renate Schmidt ({48})
Heinz Schmitt ({49})
Carsten Schneider ({50})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({51})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({52})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({53})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({54})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({55})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({56})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({57})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({58})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({59})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Matthias Berninger
fraktionslos
Henry Nitzsche
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({60})
Volker Beck ({61})
Cornelia Behm
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({62})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Undine Kurth ({63})
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({64})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({65})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Leo
Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({66})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir hier im
Plenum anlässlich des Jahreswirtschaftsberichtes 2007
über die aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
für Wachstum und Beschäftigung gesprochen. Wir waren weitgehend einig, dass trotz erfreulichem Aufschwung in den letzten Monaten die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit eine große Herausforderung für Politik
und Wirtschaft bleibt. Besonders problematisch ist die
Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen und die große
Anzahl langzeitarbeitsloser Menschen. Über die Problematik der älteren arbeitslosen Menschen werden wir
gleich bei unserer Debatte über den fünften Altenbericht
noch mehr hören.
Die Große Koalition hat bereits verschiedene Maßnahmen gerade zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergriffen, und die Diskussion über weitere mögliche
politische Ansatzpunkte geht innerhalb der Koalitionsfraktionen weiter. Jeder ist herzlich dazu eingeladen,
sich an dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Die
Betonung liegt dabei auf „konstruktiv“.
Das Arbeitsmarktkonzept, das Sie, meine Damen und
Herren der Fraktion Die Linke, Anfang Januar bei Ihrer
Klausurtagung der Öffentlichkeit präsentiert haben, verdient dieses Attribut mit Sicherheit nicht.
({0})
Im Gegenteil: Ihr jüngster arbeitsmarktpolitischer Beitrag ist leider wieder einmal nicht mehr als der Griff in
die ideologische Mottenkiste, wie auch bei diesem Antrag zu sehen ist. Ihr Konzept lautet: Wir schaffen
500 000 Arbeitsplätze durch Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer.
({1})
Sie gaukeln der Bevölkerung allen Ernstes vor, dass der
Staat aktiv Arbeitsplätze schaffen könne. Dabei schwebt
Ihnen vor, dass der Staat in einer Art Robin-HoodManier von den bösen vermögenden Menschen die Börsenumsatzsteuer kassiert,
({2})
um damit Arbeitsplätze im gemeinwohlorientierten Bereich zu schaffen und zu finanzieren.
({3})
Diesmal ist es der Ansatz der Wiedereinführung der
Börsenumsatzsteuer. Ich warte auf die Wiedervorlage Ihrer Anträge zur Tobin-Steuer, mit der Sie ja auch bestimmte internationale Spekulationen belegen wollten,
und darauf, dass Sie die Plenarzeit sinnvoll mit einem
solchen Thema ausfüllen.
({4})
Ich erspare uns allen jetzt einen volkswirtschaftlichen
Exkurs darüber, wie Arbeitsplätze mit Perspektive entstehen und welche Rolle der Staat dabei spielen soll.
({5})
Nicht ersparen kann ich Ihnen, meine Damen und Herren der Linken, aber eine Auseinandersetzung mit Ihren
wohlfeilen Thesen zur Börsenumsatzsteuer, die wir selber im Jahre 1990 in Deutschland abgeschafft haben.
({6})
In Ihrem heute zur Beratung anstehenden Antrag führen
Sie im Wesentlichen drei Argumente für die Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer in Deutschland an. Auf
diese drei Thesen möchte ich im Folgenden kurz eingehen.
Zunächst behaupten Sie, dass sich der deutsche Finanzplatz eine Börsenumsatzsteuer leisten könne, ohne
dadurch im internationalen Vergleich signifikante
Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Ihr vermeintlicher
Beleg: Auch andere EU-Länder, wie beispielsweise
Großbritannien, hätten eine Börsenumsatzsteuer. Es ist
richtig, dass es heute noch in elf von vormals 25 EUStaaten eine Börsenumsatzsteuer gibt. Das ist aber nur
die halbe Wahrheit. Ebenso wahr ist auch, dass in keinem der EU-Staaten in den letzten 20 Jahren eine Börsenumsatzsteuer neu eingeführt wurde. Lediglich die
Schweden haben im Jahre 1983 eine entsprechende
Steuer eingeführt, diese aber bereits acht Jahre später
wieder abgeschafft, und zwar aus einem Grund, der sehr
deutlich macht, dass eine Börsenumsatzsteuer schädlich
für den Finanzplatz ist: Ein großer Anteil des schwedischen Börsenumsatzes verlagerte sich damals an ausländische Handelsplätze.
Der Trend sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch
international geht eindeutig in Richtung Abschaffung
der Börsenumsatzsteuer. In den USA, Frau Kollegin
Höll, gibt es bereits seit 1966 keine Börsenumsatzsteuer
mehr, in Japan seit 1999. Aber Großbritannien, werden
Sie, meine Damen und Herren der Linken, einwerfen,
habe doch die Börsenumsatzsteuer, und der Börsenumsatz dort wachse trotzdem. Ja; die Betonung liegt hier
aber eindeutig auf „trotzdem“.
({7})
Wenn wir einmal von der isolierten Betrachtung der
Börsenumsatzsteuer abrücken und uns die eigentlich interessante Gesamtsteuerbelastung in diesem Bereich auf
den Finanzmärkten ansehen - denn das ist der Maßstab
und nicht, ob ein Teil dieser Belastung in Form der Börsenumsatzsteuer besteht -, dann stellen wir fest, dass der
deutsche Finanzplatz bereits jetzt steuerliche Nachteile
gegenüber den Briten hat. Diese Nachteile sollten wir
nicht durch eine Börsenumsatzsteuer noch weiter verstärken.
Kommen wir nun zu Ihrer zweiten These, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke. Diese läuft unter einem Gerechtigkeitsbegriff, der wieder einmal Ihr
fehlendes Verständnis für die volkswirtschaftliche BeLeo Dautzenberg
deutung des Finanzmarktes erkennen lässt. Sie argumentieren, dass die Mehrwertsteuererhöhung vor allem die
Menschen mit niedrigen Einkommen belastet, und
folgern daraus, dass zur Konsolidierung des Staatshaushaltes nun auch die Vermögenden in besonderer Weise
herangezogen werden müssten. Als Steuer für die Vermögenden schlagen Sie die Börsenumsatzsteuer vor.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie vergessen bei dieser Argumentation, dass die Börse nicht
nur ein Thema für die Vermögenden ist, sondern dass
eine Börsenumsatzsteuer auch jeden einzelnen Sparer,
der in Wertpapiere investiert, treffen würde. Unsere Zielvorstellung ist, dass die Beteiligung am Produktivvermögen für breite Kreise der Bevölkerung weiter erschlossen werden soll und dass wir unsere Aktienkultur
weiterentwickeln.
({8})
Daher ist Ihr Ansatz kontraproduktiv. Mit dieser Steuer
würden gerade die Bereiche belastet werden, die eigentlich nicht belastet werden sollten.
Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Angesichts der vorhandenen Systeme des Aktienhandels auf den internationalen Finanzmärkten muss man sagen, dass Sie mit Ihren Vorschlägen an der Gruppe der Besserverdienenden,
die Sie erfassen wollen, vorbeigehen. Außerdem würden
Sie dem normalen Anleger Liquidität entziehen, wodurch ein liquiditätsorientierter Kurs verhindert wird. Ihr
Vorschlag würde also auf kontraproduktive Weise wirken.
({9})
Ihre dritte These lautet, die Börsenumsatzsteuer sei
ein geeignetes Instrument gegen die übertriebene Spekulation mit Wertpapieren, die sich verheerend auf Investitionen, Wachstum und Beschäftigung auswirke. Auch
diese These verdeutlicht wieder einmal mehr Ihr tiefes
Misstrauen in den Finanzmarkt. Allem, was Sie nicht
selber kontrollieren können, begegnen Sie sofort mit
Misstrauen. Wohin das führt, konnten wir vor der Wiedervereinigung Deutschlands sehen.
({10})
Sie versprechen sich von einer Börsenumsatzsteuer
volkswirtschaftlich positive Lenkungseffekte. Dabei
überwiegen ganz eindeutig die negativen Auswirkungen. Ich möchte hier nur einige kurz skizzieren. Was Sie,
isoliert betrachtet, als erstrebenswerte Verminderung der
spekulativen Käufe und Verkäufe beschreiben, könnte in
Wahrheit eine Verminderung der Handelsumsätze bedeuten. Eine Verminderung der Handelsumsätze ist keinesfalls erstrebenswert, weil sich dadurch die Liquidität
des Handels verringern und damit die Kursfeststellung
an den Börsen verschlechtern würde.
Damit einher geht ein weiteres volkswirtschaftliches
Argument gegen die Börsenumsatzsteuer, nämlich die
Beeinträchtigung der Kapitalproduktivität. Eine Börsenumsatzsteuer würde eine optimale Kapitalallokation insofern erschweren, als die Investoren und Sparer ihre
Anlageentscheidung nicht mehr rein renditeorientiert,
sondern vermehrt steuerinduziert treffen würden. Außerdem würden wir mit einer Börsenumsatzsteuer einen
weiteren Anreiz zur Steuerflucht geben. Diese Erfahrungen haben, wie gesagt, die Schweden in den 80er-Jahren
gemacht. Nachher haben sie die Börsensteuer wieder abgeschafft.
Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zu
den mutmaßlichen staatlichen Einnahmen durch eine
Börsenumsatzsteuer sagen. Sie haben sie in Ihrem Antrag und auch in Ihrer Rede quantifiziert. Die Linke führt
ins Feld, das Ergebnis könnten 38 Milliarden Euro Steuereinnahmen sein. Das ist eine absurde Zahl, Frau Kollegin Höll. Das zeigt schon ein Blick auf die Länder, in denen es gegenwärtig noch eine Börsenumsatzsteuer gibt.
Selbst in Großbritannien, einem der größten Finanzplätze der Welt, liegen die Einnahmen aus der Börsenumsatzsteuer mit durchschnittlich 4,5 Milliarden Euro
jährlich weit unter den von Ihnen proklamierten Zahlen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Frau Präsidentin, ich bitte um Verständnis, dass ich
diese Frage nicht zulasse. Wenn meine bisherigen Ausführungen nicht zur Erhellung beigetragen haben, dann
wird es die Beantwortung der Zwischenfrage ebenfalls
nicht tun.
({0})
Um es kurz zu machen: Ihr Antrag zur Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer, meine Damen und Herren
der Fraktion Die Linke, ist finanzmarktschädlich und
läuft von seiner Intention her, nämlich Staatseinnahmen
in zweistelliger Milliardenhöhe zu erzielen, vollkommen
ins Leere. Für meine Fraktion lehne ich diesen Antrag
ab.
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe das Wort der Kollegin Höll zu einer Kurzintervention.
({0})
Nur kurz, Herr Kollege Dautzenberg. Erstens möchte
ich Sie fragen, ob ich Sie richtig verstanden habe, dass
Sie - denn Sie haben argumentiert, dass die Börsenumsatzsteuer von 1 Prozent insbesondere die kleinen Anleger belasten würde - in einem nächsten Schritt einen Gesetzentwurf vorlegen werden, in dem Sie die Halbierung
des Sparerfreibetrages zurücknehmen; denn damit haben
Sie die kleinen Sparer nun wirklich getroffen.
({0})
Zweitens möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit wären,
zur Kenntnis zu nehmen, dass die Börsenumsätze 2005
einen Umfang von 38 Milliarden Euro hatten und wir in
unserem Antrag von einer konservativen Rechnung,
nämlich von 30 Milliarden Euro, ausgegangen sind.
({1})
Dass die Börse nicht wegen einer 1-prozentigen Belastung zusammenbrechen wird, darin sind wir uns doch
wohl sicher einig. Das geschieht ja auch nicht bei einer
Mehrwertsteuer von 19 Prozent.
({2})
Herr Dautzenberg, wollen Sie erwidern?
({0})
Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Frank
Schäffler von der FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke geht in die völlig
falsche Richtung. Er ist aber heute ganz gut platziert;
denn auch die eben beschlossene sogenannte Gesundheitsreform geht in die völlig falsche Richtung.
({0})
Der einzig richtige Punkt in Ihrem Antrag ist, dass Sie
die Mehrwertsteuererhöhung kritisieren. Aber Ihre Antwort darauf ist eine immer neue Steuererhöhung an anderer Stelle, in diesem Fall sogar die Wiedereinführung
einer Steuer, die die Union und die FDP 1990 abgeschafft haben. Wir haben damals übrigens in einem Gesetz die Börsenumsatzsteuer, die Gesellschaftsteuer und
die Wechselsteuer abgeschafft. Es ist schön, dass wir uns
heute noch einmal an diese Bürokratiebeseitigungsgesetze erinnern.
({1})
Es geht in der Politik also auch anders, meine Damen
und Herren von der Union.
Für eine Fraktion wie Die Linke ist die Börse natürlich der Hort des unbändigen Kapitalismus. Daher passt
der Antrag zur Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer zu Ihrer Ablehnung der sozialen Marktwirtschaft.
({2})
Tatsächlich ist der Antrag aber eine Schmalspurversion
einer von Ihnen geforderten Tobin-Steuer auf Geldtransfers. Schon dieser Vorschlag gehört in die Mottenkiste
der Wirtschaftswissenschaften.
Aber dann in Ihrem Antrag Keynes zu zitieren, zeigt
mir, wie weltfremd die Linke ist. Dass die Umsetzung
der Theorien von Keynes erst zu der gigantischen Staatsverschuldung geführt hat, die wir heute mühsam bedienen müssen,
({3})
lassen Sie völlig außer Acht.
({4})
Es ist nicht nur in Zeiten der EU-Ratspräsidentschaft
wichtig, davon zu lernen, was unsere europäischen
Nachbarn machen. Herr Dautzenberg hat es gesagt: Die
Schweden haben 1985 eine Börsenumsatzsteuer, wie Sie
sie fordern, eingeführt, jedoch schon 1992 wieder abgeschafft. Die Steuereinnahmen waren nämlich viel geringer als erwartet. 165 Millionen Euro pro Jahr wurden erwartet; 9 Millionen Euro pro Jahr waren es tatsächlich
im Maximum. Der Finanzplatz wurde trotz geringer Einnahmen jedoch erheblich beschädigt. Der Handel mit
Bonds ging bereits eine Woche nach Einführung dieser
Steuer um 85 Prozent zurück. Das Handelsvolumen von
Futures und Optionen sank sogar um 98 Prozent. Der
Handel verlagerte sich in ganz erheblichem Umfang
nach London.
Das Beispiel Schweden zeigt, dass Ihre Einnahmeerwartungen reine Spekulation sind. Sie glauben immer
noch, dass möglichst hohe Steuern zu besonders hohen
Einnahmen führen. Die enormen Steuererhebungskosten
müssten Sie natürlich gegenrechnen. Sie wollen die
deutsche Steuerbürokratie und damit die Staatswirtschaft
ausweiten. Wir wollen das Gegenteil.
Unser Ziel sollten gleiche Wettbewerbsbedingungen
in Europa sein. Der Trend in der EU und auch die Bestrebungen der Kommission gehen aber gerade weg von
der Börsenumsatzsteuer. In Großbritannien, das Sie als
Beispiel anführen, gibt es übrigens eine Reihe von Ausnahmen. Es werden nur Transaktionen in Aktien von
Unternehmen herangezogen, die ihren Rechtssitz in
Großbritannien haben. Renten und Derivate werden von
der dortigen Stempelsteuer gar nicht erfasst. Die Diskussionen in Großbritannien zeigen, dass die Börsenumsatzsteuer inzwischen kritisch gesehen wird. Studien für die
London Stock Exchange haben klar nachgewiesen, dass
die Steuer die Börsenumsätze senkt und das gesamtwirtschaftliche Wachstum hemmt. Eine Wiedereinführung
der Börsenumsatzsteuer wäre also das Schlechteste, was
wir unserem Finanzplatz antun könnten.
({5})
Es würde ferner unsere Bemühungen zur Integration des
europäischen Finanzdienstleistungsmarktes unglaubwürdig machen.
Union und FDP haben die Börsenumsatzsteuer 1990
gemeinsam abgeschafft. Das waren keine schlechten
Zeiten für unser Land.
({6})
Wir haben gemeinsam Steuersenkungs- und Steuervereinfachungspolitik betrieben. Daran sollte die Union,
dieses Parlament insgesamt, wieder anknüpfen. Dann
gäbe es am Ende dieses schlechten Tages für Deutschland mit dem Einstieg in die sozialistische Einheitskasse
doch noch einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nina Hauer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dr. Höll, bei einer Sozialdemokratin brauchen Sie
nicht für die Idee zu werben, dass große Vermögen ihren
Anteil zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben
leisten. Bei uns brauchen Sie auch nicht für die Idee zu
werben, dass Investoren sich ihrer wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Verantwortung stellen müssen.
({0})
Das Instrument, das Sie vorschlagen, ist aber nicht geeignet, um das zu erreichen, was Sie erreichen wollen.
({1})
Ihren Vergleich mit der Mehrwertsteuer finde ich regelrecht abenteuerlich. Frau Dr. Höll, wenn Sie ein Paar
Socken kaufen,
({2})
dann zahlen Sie Mehrwertsteuer. Wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird, zahlen Sie mehr Mehrwertsteuer.
Wenn Sie aber den Kaufvorgang besteuern - das verbirgt
sich hinter der Börsenumsatzsteuer -, dann müssen Sie
damit rechnen, dass die Leute sagen: Ich drücke mich
um den Kaufvorgang, auf den die Steuer erhoben wird,
herum. Ich bekomme, was ich will, und spare beide
Steuern. - Die großen Investoren, die auf dem Finanzmarkt mit Millionen arbeiten, werden genau das tun. Sie
treffen mit der Börsenumsatzsteuer nur die kleinen Sparer, die ihr erarbeitetes Vermögen oder ihre erwirtschafteten Gewinne, ihre Altersversorgung an der Börse anlegen. Das werden nämlich diejenigen sein, die sich um
die Kaufsteuer nicht herumdrücken können.
Bei den Socken ist es anders als bei den Finanzprodukten. Die Socken kaufen Sie, um sie zu besitzen. Ein
Finanzprodukt hingegen kaufen Sie, um einen Zins- und
Zinseszinsgewinn zu erhalten. Wenn Sie ein Finanzprodukt mit einer durchschnittlichen Rendite von 4 Prozent
kaufen, für das ihre Bank inklusive Börsenumsatzsteuer
einen Aufschlag von 1,25 Prozent verlangt - Sie müssen
dafür schon eine gute Kundin sein; Sie müssen viel Geld
angelegt haben -, dann zahlen Sie, wenn Sie das Produkt
kaufen, 1,25 Prozent, und wenn Sie das Produkt wieder
verkaufen, um den Zinsgewinn zu erhalten, zahlen Sie
erneut 1,25 Prozent. Das bedeutet: 2,5 Prozent Kosten
bei 4 Prozent Gewinn. Damit schränken Sie die Möglichkeiten derjenigen, die sich für diese Produkte interessieren, ein. Am Ende bleiben 1,5 Prozent übrig.
Auch Ihr Vergleich mit den Steuerfreibeträgen und
den Sparerfreibeträgen hilft nicht weiter, weil davon eine
Gruppe betroffen ist, die schon einiges angelegt hat, die
jedenfalls den Gewinn schon hat. Sie wollen ja überhaupt eine Zugangsbarriere aufbauen. Das hätte zur
Folge, dass Leute ihre Gelder für die Altersversorgung
oder ihr über Jahre aufgebautes Vermögen nicht am Kapitalmarkt anlegen können. Das finde ich nicht gerecht.
Wir wollen, dass die Leute ihr Geld auf dem Kapitalmarkt anlegen. Wir wollen, dass diejenigen, die nur ein
kleines Vermögen angespart haben,
({3})
dieses Geld sicher anlegen können.
Sie sagen: Wenn ich einen großen Gewinn machen
will, dann muss ich mehr Risiko eingehen. Das ist am
Finanzmarkt so. - Das können die millionenschweren
Investoren, aber diejenigen, die von dieser Steuer am
meisten betroffen wären, können das nicht. Sie müssten
dann in Anlagen gehen, die entweder ganz wenig bringen, oder sie gehen woanders hin, zum Beispiel auf
Abenteuertour mit Finanzmarktprodukten, die für die
Altersversorgung eigentlich nicht geeignet sind.
({4})
Sie treffen damit auch kleine Unternehmen, also diejenigen, die wir am Finanzmarkt haben wollen, damit sie
sich dort Kapital holen können. Sie drängen sie im Endeffekt auf abenteuerliche Finanzierungswege. Mir ist
neu, dass Ihnen die Börse weniger lieb ist als die dunklen Finanzierungswege von Private Equity. Aber das
wäre das Ergebnis dessen, was Sie hier vorschlagen.
({5})
Ich muss sagen: Sie haben einige große Weltökonomen in Ihrer Fraktion. Daher bin ich verwundert, dass
Sie überhaupt nicht beachten, was Sie am Kapitalmarkt
anrichten. Denn die Börsenumsatzsteuer ist, theoretisch
gesehen, ein prozyklisches Instrument. Sie führt dazu,
dass Börsenkurse am Ende volatiler werden, das heißt,
dass sie stärker nach oben und unten ausschlagen.
({6})
Auch das ist gerade für kleine Anleger ein höheres Risiko, weil sie das nicht ausgleichen können. Sie sorgen
dafür, dass Anleger steuergelenkt und nicht mehr renditegelenkt investieren. Es mag Ihnen unmoralisch vorkommen,
({7})
wenn jemand renditegelenkte Anlage betreibt; unromantisch ist es wahrscheinlich auch.
({8})
Aber am Ende würde dies dazu führen, dass sich Kapital
verteuert und dass die Falschen unser Geld, das wir den
Unternehmen zur Verfügung stellen wollen, bekommen,
weil Unternehmer, Investoren und kleine Anleger danach entscheiden, wo sie besser Steuern sparen, und
nicht danach, wo ihr Geld am besten aufgehoben ist. Das
wäre das genaue Gegenteil eines Finanzmarktes, der dafür sorgt, dass wir mehr Wachstum und am Ende mehr
Beschäftigung haben.
Sie sagen, dass die anderen Finanzmärkte das auch
machen. Die Mutter aller Finanzmärkte in Großbritannien hat eine Börsenumsatzsteuer von 0,5 Prozent auf
die Aktien von inländischen Unternehmen. Wenn Sie
sich den Finanzplatz London ansehen, dann erkennen
Sie, dass seine Stärke vor allen Dingen im Handel mit
internationalen Wertpapieren besteht. Diese Steuer führt
letztendlich dazu, dass britische Papiere weniger konkurrenzfähig sind. Das ist der Grund, warum beide Parteien in jedem Wahlkampf darüber diskutieren, ob diese
Steuer eigentlich Sinn macht.
({9})
Das Beispiel Schweden wurde schon genannt. Die
Schweden haben 1983 die Umsatzsteuer für die Börse
eingeführt. Sie haben Einnahmen in Höhe von
165 Millionen Euro erwartet. Sie haben nur 9 Millionen
Euro eingenommen - so viel dazu, dass Ihre Rechnungen der Realität standhalten können -,
({10})
weil das Handelsvolumen bei den Bonds um 85 Prozent
eingebrochen ist. Das ist kein Anlageprodukt, dem man
nachsagen kann, es sei hochspekulativ. 50 Prozent aller
Werte, die vorher in Schweden gehandelt wurden, sind
dann in London über die Theke gegangen.
({11})
Das kann nicht Ihr Ernst sein; das würde unseren Finanzmarkt kaputtmachen. Das war auch nicht die Absicht in
Schweden. Sie haben die Steuer 1992 abgeschafft.
