Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/15/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen: Als Nachfolger für den Kollegen Gerhard Schröder begrüße ich herzlich den Kollegen Clemens Bollen, der am 29. November die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Vereinbarte Debatte: Berichte über angebliche Gefangenentransporte sowie die Verbringung deutscher und anderer Staatsangehöriger durch US-Stellen und das Verhalten von Bundesdienststellen in diesem Zusammenhang ({1}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Link, Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Den EU-Haushalt auf höchstens 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzen und die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 schnellstmöglich beschließen - Drucksache 16/224 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz - Drucksache 16/47 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({5}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenverantwortung von Bosnien und Herzegowina stärken - Verfasssungsprozess unterstützen und „Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten abschaffen - Drucksache 16/228 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Verteidigungsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({7}), Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beendigung der Operation Althea und Einrichtung einer internationalen nicht militärischen Polizeimission in Bosnien und Herzegowina - Drucksache 16/217 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({8}) Verteidigungsausschuss ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({9}) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 16/229 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 16/230 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 16/231 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 16/232 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 16/233 Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Berufung von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline ({15}) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weichenstellung für eine Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer - Drucksache 16/241 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung - Drucksache 16/194 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({17}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die duale Berufsausbildung in Deutschland kontinuierlich verbessern - Drucksache 16/235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({18}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({19}), Krista Sager, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Berufsausbildung umfassend sichern - Drucksache 16/198 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung - Drucksache 16/197 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt MüllerSönksen, Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Menschenrechte in Usbekistan einfordern - Drucksache 16/225 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({21}) Auswärtiger Ausschuss ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter - Drucksache 16/226 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss ZP 13 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur europäischen Chemikalienpolitik ({23}) ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({24}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen - Drucksache 16/237 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({25}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Tagesordnungspunkt 24 a - hier handelt es sich um das Dienstleistungskonjunkturstatistikgesetz - soll abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das scheint der Fall zu sein. Damit ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 2 auf: 4 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Europäischen Rat am 15./16. Dezember 2005 in Brüssel ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Link, Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den EU-Haushalt auf höchstens 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzen und die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 schnellstmöglich beschließen - Drucksache 16/224 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({26}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ({27}) - Wie ich sehe, ist Herr Außenminister Steinmeier noch nicht im Saal anwesend. ({28}) - Wir werden die angekündigten Beratungen ganz sicher aufnehmen. Aber die Empfehlung des SPD-Fraktionsvorsitzenden, sicherzustellen, dass möglichst viele an diesen Beratungen teilnehmen können, hat eine gewisse Plausibilität. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Solange die Opposition da ist! - Gegenruf der

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Und die Spitze der Regierung! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Da kommt er!) Präsident Dr. Norbert Lammert Die Zeit, die ich nun dem Bundesaußenminister einräume, um sich auf die bevorstehende Regierungserklärung vorzubereiten, möchte ich dazu nutzen, der Kollegin Renate Künast zu ihrem heutigen runden Geburtstag zu gratulieren. ({0}) - Der Tag beginnt mit einem überfraktionellen Beifall. Wir wollen einmal sehen, wie lange er sich aufrechterhalten lässt. Wir kommen nun zum aufgerufenen Tagesordnungspunkt zurück. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier. ({1})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Ich wurde von Mitgliedern des Parlaments etwas aufgehalten. Meine Damen und Herren! Heute Nachmittag beginnt in Brüssel der Europäische Rat. Ich kann und darf Ihnen nicht verheimlichen, dass er in eine durchaus schwierige Zeit fällt. Ich habe in meinen öffentlichen Reden in der letzten Zeit auch nicht verheimlicht, dass ich davon ausgehe, dass sich Europa nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden in einer Krise befindet. Daran gibt es aus meiner Sicht auch nichts zu beschönigen. Der Verfassungsvertrag wurde nicht aufgegeben, aber er ist im Augenblick storniert. Wir wollen und werden an ihm festhalten. Ich sage bei diesem Thema aber auch immer: Wir müssen hier sehr realistisch sein. Nach den Diskussionen, die wir in den europäischen Hauptstädten führen, sieht es im Augenblick nicht so aus, als ob wir kurzfristig in die Lage versetzt werden, den Menschen über die Fortsetzung der Ratifizierungsverfahren in den anderen Ländern zu zeigen, dass wir in Europa Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, wenngleich einige Länder die Verfahren fortführen. Die andere Frage, der die britische Ratspräsidentschaft in Hampton Court vor kurzem nachgegangen ist, lautet: Was kann das große gemeinsame europäische Projekt sein, wenn wir über den Verfassungsvertrag kurzfristig nicht zu einem Dokument für die Wiedergewinnung von mehr Handlungsfähigkeit in Europa kommen? Darüber wurde in Hampton Court und wird an anderer Stelle in Europa diskutiert. Ich sage dazu immer Folgendes: Ich finde die Suche nach dem großen, neuen gemeinsamen europäischen Projekt richtig. Sie muss stattfinden. Noch wichtiger ist aber, dass Europa an einer Stelle Erfolg hat. Diesen Erfolg kann sich Europa in den verbleibenden Tagen dieser Woche mit einer Verständigung über den Finanzrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 verschaffen. Ich glaube, das wäre ein Signal, das auch von den Menschen verstanden werden würde und für das wir kein neues Projekt suchen müssten. ({0}) Sie wissen das. Der finanzielle Rahmen bzw. die finanzielle Vorausschau ist unerlässlich. Wir brauchen diesen finanziellen Rahmen, damit die EU ihre Politiken innerhalb dieses Rahmens gestalten kann. Er ist insbesondere dort erforderlich, wo wir eine langfristige Strategie brauchen, wo wir auf der einen Seite Finanzsicherheit und auf der anderen Seite Planungssicherheit brauchen. Das gilt etwa für die europäische Forschungspolitik, für die Migrationspolitik und insbesondere für all die Politikbereiche, auf die wir uns im Rahmen der Lissabon-Strategie miteinander verständigt haben. Die Einigung ist für uns deshalb mindestens so entscheidend wie für die anderen europäischen Staaten. Im Juni haben wir die Einigung unter der luxemburgischen Ratspräsidentschaft in Luxemburg schon einmal versucht. Ich sage voraus: Wenn wir am Ende dieses Jahres mit dem zweiten Versuch einer Einigung über den Finanzrahmen erneut scheitern würden, dann ginge davon ein verheerendes Signal für die Bürgerinnen und Bürger aus. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass sich ein Scheitern vor allem zulasten der neuen Mitgliedstaaten auswirken würde. Wir sollten die neuen Mitgliedstaaten im Fokus behalten, weil sie vor allen Dingen diese klare finanzielle Perspektive brauchen und sie sich auch darauf verlassen dürfen; denn wir hatten verabredet, dass die Strukturpolitik durch den neuen finanziellen Rahmen so ausgestattet wird, dass ihnen ein Hineinwachsen in die Europäische Union ermöglicht wird. Dieses Versprechen würde nicht erfüllt, wenn wir jetzt keine langfristige Verständigung über den finanziellen Rahmen hinbekommen würden; denn - ich deutete es eben an - die Mittel für die Strukturpolitik können nur auf der Grundlage dieses mittelfristigen Finanzrahmens vernünftig eingesetzt werden. Die neuen Mitgliedstaaten der EU brauchen diese Mittel jetzt. Mit anderen Worten: Je später sie fließen, desto länger dauern Aufbau- und Aufholprozesse. Wir alle miteinander wissen: Deutschland hat jedes Interesse daran, dass diese Prozesse so schnell wie möglich ablaufen. ({1}) Die neuen Mitglieder der EU haben sich verpflichtet, den Acquis communautaire umzusetzen. Sie sind bereit, ihren Beitrag zum Haushalt zu leisten. Sie haben deshalb auch jedes Recht, an den Programmen der Union fair und solidarisch zu partizipieren. Nur so können sie auch wirklich in die Europäische Union hineinwachsen und dieser Union Wachstumsimpulse verleihen, von denen wir, die alten Mitgliedstaaten, zuvörderst profitieren werden. Deshalb sage ich: Die Bundesregierung ist der Auffassung, die Integrationskraft des europäischen Gedankens hängt jetzt vornehmlich von der Kompromissfähigkeit aller Mitgliedstaaten ab. Diese Kompromissfähigkeit ist in guter Tradition des europäischen Gedankens gefordert. Eitelkeiten - in Einzelheiten wollen wir nicht gehen dürfen nicht den Blick auf das verstellen, was für uns alle in der Europäischen Union wesentlich ist. Je später eine Einigung über die Finanzen erfolgt, desto schwieriger wird sie. Ein Abschluss 2006 - um nicht an Schlimmeres zu denken - würde jedenfalls ungleich komplizierter sein als eine Einigung morgen oder spätestens übermorgen. Wenn ich das so sage, dann werden Sie mit Recht fragen: Wo stehen wir in den augenblicklichen Vorverhandlungen? Sie wissen, dass die britische Ratspräsidentschaft den Mitgliedstaaten in der vergangenen Woche einen Vorschlag gemacht hat. Sie hat diesen Vorschlag gestern noch einmal nachgebessert. Wir gehen davon aus, dass das letzte Wort über diesen Vorschlag noch nicht gesprochen ist. Der neueste Vorschlag wird heute Nachmittag in Brüssel diskutiert. Dann gehe ich davon aus, dass in den Stunden, Tagen und Nächten danach härtere Auseinandersetzungen auf uns zukommen, und zwar auch deshalb, weil jeder Mitgliedstaat Rücksicht auf seine innenpolitische Situation zu nehmen hat. Mit Blick darauf wissen wir alle, dass die Situation für die allermeisten Mitgliedstaaten seit dem Versuch im Sommer, Verständigung über den Luxemburger Vorschlag zu erreichen, nicht einfacher geworden ist. Für die deutsche Regierung heißt das zentrale Prinzip Fairness. Die Erweiterung war und ist im Interesse aller Mitgliedstaaten. Daher treten wir für eine solidarische Finanzierung der Erweiterung ein. Das bedeutet konkret, ohne dass ich jetzt den Blick auf einzelne Länder richten will: Jedes Land muss seinen Anteil leisten. Damit meine ich: nicht mehr und nicht weniger. ({2}) Wir haben uns - das haben Sie in den letzten Tagen in öffentlichen Stellungnahmen dieser Regierung häufig gehört - nicht daran beteiligt, den britischen Vorschlag in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir haben immer gesagt, dieser britische Vorschlag ist eine Arbeitsgrundlage. Wir hoffen, dass aufgrund der erneuerten Verhandlungsbox, die die Briten gestern vorgestellt haben, eine Verständigung möglich ist. Die deutsche Regierung jedenfalls wird sich daran konstruktiv beteiligen. Wir haben in den letzten drei Wochen versucht, in den Gesprächen mit den Mitgliedstaaten die Kompromissbereitschaft zu fördern, ohne dabei unsere Ziele aufzugeben. Die Bundeskanzlerin und ich haben in den einschlägigen Gremien darauf hingewiesen, dass uns die Strukturförderung in den neuen Bundesländern in besonderem Maße am Herzen liegt, dass die Landwirtschaftsförderung angemessen ausgestaltet sein muss und dass vor allen Dingen unsere Belastungsgrenze als größter Nettozahler innerhalb der EU anerkannt werden muss. Ich jedenfalls sehe, dass dies in den Luxemburger und britischen Vorschlägen der Ratspräsidentschaft berücksichtigt worden ist. Wir können insbesondere bei dem letzten Punkt, der Ausgabenobergrenze, mit Selbstbewusstsein vortragen - ich habe in den einschlägigen Räten gemerkt, dass das Argument auf Widerhall stößt -: Wir unternehmen in unserem Land größte Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung und können deshalb den Menschen in Deutschland schlecht erklären, dass dies auf der EU-Ebene bei der Vorbereitung des Haushalts nicht berücksichtigt wird. Kurz gesagt habe ich dort zum Ausdruck gebracht: Ein sparsamer Haushalt ist nicht weniger europäisch als ein ausgabenfreudiger Haushalt. Das ist auch von den Nettozahlern in der EU bemerkt worden. ({3}) Alles in allem und zur Abrundung dieses Komplexes: Ich will nicht mit Blick auf die finanzielle Vorausschau und die bevorstehenden Gespräche übertriebenen Optimismus verbreiten. Das wäre nicht gerechtfertigt. Ich fahre aber mit einer gewissen Zuversicht nach Brüssel, dass alle das allergrößte Interesse daran haben, Verständigung zu suchen, und auch Kompromissbereitschaft mitbringen. Ich jedenfalls hoffe auf ein großes Maß europäischer Vernunft in den nächsten Tagen. ({4}) Ein Thema jenseits der finanziellen Vorausschau, das uns in den letzten Tagen auf den Außenministerräten erheblich beschäftigt hat, ist die Beitrittsperspektive für die Staaten des westlichen Balkans. Ich will das an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Es ist kein einfaches Thema, sondern eines, zu dem es innerhalb der Europäischen Union weiß Gott keine in jeder Hinsicht übereinstimmende Meinung gibt. Es gibt aber eine Perspektive: Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass Ahtisaari mit der Klärung der Statusbestimmung für den Kosovo in den nächsten zwölf Monaten Erfolg hat. Dieser Erfolg setzt Rahmenbedingungen. Diese bestehen darin, dass wir die Annäherung der Staaten des Westbalkans an die Europäische Union erhalten müssen. Das konzentriert sich auf dem bevorstehenden europäischen Gipfeltreffen auf die eine Frage, ob wir Mazedonien den Beitrittskandidatenstatus gewähren werden. Darüber ist in den letzten zwei oder drei Wochen diskutiert und zum Teil auch gestritten worden. Es scheint sich anzudeuten, dass die Frage des Beitrittskandidatenstatus mit einigen - insgesamt vier - Staaten, die allergrößte Skepsis hatten, dann zu lösen sein wird, wenn wir sie mit einer Diskussion über die Grenzen der Europäischen Union verbinden, die aber ohnehin ab dem nächsten Jahr zwischen den Mitgliedstaaten geführt werden wird. Insofern gehe ich davon aus, dass sich der Europäische Rat für den Beitrittskandidatenstatus Mazedoniens aussprechen wird. ({5}) Die Kommission wird des Weiteren - das ist das dritte Thema - auf dem Europäischen Rat ihren Bericht zur Migration vorstellen. Sie wissen oder ahnen - das war auch Thema auf dem Euro-Med-Gipfel -, dass die BeBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier deutung dieses Themas für unseren Kontinent gar nicht überschätzt werden kann. Sie haben sicherlich noch die dramatischen Ereignisse in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla vor Augen. Der Bericht der Kommission beruht auf einem politikübergreifenden Ansatz und stellt insofern einen wichtigen Schritt für die gemeinsame Migrationspolitik dar, als er auch Rücksicht auf alle Weltregionen - insbesondere die Nachbarschaftsregionen im nördlichen Afrika - nimmt. Deshalb begrüßen wir diesen Bericht ausdrücklich. Letztlich - das sollen meine Schlussworte sein - wird sich der Europäische Rat auf unsere Anregung hin mit den jüngsten Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad zu Israel befassen. Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben diese Aussagen - insbesondere die Leugnung des Holocaust und des Existenzrechts Israels - mit Bestürzung zur Kenntnis genommen. Wir verurteilen sie aufs Schärfste. ({6}) Derart inakzeptable Ausführungen zum Nahostkonflikt zeigen, mit wie viel Verantwortungslosigkeit und Zynismus die Situation Israels und des Nahen Ostens von der iranischen Regierung gegenwärtig beurteilt wird. Ich habe bereits gestern öffentlich gesagt: Das erschwert natürlich auch die weiteren Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm. Ich wiederhole an dieser Stelle: Die Regierung in Teheran muss begreifen, dass die Geduld der internationalen Staatengemeinschaft nicht endlos ist. ({7}) Ich komme auf meinen Anfangssatz zurück. Der heute beginnende Europäische Rat ist ein wichtiger Gipfel in einer schwierigen Zeit. Die Bundeskanzlerin und ich werden später nach Brüssel reisen, um dort deutsche Interessen entschlossen zu vertreten, gleichzeitig aber alles dazu beizutragen, dass der Rat ein Erfolg für uns und Europa wird. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister reisen zu ihrem ersten großen Europäischen Rat in einer krisenhaften Situation der Europäischen Union. Wesentliche Entscheidungen, die Auswirkungen auf eine ganze Reihe von europäischen Räten haben, werden zu treffen sein. Wir als liberale Opposition wünschen ihnen viel Erfolg bei dem nun beginnenden Europäischen Rat in Brüssel, ({0}) auch deshalb, weil es in unserem Interesse liegt, dass manches geklärt wird, was uns sonst vor die Füße fällt, wenn wir im Januar 2007 die Ratspräsidentschaft übernehmen. Es wäre gut, wenn das eine oder andere vorher erledigt werden könnte. Es sind mindestens vier große Komplexe, die Europa in die gegenwärtige Krise gebracht haben: das bisher fehlende Einvernehmen über die finanzielle Vorausschau, das Stocken des Verfassungsprozesses, eine Glaubwürdigkeits- sowie eine Vertrauens- und Zutrauenskrise bei den Bürgerinnen und Bürgern im Hinblick auf das große europäische Projekt und nicht zuletzt die wirtschaftliche Situation, die deutlich macht, dass wir im Hinblick auf das Erreichen der Lissabon-Ziele nicht vorankommen, was übrigens kein Thema der Europäischen Union, sondern eines ihrer Mitgliedstaaten ist. Deswegen herrschen eher Skepsis und Unsicherheit in der Bevölkerung. Es gibt eine fast sklerotische Erscheinung der Europäischen Union, die an das erinnert, was Ende der 70er-Jahre/Anfang der 80er-Jahre war. Dann kam damals das große Projekt: der Binnenmarkt. Und innerhalb kürzester Zeit war von europäischer Sklerose keine Rede mehr. Deswegen hat der Außenminister Recht, wenn er sagt: Es bedarf jetzt eines großen, neuen europäischen Projekts, um die Bürgerinnen und Bürger wieder mitzunehmen, und zwar in Kenntnis der Tatsache, dass wir diese vertiefte und erweiterte Europäische Union brauchen. ({1}) Man muss sich gegenwärtig nur in der Welt umschauen, um zu begreifen, dass ein neues europäisches Projekt, zu dem nach meiner Auffassung der Verfassungsvertrag gehört, dringend erforderlich ist. Wir haben die Befürchtung, dass bei dem gerade stattfindenden WTO-Gipfel in Hongkong nichts herauskommt. Ob mithilfe der Autorität, die dem amerikanischen Präsidenten im nächsten Jahr noch gegeben sein wird, einen Vertrag abzuschließen, etwas zustande kommt, ist noch völlig unklar. Das geht mit Blick auf die deutschen Interessen weit über die Fragen betreffend die Agrarpolitik hinaus, so wichtig dieses Feld - hier muss sich die Europäische Union bewegen - auch sein mag. Hier geht es vielmehr darum, ob wir in Zukunft noch auf ein wirklich globales Welthandelssystem setzen können oder ob wir auf das Niveau eines Systems bzw. Netzwerkes von bilateralen oder interregionalen Vereinbarungen absinken werden. Letzteres kann nicht im Interesse der großen Export- und Importnation Bundesrepublik Deutschland liegen. Wir haben ein großes Interesse an einer funktionstüchtigen WTO. Hier muss die Europäische Union voll handlungsfähig sein. Deswegen müssen wir an dem großen europäischen Projekt dringend weiterarbeiten. ({2}) Es kann nicht sein, dass viele Menschen in Europa fasziniert auf die wirtschaftlichen Entwicklungen in China und Indien blicken und gleichzeitig fast vor Angst erstarren. Die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung ist die europäische Integration. Hier müssen wir dringend wieder ansetzen. ({3}) Das müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern aber auch sagen. Dabei darf sich niemand in die Ackerfurche ducken. Wir haben ja in der europäischen Politik die unglückliche Situation, dass das Erklären gegenüber der Bevölkerung oft einigen wenigen überlassen wird. Diese sind zumeist so sehr Experten, dass sie vergessen, ihre Erklärungen so zu formulieren, dass die Bürgerinnen und Bürger mitkommen. Hier muss sich jeder in der Politik und insbesondere in diesem Parlament in die Pflicht nehmen lassen. Das gilt auch für den Verfassungsprozess. Das - zumindest vorläufige - Scheitern des Verfassungsprozesses ist deshalb so tragisch, weil die Kritik an der Europäischen Union, die immer wieder vorgetragen und auch von Politikerinnen und Politikern verstärkt wird, durch den Verfassungsvertrag selber in wesentlichen Teilen entkräftet worden wäre. Die Bedenken, die häufig geäußert werden, wären dann, wenn der Verfassungsvertrag durchgekommen wäre, hinfällig. Das gilt für die Themen Transparenz, Demokratie, Subsidiarität und Bürgernähe. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Reflexionsphase, die jetzt eingetreten ist und auf die man sich verständigt hat, tatsächlich zur Reflexion nutzen. Denkpause heißt ja nicht Pause vom Denken, sondern zum Denken. ({4}) Das, was der Europäischen Union fehlt - das merkt man an der schwierigen Finanzsituation, die heute in Brüssel zu besprechen sein wird -, ist Leadership, Führungskraft. Weit und breit sind keine Persönlichkeiten zu erkennen, die für die Menschen einen persönlichen Beitrag leisten könnten, um Europa wirklich voranzubringen. Es wird sich in den nächsten Jahren viel ändern. Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland eine Schlüsselfunktion zukommen wird, nicht nur wegen der Präsidentschaft, die Deutschland im Jahr 2007 übernehmen wird, sondern auch deshalb, weil bei den neuen personellen Konstellationen auf Deutschland eine ganz besondere Verantwortung zukommt und eine große Erwartungshaltung auf Deutschland projiziert wird. Die Menschen in Europa, nicht nur die Politikerinnen und Politiker, haben den Eindruck, dass in Deutschland ein Wechsel stattgefunden hat, der auch zu einem Wechsel in der europapolitischen Positionierung führt. Deutschland wird nicht mehr dazu beitragen - ich bin ganz sicher, dass die Bundeskanzlerin dafür sorgen wird -, dass wir als Teil eines Direktoriums wahrgenommen werden, sondern in der Rolle, die Deutschland aufgrund seiner Geschichte, der kulturellen Umstände, seiner Geographie, strategischer Überlegungen und nicht zuletzt seiner Wirtschaftskraft zukommt. Deutschland muss ein ausgleichender Faktor sein, und zwar zwischen groß und klein, zwischen neu und alt und zwischen Verbündeten und Partnern, die früher nicht so eng zusammengearbeitet haben. Deswegen wird mein Kollege Michael Link ausführlich auf die Finanzfragen und die Rolle, die Deutschland bei der Bewältigung dieses Problems spielen muss, eingehen. Es sind auf dem Weg zu einer Verständigung auf den letzten Metern noch ganz wichtige Verhandlungen zu führen. Diese finden übrigens nicht auf der Bühne, sondern weiter hinten statt. Deshalb soll man sich nicht verrückt machen. Es ist darauf zu achten, dass wir, auch im Hinblick auf unsere eigenen Interessen, sicherstellen, dass dabei nichts den Bach heruntergeht. Ich denke insbesondere an die Situation der neuen Bundesländer. Das ist aber auch ein so schwieriges technisches Problem, dass man es nicht auf der großen Bühne austragen können wird, wenn man es lösen will. Etwas ist mir in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig. Herr Minister Steinmeier hat zu Recht gesagt: Wir werden dort unsere nationalen Interessen vertreten. - Aber er hat auch gesagt - ich sage es in meinen Worten -, dass es um das große Ganze gehe. Es muss am Ende der Europäischen Räte Schluss sein mit den Pressekonferenzen, wo diejenigen, die dort sprechen, den Menschen den Eindruck vermitteln, Europa sei ein Nullsummenspiel, und sagen, sie hätten für sich etwas herausgeschlagen und dafür habe ein anderer bluten müssen. Nein, meine Damen und Herren, wir müssen endlich wieder über den europäischen Mehrwert reden und genau den wünschen wir uns für den Europäischen Rat, der heute beginnt. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an die abschließende Bemerkung von Herrn Minister Steinmeier anknüpfen. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die scharfe und eindeutige Reaktion der Bundesregierung auf die jüngsten Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zu Israel. Wir erwarten eine ebenso entschiedene Stellungnahme des Europäischen Rates. ({0}) Wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt und den Holocaust leugnet - und das zum wiederholten Mal -, darf von der internationalen Gemeinschaft nicht toleriert werden. Wer den Versuch unternimmt, die Stabilisierungsbemühungen im Nahen Osten zu torpedieren, der muss aber auch auf den entschiedenen Widerspruch der Staaten der Region treffen. Deshalb bedauern wir, dass weder die Arabische Liga noch die Nachbarstaaten in der Region bis heute ihrer Verantwortung nachgekommen sind, im Sinne der Friedensbemühungen im größeren Nahen Osten die Äußerungen des iranischen Präsidenten zurückzuweisen. ({1}) Der Außenminister hat die deutsche Position zur finanziellen Vorausschau ausführlich dargelegt. Ich möchte für meine Fraktion dazu deshalb nur drei grundsätzliche, kurze Anmerkungen machen: Erstens. Jedes Mitgliedsland muss einen gerechten Anteil an der Finanzierung der EU übernehmen. Deutschland ist bereit, seinen Teil zu einem vernünftigen Kompromiss beizutragen, im Sinne der Solidarität mit den Partnerländern. Das heißt aber auch, dass das Wohlstandsniveau und das Ausmaß der finanziellen Belastungen in einer Relation stehen müssen, die von den Bürgern als fair empfunden wird. ({2}) Zweitens. Besonders mit Blick auf die neuen Mitgliedstaaten gilt: Die Lösung der Finanzfrage darf nicht auf dem Rücken der schwächsten Mitglieder ausgetragen werden. Diesem Grundsatz hat der inzwischen zurückgezogene britische Vorschlag in keiner Weise entsprochen. Wir haben die Überwindung der Teilung Europas mit der Erweiterung um die ostmitteleuropäischen Staaten vor 18 Monaten doch nicht gefeiert, um jetzt neue Trennlinien zu ziehen. Drittens. Angesichts der mehr als schwierigen Finanzlage Deutschlands wäre es nicht hinnehmbar, wenn von uns eine im Vergleich zum Vorschlag der luxemburgischen Präsidentschaft höhere Belastung verlangt werden sollte, sei es durch ein höheres Ausgabenvolumen oder durch eine niedrigere Korrektur. Kein EU-Mitgliedstaat weist eine so hohe Differenz auf zwischen dem Wohlstandsniveau einerseits - unter den 25 EU-Mitgliedern steht unser Land an elfter Stelle und der Pro-Kopf-Nettobelastung andererseits, bei der Deutschland an dritter Stelle steht. Wir werden in unserer Bevölkerung nicht die notwendige Akzeptanz für die Europäische Union finden, wenn diese Schere weiter auseinander geht, anstatt sich zu schließen. ({3}) Das Gipfeltreffen am Ende einer EU-Präsidentschaft bietet immer auch den Anlass, eine kritische Bilanz zu ziehen. Wir hoffen sehr, dass Premierminister Blair alles tut, damit die Finanzverhandlungen heute und morgen zu einem erfolgreichen Abschluss kommen und damit noch ein versöhnliches Ende der britischen Präsidentschaft möglich wird. Bislang wurden die hohen Erwartungen, die Tony Blair selbst geweckt hat, nicht erfüllt. Seine Rede im Juni vor dem Europäischen Parlament hinterließ den Eindruck: Hier geht einer, der sich selbst als „begeisterten Europäer“ bezeichnet, mit frischem Elan an die Überwindung der Krise der Europäischen Union, in der sie sich spätestens seit den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden befindet. Er hat viele wichtige und auch richtige Fragen aufgeworfen, wie die EU im Zeitalter der Globalisierung handlungsund konkurrenzfähig bleiben könnte. Es war sogar von einer Offensive Blairs für eine Modernisierung der Europäischen Union die Rede. Insofern ist er mit einem hohen Anspruch gestartet. Heute, am Ende der britischen Präsidentschaft, müssen wir feststellen: Es gab viel Rhetorik und bescheidene Ergebnisse. Es wurde viel Zeit vergeudet, aber zu wenig getan, um die EU aus der Krise zu führen. Der fulminanten Rede vor dem Europäischen Parlament folgte eine lange Zeit des Schweigens. In der Frage der finanziellen Vorausschau könnten wir heute schon viel weiter sein, wenn die Präsidentschaft früher ernsthafte Verhandlungen darüber begonnen hätte, statt erst vor zehn Tagen einen ersten und dann auch noch inakzeptablen Vorschlag vorzulegen. Dabei steht Großbritannien in einer besonderen Verpflichtung, eine Lösung zu suchen, nachdem es unter luxemburgischer Präsidentschaft einen Kompromiss bei der Finanzfrage durch sein Veto verweigert hat. So ist zu der Verfassungskrise Europas eine Budgetkrise hinzugekommen. Wir müssten in Europa schon längst eine breite öffentliche Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union führen, über die Grenzen der EU und über die Frage, was Sinn und Zweck des europäischen Einigungsprozesses ist. ({4}) Herr Minister Steinmeier, Sie haben Recht: Wir dürfen über diesen grundsätzlichen Fragen die Lösung der Tagesfragen nicht vergessen. Die Lösung der Tagesfragen ist die Voraussetzung dafür, dass wir handlungsfähig bleiben. Wir müssen diese grundsätzlichen Fragen angehen, weil wir sonst die Vertrauenskrise in der Europäischen Union und alles, was daraus folgt, nicht überwinden können. Tony Blair hat das alles vor dem Europäischen Parlament richtig dargestellt. Der Gipfel von Hampton Court war vielleicht eine interessante Seminarveranstaltung. Doch die Initialzündung für eine breite Diskussion über die Frage: „Was kann und soll die EU leisten und was kann sie nicht leisten?“ war er nicht. Wir hoffen sehr, dass es in den Verhandlungen heute und morgen noch zu einem erfolgreichen Abschluss in der Finanzfrage kommt und dass sich Großbritannien solidarisch, das heißt stärker und vor allem dauerhaft, an der Finanzierung der Erweiterung beteiligt. Wir erkennen sehr wohl an, dass Großbritannien seinen Arbeitsmarkt für Polen, Slowaken und andere Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten geöffnet hat und vielen Tausenden Ostmitteleuropäern erlaubt, dort zu arbeiten und Geld nach Hause zu schicken. Das hat bisher keine andere europäische Volkswirtschaft in vergleichbarem Umfang getan. Wir erkennen auch an, dass Premierminister Blair bereit ist, den britischen Beitragsrabatt zu kürzen, obwohl ihm von vielen in Großbritannien Verrat an britischen Interessen vorgeworfen wird. Aber wir müssen feststellen, dass das, was die britische Präsidentschaft bisher vorgelegt hat, der Solidarität mit den schwächeren Mitgliedstaaten nicht ausreichend Rechnung trägt. Zu dieser Solidarität gehört auch, dass eine Regelung für die Senkung des britischen Beitragsrabatts über das Jahr 2013 hinaus gültig bleiben muss. ({5}) Wenn die Finanzverhandlungen daran scheitern sollten, dann könnte am Ende der Eindruck haften bleiben, dass hier ein Land seine Präsidentschaft genutzt hat, um sich finanzielle Vorteile zu erhalten - und dies ausgerechnet auf Kosten der Schwächsten. Ein solches Ergebnis liegt nicht im europäischen Interesse, weil es die Krise der Europäischen Union verschärfen würde. Es kann auch nicht im britischen Interesse liegen. Deshalb zählen wir sehr darauf, dass der britische Premierminister alles unternehmen wird, seine EU-Präsidentschaft erfolgreich abzuschließen. Es ist dringend erforderlich, die Frage der künftigen Finanzierung der Europäischen Union endlich vom Tisch zu bekommen, damit sich die EU auf die Überwindung ihrer Krise konzentrieren kann. Wenn wir bei den Bürgern mehr Akzeptanz für die Europäische Union schaffen wollen, dann müssen wir ihnen das Gefühl vermitteln, dass die EU fähig ist, die dringenden Probleme zu lösen, beispielsweise zur Bewältigung der Globalisierung deutlich mehr wirtschaftliche Stärke und Modernität zu entwickeln und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Was mit der Lissabonner Strategie entwickelt wurde, ist nach wie vor richtig: flexible Arbeitsmärkte, die weitere Öffnung des Binnenmarkts, die stärkere Förderung von Forschung, eine stete Verbesserung von beruflichen Qualifikationen. Wenn wir dem Wettbewerb standhalten wollen, den andere Regionen der Welt entfalten, dann gibt es dazu keine Alternative. Aber dann dürfen der Kok-Bericht und andere Gutachten nicht länger in den Schubladen begraben bleiben, ({6}) sondern dann müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten die Lissabonner Strategie endlich umsetzen. Lieber Herr Kollege Hoyer, was die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vorgelegt hat, ist der ernsthafte Versuch, bei dieser Umsetzung ein gutes Stück weiterzukommen. ({7}) Zu der breiten Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union gehört natürlich auch die Frage nach der Aufnahmefähigkeit der EU. Wenn es keine Rückentwicklung der EU zu einer gehobenen Freihandelszone geben soll, sondern wenn, wie es die Außenminister am 3. Oktober beschlossen haben, Zusammenhalt, Wirksamkeit und Handlungsfähigkeit der EU verbessert werden sollen und der Integrationsprozess vertieft werden soll, dann müssen wir unter österreichischer Präsidentschaft im nächsten Halbjahr eine grundsätzliche Debatte darüber führen, wie dies erreicht werden kann. Wir alle wissen, wie schwer es in den nächsten 18 Monaten bis nach den französischen Wahlen werden wird, wichtige Grundsatzentscheidungen zu treffen. Doch diese Zeit kann und sollte dazu genutzt werden, über die verschiedenen Vorstellungen von Europa, die es unter den 25 Mitgliedstaaten gibt, zu sprechen und dann daraus auch Konsequenzen zu ziehen. Die so genannte Denkpause, die sich die EU verordnet hat, ist kein Freibrief für Nichtstun. In diesem Sinne sollten wir als Deutscher Bundestag vorbildlich handeln. Wir sollten auch die Anregung der österreichischen Präsidentschaft aufgreifen und die Fragen betreffend den westlichen Balkan, die Sie erwähnt haben, Herr Außenminister, in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Diether Dehm, Die Linke, das Wort.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bei den Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte auch der Versuch, sich im Europäischen Rat am 16./17. Mai vergangenen Jahres auf eine Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 zu einigen. Allgemein war die Rede von der Krise der Europäischen Union; nur am Bewusstsein bezüglich des Charakters und der Tiefe der Krise fehlte es bei Ihnen, den Regierenden, und es gab keinen Gedanken daran, dass der Verfassungsvertrag seines Inhalts wegen abgelehnt worden war, ({0}) und vor der finanziellen Weichenstellung keinen Versuch, den Weg der Union seit Maastricht kritisch zu hinterfragen. Dabei weiß doch offenbar niemand so recht Antworten auf vier zentrale Fragen: Auf welcher Grundlage sind eine nachholende Entwicklung der beigetretenen Länder und ein umfassender sozialer Zusammenhalt in der Union möglich? Kann die Europäische Union den gewachsenen Aufgaben mit derselben Finanzausstattung gerecht werden oder gar mit einer geringeren? Können in Phasen konjunktureller Stagnation zusätzliche finanzielle Leistungen von den Mitgliedstaaten erwartet und zugleich die Einhaltung der Maastricht-Kriterien verlangt werden? Ist es den Ländern, die an sich finanziell leistungsfähiger sind als andere, überhaupt möglich, zusätzliche Beiträge an die Europäische Union aufzubringen, wenn nicht zugleich Steuerdumping europaweit unterbunden wird? ({1}) Diese Fragen, meine Damen und Herren, wurden nicht einmal gestellt. Stattdessen wurde ein weiteres Mal nach dem ebenso beliebten wie irrealen Motto „Mehr Europa für weniger Geld“ verfahren. Ich sage für die Linke, nicht nur in Deutschland: Das gibt Widerstand! ({2}) Bei der Deckelung tat sich besonders die rot-grüne Bundesregierung hervor, unterstützt von den beiden anderen neoliberalen Bundestagsfraktionen. Zusammen mit den Regierungen der anderen Nettozahler trat sie dafür ein, die finanzielle Entwicklung auf 1 Prozent der gemeinschaftlichen Wirtschaftsleistung zu schrumpfen. Auch daran, an Ihnen, scheiterten die Versuche von Jean-Claude Juncker, bei einem Prozentsatz von 1,06 zu einer Einigung zu gelangen. Nicht nur am Britenrabatt. Und nicht nur an der Verteidigung des Agrarkompromisses von 2003 durch die französische Regierung. Es fehlte auch an der Bereitschaft der Bundesregierung, einen Beitrag zu zahlen, der den Vorteilen entspricht, die wir als Exportweltmeister aus der EU und auch aus der Erweiterung ziehen. ({3}) Inzwischen war die Präsidentschaft der Europäischen Union auf Großbritannien übergegangen. Tony Blair hat zu ihrem Beginn in leuchtenden Farben fulminante Bilder gemalt. Danach geschah nicht viel. Erst jetzt, nach fünf Monaten, kurz vor Ende seiner Präsidentschaft, wurde ein neuer Vorschlag für die finanzielle Vorausschau vorgelegt. Der Bundestag ist von diesen Vorschlägen durch die Bundesregierung nur sehr unvollkommen informiert worden. Das ist nicht nur bedauerlich; das ist gänzlich inakzeptabel und stellt eine Missachtung der parlamentarischen Informations- und Kontrollrechte dar. ({4}) Nach zugänglichen Presseberichten, etwa in der „FAZ“ von gestern, wird deutlich, dass der jetzige Vorschlag sich auf 1,03 Prozent beläuft, 24 Milliarden Euro weniger als beim Vorschlag Junckers. Das erfordert erhebliche Kürzungen, die von uns Linken so nicht hingenommen werden können. ({5}) Nach meinen Informationen sollen unter anderem die Ausgaben für den Fonds für ländliche Entwicklung um 10 Prozent gekürzt werden, ganz im Gegensatz zu den Sonntagsreden gegenüber den Bauern, in denen sich besonders die Unionsparteien gefallen. ({6}) Das ähnelt sehr stark dem Umgang mit dem Mittelstand, der stets sonntags gepriesen wird, während werktags die Großbanken und Konzerne gegenüber Klein- und Mittelunternehmen steuerlich privilegiert und von Regulierungen weithin freigestellt werden. ({7}) Dann wollen Sie noch, dass die Ermäßigung der Mehrwertsteuer für unsere Kleinunternehmer in der EU nicht verlängert wird. Das, meine Damen und Herren, ist nun wirklich mittelstandsfeindlich. ({8}) Zu hören ist auch, dass die Strukturfondsmittel für die neuen Mitgliedstaaten um 10 Prozent oder 16 Milliarden Euro niedriger ausfallen sollen als im Luxemburger Vorschlag. Welche Folgen hätte das für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder, insbesondere für deren Infrastruktur und industriellen Sektor - auch unter ökologischen Gesichtspunkten! In der gestrigen Sitzung des Europa-Ausschusses haben Regierungsvertreter die geplanten Einschnitte zu relativieren versucht: Man müsse ja den Beitrittsländern nur helfen, die vorgesehenen Mittel schneller abzurufen und über einen längeren Zeitraum einsetzen zu können; das sei genug der Hilfe. Es fällt schwer, so etwas nicht für Zynismus zu halten. Wer darf sich da noch wundern, wenn Beitrittsländer nach anderen Instrumenten suchen? Etwa Steuerdumping oder das Absenken sozialer und ökologischer Standards. Dann kommt noch die Dienstleistungsrichtlinie mit dem viele soziale Standards platt machenden und aggressiven Herkunftslandsprinzip. Eine Konkurrenz um Unternehmensansiedlungen mit Mitteln des Steuerdumpings führt nur zur Umverteilung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten, nicht zur Stärkung des Wirtschaftspotenzials insgesamt. Im Ergebnis führt es zu sinkenden Steuereinnahmen besonders in den alten Mitgliedstaaten. Die mangelnde Bereitschaft, sich an einer aktiven europäischen Strukturpolitik für Arbeitsplätze und Mittelstand durch zusätzliche finanzielle Mittel zu beteiligen, führt dann nicht zu einer besseren, sondern zu einer schlechteren Haushaltssituation. Die Möglichkeiten, den immer weltfremderen Maastricht-Kriterien zu genügen, würden noch geringer. Was bliebe? Natürlich: Die Nettozahlungen an die EU könnten ja weiter reduziert werden. Und: Dann ginge der ganze neoliberale Zirkel wieder von vorne los. Es zeigt sich ganz deutlich: Genau wie auf der Ebene der Einzelstaaten spielt die dogmatische Sparpolitik eine verhängnisvolle Rolle. Statt über die öffentlichen Hände, also den Fiskus, unproduktive Geldvermögen für produktive Investitionen zu mobilisieren, werden Leistungen eingeschränkt oder jedenfalls begrenzt. Das hieße ja, heilige Kühe wie die Deutsche Bank, Daimler und Allianz einmal wirklich steuerlich anzupacken. ({9}) Aber so führt die Privilegierung hoher Einkommen und Vermögen zur Einschränkung öffentlicher Leistungsfähigkeit, auch im europäischen Bereich. Konsequenz ist, dass vorhandene Entwicklungspotenziale stillgelegt statt genutzt werden, dass sich eine noch stärkere soziale Polarisierung im Land und eine Konfliktverschärfung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben. Es ist die Ausdehnung des Wettbewerbskannibalismus auf die gesamte Europapolitik! Sozialstaat und auch Demokratie, die ja, meine Damen und Herren von den Liberalen, auf Gleichheitsgrundsätzen beruht, kommen dabei unter die Räder. Die Kanzlerin zitierte verfälschend. „Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“. Das war nicht Willy Brandt, das war Strauß mit seinem „Freiheit statt Sozialismus!“. Das ist die Freiheit des Herrn Bolkestein; ({10}) das ist die globale Freiheit der Großbanken von demokratischen Grundregeln. Das ist der Freiheitsbegriff des Urvaters der Neoliberalen, von Hayek, der es in seinen „Grundsätzen einer liberalen Gesellschaft“ so formulierte: Politische Freiheit im Sinne von Demokratie, „innere“ Freiheit, Freiheit im Sinne des Fehlens von Hindernissen für die Verwirklichung unserer Wünsche oder gar „Freiheit von“ Furcht und Mangel haben wenig mit individueller Freiheit zu tun und stehen im Konflikt mit ihr. Dieser neoliberale Freiheitsbegriff steht im Gegensatz zu unserem Grundgesetz. Deswegen wurde die EU-Verfassung abgelehnt. Deswegen werden wir Anfang des nächsten Jahres gegen Bolkestein in Straßburg demonstrieren. Deswegen bleiben wir Linken da schon lieber beim Original, bei Willy Brandt: Wir wollen mehr Demokratie wagen! ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Dehm, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, ({0}) zu der ich herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für Ihre weitere parlamentarische Arbeit. ({1}) Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Außenminister, das war ja im Grunde die erste Regierungserklärung dieser neuen großen Koalition zum Thema Europa. Die Europäische Union - Sie selber haben das angesprochen - ist in einer tiefen Krise. Ich hätte mir in dieser Situation gewünscht, dass die Bundesregierung mit ein bisschen mehr Feuer, mit ein bisschen mehr visionärer Kraft für dieses Europa, so wie es sich der Deutsche Bundestag immer mit großer Geschlossenheit gewünscht hat, eingetreten wäre. ({0}) Denn, verehrte Frau Merkel und Herr Steinmeier, gerade Sie in der neuen Bundesregierung, die sich in diesem Parlament auf eine große Mehrheit stützen kann, haben in der vor uns liegenden Zeit eine zentrale Aufgabe. Die finanzielle Vorausschau wird ein erster Schritt dabei sein. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Sie im Hinblick darauf, dass Deutschland die Präsidentschaft der EU in einer entscheidenden Phase übernehmen wird - wir alle wünschen Ihnen dafür viel Erfolg -, schon heute die Richtung Ihrer Politik deutlich gemacht hätten. Wir hatten große Erwartungen. Der Koalitionsvertrag - das will ich aus meiner Sicht sagen - ist, gerade was das Thema Europa angeht, positiv formuliert. Europa wird in den Mittelpunkt gestellt. Aber wenn wir die Theorie mit der Praxis der europäischen Politik der Bundesregierung, die in den letzten Tagen deutlich wurde, vergleichen, dann muss ich sagen: Der theoretische Überbau des Koalitionsvertrages hat mit der Wirklichkeit leider nicht sehr viel zu tun. Schauen wir uns an, welche Rolle die deutsche Regierung bei REACH und der Vorratsdatenspeicherung gespielt hat. Bei REACH kommt es zu weniger Gesundheitsschutz. Die gefährlichen Chemikalien sind sozusagen geschont worden. Das ist nicht das Europa, das die Bürger wollen. Sie wollen auch nicht weniger Datenschutz, wie dies jetzt auf deutliche Intervention der Bundesregierung gegen die große Mehrheit in diesem Hause befürwortet wurde. Beim Telekommunikationsgesetz waren wir uns alle einig, dass wir das nicht wollen. ({1}) Jetzt hat die Bundesregierung in den Verhandlungen plötzlich eine Position eingenommen, die das generelle Votum des Deutschen Bundestages nicht beachtet hat. Das ist nicht das Europa, das die Menschen wollen. Sie wollen ein Europa, das ihre Rechte und ihre Zukunft sichert. Sie wollen nicht weniger, sondern mehr Gesundheitsschutz, nicht weniger, sondern mehr Datenschutz. ({2}) Das ist das Europa, das wir wollen. Wir müssen auch das sensibel wahrnehmen, was sich in Frankreich und in anderen Ländern und auch in Deutschland abspielt. Meine Einschätzung ist nicht, dass die Menschen weniger Europa wollen. Die Sensibilität in der Bevölkerung ist durchaus groß. Sie wollen nur nicht das Europa, das ihnen zum Teil vermittelt wird; denn dieses Europa schützt nicht ihre Lebensinteressen und ihre Zukunftsinteressen, sondern handelt an diesen Interessen vorbei. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es in Zukunft nur darum geht, eine bessere Kommunikation zu erreichen, neue Werbebroschüren über Europa zu verteilen und neue PR-Kampagnen zu machen. Wir müssen vielmehr inhaltlich auf dieses Europa Einfluss nehmen. Wir müssen eine Vision von der Zukunft Europas haben und brauchen keine neuen Hochglanzbroschüren. ({3}) Ein zentraler Teil dieses Europas ist natürlich die finanzielle Vorausschau. Mit dem Haushalt der EuroRainder Steenblock päischen Union werden zentrale Weichen gestellt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen zentralen Punkt nennen. Wie wir Europa kaputtreden können, Herr Schockenhoff, das haben Sie gerade wieder in Ihrer Rede bezüglich der Finanzfrage deutlich gemacht. ({4}) Wenn wir die europäische Finanzpolitik nur als Nettosaldenpolitik der nationalen Interessen darstellen, dann werden wir an der Verantwortung, die wir für Europa tragen, scheitern. ({5}) - Nein. Er hat wieder die Rechnung aufgemacht, wie viel wir einbezahlen und wie viel wir aus dem Haushalt zurückbekommen. ({6}) Herr Hoyer hat den europäischen Mehrwert angesprochen. Ich bezeichne es als Integrationsdividende. Unsere deutsche Volkswirtschaft, die deutschen Arbeitsplätze leben zentral vom europäischen Binnenmarkt. Das kann man mit dieser Nettosaldenpolitik überhaupt nicht fassen. Wir brauchen mehr Integration; denn dies tut den Menschen gut. ({7}) Wir brauchen aber auch einen Haushalt, der die zentralen Zukunftsherausforderungen berücksichtigt. Innovation, Bildung und Forschung, das sind die Schwerpunkte eines zukünftigen Europas, mit denen man auch in einer globalisierten Welt bestehen und Maßstäbe setzen kann. Es ist schon skurril bis erschreckend, was der britische Premierminister in seiner Präsidentschaft veranstaltet hat: seine Reden auf der einen Seite und die Praxis auf der anderen Seite. Er gibt uns erst unsere Ziele vor und kürzt dann die Mittel für den europäischen Haushalt. Diese Widersprüchlichkeit ist es, die die Menschen überdrüssig macht, wenn es um die europäische Frage geht. ({8}) Wir brauchen Innovationskraft, wir brauchen aber auch Solidarität. Wer versucht, gerade bei der Solidarität mit unseren neuen Beitrittsländern die Sparbüchse aufzumachen, der wird die Integrationskraft, die Europa in Richtung Spanien und Irland positiv entwickelt hat, in Richtung Osten schwächen und damit viele unserer Versprechungen verletzen. Deshalb bin ich sehr dafür - das sage ich für die Fraktion der Grünen -, dass wir die solidarische Verpflichtung, die wir mit der Osterweiterung übernommen haben, auch in materielle Verantwortung umsetzen. Das muss sich im Haushalt widerspiegeln. ({9}) Wir brauchen eine andere Agrarpolitik; ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Es wird daher sehr wichtig sein, dass die deutsche Bundesregierung in den Finanzverhandlungen auch dafür sorgt, dass wir im Hinblick auf den neuen Finanzrahmen dazu kommen, schon sehr früh neue Weichenstellungen für den nächsten Haushalt vorzunehmen. Sie dürfen nicht auf dem Kleinklein der Abstimmungen des Vorjahres beruhen. Wir brauchen Überprüfungsregelungen, die schon sehr früh anzeigen, dass diese Form der Agrarpolitik zu Ende ist. Ich glaube, wir haben zugelassen - ich will das einmal etwas lax formulieren -, dass Europa auf materieller Ebene zu lange eine Bauernrepublik war und sich nicht den zentralen Zukunftsaufgaben gewidmet hat. Der Binnenmarkt war ein richtiger Schritt. Dieser Schritt ist allerdings nicht konsequent genug in anderen Bereichen unternommen worden. Das bereitet uns die Probleme, die wir heute haben. Die Weigerung der Franzosen, sich in diesem Bereich zu bewegen, basiert auf einer vertraglichen Grundlage, die wir akzeptieren. Wir müssen aber dazu kommen, diese Agrarpolitik zu verändern, auch aufgrund unserer internationalen Verhandlungen; die WTO sei hier nur als Stichwort genannt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einen zentralen Satz niedergeschrieben, den ich hier gerne zitieren möchte: Deutschland trägt aufgrund seiner Geschichte sowie seines politischen und wirtschaftlichen Gewichts eine besondere Verantwortung für den Erhalt und die Entwicklung des europäischen Integrationswerks. Sehr verehrte Frau Merkel, dieser Satz ist richtig; wir unterschreiben das. Dies verpflichtet Sie aber gerade angesichts der anstehenden Verhandlungen, die gestärkte deutsche Rolle zur Geltung zu bringen. Europa braucht hier einen Erfolg, nicht um jeden Preis. Ein positiver Abschluss der Verhandlungen wäre jedoch ein ausgesprochen solider Schritt, um Europa für das nächste Jahr und auch mit Blick auf die deutsche Präsidentschaft als Erfolgsprojekt diskutierbar zu machen. Dies ist aufgrund der negativen Entwicklungen notwendig. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg, sagen aber sehr deutlich: Europa braucht keine deutsche Maggie Thatcher. Europa braucht eine Lady Europe. ({10}) Auf diesem Wege werden wir Sie gerne unterstützen. In dieser Hinsicht wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Wir hoffen, dass Sie ihn haben werden, im Interesse Europas. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Angelica Schwall-Düren. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine von vielen. - Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir sind uns hier alle einig, dass mit diesem Europäischen Rat ein schwieriges Jahr für die Europäische Union zu Ende geht. Ich habe den Eindruck, dass wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, dass das negative Ergebnis der Verfassungsreferenden und der gescheiterte Gipfel in Luxemburg natürlich einen ganz gewichtigen Anteil an dieser Krise haben. Aber, Herr Dehm, es lag nicht am Inhalt der Verfassung, dass einige Referenden negativ ausgegangen sind, ({0}) sondern es gab viele unterschiedliche Gründe für die Ablehnung. ({1}) Unter anderem lag es daran, dass die Menschen die Auswirkungen nationaler Politik abgelehnt haben, dass die Bürger mit ihren Ängsten allein gelassen wurden und dass sie es der EU nicht zutrauen, die anstehenden Probleme zu lösen. Deswegen kommt es in der Tat, Herr Steenblock, darauf an, dass ganz konkrete Schritte gemacht und Fragen und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger von der Politik tatsächlich positiv aufgegriffen werden. Aber das kann natürlich nicht heißen, dass man in Brüssel mit Maximalforderungen auftritt und letztlich vielleicht eine Blockade herbeiführt, die überhaupt nichts voranbringt oder löst. Herr Dehm, die Skepsis der Bürgerinnen und Bürger ist nicht von der Höhe des Budgets abhängig. ({2}) Das wäre völlig fehl gedacht. Vielmehr kommt es darauf an, dass überhaupt ein Budget zustande kommt, damit die Politik handlungsfähig ist. ({3}) Die Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen besteht nicht zu Recht. Die Blockade ist - so hat es jüngst eine Journalistin beim Deutsch-Ungarischen Forum in Budapest formuliert - nicht von der Kommission oder vom Europäischen Parlament verursacht worden, stattdessen trägt jeder einzelne Regierungschef, der sich im Europäischen Rat einem Konsens verweigert, die Verantwortung dafür. Deswegen, Herr Dehm, muss ich Ihren Vorwurf gegenüber Deutschland zurückweisen. In Luxemburg hat Deutschland den dort vorgetragenen Kompromiss mitgetragen, wie übrigens 21 andere Staaten auch. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Agenda des bevorstehenden Europäischen Rates stehen wichtige Themen, die weiterverfolgt werden müssen. Zu nennen sind hier insbesondere die Fortführung der Diskussion zur künftigen Entwicklung der Europäischen Union, das heute schon öfter erwähnte „große Projekt“, die Gestaltung der künftigen Nachbarschaftspolitik der Gemeinschaft, eine europäische Strategie für Afrika sowie die Zusammenarbeit in der Migrationspolitik und bei der Bekämpfung des Terrorismus. Hierzu gehört auch die eindeutige Zurückweisung der unakzeptablen Äußerung des iranischen Staatspräsidenten gegenüber Israel durch die EU. ({5}) Das zentrale Thema des Europäischen Rates ist die Frage, ob eine Lösung für die künftige Finanzierung der Europäischen Union gefunden und eine Einigung über die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 erzielt werden kann. Nachdem die Finanzverhandlungen im Europäischen Rat im Juni nicht zuletzt an Großbritannien gescheitert waren, sah es lange Zeit so aus, als ob die britische Präsidentschaft keinen weiteren Einigungsversuch wagen oder zustande bringen würde. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich die britische Regierung nun doch entschieden hat, ihrer Verantwortung für die Gemeinschaft gerecht zu werden und neue Kompromissvorschläge vorzulegen. Grundlegende Pfeiler der Europäischen Union sind das europäische Gesellschaftsmodell und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Diese findet Ausdruck in der Struktur- und Kohäsionspolitik der Gemeinschaft. Ziel dieser Politik ist es, dass die wirtschaftlich schwächeren Regionen und Mitgliedstaaten an die stärkeren herangeführt werden und so die Ungleichgewichte überwunden werden können. Von dieser Politik haben die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft profitiert. Irland und Spanien sind hierfür gute Beispiele. Aber auch die ostdeutschen Länder haben europäische Strukturförderungen in großem Umfang erhalten. Es ist nur wenigen bekannt - das muss an dieser Stelle gesagt werden und hat nichts mit Aufrechnungen zu tun -, dass Deutschland nach Spanien im laufenden Finanzzeitraum, in absoluten Zahlen, der zweitgrößte Empfänger von Strukturmitteln der EU ist. ({6}) Aber es ist richtig, Herr Steenblock: Wir sollten nicht vergessen, dass wir jenseits der direkten Rückflüsse wirtschaftlich enorm von der Erweiterung profitieren; denn trotz oder gerade wegen der erweiterten europäischen Arbeitsteilung und der damit teilweise verbundenen Standortverlagerungen profitieren wir als Exportnation von der steigenden Kaufkraft in unseren Nachbarländern. Nur wenn Arbeitnehmer in Polen anständige Löhne verdienen, können sie sich deutsche Autos leisten. Wir stehen gegenüber den neu beigetretenen Ländern im Wort. Länder wie Tschechien und Estland haben nach dem Fall der Mauer einen Transformationsprozess durchlaufen, der von den Bürgern große Anpassungsleistungen erforderte. Deswegen erwarten unsere Nachbarn nun zu Recht unsere Solidarität. Solidarität bedeutet alDr. Angelica Schwall-Düren lerdings nicht nur Solidarität bei den Ausgaben der Gemeinschaft, sondern auch bei ihrer Finanzierung. Solidarität auf der Einnahmenseite der Union bedeutet, dass sich alle Mitgliedstaaten fair, das heißt nach ihrer Leistungsfähigkeit, an der Finanzierung der Gemeinschaft beteiligen. Hierbei sind Anpassungen erforderlich, da ursprünglich ärmere Mitgliedstaaten - nicht zuletzt durch die EU-Hilfen - wirtschaftlich aufgeholt haben, sogar in die erste Reihe aufgerückt sind. Diese Anpassungen sind insbesondere im Hinblick auf die Kosten der Erweiterung relevant. Diese Erweiterung wurde gemeinsam von allen Mitgliedstaaten beschlossen. Nun muss sie auch gemeinsam finanziert werden. Gerade Großbritannien hat sich immer für die Erweiterung stark gemacht. Deshalb ist es nicht nachzuvollziehen, dass sich Großbritannien nicht wie alle anderen an der Finanzierung der Erweiterung beteiligt, sondern seinen Rabatt sogar von den Ärmeren mitbezahlen lässt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute Vormittag wissen wir noch nicht, ob es zu einer Einigung kommt. Der schwierige Spagat einer wirklichen europäischen Solidarität, auch gegenüber den neuen Mitgliedstaaten, zwischen Ausgabenbegrenzung und einer gerechten Lastenteilung bei der Finanzierung, ist noch nicht geschafft. Dennoch will ich noch einmal unterstreichen, dass sich Großbritannien erfreulicherweise bewegt hat und bis 2013 auf einen kleinen Teil seines steigenden Rabatts verzichten will. Den neuen Mitgliedstaaten wird eine Kürzung der Strukturmittel zugemutet, allerdings mit der Aussicht, dass die Inanspruchnahme der Mittel erleichtert wird. Auf dieser Grundlage muss der Europäische Rat nun ernsthaft verhandeln. Wir erwarten aber, dass Großbritannien sich für Veränderungen noch stärker öffnet und einem langfristigen, über das Jahr 2013 hinausgehenden Abbau des Britenrabatts den Weg bereitet. ({7}) Die neuen Mitgliedstaaten werden die volle Solidarität Deutschlands erfahren, wenn es darum geht, die eventuell geringfügig reduzierten Mittel so optimal wie möglich zu nutzen. Herr Steenblock, dass wir die Notwendigkeit sehen, den Weg der Reformen auch im Bereich der Agrarpolitik fortzusetzen, haben wir schon im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebracht. Lösungen lassen sich in Europa nur gemeinsam finden. Deutschland ist bereit, zusammen mit seinen Nachbarn und Freunden nach Mitteln und Wegen zu suchen. Wir erwarten deshalb ein Miteinander von größeren und kleineren Staaten, von Nettozahlern und Nettoempfängern. Herr Hoyer, Deutschland wird mithelfen, dass dieser Ausgleich zwischen Großen und Kleinen erfolgreich vollzogen wird. ({8}) Ob nun Deutsche, Franzosen, Niederländer, Schweden oder Slowaken, um nur einige beispielhaft zu nennen wir alle müssen zu einem Kompromiss beitragen. Erlauben Sie mir deshalb, in diesem Zusammenhang an einen Satz unseres Altbundeskanzlers Gerhard Schröder zu erinnern, der über die im Juni gescheiterten Finanzverhandlungen schrieb - ich darf zitieren -: ({9}) Am Ende haben ausgerechnet die ärmeren neuen Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa sich zu Einschnitten bereit erklärt. Das war für die Reichen beschämend - ermutigend allerdings auch: Denn es zeigt, dass der Geist der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten noch lebendig ist. … Unsere Freunde aus den Beitrittsländern haben bewiesen, dass sie ihrer europäischen Verantwortung vollauf gerecht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vom Frieden, von der Demokratie und der Solidarität in Europa profitieren alle Mitgliedstaaten. Deswegen müssen sich alle bewegen. Niemand darf allein aus nationalen Interessen handeln. Ich bin sicher: Unsere Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel und unser Außenminister Steinmeier werden sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen, einen erfolgreichen Abschluss zu erreichen. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Link, FDPFraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man als engagierter Neuer in diesem Haus gleich in seiner ersten Rede zum Thema finanzielle Vorausschau sprechen darf, dann kann einem der Zauber, der angeblich jedem Anfang innewohnt, rasch vergehen. Denn das, was uns in Brüssel ab heute Abend bevorsteht - ein Kampf mit harten Bandagen -, hat mit Zauber wirklich wenig zu tun. Wir alle kennen schon jetzt die Bilder, die wir, wenn wir Samstag früh aufstehen, sehen werden: von angehaltenen Uhren, von letzten und allerletzten Kompromissen, von bleichen Gesichtern und bleichen Unterhändlern - wir hoffen, dass es diesmal nicht so schlimm wird. ({0}) Später wird wieder die Rechnung aufgemacht, wer denn nun Gewinner und wer Verlierer des Gipfels ist. Dann mag sich zwar der eine oder andere als Gewinner dieses Schacherns fühlen. Aber oft, allzu oft ist es die EU als Ganzes, die durch dieses untransparente Verfahren verliert. ({1}) Ein kleiner Rückblick: Noch 1999, als auf dem Kölner Gipfel die letzte finanzielle Vorausschau vereinbart wurde, waren sich alle einig, dass eine Einigung in dieser Form, im letzten Augenblick, sich nicht wiederholen sollte. Damals dachte man: Auf dem nächsten Gipfel zur finanziellen Vorausschau wird alles besser; denn bis dahin wird es die EU-Verfassung geben, bis dahin werden wir geregelte Verfahren haben, dann brauchen wir diese interinstitutionellen Vereinbarungen nicht mehr. Doch die EU-Verfassung haben wir noch lange nicht, geschweige denn eine effiziente Finanzverfassung. So stehen wir heute mehr denn je vor den Fragen: Was ist uns die EU wert? Wofür geben wir Geld aus? Und wer bezahlt? Zwei Schlagworte bestimmen die Diskussion über die jüngsten Vorschläge der Kommission in der britischen Ratspräsidentschaft: „Draufsatteln“ lautet der Vorschlag der Kommission und der britische Vorschlag wird als „Totsparen“ bezeichnet. Beide führen uns nicht weiter. Entscheidend ist vielmehr, dass die vorhandenen finanziellen Mittel in zukunftsträchtige Politikfelder umgeschichtet werden. Deshalb fordern die Liberalen eine Haushaltspolitik, die sich klar zu Wettbewerb, Freihandel und globaler Verantwortung bekennt. ({2}) Die EU hat sich mit den Jahren in einem Gespinst von kaum mehr nachvollziehbaren, dafür aber umso teureren Finanzkompromissen selbst gefangen. Gleichzeitig verlieren wir mehr und mehr den Anschluss an die globalisierte Weltwirtschaft. Wir geben abenteuerliche Beträge für Subventionen bestimmter Länder und Berufsgruppen aus und vernachlässigen darüber sträflich Investitionen in wirklichen europäischen Mehrwert: in Forschung, Bildung, die transeuropäischen Netze und - ja, auch dies die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die ebenfalls zu kurz kommt. ({3}) Wenn es um die nächste finanzielle Vorausschau geht, lautet daher die zentrale Forderung der FDP: mehr Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Wie aber will man Sicherheit bewerten? Wie viel darf Frieden kosten? Welchen Haushaltsansatz sollten wir für den gewaltfreien Export von Menschenrechten und Marktwirtschaft veranschlagen? All diese Zahlen können wir nicht beziffern. Deshalb geht die Frage, die die heutige Diskussion beherrscht - bist du Nettozahler oder Nettoempfänger? -, am Thema vorbei; hier gebe ich Herrn Steenblock völlig Recht. Die FDP erteilt dieser Sichtweise, die nur auf die Nettosalden schielt, aber die viel wichtigere Frage, wofür das vorhandene Geld ausgegeben wird, vergisst, eine klare Absage. ({4}) Wir wollen mehr Investitionen in Europas Wettbewerbsfähigkeit. Wir bezweifeln, dass die beiden größten Ausgabeposten des Haushalts - Agrar- und Kohäsionspolitik so, wie sie heute sind, die richtigen Anreize setzen. Solange das so ist, dürfen wir den EU-Haushalt nicht einfach weiterwachsen lassen. Die Vorschläge der Kommission und auch des Europäischen Parlaments mit 1,14 Prozent bzw. 1,07 Prozent gehen uns zu weit. Auch der alte Luxemburger Kompromiss mit 1,06 Prozent und der neueste britische Vorschlag mit 1,03 Prozent sind zu teuer. Der Bundestag hat in der 15. Wahlperiode immer wieder betont, dass gegenwärtig mehr als 1,0 Prozent des BNE nicht drin ist. Herr Finanzminister, Sie waren gestern im Haushaltsausschuss und haben dort nochmals von einer großen Mehrheit das klare Signal erhalten, dass die Haushälter gerne am 1-Prozent-Ziel festhalten würden. Die FDP hat das heute in ihrem Antrag noch einmal deutlich gemacht. Bitte bleiben Sie beim 1-Prozent-Ziel am Ball! Jetzt mag sich mancher fragen, was diese Kommazahlen sollen. Sie machen aber einen großen Unterschied. Rechnen wir das einmal im Vergleich aus: Das jetzige 1-Prozent-Ziel entspricht 824 Milliarden Euro. Beim manchmal genannten möglichen Kompromissziel von 1,045 Prozent wüchse der Haushalt auf 861 Milliarden Euro an. Der Unterschied von 37 Milliarden Euro bedeutete für Deutschland, dessen Beitragsanteil bei ungefähr 20 Prozent liegt, verteilt auf sieben Jahre über 7 Milliarden Euro Mehrkosten, also jährlich Mehrausgaben von 1 Milliarde Euro; man muss es einmal so deutlich sagen. Diese Kommastellen haben es also in sich. ({5}) Herr Präsident, ich will die entscheidenden Punkte zusammenfassen: Es wäre schön, wenn bei diesem Gipfel eine europäische Einigung erzielt werden könnte und nicht, wie schon oft, jeder Regierungschef nach Hause fährt und einen Sieg nationaler Interessen verkündet. Wir brauchen nicht nur eine europäische Verfassung, sondern auch - das ist vielleicht unser zweitwichtigstes Anliegen -, eine europäische Finanzverfassung, die klare und transparente Verfahren für zukünftige finanzielle Vorausschauen enthält. Der britische Vorschlag, das gesamte Finanzsystem auf den Prüfstand zu stellen und damit 2009 auch eine Reform der gesamten Ausgaben und Einnahmen der EU zu verbinden, beinhaltet auch - und das ist bemerkenswert -, im Zusammenhang damit den eigenen Rabatt zu thematisieren. Dies verdient unsere Zustimmung; denn dieser Rabatt ist ganz klar ein Anachronismus, der genauso wie Maggie Thatchers Handtasche ins Haus der Geschichte gehört. ({6}) Wenn diese Punkte erfüllt sind und wir für die finanzielle Vorausschau möglichst das 1-Prozent-Ziel erreichen, könnte Außenminister Jack Straw doch noch Recht haben, der gesagt hat, dieser Gipfel werde „good for Europe and good for us“. Die FDP wünscht der Bundesregierung bei den anstehenden nächtlichen Verhandlungen eine glückliche Hand, gute Kondition und auch europäischen Geist. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Link, ich möchte auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren, ({0}) verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. Das Wort hat nun der Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tagung des Europäischen Rates in dieser Woche wird dominiert von den Verhandlungen über die finanzielle Vorausschau der Europäischen Union für die Jahre 2007 bis 2013. Den meisten von uns ist bekannt, dass es um einen Haushalt von ungefähr 850 Milliarden Euro geht; ich will das nur noch einmal in Erinnerung rufen. Das hat etwas damit zu tun, dass die Europäische Union die Praxis pflegt, ihren Haushalt faktisch für sieben Jahre festzulegen. Haushaltsverhandlungen sind wie in jedem Parlament so auch in der Europäischen Union nicht nur Verhandlungen über Zahlen, sondern in den Haushaltsverhandlungen spiegeln sich auch die politischen Prioritäten eines Landes bzw. hier der Europäischen Union wider. Bei der Debatte um die Höhe des Haushalts geht es gleichsam um die Höhe der Förderung durch Strukturfonds, um die Höhe der Agrarförderung, der Forschungsförderung und damit um die künftigen Schwerpunkte der europäischen Politik. Wir reden eben auch über die künftige gemeinsame Agrarpolitik, über die Strukturpolitik, über die so genannte Lissabon-Strategie und über die Rolle Europas in der Welt. Ich denke, dass es richtig ist, die Auseinandersetzungen so heftig zu führen und so intensiv über den richtigen Weg nachzudenken. Das muss sein; denn es wäre geradezu fahrlässig, wenn über 850 Milliarden Euro so nebenbei beschlossen werden würde. ({0}) Zu den Vorschlägen der britischen Ratspräsidentschaft aus der vergangenen Woche und in leicht veränderter Form von gestern Mittag ist in den vergangenen Tagen sehr viel Kritisches gesagt worden. Die Kritik war zum Teil sehr heftig, zum Teil war sie mit Blick auf den Verhandlungsausgang des Europäischen Rates taktisch motiviert. Viele dieser Kritikpunkte sind allerdings berechtigt. Bedauerlicherweise hätte dieser Vorschlag, so wie er uns heute vorliegt, fatale Auswirkungen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Großbritannien durch diesen Vorschlag sein Privileg, nämlich den Beitragsrabatt, schont und somit den Konsolidierungsbedarf überstark auf die neuen Mitgliedsländer, also auf die ärmsten Länder in der Europäischen Union, verlagert. Dass dies nicht einfach akzeptiert werden kann, auch von uns nicht, liegt auf der Hand. Der britische Vorschlag, auch der gestrige, hat jedoch noch eine andere Seite: Er hat nach meiner festen Überzeugung das Potenzial, zu einer vernünftigen und ausgewogenen Einigung am Ende des kommenden Europäischen Rates zu führen. Wo liegen diese Potenziale? Darauf möchte ich etwas näher eingehen: Zum Ersten. Der Haushaltsentwurf der britischen Ratspräsidentschaft sieht einen sparsamen Haushalt vor. Mit der Zielmarke von 1,03 Prozent des Bruttonationaleinkommens ist dieser Haushalt kleiner als der des Luxemburger Vorschlags. Der Bundesaußenminister hatte mit Recht darauf hingewiesen, dass der Luxemburger Kompromiss, der ja gescheitert ist, leicht über die Grenzen der deutschen Belastbarkeit hinausging. Grundsätzlich ist dieser Entwurf also positiv. Positiv ist für uns auch, dass der britische Vorschlag einen reduzierten Mehrwertsteuerabrufsatz bei den Zahlungen für Deutschland vorsieht. Das ist berechtigt; denn das trägt der Situation Rechnung, dass wir als Nettozahler in Europa in besonderer Weise belastet sind. Insgesamt bedeutet der Vorschlag Großbritanniens im Vergleich zum Luxemburger Vorschlag eine Reduzierung unserer Belastungen um etwa 3,5 Milliarden Euro. Das ist grundsätzlich richtig. Natürlich gibt es jetzt Aufwuchstendenzen. Aber als Grundlage der Verhandlungen ist das für uns gut. Zum Zweiten. Die britische Regierung ist das erste Mal seit dem Europäischen Rat von Fontainebleau von 1984, auf dem der berüchtigte Beitragsrabatt mit der Zustimmung Deutschlands beschlossen wurde, bereit, überhaupt über den Beitragsrabatt zu sprechen und ihn, zumindest in einem kleinen Bereich, zur Disposition zu stellen. Das ist ein riesengroßer Fortschritt und war vor wenigen Wochen noch nicht zu erwarten. ({1}) Großbritannien muss sich allerdings, wie ich denke, noch in zwei Punkten bewegen - Ansätze sind beim neuen Vorschlag von gestern Mittag schon zu erkennen -: Zum einen muss die Reduzierung des britischen Beitragsrabatts dauerhaft sein, also über das Jahr 2013 hinaus reichen, zum anderen muss die Reduktion noch etwas stärker sein. Dann, denke ich, ist eine Einigung möglich. Zum Dritten. Die drastische Reduzierung der Strukturfondsmittel um etwa 14 Milliarden Euro, vorgeschlagen von der britischen Ratspräsidentschaft, ist von den neuen Mitgliedstaaten zu Recht kritisiert worden. Schaut man aber genau in den Vorschlag hinein, so findet man dort aber einige sehr vernünftige und richtige Ansätze, die, wenn sie ausgebaut werden, nach meiner Überzeugung zu einer Einigung führen könnten. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, den europäischen Kofinanzierungsanteil für die Strukturfondsmittel von bisher 75 Prozent auf 85 Prozent zu erhöhen und den neuen Mitgliedsländern nach Bewilligung der Mittel drei Jahre Zeit zu geben, die Mittel auszugeben und Projekte umzusetzen. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wären die neuen Mitgliedsländer damit in der Lage, die notwendigen Modernisierungen im Infrastrukturbereich wie auch in anderen Bereichen schneller durchzuführen. Zum anderen würden wir mit solch einem Beschluss mit einer lang gepflegten Praxis in der Europäischen Union aufräumen, dass nämlich gerade bei den Haushaltsansätzen im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung große Scheindebatten geführt werden. Meist geschieht dies zur stillen Freude der Finanzminister der Nettozahlerländer; denn es war bisher immer so, dass die Ansätze der Spitzenzahlen in diesen Haushalten weit höher waren als das, was jemals real ausgegeben worden ist, sodass jeder Finanzminister eines Nettozahlerlandes in stiller Freude immer damit rechnen konnte, dass er den Betrag, der ursprünglich angesetzt worden ist, niemals ausgeben musste. Es ist auch ein Beitrag zu mehr Transparenz und Verständlichkeit der Europäischen Union, wenn wir dazu kommen, dass die Beträge, die im Haushalt stehen, dann auch real ausgegeben werden. Ich glaube, auch das wäre sinnvoll. ({2}) Großbritannien hat in seinem Vorschlag auch nachhaltigen Wert darauf gelegt, dass in diesem Finanzplafond die Formulierung einer Revisionsklausel enthalten sein soll. Ich weiß sehr genau, dass durch diese Revisionsklausel, wenn sie aufgenommen wird, materiell nichts verändert wird. Aber auch hier stimme ich der Intention Großbritanniens grundsätzlich zu; denn ich halte es für richtig, dass sich die Europäische Union jetzt zumindest verbal darauf einigt, dass die bisherige Agrarund Strukturpolitik, wie sie 2002 mit dem Agrarkompromiss fortgeführt worden ist, nicht ohne weiteres auf alle Zeit und Ewigkeit so bleiben kann. Wir müssen auch hier ansetzen, ohne dass wir den Kompromiss bis 2013 infrage stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt liegt eine Einigung für mich im Bereich des Möglichen. Ein Erfolg wäre nicht nur wünschenswert, sondern für die Europäische Union ein wichtiges Signal am Ende eines nicht übermäßig erfolgreichen europapolitischen Jahres. Viele Beobachter haben in den letzten Monaten mehr politische Führung in der EU angemahnt und sie erhoffen dies gerade von der deutschen Bundesregierung. Die Bundesregierung steht vor diesem Gipfel und während dieses Europäischen Rates vor einer überaus schwierigen Herausforderung. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Bundesregierung haben diese Herausforderung aber angenommen. Gerade in den letzten Wochen der wichtigen Vorbereitungsphase dieses Europäischen Rates haben Sie, Frau Merkel, eine führende Rolle in der Moderation und der Diskussion mit den Staats- und Regierungschefs der neuen, der alten, der großen und der kleinen Mitgliedsländer geführt. Das ist eine wichtige Voraussetzung. Dafür danke ich. ({3}) Frau Bundeskanzlerin, ich wünsche Ihnen und dem Bundesaußenminister, Herrn Steinmeier, für die nächsten 50, 60 Stunden eine glückliche Hand, kluge Entscheidungen und vor allen Dingen eiserne Nerven; denn die braucht man dort auch. Wir alle wünschen uns einen Erfolg, einen vernünftigen und ausgewogenen Haushalt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Europäische Union und auch wir in Deutschland diesen Erfolg brauchen. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Erfolg gerade auch mit einer starken Führung der neuen Bundesregierung in Deutschland errungen werden kann. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will eine Vorbemerkung machen: Ich begrüße es außerordentlich, dass die Bundesregierung sagt, diese EU könne sich die Ausfälle von Herrn Ahmadinedschad aus dem Iran nicht gefallen lassen. Es muss hier eine klare europäische Antwort gegeben werden. Das Leugnen des Holocaust und das Infragestellen des Existenzrechts Israels kann von diesem Europa gemeinsam nicht akzeptiert werden. ({0}) Ich füge aber auch hinzu: Man muss das seriös tun. Dazu gehört für mich nicht, darüber zu spekulieren, den Iran von der Fußballweltmeisterschaft auszuschließen. Ich glaube, die Teilnahme wird eher die Zivilgesellschaft im Iran als die Macht des Klerus stärken. ({1}) Die Überwindung der Krise der Europäischen Union wird das große Projekt sein, das Sie, Frau Merkel, mit der Präsidentschaft 2007 anzugehen haben. Die Schlüsselfrage dafür wird sein, ob es gelingt, dieses Europa global wieder wettbewerbsfähiger zu machen, dies aber in dem Wissen zu tun, dass es dazu eines Mehr an sozialer Kohärenz und der Beachtung einer ökologischen Nachhaltigkeit bedarf. Diesen Dreiklang zusammenzuhalten und ihn nicht in Richtung ausschließlich der Wettbewerbsfähigkeit zu verabsolutieren, wie ich das gelegentlich aus Ihrer Ecke gehört habe, ist die Grundlage, wie diesem europäischen Projekt als eine Antwort auf die Globalisierung wieder so etwas wie eine Sinnstiftung gegeben werden kann. ({2}) Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sich das in der Frage zuspitzt: Was wird demnächst mit den europäischen Ressourcen passieren? Die Voraussetzung wird also sein, eine Lösung für die Frage der finanziellen Vorausschau zu finden. Hier haben Sie eine RiesenJürgen Trittin chance, Frau Merkel. Ich habe vorhin wieder eine abfällige Bemerkung über das Verständnis von Direktorien gehört. Sehen Sie, lieber Herr Hoyer, Sie wissen das selber sehr gut: Gerade die kleinen Mitgliedstaaten in Europa erwarten von den großen Mitgliedstaaten, dass diese Verantwortung für das Ganze übernehmen und dieser Verantwortung auch in schwierigen Situationen gerecht werden. ({3}) Das sage ich bewusst mit Blick auf die Widersprüche, die diesem schwierigen Projekt zugrunde liegen. Es wäre in Europa überhaupt nicht nach außen zu vermitteln, dass in diesem Europa ein Land wie Slowenien zum Nettozahler wird und in der gleichen Entwicklung der Britenrabatt von heute 5 Milliarden Euro auf 9 Milliarden Euro ansteigt. Das spitzt sich in diesen Stunden zu. Liebe Frau Merkel, wann anders gibt es überhaupt eine Chance, an diesem Punkt unter Wahrung der Interessen hinsichtlich der Strukturfonds und auch unter Wahrung des Kompromisses hinsichtlich der Agrarpolitik etwas zu erreichen? Die erste Säule kann man schauerlich falsch finden - ich habe da erhebliche Bedenken -, aber das war ein Teil dieses Kompromisses, den wir bis 2013 akzeptieren müssen. Wann wird wieder die Chance bestehen, in der Frage des Rabattes zu einer Lösung zu kommen, wenn nicht jetzt unter der britischen Präsidentschaft? Das ist der Kern. Ich erwarte, dass diese Gelegenheit von Ihnen genutzt wird und dass Sie das, was der Außenminister gesagt hat, ernst meinen: In dieser Situation kann sich niemand an bisherigen Dingen dogmatisch festhalten. Diese Chance zu nutzen, dafür wünsche ich Ihnen eine feste Hand. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Axel Schäfer, SPDFraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die europäische Einigung steht heute vor einem zentralen Problem: der sinkenden Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger. Die Lösung dieses Problems hat einen Namen: Es ist die europäische Einigung. Die britische Präsidentschaft zeigt: Wir müssen vieles gleichzeitig tun, weil es sich nicht nacheinander lösen lässt. Das Entscheidende ist die Handlungsfähigkeit. Am Anfang dieses Halbjahres stand die Gefahr eines dreifachen Scheiterns: das mögliche Scheitern der europäischen Verfassung, das denkbare Scheitern weiterer Beitrittsverhandlungen, das einstweilige Scheitern des Finanzrahmens 2007 bis 2013. Wo stehen wir heute? Erstens. Der Prozess zu einer europäischen Verfassung befindet sich in einer Denkpause. Einige scheinen das missverstanden zu haben und meinen, beim Denken eine Pause einzulegen. In der veröffentlichten Meinung unseres Landes jedenfalls ist von einer Debatte noch fast nichts zu spüren. Der D-Plan der Europäischen Kommission hat auch etwas mit Denken, Demokratie, Dialog und Diskussion zu tun. Klar ist: Wir brauchen keine Werbekampagnen - weder schöne Fernsehspots noch bunte Plakate. Wir brauchen Erfolg. Erfolg spricht für sich und er spricht für uns. Jawohl: Die europäische Einigung war bisher insgesamt eine Erfolgsstory. ({0}) Zweitens. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden wie vereinbart begonnen. Die neu gewählte Bundesregierung steht in der Kontinuität von Konrad Adenauer über Willy Brandt und Helmut Kohl bis zu Gerhard Schröder. Diese deutschen Kanzler haben den Weg vorgezeichnet. Mit Kroatien erhielt eine ehemals jugoslawische Republik eine Chance und Mazedonien, einem weiteren Westbalkanland, wurde die Tür geöffnet. Der Beitritt von Bulgarien und Rumänien Anfang 2007 wurde zu Recht mit klaren Vorgaben für die zu leistenden Anforderungen verbunden. Drittens. Besondere Anforderungen stellen wir bei den Finanzen. Die Vorschau bis 2006, die unser heutiger Außenminister in damals anderer Position, aber genauso effektiv und kompetent mitgestaltet hat, ist ein gutes Beispiel. Sie wurde unter der deutschen Ratspräsidentschaft auf dem EU-Sondergipfel am 26. März 1999 auf den Weg gebracht. Ein anderer, der damals in noch wichtigerer Verantwortung war - bis 14 Tage vorher -, ist der jetzige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, PDS/WASG. Er hat sich dieser Verantwortung bekanntlich entledigt. Damit sind wir beim Thema Verantwortung. Sie, Herr Dehm, entledigen sich heute Ihrer Verantwortung, die zum Beispiel die PDS im Europäischen Parlament mit der Zustimmung zur Verfassung übernommen hat, indem Sie jetzt auf sehr billige Weise polemisieren. ({1}) - Fragen Sie doch Ihre Kollegin Kaufmann! - Deshalb sind Ihre Ratschläge heute das Letzte, was wir in puncto Verantwortung für Europa gebrauchen können. ({2}) Wer jetzt einen Finanzkompromiss schmieden muss, muss aus den Erfahrungen des Jahres 1999 lernen: Die Axel Schäfer ({3}) deutsche Außenhandelsleistung, mit der wir Platz eins einnehmen, muss mit unserem Wohlstandsranking - Platz elf - und der Nettozahlerposition - Platz drei - in eine politische Balance gebracht werden, die von 14 bzw. jetzt 24 Staaten mitgetragen wird. Der Kommissionsvorschlag sieht bekanntlich 1,24 Prozent des Bruttonationaleinkommens als Obergrenze vor. Die auch von Deutschland richtigerweise aufgestellte 1-Prozent-Forderung liegt schon nahe an dem, was derzeit verhandelt wird. Hierbei geht es selbstverständlich in erster Linie um gesicherte Haushaltsentscheidungen. Es geht aber auch um ein gesichertes Bild von Europa. Nennen wir das Problem beim Namen: Bei zunehmender Europäisierung unserer Gesellschaft und wachsender Europanotwendigkeit überall auf dem Kontinent sind wir zugleich mit dem zunehmenden Nationalismus in vielen Mitgliedsländern konfrontiert. Dieser Nationalismus kommt oft in großen Zeitungen in Großbuchstaben daher und ist leider auch schon in den Parlamenten einer Reihe von EUStaaten angekommen. Gerade wir Deutsche können deshalb in Anlehnung an Heinrich Heine heute noch feststellen: „Wenn man am innigsten bei sich ist, gerät man am heftigsten außer sich.“ Genau das wollen wir aber nicht. ({4}) Wenn bestimmte Regierungen von Mitgliedstaaten Glauben machen wollen, Erfolg sei, möglichst viel in Europa durch das eigene Land verhindert zu haben, dann ist dies tatsächlich ein Misserfolg. Erfolg ist nämlich, möglichst viel für das gemeinsame Europa getan zu haben. Das scheinbar Einfache ist in der Tat schwerer geworden. Die Summe aller nationalen Interessen ergibt nun einmal nicht Europa als Ganzes. Europa als Ganzes besteht auch in dem Bewusstsein, welches der Vorgänger von Frank-Walter Steinmeier, Joschka Fischer, einmal wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Das wichtigste deutsche Interesse ist die europäische Einigung.“ Jawohl. ({5}) Wir müssen dabei über das Spannungsfeld zwischen der Legitimation durch unsere Bürgerinnen und Bürger sowie unserer Verantwortung in Europa sprechen. Ich sage ganz offen: Für die SPD heißt das, sich im Rahmen der europäischen Parteienfamilie auch mit Tony Blair auseinander zu setzen. Für unsere christdemokratischen Kolleginnen und Kollegen bedeutet das Ähnliches in Richtung der britischen Konservativen. Wir wissen, dass am Ende ein Kompromiss in Europa stehen muss. Die Idee des Kompromisses ist ein Kernelement unserer europäischen Kultur. Wer zum Kompromiss fähig ist, ist zum Frieden fähig. Wer nur zu Konfrontation bereit ist, ist friedensunwillig. Frieden ist für uns selbstverständlich geworden, trotz neuer Gefahren des Terrorismus und der Privatisierung von Kriegen. Aber diejenigen auf der Welt, die in besonders starkem Maße in realer Kriegsgefahr leben, wissen das europäische Modell oftmals mehr zu schätzen als manche hier bei uns. Die unbestrittenen Erfolge der EU-Politik gerade im Hinblick auf die 78 AKP-Staaten sind eine große Hoffnung für den afrikanischen Kontinent - darum geht es in erster Linie -, genauso wie für andere Großregionen auf der Welt. Die Hoffnung lautet: von Konfrontation über Kooperation zu einem Konsens zu kommen. Sprechen Sie doch einmal mit Politikerinnen und Politikern aus Afrika oder Lateinamerika! Für sie ist Europa ein Leitmodell. Die Diskussion mit diesen Politikerinnen und Politikern zeigt: Sie betonen in erster Linie den Wert des Friedens. Wir reden dagegen manchmal viel zu oft über den Preis des gemeinsamen Marktes. Bei aller Bedeutung der 1-Prozent-Marge des Haushalts - sie ist richtig und wir werden auf diesem Weg vorankommen - gilt: 1 Prozent ist kein Wert an sich und ist auch kein Preis für uns. Es ist vielmehr die Balance zwischen Notwendigem und Möglichem, damit wir Europäer dem Wünschbaren ein Stück näher kommen. Ich erinnere dabei an den diesjährigen 60. Jahrestag des Endes des schrecklichsten aller Kriege in Europa. Bei der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald durch amerikanische Truppen hatten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus 13 europäischen Ländern ein Manifest vorgelegt. Darin stand: Wir Deutsche müssen in den europäischen Kulturkreis zurückkehren, und das heißt vor allen Dingen und in erster Linie die Verständigung mit Frankreich und Polen. - Das ist unser Weg, den wir gehen, den wir gegangen sind und den wir auch weitergehen müssen. Zum heute beginnenden EU-Gipfel reisen die neu gewählte Bundeskanzlerin und der neu gewählte Bundesaußenminister mit berechtigten Hoffnungen. Hoffnung heißt nach Ernst Bloch: ins Gelingen verliebt. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dr. Dehm das Wort.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bitte Sie ganz herzlich, Kollege Schäfer - ich weiß, dass Sie es besser wissen -, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir, die Linke, im Europäischen Parlament gegen die EU-Verfassung gestimmt haben, und zwar wegen des Aufrüstungsgebots, wegen des Neoliberalismus, der unsere Verfassung überlagert, und wegen der Demokratiedefizite. Dann sind die Stimmen von Le Pen, lieber Jürgen Trittin, mit dem Referendum in Frankreich halbiert worden. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass dies ein probates Mittel gegen die Rechten war, dass die Linke dies mitbetrieben hat und dass Oskar Lafontaine sowie andere Linke große Verantwortung ({0}) bei der Kampagne in Frankreich übernommen haben, und zwar nicht nur im Parlament, sondern auch außerDr. Diether Dehm halb des Parlaments, und das Nein wirkungsvoll begründet haben. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung, Herr Kollege Schäfer.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Dehm, nehmen Sie zur Kenntnis, dass Frau Kaufmann, Mitglied der PDS-Fraktion im Europäischen Parlament, im Auftrag Ihrer Fraktion an der Verfassung mitgearbeitet, sie begrüßt hat und heute noch verteidigt und dass Sie sich aus der Verantwortung stehlen. ({0}) Im Übrigen kann ich zu der besonderen europapolitischen Bedeutung von Oskar Lafontaine nur sagen: Wer 1999 als Papst zurückgetreten ist, kann 2005 nicht als großer Prophet auftreten. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte bis vor zwei Minuten noch die redliche Absicht, zu dem auf der Tagesordnung ausgewiesenen Thema zu sprechen. Aber aus aktuellem Anlass möchte ich doch sagen, dass die Schablone des Neoliberalismus nicht überall passt. ({0}) Wie ich den Medien in den letzten Tagen entnehmen konnte, hat die WASG alle Hände voll damit zu tun, die Neoliberalen in der PDS im Zaum zu halten. ({1}) Ich meine, Sie sind gut mit sich selbst beschäftigt. Es verdient Erwähnung, dass es bei der finanziellen Vorausschau der Europäischen Union, dem wichtigsten Thema des Gipfels, bereits vor der Bundestagswahl eine große Koalition gegeben hat. Die Union hat von Anfang an die Verhandlungsführung auch der alten Bundesregierung unterstützt. Das zeigt, dass verantwortliche Oppositionspolitik im Interesse des Landes betrieben werden muss. ({2}) Ich sage das bewusst auch für die CSU; denn das Thema finanzielle Vorausschau ist für uns von besonderer, durchaus ambivalenter Bedeutung. Das ist nach der Bundestagswahl noch augenfälliger geworden. Wenn Sie sich den Haushalt der Europäischen Union anschauen, dann werden Sie feststellen, dass etwa 80 Prozent der Ausgaben der Europäischen Union in Ressorts fallen, die von zwei Bundesministern der CSU geführt werden, nämlich in den Bereich Wirtschaft, zu dem sinnvollerweise wieder die europäische Strukturpolitik gehört, und in den Bereich Landwirtschaftspolitik. Ich werde mir erlauben, auch in Abwesenheit der beiden Minister dazu einige Bemerkungen zu machen. ({3}) Die Ausgaben zu begrenzen ist sicher die wichtigste Aufgabe bei dieser finanziellen Vorausschau. Die Obergrenze sollte möglichst nahe bei 1,0 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Insoweit begrüße ich es auch, dass die britische Präsidentschaft sich getraut hat, eine Kürzung der Mittel im absoluten Sinne vorzunehmen. Es ist schlichtweg notwendig, dass auch die Europäische Union Haushaltsdisziplin übt. Wir können doch nicht heute in einer der nachfolgenden Debatten die Abschaffung der Eigenheimzulage beschließen und damit und mit vielen anderen Vorhaben unseren eigenen Bürgerinnen und Bürgern eine Menge zumuten, auf der anderen Seite aber die Gelder aus Konsolidierungserfolgen, die wir uns mühsam abringen, auf der europäischen Ebene in neue Finanztöpfe stecken. Das würde nicht zusammenpassen. ({4}) Die Europäische Union fordert von uns, dass wir unsere nationalen Haushalte konsolidieren. Das ist - ich darf darauf hinweisen - auch ein Bestandteil der LissabonStrategie für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es ist auch eine Anforderung des Stabilitätspaktes, die wir erfüllen müssen. Deswegen muss beides zusammenpassen: europäische Konsolidierung und nationale Konsolidierung. Es kann nicht sein, dass eine finanzielle Vorausschau beschlossen wird, die unseren Kurs der Konsolidierung konterkariert. ({5}) Zu diesem Thema gehört auch, dass nicht neue Töpfe geschaffen werden. Es ist in der Europäischen Union eine gute Übung gewesen, dass die Obergrenze tatsächlich als eine Obergrenze verstanden worden ist, die auch unterschritten werden darf. Es war ständige Praxis, dass die Obergrenze in den letzten Jahren nicht ausgeschöpft worden ist. Deswegen sollte man auch aufpassen, dass jetzt nicht versucht wird, die nicht abgerufenen Haushaltsmittel in einen neuen Fonds zu stecken. ({6}) Dazu ist ein Globalisierungsfonds vorgeschlagen worden. Dieser Globalisierungsfonds würde die Probleme nicht lösen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre eigenen Aufgaben lösen und nicht neue beschließen, mit denen im Ergebnis nur das Unterlassen eigener Reformen belohnt werden würde, indem man einen neuen europäischen Finanzausgleich etabliert. Das kann nicht Sinn einer finanziellen Vorausschau sein. Ich hoffe, dass es gelingt, im Rahmen der Verhandlungen auch einige strukturelle Veränderungen vorzunehmen, die längerfristig von Bedeutung sind. Dazu gehört, dass man den Britenrabatt reduziert und nach Möglichkeit in einen allgemeinen Korrekturmechanismus verwandelt. Ich bitte sehr darum, Frau Bundeskanzlerin, dass wir versuchen, das noch einmal zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen. Wir haben nicht ohne Grund im Koalitionsvertrag auf diesen allgemeinen Korrekturmechanismus Bezug genommen. Im Ergebnis ist auch der Britenrabatt nichts anderes als ein Korrekturmechanismus, der durchaus das legitime Anliegen verfolgt, dass der Beitrag eines Mitgliedstaates in einem angemessenen Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steht. Nur: Dieses legitime Anliegen, das dem Britenrabatt einst zugrunde lag, gilt natürlich für alle Mitgliedstaaten. Deswegen wäre es sinnvoll, den Britenrabatt durch einen allgemeinen Korrekturmechanismus zu ersetzen. Ein weiteres Element einer längerfristigen Reform wäre, dass man in der Tat, wie es Großbritannien vorgeschlagen hat, die Ausgaben überprüft. Ich habe die Meldungen gestern so verstanden - es ist sehr kompromisshaft allgemein formuliert worden -: Es müssen alle Ausgaben auf den Prüfstand gestellt werden. Die Briten sprechen von einem „review“, also von einer Überprüfung, die bis 2013 stattfinden soll. Ich glaube, diese allgemeine Formulierung ist durchaus begrüßenswert, und zwar einschließlich der Agrarpolitik. ({7}) Damit wird nicht infrage gestellt, dass der Agrarkompromiss bis 2013 besteht. Aber wir können doch nicht erst 2013 anfangen, darüber zu diskutieren, wie es nach 2013 weitergehen soll; vielmehr sollten wir jetzt den Einstieg schaffen und den Übergang so vorbereiten, dass wir unsere Pläne nach 2013 tatsächlich umsetzen können. ({8}) Zur Agrarpolitik. Mein Anliegen ist, dass wir das Thema „nationale Kofinanzierung“ wieder auf die Tagesordnung setzen. Dieses Thema ist nicht neu: Ausgerechnet bei der großen Erweiterungsrunde 2004 hat man eine solche Kofinanzierung für die neuen Mitgliedstaaten eingeführt. Man hat es ihnen schmackhaft gemacht, indem man gesagt hat: Ihr dürft zu den Förderungen durch die Europäische Union noch selbst etwas hinzuzahlen. Ich glaube, dass es Sinn macht, überall dort, wo die Europäische Union Geld ausgibt, nationale Verantwortung in Form einer Kofinanzierung zu schaffen: Wenn man den eigenen Geldbeutel immer dann öffnen muss, wenn man eine Förderung von einem Dritten haben möchte, dann diszipliniert das eigene Begehrlichkeiten. ({9}) Ich glaube, dass tatsächlich eine realistische Chance besteht, einen solchen Einstieg in die Kofinanzierung auch in der Agrarpolitik zu schaffen. Bis 2013 - erst dann oder danach soll es umgesetzt werden - wird die Europäische Union wahrscheinlich einige Mitgliedstaaten mehr haben: Rumänien, Bulgarien, Kroatien. Einige der Länder, die heute Nettoempfänger sind, werden dann Nettozahler sein, insbesondere Frankreich. Es besteht durchaus die realistische Chance, dass wir mit Frankreich und Großbritannien zu einer strukturellen Reform des Ausgabenhorizontes kommen, wenn wir den allgemeinen Korrekturmechanismus und eine Veränderung in der Agrarpolitik, was die Kofinanzierung angeht, gemeinsam angehen. Ich will zum Schluss kommen. Die Europäische Union könnte einen Erfolg durchaus verkraften. Ich lese allerdings mit Interesse, dass so oft wie selten zuvor von einem Scheitern die Rede ist. Ich kann nur sagen: Wer darauf spekuliert, dass es nicht zu einer Einigung kommt, der muss realisieren, dass die Rahmenbedingungen für einen Kompromiss nicht besser werden. 2006 finden in vielen Mitgliedstaaten Wahlen statt. Wer gar darauf spekuliert, dass Deutschland die Sache 2007 regeln könnte, dem muss man sagen, Frau Bundeskanzlerin: Wenn die Bundesregierung selbst erst im Jahr 2007 einen Verhandlungsvorschlag vorlegen müsste, dann hätte die Bundesregierung doch gar keine andere Möglichkeit, als dies auf der Grundlage der eigenen Verhandlungsposition von heute zu tun, und die ist 1,0 Prozent. Man muss den Partnern sagen, dass ihre Bedingungen für einen Kompromiss wahrscheinlich niemals wieder so gut sein werden. Ich glaube, es gibt die Chance, zu einer Einigung zu kommen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Deutschland eine neue Vermittlerrolle in der Europäischen Union einnimmt. Ich würde es mir wünschen. Ich wünsche Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, bei den Beratungen viel Erfolg. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute sehr deutlich gehört und in unseren Reihen ausgesprochen: Die Erwartungen an die eigene Regierung, zu einem Erfolg zu kommen, also das zu schaffen, was hier heute mehrfach dargestellt worden ist, sind sehr groß. Die Erwartungen sind aber nicht nur bei uns, sondern - gerade angesichts der großen Koalition - in ganz Europa groß. Man muss hoffen - wir haben entsprechende Vereinbarungen getroffen -, dass diese große Koalition in Deutschland zentrale Reformen durchführt und dieses Land wesentlich voranbringt. Hoffen muss man darüber hinaus, dass dies auch für Europa möglich ist. Sie, Frau Bundeskanzlerin, müssen gleich aufbrechen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, das rechte Augenmaß und - ich glaube, es gibt diese Chance - viel Erfolg. Wenn es dann am Ende so kommt, wie Herr Steenblock, wie ich fand, genialerweise gesagt hat wenn das aus der Opposition kommt, freut einen das umso mehr; wir alle müssen uns noch ein bisschen daran gewöhnen, dass das jetzt die Opposition ist und das wir jetzt so zusammengehören -, ({0}) und wir feststellen können: „Da ist eine Lady Europe zurückgekommen“, dann ist das ein großer Erfolg für Deutschland, genau im Sinne dessen, was Joschka Fischer als deutsches Interesse angesprochen hat. In diesem Sinne also eine gute Reise - mit allem, was dazugehört - und insbesondere eine frohe Rückreise! Darauf freuen wir uns dann besonders. ({1}) Ich fand gut, was der Kollege Stübgen ein Stück weit ausdifferenziert hat. Er hat diesen wahrhaftig schwierigen britischen Vorschlag einmal ein bisschen auseinander genommen und die konkreten Chancen ein wenig ausgelotet. Wenn man einfach einmal ganz grundsätzlich auf diesen Vorschlag schaut, muss man sagen: Eigentlich steckt da in zwei Richtungen eine ganze Menge von dem, was auch unser Interesse ist. Es geht darum, einmal die Zukunftsperspektive, das, was wir in Bezug auf Wissenschaft und Forschung machen müssen, ganz vornan zu stellen und zum anderen in Bezug auf die Agrarpolitik auch wirklich zu Reformen zu kommen, die die Kosten deutlich mindern, durchaus in dem Sinne, in dem mein Vorredner das hier angesprochen hat. Diese Grundrichtungen können wir, denke ich, teilen. Wenn es gelingt, darauf zumindest langfristige Festlegungen zu treffen nach dem Motto „Das lasst die Linie sein“, dann erhoffen wir von Großbritannien, dass es diesen Schritt zum eigenen Erfolg geht und den eigenen Rabatt etwas deutlicher als bisher absehbar senkt. Auch in Bezug auf die anderen Partner in Europa gibt es gute Chancen. Wir reden immer wieder - ich glaube, mit Recht - von der großen Bedeutung der deutschfranzösischen Zusammenarbeit. Sie ist aber nicht deshalb so bedeutend, weil wir uns in allen Punkten so nahe sind, sondern oft gerade deshalb, weil wir in vielen Punkten in unserer Herangehensweise und auch in unseren Traditionen so unterschiedlich sind. Wenn zwei so unterschiedliche Partner einen Kompromiss finden, dann können sich oft auch die anderen in diesem Kompromiss wiederfinden. Es kommt für die Zukunft darauf an, dass wir nicht der Little Boy der lieben französischen Freunde sind, sondern in dieser Kooperation gerade die eigenen Standpunkte deutlicher machen, als dies vielleicht manchmal geschehen ist, damit sich die anderen Partner darin wiederfinden können. Hierbei kommt Deutschland deshalb eine besondere Bedeutung zu und dabei - auch dieser Punkt wurde schon angesprochen - spielt das Verhältnis zu den Kleinen eine Rolle. Wir als Deutsche sind eben nicht nur von Großen, sondern gerade auch in der unmittelbaren Nachbarschaft von vielen Kleinen umgeben. Deutschland sollte nicht den Anwalt der kleineren Nachbarn spielen - das klingt so paternalistisch -, aber es sollte die Interessen der kleineren Nachbarn deutlich im Blick haben. ({2}) Dazu gehören die Nachbarn, die jetzt neu Mitglied geworden sind und die nicht die besonderen Lasten dieses Gipfels tragen können; dies wäre für uns nicht akzeptabel. Die Europäische Union, die jetzt, wie oft gesagt wurde, in einer Krise steckt - Axel Schäfer hat noch einmal deutlich dargelegt, an welchen Punkten es Blockaden gegeben hat -, ist eine Erfolgsgeschichte gerade seit 1990 - lange davor natürlich auch -, weil da die Erweiterungsperspektive und die Vertiefung, das heißt diese verstärkte Integration, als parallele Prozesse gelaufen sind. Das ist ein Wunder. Zu dieser Auffassung komme ich, wenn ich an die Diskussion Anfang der 90er-Jahre denke, als es um die Erweiterung ging. Ich erinnere mich an eine Fülle von Gesprächen, auch im Europäischen Parlament, in denen gesagt wurde: Wir wollen erst vertiefen und dann schauen, ob wir erweitern können. Wir haben gemeinsam durchgesetzt, dass die Prozesse parallel laufen. Es war dann ein großes Wunder, dass wir 2004 die Verfassung auf dem Tisch hatten und gleichzeitig die Erweiterung beschließen konnten und dementsprechend Staaten neu Mitglied geworden sind. Diese Parallelität müssen wir beibehalten. Das ist wichtig auch für das, was jetzt in Aussicht genommen worden ist. Bei Mazedonien kam dieser Streit noch einmal neu auf. In den nächsten Monaten wird das weiterverfolgt werden müssen. Wir müssen diese Parallelität fortführen und dürfen nicht ein Nacheinander schaffen. Denn - hier schaue ich besonders Richtung Westbalkan - es ist ganz klar, dass wir die Probleme um den Kosovo und des Westbalkans überhaupt nur lösen werden, wenn wir diesen Staaten nicht nur die Perspektive geben, dass sie irgendwann einen anderen Status erreichen werden, sondern auch unsere Instrumentarien schärfen, um genau zu sehen, was für den Westbalkan getan werden kann, sehr konditional, aber wiederum mit großem Engagement der Europäischen Union. Denn die Probleme und das Selbstverständnis der Völker in dieser Region sind von so zentraler Bedeutung, dass wir ein eigenes Interesse daran haben müssen, die Heranführung dieser Staaten an die Europäische Union mit zu stabilisieren und den Weg in diese Richtung zu festigen. ({3}) Ich halte es - dies soll mein letzter Punkt sein - für wichtig, dass wir die Erfolgsgeschichte der Erweiterung nicht absolut setzen und die Erweiterungsperspektive nicht als einziges Instrument der Stabilisierung ansehen. Es war und ist richtig, dass die Europäische Union - vielleicht ein wenig spät - die Nachbarschaftspolitik konzipiert hat, um die Nachbarstaaten zu stabilisieren. Diese Strukturen müssen aber noch flexibler gestaltet werden. ({4}) Wir dürfen in Bezug auf Belarus, die Ukraine oder die Staaten des nördlichen Afrika nicht nur mit festen Strukturen, die vorher in Aktionsplänen festgelegt worden sind, vorgehen. Hier brauchen wir eine stärkere Flexibili434 tät. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass die drei Staaten des Südkaukasus - glücklicherweise ist er jetzt dabei; am Anfang war er vergessen worden - nur gemeinsam verhandeln können, obwohl sie ganz unterschiedliche Probleme haben und in dieser Region durch viele Probleme miteinander verflochten sind. Auch da gibt es, glaube ich, eine Unflexibilität, die wir verändern müssen. Ein letzter Punkt zu dieser Nachbarschaftsinitiative. Sie ist im Grunde zur Zusammenarbeit zwischen Staaten gedacht; das heißt, sie ist sehr etatistisch. Wir müssen aber und können auch lernen, dass Demokratie nur entstehen und wachsen kann, wenn die Zivilgesellschaften unterstützt werden. Gerade dafür brauchen wir neue und bessere Argumente und Instrumentarien. Ich glaube, dass wir ein neues Instrument für diese Nachbarschaftspolitik schaffen könnten, indem wir eine Freiheits- und Demokratiestiftung auf europäischer Ebene ins Leben rufen, um gerade mit Blick auf die Zivilgesellschaften mehr tun zu können. Vielen Dank und noch einmal viel Erfolg. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/224 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein- verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen - Drucksache 16/107 ({0}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksache 16/254 - Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Frank Schäffler Christine Scheel bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/256 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider ({3}) Dr. Gesine Lötzsch b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Eigenheimzulage - Drucksache 16/108 ({4}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5}) - Drucksache 16/250 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans Michelbach Dr. Volker Wissing bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/257 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider ({7}) Dr. Gesine Lötzsch c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm - Drucksache 16/105 ({8}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9}) - Drucksache 16/255 - Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting Carl-Ludwig Thiele Kerstin Andreae bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/258 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider ({11}) Dr. Gesine Lötzsch Zu dem Gesetzentwurf zur Abschaffung der Eigenheimzulage liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP und Die Linke vor. Zu dem Gesetzentwurf zu einem steuerlichen Sofortprogramm liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich eröffne hiermit die Aussprache und gebe Herrn Abgeordneten Florian Pronold, SPD-Fraktion, das Wort.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten unter diesem Tagesordnungspunkt drei Gesetze. Einige davon sind schon alte Bekannte aus den Diskussionen der letzten Jahre. Es geht um die Eigenheimzulage, um die Steuerstundungsmodelle, besser bekannt unter Medienfonds, Schiffsfonds und anderen Anreizen, wie man sein Geld gut vernichten kann, um Steuern zu sparen, und um das steuerliche Sofortprogramm, bei dem zwei wesentliche Punkte diskutiert worden sind: die Abfindungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Angehörige des öffentlichen Dienstes und die Absetzbarkeit der Steuerberaterkosten als Sonderausgaben. All das werden wir heute unter diesem Tagesordnungspunkt beraten. Die große Koalition hat sich auf die Fahnen geschrieben, Steuersubventionen abzubauen und finanzielle Fehlanreize im Steuerrecht zu verhindern. Sie will damit alle öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen und Spielraum für Zukunftsinvestitionen gewinnen. Unser Finanzminister Peer Steinbrück hat damit die schwerste aller Aufgaben in dieser Regierung übernommen. Wir werden ihn mit Kräften unterstützen, dass diese Maßnahmen umgesetzt werden. Man kann eine eigenartige Erfahrung machen. Wenn über den Abbau von Steuersubventionen diskutiert wird, dann zeigt sich immer, dass alle dafür sind. Aber spätestens dann, wenn es im Parlament zu Beratungen kommt und es konkret wird, welche Steuersubventionen denn abgebaut werden sollen, dann spricht man von Steuererhöhungen. Nach den Vorstellungen der FDP sollen alle Steuersubventionen im Rahmen einer großen Steuerreform abgebaut werden. Wenn es allerdings konkret wird, dann spricht sie von Steuererhöhungen. Aber an eine große Steuerreform glaubt eh niemand mehr. ({0}) Wir wollen heute zwei große Schritte machen. Es besteht große Einigkeit darin, die Eigenheimzulage abzuschaffen und Beschränkungen hinsichtlich der Fonds einzuführen. Wir wollen mit dem steuerlichen Sofortprogramm aber auch erste kleine Schritte gehen. Damit will die große Koalition Fehlanreize durch Steuersubventionen und Verwerfungen im Steuerrecht beseitigen. Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist schon lange in der Debatte. Wir könnten heute wesentlich mehr Geld im Haushalt haben, wenn die Einigkeit schon früher so groß gewesen wäre, wie sie momentan ist. ({1}) Wir hätten schon vor längerer Zeit mehr Spielraum für Forschung, Bildung und Zukunftsinvestitionen haben können. Auch hinsichtlich der Schiffsfonds und Medienfonds waren wir uns schon lange einig. Aber der politische Prozess der letzten Jahre, der vom Streit zwischen Bundesrat und Bundestag geprägt war, ist dafür verantwortlich, dass diese entsprechenden Maßnahmen nicht ganz so schnell auf den Weg gebracht worden sind, wie wir es gemeinsam eigentlich vorgehabt hatten. Aber was lange währt, wird endlich gut. Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem wir diese beiden wesentlichen Schritte gehen wollen. Zu diesen beiden Gesetzen werden meine Kolleginnen von der SPD-Fraktion Ingrid Arndt-Brauer und Gabi Frechen noch Details nennen. Für uns war wichtig, dass der Vertrauensschutz als zentrales Element berücksichtigt wurde. Die Eigenheimzulage wird erst für die Zukunft abgeschafft. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass die Förderung für die Altfälle bestehen bleibt. Der Begriff „Vertrauensschutz“ ist auch wichtig mit Blick auf unser drittes Gesetzgebungsverfahren. Dabei handelt es sich um ein ganz sensibles Thema. Es geht um die teilweise Steuerfreiheit der Übergangsgelder für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Im Regelfall sind hier die Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten betroffen, die in vielen Herren Ländern unter erschwerten Bedingungen und für wenig Lohn ihren Dienst leisten. Diese verlassen sich darauf - so steht es im Gesetz -, dass die Übergangsgelder zumindest teilweise steuerfrei sind. Dieselbe Problematik gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren und von Sozialplänen betroffen sind. Diese verlassen sich darauf, dass sie die ausgerechneten Nettobeträge auch tatsächlich bekommen. Die Situation ist für beide Gruppen nicht einfach. Wir haben aber gesagt, dass dieser grundsätzliche Schritt sein muss, um die Fehlanreize, die mit der teilweisen Steuerfreiheit der Abfindungen verbunden sind, zu beseitigen. Denn es gibt große Konzerne, die fette Gewinne einfahren, die aber die teilweise Steuerfreiheit nutzen, um sich relativ günstig ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entledigen. Es kann nicht gewollt sein, dass der Steuerzahler dafür aufkommt. Deswegen muss man für die Zukunft diese Fehlanreize beseitigen. Ich denke, das ist richtig. Wir sind uns in diesem Punkt einig. Ich fand es gut, dass die Fraktion der PDS ({2}) - das ist eine spannende Frage; vielleicht sollte man die Linke als „PDS mit Westimport“ bezeichnen; lassen Sie mich aber Sie loben - in den Beratungen des Ausschusses grundsätzlich erklärt hat, dass es hier einen Fehlanreiz gibt, den man, wie Sie gesagt haben, im Rahmen einer großen Steuerreform, bei der auch noch andere Dinge auf dem Tisch liegen, abschaffen muss. Ich fand es grundsätzlich gut, dass auch dieser Aspekt in der Beratung zum Ausdruck gebracht worden ist. Wichtig für uns war aber auch, Vertrauensschutz zu gewähren und denjenigen, die davon betroffen sind und dies schon jetzt wissen, so weit wie möglich Verlässlichkeit und die Sicherheit zu geben, dass sich für sie nichts ändert. Deswegen haben wir in einer relativ konfliktfreien, aber doch intensiven Auseinandersetzung in der großen Koalition den Vertrauensschutz für die Zeitsoldaten auf drei Jahre sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bei denen schon jetzt feststeht, dass sie ihr Arbeitsverhältnis leider nicht mehr fortsetzen können, auf die nächsten zwei Jahre erweitert. Dies bedeutet, dass alle Abfindungen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den nächsten zwei Jahren zufließen, dann, wenn noch in diesem Jahr klar ist, dass sie betroffen sind, weiterhin der teilweisen Steuerfreiheit unterliegen. Ich denke, es ist ganz wichtig: Wenn man solche Reformen macht, muss man gleichzeitig immer sagen, dass es Vertrauensschutz und Sicherheit gibt. Außerdem steht weiterhin - auch daran darf an dieser Stelle erinnert werden - die so genannte Fünftelregelung im Gesetz. Das bedeutet, dass bei Abfindungen eine günstigere Steuerprogression vorgesehen ist, weil die Abfindungen rechnerisch auf fünf Jahre aufgeteilt werden. Das ist sozial gerecht. Denn je geringer die Abfindung und das Einkommen sind, umso geringer ist die steuerliche Belastung und je höher sie sind, desto höher ist die steuerliche Belastung. Auch das ist ganz wichtig. Jeder erlebt es - um die Steuerprogression zu erklären beim Weihnachtsgeld. Man ärgert sich über den Lohnzettel, weil höhere Steuern abgezogen werden. Das ist die Progressionswirkung. Die Abfindung wird durch die Fünftelregelung auf fünf Jahre aufgeteilt und die Steuerprogression fällt dann deutlich geringer aus. Vertrauensschutz ist aber nicht der einzige Aspekt. Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geht es auch um die Frage der Gleichbehandlung. Deswegen müssen wir bei den nächsten Schritten, die wir im Rahmen des steuerlichen Sofortprogramms gehen werden, auch daran denken, dass gleiche Lebenssachverhalte in den Blickpunkt geraten. Das betrifft auch die teilweise Steuerfreiheit bei der Aufgabe von Betrieben durch Gewerbetreibende oder Landwirte. Auch dies wird man angesichts der Haushaltslage nicht völlig außer Betracht lassen können und eine Gleichbehandlung mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Soldaten vornehmen müssen. Dann - leider mahnt mich die Präsidentin schon blinkenderweise - wäre noch ein Satz zu den Steuerberaterkosten zu sagen. Auch hier geht es darum, einem alten Grundsatz im Steuerrecht wieder mehr Klarheit zu verschaffen, nämlich dass nach privaten Aufwendungen und dem getrennt wird, was betrieblich oder werbungskostentechnisch, also durch den Beruf oder die Einkunftsart, veranlasst ist. Das wird umgesetzt. Es wird einen erklecklichen Betrag bringen, diesen alten Grundsatz einzuhalten. Das ist mit den beiden großen Finanzverwaltungen, der der Länder und der des Bundes, abgestimmt. Das wird dazu beitragen, dass wir mehr Spielraum dafür bekommen, wofür wir das alles machen, nämlich in Richtung Zukunft zu gehen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Volker Wissing, FDP-Fraktion.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist noch lange kein finanzpolitisches Konzept. ({0}) Trotzdem: Die Abschaffung der Eigenheimzulage als solche ist richtig. Die FDP hat immer konsequent gefordert, Subventionen abzubauen und Ausgaben zurückzufahren. Wer die Haushaltskonsolidierung ernst nimmt, weiß, dass es dazu keine Alternative gibt. Aber, meine Damen und Herren von der großen Koalition, das Problem an dieser Stelle ist nicht das, was Sie machen. Das Problem an dieser Stelle ist das, was Sie nicht machen. Es ist doch kein Konzept, Vergünstigungen abzubauen, wenn nicht gleichzeitig dringend erforderliche Reformen auf den Weg gebracht werden. ({1}) Belastungen stehen bei Ihnen ganz schnell im Gesetz und Entlastungen stehen bei Ihnen in den Sternen. So kann man das nicht machen. ({2}) Sie streichen im Jahr 2005 die Eigenheimzulage und kündigen an, 2007 ein Instrument zur Förderung von Wohneigentum auf den Weg zu bringen. Sie beschließen im Jahr 2005 Belastungen für Bauunternehmen und kündigen an, 2008 längst überfällige Reformen im Bereich der Unternehmensteuern auf den Weg zu bringen. Das ist keine Politik der kleinen Schritte. Das ist eine Politik des Stillstands. ({3}) Damit beweist die große Koalition, dass sie in der Lage ist, sich sehr schnell zulasten der Bürgerinnen und Bürger zu einigen, und sie demonstriert, dass sie schlichtweg unfähig ist, Reformen auf den Weg zu bringen. Genau das können wir nicht akzeptieren. Noch einmal: Die Eigenheimzulage zu streichen ist richtig; die FDP wird dem zustimmen, das steht außer Frage. Aber es ist unverantwortlich, mit den frei werdenden Mitteln Haushaltslöcher zu stopfen. Das wollte die Union nicht und deshalb dürfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das auch nicht mittragen. Sie werden schlichtweg unglaubwürdig, wenn dem heutigen Schritt nicht spürbare Entlastungen folgen. ({4}) Die FDP fordert Sie auf, den begonnenen Subventionsabbau mit klaren Reformen zu begleiten. Die Menschen erwarten das von Ihnen. Sie erwarten, dass Sie Ihre Zusagen einhalten und unser Steuerrecht vereinfachen. Sie erwarten zu Recht, dass Sie neben den nun erfolgenden Belastungen umgehend Vorschläge zur Entlastung vorlegen. ({5}) Ohne Entlastungen kommt die Binnennachfrage in unserem Land nicht in Schwung. Was das für den Arbeitsmarkt bedeutet, haben wir in den letzten Jahren erlebt. So schwer Ihnen das gemeinsame Regieren auch fallen mag: Sie können sich in der großen Koalition nicht wegducken. Sie tragen Verantwortung dafür, dass die Reformen auf den Weg gebracht werden, die unser Land dringend braucht. „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“, so steht es über dem schwarz-roten Koalitionsvertrag. Aber, meine Damen und Herren, was ist denn daran mutig, sich auf das Kürzen, Streichen und Verwalten zu beschränken? „Gemeinsam für Deutschland“ kann doch nicht bedeuten, dass nur die Bürger sparen. „Gemeinsam für Deutschland“ kann doch nicht bedeuten, dass die einen tapfer ihren Beitrag leisten und die anderen sich zurücklehnen und Haushaltslöcher stopfen. Die Menschen sind bereit, Einschnitte hinzunehmen. Aber sie wollen wissen, wofür. Genau darauf bleiben Sie heute eine Antwort schuldig. ({6}) Sie kommen mir vor wie ein Häuslebauer, der zuerst den Balkon errichtet und sagt: Um das Fundament kümmere ich mich später. ({7}) Das funktioniert weder auf dem Bau noch in der Finanzpolitik. ({8}) Mit den heute vorliegenden Gesetzentwürfen haben Sie den Beitrag der Bürgerinnen und Bürger eingefordert. Jetzt sind Sie an der Reihe. Die Menschen erwarten von Ihnen, dass umgehend Reformen auf den Weg gebracht werden, die sie entlasten und die ihnen eine Perspektive bieten. Jetzt müssen Sie eine Gegenleistung erbringen. In der Finanzpolitik bedeutet diese Gegenleistung, eine grundlegende Steuerreform auf den Weg zu bringen, eine Reform, durch die die Tarife gesenkt werden, um die Binnennachfrage zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen, eine Reform, die zu Vereinfachungen führt, damit die Menschen wieder verstehen, nach welchen Regeln sie besteuert werden. Die FDP hat dazu konkrete Vorschläge gemacht. Jetzt sind Sie an der Reihe. Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm haben Sie zunächst einen gewaltigen Schritt in die falsche Richtung gemacht. Anstatt mit Vereinfachungen dafür zu sorgen, dass die Menschen keinen Steuerberater brauchen, haben Sie den glorreichen Einfall gehabt, dass man die Kosten für den Steuerberater nicht mehr als Sonderausgaben absetzen kann. Diese Regelung kann man nur ablehnen. ({9}) Sie ist zynisch und ein Paradebeispiel für eine Politik, die weit an dem vorbeigeht, was die Menschen in unserem Land brauchen und was sie von der Politik erwarten, nämlich ein Steuerrecht, das klar und verständlich ist, einfach und nicht kompliziert. Was Sie hier auf den Weg gebracht haben, ist das Gegenteil dessen, was wir in der Finanzpolitik in Deutschland gebrauchen können. ({10}) Meine Damen und Herren, die FDP ist bereit, Sie bei einer Reformpolitik zu unterstützen. Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sind bereit, Subventionsabbau mitzutragen. Es kann aber nicht angehen, dass Sie sich darauf beschränken, Subventionen abzuschaffen, und die Reformen auf die Zukunft vertagen. Die Bauwirtschaft hat keine Perspektive, wenn Sie sagen, dass die Eigenheimzulage Ende 2005 gestrichen wird und überlegt wird, wie es im Jahr 2007 in diesem Bereich weitergeht. Es wird Ihnen sicherlich aufgefallen sein, dass zwölf Monate des Jahres 2006 dazwischen liegen. Für diese Zeit müssen Sie der Bauwirtschaft eine Antwort geben. Das tun Sie heute nicht. Deswegen werden Sie aus dieser Debatte nicht entlassen, ohne dass wir Ihnen Hausaufgaben mitgeben: Sie müssen sich so schnell wie möglich der Entlastungsseite annehmen. Sie sind jetzt gefordert; Sie müssen Ihre Gegenleistung erbringen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten das zu Recht von Ihnen; denn Sie haben es ihnen vor der Wahl versprochen. ({11}) All Ihre Anstrengungen zum Subventionsabbau müssen von Maßnahmen begleitet werden, die Teil eines Gesamtkonzeptes sind. Wir fordern eine umfassende Steuerreform, die den Menschen finanzielle Freiräume eröffnet, anstatt sie weiter einzuengen, und die wirtschaftliche Kräfte freisetzt, statt sie zu beschränken. Darüber hinaus fordern wir Bürokratieabbau. „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“ die FDP ist bereit, das zu unterstützen. Wir sind gespannt, wann Sie anfangen, Ihr Motto umzusetzen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder von uns muss sich zunächst in die neue Rolle einfinden. Ich habe mich sieben Jahre lang von diesem Rednerpult aus kritisch mit der Politik von RotGrün auseinander gesetzt und - in vielen Bereichen gemeinsam mit der FDP - versucht, bessere Alternativen zu formulieren. Seit 23 Jahren, Entschuldigung, seit 23 Tagen ({0}) bilden wir nun eine große Koalition. Es zeigt sich schon nach diesen drei Wochen, wie gut wir zusammenarbeiten. Für mich ist erstaunlich, dass wir heute, nach 23 Tagen, schon drei grundlegende Gesetzentwürfe zur Steuerpolitik verabschieden können. Das ist ein Beweis dafür, dass die große Koalition auch und gerade in der Finanzpolitik handlungsfähig ist. ({1}) Sie wissen, dass die große Koalition bezogen auf die Haushalts- und Finanzpolitik zwei Ziele gleichzeitig verfolgt. Das sage ich ganz bewusst zu Beginn meiner Ausführungen, bevor ich auf die Gesetzentwürfe im Einzelnen eingehe. Wir wollen gleichzeitig die öffentlichen Finanzen nachhaltig stabilisieren und die Wachstumskräfte fördern. Sie von der FDP wissen natürlich genau, dass heute der eine Teil verabschiedet wird und dass das Bundeskabinett wahrscheinlich schon in der nächsten Woche den zweiten Teil mit der Überschrift „Förderung von Wachstum und Beschäftigung“ verabschieden wird; denn selbstverständlich wollen wir beide Ziele gleichzeitig erreichen. ({2}) Unser Problem ist - jetzt muss ich doch ein wenig kritisch auf die linke Seite des Hauses schauen, auch wenn ihr jetzt unsere Partner seid -: Die finanzielle Situation Deutschlands ist deutlich schlechter, als die Mehrzahl der Bevölkerung zur Kenntnis genommen hat. ({3}) - Ich wage sogar die Aussage, dass es auch im Deutschen Bundestag noch manchen gibt - damit meine ich jetzt nicht Sie, Herr Kollege Poß -, dem nicht klar ist, wie die finanzielle Situation der öffentlichen Hand wirklich ist. ({4}) Wir werden in diesem Jahr zum vierten Mal das Maastricht-Kriterium verletzen. ({5}) Es sieht nach 3,9 Prozent aus. Die 0,9 Prozentpunkte, die wir über dem Oberwert liegen, bedeuten, dass wir das Maastricht-Kriterium um mehr als 25 Prozent verfehlen. Sie, Herr Thiele, haben völlig Recht, das wird auch im nächsten Jahr der Fall sein. Schauen Sie sich die Zahlen an: Im nächsten Jahr hätten wir, wenn wir nichts machten - wir handeln aber schon heute -, eine Haushaltslücke in der Größenordnung von 65 Milliarden Euro. Allein um das Maastricht-Kriterium 2007 zu erfüllen - darüber hinaus wollen wir aber auch die Anforderung des Grundgesetzes, nicht mehr Schulden als Investitionen, erfüllen -, müssen wir eine Lücke in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro überwinden. Das ist nur möglich, wenn man auf der einen Seite Ausgaben senkt - das wird aber keine 30 Milliarden Euro erbringen und auf der anderen Seite die Einnahmen erhöht. So ist das nun einmal. Das, was wir heute verabschieden, dient natürlich ausschließlich dem ersten Ziel: Stabilisierung der Staatsfinanzen. Ich nenne Ihnen die Größenordnung: Die drei Gesetze werden im nächsten Jahr knapp 1 Milliarde Euro mehr Steuereinnahmen bringen, im Jahre 2007 rund 4 Milliarden Euro und in der gesamten Legislaturperiode etwa 16 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiger Beitrag. Wenn ich mir die drei Gesetze anschaue, stelle ich fest, dass wir mit dem ersten genau das machen, was alle gefordert haben: Subventionsabbau. Es ist eine Subvention, wenn im Rahmen von Sozialplänen, die Großfirmen vorlegen, hervorragende Abfindungen gezahlt werden und die Steuervergünstigungen sozusagen von den kleinen Leuten finanziert werden. ({6}) Es ist richtig, dass wir diese Subvention abschaffen. Ich sage sehr deutlich: Wir haben noch nie so großzügige Übergangsbestimmungen geschaffen wie dieses Mal. In der Vergangenheit sind die Beträge oft reduziert worden, dieses Mal werden sie - mit hervorragenden Übergangsregelungen - abgeschafft. Was die Steuersparmodelle anbetrifft, die wir heute gemeinsam abschaffen wollen - ich finde es gut, dass alle fünf Fraktionen mitmachen -, kann ich nur die Frage stellen: Warum hat Rot-Grün das in den letzten sieben Jahren nicht gemacht? Von Ihnen höre ich dann die Frage: Warum ihr nicht in den 16 Jahren davor? Das bringt nichts. Ich finde es gut, dass wir diese Modelle heute gemeinsam abschaffen. Es gab nur einen Streitpunkt, der uns Bauchweh bereitet hat. Das ist die Frage des Datums. Sie wissen, die alte Regierung hatte die Absicht, am 10. November eine Entscheidung zu treffen. Das hat nicht ganz funktioniert. Die Entscheidung fiel dann am 24. November. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes spricht vieles für den 24. November; das ist mir völlig klar. Wir wollen Gesetze - möglichst auch in Zukunft - nicht rückwirkend in Kraft setzen. Nur, wen schützen wir damit? In den 14 Tagen ist so viel Geld gezeichnet worden, dass die Steuerausfälle 500 Millionen Euro betragen. Das kann man nicht verantworten. Wen schützen wir hier wirklich? Schauen Sie sich die Verträge an. Fast alle derjenigen, die seit März gezeichnet haben, haben Rücktrittsklauseln unterschrieben. Das heißt, sie treten jetzt alle zurück. Sie haben, um es klar zu sagen, keinen Schaden. ({7}) Deshalb muss ich sagen: Angesichts der Tatsache, dass wir alle gemeinsam solide Finanzen wollen, können wir auf diese 500 Millionen Euro leider nicht verzichten. Jetzt komme ich zu dem Thema Eigenheimzulage. In der Tat: Ich habe die Eigenheimzulage von diesem Platz aus bestimmt ein halbes Dutzend Mal verteidigt. Auch im Ausschuss habe ich sehr deutlich gesagt, dass es mir nicht leicht fällt, sie aufzugeben. Wir wollten mit der Abschaffung der Eigenheimzulage etwas völlig anderes erreichen - da haben Sie völlig Recht -: Wir wollten die enormen Mittel, die durch die Abschaffung dieses Instruments frei werden, nutzen, um den Steuertarif insgesamt zu senken. Nur - jetzt komme ich auf den Ausgangspunkt zurück -, angesichts der finanziellen Situation haben wir leider keinen Spielraum. ({8}) Deshalb müssen die Einsparungen leider vollständig benutzt werden, um den Haushalt zu sanieren. Ich sage aber genauso deutlich: Wir haben mit der Eigenheimzulage zwei Ziele verfolgt. Beide geben wir nicht auf. Das erste Ziel, das wir verfolgt haben, lautete: möglichst viel Wohnungseigentum in Privatbesitz. Dies geben wir nicht auf. Wir werden noch in diesem Jahr die gesetzlichen Grundlagen schaffen. Im Koalitionsvertrag steht, dass privates Wohneigentum in die geförderte private Altersvorsorge einbezogen wird. Wir arbeiten bereits an entsprechenden gesetzlichen Überlegungen. ({9}) Natürlich wissen auch wir, dass die Eigenheimzulage manchen Mitnahmeeffekt hatte. Manches Haus wurde nur aufgrund der Eigenheimzulage gebaut. Das wird jetzt nicht mehr geschehen. ({10}) Was die Abschaffung der Eigenheimzulage für die Bauwirtschaft bedeutet, wissen wir alle. Ich erlaube mir nur den Satz: Wir alle wissen, dass es der Bauwirtschaft - vorsichtig ausgedrückt - nicht sehr gut geht. Deshalb werden in dem Gesetz, das ich eben angekündigt habe, umfangreiche Maßnahmen vorhanden sein, um die Altbausanierung zu fördern. Das ist auch unter den Gesichtspunkten Umweltschutz und Energiekostenersparnis ein wichtiger Beitrag. Das werden wir, wie ich vermute, im März oder April des kommenden Jahres verabschieden. Das heißt, dass die beiden Ziele, die wir mit der Eigenheimzulage verfolgt haben, im Mittelpunkt unserer Überlegungen bleiben: Das Ziel mehr Wohnungseigentum wird verfolgt über die Einbeziehung in die private Altersvorsorge. Das Ziel Aufträge für die Bauwirtschaft wird über eine verstärkte Förderung der Sanierung herbeigeführt. Ich glaube, das ist ein wichtiger Beitrag. ({11}) In den letzten drei Wochen haben wir im Finanzausschuss - das sage ich sehr deutlich - bis an die Grenze des Zumutbaren arbeiten müssen, damit wir heute abstimmungsreife Gesetze vorlegen können. ({12}) - Frau Kollegin Scheel, wahrscheinlich gab es früher keine Abstimmungen zwischen den Grünen und der SPD. Ihr habt alles geschluckt, was sie vorgeschlagen haben. Jetzt sind die Partner aber gleich stark. Wir müssen uns abstimmen und das ist hervorragend gelungen. Das war nicht einfach; wir mussten uns an das neue System gewöhnen. Deshalb sage ich allen Mitgliedern des Finanzausschusses an dieser Stelle ein Dankeschön für ihre konstruktive Mitarbeit. Das richtet sich nicht nur an die Mitglieder der Regierungsfraktionen, sondern auch an die Mitglieder der drei anderen Fraktionen. In diesen Dank schließe ich ausdrücklich - denn sie mussten viel leisten - die Mitarbeiter des Sekretariats des Finanzausschusses ein. Auch mit Blick auf die Regierungsseite kann ich nur sagen: Mit dem Ministerium haben wir hervorragend zusammengearbeitet. Ein Dankeschön geht daher auch an Frau Dr. Hendricks; denn die Zusammenarbeit hat hervorragend geklappt. In Zukunft müssen wir die Zeiten allerdings ein bisschen großzügiger ansetzen; denn die Belastbarkeit von unabhängigen Abgeordneten ist begrenzt. ({13}) Ich fasse zusammen: Mit unserem heutigen Programm - indem wir also die drei vorliegenden Gesetzentwürfe verabschieden - haben wir einen ersten wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Staatsfinanzen nachhaltig zu sichern. An dieser Stelle werden wir - ich vermute, im März oder April - noch weitere Gesetzentwürfe verabschieden, um auch Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Mein Eindruck ist - ein Blick in die Zeitungen beweist das -, dass sich die Stimmung in Deutschland seit der Regierungsübernahme durch die große Koalition vor 23 Tagen schon deutlich verbessert hat. ({14}) Der Professor, bei dem ich Volkswirtschaftspolitik studiert habe, Herr Schiller, ({15}) hat uns Studenten immer wieder gesagt, Wirtschaft ist zu 51 Prozent Psychologie. Lassen Sie uns also gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Stimmung in Deutschland auch in Zukunft verbessert! Dann geht es in Deutschland weiter bergauf und wir schaffen mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mich zu den einzelnen Gesetzentwürfen äußere, möchte ich Ihnen, Herr Bernhardt, sagen: Natürlich ist es richtig, dass Wirtschaft sehr viel mit Psychologie zu tun hat. Aber eine wesentliche Grundlage für die Aufarbeitung psychologischer Probleme und für die Herbeiführung einer ordentlichen psychologischen Situation ist sicherlich Ehrlichkeit. Deswegen muss ich betonen, dass die Haushaltssituation, in der sich die öffentliche Hand befindet, hausgemacht ist. Sie ist insbesondere durch die rot-grüne Regierungspolitik der letzten sieben Jahre entstanden. Davor kann man nicht die Augen verschließen. ({0}) Man muss feststellen: Seit dem Jahr 2000, also seit fünf Jahren, konnten sich vor allem große Unternehmen über massive Steuergeschenke freuen. Das kann und möchte ich mit Zahlen belegen - denn es heißt immer wieder, das sei nicht so gewesen -: Die tatsächliche Steuerbelastung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen in der Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten fünf Jahren von durchschnittlich 29 Prozent auf 20 Prozent - sprich: um 9 Prozentpunkte - gesunken. Von 1998 bis 2004 stiegen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen spiegelbildlich dazu von 412 Milliarden Euro auf 482 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum sank der Umfang der auf diese Einkommen abgeführten Steuern von 101 Milliarden Euro auf 96 Milliarden Euro. Der Staat hat also auf Steuereinnahmen verzichtet. Auch der tatsächliche Steuersatz auf Einkommen von Kapitalgesellschaften sank von 21 Prozent im Jahr 1998 auf 15 Prozent im Jahr 2004. Der reale Steuersatz auf alle Unternehmens- und Vermögenseinkommen sank ebenfalls: von 24 Prozent auf 20 Prozent. Überall Senkungen, Senkungen, Senkungen. Bei denen, die es wirklich haben, kommt dadurch natürlich mehr an. Vergleicht man diese Entwicklung mit der Steuerbelastung der Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - es wird ja immer betont, dass Sie durch Ihre Steuerreformen auch etwas für die kleinen Leute getan hätten -, so stellt man fest, dass auch diese zwischen 1998 und 2004 sank: um 1 Prozentpunkt. Das zeigt eindeutig die Schieflage, in der wir uns befinden. ({1}) Herr Steinbrück hat in der Debatte über die Regierungserklärung betont, dass er ein Einnahmeproblem hat. Auch hier kann ich ihm nur zustimmen. Allerdings sollte er die Lösung dieses Problems an der richtigen Stelle angehen. ({2}) Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu schaffen, wurden die Gewinner der rot-grünen Politik - die gewinnträchtigen Unternehmen und die Vermögenden immer aufgefordert. Doch sie haben es Ihnen nicht ganz so gedankt, wie Sie es sich erhofft hatten. Dazu nur zwei Hiobsbotschaften von dieser Woche - sie sprechen eine klare Sprache -: Die Telekom hat angekündigt, 32 000 Stellen abzubauen, und 1 700 Arbeitsplätze sind betroffen von der Schließung des Stammwerkes der AEG; die Produktion soll nach Polen verlagert werden. Deutschland hat im Gegensatz zu den anderen EUStaaten gleich zweimal das Säckel über die Vermögenden ausgeschüttet: Einerseits wurden die Steuersätze drastisch gesenkt und zum anderen wurden die Möglichkeiten zur Steuervermeidung in ihrer Vielfältigkeit sogar noch erweitert. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Sie haben dazu beigetragen, dass völlig neue Möglichkeiten entstanden sind, wie man ganz legal Steuern sparen kann. Ich nenne nur drei Beispiele: Erstens. Die volle steuerliche Absetzbarkeit von Aufwendungen trotz Steuerfreiheit entsprechender Erträge. Zweitens. Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen. Drittens. Die Verlustverrechnung in Organschaften. Drei Beispiele einer absolut widersinnigen Politik. ({3}) Mit Ihren Taten haben Sie Ihre Worte Lügen gestraft. Sie haben doch immer verkündet, Sie wollen die Steuersätze senken, aber gleichzeitig die Bemessungsgrundlage verbreitern; so sollten gleichzeitig insgesamt mehr Steuern eingenommen werden. In anderen europäischen Ländern wurde eine solche Politik tatsächlich durchgeführt, mit der Folge, dass sich die reale Steuerbelastung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen sogar erhöht hat. Auch hierzu drei Beispiele: In Frankreich erhöhte sich die effektive Steuerbelastung um 6 Prozentpunkte, in Großbritannien um 3 Prozentpunkte, in Irland sogar um 10 Prozentpunkte. ({4}) Aber hier bei uns - nichts. Und im Gegensatz zu uns haben es die anderen Länder auch noch geschafft, ihre Arbeitslosenquoten zu senken und tatsächlich mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Auch das ist bei uns offenkundig fehlgeschlagen. ({5}) Die Verarmung der öffentlichen Hand, die man konstatieren muss, führt natürlich dazu, dass man, wohin man auch schaut, feststellen muss: Wir haben eine enorm angestiegene Staatsverschuldung, allein seit 1990 um umgerechnet 500 Milliarden Euro. Wenn man durch die Städte und Gemeinden geht, sieht man, dass die öffentliche Hand ihre Aufgaben offenkundig nicht mehr so erfüllen kann, wie es nötig wäre. Schauen Sie sich die Schulen an, etwa das Ostwald-Gymnasium in Leipzig - eine der besten Schulen deutschlandweit, mit auch im internationalen Vergleich beachtlichen Ergebnissen -: Von außen sieht es aus wie kurz vor dem Zusammenbrechen. Es geschieht nichts; die Kommunen haben zu wenig Geld, ({6}) auch dank der Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Nun sagen Sie: den Haushalt sanieren, Investitionen ankurbeln, das Steuerrecht vereinfachen, eine Steuerpolitik aus einem Guss. Wunderbar - wenn Sie es denn so täten! Herr Pronold hat vorhin gesagt, was wir heute verabschieden, sind zwei große und mehrere kleine Schritte. Im Ausschuss war gestern von der Politik der kleinen Schritte die Rede. Ich will mich hier nicht über Formulierungen streiten; die sind mir eigentlich egal. Wichtig ist, dass die Politik, die Sie machen, wenigstens stringent sein sollte. Und sie muss sozial ausgewogen sein. Einen geringeren Anspruch sollten wir an unsere Politik nicht stellen. ({7}) Da muss ich sagen: Gut, dass Sie endlich etwas gegen die Steuerstundungs- und -sparmodelle unternehmen. Auch wir sind natürlich dafür, dass diese Modelle geschlossen werden. Die Zahl, die Herr Bernhardt nannte, verdient es, wiederholt zu werden: Zwischen dem 11. November und dem 24. November 2005 wurden so viele Fondsanteile gezeichnet, dass es zu Steuerausfällen von 500 Millionen Euro kommen würde. Deshalb sind wir auch dafür, dass das Gesetz entsprechend dem hier vorliegenden Entwurf verabschiedet wird: mit Geltung ab 11. November; anders geht es nicht. Ich möchte Sie dazu allerdings noch fragen: Warum haben Sie überhaupt so lange gewartet, diese Modelle zu schließen? Ein nächster Punkt: Die Abschaffung der Eigenheimzulage. Sie ist richtig und wir als PDS tragen dies mit; es steht auch in unserem Steuerkonzept. ({8}) - Entschuldigung, jetzt die Linkspartei bzw. Die Linke im Bundestag. Wobei es richtig ist: Das Steuerkonzept stammt noch von der PDS. Wir als Linke im Bundestag tragen die Abschaffung der Eigenheimzulage mit. Ich muss Sie aber trotzdem kritisieren, weil auch diese Politik nicht stringent ist. Sie wollen die Eigenheimzulage und die degressive Abschreibung beim Mietwohnungsbau abschaffen. Diese beiden Maßnahmen sind der Bauwirtschaft nicht gerade zuträglich. ({9}) Gleichzeitig wollen Sie privates Wohneigentum im Jahr darauf, im Jahr 2007, stärker in die private Altersvorsorge einbeziehen. Leider liegt ein Jahr dazwischen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man ein Zeichen setzt und beim notwendigen Städteumbau wirklich etwas tut: generationenübergreifend, kinderfreundlich, altersgerecht und barrierefrei. Das vermisse ich. ({10}) Wir schlagen deshalb vor - dabei sind wir gar nicht so originell; wir greifen auf Ihren Vorschlag aus dem Entwurf eines Haushaltssanierungsgesetzes 2004 zurück -: Verwenden Sie wenigstens einen Teil der Mittel für ein zielgerichtetes Städteumbauprogramm - ich schlage ein Drittel vor -, sodass wir auch die Sicherheit haben, dass das eingesparte Geld nicht einfach zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt wird. Lassen Sie mich zu einem weiteren großen Vorhaben im Rahmen dieser Gesetze kommen, und zwar zur Streichung der steuerlichen Freibeträge bei Abfindungen. Eine solche Streichung ist alles andere als gerecht. ({11}) Ich möchte mit Ihnen nicht über die großen Abfindungen diskutieren. Aber haben Sie sich einmal ausgerechnet, was das für eine Verkäuferin bedeutet? Ich mache es Ihnen gerne einmal deutlich: Eine Verkäuferin bezahlt ohne Solizuschlag und ohne Kirchensteuer 4 680 Euro Steuern im Jahr bei einem Bruttojahreseinkommen von 26 400 Euro, das heißt 2 200 Euro monatlich. Wird sie entlassen, bekommt sie drei Monatsgehälter Abfindung, also 6 600 Euro, auf die sie nach der derzeitigen Regelung keine Steuern zahlen müsste. Wenn Sie die Steuerfreiheit streichen und diese Einkünfte zukünftig besteuern, dann bedeutet das, dass die Verkäuferin 2 000 Euro von ihrer Abfindung verliert. Das, denke ich, ist nicht zielführend. ({12}) Ich weiß, dass eine Übergangsregelung vorgesehen ist. Trotzdem ist das ungerecht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Dr. Höll, Sie haben uns einen schriftlichen Änderungsantrag vorgelegt. Wären Sie so gut, dem Hause zu erklären, wie Sie sich das Verfahren vorstellen und wie Sie das mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung bringen wollen, wenn Sie uns bitten: Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD … zu ändern: Wie ist das mit dem Parlamentarismus vereinbar? ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Spiller, darüber haben wir doch schon gestern im Ausschuss diskutiert. Ich habe Ihnen erklärt, dass das ein Fehler ist und dass wir das korrigiert haben. Wenn das bei Ihnen noch nicht angekommen ist, dann tut mir das Leid. Ihnen ging es gerade aber nicht um den Inhalt. Sie wollen nur vom Thema ablenken. Es bleibt dabei: Sie wollen die Steuerfreiheit von Abfindungen streichen. Das ist sozial ungerecht. ({0}) - Die Rechnung ist richtig. Das wissen Sie, Herr Binding. Ich möchte positiv anmerken, dass Sie wenigstens für die Soldatinnen und Soldaten eine kleine Übergangsfrist geschaffen haben. Dieser haben wir im Ausschuss zugestimmt. Insgesamt ist das, was Sie hier vorlegen, aber sehr mangelhaft. Das wird Ihre Probleme nicht lösen. Des Weiteren haben Sie vor, dass Steuerberatungskosten steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden können. Die Möglichkeit, Steuerberatungskosten abzusetzen, wollen Sie allerdings nicht ganz abschaffen, sondern nur für den Bereich der privaten Aufwendungen; das gilt letztendlich also nur für die Anlage K. In der Anhörung wurde Ihnen dazu selbst vom Vorsitzenden der Deutschen Steuergewerkschaft gesagt, dadurch würde quasi die ganze Soße teurer als das Fleisch, das darin ist. Das würde dazu führen - ich nenne das einmal zivilen Gehorsam -, dass Menschen, weil sie die Steuerberatungskosten nicht mehr absetzen und sich diese nicht mehr leisten können, ins Finanzamt gehen - nicht nur einer, sondern hundert, wahrscheinlich aber tausend oder zehntausend - und sich, wie es ihr Recht ist, im Finanzamt beraten lassen. Das wird uns viel teurer kommen. Herr Steinbrück, ich fordere Sie auf, Ihre Politik konsequent zu gestalten. Stärken Sie die Einnahmeseite mit Maßnahmen, die wir Ihnen als Linke im Bundestag vorgeschlagen haben, nämlich durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer, durch die Reform der Erbschaftsteuer oder durch die Einführung einer Börsenumsatzsteuer, sodass der Staat mehr Geld einnimmt. ({1}) Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Sie wirklich umsetzen könnten, wozu Sie aber Mut brauchen. Bringen Sie diesen Mut auf und machen Sie eine sozial gerechte Finanz- und Steuerpolitik! Ich danke Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bernhardt, ich finde es enorm, dass Sie schon nach 23 Tagen Konditionsschwäche zeigen. Die Gesetze, die hier vorgelegt werden - es geht um die Eigenheimzulage und die Abschaffung der Fonds -, haben nicht Sie erfunden. Über diese Gesetze ist schon vor einiger Zeit - schon vor den Neuwahlen und vor der großen Koalition - diskutiert worden. Sie hatten genügend Zeit, sich damit auseinander zu setzen. Jetzt bedauern Sie, dass Sie das nicht getan haben. In diesen 23 Tagen haben Sie auf einmal gemerkt, wie die Situation eigentlich ist und dass es vielleicht doch notwendig ist, eine derart hohe Subvention wie die Eigenheimzulage abzuschaffen, ohne auf andere Steuereinnahmen zu verzichten. Das finde ich schon ein starkes Stück. Hier zeigen Sie Konditionsschwäche. Ich bin gespannt, wie es hier in den nächsten Jahren weitergeht. ({0}) Natürlich wird die Abschaffung der Eigenheimzulage von uns begrüßt. Das haben wir immer gesagt. Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist richtig. Sie führt zu Fehlallokationen auf dem Wohnungsmarkt. Als die Eigenheimzulage eingeführt wurde, herrschte Wohnungsnot. Diese Situation haben wir heute nicht mehr. Die Bauzinsen sind auf einem anhaltend niedrigen Niveau. Insofern ist es richtig, diese Subvention jetzt abzuschaffen. Es gab ja viele Anläufe. Dies ist der dritte Anlauf und jetzt springen Sie endlich. Im Jahr 2003 haben wir sogar noch überlegt, im Rahmen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes - dieses Gesetz haben Sie übrigens nur mit sehr spitzen Fingern angefasst - die Eigenheimzulage neu zu fassen und mit einer Kinderkomponente zu versehen. Diesen Vorschlag finde ich im Übrigen gar nicht falsch. Sie haben das weit von sich gewiesen. Aus Ihren Reihen kam damals die Rechnung, dass man dann 33 Kinder bekommen müsse, um die gleiche Eigenheimzulage zu erhalten wie vorher. Ich bin ganz froh, dass das den Frauen erspart bleibt. ({1}) Insgesamt muss ich aber schon sagen, dass Sie sehr spät Einsicht gezeigt haben, dass es richtig ist, diese Subvention abzubauen. ({2}) Es war auch in hohem Maße unverantwortlich. Sie haben die Haushaltssituation zu Recht und mit Verve beklagt. Wir alle wissen, dass die Haushaltssituation prekär ist. Über Jahre hinweg haben Sie jedes Jahr verhindert, dass wir weniger Ausgaben durch die Abschaffung dieser Subvention haben. Das war unverantwortlich. Also noch einmal: Es ist eine gute Einsicht, die Sie jetzt endlich haben, sie kommt aber sehr spät. ({3}) Richtig ist: Wir müssen Regelungen finden, um das Wohneigentum in die geförderte Rente zu integrieren. Wir sollten uns nicht viel Zeit dabei lassen. Sie haben das angekündigt. Wir sind sehr gespannt, was da kommt. Zweites Thema, das steuerliche Sofortprogramm. Ich hätte die Union in ihren Oppositionszeiten einmal erleKerstin Andreae ben wollen, wie sie diesen Titel kommentiert hätte, wenn man ein steuerliches Sofortprogramm mit fünf, sechs Einzelmaßnahmen, mit denen Mehreinnahmen von 1,2 Milliarden Euro verbunden sind, ganz groß angekündigt hätte. Die Hälfte dieser Mehreinnahmen von 1,2 Milliarden Euro, also 600 Millionen Euro, soll durch die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für eine Steuerberatertätigkeit erzielt werden. Das ist der Grund, weshalb wir diesem Gesetz nicht zustimmen werden. Wir halten es nämlich für fatal, dass Sie diese 600 Millionen Euro in dem Finanztableau als Einnahmen anführen, die wir über diesen Sonderausgabenabzug erzielen. ({4}) Sie wissen ganz genau, was passiert: Die Erstellung des Mantelbogens und der „Anlage Kinder“ werden nicht mehr abzugsfähig sein. Alles andere bleibt abzugsfähig. ({5}) Sie wissen ganz genau, dass sich die Steuerberater bei einer Situation wie dieser normalerweise melden, auf den Putz hauen und sagen: Hier ist der ganze Berufsstand bedroht, hier passiert Dramatisches mit den Arbeitsplätzen. - Sie haben gestern im Finanzausschuss gesagt, dass man nicht mehr so viele Briefe bekomme, wenn man in der Opposition sei. Ich glaube, das ist nicht der Fall. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie genau wissen, dass diese Berechnung falsch ist, dass die Steuerberater in der Lage sein werden, dies mit zwei Rechnungen, die sie dann erstellen müssen, zu umgehen. Und - das haben Sie gestern in der Sitzung des Finanzausschusses ja sogar angekündigt - Sie wollen einen Teil der Maßnahmen im nächsten Jahr sofort wieder rückgängig machen, wenn es um die steuerliche Absetzbarkeit bei Minijobs geht. Für diejenigen, die in die Kinderbetreuung investieren und quasi als Arbeitgeber auftreten, werden Sie das wieder rückgängig machen. Das heißt, Sie schlagen eine Maßnahme vor und kündigen schon jetzt an, sie in einem halben Jahr zum Teil wieder zurückzunehmen. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz lehnen wir das ab. Wir halten das für einen falschen Schritt. Nicht jede Abschaffung im Steuerrecht bedeutet eine Vereinfachung. Deswegen wenden wir uns gegen diese Maßnahme und können diesem Gesetz nicht zustimmen. ({6}) Ich möchte noch etwas zu den Fonds sagen. Grundsätzlich stimmen wir diesem Gesetz und damit der Einschränkung der Verlustverrechnung zu, haben aber ein deutliches Problem mit der Stichtagsregelung; darauf wird Frau Scheel nachher noch eingehen. ({7}) Bei den erneuerbaren Energien haben Sie im Koalitionsvertrag ein hohes Ziel vereinbart. Sie wollen den Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent erhöhen. Wir hätten da weiter gehen können, aber bis 2020 einen Anteil an erneuerbaren Energien von 20 Prozent zu erreichen, ist ein richtiges Ziel. Man muss dann aber auch die probaten Mittel zur Förderung der erneuerbaren Energien einführen. Wenn Sie jetzt aus unterschiedlichen Gründen die Verlustverrechnung auch für Fonds von erneuerbaren Energien abschaffen wollen, sollten Sie gleichzeitig überlegen, welche Möglichkeiten Sie haben, Anschubfinanzierungen im Bereich erneuerbarer Energien zu gewährleisten, damit Sie dieses richtige Ziel, das Sie im Koalitionsvertrag angekündigt haben, einhalten können. Ich wehre mich für die grüne Fraktion ganz deutlich gegen den Vorwurf, dass wir Klientelpolitik betreiben. Wir machen Zukunftspolitik, weil es richtig ist, erneuerbare Energien zu fördern. Ich hoffe, dass Sie bei diesem Zukunftsthema „Weg vom Öl und hin zu erneuerbaren Energien“ noch Vorschläge unterbreiten, wie wir das erreichen können. Ich bin gespannt, welche Vorschläge Sie uns dazu machen werden. Zusammenfassend möchte ich sagen: Sie haben eine Politik der kleinen Schritte angekündigt. Dieser Ankündigung werden Sie mit dem vorliegenden Gesetz gerecht. Damit machen Sie wirklich kleine Schritte. Ich hoffe, dass Ihre Schritte in der nächsten Zeit ein bisschen größer werden. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wissing, natürlich ist es in einer parlamentarischen Debatte erlaubt, rhetorisch eine Art Pappkameraden aufzubauen und dann mit dem gesamten Waffenarsenal von Sir Lancelot auf dem Turnierplatz gegen diesen Pappkameraden anzutreten. Ich will damit sagen: Niemand von der Koalition oder der Bundesregierung hat behauptet, dass mit den drei Gesetzesvorhaben, die heute zur Abstimmung stehen, das umfassende Konzept der Koalition oder der Bundesregierung vorliegt. Niemand hat mit Blick auf das steuerliche Sofortprogramm, die Beschränkung der Verlustverrechnung bei den Steuersparmodellen oder der Abschaffung der Eigenheimzulage davon gesprochen. Sie haben da einen Popanz aufgebaut, um anschließend darauf einzuschlagen. Selbstverständlich hat sich diese Bundesregierung vorgenommen, schon in den nächsten Wochen - spätestens am 9. Januar, dem Datum der ersten Kabinettssitzung im neuen Jahr, gegebenenfalls auch früher - die ersten steuerlichen Fördertatbestände zu verabschieden, wie Herr Bernhardt zutreffend dargestellt hat, zum Beispiel um die Liquidität der Wirtschaft zu verbessern, zum Beispiel um im Bereich der Betreuungskosten voranzukommen, auch mit Blick auf die Stärkung der privaten Haushalte als Arbeitgeber. Wir werden im Zusammenhang mit dieser Kabinettssitzung eine Vorlage verabschieden, bei der es um die Aufstockung des Programms für die energetische Gebäudesanierung geht, zu dem mir bereits jetzt sehr positive Stellungnahmen vorliegen, zum Beispiel vom Handwerk und der Bauwirtschaft. Selbstverständlich stehen wir auch zu der Koalitionsvereinbarung, dass das Wohneigentum mit Blick auf die Abschaffung der Eigenheimzulage in die Riester-Rente integriert wird. Insofern stehen die Positionen der großen Koalition fest. ({0}) - Es gibt ja keine Erkenntnisblockade für die SPD, Frau Scheel. ({1}) Selbstredend stehen wir zu der Ankündigung, auch eine große Unternehmensteuerreform zu verabschieden, bei der allerdings Solidität und Präzision sehr wichtig sind. Bei so etwas schießt man nicht aus der Hüfte. ({2}) - Ja, 2008. Entschuldigen Sie, Sie wissen doch, dass der Sachverständigenrat sein Gutachten erst im Januar oder Februar vorlegen wird und dass wir auch von der Stiftung Marktwirtschaft Erkenntnisse brauchen. Das heißt, wenn Sie von der Regierung fordern, bis zum 1. Januar 2007 ein Gesetz vorzulegen, dann müsste die Regierung mit einem so weit reichenden Vorhaben in einem halben Jahr fertig sein. Sie wissen, dass das nicht funktionieren wird. Wir reden in Wirklichkeit über einen Systemwechsel in der Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland. So etwas schüttelt man nicht einfach aus dem Ärmel - auch um Ihrer Kritik zu entgehen, dass dieses Vorhaben nicht gelungen sei oder einer Nachbesserung bedürfe. Wir haben uns eine Menge vorgenommen. Ich glaube, dass die Einleitung dieser Schritte richtig ist, und ich bin sehr dankbar, dass uns die beiden Koalitionspartner auch in den Ausschussberatungen - insbesondere im Finanzausschuss - so behilflich gewesen sind. Ich habe Ihre Hinweise zum Thema Steuerberater nicht ganz verstanden, Frau Höll. Mir ist bis jetzt entgangen, dass ausgerechnet Ihre Wählerklientel in so starkem Maße Steuerberater in Anspruch nimmt. Denn ich gehe davon aus, dass die große Masse der Lohnsteuerzahler nicht unbedingt die Klientel der Steuerberater stellt; sie ist nämlich heute schon in der Lage, ihre Lohnsteuererklärung auf einem Blatt Papier abzugeben, und zwar nach Lage der Dinge bei den Serviceagenturen der Finanzämter. Das ist zudem kostenlos, was Sie in diesem Zusammenhang leider verschwiegen haben. ({3}) Was die Frage von Frau Andreae nach den 600 Millionen Euro angeht, so hat es zwar darüber eine Debatte gegeben, aber wir haben uns dabei insbesondere die Berechnungen des Freistaats Bayern und des Landes Nordrhein-Westfalen zu Eigen gemacht. Wir wissen, dass es Verhaltensweisen geben wird, durch die einiges in dem Spannungsbogen zwischen der Anrechnung von Werbungskosten und Sonderausgaben infrage gestellt wird. Aber wir haben keinen Grund, die Berechnungen der beiden Bundesländer infrage zu stellen. Bei vielen der haushalts- und finanzpolitischen Hinweise aus den Reihen der FDP ist mir eines nicht richtig klar geworden, Herr Wissing. Wenn Sie die Senkung der Nettokreditaufnahme und der Steuersätze fordern, gleichzeitig aber eine große Zurückhaltung hinsichtlich der Abschaffung von Steuervergünstigungen an den Tag legen - ich drücke mich dabei höflich aus -, ist mir nicht klar, wie Sie den Haushalt sanieren wollen, ohne massiv in Leistungsgesetze einzugreifen. Das wird Ihnen nicht gelingen. ({4}) Die FDP verschweigt dem Publikum bzw. den Bürgerinnen und Bürgern, in welchem Ausmaß sie in der Lage ist oder es für notwendig ansieht, Eingriffe in Leistungsgesetze in einem Ausmaß vorzunehmen, das spielend zweistellige Milliardensummen erreicht. Außerdem verschweigen Sie dem Publikum, inwieweit sich diese Eingriffe auch auf volkswirtschaftliche Parameter bzw. auf Wachstum und Beschäftigung auswirken. ({5}) - Ich wiederhole, was ich im Ausschuss gesagt habe, Herr Fricke. Wenn Sie mir sagen, wir dürften die Mehrwertsteuer nicht erhöhen, wodurch dem Bund - von den Ländern und Kommunen rede ich in diesem Zusammenhang gar nicht - 10 Milliarden Euro fehlen, und als Gegenvorschlag gefordert wird, den Zuschuss zur Rentenversicherung um 8 Milliarden Euro zu kürzen, dann läuft das auf eine 4- bis 5-prozentige Realkürzung der Renten hinaus. Da die Rentner keine hohe Sparquote haben, wirkt sich das auf den Konsum und damit ebenfalls auf volkswirtschaftliche Parameter aus, wie es auf umgekehrtem Weg in einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei anderen Stellschrauben auch der Fall ist. Bei Ihrer Argumentation legen Sie das nicht offen. Sie werden diesen freidemokratischen Dreisatz meines Erachtens nicht widerspruchsfrei hinbekommen, wenn Sie weitere Steuersenkungen und die Reduzierung der Neuverschuldung - darin sind wir uns übrigens einig fordern. Bei Ihnen schwingt auch immer eine Kritik an dem Abbau von in meinen Augen volkswirtschaftlich überholten Steuersubventionen mit. Aber Sie verschweigen, welches haushalts- und finanzpolitisches Konzept dahintersteht. Das wird nicht deutlich. ({6}) Ich will zum Bundeshaushalt und darüber hinaus auch zu den anderen Haushalten der Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik Deutschland noch einmal deutlich festhalten, dass wir uns nicht aus den Defiziten heraussparen werden können. Das wird nicht erfolgreich sein. Wir werden vielmehr die Defizite in der Bundesrepublik Deutschland nur dann reduzieren können, wenn wir mehr Wachstumsförderung betreiben, den Arbeitsmarkt stabilisieren, die Sozialversicherungssysteme robuster gegen die Konjunkturausschläge wie auch gegen die Erosion sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse machen und auch mehr Einnahmen generieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fricke?

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Bitte sehr, Herr Fricke.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Bundesminister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie eben kritisiert, dass die FDP keine Vor- schläge zu den Einsparungen in den Sozialsystemen ma- che. Darf ich Sie als Mitglied der Regierung fragen, ob Sie damit sagen wollen, dass die Regierung bei den steu- erlichen Leistungen, die in die Sozialsysteme fließen, keinerlei Einschnitte plant, weder bei den Krankenkas- sen noch bei der Rentenversicherung?1) Deshalb ist dieser großen Koalition sehr daran gelegen, den Zweiklang aufrechtzuerhalten, also beides zu tun: auf der einen Seite Impulse zu geben und Wachstumsförderung zu betreiben und auf der anderen Seite die notwendige Haushaltskonsolidierung voranzutreiben. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben ihren Worten umgehend erste Taten folgen lassen. Das setzt Signale. Aber ich füge hinzu: Das ist erst der Anfang. Wir haben noch eine ganze Legislaturperiode vor uns. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Frank Schäffler, FDPFraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Wenn wir heute über drei Gesetzentwürfe von Union und SPD entscheiden, dann sollten wir nicht ver- gessen, dass diese Gesetzentwürfe das erste Aushänge- schild der Koalition sind. Rund 100 Tage nach der vor- gezogenen Bundestagswahl ist das Ihr Lackmustest. Dabei wollen wir von der FDP als größte Oppositions- fraktion in diesem Haus 1) Siehe Berichtigung Stenografischer Bericht 10. Sitzung, Anlage 2 ({0}) - wir nähern uns an, Sie von oben, wir von unten - keine Fundamentalpositionen einnehmen. Vielmehr unterstützen wir Sie dort, wo es sinnvoll ist, kritisieren Sie aber auch dort, wo es uns notwendig erscheint. Ich will mit den Maßnahmen beginnen, die wir unterstützen. Zu einer notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gehört, Subventionen abzubauen und eine unerwünschte Gestaltung des Steuerrechts zu beseitigen. An einem einfacheren und gerechteren Steuerrecht mit niedrigeren Sätzen führt dennoch kein Weg vorbei. ({1}) Trotzdem sagen wir Ja zur Abschaffung der Eigenheimzulage. Mein Kollege Dr. Wissing hat dies gerade begründet. Wir sagen ebenfalls Ja zur Einschränkung von so genannten Steuerstundungsmodellen. Auch wenn wir systematisch einige Probleme mit diesem Gesetz haben und bezweifeln, dass die gewünschten Effekte tatsächlich eintreten, wollen wir zustimmen. ({2}) Steuerpolitik basiert jedoch auf dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen in diesem Land. Verlässlichkeit ist daher ein hohes Gut. Die rückwirkende Einschränkung von Investitionen in Fonds zum 10. November dieses Jahres ist daher ein schlimmer Präzedenzfall. ({3}) Bürger können künftig nicht mehr die Gewähr haben, dass ihre Investitionen in ein verlässliches steuerpolitisches Umfeld gestellt werden. Dabei hat die Expertenanhörung in der vergangenen Woche entgegen den Äußerungen des Finanzministers eindeutig ergeben, dass bereits am 10. November dieses Jahres alle wesentlichen Fonds platziert waren. Daher verstehe ich nicht, wieso sich Herr Dr. Meister - er ist nicht anwesend - in seiner Fraktion nicht durchgesetzt hat. In der letzten Woche hat er an dieser Stelle noch gesagt: Zu den Steuersparfonds will ich nur sagen: Mir liegt im Sinne der Vertrauensbildung daran, dass wir an dieser Stelle versuchen, soweit als möglich auf rückwirkendes In-Kraft-Treten zu verzichten … ({4}) Otto Bernhardt, der Fraktionskollege von Herrn Dr. Meister, zollte ihm noch Beifall in der Debatte. Im Ausschuss selbst hat er allerdings das Anliegen von Herrn Meister sehr zurückhaltend bzw. gar nicht unterstützt. Man sollte auch mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Beschränkung der Verlustverrechnung nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Das Steuerrecht in Deutschland ist unsäglich kompliziert. Dieser Gesetzentwurf verkompliziert es zusätzlich. Er schafft nicht nur einen zusätzlichen § 15 b des Einkommensteuergesetzes, der allein über eine DIN-A-4-Seite lang ist, sondern widerspricht gleichzeitig auch wichtigen anderen Regelungen im Gesetz. ({5}) So konterkariert er die Wirkung der Denkmalförderung nach §§ 7 i und 7 h EStG bei Gebäuden in Sanierungsgebieten. Dies ist insbesondere deshalb bedenklich, weil sich gleichzeitig Länder und Kommunen aus der Förderung des Denkmalschutzes zunehmend zurückziehen müssen. Da Sie auch noch die degressive AfA abschaffen wollen, müssen Sie sich schon fragen lassen, woher neue Arbeitsplätze in diesem Land kommen sollen. ({6}) Anders als in Ihrer Begründung für Ihren Entwurf eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm dargestellt, ist gerade die degressive AfA keine Subvention, sondern spiegelt den Werteverzehr eines Immobilienneubaus wider, der am Anfang etwas höher und später niedriger ist. Mit Ihrem Entwurf zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm sollten Sie aufpassen, dass Ihr Einstieg nicht zum Ausstieg in die Arbeitslosigkeit führt. Vielen Dank.