Andere Staaten, die diese Steuer haben - das sind wenige -, nehmen börsengehandelte Wertpapiere aus, also
gerade das, von dem Sie sagen, dass es die vielversprechendsten Einnahmen bringt. Oder diese Staaten gewähren andere Steuervorteile. Dazu sage ich Ihnen als Sozialdemokratin: Das finde ich übertrieben. Es sind das
nämlich Steuervorteile, die wir hier in Deutschland nicht
haben wollen. In der Europäischen Union gibt es kein
Land, das in den letzten 20 Jahren eine Börsenumsatzsteuer eingeführt hat. Die meisten haben sie abgeschafft.
Wir würden durch Einführung dieser Steuer Kleinanlegern schaden und Investoren ins Dunkle treiben, in die
Finanzierung von Unternehmungen, bei denen es nicht
um die Börsennotierung und die Öffentlichkeit geht,
sondern um den Weg weg von der Öffentlichkeit ins
Dunkle. Unser Finanzplatz wäre nicht mehr wettbewerbsfähig.
Sie mögen denken, dass dies bedeutet, dass die mit
dem ganz feinen weißen Kragen sich einen neuen Job
suchen müssen. Ich lade Sie gerne einmal nach Hessen
ein. In meinem Wahlkreis und an den Grenzen meines
Wahlkreises zur Stadt Frankfurt verdienen viele Menschen ihr Geld mit dem Finanzmarkt. Sie verdienen es
nicht nur, indem sie jeden Tag Millionen umsetzen, von
denen ihnen die Hälfte gehört, sondern indem sie bei Finanzmarktunternehmen beschäftigt sind,
({12})
und zwar in vielen verschiedenen Tätigkeiten mit ganz
unterschiedlichen Qualifikationen. Der Finanzmarkt ist
zur Jobmaschine geworden, nicht nur bei uns in der Region, in Hessen, sondern auch in anderen Bundesländern. Mit einer solchen Steuer würden wir dafür sorgen,
dass die Leute, die dort arbeiten, ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Sie stellen Forderungen, überlegen aber
nicht, welche Konsequenzen diese für unser Land und
für die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, haben.
({13})
Ich hätte gerne gehört, was Ihr Kollege, der ehemalige Ministerpräsident des Saarlandes, zur Börsenumsatzsteuer, die Sie fordern, sagt.
({14})
Denn ich habe mit Überraschung festgestellt, dass er bei
Abschaffung der Kapitalverkehrsteuer im Bundesrat
- wo leider nicht festzustellen ist, wer wie abgestimmt
hat - nichts gesagt hat; so wild scheint die Aufregung
damals also nicht gewesen zu sein.
({15})
Dafür können Sie natürlich nichts. Doch Sie versuchen
jetzt, mit Ihrem Antrag eine so alte Idee wiederzubeleben. Zugegeben: Diese Idee hört sich gut an, und es gibt
bestimmt viele, die so etwas als gerecht empfinden. Aber
wenn man sich näher mit der Sache befasst, muss man
feststellen: Das schadet unserem Standort, das schadet
den Menschen, die ihr Geld dem Finanzplatz anvertrauen, das schadet denen, die am Finanzplatz arbeiten,
und das schadet am Ende unserem Wachstum. Außerdem wollen wir doch, dass die Menschen nicht nur Geld
für die Altersvorsorge dem Finanzplatz anvertrauen,
sondern dass sie auch in die Unternehmen in Deutschland investieren und sie damit finanzieren.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Linksfraktion hat wieder einmal einen Dreizeiler vorgelegt. Ich habe nichts gegen Dreizeiler; doch wenn sie
schon so kurz sind, dann sollten sie wenigstens gereimt
sein.
({0})
Es ist zwar nicht so, dass sich Inhalt und Länge von Anträgen immer genau entsprechen. Aber man merkt an
den dürren, kurzen Worten Ihres Antrags schon, dass Sie
sich verschiedene Aspekte des Themas noch nicht genau
angeschaut haben.
({1})
Ich habe den Eindruck, Sie haben das „Statistische Jahrbuch“ genommen, nach großen Summen Ausschau gehalten und dann den Stift fallen lassen, und auf das, wo
er gelandet ist, wollen Sie jetzt eine Steuer erheben. So
kann man soziale Gerechtigkeit nicht formulieren; da
muss man schon früher aufstehen!
({2})
Ein paar Punkte sind schon angesprochen worden.
Der erste ist der Vergleich mit Großbritannien. Wollen
Sie wirklich das Steuersystem am Finanzplatz London
als Vorbild für Deutschland nehmen und die Privilegien
für Spitzenverdiener in den Banken eins zu eins auf
Deutschland übertragen? - In Hessen ist das übrigens
konkret vorgeschlagen worden. - Man kann doch nicht
einen Einzelpunkt herausgreifen, aber das Umfeld außen
vor lassen!
({3})
Also: Wollen wir es vergleichen, oder wollen wir es
nicht vergleichen? Ich bin jedenfalls nicht dafür, London
insgesamt zum Vorbild zu nehmen.
({4})
Wenn Sie allerdings nur diesen einen Aspekt herausgreifen wollen, müssen Sie sich damit auseinandersetzen,
wie sich das auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkt.
({5})
Der zweite Punkt. Sie behaupten, Spekulation werde
dadurch eingeschränkt. Wissen Sie, Derivate - der spekulativere Teil der Finanzgeschäfte - sind in London von
dieser Steuer ausgenommen. Das Londoner Modell zu
übertragen, heißt also nicht, Spekulation zu unterbinden.
Wenn Sie aber die spekulativen, die derivativen Finanzinstrumente einbeziehen wollen, müssen Sie sich genau
anschauen, was das für den Wettbewerb zwischen den
Standorten bedeutet. Ihr einfacher Vergleich funktioniert
also nicht.
Für unsere Seite, für die Grünen, möchte ich noch das
verbraucherpolitische Argument hervorheben. Wenn wir
eine reine Börsenumsatzsteuer einführen, dann heißt das,
dass wir die Umsätze entweder in die weniger transparente Internalisierung drängen oder in die Over-theCounter-Geschäfte, also die, die nicht an geregelten Plätzen stattfinden. Das ist das Gegenteil dessen, was wir
wollen. Wir wollen, dass die Geschäfte transparent und
sichtbar für die Verbraucher stattfinden. Man müsste
sich also überlegen, wie eine Besteuerung auszusehen
hätte, damit der Handel weiter an den geregelten Finanzplätzen stattfindet.
({6})
Das sind verschiedene Punkte, bei denen sichtbar wird,
dass Sie das Vorhaben nicht zu Ende gedacht haben und
dass der Impetus, etwas für soziale Gerechtigkeit tun zu
wollen, nicht zu konkreten und machbaren Vorschlägen
führt.
Wenn Sie über Finanztransaktionen sprechen wollen,
dann möchte ich Ihnen eine Bitte mit auf den Weg geben: Beachten Sie das bitte bei der nächsten großen Finanztransaktion in Berlin, die Sie mitverantworten werden! Das wird wichtige Auswirkungen auf den
Finanzplatz haben.
Ich möchte noch einige Gegenargumente aufgreifen
und kommentieren. Frau Hauer, Sie haben gesagt, man
müsse den Sozialdemokraten nicht viel über Soziales erzählen. Ich glaube aber, dass man ständig an seinem Ruf
arbeiten muss.
({7})
Insofern meine ich nicht, dass dieses Argument ausreicht. Ich würde mir vielmehr konkrete Vorschläge
wünschen. Die verkorkste Reichensteuer, die Sie mitverantwortet haben, kann nicht der Weisheit letzter Schluss
sein, wenn es um eine soziale Steuerpolitik geht.
({8})
Das Argument der Jobmaschine kann immer herangezogen werden, auch wenn es um die Sockenindustrie
geht. Den Hinweis auf die Mehrwertsteuer halte ich als
generelles Argument ebenfalls nicht für tragfähig. Bei
diesem Thema ist eine andere, spezifische Argumentation notwendig.
Ich möchte noch ein weiteres Argument aufgreifen.
Herr Schäffler hat bemerkt, das Vorhaben passe gut zur
Gesundheitsreform. Ich habe den Eindruck: Die Große
Koalition geht häufig so vor, dass sie erst etwas abschafft und es dann wieder einführt. Vielleicht bietet es
sich auch bei der Börsenumsatzsteuer an, diese Richtung
einzuschlagen.
Sie haben zuerst die Abschreibungsbedingungen erleichtert; jetzt werden sie wieder eingeschränkt. Sie haben zuerst den Steuerzuschuss zur Krankenversicherung
gesenkt; jetzt soll er wieder erhöht werden. Zu diesem
Kurs würde es sehr gut passen, die Börsenumsatzsteuer,
die Sie seinerzeit abgeschafft haben, wieder einzuführen.
Aber zurück zum Ernst der Lage: Sie haben heute im
Zusammenhang mit der Gesundheitsreform Steuererhöhungen angekündigt.
({9})
- Der Finanzminister der von Ihnen getragenen Regierung hat Steuererhöhungen angekündigt. - Wenn Sie alle
steuerpolitischen Vorschläge - so dünn sie auch sein mögen - ablehnen, dann müssen Sie auch sagen, was Sie
konkret vorhaben und an welchen steuerpolitischen Vorschlägen Sie arbeiten.
Das Argument, dass Finanztransaktionen in
Deutschland keiner wie auch immer gearteten Umsatzsteuer unterliegen und dass es insofern eine Sonderregelung gibt, ist nicht zurückzuweisen. Ich kann deshalb für
unsere Fraktion feststellen, dass wir uns mit den Vorschlägen gründlich befassen werden. Sie können sich
darauf verlassen: Wenn die Grünen einen Vorschlag zu
einer sozial gerechteren Steuerpolitik vorlegen, dann
wird er mehr als drei Zeilen umfassen und etwas besser
durchdacht sein.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir vermissen den Weltkökonomen Oskar
Lafontaine in dieser Debatte.
({0})
Auch Herr Ernst hat uns schon verlassen. Angesichts der
durchschlagenden Argumentation, mit der der Antrag
begründet wird, kann die deutsche Öffentlichkeit sehr
froh sein, dass Oskar Lafontaine in den Jahren 1998 und
1999 nicht länger als knapp fünf Monate Finanzminister
dieses Landes war.
Sie rechnen in Ihrem Antrag zur Wiedereinführung
einer Börsenumsatzsteuer mit sagenhaften 38 Milliarden
Euro Steuermehreinnahmen. In der Debatte haben Sie
diesen Betrag auf immerhin 30 Milliarden Euro reduziert. Die Summe erklärt sich mit einer klassischen
Milchmädchenrechnung: Bei einem Börsenumsatz von
3,8 Billionen Euro in Deutschland entspricht 1 Prozent
38 Milliarden Euro. Das ist rechnerisch richtig und
klingt auf den ersten Blick auch logisch. Auf den zweiten Blick jedoch stellt sich der Antrag als völliger Unfug
heraus,
({1})
mit dem die Linksfraktion ihren alten Schlager „Wir sind
die sozialste Partei, greifen den Großkapitalisten in die
Tasche und verteilen das Geld an die armen Leute“ in
leicht veränderter Melodie neu aufführen möchte.
({2})
Dabei übersehen Sie leider zwei maßgebliche Punkte.
Erstens geht Ihre Rechnung nicht auf. 38 Milliarden
Euro bzw. 30 Milliarden Euro Einnahmen sind eine völlige Utopie. Das von Ihnen gerne angeführte Beispiel
Großbritannien - immerhin einer der größten Finanzmärkte der Welt - nimmt durch die Stamp Duty im
Schnitt 4,6 Milliarden Euro ein.
Sie übersehen zweitens, dass inzwischen nicht mehr
nur der klassische Großkapitalist mit Aktien handelt,
sondern durchaus auch der sogenannte kleine Mann,
({3})
der damit zum Beispiel seine private Altersversorgung
betreibt.
({4})
Die Börsenumsatzsteuer ist ein Relikt aus dem
19. Jahrhundert. Sie ist ursprünglich aus der fiskalischen
Belastung von Urkunden des Börsenverkehrs hervorgegangen, für die früher behördlich gestempeltes Papier zu
verwenden war. 1881 wurden erstmals Schlussnoten
über gewisse Wertpapieranschaffungen mit einer fixen
Stempelabgabe belegt. Die Börsenumsatzsteuer, die ihren Ursprung, wie gesagt, im vorvergangenen Jahrhundert hat, wurde nicht zuletzt nach klaren Einlassungen
der damaligen unionsgeführten Bundesregierung 1991
durch das Finanzmarktförderungsgesetz abgeschafft.
Die Begründungen für diesen Schritt sind heute noch
so aktuell wie damals.
Erstens. Kapitalverkehrsteuern behindern die Kapitalbeschaffung zur Stärkung des Eigenkapitals.
Zweitens. Kapitalverkehrsteuern behindern die Mobilität des Finanzkapitals.
Drittens. Kapitalverkehrsteuern laufen dem Gedanken
einer EU-weiten Integration der Märkte völlig zuwider.
Viertens. Kapitalverkehrsteuern stellen einen Wettbewerbsnachteil für den Finanzplatz Deutschland dar.
({5})
Gemessen an ihrem fiskalischen Nutzen sind ihre
Nachteile für Wettbewerb, Wachstum und Arbeitsplätze
groß. Ich weiß, jetzt kommt das Argument, dass andere
Staaten ebenfalls eine Börsenumsatzsteuer haben und wir
mit anderen Staaten im Wettbewerb stehen. Das ist richtig,
in elf Ländern der Europäischen Union gibt es eine sogenannte Transaction Tax. Ihre Höhe liegt zwischen 0,005
und 1 Prozent. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass in einem Großteil der Länder, die die Transaction Tax erheben,
ganz wesentliche Ausnahmeregelungen zugrunde liegen.
So wird in Finnland, Italien, Malta, Polen, Portugal
und Slowenien - immerhin in sechs von den elf Staaten keine Transaction Tax auf an der Börse gehandelte Wertpapiere erhoben, sondern lediglich auf außerbörsliche
Geschäfte sowie auf Immobilien und Grundbesitz.
({6})
Das ist genau im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrem
Antrag verlangen.
In dem immer wieder gern angeführten Großbritannien gilt die Stamp Duty Reverse Tax nur auf inländische Transaktionen. Zudem sind weitere Finanzprodukte
wie Renten, Derivate, Exchange Traded Funds und ausländische Aktien ausgenommen.
Nebenbei bemerkt: Die Höhe der Einnahmen aus der
Stamp Duty in Großbritannien erklärt sich unter anderem dadurch, dass in Großbritannien auch sehr starke
Anlageprodukte wie beispielsweise die Immobilien-AG
- Stichwort REITs - gehandelt werden dürfen. Das wollen Sie ja unter allen Umständen verhindern. Wir erwarten eine spannende Debatte.
Festzuhalten ist auch, dass in keinem EU-Mitgliedstaat in den letzten 20 Jahren eine Transaction Tax für
Börsengeschäfte eingeführt wurde. Über Schweden
wurde bereits gesprochen. Schauen Sie sich die Realität
an. Schweden hat 1983 mit 165 Millionen Euro pro Jahr
gerechnet, es sind aber durchschnittlich nur 9 Millionen
Euro geworden. Schweden hat dieses Projekt schnellstmöglich wieder eingestellt.
({7})
Das Gegenteil ist richtig. Die meisten Staaten in der
Europäischen Union haben die Börsenumsatzsteuer abgeschafft: Spanien 1988, die Niederlande 1990, Dänemark 1999 und Österreich 2000. In anderen nichteuropäischen Finanzplätzen wie zum Beispiel den USA und
Japan ist die Börsenumsatzsteuer ebenfalls abgeschafft
worden, in den Vereinigten Staaten 1966 und in Japan
1999.
Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion,
sehen: Die Entwicklung hinsichtlich der Börsenumsatzsteuer in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
zeigt deutlich einen Trend hin zur Abschaffung. Selbst
Länder, die die Steuer erheben, haben in den letzten Jahren Anpassungen vorgenommen.
Vor kurzem ist in Großbritannien wieder eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Stamp Duty vor dem Hintergrund der aktuellen MiFID-Umsetzung, also der europaweiten Richtlinie zur Regulierung der Finanzmärkte,
überhaupt noch gerechtfertigt ist. Denn derzeit ist noch
vollkommen unklar, inwieweit die europaweite Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie nicht auch generell zu einer Abschaffung der Börsenumsatzsteuer in der EU führen wird; denn sie stellt für ausländische Anleger ein
Marktzugangshindernis dar.
Genau solche Hindernisse wollen wir jetzt aber im
Zuge der geplanten Finanzmarktintegration abbauen. Sie
wollen sie mit einer Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer mittelfristig wieder einbauen.
Meine Damen und Herren, das passt dann auch zum
politischen Ansatz Ihres Weltökonomen: heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders.
Ich kann Sie nur bitten: Tun Sie uns allen einen Gefallen, bleiben Sie mit solchen Vorschlägen zu Hause, kümmern Sie sich um Haus und Hof, sparen Sie dem deutschen Steuerzahler Geld und uns Zeit und Nerven.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Jörg-Otto Spiller das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gäbe es die begründete Aussicht - wie uns die
PDS Glauben machen will -,
({0})
dass man mit der Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer jährlich Steuermehreinnahmen in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro erzielen könnte,
({1})
bekämen viele von uns in allen Fraktionen große Augen.
Und ich bin ganz sicher, alle Finanzminister, die nach
der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer diese Erwartung hätten haben dürfen, hätten sofort gesagt: Das machen wir! - Ob sie nun Waigel, Eichel, Steinbrück oder
Oskar Lafontaine heißen.
({2})
Aber Oskar Lafontaine hat das natürlich nicht gemacht.
Der dachte überhaupt nicht daran,
({3})
denn das ist ein richtig intelligenter Mann,
({4})
wenn auch etwas unstet.
({5})
Sie werden das wahrscheinlich wissen, Frau Dr. Höll.
Aber es war jedenfalls so: Als Lafontaine in der Verantwortung für die Bundesfinanzen war,
({6})
da ist er nie auf die Idee gekommen, die Börsenumsatzsteuer wieder einzuführen. Wir in der Fraktion hätten
uns das sehr ruhig angehört, aber Oskar Lafontaine hat
natürlich auch die wahrscheinlichen Auswirkungen gegeneinander abgewogen: Wie hätte sich das am Finanz8060
platz Deutschland, insbesondere auf Frankfurt, ausgewirkt, und wie viel Einnahmen hätte man tatsächlich
erzielen oder erwarten können?
Nebenbei bemerkt: Die Börsenumsatzsteuer hat in
Deutschland im letzten Jahr ihrer Erhebung umgerechnet
ungefähr 400 Millionen Euro gebracht.
({7})
- Ja, D-Mark, aber umgerechnet etwa 400 Millionen
Euro. Das ist ein bisschen weniger als 38 Milliarden
Euro. Aber Lafontaine ist eben nie auf die Idee gekommen, einen solchen Schritt zu gehen. Als der Bundesrat
- es war ja eine Idee von Hessen, die Börsenumsatzsteuer abzuschaffen - darüber beraten hat, hat sich das
Saarland auch gar nicht zu Wort gemeldet. Das war denen nicht sonderlich wichtig.
Sie können ihn ja gelegentlich einmal fragen, warum
er so spät auf diese Idee gekommen ist. Er weiß aber
natürlich auch, dass diese 38 oder auch nur 30 Milliarden Euro eine gänzliche Luftnummer sind. Alle Kollegen - mit Ausnahme von Ihnen -, die vorher gesprochen
haben, haben schon darauf hingewiesen, zu welchen Belastungen dies in London, aber auch woanders führen
würde und welche Ausnahmen es geben würde. Zum
Beispiel unterlägen alle deutschen Aktien, die in London
gehandelt würden, keiner Besteuerung, und in Luxemburg wäre das genauso. Das war auch der Grund dafür,
weshalb damals gesagt worden ist: Das lassen wir lieber,
wir schwächen nur unseren Finanzplatz, aber auf Dauer
Geld einnehmen, das werden wir nicht.
Also, das müssen Sie einmal mit Ihrem Kollegen
Fraktionsvorsitzenden besprechen. Das ist eine Luftnummer.
({8})
Es schadet eigentlich auch Ihrer Partei, dass Sie solche
Dinge fordern, zu denen jeder, der sich damit ernsthaft
befasst, sagt: Das hat der Lafontaine nie gewollt. Und
wenn der irgendwo wieder in der Verantwortung wäre,
({9})
würde er solchen Unfug auch gar nicht machen. Aber
dazu kommt es ja wahrscheinlich nicht.
Nun zu der Frage, was wir im Bereich der Besteuerung von in diesem Fall nicht Börsenumsätzen, sondern
von Veräußerungsgewinnen tun werden. Was haben
wir gemacht und was werden wir tun? Ich finde, das ist
eine sehr viel seriösere Fragestellung. Wir haben in der
letzen Legislaturperiode - damals zusammen mit den
Grünen - durchgesetzt, dass die Erfassung von Veräußerungsgewinnen innerhalb der sogenannten Spekulationsfrist von einem Jahr bei den Banken korrekt erfolgt und
dass jeder Kunde eine Erträgnisaufstellung bekommt,
die er zusammen mit seiner Steuererklärung abgeben
muss.
Wir werden darüber hinaus - das haben wir in der
Großen Koalition vereinbart - mit der Einführung einer
Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge, aber auch auf Veräußerungsgewinne die Spekulationsfrist abschaffen. Das
ist nicht selbstverständlich. Darüber haben wir debattiert. Ich weiß, dass das insbesondere den Kollegen von
der Union nicht leichtfiel. Aber ich finde, dieser Weg ist
sehr viel vernünftiger und gerechter.
Meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Ihr
Antrag liefe darauf hinaus, dass beispielsweise ein Rentner, der sich von Bundesobligationen im Wert von
2 000 Euro trennt, weil er größere Anschaffungen vornehmen will, Börsenumsatzsteuer zahlen muss. Wenn
sich jemand aus Enttäuschung über die Kursentwicklung
von seinen Telekom-Aktien trennt, zahlt er nach Ihrem
Vorschlag ebenfalls Börsenumsatzsteuer. Wir wollen dagegen Veräußerungsgewinne fair besteuern. Das halten
wir für vernünftig.
Im Übrigen wünsche ich mir, dass Sie, wenn Sie Anträge einbringen, einmal darüber nachdenken, ob die Autoren, deren Namen oben auf dem Antrag stehen, überhaupt dahinterstehen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4029 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatzpunkt 12 auf:
29 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland
Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der Beitrag älterer Menschen zum
Zusammenhalt der Generationen
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 16/2190 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das neue Bild vom Alter - Vielfalt und Potenziale anerkennen
- Drucksache 16/4163 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Zu dem Bericht zur Lage der älteren Generation liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Aussage des fünften Altenberichts ist: Ältere Menschen verfügen über Potenziale, die wir als Gesellschaft
noch längst nicht ausgeschöpft haben. Wir werden in
Zukunft viel mehr ältere Menschen unter uns haben.
Laut Statistik wird es in 40 Jahren etwa doppelt so viele
60-Jährige wie Neugeborene geben. Aber es gab noch
nie eine ältere Generation - das ist das Entscheidende -,
die so gut ausgebildet und so gesund war wie die Älteren
heute. Die Lebenserwartung eines heute geborenen
Mädchens liegt bei rund 81 Jahren und die eines kleinen
Jungen bei über 75 Jahren. Das sind nicht nur zusätzliche Jahre, sondern gewonnene Jahre, wenn es uns gelingt, sie aktiv zu nutzen. Entscheidend ist: Wer heute
zum Beispiel 60 Jahre ist, der ist biologisch gesehen fünf
oder sechs Jahre jünger, als es ein 60-Jähriger vor
30 Jahren war. Das heißt, diese Jahre können tatsächlich
als gewonnene Jahre für diese Generation angesehen
werden.
Natürlich können wir die demografische Entwicklung
nicht wegdiskutieren. Das möchten wir auch nicht. Aber
- auch das halte ich für wichtig - wenn wir heute über
Szenarien im Jahr 2030 oder 2050 sprechen, dann haben
wir heute auch die Zeit und die Pflicht, die Weichen dafür zu stellen,
({0})
damit wir keine vergreisende Gesellschaft werden, sondern - ein schöner Begriff - eine Gesellschaft des langen Lebens.
({1})
Das sind die Potenziale des Alters, von denen der fünfte
Altenbericht spricht.
Der Altenbericht betont auch - das halte ich für besonders wichtig -, dass die Potenziale des Alters Potenziale für die ganze Gesellschaft sind, also nicht nur für
diese Altersgruppe. Wir müssen ein neues Bild des Alters zeichnen. Es gibt eine schöne Geschichte von Paul
Baltes, dem Altersforscher, der sagte: Wissen Sie, es ist,
wie wenn man zu einem Klassentreffen geladen hat und
diejenigen kommen, die vor 60 Jahren Abitur gemacht
haben. Man denkt, die einen hätten ihre Kinder mitgebracht und die anderen ihre Eltern. - Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, wie wir uns in der Zeit vor dem
Alter verhalten.
Wir werden anders arbeiten, und wir werden länger
arbeiten. Wenn wir uns überlegen, dass heute nur
4 Prozent der Weiterbildungsmaßnahmen von über
45-Jährigen wahrgenommen werden, dann müssen wir
zu dem Schluss kommen, dass das nicht richtig sein
kann. Das müssen mehr werden. Genau in diesem Alter
zeigt sich nämlich, ob wir es mit dem Begriff des
lebenslangen Lernens ernst meinen. Wenn heute nur
45 Prozent der 55- bis 65-Jährigen in Deutschland arbeiten, dann lassen wir Potenziale des Alters brachliegen.
({2})
Wenn wir sehen, dass in Schweden rund 70 Prozent und
in Dänemark rund 60 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig sind, dann muss das für uns ein Ansporn sein.
Dass es geht, zeigt das Beispiel Finnland. Dort stieg die
Erwerbsquote der 55- bis 65-Jährigen von 1997 bis 2005
um jährlich annähernd 2 Prozentpunkte, nämlich von
37 Prozent auf 53 Prozent. Mit anderen Worten: Es geht;
wir können besser werden, und wir müssen besser werden.
({3})
Im Alter sind Innovationen und Fortschritt möglich. Es
gibt eine schöne Antwort von dem Cellospieler Pablo
Casals, der gefragt wurde, warum er als 93-Jähriger immer noch täglich stundenlang Cello übe: Weil ich das
Gefühl habe, immer noch besser zu werden. - Diese Einstellung wünsche ich mir.
Das neue Bild des Alters betrifft auch die Frage, ob
wir eigentlich angemessen auf die Bedürfnisse der Älteren eingehen. In der Europäischen Union ist der schöne
Begriff der Silver Economy geprägt worden, der silberne Markt. Schon heute bestreiten die über 60-Jährigen ein Drittel des privaten Konsums in Deutschland.
Das sind allein 316 Milliarden Euro. Wenn wir uns die
Haushalte der 75-Jährigen und Älteren in Deutschland
anschauen, dann stellen wir fest, dass diese Gruppe in
den letzten zehn Jahren ihren Gesamtkonsum von
40 Milliarden Euro auf 80 Milliarden Euro erhöht hat.
Da ist ein ganzes Segment von Produkten und Dienstleistungen, das wir besser ausschöpfen können. Wir sollten uns sputen, dies zu tun, ehe andere Länder erkennen,
welches Potenzial in diesem silbernen Marktsegment
liegt.
Schließlich wird es in einer Gesellschaft des langen
Lebens zwei Währungen geben: nicht nur die des Euro,
sondern auch die der sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Angesichts der Tatsache, dass sich in
den nächsten 40 Jahren die Anzahl der über 80-Jährigen
verdreifachen wird und viele davon kinderlos sein wer8062
den, müssen wir heute über soziale Netze nachdenken.
In der Pflege gilt auch das, was für Kinder gilt. Eine moderne Gesellschaft mit einem menschlichen Gesicht
muss Zeit für gute Arbeit, aber auch Zeit für Fürsorge
gleichmäßig auf alle verteilen. Das heißt, die Pflege der
älteren Generation wird nicht allein auf den Schultern
der Töchter bleiben können. Söhne werden sich Zeit für
Pflege nehmen, und junge Alte werden sich verstärkt um
hochbetagte Alte kümmern.
Wir werden ein neues Dreieck der Pflege zwischen
Familie, Ehrenamtlichen und Fachkräften bilden müssen.
Deshalb haben wir heute bei der Verabschiedung der Gesundheitsreform - das begrüße ich gerade als Seniorenministerin - bewusst mehr Leistungen für Palliativmedizin,
für Schmerztherapie und für Hospize beschlossen.
({4})
Der Gedanke des zivilgesellschaftlichen Einsatzes
der älteren Generation liegt den generationenübergreifenden Freiwilligendiensten zugrunde, die nach dem
Prinzip des freiwilligen sozialen und ökologischen
Jahres gestrickt sind. Das ist ursprünglich ein Angebot
für junge Menschen, das auf die ältere Generation übertragen wird. Wir dürfen nicht mehr erwarten, dass man
sich nach dem Arbeitsleben in das Privatleben zurückzieht; vielmehr sollte man sich dann in eine andere aktive
Phase aufmachen. Ich denke zum Beispiel an ehrenamtlichen Einsatz.
({5})
Im Altenbericht ist von Netzwerken die Rede, und
gemeint sind damit die Familien, in denen ältere Angehörige nicht nur gepflegt werden, sondern vorher selbst
vielerlei Unterstützung erfahren und leisten. Gemeint sind
aber auch neue Netzwerke: in der Nachbarschaft, im
Freundeskreis oder in der Kommune. Unsere Aufgabe ist
es heute, die Strukturen dafür zu schaffen, zum Beispiel
durch die Bildung von Mehrgenerationenhäusern. Der
fünfte Altenbericht macht deutlich: Das Alter hat Potenzial.
Unsere Aufgabe ist es, dieses Potenzial zu entwickeln.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die demografische Entwicklung ist die zentrale politische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, weil sie in sämtliche
Lebensbereiche der Bürger eingreift. Weder lässt sich
diese Entwicklung verhindern noch wesentlich abschwächen.
Die FDP begrüßt es außerordentlich, dass die Bundesregierung sich nach langem Zögern mit dem seit August 2005
vorliegenden Bericht befasst hat. Wir begrüßen es noch
mehr, dass sich der Deutsche Bundestag nun endlich
auch mit dem fünften Altenbericht beschäftigt. Leider
wird es zur Gewohnheit, dass die Altenberichte erst jahrelang anstauben, bevor sie diskutiert werden, was weder
dem Inhalt der Berichte noch der Bedeutung des Themas
gerecht wird.
Schwerpunkt des Berichts sind die speziellen Herausforderungen, mit denen sich die alternde Gesellschaft befassen muss. Wir diskutieren bereits die Auswirkungen,
Stichwort „Rente mit 67“. Es ist aber zu kurz gegriffen,
wenn die Regierung auf der einen Seite Einschnitte in
die sozialen Sicherungssysteme mit dem demografischen
Wandel begründet,
({0})
auf der anderen Seite Denkansätze im fünften Altenbericht, die Perspektiven für die Gestaltung des demografischen Wandels bieten, nicht diskutiert.
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist unglaubwürdig, wenn Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände den
Renteneintritt mit 67 begrüßen und es gleichzeitig in
den Managementetagen eine generalistische Vorgehensweise gibt, Ältere noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen einzuladen.
({1})
Die Anerkennung und Akzeptanz des Leistungsvermögens der älteren Generation ist eine gemeinsame
Aufgabe von Politik, Medien, Verbänden, und sie ist insbesondere eine Aufgabe jedes einzelnen Bürgers. Wir
alle sind gefordert, uns auf ein höheres Lebensalter, als
es frühere Generationen erwarten konnten, einzustellen.
Das Schlüsselwort für unsere Zukunft ist meiner Ansicht nach lebenslange Bildung. Wir können nicht erst
mit Erreichen des 50. Lebensjahres anfangen, darüber
nachzudenken, wie es weitergehen könnte. Schon in
sehr jungen Jahren muss die Erziehung zur körperlichen
Leistungsfähigkeit und gesunden Lebensführung eine
Selbstverständlichkeit werden. Der Sportunterricht als
Sparbüchse der Bildungspolitik muss einen neuen
Stellenwert bekommen. Körperliche Betätigung von
Jugend an führt zu körperlicher Leistungsfähigkeit auch
im höheren und hohen Alter.
Aber auch das lebenslange Lernen als Selbstverständlichkeit in einer lebendigen Gesellschaft muss unser Ziel
sein. Hier leisten beispielsweise die Volkshochschulen
Hervorragendes. Aber auch die Tatsache, dass immer
mehr Rentner studieren, zeigt, dass Bildung ein Anspruch
des Alters sein kann.
Eine besondere Bedeutung kommt hier dem bürgerschaftlichen Engagement zu, das geradezu ein Lebensmodell für die ältere Generation sein wird. Es ist gerade
dann sinnvoll, wenn es den Kontakt zu jüngeren Generationen herstellt. An dieser Stelle wird auch das Konzept
von Mehrgenerationenhäusern ansetzen, die ja gerade
den Zweck haben, eine Begegnungsstätte für Alt und
Jung zu sein und beispielsweise Bildungsaktivitäten zu
vernetzen.
Das von der Kommission geforderte neue Leitbild des
produktiven Alterns umzusetzen, ist dringend nötig.
Erst wenn das Altersbild in den Köpfen wieder der Realität entspricht, wird es möglich sein, den demografischen
Wandel positiv zu gestalten. Besonders die Medien
müssen sich mit mehr Fingerspitzengefühl dem demografischen Wandel nähern. Schreckensszenarien, es käme
zu einem „Aufstand der Alten“ oder zu einem „Generationenkrieg“, sind nach meinem Dafürhalten absurd.
({2})
Wichtig ist die Erkenntnis, dass der demografische
Wandel Veränderungen mit sich bringen wird, von denen
alle Bereiche der Gesellschaft betroffen sind und denen
wir uns stellen müssen. Der FDP kommt es nicht nur
darauf an, Risiken und Gefahren einer Überalterung zu
erkennen, sondern auch darauf, die Potenziale des Alters
zu benennen und Visionen für die spätere Lebenszeit zu
entwickeln. Hierzu gehören sowohl im Dienstleistungsals auch im Konsumbereich neue Angebote, die auf die
spezifischen Bedürfnisse einer älteren Generation ausgerichtet sind und neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen.
Wenn wir im demografischen Wandel bestehen wollen,
müssen wir akzeptieren, dass Kompetenz, Kreativität
und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind
({3})
und dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit 50 enden.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
rot-grüne Bundesregierung hat den fünften Altenbericht
in der letzten Legislaturperiode richtigerweise unter das
Motto „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“ gestellt. Dies eröffnet endlich eine neue, eine
positive Perspektive auf das Alter. Der Bericht gibt uns
wegweisende Handlungsempfehlungen und bietet damit
eine gute Grundlage, den demografischen Wandel aktiv
anzugehen und die Gesellschaft für neue Altersbilder - weg
von der Gebrechlichkeit, hin zum vollen Leben - zu sensibilisieren.
({0})
Vieles in diesem Altenbericht war und ist neu - auch
die Informationspolitik im Vorfeld. Unsere ehemalige
Ministerin Renate Schmidt hat erstmals dafür gesorgt,
dass nicht nur die Fachöffentlichkeit, sondern alle interessierten Seniorinnen und Senioren schon frühzeitig über
die Themenfelder informiert wurden und mitdiskutieren
konnten. Der Bericht hat dadurch bereits im Vorfeld ein
Vielfaches der Aufmerksamkeit erfahren, die bisherige,
nicht minder wichtige und gute Berichte hatten.
Als Landesvorsitzende der bayerischen SPD-Seniorenarbeitsgemeinschaft 60 plus bin ich mir dessen sehr
bewusst, dass das finanzielle Auskommen der Senioren
ebenso wie ihre soziale Absicherung und die Gesundheitsversorgung von zentraler Bedeutung sind. Dennoch
bin ich der festen Überzeugung, dass es dem Thema
nicht zuträglich ist, die Diskussion der Situation Älterer
zum Beispiel auf das Renteneinstiegsalter zu reduzieren.
Denn der Bericht zeigt, dass es hierzu sehr unterschiedliche Stellungnahmen gibt.
Der fünfte Altenbericht macht deutlich, dass die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt eine logische Konsequenz des demografischen Wandels ist und bisher sträflich
vernachlässigt wurde.
({1})
Dabei ist - wie das Grünbuch der EU zum demografischen
Wandel zeigt - die Alterung der Gesellschaft ein Thema
in ganz Europa. Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind unverzichtbar für die Gestaltung einer humanen Arbeitswelt, aber auch für wirtschaftlichen Erfolg.
({2})
Leider beschäftigen aber zurzeit 41 Prozent der Betriebe
keine Menschen mehr, die älter als 50 Jahre sind. Sie tun
das, weil es sich für sie über Jahre hinweg gelohnt hat,
ältere Mitarbeiter frühzeitig in die Rente oder in die Arbeitslosigkeit zu schicken.
({3})
- Diese Praxis, liebe Frau Lenke, hat in einer schwarzgelben Koalition ihren Ursprung und ist nicht zukunftstauglich.
Mit der Forderung in Ihrem Entschließungsantrag
- auch das betrifft Sie, Frau Lenke -, den Kündigungsschutz für Ältere zu reduzieren, setzen Sie sich, meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
über eine gegenteilig lautende Handlungsempfehlung
des fünften Altenberichts hinweg. Zudem kann ich Ihnen
bei der Behauptung, dass ein Schutz eine Benachteiligung sei, schon rein logisch nicht folgen.
Bildung ist übrigens die Schlüsselkategorie, auch im
hohen Lebensalter.
({4})
„Was hat den größten Einfluss auf Gesundheit?“, fragte uns
Herr Professor Kruse, der Vorsitzende der Altenberichtskommission, im Ausschuss. „Bildung“ war die Antwort.
Im fünften Altenbericht wird eindrucksvoll aufgezeigt
- Stichwort: lebenslanges Lernen -, dass Investitionen
seitens der Betriebe in die Weiterbildung auch älterer
Menschen in höchstem Maße effektiv sind. Durch die
gezielte Weiterbildung älterer Arbeitnehmer wird die
Zahl der Frühverrentungen gesenkt, eine bessere Ruhe8064
Angelika Graf ({5})
standsfähigkeit bewirkt und der ökonomische Output
erhöht.
Der fünfte Altenbericht macht deutlich: Die Investitionen kommen dreifach zurück. Ich begrüße deshalb
außerordentlich, dass der Bundesminister für Arbeit,
Franz Müntefering, diese Bevölkerungsgruppe mit der
Initiative „50 plus“ und weiteren Beschäftigungsprogrammen verstärkt auf die Agenda des Ministeriums setzt.
({6})
Zudem wurden im fünften Altenbericht zum ersten
Mal bislang eher vernachlässigte Bevölkerungsgruppen
ins Auge genommen. Neben älteren Homosexuellen, die
sich vielfach aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte und
der Tatsache, dass sie selten Kinder haben, in einer
speziellen Lebenslage befinden, sind in diesem Altenbericht erstmals auch ältere Migrantinnen und Migranten
berücksichtigt worden. Beide Bevölkerungsgruppen geben
der sogenannten Bevölkerungsmehrheit interessante Hinweise auf das eigene Altern. Kinderlose ältere Menschen
wissen um die Bedeutung, auch das nichtfamiliäre soziale
Netzwerk über die Lebensspanne hinweg zu pflegen.
Die Perspektive älterer Migrantinnen und Migranten ist
für eine realistische Altenhilfe- und Zuwanderungspolitik
wertvoll.
Dadurch, dass in den Berichtsauftrag zum ersten Mal
das Altwerden in der Fremde aufgenommen wurde,
haben wir für unsere politische Arbeit sehr wichtige
Erkenntnisse darüber gewonnen, dass unsere ausländischen Mitbürger zum Teil unter schwierigeren oder zumindest spezifischen Bedingungen altern, die dringend
noch weiter erforscht werden müssen.
Der fünfte Altenbericht ist ein Sprachrohr von bislang
ungehörten älteren Menschen. Er macht deutlich, dass
Seniorinnen und Senioren nicht nur einfach Alte sind,
die angeblich überdurchschnittlich reich oder unterdurchschnittlich gesund sind. Er ruft uns auf, zu differenzieren:
bei der Einkommenslage, beim ehrenamtlichen Engagement, bei der Wirtschaftskraft und beim Renteneintrittsalter.
Das Alter und das Altern sind individuell und haben
viele Gesichter. Für ein individuelles Altern müssen wir
auf allen Gebieten der Seniorenpolitik wie auf allen anderen betroffenen Politikfeldern die entsprechenden
Rahmenbedingungen schaffen.
({7})
Für mich heißt dies auch, den älteren Menschen vielfache und vielleicht bislang noch nicht bedachte Möglichkeiten der Teilhabe zu ermöglichen. Neues soziales
Engagement, neue Teilzeitarbeitstätigkeiten und neue
Bildungsmaßnahmen müssen geschaffen werden, um die
Potenziale der Älteren heben zu können. Lebenslanges
Lernen ist eines der wichtigen Stichworte, das aber
noch mit Fleisch gefüllt werden muss.
Das verstärkte Nutzen der Chancen und Potenziale
erfordert allerdings eine gezielte Zusammenarbeit der
Älteren mit allen ihnen nützlichen Akteuren. Ich fordere
deshalb insbesondere die ältere Generation auf, sich
stärker in das öffentliche Geschehen einzubringen. Die
Entwicklung seniorengerechter Produkte, die Etablierung der Seniorenwirtschaft und andere Potenziale des
Alters gelingen, wie im fünften Altenbericht beschrieben
wird, nicht ohne die gezielte Thematisierung durch die
ältere Generation. Wie sagte Marcus Tullius Cicero im
Jahre 73 vor Christi Geburt - ich zitiere selten, aber dieser
Satz ist wirklich schön -:
Nicht das Alter ist das Problem, sondern unsere
Einstellung dazu.
({8})
- Cicero hat immer recht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wachsende Zahl der älteren Menschen und die
veränderten Vorstellungen vom Alter, die sich von Versorgung und Pflege bis hin zu Selbstbestimmung und Eigeninitiative wandeln, bedürfen neuer Bilder vom Alter
und ein Umdenken in der Politik. Nicht die ältere Generation hat ein Problem mit dieser Gesellschaft und der
Politik. Nein, Ihre Politik - wir reden heute über den Bericht der Bundesregierung - hat ein Problem im Umgang
mit einer stark wachsenden, sehr selbstbewussten und
aktiven älteren Generation.
Allein die Vielfalt der Namen für diese Generation ist
ein Beleg dafür, wie hilflos Politik und Wirtschaft letztlich sind. Sie heißen Golden Oldies oder Generation
Gold, Silver Consumer, Best Ager, Master Consumer,
Woopies - Abkürzung für Well-off older People - oder
gar Selpies, die Second Life People. Das ist eine tolle
Kreativität, die jedoch ein ganz abruptes Ende findet,
wenn es in der Politik um konkrete Alternativen für
diese älteren Menschen gehen soll.
Frau von der Leyen, Sie haben hier von Haushaltszahlen in Milliardenhöhe gesprochen. Nun frage ich Sie:
Wie viel Unverfrorenheit muss man als Sozialdemokrat
und als Christlich-Sozialer, die sich, wie ich gestern gehört habe, angeblich auf ihre Werte beziehen, eigentlich
besitzen, um, wie es seit geraumer Zeit geschieht, den
jüngeren und den älteren Menschen in diesem Lande ein
schlechtes Gewissen einzureden, indem man sie für eine
verfehlte Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verantwortlich
zeichnen will?
({0})
Vor gut drei Stunden - das Wort schwebt in der Marienkirche noch in der Luft - hat Bischof Huber gesagt:
Gemeinwesen und Gemeinwohl sind uns Christen
als Auftrag mit auf den Weg gegeben.
Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({1})
- Ich weiß, Herr Singhammer, Bischof Huber ist ein Protestant. Sie als Katholik halten nicht so viel davon.
({2})
Sie tolerieren Horrorszenarien, schüren Angst mit
Blick auf das Leben in der Zukunft und wollen bei über
4 Millionen Arbeitslosen - von der Zahl der verdeckten
Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen - glauben machen,
dass mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre viele Probleme gelöst werden, obwohl das völlig an der Realität vorbeigeht. Welch ein Zynismus!
({3})
Eiskalt kehren Sie unter den Teppich, was Sie von Ihren ehemals gemachten Wahlversprechungen einhalten,
dass Sie von diesen meilenweit entfernt sind. Sie schämen sich auch nicht, einzugestehen, dass Ihnen die Courage fehlt, politischen Willen für wirkliche Reformen im
Interesse der Menschen aufzubringen. Aus Ihrem Munde
kommend werden Begriffe wie „Demokratie“ und „Solidarität der Generationen“ zur Farce.
({4})
- Das ist die Realität. - Sie haben keine Beziehung mehr
zur wahren Demokratie. Sie handeln als Volksvertreter
eigenverantwortlich im Sinne des Wortes „eigen“ und
ohne Eingriffsmöglichkeiten durch das Volk.
Sie alleine, meine Damen und Herren der Koalition
und der Regierung, tragen die politische Verantwortung
für den von Ihnen produzierten Zeitgeist. Das Resultat
werden Sie irgendwann bekommen, wenn die
70 Prozent, die Sie gewählt haben, merken, dass sie zu
über 92 Prozent belogen wurden und werden.
({5})
Sie schüren mit Ihrer Politik offensichtlich und bewusst
- das hat die heutige Debatte über die Gesundheitsreform auch gezeigt - Angst, Sorge, Unsicherheit und Verzweiflung.
({6})
Menschen, vor allem Kinder und Ältere, brauchen für
eine gesunde Entwicklung Sicherheit und Geborgenheit.
Wenn sie Sicherheit und Geborgenheit haben, dann erfüllen sich junge Familien auch Kinderwünsche. Ohne
mit der Wimper zu zucken, setzen Sie allerdings, der
Tradition folgend, Ihre unsoziale Politik und eine bereits
gescheiterte Rentenpolitik fort.
Der Perversitäten nicht genug: Heute Morgen haben
Sie mit Ihrer Gesundheitspolitik noch einen draufgesetzt. Sie missbrauchen und instrumentalisieren die Sozial-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik für eine Politik gegen die Menschen, weil Sie einzig und allein der
Logik der Finanzmärkte folgen. Es ist Ihnen auch nicht zu
schade, die vorhandenen Sicherungssysteme wissentlich
aufzuweichen, indem Sie sich nach und nach von der öffentlichen Daseinsvorsorge verabschieden und an das
bürgerschaftliche Engagement sowie an die Eigeninitiative der Einzelnen, insbesondere der Älteren, appellieren.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie
eine Politik verfechten, die vor allem wirtschaftspolitisch und interessengeleitet ist und zum Nutzen des globalen Wettbewerbs allein die private Vorsorge als Alternative anbietet.
({7})
Wir lehnen eine solche Entsolidarisierung in der Gesellschaft genauso ab wie eine Dramatisierung der demografischen Entwicklung und eine Stigmatisierung des
Alters als Katastrophenfall.
({8})
Ich zitiere einmal den Präsidenten des Hamburgischen
Weltwirtschaftsinstituts und Professor für Volkswirtschaft an der Uni Hamburg, der im „Rheinischen Merkur“ gesagt hat:
Es ist lebensverachtend, die demografische Alterung als gesellschaftliches Problem zu bezeichnen.
({9})
Es macht schon Mühe, politische Ansätze und Alternativen zu entwickeln, durch die die Erfahrungen, Kompetenzen und Ansprüche auch und besonders der älteren
Generation eingebunden werden. Deshalb ist es für mich
umso verwerflicher, dass die Bundesregierung die Vorschläge der Altenberichtskommission in großen Teilen
ignoriert. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie
sich als Koalition und Regierung immer mehr von dem
außerparlamentarischen Sachverstand und der Meinung
aus dem Volk entfernen.
Für meine Fraktion kann ich mit Blick auf den fünften
Altenbericht nur fordern: Eine vorausschauende Seniorenpolitik braucht ein realistisches Altenbild. Das Altenbild der Linkspartei ist davon bestimmt, dass heute Menschen nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben
länger als früher aktiv und gesund sind. Trotz möglicher
Einschränkungen bleibt eine höhere Lebenserwartung
ein großer zivilisatorischer Wert; sie ist erstrebenswert.
({10})
Alter ist für uns ein Lebensabschnitt mit eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen, der nicht auf Begriffe wie
Rente, Pflege oder Kosten reduziert werden darf und an
dessen Mitgestaltung Seniorinnen und Senioren aktiv
teilhaben sollen.
({11})
Selbstbestimmtes Altern in Würde ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Schutz der Menschenwürde,
Recht auf Selbstbestimmung, Verbot der Altersdiskriminierung - diese Prämissen sind längst festgeschrieben:
({12})
im Grundgesetz, in verbindlichen Richtlinien der Europäischen Union und in zahlreichen Erklärungen nationaler und weltweit agierender Seniorenverbände. Es erfüllt
mich deshalb mit Sorge, dass die Bundesregierung fortfährt, durch ihre unsoziale Politik die Grundlagen dafür
zu untergraben und die Altersarmut zu einer ernst zu
nehmenden Gefahr für die Zukunft zu machen. Aber irgendwann - da bin ich mir sicher - wird auch hier die
Realität Sie einholen.
Da Frau Graf schon so schön zitiert hat, spare ich mir
das heute.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Herr Staatssekretär Thönnes
- auch Ihr Ministerium ist ja berührt, wenn wir über das
Thema „ältere Menschen“ und über die Potenziale der
Menschen im Alter reden -, ich beginne mit dem, was
uns sicherlich eint. Aus meiner Sicht ist es höchste Zeit,
sich mit der Vielfalt des Alters zu beschäftigen und sich
gerade mit den Potenzialen und den Chancen des Alters
auseinanderzusetzen. Die jüngsten Medienberichterstattungen haben gezeigt, dass wir hier alle gefordert sind,
die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und auch die
anderen Fraktionen im Hause.
Es ist jetzt anderthalb Jahre her, dass der Altenbericht
fertiggestellt und der Bundesregierung übergeben wurde.
Frau Ministerin und Herr Staatssekretär, ich frage Sie:
Warum hat es eigentlich so lange Zeit gedauert, bis Sie
dem Parlament und den entsprechenden Ausschüssen die
Ergebnisse des fünften Altenberichts vorgelegt haben?
Fehlt Ihnen der Mut für eine konsequente Umsetzung
der Erkenntnisse, die im Altenbericht von allen Expertinnen und Experten eindeutig formuliert worden sind,
oder wissen Sie nicht, wie Sie die notwendigen Veränderungen in Politik und Gesellschaft bewirken sollen?
Gerade vor dem Hintergrund so mancher öffentlichen
Diskussion und Medienberichterstattung, die ein Bild
vom Alter zeigen, das von Düsterkeit, Krankheit und
Einsamkeit geprägt ist, ist es umso wichtiger, dass wir
als Deutscher Bundestag - damit auch die die Bundesregierung tragenden Fraktionen - diesem Bild endlich etwas entgegensetzen.
({0})
Es muss uns doch zu denken geben, dass nach Umfragen
und Studien gerade die Menschen hier bei uns in
Deutschland diejenigen sind, die am meisten Angst vor
dem Alter haben. In einer kürzlich erschienen Umfrage
erklärte sogar jede dritte bzw. jeder dritte Befragte, lieber den Freitod wählen als zum Pflegefall werden zu
wollen. Das ist - das gebe ich zu - ein absolut drastisches Beispiel, aber es zeigt eben einen Aspekt des Alters. Es ist dringend geboten, dass wir uns damit auseinandersetzen, vor allem auch damit, wie weit verbreitet
die Unsicherheit beim Thema Älterwerden in dieser Gesellschaft ist.
Ein Blick auf den Arbeitsmarkt reicht völlig aus, um
zum Teil zu verstehen, warum das so ist. Hier wie in Unternehmen glaubt man immer noch, mit 50 Jahren verliere man schlagartig die Leistungsbereitschaft und die
Innovationskraft. Denn anders ist es doch nicht zu erklären, dass jemand, der mit 55 Jahren zum Arbeitsamt
geht, eigentlich überhaupt keine Chance auf Vermittlung
mehr hat und jemand, der mit 50 oder 55 Jahren eine
Weiterbildungsmaßnahme beginnen will, eher fragend
angesehen als unterstützt wird.
Die unglaubliche Jugendzentriertheit der Unternehmen hält nach wie vor an, auch wenn wir seit längerer
Zeit darüber diskutieren und diesen Zustand beklagen.
Es ist eine unglaubliche gesellschaftliche Ausgrenzung
älterer Menschen, die besonders unverständlich ist angesichts des demografischen Wandels und der eigentlich
völlig klar auf der Hand liegenden Notwendigkeit, dass
auch ältere Menschen als Fachkräfte gebraucht werden.
Gerade vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung werden in Zukunft immer weniger junge
Menschen mit immer mehr älteren Menschen zusammenleben. Darauf werden wir uns einzustellen haben.
An dieser Stelle sind wir nicht mehr einer Meinung. Ich
finde, es reicht nicht, dass Sie in Bezug auf notwendige
gesellschaftliche Veränderungen in diesem Bereich seit
anderthalb Jahren immer, wenn wir über dieses Thema
sprechen, die Initiative „50 plus“, die schon in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht wurde, oder
die Mehrgenerationenhäuser zum Allheilmittel erklären.
Hier ist aus meiner Sicht die Bundesregierung gefordert,
systematisch alle Politikfelder daraufhin durchzugehen,
wo Diskriminierung von alten Menschen wirksam entgegengewirkt werden kann, mit unterschiedlichen Maßnahmen, die wir in diesem Haus auf den Weg bringen.
({1})
Meine Damen und Herren, der Auftrag, den die rotgrüne Bundesregierung noch in der letzten Legislaturperiode an die Kommission zur Erstellung des Altenberichts stellte, lautete, ausdrücklich die sogenannte Habenseite des Alters zu betrachten: Was ist möglich, wo
liegen Stärken und Potenziale alter und älterer Menschen? - Wir reden ja nicht über eine homogene Gruppe.
Wir reden über Menschen ab 60, die vielleicht 90 Jahre
alt werden, und sprechen mittlerweile längst über einen
dritten und vierten Lebensabschnitt. Wir reden nicht
über eine Gruppe von Menschen, die einfach alt ist und
einem bestimmten stereotypen Bild entspricht.
Was stellt sich heraus - und verwundert eigentlich
niemanden, wenn man einmal links und rechts von sich
schaut? Ältere Menschen sind wichtige Stützen familiärer Netzwerke und sozialer Netze. Ihr bürgerschaftliches Engagement in dieser Gesellschaft ist kennzeichnend. Ihr Erfahrungswissen und Innovationspotenzial
nicht nur am Arbeitsmarkt sind unerlässlich für diese
Gesellschaft.
({2})
Ihr Einfluss als Konsumenten und Konsumentinnen ist
schon jetzt prägend. Sie sind - das ist völlig klar - ein
aktiver Bestandteil dieser Gesellschaft.
Dabei spielen für das Leben im Alter viele Faktoren
eine Rolle. Hierzu gehören etwa ein über die Jahre geführter gesunder Lebensstil, aber auch das Interesse oder
die Verpflichtung - auch darüber werden wir diskutieren
müssen - zur Weiterbildung, Qualifikation und Bildungspotenzialentwicklung. Die geringste Rolle in der
Wahrnehmung älterer Menschen in dieser Gesellschaft
spielt heutzutage eigentlich das Erreichen der Altersgrenze. Menschen mit sozialen Kontakten, sei es über
Familie oder andere Netzwerke, sind und bleiben aktiv
eingebunden in dieser Gesellschaft und werden das auch
nicht aufgeben wollen, nur weil sie eine bestimmte Altersgrenze erreicht haben.
Die Chance auf Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Leben beanspruchen wir alle ganz
selbstverständlich für uns. Das sollten wir natürlich auch
allen anderen Menschen ermöglichen, egal wie alt sie
sind.
({3})
Deshalb ist es umso bedeutender, dass wir uns endlich
mit der Vielfalt des Alters, mit den Potenzialen und
Chancen beschäftigen.
({4})
Wir werden gleich in der Aktuellen Stunde auch noch
die andere Seite des Alters, nämlich die Pflegebedürftigkeit und die Hilfe und Unterstützung, die Menschen in
dem Lebensabschnitt des Alters brauchen, diskutieren.
Aber ich fordere Sie an dieser Stelle auf, mit konkreten
Maßnahmen über die Initiative „50 plus“ und die Mehrgenerationenhäuser hinaus jetzt endlich aktiv zu werden
und deutlich zu machen, dass wir die Potenziale alter
Menschen in dieser Gesellschaft brauchen.Ich glaube, es
muss Schluss sein mit den Sonntagsreden. Wir müssen
endlich etwas tun. Deshalb haben wir heute einen Antrag
vorgelegt.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Blumenthal von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Haßelmann, Sie sprachen Ihren Antrag an. Ich habe ihn
mir sehr aufmerksam durchgelesen. Ihre wegweisenden
Worte - das muss ich deutlich sagen - habe ich dort
nicht wiedergefunden.
({0})
Ich freue mich, dass wir im Ausschuss gemeinsam darüber diskutieren können. Vielleicht kommen wir dann zu
gemeinsamen Erkenntnissen. Ich verstehe die Einbringung des Berichtes heute als eine Aufforderung, uns damit hinterher ganz intensiv auseinanderzusetzen.
In der letzten Legislaturperiode, als die Fraktion der
Grünen der Regierungskoalition angehörte, gab es lange
Diskussionen. Ich erinnere mich auch an Gemeinsamkeiten; das sollten wir hier nicht einfach so beiseiteschieben. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass wir uns darüber nur streiten sollten.
({1})
Man kann unterschiedliche Sichtweisen haben, aber man
sollte doch versuchen, einen gemeinsamen Weg zu finden.
Auf Herrn Wunderlich möchte ich gar nicht eingehen.
Ich hatte den Eindruck, er hat heute die falsche Rede, jedenfalls keine zum fünften Altenbericht, herausgezogen.
({2})
- Ganz ruhig! Hören Sie erst einmal zu.
Der fünfte Altenbericht verfolgt das Ziel, die von finanziellen und gesundheitlichen Argumenten geprägte
Diskussion des demografischen Wandels neu zu justieren und sie, anders als bisher, an den Chancen und Möglichkeiten dieses Wandels auszurichten. Auf wissenschaftlich fundierter Basis hat die Altenberichtskommission die
„Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“
aufgezeigt. Sie gibt uns, der Politik, Handlungsempfehlungen mit auf den Weg, damit diese Potenziale genutzt
und unterstützt werden können. Vor dem Hintergrund des
demografischen Wandels geht der fünfte Altenbericht den
grundlegenden Fragen nach, welche Rolle ältere Menschen im solidarischen Miteinander der Generationen derzeit spielen, und vor allem, welche Rolle sie in Zukunft
spielen können.
Allein diese Fragestellung sollte uns deutlich vor Augen führen, welchen tiefgreifenden gesellschaftlichen
Veränderungen wir uns gegenübersehen, und zwar nicht
nur aus demografischer Sicht. Weil aber der Anteil derjenigen, die 60 Jahre und älter sind, im Jahr 2050 bei etwa
40 Prozent liegen wird, tun wir gut daran, bis dahin unsere Hausaufgaben gemacht zu haben. Dann müssen wir
nämlich Antworten auf die Frage haben, wie wir erreichen können, dass die Erfahrungen, das Wissen und
Engagement älterer Menschen wieder ganz selbstverständlich zum Arbeits- und Familienleben gehören. In
Deutschland sind heute gerade noch vier von zehn Men8068
schen im Alter von 55 bis 64 Jahren erwerbstätig. In vielen Betrieben gibt es keine Beschäftigten, die älter als
50 Jahre sind. Die Zahl der älteren Langzeitarbeitslosen,
aber auch die der Vorruheständler sprechen eine deutliche Sprache. Ich denke, hier sind wir uns einig: Das
kann nicht der richtige Weg sein.
({3})
Wenn der Anteil der Menschen mit höherem Lebensalter steigt und der Anteil jüngerer Menschen gleichzeitig rückläufig ist, dann kommen wir nicht umhin, dass
ältere Menschen zu einer gesellschaftlichen Komponente werden. Die Lebensphase des Alters kann und darf
deshalb keinesfalls länger mit Unproduktivität und
Krankheit gleichgesetzt werden. Wir können es uns aus
vielfältigen Gründen schlichtweg nicht leisten, auf die
Potenziale des Alters zu verzichten; aber genau das tun
wir zurzeit.
Der fünfte Altenbericht hält fest, dass die Potenziale
noch viel zu wenig erkannt und genutzt werden. Solange
ältere Menschen lediglich als eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme wahrgenommen werden, solange
sich die übrige Gesellschaft vor allem auf ihre Schwächen und auf körperliche Alternsprozesse konzentriert
und solange die Fähigkeiten, die Wünsche und das Engagement Älterer nicht angemessen berücksichtigt werden, müssen wir daran arbeiten, ein neues Bild des Alterns nicht nur zu entwerfen, sondern es auch in den
Köpfen der Menschen zu verankern.
Ich denke, der fünfte Altenbericht leistet einen hervorragenden Beitrag dazu, ein neues Altersbild in der
Gesellschaft zu verankern. Der Bericht konzentriert sich
auf die Analyse der zentralen altersrelevanten Themen
und gibt uns ganz konkrete Handlungsempfehlungen.
Als eine Grundlage der besseren Nutzung der Potenziale
des Alters sehen wir die Erkenntnis an, dass die allermeisten Beiträge, die ältere Menschen zum Gemeinwohl
leisten und in Zukunft leisten werden, auf freiwilliger
Basis geschehen.
Wenn wir von einer besseren Nutzung der Potenziale
sprechen, müssen wir uns vor Augen führen, dass ältere
Menschen in der Regel schon ein arbeitsreiches Leben
hinter sich haben. Wie bereits während des Arbeitslebens leisten sie auch nach der Erwerbszeit in erheblichem Umfang freiwillige und vor allem gemeinwohlorientierte Tätigkeiten. Sie engagieren sich in den
traditionellen Ehrenamtsfeldern Sport, Kirche und soziale Organisationen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass
zukunftsweisende Formen des Engagements erprobt und
entwickelt werden, Formen, die innovative Antworten
auf die Herausforderungen der Zeit und der demografischen Alterung geben. Denn nicht nur in Deutschland
festigt freiwilliges Engagement den Zusammenhalt der
Generationen.
Diese Freiwilligkeit ist für uns ein zentraler Baustein
des neuen Altersbildes. Deshalb werden wir uns für eine
weitergehende Förderung des Ehrenamtes einsetzen.
({4})
Im generationenübergreifenden Engagement können Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden, in denen die
Generationen die Rollen der Wissensvermittler und der
Lernenden einnehmen - und das in beide Richtungen
oder, besser gesagt, wechselseitig. Dabei ist es besonders
wichtig, dass die bislang bildungs- und engagementfernen Gruppen näher an das bürgerliche Engagement herangeführt werden.
Ein weiterer zentraler Aspekt des fünften Altenberichtes ist das lebenslange Lernen. Durch lebenslang
anhaltende Bildungsprozesse können wir nicht nur die
wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit
verbessern, sondern gleichzeitig die individuelle Beschäftigungsfähigkeit der Menschen erhalten. Außerdem
tragen lebenslanges Lernen bzw. Bildung ganz allgemein zu mehr Freiheiten und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, und zwar ganz besonders im Alter. Wir
werden uns deshalb dafür einsetzen, die Erwachsenenbildung - vor allem die von geringer qualifizierten Menschen - besser als bisher zu fördern.
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen.
Wir sind der Ansicht, dass eine Schwierigkeit hinsichtlich der heute geltenden gesetzlich festgeschriebenen
oder tariflich festgesetzten Altersgrenzen besteht und
wir diese beseitigen müssen.
({5})
Denn wir können nicht sagen, dass Menschen, die ein
bestimmtes Alter erreichen, ganz bestimmte Berufe
nicht mehr ausüben dürfen, obwohl sie nach wie vor
dazu in der Lage sind.
({6})
Wir sind der Meinung, dass solche Altersgrenzen unzeitgemäß und diskriminierend sind. Deswegen werden wir
uns im Ausschuss ganz intensiv damit auseinandersetzen
müssen.
({7})
Der fünfte Altenbericht macht aber auch deutlich,
dass der demografische Wandel in absehbarer Zeit zu einer deutlichen Verschiebung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen führen wird. Bis heute tut sich
die Wirtschaft leider noch relativ schwer, ältere Menschen als eigenständige Zielgruppe anzusprechen. Die
Wirtschaftskraft und die Konsumwünsche älterer Menschen werden bislang kaum berücksichtigt. Glücklicherweise fangen die Unternehmen mittlerweile an, zu erkennen, dass die Märkte für ältere Menschen, die
sogenannten Silbermärkte, ein ganz enormer Wirtschaftsfaktor sind. Die Erschließung dieser Silbermärkte
kann nicht nur zu mehr Wirtschaftswachstum und einer
besseren Befriedigung der Nachfrage führen, sondern erhöht auch die Chancen der Schaffung neuer Arbeitsplätze für jüngere und ältere Menschen. Deshalb müssen
die Zukunftsmärkte der Generation 60 plus erschlossen
und die Unternehmen dafür sensibilisiert werden.
Meine Damen und Herren, wenn man sich den fünften Altenbericht anschaut, sieht man sich einer Vielzahl
von Ergebnissen und Handlungsempfehlungen gegenüber, die der Politik einen klaren Weg aufzeigen. Ich persönlich nehme aus diesem Bericht vor allem eine
Schlussfolgerung mit: Solange sich das Bild des Alters,
das wir alle noch in den Köpfen haben, nicht verändert,
werden alle Vorhaben nur mit halber Kraft ausgeführt.
Deshalb sollten wir alle gemeinsam anfangen, nicht nach
dem Motto „Alt sind nur die anderen“ zu denken, sondern uns den Problemen zu stellen und die Chancen und
Potenziale des Alters zu nutzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Graf,
ich würde Sie gerne ansprechen, weil ich mit dem, was
Sie zur Frühverrentung ausgeführt haben, nicht einverstanden bin. Die rot-grüne Bundesregierung hat das
Ende der Frühverrentungsregelung auf das Jahr 2010
verschoben. Wenn Sie nun beklagen, dass die Unternehmen Ältere nicht in ihren Unternehmen belassen, dann
müssen Sie ehrlicherweise sagen, dass die Politik der
Großen Koalition dazu beiträgt.
({0})
- Ich will ja nur meine Meinung dazu sagen.
({1})
- Ich will Sie aufklären, warum ich gerade dazwischengerufen habe.
Ihnen ist sicherlich bekannt, dass aufgrund der Verlängerung der Frühverrentungsmöglichkeit im Jahr 2005
Hunderttausende Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland diese Möglichkeit in Anspruch genommen
haben. Das hat 1 Milliarde Euro gekostet. Frau von der
Leyen, es wäre besser gewesen, wenn wir diese
1 Milliarde Euro in Krippenplätze in den Städten und
Gemeinden investiert hätten, anstatt ältere Menschen
von der Arbeit fernzuhalten.
({2})
Hierin ist - das müssen wir ganz selbstkritisch sagen eine Ursache zu sehen.
Der Altenbericht belegt, dass der Ruhestand zum Unruhestand werden soll. Als Bürgerin hätte ich angesichts
dieser Reden den Eindruck, dass man die Menschen wieder in die Beschäftigung treiben will. Wir müssen immer
wieder sagen, dass jeder, der sein Erwerbsleben hinter
sich hat, die Freiheit hat, zu entscheiden, was er macht.
Wir Politiker müssen ihn vom bürgerschaftlichen Engagement überzeugen; wir dürfen den Älteren kein
schlechtes Gewissen machen. Es ist wichtig, dass wir die
Kirche im Dorf lassen.
({3})
Ich möchte zum Gender-Mainstreaming kommen. In
unserer Gesellschaft herrscht eine starre Rollenverteilung vor. Die Männer arbeiten in der Regel bis zum Ruhestand sehr intensiv, vielleicht auch, um die Familie zu
ernähren. Im Alter stellt sich dann die Frage, welche
Form bürgerschaftlichen Engagements jemand, der 60
bis 70 Stunden in der Woche gearbeitet hat, in seinem
Wohnumfeld erbringen kann. Ich muss sagen: Ein
70-Jähriger kann kein Fußballtrainer in einem Verein
mehr sein.
({4})
- Ehrenamtlich!
({5})
Mit 70 Jahren suchen die Männer in unserer Gesellschaft, so denke ich, eine andere Form bürgerschaftlichen
Engagements. Es ist die Aufgabe von Kommunalpolitikern, diese Veränderungen zu erkennen. Wir können hier
reden, soviel wir wollen; wenn die Kommunalpolitiker
nicht mitziehen, ändert sich nichts.
({6})
Die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft sieht anders aus. Frauen - wir alle bedauern das, aber es ist nun
einmal so - pflegen nach der Erziehung der Kinder im
Alter die hochbetagten Eltern und Schwiegereltern. Ich
bedanke mich bei Frau von der Leyen, die sehr deutlich
gesagt hat, dass sich diese Aufgabenteilung ändern
muss. Wir brauchen professionelle Pflege, familiäre Unterstützung, bürgerschaftliches Engagement und neue
Netzwerke. Frau von der Leyen, es bedarf eines neuen
Konzeptes. Es wäre gut, wenn Sie entsprechende Initiativen in den Bundestag einbringen würden.
Die FDP wird ihre Ideen dazu genauso wie alle anderen Fraktionen in den Bundestag einbringen. Ebenso wie
die Grünen haben wir einen Antrag eingebracht.
Ich komme zum Schluss. Der fünfte Altenbericht ist
es wert, nicht nur im Bundestag, sondern auch in den
Städten, Gemeinden und Landkreisen beraten zu werden. Sonst bleibt alles, was wir heute gesagt haben, eine
Worthülse. In meiner Heimatregion will ich gerne dazu
beitragen, dass diese Diskussion weitergeführt wird. Es
wäre gut, wenn wir alle das machen würden; denn das
wäre ein Schritt auf dem Weg in eine fröhliche alternde
Gesellschaft.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte hat gezeigt, dass Frau Blumenthal recht
hat. Es gibt offensichtlich eine ganze Menge Gemeinsamkeiten. Was die Analyse des demografischen Wandels und seine Auswirkungen betrifft, stimmen wir absolut überein. Lediglich bei den Instrumenten gibt es hier
und da unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube, es ist
nicht unwichtig, dass wir diese Gemeinsamkeiten bei der
Pflege aller Unterschiedlichkeiten hier, im Deutschen
Bundestag, herausarbeiten.
Es gibt aber auch Grenzen der Gemeinsamkeiten.
Herr Wunderlich, ich gestehe Ihnen gerne zu, dass Sie
durchaus sympathische Züge haben. Aber ein Auftritt
wie Ihrer heute im Deutschen Bundestag ist nahezu unerträglich.
({0})
Wenn Sie uns bescheinigen, keine Beziehungen mehr
zur wahren Demokratie zu haben, dann haben Sie die
Grenze des Tolerierbaren eindeutig überschritten.
({1})
Lesen Sie bitte einmal Ihre Rede im Protokoll nach. Sie
enthält eine Aneinanderreihung von wüsten Unterstellungen und eine Polemik, die man, wenn man sie wortwörtlich und ernst nehmen würde, nicht dulden könnte.
Das große Verdienst des Altenberichtes ist - darauf
wurde heute schon mehrfach hingewiesen -, dass er einen Schwerpunkt auf die Potenziale des Alters und auf
den Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der
Generationen gesetzt hat. Das ist ein wichtiger Akzent
angesichts - darauf hat Frau Laurischk hingewiesen - einer Medienberichterstattung mit Katastrophenszenarios,
wie wir sie vor kurzem erlebt haben, aber auch angesichts der gegenteiligen Tendenz, bei der unterstellt
wird, der demografische Wandel sei nur ein Vorwand,
um ganz bestimmte politische Maßnahmen durchsetzen
zu können, er sei sozusagen eine Art gesellschaftspolitischer Popanz. Das wird der tatsächlichen Entwicklung
genauso wenig gerecht wie das Katastrophenszenario.
({2})
Es ist eindeutig: Wir werden älter, wir werden bunter,
und wir werden weniger. Natürlich gibt es große regionale Unterschiede. Das wird allzu häufig vergessen.
Ganz entscheidend - das ist mehrfach unterstrichen worden; deswegen kann ich das relativ kurz fassen - ist das
Bild, das wir vom Alter haben. Frau Ministerin, dass
sich die Kommission demnächst mit den Bildern vom
Alter auseinandersetzen soll, ist ein guter Ansatz, weil er
das, was hier vorgelegt wird, vertieft.
Manchmal - ich sage Ihnen das ganz offen - finde ich
es ja putzig, wie in diesem Haus über meine Generation
gesprochen wird, vor allen Dingen, wenn sich jemand
zum Anwalt meiner Generation erhebt. Diesen Anwalt
wollen wir nicht. Manches ist schon merkwürdig, aber
wir sind uns einig: Das Alter ist differenziert zu betrachten. Die Vielfalt ist bereits betont worden. So sehr wir
uns hier als Fürsprecher meiner Generation fühlen - ich
sage bewusst: meiner Generation -, so überzeugt bin ich
davon, dass viele von uns eine politische Sozialisation
hinter uns haben und dass wir uns schon um uns selbst
kümmern werden. Keine Sorge!
({3})
Viele von Ihnen sind von diesem Alter gar nicht so weit
weg. Ich denke, auch Sie werden das dann tun.
({4})
Wir müssen aufpassen: Sicherlich müssen wir die Potenziale, die Stärken der älteren Generation betonen. Allerdings dürfen wir die, wie Professor Kruse im Ausschuss sagte - dieser Begriff hat mir gut gefallen -,
Verletzlichkeit der älteren Menschen bis hin zur Pflegebedürftigkeit der Hochbetagten nicht aus dem Auge
verlieren. Das gehört zusammen. Ich glaube, wenn wir
nur auf die Potenziale, nur auf die Stärken schauen, laufen wir Gefahr, dass wir die Zerrbilder des Jugendwahns
auf die ältere Generation übertragen. So etwas gibt es ja
auch: der ewig Fitte, der ewig Dynamische usw.
Zusammenhalt der Generationen und Generationensolidarität: Eigentlich erfährt das - das muss man gar
nicht im Altenbericht nachlesen - jeder von uns bei sich
selbst. Wir sind die Kinder von Eltern, viele von uns haben Kinder und Enkelkinder. Wir selbst, jeder einzelne
von uns, sind in der Generationenkette verortet. Das ist
uns allen klar. Nur ist es etwas anderes, das gesellschaftlich zu verdeutlichen und umzusetzen.
Ich habe einmal den fünften Altenbericht, den zwölften Kinder- und Jugendbericht und den siebten Familienbericht nebeneinandergelegt. Das ist spannend, und ich
empfehle es uns allen für die kommenden Beratungen.
Vor allen Dingen der siebte Familienbericht, dessen
neuer Ansatz - Perspektiven einer lebenslaufbezogenen
Familienpolitik - uns alle so fasziniert hat, könnte dabei
helfen, das im Zusammenhang zu sehen, was in diesen
drei Berichten separat beschrieben wird. Für Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, und den Familienausschuss
- er ist ein Querschnittsausschuss, der diese Möglichkeit
hat - besteht die Notwendigkeit, diese Zusammenschau
vorzunehmen. Vielleicht gelingt es uns ja, auszuloten, ob
man aus diesen Berichten und aus der öffentlichen Debatte so etwas wie eine „gesellschaftspolitische Gesamtorientierung“ ableiten kann. Oder man nennt es „Strategie“; die Mutigen unter uns nennen es vielleicht
„Vision“. Die Berichte - davon bin ich überzeugt - können bei dieser gesellschaftspolitischen Gesamtorientierung überaus hilfreich sein.
Entscheidend ist nicht die heutige erste Debatte - das
haben mehrere gesagt -, entscheidend ist, welche Konsequenzen wir ziehen. Wir sind gut beraten, die konkreten Empfehlungen, die im Bericht stehen, Punkt für
Punkt durchzugehen und abzuklopfen. Wir sollten uns
diese Mühe machen. Sonst loben wir diesen Bericht,
nehmen ihn aber nicht ernst. Damit will ich nicht sagen,
dass wir die Empfehlungen nicht eins zu eins umsetzen
wollen bzw. können, auch wenn so etwas natürlich vorWolfgang Spanier
kommt: So hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Bereich Erwerbsarbeit eine Reihe von Vorschlägen nicht akzeptiert, nicht übernommen.
Ich denke, wir alle wären froh, wenn diese Debatte
nicht nur hier im Bundestag stattfände. Die Entstehungsgeschichte des Altenberichts zeigt, dass er schon damals
eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst hat. Eine
solche breite gesellschaftliche Debatte, die den Zusammenhalt der Generationen betont, die die Alten nicht zu
Kostgängern macht und die Jungen nicht zu einer armen,
verfolgten Minderheit, sondern die Generationensolidarität in den Mittelpunkt stellt, ist dringend notwendig.
({5})
Dann haben diese Fehlinterpretationen - die Katastrophenszenarios einerseits und die Abqualifizierung des
demografischen Wandels als Popanz andererseits - keine
Chance.
Ich bedanke mich.
({6})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Christel Humme von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich freue mich, dass heute mit der ersten Debatte über
den fünften Altenbericht der Startschuss gelungen ist.
Wir sind weg von diesen Horrorszenarien, weg von den
schrecklichen Bildern in den Medien, und kommen zu
einem ganz neuen Bild des Alters. Ich glaube, es ist
wichtig, wie Herr Spanier und Frau Lenke gesagt haben,
eine breite öffentliche Diskussion anzuzetteln, damit
das, was in diesem Bericht festgehalten ist, in allen Gremien diskutiert werden kann.
Von Henning Scherf - er ist prominenter Rentner, ein
Betroffener! - stammt der Ausspruch „Grau ist bunt“.
Dem kann man nur zustimmen; viele haben das in ihren
Reden heute auch gesagt. Gehen Sie doch einmal auf die
Internetseite www.senioren.de! Was finden Sie da? Sie
finden fitte Senioren, die sich ihr Leben im Alter mit
Reisen versüßen, Sie finden Angebote von hervorragenden Wohnformen, von Wohnen auf hohem Niveau - und
Sie finden Partnerbörsen für ein zukunftsorientiertes Leben zu zweit.
({0})
Das sind ganz andere Dimensionen für die lange Zeit
nach der Arbeit.
Entspricht diese Darstellung der Wirklichkeit in unserer Gesellschaft? Ein Teil mit Sicherheit; aber ich
glaube, nicht in dieser reinen Lehre. Wichtig ist - das haben alle in ihren Reden bestätigt -, dass wir erkennen,
dass wir in der Tat älter werden. So haben meine Töchter
eine Chance von 25 Prozent, 100 Jahre alt zu werden, sie
haben also noch ein langes Leben vor sich. Genau das
gibt uns der fünfte Altenbericht zum Auftrag: die Potenziale dieser Zeit auszuschöpfen. Auch darüber müssen
wir eine breite öffentliche Diskussion anzetteln.
Wenn ich mir die heutige Gesellschaft ansehe, muss
ich feststellen: Da tut sich schon einiges, Herr
Wunderlich, das ist nicht so schwarz, wie Sie das malen.
Im Gegenteil, die Dinge entwickeln sich fast unmerklich
- ohne dass wir Politikerinnen und Politiker viel dazutun. Ich nenne nur ein paar Punkte:
„Enkel dich fit!“ lautet zum Beispiel das Motto des
Großelterndienstes in Berlin. Dabei handelt es sich um
ein Projekt, bei dem Alleinerziehende Hilfe finden können. Großeltern und Enkel finden sich in diesem wunderschönen Projekt.
Seit 1983 - ich war selber überrascht, dass es dieses
Projekt schon seit 24 Jahren gibt - gibt es den „Senior
Experten Service“ mit 7 000 Mitgliedern aus allen Berufen. Sie stellen erfolgreich unter Beweis, wie gefragt und
notwendig der Erfahrungs- und Wissensaustausch der
Generationen ist.
Dies alles zeigt, dass ein unglaubliches Potenzial an
Wissen und Kreativität vorhanden ist. Wir tun gut daran,
diese Schätze nicht ungenutzt zu lassen.
Das Jahr 2007 ist das Europäische Jahr der Chancengleichheit. Ich halte es nach wie vor für einen Skandal - viele Redner haben es schon angesprochen -, dass
Menschen über 50 aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Auf der einen Seite werden wir immer älter - das ist
Fakt -; auf der anderen Seite werden aber die Menschen,
die auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, immer
jünger.
Das hat mit Chancengleichheit nichts zu tun. Darin
sind wir uns sicherlich einig. Wir geben aber schon jetzt
Antworten, Herr Wunderlich. Unser Programm „Perspektive 50 plus“ ist unsere Antwort, um die Generation
der über 50-Jährigen auf dem Arbeitsmarkt zu halten.
Wir haben noch etwas erreicht, was wir uns vielleicht
noch nicht ausreichend bewusst gemacht haben. Wir
brauchen das Grundgesetz nicht zu bemühen, Herr
Wunderlich. Darin finden Sie die Altersdiskriminierung
nicht. Wir haben aber das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschaffen, das seit August 2006 in Kraft
ist. Mit diesem Gesetz können wir der Altersdiskriminierung entgegenwirken.
Ein Gesetz ist kein Allheilmittel. Darin gebe ich der
FDP ausnahmsweise einmal recht.
({1})
- Ausnahmsweise. Das dürfen Sie ruhig hervorheben. Notwendig ist auch ein Mentalitätswechsel in der Gesellschaft und in den Unternehmen. Wir brauchen einen
gesunden Mix aus jungen und alten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, damit das Motto „Grau ist bunt“
auch hier zur Selbstverständlichkeit wird.
Es gibt ohne Frage viele Möglichkeiten, sich im Alter
einzubringen. Bürgerschaftliches Engagement - das
heute schon mehrfach erwähnt wurde und das sicherlich
keine regulären Arbeitsplätze gefährdet - ist dabei ein
wichtiger Faktor.
Auch dabei kann man auf Modellprojekte wie das
Projekt „Pflegebegleiter“ zurückgreifen, das schon 2004
unter der alten Bundesregierung ins Leben gerufen
wurde und mich sehr beeindruckt hat. In diesem Projekt
werden über 50-Jährige gezielt geschult, um ehrenamtlich Angehörige zu unterstützen, die ihrerseits ältere
Menschen pflegen. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel
dafür, wie wir heute schon Brücken zwischen den Generationen schlagen. Die von mir genannten Beispiele zeigen, dass der Zusammenhalt der Generationen schon
jetzt tatsächlich gelebt wird. Das weiterzuentwickeln, ist
sicherlich eine wichtige Aufgabe.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. Ich möchte abschließend
Henning Scherf zitieren, der sehr viel Nettes gesagt hat.
Er sagte unter anderem:
Ich will nicht herumsitzen, sondern etwas tun und
bewirken. Insofern empfinde ich das Alter als späte
Freiheit … Ich habe viel Energie und andere in meinem Alter haben diese Energie auch.
Unsere Aufgabe im politischen Bereich wird es sein,
diese Energie für die Gesellschaft zu nutzen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/2190 und 16/4163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Entschließungsantrag auf Drucksache 16/4219 soll an
dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2190 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Peter Gauweiler, Monika Grütters, Eckart von
Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika
Griefahn, Lothar Mark, Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung des Goethe-Instituts durch neues
Konzept
- Drucksachen 16/3502, 16/4132 Berichterstattung:
Abgeordnete Willy Wimmer ({1})
Harald Leibrecht
Monika Knoche
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile als erstem Redner dem Staatsminister
Günter Gloser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kulturelle Ausstrahlung und wissenschaftlich-technologische Leistungskraft tragen entscheidend
zum positiven Bild Deutschlands im Ausland bei. Dies
spiegelt sich im hohen Stellenwert der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik als integralem Bestandteil der
deutschen Außenpolitik wider. Die auswärtige Kulturund Bildungspolitik ermöglicht Verständigung und
schafft Verständnis. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor sind
die unabhängigen Mittler- und Partnerorganisationen.
Ihre Arbeit ist anerkannt, und ihre Glaubwürdigkeit ist
hoch.
In der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik spielt
das Goethe-Institut eine zentrale Rolle. Es ist das kulturelle Gesicht Deutschlands im Ausland. Zugleich ist es
ein wichtiger Akteur der internationalen kulturellen Zusammenarbeit. Seine Programm- und Spracharbeit ist
anerkannt, die weltweite Präsenz mit 129 Instituten und
die daraus entstandenen Netzwerke sind entscheidende,
über Jahrzehnte aufgebaute Stärken. Auch in Zeiten
knapper Kassen dürfen diese Errungenschaften nicht
aufs Spiel gesetzt werden.
({0})
Erfolgreich bleibt das Goethe-Institut nur, wenn es
seine Strukturen und Aufgaben den sich verändernden
politischen, wirtschaftlichen und kulturpolitischen Rahmenbedingungen anpasst. Dieser Herausforderung haben sich das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut
mit dem gemeinsam erarbeiteten Reformkonzept gestellt. Ich finde, das Ergebnis ist überzeugend.
Die Reform des Goethe-Instituts, in die Anregungen
aus dem parlamentarischen Raum eingeflossen sind,
steht auf zwei miteinander verbundenen Säulen: erstens
die Modernisierung der Strukturen und die Steigerung
der Effizienz des Goethe-Instituts in der Zentrale in
München wie in den Auslandsinstituten und zweitens die
Sicherung des Netzwerks und die Anpassung an neue
Aufgaben. Das Institutsnetz muss die gewachsene globale Verantwortung und die Interessen Deutschlands widerspiegeln. Kein Standort wird aufgegeben. Zu dem oft
kolportierten „Rückzug aus Europa“ kommt es nicht. In
Regionen wie Asien, vor allem in China und Indien,
Nah- und Mittelost/Golfregion muss das Goethe-Institut
aber verstärkt präsent sein. Der Ausbau in Ost- und Südosteuropa soll konsolidiert werden. Dies sind langfristig
lohnende Investitionen in die Zukunft Deutschlands. Die
traditionellen Partnerregionen Europa, USA, Lateinamerika und Afrika werden hierbei nicht vernachlässigt.
Inhaltlich wird sich das Goethe-Institut wieder stärker
auf die im Rahmenvertrag mit dem Auswärtigen Amt
vereinbarten Kernaufgaben konzentrieren: Förderung
der deutschen Sprache im Ausland, Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und Vermittlung
eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische
Leben.
Reformen kosten Geld. Im Rahmen der bisherigen Finanzplanung hätte sich das Reformkonzept nicht umsetzen lassen. Auswärtiges Amt und Goethe-Institut haben
im Bundestag intensiv für das Reformkonzept geworben. Das Echo war bei allen Fraktionen positiv. Der
Bundestag - das unterstreicht das - hat einstimmig beschlossen, die institutionelle Förderung des GoetheInstituts im Haushaltsjahr 2007 um 13,5 Millionen Euro
zu erhöhen. Diese Trendwende im Sinne einer besseren
Mittelausstattung unterstreicht den hohen Stellenwert
von Kultur und Bildung in der deutschen Außenpolitik.
Die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltene Bewertung der vor dem Goethe-Institut liegenden Herausforderungen wird von der Bundesregierung geteilt. Neben der Konzentration auf die Kernaufgaben sind dies
die Sicherung und der Ausbau des Netzwerks, die Weiterentwicklung der Budgetierung, die Reorganisation der
Zentrale in München und die verstärkte Zusammenarbeit
mit anderen Mittlern der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Weitere Maßnahmen zielen auf die Prüfung günstigerer Unterbringungsmöglichkeiten im Ausland, höhere Einnahmen aus Sponsoring sowie die
stärkere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und privaten Kulturstiftungen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ausdrücklichen
Dank an die Abgeordneten aus dem Haushaltsausschuss,
aus dem Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und aus dem Ausschuss für Kultur und Medien für ihr Engagement richten. Wir haben in der Vergangenheit bei der Begleitung der Arbeit des GoetheInstituts eng zusammengearbeitet. Ich versichere Ihnen,
dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.
Die Bundesregierung will ein zukunftsgerichtetes und
wettbewerbsfähig aufgestelltes Goethe-Institut, das nachhaltig arbeitet und wirkt. Das Reformkonzept schafft
hierfür die Basis. Die Unterstützung der Koalitionsfraktionen, die im vorliegenden Antrag zum Ausdruck
kommt, trägt zur erfolgreichen Umsetzung dieser Reformanstrengungen entscheidend bei.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die herausragende Rolle, die dem Goethe-Institut in der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zukommt, ist unbestritten. Unter Rot-Grün war
das allerdings nicht immer der Fall, da ist es auf diesem
Gebiet durchaus zu einem Winterschlaf gekommen, notwendige Reformen wurden damals eben nicht angepackt.
({0})
Ich begrüße es deshalb sehr, dass jetzt durch den Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik neuer
Schwung in die Debatte kommt und die Bundesregierung hier auch handelt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das GoetheInstitut steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen.
Mit der Erhöhung des Budgets hat der Bundestag deutlich gemacht, dass er die Goethe-Institute bei der Bewältigung dieser Herausforderungen auch unterstützen will.
Dabei ist es wichtig, dass die Fraktionen bei diesem
Thema an einem Strang ziehen. Aus diesem Grund erklärte ich mich auch bereit, den FDP-Antrag zum Thema
Finanzierung des Goethe-Institutes, den wir Liberalen
bereits letzten Juni eingebracht hatten, zugunsten des
Antrages der Großen Koalition zurückzuziehen.
({1})
Ich bin seinerzeit noch davon ausgegangen, dass wir
vielleicht doch noch einen interfraktionellen Antrag hinbekommen. Das ist uns leider nicht ermöglicht worden,
vielleicht war es auch zu kurzfristig. Ich bedauere das
sehr. Nun gut, uns Liberalen geht es aber um die Sache,
deshalb werden wir den Antrag der Großen Koalition
auch unterstützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Recht
weist der Antrag auf die neuen Wachstumsregionen
und die damit verbundenen neuen Herausforderungen
hin. Darum muss sich das Goethe-Institut richtig aufstellen, um mit dieser Dynamik mithalten zu können. Natürlich dürfen und werden wir den europäischen GoetheInstituten nicht den Rücken zukehren. Aber dem Ungleichgewicht zwischen dem Engagement des GoetheInstituts in Europa einerseits und in China und Indien
andererseits müssen wir uns stellen.
({2})
Weiterhin möchte ich auch einen intensiven Austausch
mit den Vereinigten Staaten, zumal die transatlantische
Wertegemeinschaft derzeit immer wieder vor eine Zerreißprobe gestellt wird.
({3})
Natürlich ist es auch wichtig, dass wir bestehende Einrichtungen, auch Einrichtungen hier im eigenen Land,
immer wieder auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls hinterfragen.
Meine Damen und Herren, auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik ist keine Einbahnstraße, sondern eine
Investition in die Zukunft. Die Goethe-Institute, aber
auch die deutschen Auslandsschulen, zeigen dies immer
wieder sehr eindrucksvoll. Die Teilnehmer und die Absolventen machen eine positive Erfahrung mit Deutschland, mit seiner Kultur und seiner Sprache. Viele von ihnen besetzen später wichtige, auch politisch wichtige
Ämter in ihrer Heimat. Und gerade hierin liegt auch der
Grundstein für eine enge, vertrauensvolle und nachhaltige Beziehung zwischen Deutschland und anderen Ländern.
Deutschland hat viel zu bieten, sowohl kulturell als
auch gesellschaftlich. Mit der Kultur meine ich nicht nur
die Hochkultur, Kultur steckt heute ja überall drin, ob im
Konzertsaal, im Museum, im Buch, in der Sprache, im
Club - eigentlich in fast allen Lebensbereichen.
Die Aufgabe des Goethe-Institutes ist es, sowohl diesen vielseitigen Begriff von deutscher Kultur als auch
die Schönheit unserer Sprache und Literatur im Ausland
zu vermitteln. Hierfür brauchen wir eine breite politische
Unterstützung. Ich glaube, mit diesem Antrag, den wir
heute verabschieden, wird das Goethe-Institut diese Unterstützung auch bekommen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als sich ein Kollege aus dem Gesundheitsausschuss heute Nachmittag von mir verabschiedet hat,
sagte er: Ihr müsst jetzt nachsitzen für Goethe. ({0})
Das stimmt, aber das tun wir gern, denn wenn wir diesen
heutigen Beschluss nach langen und ausführlichen Beratungen durchgesetzt haben werden, dann hat der Deutsche Bundestag eine institutionelle und personelle
Neuorganisation des Goethe-Institutes auf den Weg gebracht. Es geht aber auch sonst um eine große Sache.
Kurz nach der Wiedervereinigung hat der englische Literatur- und Geisteswissenschaftler Nicholas Boyle von
der Universität Cambridge in seiner hochgerühmten,
monumentalen Biografie über Goethe auch zeitlich-geschichtlich Aktuelles geschrieben. Er beschreibt ihn
als einen freien Mann, der auf die sozialen, spirituellen und geistigen Anforderungen der Moderne in
dem Maße reagierte, wie sie sich in seiner Umwelt
artikulierten.
Dann schreibt er:
Ich hege die Hoffnung, dass die folgenden Seiten
auch Leser in Deutschland ansprechen mögen; wurden sie doch in der Überzeugung geschrieben, dass
die Bundesrepublik nicht nur für das steht, was das
Beste und das Älteste in den politischen Traditionen der Nation ist, sondern auch für das, was dem
Geist Goethes am nächsten kommt, und dass es für
das übrige Europa an der Zeit ist, hierfür zu danken.
Das sind goldene Worte, die man in das Programm des
Goethe-Instituts aufnehmen könnte. Das ist aber vor allem auch ein Angebot von außen, auf das wir Antwort
geben wollen.
Die Große Koalition hat sich bemüht, mit ihrem Koalitionsvertrag Bewegung in die auswärtige Kulturpolitik zu bringen. Wie wir wissen, wurde die Haushaltslage
des Goethe-Instituts nach dem Prozess der Neufindung
in den Jahren nach 1990 trotz der immensen Herausforderungen, die sich für die Kulturaußenpolitik des wiedervereinigten Landes stellten, leider nur angepasst, das
heißt nichts anderes als gesenkt, und das trotz steigender
Personal- und Sachkosten. Wenn wir aber die Beschlussempfehlung und den Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem zur Diskussion stehenden Antrag lesen, dann
stellen wir fest, dass der Finanzkrise des Goethe-Instituts
nicht nur Sparmaßnahmen, sondern auch innere Schwierigkeiten zugrunde lagen, die sich unter anderem in zahlreichen Wechseln innerhalb der Führungsspitze ausdrückten.
({1})
In der laufenden Legislaturperiode haben wir deshalb
als Erstes eine große Anhörung durchgeführt, in der
Kritik und Anregungen in Sachen Goethe-Institut gebündelt und offen ausgesprochen wurden. Die Sachverständigen gingen in ihren Äußerungen teilweise so weit, im
Zusammenhang mit der Programmarbeit des Goethe-Instituts von einer Flucht vor Kultur zu sprechen. Dies bestärkt uns darin, einen grundlegenden Wandel anzustreben. In diesem Sinne wurde bereits etwas erreicht:
Erstens. Der finanzielle und strukturelle Abbau wurde
nicht nur gestoppt, sondern in sein Gegenteil verkehrt.
Die Mittel der Goethe-Institute wurden - darauf haben
Sie bereits hingewiesen, Herr Staatsminister - beachtlich
aufgestockt.
Zweitens. Die auswärtige Kulturpolitik ist wieder
- das möchte ich betonen - Chefsache geworden. Ich
finde, es ist beachtlich, dass der neue Außenminister
Steinmeier in den ersten zwölf Monaten seiner Amtszeit
mehr Goethe-Institute besucht hat als sein Vorgänger in
sieben Jahren.
({2})
Das sind erste Ansätze, die zeigen, dass wir das Gebot
einer grundsätzlichen Trendwende ernst nehmen. Ich
sagte anfangs: Es geht um eine große Sache. Deutschland überlebt als Kulturnation, oder es überlebt als Nation gar nicht. Deswegen haben wir - fundamental, wie
wir beide sind, Frau Griefahn - in unseren Antrag hineingeschrieben:
Das Goethe-Institut vertritt und vermittelt die Tradition und die Gegenwart der deutschen Kultur in
ihren vielfältigen Aspekten und Fassetten. … Im
Mittelpunkt der Tätigkeit stehen die an Deutschland, seiner Sprache und seiner Kultur interessierten Menschen. Dieses Interesse zu wecken, zu fördern und zu befriedigen ist die erste und wichtigste
Aufgabe des Goethe-Instituts.
Die erste Priorität ist also die Vermittlung der deutschen
Kultur.
Was wir hier zu bieten haben, haben die Sachverständigen in eindrucksvoller Weise dargestellt. Kein Land
der Welt hat - da zitiere ich den Sachverständigen
Dr. Steinfeld von der „Süddeutschen Zeitung“ -, nicht
zuletzt durch seinen Föderalismus, eine derartige kulturelle Infrastruktur anzubieten wie das wiedervereinigte
Deutschland. Natürlich muss der politische Rahmen für
die Reform die Konzentration auf die Kernkompetenz
darstellen.
Es ist jetzt von der Zeit her müßig, haushaltspolitische
Beispiele zu nennen. So könnte man beispielsweise die
40 000 Euro, die für die Bibliothek in Helsinki benötigt
werden, den Mitteln gegenüberstellen, die allein im letzten Jahr für den Bundeswehreinsatz im Kongo aufgebracht wurden. Man lese beispielsweise den Kulturpressespiegel über Informationen über eine angebliche
Schließung der deutschen Bibliothek in Paris. Das hat einen Sturm von Einsprüchen ausgelöst. Daran sieht man,
wie groß das Interesse der Außenstehenden an dem Gebiet ist, über das wir hier reden. Es ist richtig, dass wir zu
dieser Kernkompetenz auch die Präsenz und den Ausbau
unserer Tätigkeit in Europa rechnen.
Ich möchte auch noch einen Punkt ansprechen, der für
uns ganz wesentlich ist. Wir haben in diesem Antrag
auch etwas über einen Bereich, der sehr umstritten war,
geschrieben, nämlich über die Goethe-Institute im Inland:
Die Goethe-Institute im Inland leisten hervorragende Arbeit bei der Sprachvermittlung und der
Verbreitung des Deutschlandbildes bei ausländischen Gästen. … Ein Einbrechen der Erfolgsgeschichte des Goethe-Institutes bei der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik durch ein Nachlassen
der Sprachnachfrage im Inland sollte bereits strukturell verhindert werden.
Wir sind uns klar darüber, dass es hier erhebliche Reformen geben muss. Die Obleute, die sich heute Morgen
mit diesbezüglichen Vorhaben beschäftigt haben, sagen,
dass als Nächstes die diesbezügliche Konzeption auf den
Tisch muss, Herr Staatsminister.
({3})
Wir sind unangenehm berührt, dass, während wir diesen
Antrag beraten, die Schließung von inländischen Goethe-Instituten - Beispiel Prien - in die Wege geleitet
wird. Parlamentarische Gremien dürfen nicht aus den
Medien erfahren, welche Schließungen geplant sind. So
macht man sich keine Freunde.
Ich darf auch daran erinnern, dass die Zustimmung
und die Gemeinsamkeit, die wir im letzten Bundestag
beim Einwanderungsgesetz gefunden haben, letzten Endes auf dem gemeinschaftlichen durchgesetzten Willen
des Gesetzgebers zu einer umfängliche verbreiteten
Sprachförderung im Inland beruht haben. Alle Fraktionen des Hauses waren sich einig, dass in dieser Beziehung etwas getan und verbessert werden muss. Das neu
gegründete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
bündelt derzeit die Integrationsmaßnahmen. Im
Jahr 2005 gab es über 8 000 Integrationskurse mit über
100 000 Teilnehmern. Aber kein einziges Goethe-Institut war an diesen Kursen beteiligt, weil bis zur Stunde
über die Höhe des Betrages je Teilnehmer gestritten
wird. Lieber werden keine Kurse angeboten bzw. Kurszuschüsse ausgeschlagen, und lieber werden Institute geschlossen, in die schon einige Millionen Euro gesteckt
worden sind. Das geht nicht, und das können Sie nicht
machen. Deswegen bitten wir Sie ganz herzlich, eine
Änderung dieser Zustände beim Goethe-Institut auf der
Grundlage des heutigen Beschlusses herbeizuführen.
({4})
„Mit Politik kann man keine Kultur machen …“, hat
Theodor Heuss gesagt. Das stimmt. Das wissen wir nur
allzu gut. Aber unsere auswärtige Kulturpolitik kann die
Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass deutsche Kultur rund um den Globus für den Künstler, für sein Werk
und für sein Land werben und Verständnis zwischen den
Völkern und Freundschaft und Respekt für unsere Nation begründen kann. Das ist der Auftrag des Goethe-Instituts. Dass es diesen Auftrag im Namen der Bundesrepublik Deutschland erfüllen kann, dafür schafft der
heutige Antrag die politischen Rahmenbedingungen.
Ich möchte allen, die an diesem Antrag so intensiv
mitgearbeitet haben, meinen herzlichen Dank aussprechen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Willkommen heute Nachmittag im Kammerspieltheater
zur Thematik des Goethe-Instituts!
Gestern haben wir ausführlich und grundsätzlich über
die Chancen und Herausforderungen diskutiert, die mit
der Aufgabe verbunden sind, kulturelle Vielfalt zu erhalten und allen Menschen zugänglich zu machen. Heute
befassen wir uns mit einem herausragenden konkreten
Beispiel dieser kulturellen Vielfalt, dem Goethe-Institut
oder besser: den Goethe-Instituten, 15 hierzulande,
129 im Ausland.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt, diese traditionsreiche Institution durch ein neues
Konzept zu stärken. Wir begrüßen diesen Antrag und
werden ihm auch zustimmen.
({0})
Wir finden, dass die Regierungsparteien gute Arbeit geleistet haben. Das ist ein Grund für die Opposition, dies
anzuerkennen.
Viele Forderungen im Antrag richten sich vor allem
an die Haushälter dieses Parlaments. In der Tat: Nach
gravierenden Sparmaßnahmen in den letzten Jahren und
notwendigen Reformen des Apparates wird es in Zukunft vor allem darum gehen, dem Institut zu helfen, die
neu definierten Aufgaben bewältigen zu können. Diese
Aufgaben tragen im Kern allerdings ein Zerreißpotenzial
in sich. Denn was alles verlangen wir vom Goethe-Institut? Einerseits, in Asien und im Nahen und im Mittleren
Osten verstärkt präsent zu sein; andererseits, sich weiterhin in den Weltregionen, zu denen es langjährige Verbindungen gibt - etwa Afrika und Lateinamerika -, zu engagieren. Dann verlangen wir vom Goethe-Institut auch
noch, Europa nicht zu vernachlässigen und Deutschland
nicht zu vergessen.
Gerade die Arbeit im Inland muss nun zügig neu
durchdacht und vor allem transparent gemacht werden.
Der Kollege Gauweiler hat darauf ausführlich hingewiesen, Stichwort „kulturelle Integrationsangebote für Zuwandererfamilien“, also Deutschkurse für Migrantinnen und Migranten. Die Schönheit der deutschen
Sprache, wie der Kollege von der FDP vorhin gesagt hat,
kann, soll und müsste nun auch einmal in Deutschland
aufleuchten. Da erwarten wir vom Goethe-Institut also
eine wirkliche Initiative. Ich finde, es ist viel Zeit vergangen, die nicht genutzt wurde.
Wenn man sich den ganzen Aufgabenkatalog vornimmt, drängt sich natürlich die Frage auf: Geht es hier
nicht um die Quadratur des Kreises? Dennoch: Die Arbeit muss geschultert werden. Die Alternative wäre nicht
zu akzeptieren.
Was die Inhalte der künftigen Struktur des Goethe-Instituts betrifft, erscheint mir eine Aufgabe noch besonders wichtig. Im Antrag heißt es:
Das Goethe-Institut wird die Entwicklung einer
Bürgergesellschaft und einer europäischen kulturellen Öffentlichkeit unterstützen …
Sehr einverstanden! Weiter heißt es:
… und sich an der Weiterentwicklung einer transatlantischen Wertegemeinschaft beteiligen.
Das wäre wahrlich des Schweißes der Edlen wert.
Eine Weiterentwicklung der transatlantischen Wertegemeinschaft muss jene neuen kritischen kulturellen und
politischen Kräfte in den USA einbeziehen, die die Zustände verändern wollen, die dort zurzeit herrschen und
die leider auch, von dort ausgehend, in so vielen Ländern
dieser Welt das Bild prägen. Gerade für diese Arbeit
wünschen wir dem Goethe-Institut Erfolg.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Uschi Eid für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einem guten Jahr ist das Goethe-Institut in die
Schlagzeilen geraten, nicht unbedingt durch eigenes Verschulden; das muss man dazusagen. Zum Beispiel
schreckte das finanzielle Defizit von 11 Millionen Euro
auf. Die angekündigten regionalen Schwerpunktverlegungen hin nach Asien und in die arabischen Staaten auf
Kosten der Arbeit in Europa provozierten Widerspruch
und lösten eine breite Debatte aus. Es war allerhöchste
Zeit, über die neuen Herausforderungen, vor allem über
finanzielle und konzeptionelle Konsequenzen ernsthaft
zu beraten.
Ich danke allen Beteiligten für das inzwischen vorliegende Reformkonzept. Der zuständige Unterausschuss
führte eine Anhörung mit Experten durch, und die Fraktionen zogen ihre Schlussfolgerungen aus den Beratungen. Aus Sicht meiner Fraktion, der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, sind für die Zukunft des
Goethe-Instituts folgende Punkte wichtig:
Erstens. Wenn es neue Goethe-Institute geben soll,
dann muss es dafür zusätzliches Geld geben.
({0})
Die Eröffnung von Instituten in neuen Weltregionen darf
auf keinen Fall zulasten der Kulturarbeit in Europa gehen.
({1})
Zweitens. Die aktuellen Spannungen in Europa, die
Verfassungs- und Vertrauenskrise, aber auch die Herausforderungen durch die Erweiterung der Europäischen
Union machen es vielmehr notwendig, die Kulturarbeit
innerhalb Europas zu intensivieren.
Drittens. Es gibt langfristig gewachsene Beziehungen
zu vielen - manchmal durchaus kleinen - Ländern in
Afrika und Lateinamerika. Auch bei der unbestrittenen
Notwendigkeit, die Kulturarbeit zum Beispiel in arabische und asiatische Regionen auszudehnen, dürfen diese
Länder keinesfalls vernachlässigt werden.
Viertens. Der Wertedialog mit unseren amerikanischen
Freunden scheint mir dringender denn je. Angesichts des
Auseinanderklaffens in der Beurteilung weltpolitischer
Herausforderungen oder auch gesellschaftlicher Entwicklungen - zum Beispiel des Vormarschs der Kreationisten ergibt sich dringend die Notwendigkeit, diesem Auseinanderdriften in grundlegenden Fragen etwas entgegenzusetzen und den transatlantischen Dialog zu intensivieren.
({2})
Fünftens. Das vorliegende Reformkonzept ist der Beginn eines Prozesses, der allen Beteiligten Kraft abverlangen wird. Auch das Goethe-Institut ist in der Pflicht,
die begonnenen Reformanstrengungen weiterzuführen.
Das heißt zum Beispiel, bei den eigenen Mitarbeitern
oder vor Ort für Akzeptanz zu sorgen, wenn es um institutionellen Umbau oder um andere Arbeitsformen geht.
Das gilt sowohl für die Auslandsinstitute wie für Goethe-Institute im Inland. Darauf gehe ich jetzt nicht näher
ein; das haben die Kollegen ja schon ausgeführt.
Wir wollen das Goethe-Institut in seinen Reformbemühungen unterstützen und dazu beitragen, dass diese in
den nächsten Jahren konsequent, aber auch transparent
umgesetzt werden, Herr Staatsminister. Dazu gehört es,
über den Stand der Umsetzung zu berichten, weitere Erfordernisse offen zu benennen und die geleistete Kulturarbeit zu evaluieren.
Sehr geehrte Damen und Herren, nachhaltige Kulturarbeit gehört zum Leitbild des Goethe-Instituts.
Denn Freunde in der Welt gewinnt man nicht durch
kurzatmige und spektakuläre Einzelevents - egal welcher Größenordnung. Deshalb sind das bestehende weltweite Kontakt- und Institutsnetz und die gewachsenen
Verbindungen zu Menschen in aller Welt die wichtigsten
und wertvollsten Ressourcen des Goethe-Instituts. Das
Netz muss fraglos an die gegenwärtigen Bedingungen
des globalen Kulturaustausches angepasst werden. Das
Institut muss sich mit anderen Kulturmittlern vor Ort
besser vernetzen und Synergien erzielen. Ziel ist es, das
Netz der Kulturbeziehungen so weit wie möglich zu erhalten und zeitgemäß zu erweitern, um vielen Menschen
Zugang zur deutschen Kultur und Sprache zu ermöglichen.
Frau Präsidentin, im Zuge der Beratungen des Koalitionsantrags haben beide Koalitionsparteien unsere Anregungen übernommen. Ich bedanke mich sehr. Das war
wirklich eine sehr produktive, konstruktive Zusammenarbeit, sodass es uns von Bündnis 90/Die Grünen heute
möglich ist, dem Koalitionsantrag zuzustimmen.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“, sagte - na ja, wer wohl? - natürlich Goethe. Er
hat Recht. Ich habe das sehr plastisch erlebt, als wir das
Goethe-Institut in Afghanistan vor fast vier Jahren eröffnet haben. Damals hat ein bayerischer Zitherspieler gemeinsam mit afghanischen Musikern auf traditionellen
Instrumenten, die sie sechs Jahre lang nicht auspacken
durften, musiziert. Das mitzubekommen war sehr bewegend. Denn sie konnten nicht miteinander sprechen, aber
miteinander musizieren. Und obwohl die Stadt im Aufbau war und obwohl die Leute andere Sorgen hatten, war
das Goethe-Institut voll.
Das zeigt uns, dass das Goethe-Institut eben nicht nur,
wie oft behauptet wird, elitäre Kreise anspricht, sondern
auch Menschen im Alltag. Jährlich sind das weltweit
13 Millionen Menschen und inzwischen zusätzlich
8 Millionen über das Internet. Damit ist das Goethe-Institut die größte Mittlerorganisation in der auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik.
Ich freue mich, dass wir es - dank unseres Außenministers, Frank Walter Steinmeier, aber auch dank der gemeinsamen Kraft des Haushaltsausschusses, der verschiedenen Ausschüsse für Außenpolitik und Kultur und
Medien und des Unterausschusses „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ - geschafft haben, in diesem Jahr
mehr Geld für die Goethe-Institute auf den Weg zu bringen und, was mir noch wichtiger ist, die Budgetierung
ab 2008 endlich zu verankern. Wir fordern das schon seit
fast zehn Jahren. Lothar Mark und ich haben schon im
Jahre 1998 einen solchen Antrag eingebracht. Jetzt ist es
endlich so weit: Die Budgetierung kommt. In diesen
Wochen werden die entsprechenden Zielvereinbarungen
formuliert.
Aber ein bisschen fehlt noch - das ist ein Auftrag an
die Regierung -: Es müssen ein flexibler Stellenplan und
ein modernes Liegenschaftsmanagement her; denn wenn
mit diesem Geld nicht frei operiert werden kann, nützt
die Budgetierung nichts. Das konnten wir gerade erst am
Beispiel der neuen Institute beobachten. Dort fehlte der
Stellenplan. Deswegen konnten dort, obwohl das Geld
da ist, bisher keine Leute eingestellt werden. Hier muss
noch nachgearbeitet werden.
({0})
Im Hinblick auf die Umsetzung des Neukonzeptes
möchte ich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Goethe-Instituts meinen Dank aussprechen. Sie haben aufgrund der Neustrukturierung harte Arbeit hinter
sich, aber auch noch vor sich; denn überall ist eine Überprüfung des Vorgehens erforderlich.
Das Personal in der Zentrale wird um 70 Stellen reduziert. Einzelne Standorte werden evaluiert. Es wird geprüft, wie die Präsenzform geändert werden muss. Es
werden zwar keine Institute geschlossen, aber unter Umständen ändert sich die Präsenzform. Das heißt, das eine
Mal gibt es einen Lesesaal, ein anderes Mal ein Infozentrum oder ein Vollinstitut, oder es werden Sprachkurse
angeboten. Viel Neuorganisation ist zu bewältigen. Für
die große Mühe und das Engagement, mit dem im Moment sehr viel auf die Beine gestellt wird, bedanke ich
mich herzlich.
({1})
Wichtig ist: Wir wollen vor Ort immer jeweils einen
Raum und Mitarbeiter behalten. Alle Redner haben da8078
rauf hingewiesen, dass auf europäischer Ebene und im
transatlantischen Verhältnis mehr geschehen muss. In
dieser Hinsicht war die Schließung sicherlich ein Fehler.
Auch in Indien kam es schon im Jahre 1996 zur Schließung von Goethe-Instituten, zum Beispiel in Hyderabad,
was nicht besonders klug war. Ich möchte ganz deutlich
sagen: Das ist nicht unter Rot-Grün geschehen, sondern
dafür waren Sie von der FDP verantwortlich. Aber das
ist jetzt egal. Heute haben wir alle erkannt, dass wir an
dieser Stelle weitermachen müssen. Ich sage nur: Jeder
hat sein Scherflein beizutragen.
In diesem Jahr werden neue Präsenzformen entstehen: vier in Indien, acht in China und 13 bis 14 in der islamischen Welt.
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Projektmittel.
Auch hier müssen wir, wie ich glaube, nacharbeiten. Die
institutionellen Projekte wurden auf den Weg gebracht.
In Mittelostafrika gibt es neben dem Institut in Addis
Abeba nur das Institut in Nairobi. Dafür stehen pro Jahr
Projektmittel in Höhe von insgesamt 43 600 Euro zur
Verfügung. Von diesem Betrag werden allerdings auch
noch die Spracharbeit und die Anschaffungen für die Bibliothek bezahlt. Hier müssen wir mehr tun.
({2})
Wichtig ist mir - auch das ist ein Auftrag an das Auswärtige Amt -: Wenn wir den kulturellen Dialog, der zur
Kernkompetenz des Goethe-Instituts gehört, organisieren, dann müssen wir dafür sorgen, dass im Rahmen der
Zielvereinbarungen keine Einzelzuweisungen für Projekte erfolgen, sondern dass die kulturelle Eigenständigkeit der Goethe-Institute - die eine große Stärke ist erhalten bleibt.
({3})
Ich freue mich auf die weitere fraktionsübergreifende
Zusammenarbeit im Unterausschuss. Wir diskutieren
konstruktiv und begleiten das Auswärtige Amt in einem
ordentlichen Dialog. Ich glaube, die Arbeit, die wir tun,
ist gut. Das Goethe-Institut kann sich also von uns unterstützt fühlen. Wir werden uns im Zusammenhang mit
den Berichten und, wenn die Zielvereinbarungen abgeschlossen sind, noch einmal im Einzelnen informieren.
Ich hoffe auf ein weiterhin gutes Gelingen, auch gemeinsam im zuständigen Ausschuss.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/4132 zum Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
Titel „Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3502 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Steuervereinfachung - Lohnsteuerklassen III,
IV und V abschaffen
- Drucksache 16/3023 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt werden zu
Protokoll gegeben. Es sind dies die Reden der Kollegin
Patricia Lips von der Unionsfraktion, der Kollegin
Gabriele Frechen von der SPD-Fraktion, des Kollegen
Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion, der Kollegin
Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke und der
Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}),
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein Turkmenistan mit Zukunft
- Drucksache 16/4049 -
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Das
sind im Einzelnen die Beiträge des Kollegen Haibach
aus der Unionsfraktion, der Kollegin Wegener aus der
SPD-Fraktion, des Kollegen Müller-Sönksen aus der
FDP-Fraktion, des Kollegen Gehrcke aus der Fraktion
Die Linke und der Kollegin Marieluise Beck aus der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.2)
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf der
Drucksache 16/4049 mit dem Titel „Für ein Turkmenis-
tan mit Zukunft“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die-
ser Antrag mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
1) Anlage 10
2) Anlage 11
Vizepräsidentin Petra Pau
Stimmen der Antragsteller und der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 sowie den Zusatzpunkt 13 auf:
33 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Für eine demokratische, freiheitliche, soziale
und Frieden sichernde Verfassung der Europäischen Union
- Drucksache 16/3402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der
EU im 21. Jahrhundert
- Drucksache 16/4171 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir nehmen die Reden des Kollegen Thul aus der
Unionsfraktion, des Kollegen Roth aus der SPD-Frak-
tion, des Kollegen Löning aus der FDP-Fraktion, des
Kollegen Ulrich aus der Fraktion Die Linke und des Kol-
legen Steenblock aus der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3402 und 16/4171 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Erneute Verschiebung der Reform der Pflege-
versicherung - Auswirkungen auf die Pflege-
bedürftigen und ihre Angehörigen
Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Scharfenberg für die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen das Wort.
1) Anlage 12
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Hohen Haus werden
sehr gerne Zitate benutzt. Wir haben das in den letzten
Stunden gemerkt. Ich möchte das heute auch tun, aber
ich möchte hier keinen Dichter und Denker zu Wort
kommen lassen, sondern ganz einfach die Stimme des
Volkes.
Ich beziehe mich damit nicht auf die Debatte zur Gesundheitsreform, die wir heute geführt haben. Das hatte
mit der Stimme des Volkes nichts mehr zu tun. Das war
eher der Schlachtruf der Großen Koalition.
({0})
Mit der Stimme des Volkes meine ich ganz einfach einen
Nachbarn von mir, den ich heute früh im Treppenhaus
getroffen habe. Er fragte mich: Was steht denn heute auf
der Tagesordnung? Als ich ihm das gesagt hatte, sagte er
ganz einfach zu mir: Setzen Sie sich für das Wohl der
Menschen ein. - Das war eine ganz klare Ansage und
eine berechtigte Forderung, und das ist auch unsere Aufgabe.
Deshalb ist eine erneute Verschiebung der Reform der
Pflegeversicherung ganz einfach und ganz klar ein gesellschaftspolitischer Skandal.
({1})
Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die dringend auf
diese Reform angewiesen sind: ein Schlag ins Gesicht
von über 2 Millionen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen und ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte,
ob sie professionell oder ehrenamtlich tätig sind. Meine
sehr verehrten Damen und Herren von der Großen Koalition, diese Menschen lassen Sie einfach im Regen stehen.
Wie wichtig dieser Regierung das Thema Pflege ist,
sehen wir ja an dieser Aktuellen Stunde. Sie ist im
wahrsten Sinne des Wortes das Letzte. Das ist nämlich
das letzte Thema, über das wir in dieser Sitzungswoche
fernab von jedem öffentlichen Interesse debattieren. So
also sieht Ihr ungeheures Engagement für die Pflege aus,
das Sie ja fortwährend sehr betroffen und mit sehr blumigen Worten beteuern.
Fakt ist aber: Das nimmt Ihnen keiner mehr ab. Fakt
ist: Sie kriegen diese Reform nicht auf die Reihe, nicht
in diesem Jahr und auch nicht im nächsten Jahr. Fakt ist:
Die Pflege sitzt bei dieser Koalition am Katzentisch.
({2})
Aber die Horrorszenarien eines Aufstands der Alten
flimmern durch die Wohnzimmer dieser Nation, und Sie
reden an dem Problem völlig vorbei und ignorieren die
Ängste der Menschen. Wie bei der Gesundheitsreform
verheddern Sie sich schon wieder in albernen Finanzdebatten. Das möchte kein Mensch mehr hören.
({3})
Es geht bei dieser Reform um nicht weniger als um
ein menschenwürdiges Leben - und das auch im Pflegefall. Wir alle wissen ganz genau: In diesem Land ist für
viele Pflegebedürftige die Wahrung der Menschenwürde
keine Selbstverständlichkeit. - Das ist der Grund dafür,
dass wir alle unruhig auch auf unsere eigene Zukunft im
Alter sehen. Bei Umfragen geben 30 Prozent aller Befragten an - meine Kollegin Frau Haßelmann hat es vorhin schon angeführt -, dass sie im Pflegefall lieber den
Freitod wählen würden. Diese Antwort sollte doch wirklich ausreichen.
Die Pflegebedürftigen, die völlig überlasteten Angehörigen und die Pflegekräfte brauchen jetzt das Signal
dieser Regierung, dass sie etwas für die Menschen tun
will, und zwar schnell. Aber nein! Nun hört man, es
müsse noch ganz viel besprochen werden, zum Beispiel,
ob die Dynamisierung der Pflegeleistungen nicht doch
zu teuer sei. Da bin ich wirklich fassungslos.
Dann hört man, die Pflegeversicherung habe außerdem 2006 einen Überschuss erzielt; deswegen sei der
Zeitdruck nicht mehr so groß. Offensichtlich hat sich für
Sie jeglicher Druck in Luft aufgelöst.
Dann hört man, dass Sie, Frau Ministerin, ganz eng
mit Frau von der Leyen oder Herrn Seehofer zusammenarbeiten wollen. Mit Herrn Seehofer? Als bayerische
Abgeordnete kann ich Ihnen versichern, dass Herr
Seehofer derzeit ganz andere, nämlich bayerische Probleme löst. Ich finde es schön, wenn die Ressorts sich
absprechen. Aber was, bitte, soll dabei herauskommen,
was wir nicht schon wissen?
Wir alle - ich betone: wir alle - haben über die Jahre
nun wirklich zur Genüge geredet und getagt und nichts
unternommen. Ich nenne nur den „Runden Tisch Pflege“
oder den Beirat zur Reform des Pflegebegriffs. Der wird
vor Ende 2008 aber nicht zu Potte kommen. Es gibt
nichts mehr zu reden. Es gibt kein Erkenntnisproblem
mehr. Es gibt zig gute Beispiele dafür, wie gute Pflege
transparent und nutzerorientiert funktionieren kann. Es
gibt leider auch zig Beispiele dafür, wie schlechte Pflege
aussieht. Sie müssen sich jetzt an die Umsetzung der
vorhandenen Erkenntnisse machen. Wir Grünen empfehlen Ihnen dazu unser Eckpunktepapier. Wir nennen im
Gegensatz zu Ihnen Ross und Reiter.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen: Wenn Sie meinen, Sie könnten sich auch ohne Pflegereform bis zu den nächsten Wahlen schummeln, dann
könnten Sie durchaus recht haben. Sie verspielen damit
aber den letzten Rest Vertrauen der Menschen in diese
Koalition. Das ist mir, ehrlich gesagt, gleichgültig. Was
mir aber nicht gleichgültig ist, ist Ihr Signal an uns alle:
Menschenwürdige Pflege ist ein Ziel zweiter, dritter,
vielleicht sogar vierter Klasse. Damit setzen Sie die Bereitschaft der Menschen aufs Spiel, sich als Gesellschaft
für eine menschenwürdige Pflege verantwortlich zu fühlen und sich dafür zu engagieren. Das, meine Damen und
Herren, geht wirklich uns alle an.
Danke.
({4})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Willi
Zylajew.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 war zweifelsfrei ein Meilenstein der deutschen Sozialpolitik. Wir haben es seinerzeit erreichen
können, dass die Pflegeleistungen nicht mehr nach
Haushaltslage auf kommunaler Ebene gewährt werden,
sondern dass in der Versorgungsschiene Verlässlichkeit
eingekehrt ist.
Wir haben für Berechenbarkeit für ältere Menschen,
für ihre Familien, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Bereich und für die Träger gesorgt. Dieser
Fortschritt ist untrennbar mit der CDU/CSU-Fraktion
und dem Namen Norbert Blüm verbunden. Diese Pflegeversicherung hat sich über Jahre bewährt. Wir haben
qualitativ und quantitativ Hervorragendes erreicht.
({0})
Natürlich wäre es nötig gewesen, nach 1998 eine
Fortentwicklung in der Pflege zu erreichen. Das war die
Phase, verehrte Kollegin Scharfenberg, als die Grünen in
der Regierung waren. Da ist aber nichts passiert: Rückbau der Bürokratie - nichts; keinen einzigen Handschlag
haben Sie da gemacht. Optimierung des Fachkräfteanteils, Steigerung des Ansehens der Pflegeberufe, mehr
Hilfe für Alte und Schwache - von den Grünen kam
nichts, überhaupt nichts.
({1})
Es ist irrsinnig, was Sie jetzt alles fordern. Ausbau von
teilstationären Angeboten, Kurzzeitpflege, unbürokratische Verzahnung von ambulant und stationär - 1998
bis 2005 nichts.
Wir haben uns im Büro einmal die Mühe gemacht,
zusammenzutragen, was es aus der CDU/CSU-Fraktion
an Fragen gegeben hat und was von Ihnen an Antworten
kam. Ich nenne Ihnen wegen der Kürze der Zeit nur
Stichworte. Da hört man nichts von Dichtern und Denkern, sondern allerhöchstens von Ablenkern.
({2})
Die Kollegin Nickels hat am 30. November 1998 erklärt: Alles in Ordnung; wir prüfen entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998, aber die
Prüfung ist noch nicht abgeschlossen.
Im folgenden Jahr, am 14. Juli 1999, war die Antwort
der Frau Nickels wieder: Im Grunde genommen alles in
Ordnung; das entwickelt sich prächtig, da haben wir
nichts zu tun.
Dann der Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/
Die Grünen, am 9. September 1999:
Ich bin auch sicher, daß die finanzielle Basis der
Pflegeversicherung nach wie vor auf einem derart
hohen Niveau ist, daß wir eine dauerhafte Sicherung
der Pflege in Deutschland garantieren können …
Am 27. Januar 2000 sagen Sie in einer von der CDU/
CSU-Fraktion beantragten Aktuellen Stunde:
Herr Zöller, Sie werfen der Bundesregierung vor,
dass die im Koalitionsvertrag angestrebte Verbesserung der Situation der Dementen nicht eingetreten
sei. Wir arbeiten intensiv daran …
({3})
- Ja, aber nichts geschafft, gar nichts!
({4})
Und jetzt, nach Jahren, seid ihr plötzlich so klug und
habt Ideen.
({5})
Kollegin, schauen Sie in die Drucksache 14/3592 wieder nur: Haben wir nicht. Das geht so weit, dass Sie
sagen, die Finanzierung sei bis 2006 gesichert. Gott sei
Dank waren Sie 2006 nicht mehr an der Regierung.
({6})
Aber es ist ein Stück, das ins Tollhaus passt, was Sie hier
geliefert haben.
({7})
- Kollege Bahr, ich bedanke mich; Sie sind ein verlässlicher Zwischenrufer.
Wir packen das jetzt an und verbessern die Qualität
der Pflege eindeutig. Das wird der Kollege Hermann
Scharf noch ausführen. Aber zunächst einmal haben wir
die Verpflichtung, eine Reserve für die Zeit aufzubauen,
die in 20 Jahren beginnt, in der wir sehr viel weniger
Beitragszahler und sehr viele Pflegebedürftige haben
werden. Davon werden Sie uns nicht abbringen.
({8})
1998 haben wir Ihnen eine Pflegeversicherung übergeben, die finanziell solide war. Sie können sicher sein
- Sie haben ja Gott sei Dank nichts kaputt gemacht; Sie
haben nichts vernünftiger, aber auch nichts schlechter
gemacht -, dass wir dafür sorgen werden, dass sie nun so
reformiert wird, dass wir mit Blick auf die demografische Entwicklung eine ordentliche personenbezogene
Reserve ansparen und aufbauen. Das ist das alles Entscheidende. Außerdem wird es inhaltliche Verbesserungen geben. Da sind wir im Unterschied zu Ihnen absolut
verlässlich und gut.
({9})
Das Wort hat der Kollege Lanfermann für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht
ein wenig nach dem Motto „Nach dem Murks ist vor
dem Murks.“ Heute Morgen haben Sie die Gesundheitsreform durchs Parlament gebracht, und jetzt treffen wir
uns in einem überschaubaren Kreis, um über die Reform
der Pflegeversicherung zu sprechen.
Das Ganze hat mit der Koalitionsvereinbarung angefangen, in der sehr viele Versprechen enthalten sind. Die
ersten Versprechen hat Frau Caspers-Merk wieder eingesammelt, indem sie sagt, nur mit höheren Beiträgen sei
eine Dynamisierung möglich. Da man davor aber Angst
hat, kann man also eine Dynamisierung vergessen. Dabei sind die Leistungen mittlerweile schon 13 Prozent
weniger wert als beim Start der Pflegeversicherung, weil
man bislang keine Dynamisierung vorgenommen hat.
Das ist eine der Schwächen des Systems, das Herr Blüm
damals erfunden hat und auf das Sie immer noch stolz
sind.
Den Zeitplan können Sie auch nicht mehr einhalten.
Denn im Koalitionsvertrag stand, ein entsprechender
Gesetzentwurf solle Mitte 2006 vorliegen. Das hören Sie
nicht mehr so gerne. Dann hieß es, ein Gesetzentwurf
würde nach der Gesundheitsreform vorgelegt. Das wäre
jetzt der Fall. Sie haben zwar einige Vorschläge in den
Schubladen liegen. Aber Sie trauen sich nicht, sie hervorzuziehen. Es gibt immer zwei Papiere. Das eine Papier ist für die eine Hälfte und das andere für die andere
Hälfte dieses Hauses.
Die mutigen Worte hinsichtlich der Kapitalreserve,
die Herr Zylajew hier gefunden hat, werden wir Ihnen in
den nächsten zwei Jahren noch oft genug vorhalten. Mittlerweile wissen wir, dass die Vorlage eines Gesetzentwurfs andauernd verschoben wird. Frau Caspers-Merk,
die dafür zuständig ist, solche Wahrheiten langsam unter
das Volk zu bringen - die Ministerin wird nachher noch
sprechen und uns kompetent Auskunft geben -, hat gesagt, es werde jetzt doch April oder Juli 2008. Angesichts
der Landtagswahlen, die vorher und nachher stattfinden,
und angesichts der Tatsache, dass es allerspätestens im
September 2009 Bundestagswahlen gibt, bin ich bereit,
Wetten anzunehmen, dass Sie keine Reform zustande
bringen. Darüber können wir uns noch gerne unterhalten.
Tatsächlich ist es so, dass es keine Einigung geben
kann, wenn beide Seiten der Koalition auch nur halbwegs bei dem bleiben, was sie mittlerweile der Bevölkerung versprochen haben. Frau Ferner und andere sagen
für die SPD, sie wollen die Bürgerversicherung - sprich:
Abkassieren bei allem, was die Bürger an Einnahmen
und Vermögen haben -, um damit die Pflegeversicherung zu bezahlen. Eine Reserve in nennenswerter Größenordnung, ob sie nun Demografiereserve oder Kapitalrückstellung heißt, wollen sie praktisch nicht.
Die CDU/CSU hat, wenn ich das einmal so locker sagen darf, mittlerweile die Backen doch kräftig aufgeblasen. Herr Laumann, der in Nordrhein-Westfalen für diesen Bereich zuständige Minister, hat dies bei einer
Veranstaltung des BPA am Montag getan. Einige von
uns waren dort zugegen. Er hat gesagt, ohne eine anständige Kapitaldeckung und ohne eine Rücklage mit Blick
auf die jungen Menschen, um die es hauptsächlich geht,
wird es mit der Union eine Reform der Pflegeversicherung nicht geben. Das haben wir gehört, notiert und auf
Wiedervorlage gelegt.
Tatsächlich ist es so, dass das, was wir bei der Gesundheitsreform erlebt haben, sich natürlich wiederholen
wird. Wir werden uns in vielen Diskussionsrunden wiederfinden und werden immer wieder hören, was die beiden Seiten wollen. Aber sie werden nicht zusammenkommen. Während dieser Zeit steigen aber die Kosten
und die Eigenbeteiligungen weiter.
Ich zitiere jetzt aus der Pflegestatistik 2005 des Statistischen Bundesamtes. Ein Pflegeplatz in der Pflegestufe 3 kostet im Durchschnitt 2 128 Euro. Davon zahlt
die Pflegeversicherung 1 432 Euro. Bleiben also knapp
700 Euro Eigenbeteiligung übrig. Hinzu kommen Unterkunfts- und Verpflegungskosten in Höhe von knapp
580 Euro. So kommt man auf über 1 270 Euro Eigenbeteiligung im Monat. Diesen Betrag können viele natürlich nicht aufbringen. Dann sind es die Angehörigen
oder die Sozialkasse, die zahlen. Diese Ausgaben steigen. Je länger man wartet, desto länger schiebt man das
Problem vor sich her.
All die sachlichen Probleme, Frau Kollegin
Scharfenberg, die Sie immer anführen, sind drängend.
Jeder möchte etwas zur Lösung beitragen. Ich möchte in
diesem Zusammenhang daran erinnern, dass das Vorhaben, Demenzkranken zu helfen, von der Koalition zu Beginn ihrer Arbeit in den Vordergrund gestellt wurde. Davon ist jetzt auch nicht mehr so viel die Rede. Denn das
kostet noch einmal extra. Sie sind nicht in der Lage, das
System zukunftssicher zu machen und dafür zu sorgen,
dass wenigstens die Kosten, die jetzt anfallen, in der Zukunft bezahlt werden können. Erst recht sind Sie nicht in
der Lage, den demografischen Wandel zu begleiten. Sie
wissen genau, dass der Beitragssatz der Pflegeversicherung in den nächsten Jahrzehnten auf mindestens 4 bzw.
an die 5 Prozent steigen wird, wenn man nichts tut. Das
will natürlich niemand. Aber wenn das so ist, dann müssen Sie endlich auch einmal springen und sagen: Jawohl,
wir schaffen jetzt ein zukunftssicheres System, indem
wir ein Prämiensystem einführen; denn nur damit können Sie eine Kapitalrückstellung bilden,
({0})
die die Probleme der Zukunft löst.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Margrit Spielmann für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP sagt uns heute schon den ganzen Vormittag,
was nicht geht und was schlecht ist. Aber ich habe nicht
einen einzigen Hinweis - auch nicht von Ihnen, Herr
Lanfermann - zu einem Konzept gehört, wie man es besser machen kann.
({0})
Wir haben immer gesagt - daran besteht kein Zweifel,
Frau Scharfenberg -: Die Pflegereform folgt der Gesundheitsreform. Daran halten wir uns auch. Aufgrund
unserer älter werdenden Gesellschaft ist die Reform der
Pflegeversicherung in der Tat eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der nächsten
Jahre. Dieser werden wir uns stellen. Die Ministerin hat
darauf in all ihren Gesprächen, die sie geführt hat, immer
wieder hingewiesen; ich denke, sie wird es nachher auch
wieder tun. Wir sollten uns dieser Problematik aber mit
der notwendigen Sorgfalt und ohne Hektik stellen; denn
eine über das Knie gebrochene Reform schadet den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen mehr, als dass sie
nützt.
Frau Scharfenberg, Sie beklagen, bei der SPD sei
nichts über Strukturen und Konzepte zu hören. Das wundert mich schon sehr. Wir haben in der letzten Legislaturperiode - auch damals war ich für die Pflege verantwortlich - mit Ihrer damaligen Kollegin gemeinsame
Konzepte hinsichtlich der Pflege entwickelt, sehr viele
Ziele formuliert und diese auch umgesetzt. Ich denke,
ich sollte sie Ihnen noch einmal kurz erläutern.
Wir haben zum Beispiel den Grundsatz „Ambulant
vor stationär“ als einen ganz wichtigen in allen unseren
Dokumenten aufgenommen. Heute Morgen haben wir
mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in Form der
integrierten Versorgung eine bessere Zusammenarbeit
zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung sowie zwischen Pflegekräften und Hausärzten beschlossen. Außerdem haben wir einen Leistungsanspruch für
Ältere und Pflegebedürftige auf geriatrische Rehabilitation geschaffen. Dies ist übrigens wichtig, um diesen
Grundsatz zu verwirklichen.
Um diesen Grundsatz aber auch mit den entsprechenden Menschen, mit Pflegerinnen und Pflegern, auszufüllen, spielt die Pflegeausbildung eine wichtige Rolle. Wir
haben - übrigens mit Ihnen gemeinsam - diese Pflegeausbildung weiterentwickelt. Die Finanzierung, die vakant war, haben wir heute übrigens auch beschlossen.
Auch der Pflegebedürftigkeitsbegriff war Gegenstand
unserer und Ihrer Überlegungen. Wir sind uns sicher, dass
wir diesen Pflegebedürftigkeitsbegriff unbedingt ändern
müssen. Er ist zu sehr am Somatischen, am Körper orientiert.
({1})
Menschen, die an Demenz erkranken oder geistig behindert sind, oder Menschen mit psychischen Erkrankungen
müssen anders betreut werden. Wir wollen einen Pflegebegriff, der auch aktuelle Erkenntnisse der Pflegewissenschaft berücksichtigt, der von einer Assistenz und Begleitung ausgeht und die Menschen aktiviert. Damit
diese Ziele umgesetzt werden, hat das Bundesministerium für Gesundheit, wie Sie wissen, einen Beirat eingeDr. Margrit Spielmann
setzt, der ein neues Begutachtungsverfahren entwickeln
soll.
Wir fördern darüber hinaus ein professionelles Pflegemanagement. Wir wollen, dass die Menschen nicht
ohne Perspektive auf eine Anschlussbehandlung aus
dem Krankenhaus entlassen werden. Bei vielen ist damit
der Weg in das Pflegeheim vorprogrammiert. Wir fordern deshalb das Entlassungsmanagement.
Wir wollen eine bessere Zusammenarbeit - ich sagte
es schon - von Ärzten und Therapeuten mit den Pflegeheimen. Wir wollen eine Verzahnung zwischen RehaEinrichtungen und Pflegeheimen sowie eine stärkere
Einbindung ehrenamtlich Helfender in vorhandene Versorgungsstrukturen.
Ich habe nun versucht, das Ganze in fünf Minuten
darzustellen. Ich verstehe die gesamte Aufregung und
Diskussion nicht. Wir sollten nicht nur draufschlagen,
sondern mit gemeinsamen Konzepten an dem weiterarbeiten, was wir in den letzten sieben Jahren, also in den
letzten beiden Wahlperioden, miteinander vereinbart haben.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ilja
Seifert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Betroffene an den Fernsehschirmen und auf
den Tribünen! Wenn man sich ansieht, welche Reformen
von dieser Koalition schon verzapft wurden - die
Arbeitsmarktreform und heute Vormittag die Gesundheitsreform -, könnte man fast froh sein, wenn die
Pflegereform verschoben wird.
({0})
Bedauerlicherweise geht das aber am Leben vorbei. Es
ist nämlich notwendig, dass das, was an Pflege zurzeit
finanziert wird, reformiert wird. Es muss uns klar sein,
dass das weit über die Pflegeversicherung hinausgeht.
Deshalb möchte ich heute nun drei Punkte nennen,
die sofort, noch heute, geändert werden könnten. Ich
möchte erstens etwas über die Situation derjenigen
sagen, die die assistierende Pflege brauchen, zweitens
etwas zur Situation derjenigen, die die pflegende Assistenz
leisten, und drittens zur Situation der Betroffenen, die sie
selbst bezahlen könnten.
Zu den Betroffenen, die die assistierende Pflege brauchen: Wenn wir nicht endlich einen teilhabeorientierten
Pflegebegriff einführen, dann kommen wir nie voran.
Liebe Kollegin Spielmann, wir brauchen keinen Pflegebedürftigkeitsbegriff, sondern einen Pflegebegriff, der
sich von der Somatik entfernt, der die Aktivierung und
die Teilhabeorientierung bringt.
({1})
Liebe Frau Ministerin, im Dezember vorigen Jahres
ist Ihnen von Ihrer Behindertenbeauftragten ein hervorragendes Konzept für teilhabeorientierte Pflege überreicht worden. Was haben Sie bei der Überreichung
gesagt? Prima, was ihr hier aufgeschrieben habt. Wir
machen es aber genau andersherum. - In dem Papier
steht: Wir brauchen einen vernünftigen Pflegebegriff.
Von diesem Pflegebegriff ausgehend müssen entsprechende
Maßnahmen abgeleitet werden. - Sie haben gesagt: Wir
machen es umgedreht. Wir werden jetzt erst einmal ein
paar Maßnahmen beschließen. Anschließend, ganz am
Ende, ändern wir den Pflegebegriff. - Das ist ein absolut
verkehrtes Herangehen. Es ist aber eine gute Methode,
wenn man verhindern will, dass endlich fortschrittliches,
teilhabeorientiertes Pflegen, ein assistierendes Begleiten
beginnt.
Zweiter Punkt: die Betroffenen, die die pflegende
Assistenz leisten sollen. Warum entwerfen wir kein
Berufsbild der Alltagsassistentin, des Alltagsassistenten?
Damit kämen wir von der Gesundheitsorientierung weg.
Die assistierende Pflege oder pflegende Assistenz muss
nicht von Krankenpflegern geleistet werden. Wir brauchen
vielmehr Menschen, die sozial ausgebildet und teilhabeorientiert sind, die wissen, dass man sich an den
Menschen orientieren muss, die die Pflege und die
Assistenz brauchen, dass deren Wünsche erfüllt werden
müssen und dass es nicht darum geht, die Wünsche
irgendwelcher Institutionen zu erfüllen oder sich an
Dienstpläne zu halten. Lassen Sie uns dieses Berufsbild,
das bereits angedacht ist, entwickeln und umsetzen! Lassen Sie uns zum Beispiel Menschen, die arbeitslos sind,
in dieser Richtung ausbilden! Die machen das gerne.
({2})
Dritter Punkt. Lassen Sie uns von den Parolen wegkommen. Wenn ich die Losung „Ambulant vor stationär“
höre, dreht sich mir inzwischen der Magen um. Sie
bauen fröhlich neue Pflegeheime. Machen Sie doch etwas
anderes: Nehmen Sie die Aktion „Daheim statt Heim“!
Bauen Sie keine neuen Heime mehr! Lassen Sie die
Leute gut betreut zu Hause, damit sie selbst bei einem
hohen pflegerischen Aufwand zu Hause leben können!
Die Aktion „Daheim statt Heim“ wird von Ihrer Kollegin
Silvia Schmidt besonders gefördert. Unterstützen Sie
Ihre Kollegin! Ich habe kein Problem damit, jemanden
aus der SPD zu unterstützen, wenn sie etwas Vernünftiges
macht.
({3})
Das Gleiche betrifft die tolle Losung „Reha statt
Pflege“. Ich habe sie heute x-mal gehört. Da kriege ich
das Kichern. Diese Losung höre ich seit 17 Jahren. Es
ändert sich aber nichts. Wir brauchen „Reha plus Pflege“
oder „Reha bei Pflege“. Auch pflegebedürftige Menschen
müssen einen Anspruch auf eine vernünftige RehaMaßnahme haben, und zwar regelmäßig, mindestens alle
zwei Jahre für vier Wochen. Das ist aber nicht drin. Dennoch brauchen wir das und nicht solche Parolen.
({4})
Zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte: Wovon
soll es denn bezahlt werden? Herr Zylajew möchte gerne
einen Kapitalstock aufbauen. Das ist ja toll. Ich freue
mich schon darauf, wenn dann mit der Pflege an der
Börse spekuliert wird. Ich mache Ihnen einen anderen
Vorschlag: Schließen Sie die private Pflegeversicherung!
Geben Sie denjenigen, die dort bereits Ansprüche erworben
haben, einen Bestandschutz aus den 12,5 Milliarden
Euro Rücklagen, die es gibt! Davon können Sie alle
Ansprüche der dort Versicherten ihr Leben lang sehr gut
bedienen. Schließen Sie die private Pflegeversicherung,
und überführen Sie alle, die jetzt dort versichert sind, in
die gesetzliche Pflegeversicherung! Dann würden Sie
jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr einnehmen, als Sie
ausgeben. Das sagt die private Pflegeversicherung
selbst. Sie nimmt jedes Jahr 2 Milliarden Euro ein und
gibt nur 500 Millionen Euro aus. Dort gibt es schon jetzt
eine richtige Reserve. Nutzen Sie das! Machen Sie es!
Dann brauchen wir nicht darüber zu reden, ob Demente
einbezogen werden oder nicht. Dann ist ein bisschen
Geld da.
Wenn wir dann noch davon wegkommen, eine Teilkaskoversicherung zu machen, sondern den ganzen Menschen sehen, dann haben wir wirklich etwas erreicht.
Fassen Sie es an! Machen Sie das, was gleich möglich
ist, sofort, und das andere lassen Sie uns in Ruhe gemeinsam mit den Betroffenen machen und nicht gegen sie!
Danke schön.
({5})
- Das ist aber nicht meine Klientel.
Für die Unionsfraktion hat das Wort der Kollege
Hermann-Josef Scharf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der demografische Wandel unserer Gesellschaft hat nun auch das
öffentlich-rechtliche Fernsehen erreicht. Der Dreiteiler
„2030 - Aufstand der Alten“ hat eine breite und vielschichtige Debatte ausgelöst. Dass wir und mit uns
unsere Gesellschaft immer älter werden, ist heute so gut
wie bewiesen. Aber wie wir diesen Prozess gestalten und
ob wir ihn auch als Chance verstehen, können wir selbst
entscheiden und dann die nötigen Weichen stellen.
({0})
Darum wird es bei der anstehenden Pflegereform gehen,
die wir als Große Koalition umsetzen werden. Wir
werden die finanzielle Belastung der Pflegeversicherung
auf breitere Schultern stellen. Im Jahr 2030 wird einem
Rentner nur noch ein Erwerbstätiger gegenüberstehen.
Das ist keine Schwarzmalerei, die in dieser Debatte völlig
fehl am Platze wäre, sondern das sind die nüchternen
Fakten. Deshalb muss die rein umlagefinanzierte Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte private Zusatzversicherung ergänzt werden.
({1})
Wir als Union schlagen ein Modell vor, das einen monatlichen Beitrag unabhängig vom Einkommen vorsieht.
Die immer kleiner werdenden Generationen unserer
Nachkommen können die steigenden Versicherungsleistungen nicht mehr uneingeschränkt finanzieren. Die
Zahl der Pflegebedürftigen wird mit der steigenden
Lebenserwartung wachsen wie auch die qualitativen
Ansprüche an die Pflege selbst. Deshalb muss es bei
der Pflegereform zusammen mit dem Aufbau einer
nachhaltigen Finanzierungsgrundlage auch um eine
Neuausrichtung im Leistungsbereich gehen.
Die Gesundheitsreform, die wir heute Morgen verabschiedet haben, hat bereits viele Aspekte aufgegriffen,
die den pflegebedürftigen Menschen in unserem Land
helfen werden. Ich nenne hier nur: Reha vor Pflege, die
Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung,
den Leistungsanspruch auf Palliativversorgung oder den
künftigen Anspruch auf geriatrische Rehabilitation.
({2})
Die meisten Pflegebedürftigen wünschen sich, daheim
gepflegt zu werden. Herr Seifert, deswegen werden wir uns
weiterhin für die Stärkung von „Ambulant vor stationär“
einsetzen. Die Einführung der Pflegezeit ist ein wichtiger Baustein, die Pflege von Angehörigen und den Beruf
besser zu vereinbaren. Wir werden aber noch weitere
solcher innovativer Schritte benötigen, um eine angemessene Pflege zu ermöglichen.
({3})
Denn auch die Familienpflege wird aufgrund der demografischen Entwicklung ihre Grenzen haben. Immer
mehr Ältere haben keine Kinder, oder die Zahl der
Geschwister ist so gering, dass die Pflege nicht geteilt
werden kann. In den seltensten Fällen leben die Kinder
heute noch in der Nähe des Wohnortes der Eltern. Wir
werden in Zukunft mehr professionelle Hilfe brauchen
und den Ausbau der Pflege- und Versorgungsdienste
verstärken müssen. Die Altenpflege bietet ein enormes
Potenzial an Arbeitsplätzen und an neuen Möglichkeiten
im Ausbildungsbereich, das heute noch weit unterschätzt
wird.
Unsere Pflegereform wird sich mit vielschichtigen
und komplexen Fragestellungen auseinandersetzen. Die
Finanzierungsfrage ist das eine, Strukturveränderungen
sind ein Weiteres. Wir als Unionsfraktion sind uns der
Dringlichkeit dieser Reform bewusst. Doch gilt auch
hier der Grundsatz: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
({4})
Das sind wir den pflegebedürftigen Menschen wie all
unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern schuldig.
Sehr geehrte Kolleginnen von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen - die Kollegen sind Ihnen heute
Mittag abhandengekommen; so viel zur Wichtigkeit dieser
Debatte, Frau Scharfenberg -,
({5})
Sie haben während Ihrer siebenjährigen Regierungsverantwortung die Pflegereform völlig außer Acht gelassen.
Jetzt regen Sie sich auf, wenn wir, die Große Koalition,
die Pflegereform gründlich vorbereiten - das ist mehr als
lächerlich. Im Gegensatz zu Ihnen werden wir diese
Pflegereform mit Herz, Hand und Verstand in Angriff
nehmen.
Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit,
Ulla Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe eben gedacht: Es mag ja sein, dass man in Bayern
manchmal vieles fordern muss, um überhaupt gehört zu
werden. Aber die heutige Debatte hier unter dem Titel
„Erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung …“ ist so überflüssig wie ein Kropf. Denn wir haben
im letzten Jahr ganz deutlich gemacht, dass wir zuerst
die Gesundheitsreform unter Dach und Fach bringen.
Vielleicht erinnern Sie sich, dass wir vor einigen Stunden
hier im Deutschen Bundestag die zweite und die dritte
Lesung der Gesundheitsreform hatten und sie verabschiedet wurde. Jetzt werden wir die Pflegeversicherung
angehen, und wir werden das gründlich tun. Von einer
Verschiebung kann keine Rede sein.
Manche äußern sich sehr populistisch, verlieren aber
kein Wort darüber, wie eine vernünftige Pflege finanziert
werden kann, leisten keinen Beitrag dazu, einmal in dieser
Gesellschaft darüber zu diskutieren, was uns eine gute
Pflege wert ist, was der Einzelne dafür zu geben bereit
ist, gehen nicht darauf ein, welche Vorschläge eigentlich
debattiert werden. Im Gegensatz zu diesen Leuten nehmen
wir das Thema Pflege ernst. Heute Morgen haben sie
dagegen gestimmt, dass es Verbesserungen für pflegebedürftige, für behinderte Menschen gibt.
({0})
Weder von der Seite der Linken noch von den Grünen - die
FDP nehme ich gar nicht dazu; das ist ein ganz anderer
Bereich - ist überhaupt etwas zu den Verbesserungen,
die mit der Gesundheitsreform verbunden sind, gekommen. Sie haben alle gesagt: Das ist so unwichtig für uns,
dass es nicht einmal wert ist, hier diskutiert zu werden.
({1})
Das konnte jeder sehen, der heute Morgen bei der
Debatte dabei war. Sie haben nichts dazu gesagt, was wir
tun, um die Versorgung der älteren Menschen zu verbessern. Sie haben nichts dazu gesagt, was wir dafür tun, um
die medizinische Versorgung und die Pflegeversorgung
zu verbessern.
Heute Morgen hat die Große Koalition entschieden,
dass wir die Verträge über integrierte Versorgung nicht
nur wollen, um die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Ärzten in Krankenhäusern zu
verbessern, sondern um einen bevölkerungsbezogenen
Ansatz zu verfolgen und Anreize dafür zu setzen, dass
ältere Menschen solange irgend möglich selbstständig,
das heißt zu Hause leben können. Darum geht es uns,
wenn wir davon reden, dass wir die Pflegeversorgung
verbessern wollen. Für uns kommt es auf den einzelnen
Menschen an. Wir haben nicht die Zeit, nur über irgendwelche populistischen Themen zu diskutieren.
Was den Vorschlag der Linken angeht, einfach das
Geld der Privatversicherten zur Finanzierung heranzuziehen: Ich hätte gedacht, dass Sie das Grundgesetz besser kennen, das dies nämlich verbietet.
({2})
Im Gegensatz zu Ihnen und Ihrer Partei müssen wir nämlich die Frage der Finanzierung beantworten und Lösungen dafür finden, wie wir die Menschen einbeziehen
können.
({3})
Von uns erwartet man auch Verantwortung, wenn es darum geht, was der Einzelne beitragen kann.
Es wäre gut gewesen, wenn wir eine Debatte über die
Anforderungen im Pflegebereich begonnen hätten. Aber
dass Sie an dem Tag, an dem die Gesundheitsreform beschlossen wurde, eine Debatte über eine angebliche Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung - das steht
für uns als nächstes Projekt an - beantragen, zeigt, dass
es Ihnen in einzelnen Bereichen an inhaltlicher Substanz
fehlt.
({4})
Uns geht es um die Menschen. Ich bin sehr viel unterwegs - wahrscheinlich mehr als Sie alle -, um mir ein
Bild von der Pflegesituation zu machen. Ich informiere
mich über Projekte und frage, was wir tun können, um
dem Wunsch der Menschen, zu Hause zu leben, gerecht
zu werden. Die stationäre Pflege muss beibehalten werden, aber es müssen zusätzliche Angebote geschaffen
werden. Ich frage danach, was wir dazu beitragen können, welche Projekte wir fördern und wie wir eine gute
Versorgung gewährleisten können.
({5})
Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns. Dabei beziehen
wir viele Anregungen der Menschen vor Ort mit ein.
({6})
Wenn wir ein Finanzierungskonzept entwickeln, dann
muss das auch tragen. Ich halte die Einführung der Pflegeversicherung nach wie vor für eine großartige politische Leistung. Denn erst mit dem eigenständigen Zweig
der Pflegeversicherung - die FDP hat übrigens seinerzeit
mitregiert, als wir das Vorhaben umgesetzt haben, auch
wenn sie es jetzt ablehnt, als wäre es Teufelswerk konnten wir in unserem Land eine enorme Infrastruktur
in diesem Bereich schaffen.
({7})
Aber, Herr Kollege Zylajew, Herr Blüm hat schon damals darauf hingewiesen, dass das, was wir damals verabschiedet haben, von der FDP als Koalitionspartner
blockiert wurde, sodass die Reform nicht so weitreichend sein konnte, wie es eigentlich vorgesehen war.
({8})
Die damals verabschiedeten Regelungen waren für zehn
Jahre gedacht. So lange hatten wir relative Sicherheit.
Jetzt muss man darüber reden, wie es weitergeht.
({9})
Genauso, wie wir mit der heute Morgen getroffenen
Entscheidung verhindert haben, dass das Gesundheitssystem für die Generationen unserer Kinder gegen die
Wand gefahren wird - statt es wie andere vorzuziehen,
gar nichts zu tun -, und uns entschlossen haben, zu handeln und Kompromisse zu finden, damit wir ein bezahlbares Gesundheitssystem und eine gute Versorgung der
kranken Menschen in diesem Lande gewährleisten können, wird auch die Pflege ein Thema sein, das diese Koalition mit großer Ernsthaftigkeit angehen wird.
Wir werden das Thema gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen so beraten, dass es ein Erfolg wird, und
zwar für alle, für die Pflegebedürftigen und die, die andere pflegen. Uns kommt es darauf an, auch die Situation der vielen Frauen und Männer in diesem Land zu
verbessern, die Tag für Tag unter sehr harten Bedingungen im Pflegebereich tätig sind. Auch für diese Menschen wollen wir die Bedingungen so verändern, dass sie
nicht nur vernünftig bezahlt werden, sondern dass auch
die Arbeitszeit angemessen und bedarfsgerecht geregelt
wird. Das kann nicht auf die Schnelle erfolgen. Wir werden die Beratungen in diesem Jahr durchführen. Im
kommenden Jahr wird dann die Pflegereform in Kraft
treten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Scharf, es ist interessant, von Ihnen zu hören,
dass Debatten nur dann wichtig sind, wenn sie von Männern geführt werden. Bei den Grünen ist das ein wenig
anders. Im Übrigen sage ich Ihnen zum Thema Interesse:
Bei uns sind immerhin 10 Prozent der Fraktion anwesend, bei Ihnen sind es nur 5 Prozent. Bei gleichem Prozentanteil müssten es nämlich 22 sein. So viel zu der
Frage, ob man diese Debatte wichtig nimmt, auch wenn
sie am Freitagnachmittag stattfindet.
({0})
Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, angesichts der Dissense bei der Gesundheitsreform überlege
man in der SPD-Fraktion, ob man nicht die Fachleute
aus dem Gesundheitsausschuss, die nicht zugestimmt
haben, abzieht.
({1})
Ich will das gar nicht kommentieren; das ist eine Angelegenheit der SPD-Fraktion. Interessant war jedoch die
mitgelieferte Begründung. Sie lautete, sonst gäbe es eine
Neuauflage der Debatte beim Thema Pflege.
({2})
Im Klartext heißt das, dass die Koalitionsspitzen bereits
damit rechnen, dass es eine ähnlich vermurkste Reform
geben könnte,
({3})
dass es zu einem Kompromiss kommen könnte, der niemanden überzeugt und bei dem die Fachleute von der
Fahne gehen. Davor kann ich Sie wirklich nur warnen.
Dafür ist das Thema Pflege zu wichtig.
({4})
Herr Kollege Zylajew, Sie haben sich dafür feiern lassen, dass es die Union mit Norbert Blüm war, die die
Pflegeversicherung eingeführt hat. Das sei Ihnen zugestanden.
({5})
Auch ich bin der Meinung, dass das in der Tat ein sozialpolitischer Meilenstein war. Fragen Sie aber heute einmal die Junge Union, ob sie Ihnen zustimmt. Der KolBirgitt Bender
lege Mißfelder sagt zu dieser Frage etwas ganz anderes.
Wenn es nach Ihren jungen Leuten geht, dann sollte die
jetzige Pflegeversicherung abgeschafft und komplett auf
eine private Kapitaldeckung umgestellt werden.
({6})
Es ist ja nicht nur so, dass es innerhalb der Sozialdemokratie und zwischen Rot und Schwarz Differenzen
gibt;
({7})
vielmehr ist es so, dass auch die Schwarzen untereinander genügend Diskussionsbedarf haben.
({8})
Die Frage ist doch: Führen Sie diese Diskussion, und
kommen Sie dabei zu einer gemeinsamen Idee?
Herr Kollege Zylajew, Sie haben die Antwort einer
grünen Staatssekretärin aus dem Jahr 1998 zitiert, die
gesagt hat: Damals war die Pflegeversicherung finanziell
in Ordnung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Drei Jahre
nach Einführung der Pflegeversicherung war das so.
({9})
Jetzt schreiben wir das Jahr 2007, und jetzt wird es dringend. Ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass es bereits in
der letzten Legislaturperiode dringend war.
({10})
Aber denken Sie daran, dass unsere Eckpunkte nicht nur
wegen der Schwierigkeiten innerhalb der Koalition nicht
umgesetzt werden konnten, sondern auch deshalb nicht,
weil wir es mit einer Blockademehrheit im Bundesrat zu
tun hatten.
({11})
Dieses Problem - so behaupten Sie jedenfalls - haben
Sie nicht mehr. Also könnten Sie wirklich ein Konzept
vorlegen.
({12})
Ein Konzept, das sich mit den Finanzen befasst, gibt
es bisher nicht. Die einen sprechen von privater Kapitaldeckung mit Kopfpauschale - davon sprach gerade auch
der Kollege Scharf -,
({13})
die anderen sprechen von einer Bürgerversicherung oder
von gar nichts. Wahr ist, dass die Bürgerversicherung, so
richtig sie für den Bereich der Pflege ist, das finanzielle
Problem nicht lösen wird.
({14})
Mit dem veränderten Altersaufbau der Bevölkerung und
der deswegen zu erwartenden Zunahme der Zahl der
Pflegebedürftigen wird man mehr als eine Bürgerversicherung brauchen.
({15})
Deswegen braucht man in der Tat eine Demografiereserve. Darüber wird auch schon länger diskutiert. Aber
das, Frau Kollegin Widmann-Mauz, heißt noch lange
nicht, dass man sie durch private Kapitaldeckung herstellen muss.
({16})
Das kann man genauso gut in einem Kollektivsystem
machen. Darüber werden Sie sich einigen müssen.
({17})
Ich bin froh, dass es bei der Union, Kollege Scharf,
Erkenntnisse darüber gibt, dass die Familien - oder sagen wir besser: die Frauen; es sind ja immer die Töchter
und Schwiegertöchter, die die Pflege übernehmen ({18})
die Pflege nicht mehr allein tragen können. So wie sich
unsere Gesellschaft entwickelt, wird professionelle
Pflege in immer größerem Ausmaß notwendig. Das
heißt, wir werden auch etwas für das kooperative Miteinander von Laien- und Profipflege, von bürgerschaftlich engagierten und professionellen Pflegekräften tun
müssen. Dafür brauchen wir andere Strukturen und andere Wohnformen. Es kann nicht bei der strikten Trennung von eigener Wohnung und einem Heimplatz bleiben. Daneben brauchen wir eine bessere Beratung und
Begleitung von Betroffenen und Angehörigen.
Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb nur auffordern: Schieben Sie eine solche
Reform nicht auf die lange Bank! Diesmal wird die
Große Koalition nicht damit durchkommen, wenn sie
keine gemeinsame politische Leitidee entwickelt und
stattdessen nur einen Kompromiss als Attrappe hinstellt.
Diesmal lassen wir Sie da nicht raus. Irgendwann müssen Sie auch einmal liefern.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Mechthild Rawert für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Gäste! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
möchte mich natürlich als Erstes dagegen verwahren,
dass das hier das Letzte ist; denn dann wäre ich als letzte
Rednerin ja heute das Allerletzte. Das geht natürlich
nicht. Ich finde, dass das dem Thema nicht angemessen
ist.
Ich möchte darum bitten, wenn wir das Thema Pflege
ernsthaft und zum Wohle der Menschen betrachten wollen, nicht das Zitat zu wiederholen: Im Pflegefall lieber
den Freitod. Ich bitte darum, dabei zu bedenken: Man redet immer über anderer Leute Leben. Wir sollten hier
keine falschen Grenzen ziehen, sondern die Notwendigkeiten sehen.
({0})
Es ist schon zu Recht dargestellt worden, dass dieses
Nölen und Nörgeln über die erneute Verschiebung der
Reform der Pflegeversicherung am heutigen Tag, wo wir
die Gesundheitsreform verabschiedet haben, zu einer
Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung führt. Das ist dem Thema nicht angemessen.
({1})
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung etwas zum
Pflegebegriff, zum notwendigen Leitbild, zur Sicherung
der nachhaltigen und gerechten Finanzierung gesagt,
aber auch zur Verbesserung der Leistungsseite.
Ja, es wird auch Diskussionen dazu geben, wie die Finanzierung erfolgen soll. Es hat solche Diskussionen
auch schon gegeben, wie in der Zeitung zu lesen war.
Für die SPD kann ich selbstverständlich sagen, dass wir
auch Privatversicherte stärker zur Kasse bitten möchten
und hiermit den sozialen Pflegebegriff deutlicher machen wollen.
({2})
Wir werden uns darüber austauschen müssen, wie es
mit der Forderung aussieht, die zusätzliche Finanzierung
über Kapitaldeckungsverfahren vorzusehen. Wir werden
diese Diskussionen führen. Es wäre unsinnig, davon auszugehen, dass dieses Thema ausgeklammert werden
könnte.
({3})
Richtig ist aber auch, dass die häusliche Pflege - einer
der ganz wesentlichen Aspekte - gestärkt werden muss.
Wir haben vor kurzem noch einmal die Zahlen zur
Kenntnis nehmen können. Waren es 1999 noch circa
2 Millionen pflegebedürftige Menschen, waren es 2003
schon über 100 000 mehr.
Richtig ist auch: Pflege findet zu zwei Dritteln zu
Hause statt. Ich halte es für eine falsche Alternative, die
stationäre Unterbringung und die Pflege gegen die ambulante Pflege auszuspielen; denn beides ist notwendig.
({4})
Wir alle wissen - darüber ist auch schon in anderen
Zusammenhängen diskutiert worden -, das Familienbild
ändert sich. Das traute Dreigenerationenhaus gibt es zumindest in der Stadt nur noch recht selten; vielleicht auf
dem Land noch häufiger. Selbstverständlich gilt auch
hier: Die Jüngeren, die Erwerbstätigen müssen nicht nur
professionell pflegen können, sie müssen auch die
Chance haben, in ihrer Familie zu leben. Hier brauchen
wir externe und vor allen Dingen professionelle Hilfe.
Die Kultur des Helfens auf Gegenseitigkeit, der Ausbau
von bürgerschaftlichem Engagement ist ebenso wichtig
und gefragt. Ich bedanke mich für das Lob der Initiative
unserer Kolleginnen Silvia Schmidt und Ute Kumpf.
Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ich denke, dieser Aspekt muss in dieser Diskussion verstärkt berücksichtigt werden. Denn unsere Altenpflegesysteme sind
hinsichtlich dessen noch nicht sensibel genug, was man
kulturelle Öffnung nennt. Auch hiermit werden wir uns
in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen.
Richtig und wichtig ist das, was zur Professionalisierung der Pflege gesagt worden ist, zu einem neuen Pflegebegriff und auch zur Anerkennung. Dabei geht es
nicht nur um Wertschätzung. Als Frauenpolitikerin sage
ich vielmehr: Pflege kostet Geld, und die Pflegenden haben nicht nur immateriell ein billiges Dankeschön, sondern tatsächlich eine anständige finanzielle Aufwandsentschädigung verdient, um ihre Existenz zu sichern.
Auch hierfür werden wir sorgen müssen.
Ich hoffe, dass wir das Thema nicht kaputtnörgeln,
sondern dass wir uns gemeinsam und tatkräftig dem
Thema im Interesse der Bevölkerung, der Jungen, der
Alten und der mittleren Generation sach- und fachgerecht zuwenden werden.
Ich wünsche uns allen ein wunderbares Wochenende.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. Februar 2007, 13 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
alles Gute für die Heimreise und weitere Veranstaltungen und vielleicht auch ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.