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Abgeordneter Schäffler, das war Ihre erste Rede. Dazu gratuliert Ihnen das ganze Haus und wünscht alles Gute für die parlamentarische Arbeit. ({0}) Es hat jetzt der Abgeordnete Leo Dautzenberg von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzpolitik der 16. Legislaturperiode steht vor zwei gleichermaßen bedeutsamen Herausforderungen. Auf der einen Seite steht die nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen, auf der anderen Seite die zukunftsorientierte Gestaltung des Steuersystems. Dazu gehören auch die Reduzierung von Steuergestaltungen sowie der Abbau von Steuersparmodellen. Zu beiden Aufgaben leistet der heute hier zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen einen wertvollen Beitrag. Bereits in ihrem Wahlprogramm hat die Union angekündigt, die lukrativen Verlustverrechnungsmöglichkeiten bei Modellen wie Medien- und Windkraftfonds abzuschaffen und damit auch das Steuerrecht zu vereinfachen und gerechter zu gestalten. Dieses Ziel wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Er sieht vor, dass die Verluste im Zusammenhang mit so genannten Steuerstundungsmodellen nur noch mit späteren positiven Einkünften aus derselben Einkunftsquelle verrechnet werden dürfen. Ordnungspolitisch trägt das Gesetz damit dazu bei, Fehlallokationen am Kapitalmarkt zu minimieren. Künftig wird die Investition am Kapitalmarkt wieder verstärkt wegen des Vertrauens auf eine ausreichende Rendite getätigt und nicht mehr, wie bei den Steuerstundungsmodellen heute oftmals, aufgrund des damit verbundenen steuerlichen Vorteils. Durch Beschränkung der Verlustverrechnung wird damit erstens ein Anreiz zu mehr Rentabilität gesetzt und zweitens die Förderung fragwürdiger Steuersparmodelle beendet. Ich betone ausdrücklich, dass damit lediglich die Förderung fragwürdiger Steuersparmodelle beendet wird. Wie Sie wissen, gab es in der Sachverständigenanhörung in der vergangenen Woche auch kritische Stimmen zu der Frage, ob das Gesetz womöglich zu weit gefasst sei und Investitionen betreffen könnte, deren Förderung weiterhin sinnvoll ist. Die Begründung zum Gesetz verschafft hier positive Klarheit. Dort heißt es nämlich wörtlich: Nicht betroffen von der Verlustverrechnungsbeschränkung sind solche Fonds, die nicht primär darauf angelegt sind, ihren Anlegern einen Verlust zuzuweisen … Hier sind in erster Linie die vermögensverwaltenden Venture Capital und Private Equity Fonds zu nennen. Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf in seiner Begründung auch sicher, dass auch diejenigen Bauträgergesellschaften von der Regelung nicht betroffen sind, in denen ein Bauträger ein Objekt im Sanierungsgebiet oder ein Denkmal saniert. ({0}) Wir haben ausdrücklich darauf bestanden, dass diese Begründung in den Bericht des Ausschusses hineinkommt, damit sie Beschlusslage dieses Hauses wird und als Grundlage dienen kann, wenn es zukünftig zu Auslegungsproblemen und Abgrenzungsproblemen kommen sollte. Daher war es wichtig, dass der Finanzausschuss gerade dies im Protokoll der gestrigen Sitzung explizit festgehalten hat. Ausgenommen von der Regelung zur Beschränkung der Verlustverrechnung sind zudem Verluste, die bei der Konzeption eines Modells nicht abzusehen waren, wie beispielsweise unerwarteter Mietausfall, Verlust oder Beschädigung des Anlageobjektes. Was die Abgrenzung angeht, ist klar, dass dies diejenigen Projekte sind, die weiterhin nicht negativ erfasst werden. Diese Klarstellungen in der Gesetzesbegründung sind für die Union von großer Bedeutung; denn damit bekommen wir hier Rechtsklarheit und damit werden Abgrenzungsprobleme schon von Anfang an vermieden. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart - das ist für die deutsche Filmwirtschaft wichtig -, dass spätestens zum 1. Juli 2006 international wettbewerbsfähige und mit anderen EU-Ländern vergleichbare Bedingungen geschaffen werden sollen, um die Situation des privaten Kapitals für Filmproduktionen in Deutschland zu verbessern. Damit wollen wir dem Filmstandort Deutschland gerecht werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zum Stichtag 10. November sagen. Auch in der Anhörung wurde dieser Stichtag als ein Problem dargestellt. Aber nach all den Ankündigungen und der damit verbundenen Diskussion seit dem Frühjahr können sich die allermeisten nicht mehr auf den Vertrauensschutz beziehen. Ich verweise auf die im Jobvorschlag enthaltenen Punkte. Rücktrittsmöglichkeiten der Anleger sind in den Verträgen vorgesehen. Wenn man einen Vergleich zieht mit Gesetzesinitiativen der Vergangenheit, die ebenfalls die Rückwirkungsproblematik betrafen, und abwägt, dann erkennt man: Was den Vertrauensschutz anbelangt, gab es problematischere Punkte als das, was hier in Bezug auf die Fondsmodelle geregelt ist. Daher können wir mit Blick auf die verfassungsrechtliche Problematik - auch nach der Abstimmung zwischen den Ressorts - davon ausgehen, dass wir hier Rechtssicherheit geschaffen haben. Mit dem, was hier schon ausgeführt worden ist, und dem, was wir in der Frage „Verlustverrechnung/Verlustbeschränkung“ zuletzt auf den Weg gebracht haben, haben wir eine zustimmungsfähige Grundlage geschaffen. Ich darf Sie um Zustimmung bitten. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Abgeordnete Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich etwas zu den Gesetzesvorlagen sage, möchte ich gern noch auf einige Vorrednerinnen und Vorredner eingehen, zunächst auf Frau Dr. Höll vom PDS-Linksbündnis: Es ist schon absurd, wenn Sie auf der einen Seite behaupten, dass die reale Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland zu gering ist, und auf der anderen Seite Irland für beispielhaft erklären, hoffentlich wohl wissend, dass der Unternehmensteuersatz in Irland bei 12,5 Prozent liegt und dass der zweitgrößte Investor in Irland deutsche Unternehmen sind, nämlich 200 mit 15 000 Beschäftigten. Daran wird doch deutlich, dass wir ein Problem im Standortwettbewerb haben. Man kann nicht einerseits die zu geringe Steuerbelastung hier anprangern und andererseits Irland für beispielhaft erklären, obwohl die Steuerbelastung dort niedriger ist. Man sollte nicht meinen, dass man mit Steuerdumping eine zukunftsweisende Politik betreiben kann. ({0}) Mit Blick auf die Klimaschutzziele, die sich Deutschland gesetzt hat, freue ich mich, dass Minister Steinbrück Verbesserungen auf dem Gebiet der energetischen Gebäudesanierungen für das nächste Jahr angekündigt hat. Herr Steinbrück, ich freue mich auch über Ihre Ankündigung, dass es im Rahmen der privaten Altersvorsorge in Bezug auf Wohneigentum eine Verbesserung geben wird. ({1}) Das ist gut. Das freut uns Grüne besonders deswegen, weil wir uns für diese beiden Ziele seit Jahren sehr stark eingesetzt haben und bislang am Widerstand der SPD gescheitert waren. Also sind auch Sie lernfähig. Das freut uns. ({2}) Die FDP handelt immer nach dem Motto „Wünsch dir was!“ - für Weihnachten mag das schön sein -: Steuersätze runter, Sozialversicherungsbeiträge runter, beim Haushalt die Maastricht-Kriterien einhalten. Die FDP tut so, als wenn dann alles gut würde. Aber Sie wissen selbst, dass die Umsetzung Ihrer Vorschläge nicht finanzierbar ist. Das merkt man daran, dass die Länder, in denen die FDP mitregiert, keine Gesetzentwürfe in den Bundesrat einbringen, die die Vorschläge enthalten, die Sie hier im Bundestag immer großspurig vertreten. Diese Länder wissen nämlich genau, dass das, was Sie vorhaben, nicht finanzierbar ist. Insofern sind Sie in dieser Frage doppelzüngig. ({3}) Wir alle wissen, dass das Steuerrecht einfacher werden muss. ({4}) Wir messen alle Vorschläge, die von der neuen großen Koalition eingebracht werden, an der Frage: Wird das Steuerrecht für die Steuerpflichtigen in der Bundesrepublik Deutschland durch diese Vorschläge einfacher oder nicht? Die Bürger erwarten - die Bürgerinnen natürlich auch -, ({5}) dass die Politik handelt. Sie haben im Wahlkampf das populäre Thema Vereinfachung als zentrales Thema gehabt und auf diesem Gebiet Besserung versprochen. ({6}) Man muss schon sagen: Der Wegfall der Eigenheimzulage vereinfacht das Steuerrecht. Das ist richtig. ({7}) Auch das Ziel ist richtig. Aber es ist schon ein bisschen überraschend, dass die Union jetzt in 23 Tagen zu diesem Ergebnis gekommen ist, nachdem sie drei Jahre lang nicht in der Lage war, diesen Erkenntniszugewinn zu erreichen. Es ist schon ein bisschen interessant, jetzt einmal zu sehen, wie schnell man sich dreht. Bei einer Drehung um 180 Grad steht man auf dem Kopf. Das ist schon ein bisschen komisch, aber anscheinend löst es im Gehirn etwas aus, sodass man am Ende doch zur richtigen Erkenntnis kommt. ({8}) Also: Es ist vernünftig, das zu tun. Beim Thema Vereinfachung ist das Beispiel der Steuerberatungskosten angesprochen worden. Dabei geht es nicht um Klientelpolitik. Dabei geht es nicht um die Steuerberater oder um die Steuerberaterinnen. Aber es geht darum, dass die Umsetzung dieser Gesetzesvorlage dazu führt, dass Gestaltungsmöglichkeiten neu aufgemacht werden. Sie streichen ja nur einen Teil dieser Steuerrechtsregelung. Das führt nicht zur Vereinfachung, sondern zu einer neuen Verkomplizierung und zu einer neuen Missbrauchsanfälligkeit, was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages selbst vonseiten des Ministeriums zugestanden wurde. Das ist der Grund dafür, dass wir das ablehnen. Das ist keine Vereinfachung, sondern das führt letztlich zu neuen Gestaltungen. ({9}) Das Thema Vertrauensschutz ist für uns ein ganz wichtiges Thema. Vertrauensschutz ist eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz des Steuerrechts bei den Bürgern und Bürgerinnen. Vertrauensschutz ist auch ein zentrales Element, eine ganz zentrale Notwendigkeit für Investoren im In- und Ausland. Sie haben den Vertrauensschutz im Blick auf die Freibeträge ein Stück verbessert. Sie haben das Vertrauen der Anleger in den Investitionsstandort Deutschland aber beschädigt. ({10}) Wir brauchen Stichtage, die entweder Gegenstand von Kabinettsbeschlüssen sind, und zwar von wirklichen Kabinettsbeschlüssen, oder mit dem Steuerjahr zusammenfallen. ({11}) Sie dürfen nicht beliebig zustande kommen, weil man mal gerade Kaffee getrunken hat und sich mal gerade was überlegt hat. ({12}) Das hat mit verlässlicher Finanzpolitik, lieber Kollege Florian Pronold, überhaupt nichts zu tun. Wir brauchen Verlässlichkeit. ({13}) Die Grünen stehen für diese Verlässlichkeit. Wir stehen auch für die Vereinfachung. In diesem Sinne werden wir Sie weiter beobachten und auch weiter treiben. Danke schön. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, wenn Sie mich kritisieren, setzt das natürlich eigentlich voraus, dass Sie mir richtig zugehört haben. ({0}) Natürlich wissen wir beide, dass in Irland die Steuersätze niedrig sind. Ich habe aber gar nicht über die Steuersätze, sondern über die effektive Steuerbelastung gesprochen. Dazu müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen, dass in Irland mit niedrigen Steuersätzen die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durchgesetzt wurde, wodurch die effektive Steuerbelastung gestiegen ist. Als Zweites möchte ich noch erwähnen: In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag steht, dass die Steuersenkung der letzten Jahre nicht das Ergebnis hatte, das Sie angestrebt hatten - so haben Sie es immer verkündet -: mehr Arbeitsplätze und Investitionen. Wenn Sie nun immer noch beklagen, dass die Steuersätze in Deutschland zu hoch sind - so habe ich Ihre Einlassung verstanden -, dann kann das bei Ihnen auch in der Opposition nicht ganz so gut laufen, wie Sie sich das vielleicht erhoffen. Ich danke. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Abgeordnete Scheel, Sie haben die Gelegenheit zu einer Antwort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Dagegen muss ich doch noch etwas sagen. - Es ist doch immer die Frage, von welchem Niveau aus man diskutiert, Frau Dr. Höll. Wenn Sie sagen, die effektive Steuerbelastung in Irland sei aufgrund der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage im irischen Steuerrecht erhöht worden, dann muss man natürlich dazusagen, wie das Niveau vorher war. Wenn man das mit Deutschland vergleicht, wird klar, dass die effektive Steuerbelastung - darum geht es; das ist die reale Steuerbelastung, die Unternehmen in Deutschland zu tragen haben - hier mitnichten geringer ist als in Irland; sie ist vielmehr um einiges höher als in Irland. Das ist der Punkt, den ich Ihnen vorgeworfen habe: dass Sie hier mit populistischen Äußerungen den Eindruck zu erwecken versuchen, als sei das irische Steuerrecht besser als das deutsche. Irland betreibt auch ein Stück weit Steuerdumping; das wissen wir alle und da wollen wir nicht hin. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ingrid ArndtBrauer von der SPD-Fraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte auf das Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage zurückkommen, weil ich denke, dass viele Zuhörer interessiert sind, warum wir die Eigenheimzulage abschaffen wollen und wie wir das umsetzen, und weil ich glaube, dass das ein sehr sinnvolles Gesetz ist. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Förderung nach dem Eigenheimzulagengesetz ab dem 1. Januar 2006 für Neufälle abzuschaffen. Die Förderung nach geltendem Recht wird gewährt, wenn vor dem 1. Januar 2006 mit der Herstellung des Objekts begonnen wird - wer also jetzt schnell anfängt zu bauen, kann sich die Förderung noch sichern -, ein notarieller Kaufvertrag abgeschlossen oder einer Genossenschaft beigetreten wird. Man muss berücksichtigen, dass alle staatlichen Subventionen und Steuervergünstigungen regelmäßig - besonders in der Situation, in der wir uns im Moment befinden - auf ihre Effizienz und Notwendigkeit geprüft und mit Blick auf die Finanzlage der öffentlichen Haushalte bewertet werden müssen. Die Eigenheimzulage ist - das haben wir hier schon häufiger erörtert - die höchste Einzelsubvention im Bundeshaushalt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass es Mitnahmeeffekte gibt, dass wir Leute gefördert haben, die diese Förderung eigentlich nicht gebraucht hätten und die wir auch nicht fördern wollten. So viel zum Inhalt. Sehr überraschend waren nach den jahrelangen Diskussionen über dieses Gesetz - wir haben diesen Vorstoß unter Rot-Grün ja schon mehrmals unternommen - die einstimmigen Voten aller mitberatenden Ausschüsse und gestern des Finanzausschusses. Das hat mich sehr gefreut. Es zeigt, dass wir hier ein Gesetz auf den Weg bringen, hinter dem das gesamte Parlament steht und das wir deswegen auch gut nach außen vertreten können. ({0}) Der ursprüngliche Förderzweck bestand - um einmal ganz weit zurückzuschauen - im Prinzip aus vier Teilen. Der erste Grund war, dass es damals, als man es für sinnvoll hielt, etwas zu unternehmen, zu wenig Wohnraum gab. Ich denke, dieses Problem gibt es nicht mehr. Der zweite Förderzweck war, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Zinsbelastung für Bau- oder Kaufwillige sehr viel höher war als heute. Wir haben heute eine historisch niedrige Zinsbelastung; auch dieser Förderzweck entfällt also. Der dritte Ansatz war die Familienförderung. Es gab immer auch eine Familienkomponente. Das heißt, besonders Familien mit vielen Kindern sollte die Möglichkeit gegeben werden, auch bei geringem Einkommen ausreichend großen Wohnraum zur Verfügung zu haben. Wer wie ich einmal versucht hat, mit vier Kindern eine Wohnung zu finden, weiß, dass das kaum möglich ist; man bekommt immer gesagt, man müsse sich ein Haus suchen. Dieser Förderzweck war also in den letzten Jahrzehnten durchaus begründet. Zu diesem Punkt muss ich allerdings sagen, dass wir gerade im Bereich der Familienförderung viel verändert haben. Das Kindergeld, das vor 20 Jahren gezahlt wurde, ist nicht zu vergleichen mit dem Kindergeld und den Kinderfreibeträgen, die heute gelten. Außerdem ist das Ergebnis dessen, was wir zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf regeln, dass es meistens beiden Elternteilen wenigstens zeitweise ermöglicht wird zu arbeiten, wodurch sie wesentlich mehr Haushaltseinkommen haben als früher. Der vierte Förderzweck war schon immer die Idee der Altersvorsorge. Es war immer vom Staat gewollt und gefördert, dass die Menschen in ihrer letzten Lebensphase keine Mietzahlungen mehr leisten müssen und auch - hoffentlich - ihr Häuschen abgezahlt haben. Hier haben wir gehandelt und im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir zwar die Eigenheimzulage abschaffen; weiter heißt es aber: Daher werden wir das selbst genutzte Wohneigentum zum 1. Januar 2007 besser in die geförderte Altersvorsorge integrieren. ({1}) - „Ein Jahr nichts“ ist ja so nicht richtig. Ich habe Ihnen eben gesagt, dass Sie in den letzten Monaten, als wir über dieses Thema schon diskutiert haben, noch zu bauen beginnen konnten bzw. auch jetzt noch einen Kaufvertrag abschließen können. Diese Bautätigkeit wird sich auch noch in das nächste Jahr hineinziehen. Ich bin sicher, wir werden keinen totalen Einbruch bei der Bauwirtschaft haben. Wir haben bei der Altersvorsorge heute schon die Möglichkeit, das Wohneigentum in die Riester-Rente einzubeziehen. Wir werden diese Möglichkeit ausbauen. Natürlich stehen wir zu dem, was im Koalitionsvertrag steht. Ich denke, das ist eine sehr gute Maßnahme. ({2}) - Nein, das ist überhaupt nicht der Punkt. Die Einsparungen im Staatshaushalt betragen bis zum Jahr 2010 10,7 Milliarden Euro. Hier sind wir an einem Punkt, bei dem wir auf das zurückkommen, was Rot-Grün von Anfang an wollte: Wir müssen in Bildung und Forschung, also in die Zukunft, investieren. Das wird uns durch diese Einsparungen möglich. Dadurch, dass wir im Haushalt ein bisschen Luft bekommen, können wir das tun, was im Rahmen des Lissabon-Prozesses gefordert wird, nämlich mindestens 500 Millionen Euro jährlich in Bildung und Forschung zu investieren. ({3}) Ich denke, auch das ist sehr wichtig. Noch eine Bemerkung zu dem, was noch alles bis zum Auslaufen der Eigenheimförderung angeboten wird. Vielleicht haben Sie genauso wie ich einen Prospekt bekommen - ich habe ihn hier vorliegen -, in dem ernsthaft empfohlen wird, jetzt noch schnell ein Objekt für 448 000 Euro zu kaufen, bevor die Eigenheimzulage wegfällt. Ich denke, hier wird der ganze Widersinn in der Diskussion deutlich. Wir reden von Leuten mit geringem Einkommen, Alleinstehende bis 70 000 Euro und Verheiratete bis 140 000 Euro auf der Berechnungsgrundlage von zwei Jahren. Wie sollen sich diese Leute ein Objekt für 448 000 Euro mithilfe der Eigenheimzulage leisten können? Ich denke, an dieser Stelle wird die Diskussion widersinnig. Es werden Menschen bewusst in irgendwelche Anlageobjekte getrieben, die sie sich nicht leisten können. Das wollen wir nicht. Wir wollen eine klare Regelung und denjenigen Leuten helfen, die Hilfe nötig haben. Aber wir wollen solche widersinnigen Anlageobjekte nicht fördern. Ein Wort noch zur FDP, zur größten Oppositionspartei. Man kann heutzutage angesichts unserer jetzigen Situation nicht jede Belastung mit einer gleichwertigen Entlastung koppeln. ({4}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir auf diese Weise unseren Haushalt nicht sanieren können. Deshalb können Sie nicht eine gleichwertige Steuerentlastung fordern. Das ist einfach nicht machbar. Die Zeiten haben sich geändert. ({5}) Ich persönlich habe mich natürlich gefreut, dass die CDU/CSU jetzt mit uns Schritte in die gleiche Richtung geht. Ich denke, das ist ein guter Weg. Ich bin optimistisch, dass wir in dieser großen Koalition noch viele große und kleine Schritte zusammen gehen werden. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Tatsache: Nach Monaten des politischen Stillstands packt die große Koalition jetzt die Sanierung unseres Landes entschlossen an. ({0}) Nur eine Woche nach der Konstituierung des Finanzausschusses wird mit Steuerrechtsänderungen und Subventionsabbau wirklich ernst gemacht. Die Verantwortung der CDU/CSU für unser Land dabei heißt: Herausforderungen annehmen - Aufgaben kraftvoll angehen. Das ist die Situation. ({1}) Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, grundlegende Konsolidierungen und Änderungen bei den Steuersubventionen weiter aufzuschieben. Jede Art der Realitätsverweigerung würde einen neuen Aufschwung in unserem Land verhindern. ({2}) Dieser Aufschwung ist für unser Land notwendig und ganz sicher möglich, wenn wir hier die richtigen Schritte gehen. ({3}) Meine sehr geehrten Kollegen von der FDP, ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die Kritik, die Sie an unsere Adresse richten, zurückweisen muss. ({4}) Es ist doch kein Konzept, sich der Verantwortung einfach zu entziehen und sich in die Büsche zu schlagen. ({5}) Die Union ist nicht auf den rot-grünen wirtschafts- und haushaltspolitischen Kurs der Vergangenheit eingeschwenkt. Ich sage Ihnen, meine Herren von der FDP: Sie suchen immer noch die Milchkuh, die im Himmel gefüttert wird und auf Erden gemolken werden kann. Wir geben zu, dass auch wir diese Milchkuh sieben Jahre zusammen mit Ihnen gesucht haben. Aber sie gibt es nicht; das ist die Situation. ({6}) Wir haben kein Erkenntnisproblem, Frau Scheel. Wir sind vielmehr aufgrund der Verantwortung der CDU/ CSU dabei, zu lernen, Kröten zu schlucken, wenn dies notwendig ist. Rot-Grün hat es nicht geschafft. Wir übernehmen die Verantwortung. Das ist für die Menschen in unserem Land auch notwendig. Die Lage unserer Staatsfinanzen ist nun einmal desolat und die finanzpolitische Bilanz katastrophal. Die laufenden Ausgaben des Bundes liegen deutlich über den laufenden Einnahmen, sodass ein strukturelles Defizit von mehr als 60 Milliarden Euro besteht. Mit einem Einsparvolumen von mehr als 25 Milliarden Euro müssen wir jetzt maßgeblich dazu beitragen, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu begrenzen. Dazu gibt es keine Alternative. Nur der Dreiklang aus Sanieren, Reformieren und Investieren eröffnet Chancen, unser Land nach Jahren der Stagnation jetzt wieder nach vorne zu bringen. Dafür steht die CDU/CSU-Fraktion. ({7}) Nicht alles, was wünschenswert wäre, wird in Zukunft finanzierbar sein; das sollten wir den Menschen immer wieder sagen. ({8}) Besonders bedenkenswert ist für mich als Mittelständler natürlich die Zustimmung zur Abschaffung der Eigenheimzulage. Tatsache ist aber: Durch das Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage kann die öffentliche Hand bis zum Jahr 2010 mit Einsparungen in Höhe von sage und schreibe 10,7 Milliarden Euro rechnen. ({9}) Tatsache ist aber auch - das ist richtig -: Die Eigenheimzulage war immer eine Subvention, ({10}) die aus unserer Sicht zur Belebung der Bauwirtschaft beitragen sollte. Man muss aber auch deutlich sehen, dass in den letzten Jahren 800 000 Beschäftigte im Baugewerbe trotz der Subvention „Eigenheimzulage“ ihren Arbeitsplatz verloren haben. Das heißt für mich nichts anderes als Folgendes: Keine noch so gut gemeinte schuldenfinanzierte Subvention kann auf Dauer eine wachstumsfreundliche und Vertrauen schaffende Gesamtkonzeption der Haushaltskon-solidierung ersetzen. Vorangehen muss immer die Haushaltskonsolidierung, weil dann Vertrauen geschaffen wird. Damit kann man dann zukünftig Wachstumserfolge und Beschäftigungserfolge erzielen. ({11}) Wenn unsere Koalition ihren Kurs aus Konsolidierung der Haushalte, Stärkung der Investitionen und Reform des Arbeitsmarktes mit Mut und Augenmaß fortsetzt, wird sich das Vertrauen der Verbraucher und Investoren wieder festigen. Es mehren sich ja die Zeichen für ein Licht am Ende des Tunnels. ({12}) Wir haben in der Wirtschaft einen Stimmungswechsel. Es ist erstmals wieder Hoffnung auf Verbesserungen vorhanden. ({13}) Wir werden auch dem Bauhandwerk eine bessere Zukunft geben, damit es wieder nach vorne kommt. Die Förderung von Gebäudesanierungen, die Unternehmensteuerreform oder auch die Fähigkeit des Abzugs von Handwerkerrechnungen werden wir in den nächsten Wochen und Monaten auf den Gesetzesweg bringen. Das wird uns letzten Endes voranbringen. ({14}) Ein Aufbruch für Deutschland benötigt eine Reformpolitik, eine Sanierungspolitik, weniger Staat, mehr Freiheit, mehr Leistungsbereitschaft, weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung. Deutschland braucht die Kraftanstrengung aller. Wir als CDU/CSU sind bereit, uns diesen Fragen offensiv zu widmen und auch unpopuläre Maßnahmen zu verantworten. Ich darf Sie herzlich dazu einladen, mit diesem Anfang heute für eine bessere Zukunft der Menschen in unserem Land zu sorgen. Herzlichen Dank. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Abgeordnete Gabriele Frechen, SPD-Fraktion.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein moderner Staat benötigt zur Finanzierung seiner vielfältigen Aufgaben Einnahmen, die im Wesentlichen durch Steuereinnahmen erzielt werden. Eine wichtige Grundlage unseres Steuersystems ist die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Ich halte es für nachvollziehbar, dass Steuerpflichtige jede legale Möglichkeit nutzen, um ihren Beitrag an der Finanzierung des Staates zu mindern. Mitunter tun sich durch Auslegungen der Gesetze, durch Lücken oder gar Steuerschlupflöcher so verlockende Möglichkeiten auf, die man einfach nicht ungenutzt verstreichen lassen kann. Wie gesagt, ich kann das nachvollziehen. Aber kann und will ich es hinnehmen, dass solche Gestaltungsspielräume gesucht, gefunden und zum Vorteil weniger angewendet werden? Ich sage: Nein! Der Abbau solcher Gestaltungsmöglichkeiten war in der vergangenen Legislaturperiode ein Thema für uns, das wir - unter anderem den obwaltenden Mehrheitsverhältnissen geschuldet - nicht immer so angehen konnten, wie wir wollten. Aber daran müssen wir anknüpfen. Ich denke, mit dem Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrechnung zeigen wir, dass wir es gemeinsam sehr ernst meinen. In „Focus Online“ war dazu am 24. November zu lesen: Damit machen Union und SPD mit dem Abbau von Steuerprivilegien Ernst. Durch die bisher großzügige steuerliche Verlustverrechnung gehen dem Staat jährlich Milliarden verloren. Vermögende Abschreibungskünstler haben über diese „Steuerstundungsmodelle“ ihre Abgabenlast gesenkt. Und weiter heißt es: Das Aus hatte sich schon seit dem Frühjahr abgezeichnet. Darauf komme ich noch zurück. Die große Beliebtheit resultierte aus einer hohen Verlustzuweisung in der Anfangsphase, die bisher mit anderen Einkünften verrechnet werden konnte und so zu Steuerminderungen führte. Dies wollen wir ändern. Die Verluste werden nicht abgeschnitten, sind also nicht verloren, sondern werden künftig nur noch mit Einkünften aus derselben Quelle verrechnet. Das führt zu einer gleichmäßigen Besteuerung und dazu, dass bei Anlagen künftig die Rendite entscheidender ist als der Steuervorteil. Betroffen sind insbesondere Verluste aus Medienfonds, Schiffsbeteiligungen, New-Energy-Fonds, Leasingfonds, Wertpapierhandels- und Videogamefonds. Nicht betroffen sind - das steht ausdrücklich im Bericht Private-Equity- und Venture-Capital-Fonds. Wir haben alle uns bekannten Modelle, also neben gewerblichen Einkünften auch Einkünfte aus Selbstständigkeit und sonstige Einkünfte, eingeschlossen, um die Gleichheit bei der Besteuerung zu gewährleisten. Ich bin mir aber fast sicher, dass auch hier das altbekannte Hase-undIgel-Spiel die Kreativität der steuergestaltenden Köpfe herausfordern wird. Einigkeit über die Abschaffung dieser Modelle wurde relativ schnell erzielt. Doch wie immer steckt die Herausforderung im Detail. Hier war es das Datum des Wirksamwerdens: Rückwirkung oder Vertrauensschutz, ein Schutz der Steuerpflichtigen, der zu Recht einen sehr hohen Wert darstellt? Wir haben uns für den 10. November entschieden, also für den Tag, an dem das alte Kabinett in enger Abstimmung mit dem neuen die Vorlage unterzeichnen wollte. Leider hat der damalige Minister Trittin seine Unterschrift verweigert mit der Folge, dass die Vorlage erst vom neuen Kabinett am 24. November unterzeichnet wurde. Jetzt aber einen Vertrauensschutz für die Zwischenzeit oder gar eine Verlängerung bis zum 31. Dezember zu fordern, halte ich für ungerechtfertigt. ({0}) Bereits im März beim Jobgipfel hatten sich Union und SPD geeinigt, dass diese Modelle abgeschafft werden. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurden die Anleger darauf hingewiesen, dass das Aus für Steuerstundungsmodelle unmittelbar bevorsteht. „Zeichnen Sie jetzt, zeichnen Sie schnell“, so lautete ab März die Devise. Nach dem 10. November wurde weiter, zum Teil auch aggressiver geworben. Allerdings wurde von den Fonds ein Rücktrittsrecht eingeräumt für den Fall, dass die Gesetzesänderung vor dem 1. Januar 2006 in Kraft tritt. Unter der Überschrift „Steuersparfonds werden weiter verkauft“ schrieb das „Handelsblatt“ am 16. November: Anleger sollten keine Beteiligung ohne Rücktrittsrecht und zugesicherte Rückzahlung der Einlage inklusive Agio eingehen. Damit ist wohl eindeutig, dass die interessierte Öffentlichkeit sehr wohl das Risiko kannte und nach dem Motto „no risk, no fun“ handelte. Das Risiko des entgangenen Steuervorteils nun auf die Allgemeinheit der Steuerzahler abzuwälzen, halte ich geradezu für widersinnig und auch nicht für ein schützenswertes Gut. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Möglichkeit der Rückwirkung genau für diesen Fall, nämlich dann, wenn der Bürger zum Zeitpunkt, auf den sich das rückwirkende Gesetz bezieht, mit der Neuregelung rechnen musste. Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember hätte geradezu eine Schlussverkaufsstimmung ausgelöst. Genau den Modellen, die wir abschaffen wollen, hätten wir somit zu einem Riesenhype verholfen. Das kann doch wohl in diesem Hause nicht gewünscht sein. ({2}) Die Verhinderung von Steuerumgehungsmöglichkeiten ist ein wichtiger Beitrag zur Steuergerechtigkeit, die eng mit der Akzeptanz der Steuergesetze in der Bevölkerung verknüpft ist. Diese Akzeptanz und das Vertrauen der breiten Masse der Steuerpflichtigen brauchen wir dringend. Der vorliegende Gesetzentwurf ist einer von vielen Schritten in diese Richtung. Ich danke Ihnen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Olav Gutting, CDU/ CSU-Fraktion. ({0}) Vielleicht können auch diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte erst seit kurzem beiwohnen, dem Redner zuhören.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung der Staatsfinanzen. ({0}) Nein, es ist nicht der große Wurf, den manch einer erwartet hat, ({1}) aber dieser Gesetzentwurf erhebt auch nicht den Anspruch, ein großer Wurf zu sein. Er ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir werden noch mehrere Schritte tun müssen, um zu einem einfacheren, gerechteren und auch international wettbewerbsfähigen Steuerrecht zu gelangen. ({2}) Dieses Ziel werden wir weiterhin im Auge behalten. Natürlich wäre es wünschenswert, mit den erwarteten Mehreinnahmen den Einkommensteuertarif zu senken. Derjenige, der das fordert, muss aber auch klar sagen, auf welchem anderen Wege die notwendige Haushaltskonsolidierung erfolgen soll. ({3}) Die mittlerweile desaströse Situation der öffentlichen Haushalte lässt leider keinen Raum für spürbare Steuersenkungen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Allein im Bundeshaushalt hat die strukturelle Lücke eine Größenordnung von fast 65 Milliarden Euro erreicht. In diesem Umfang sind laufende Ausgaben nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt. Wer verantwortlich handelt, kann sich schon aus Respekt vor den kommenden Generationen nicht dem Schuldenabbau verschließen. ({4}) Die Menschen wissen, dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sind. Den Menschen fehlt das Vertrauen in die Finanzpolitik, auch deshalb sind die Steuersenkungen der letzten Jahre konjunkturell verpufft. Wo kein Vertrauen ist, kann kein Wachstum entstehen; wo kein Vertrauen ist, bleiben die Wachstumskräfte gefesselt. ({5}) Das klare Bekenntnis zum Schuldenabbau ist ein Signal für mehr Vertrauen in die Finanzpolitik, ist ein Signal für mehr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Dieses Vertrauen brauchen wir, um Deutschland wieder auf Wachstumskurs zu bringen. ({6}) Einer dieser kleinen Schritte ist der Wegfall der Freibeträge bei Abfindungen wegen Auflösung von Dienstverhältnissen. Dies ist ein richtiger Schritt. Warum soll auch die Kassiererin in einem Supermarkt mit ihren Steuergeldern die Abfindung eines Mitarbeiters beispielsweise von Daimler-Chrysler subventionieren, der für sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis das doppelte Jahresgehalt bekommt? ({7}) Warum soll die Allgemeinheit die von Unternehmen gezahlten Abfindungen subventionieren, zumal mit dem Progressionsvorteil, der weiterhin bestehenden Fünftelregelung, Härtefälle abgefedert werden? Mit der jetzt noch eingefügten Verlängerung der Zeitspanne für den Zufluss der Abfindungen ist die richtige Balance zwischen Vertrauensschutz auf der einen Seite und fiskalischen Interessen auf der anderen Seite gefunden. Auch deshalb war der Änderungsantrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. ({8}) Der Wegfall dieser Freibeträge ist auch deshalb wünschenswert, weil er hilft, Abfindungen die Attraktivität zu nehmen. Tatsache ist doch, dass die Unternehmen die Abfindungszahlungen bereits in den Lohnkosten einpreisen. Die immer weiter zunehmende Anzahl von Abfindungen geht letztendlich zulasten der regulären Gehälter. Das, was der Arbeitnehmer am Ende seines Arbeitsverhältnisses als Abfindung erhält, wurde ihm doch in den Jahren zuvor vom Lohn einbehalten. ({9}) Weniger Abfindung bedeutet damit mittelfristig mehr regulären Lohn. Entscheidend sind dabei die Begleitmaßnahmen. Wir müssen die Arbeitsverwaltung weiter verbessern. Wir brauchen eine effektivere, eine schnellere Vermittlung in neue Arbeitsverhältnisse und wir brauchen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in Deutschland, für mehr Wachstum und für mehr Arbeit. ({10}) Sicherlich, bei den insgesamt fünf Einzelmaßnahmen dieses Gesetzes gibt es auch Punkte, über die man streiten kann. Es stellt sich in der Tat die Frage, ob die von den Finanzministerien der Länder prognostizierten Mehreinnahmen tatsächlich fließen. Ich will gerne zugeben, dass ich meine Zweifel daran habe, ob die durch die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für private Steuerberatungskosten anvisierten 600 Millionen Euro jährlich hereinkommen. Ich zweifle nicht daran - damit Sie mich richtig verstehen -, dass die Finanzministerien richtig gerechnet haben. Die zugrunde liegenden Annahmen halte ich aber für fehlerhaft. Man unterschätzt die Kreativität, die die Menschen entwickeln, zumal wenn sie unter einer hohen Abgabenlast leiden. Ob durch die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für private Steuerberatungskosten 600 Millionen Euro hereinkommen, werden wir wohl nie erfahren. Es lässt sich schlicht nicht nachweisen, nicht berechnen. Darauf kommt es aber auch nicht vorwiegend an. Entscheidend ist, dass die Besteuerungsgrundlage insgesamt verbreitert wird. Die große Koalition hat es sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2007 ein Konsolidierungsvolumen von 35 Milliarden Euro zu erreichen. Das Fundament dafür besteht aus drei Säulen: Neben wachstumsorientierten und perspektivischen Reformen kommen wir nicht ohne Sanierungsmaßnahmen aus. Der vorliegende Gesetzentwurf ist Teil dieser notwendigen Einsparmaßnahmen. Dieser Gesetzentwurf ist von der Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands getragen. Stimmen Sie deshalb diesem Gesetzentwurf zu! ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hiermit schließe ich die Aussprache. Wir haben jetzt eine ganze Reihe von Abstimmungen und Wahlen vor uns, bevor wir zu einer weiteren spannenden Debatte kommen. Zunächst die Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen auf Drucksache 16/107. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/254, den Entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Abstimmung mit dem entsprechenden Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaffung der Eigenheimzulage auf Drucksache 16/108. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/250, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen erheben sich bitte, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit dem vormaligen Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/274? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Dafür haben die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion gestimmt; die übrigen Mitglieder des Hauses haben dagegen gestimmt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/275? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt. Dafür haben die Abgeordneten der Fraktion Die Linke gestimmt; die übrigen Mitglieder des Hauses haben dagegen gestimmt. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 5 c: Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm, Drucksache 16/105. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/255, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/270? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung der Linken, bei Gegenstimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP und bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion und bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und der Linken sowie bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem zuvor ermittelten Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6; das sind weitere Wahlen zu Gremien. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 6 a auf: Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/187 Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer liegen die Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/187 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die Wahlvorschläge mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Namen des gesamten Hauses recht herzlich und wünsche ihnen Spaß bei der Arbeit und eine gute Zusammenarbeit. ({0}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wir kommen zu zwei Wahlen zu Gremien mit Stimmkarten und Wahlausweisen. Es handelt sich um die Wahlen folgender Gremien: Erstens, Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes; zweitens, Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. An diese zwei Wahlgänge schließen sich dann noch weitere Wahlen an, die mittels Handzeichen durchgeführt werden. Ich bitte jetzt um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zu den durchzuführenden Wahlen mit Stimmkarte und Wahlausweis. Die Stimmkarten in den Farben Orange und Grün werden bereits im Saal verteilt. Sie benötigen außerdem Ihre Wahlausweise in den Farben Orange und Grün. Bevor Sie Ihre Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren dazugehörigen Wahlausweis einem der Schriftführer oder einer der Schriftführerinnen an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis übergeben wird. Die Wahlen finden offen statt; Sie können das Kreuz auf Ihren Stimmkarten also an Ihrem Platz machen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 b: Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes - Drucksachen 16/188, 16/189, 16/190, 16/191 Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 16/188 bis 16/191 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Sie benötigen für diese Wahl die Stimmkarte in der Farbe Orange. Sollten Sie diese Stimmkarte noch nicht haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Ich mache besonders darauf aufmerksam, dass Sie auf der orangefarbenen Stimmkarte nur einen einzigen Vorschlag ankreuzen dürfen. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, Zusätze, Bildchen oder Ähnliches enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, nimmt bitte keine Eintragung vor. Bevor Sie die orangefarbene Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren orangefarbenen Wahlausweis. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die erste Wahl, die Wahl zum Richterwahlausschuss. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Gibt es ein Mitglied im Hause, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 c: Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - Drucksachen 16/201, 16/202, 16/203, 16/204 Dazu liegen Ihnen auf Drucksachen 16/201 bis 16/204 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Für diese Wahl benötigen Sie die grünen Stimmkarten, die im Saal verteilt wurden. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, sie sich aushändigen zu lassen. Ich mache darauf aufmerksam, dass Sie auf der grünen Stimmkarte wiederum nur einen Vorschlag ankreuzen können. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Bevor Sie die grüne Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren Wahlausweis. Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre Plätze eingenommen. Ich eröffne die Wahl. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen auch in diesem Falle später bekannt gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, jetzt wieder Platz zu nehmen, damit ich die Wahlergebnisse zweifelsfrei feststellen kann. Wir kommen jetzt nämlich zu Wahlen mittels Handzeichen. Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 6 d auf: Gemeinsamer Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes - Drucksache 16/205 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/205 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 e: Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes - Drucksache 16/206 Dazu liegen wiederum Vorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/206 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 f: - Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Gremiums gemäß Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes - Drucksache 16/207 - Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes - Drucksache 16/208 Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/207 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Damit ist das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neun festgelegt. Zu diesem soeben eingesetzten Gremium liegen Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen auf Drucksache 16/208 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind wiederum einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 g: Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 16/209 Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 16/209 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss gewählt. Tagesordnungspunkt 6 h: Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ({1}) gemäß Art. 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates - Drucksache 16/210 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/210 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Damit sind die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die zugleich Vertreter in der Versammlung der Westeuropäischen Union sind, gewählt. Tagesordnungspunkt 6 i: Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes - Drucksache 16/211 Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen liegen auf Drucksache 16/211 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 j: Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau - Drucksachen 16/212, 16/213 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/ CSU sowie Wahlvorschläge der Fraktionen der FDP und der Linken vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 16/212? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das war jetzt nicht ganz klar erkennbar. Ich wiederhole den Wahlgang. Es liegt der Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 16/212 zur Abstimmung vor. Wer stimmt gegen diesen Wahlvorschlag? - Niemand. Wer enthält sich? - Was ist mit den Linken? Stimmen Sie mit oder stimmen Sie nicht mit? ({2}) Ist es richtig, dass Sie sich enthalten? ({3}) - Ich weiß, dass sich die Grünen enthalten haben. ({4}) Auch die Linke enthält sich, gut. Damit ist der Wahlvorschlag bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Wer stimmt für die Wahlvorschläge der Fraktionen der FDP und der Linken auf Drucksache 16/213? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Es ist wirklich sehr schwer, das Ergebnis festzustellen, weil in allen Fraktionen unterschiedlich gestimmt wird. ({5}) Ich wiederhole diesen Wahlgang. Es stehen die Wahlvorschläge der Fraktionen der FDP und der Linken auf Drucksache 16/213 zur Abstimmung. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Jetzt sieht es schon besser aus. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind von allen Fraktionen bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wenn es nicht klappt, dann muss man es eben üben. Das ist so. ({6}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungspunkt 6 k: Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ - Drucksache 16/214 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/214 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 6 l: Mitglieder des Beirats zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesministerium der Finanzen ({7}) - Drucksache 16/215 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 16/215 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind angenommen bei Zustimmung aller Fraktionen und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 6 m: Mitglieder des Beirats für die grafische Gestaltung der Postwertzeichen beim Bundesministerium der Finanzen ({8}) - Drucksache 16/216 - Auf Drucksache 16/216 liegen dazu die Wahlvor- schläge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind mit gleichem Stimmergebnis angenommen, nämlich bei Zu- stimmung aller Fraktionen und Enthaltung von Bünd- nis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 6 n: Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetz- agentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni- kation, Post und Eisenbahnen - Drucksache 16/247 - Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bünd- nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/247 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungs- punkte 23 a bis 23 j sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständig- keitsbereich des Bundesministeriums für Ver- braucherschutz, Ernährung und Landwirt- schaft - Drucksache 16/27 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zustän- digkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern - Drucksache 16/28 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Reform hufbeschlagrechtlicher Regelungen und zur Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/29 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksache 16/33 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit - Drucksache 16/34 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Ausschuss für Tourismus f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seeaufgabengesetzes - Drucksache 16/35 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über soziale Sicherheit - Drucksache 16/37 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12}) Auswärtiger Ausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abkommens vom 31. März 1992 zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee ({13}) - Drucksache 16/38 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 14. April 2005 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen von 1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht sowie zu dem Ersten und dem Zweiten Protokoll über die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ({15}) - Drucksache 16/41 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({16}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Zweiten Änderung des Übereinkommens vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ({17}) - Drucksache 16/43 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz - Drucksache 16/47 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({18}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({19}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eigenverantwortung von Bosnien und Herzegowina stärken - Verfassungsprozess unterstützen und „Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten abschaffen - Drucksache 16/228 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({20}) Verteidigungsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({21}), Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Beendigung der Operation Althea und Einrichtung einer internationalen nicht militärischen Polizeimission in Bosnien und Herzegowina - Drucksache 16/217 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({22}) Verteidigungsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 24 b bis 24 h sowie den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung - Drucksache 16/106 ({23}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24}) - Drucksache 16/246 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/246, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Wie stimmen die Grünen in diesem Fall ab? - Sie haben zugestimmt. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Zustimmung aller Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Betrieb elektronischer Mautsysteme ({25}) - Drucksache 16/32 ({26}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({27}) - Drucksache 16/221 Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/221, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik zur Informationsgesellschaft ({28}) - Drucksache 16/40 ({29}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({30}) - Drucksache 16/248 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Rainer Wend Martin Zeil Dr. Herbert Schui Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/248, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({31}) zu der Verordnung der Bundesregierung Einundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 15/5994, 16/135 Nr. 2.1, 16/249 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Fuchs Dr. Ditmar Staffelt Martin Zeil Dr. Herbert Schui Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 15/5994 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({32}) zu der Verordnung der Bundesregierung Vierte Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung - Drucksachen 16/66, 16/135 Nr. 2.2, 16/234 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/66 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, der Linken und des Bündnisses 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/276. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der FDP-Fraktion abgelehnt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungspunkt 24 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({33}) Übersicht 1 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/244 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 h: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ - Drucksache 16/196 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ist damit eingesetzt. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e. Zusatzpunkt 4 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 16/229 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 1 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 16/230 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 2 auf Drucksache 16/230 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 16/231 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 3 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 16/232 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 4 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 16/233 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 5 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Haltung der Bundesregierung zur Berufung von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline ({39}) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der FDP-Fraktion, Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt. ({40})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich an viele Debattenbeiträge aus früheren Zeiten vor allem von Sozialdemokraten bei Wechseln von politischen Repräsentanten aus anderen Fraktionen als der SPD in das wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland oder anderer Länder. Sie haben jeweils, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus einer Wolke hoch kondensierter Moral über all das geurteilt. Altkanzler Gerhard Schröder hat sich mit besonderen Beiträgen zur Sitzgestaltung von Unternehmen an der Debatte rege beteiligt. Das Wort „vaterlandslos“ war noch eine milde Beschreibung, wenn es um Ereignisse ging, wie sie auch in dem vorliegenden Fall eine Rolle spielen. Jetzt sagen Sie, das sei alles eine persönliche bzw. private Entscheidung des Altkanzlers. Das ist aber auch schon alles, was richtig ist. Alles andere ist falsch und nicht zu vertreten. Das wird auch in Ihren eigenen Reihen nicht bestritten. ({0}) Der Altkanzler Gerhard Schröder pfeift auf die Prinzipien, die er als Bundeskanzler mit tatkräftiger Unterstützung der Sozialdemokraten vertreten hat. ({1}) Das ist nicht eine Behauptung von mir; das ist in Zeitungen nachzulesen. ({2}) Ich füge noch eine Bemerkung hinzu: „Aber es ist der Stil, wenn nicht die politische Moral, der selbst enge Weggefährten abstößt.“ Das schreibt die „Zeit“ unter der Überschrift „Egotrip“. Das ist der Punkt, den wir hier besprechen müssen. Nennen wir es zunächst einmal ganz vorsichtig ungeschickt oder bezeichnen wir es als Zusammentreffen glücklicher wie unglücklicher Umstände. Die Zeittabelle in Bezug auf die Unterzeichnung des Abkommens stellt sich wie folgt dar: erste Meldungen aus Russland, dass der Altkanzler erwäge, eine solche Position anzunehmen; Dementi des früheren Regierungssprechers Anda; im Nachhinein hin und her gewendete Debatte, ob denn die deutschen Beteiligten schon zugestimmt hätten; Aussage des neu gewählten Vorsitzenden der SPD - im Nachhinein interpretiert -, er habe Freitag mit Mittwoch verwechselt, als die Anfrage gekommen sei. Es gab noch viele weitere unterschiedliche Erklärungen. Sie erinnern mich an Transfers von Spielern in der Bundesliga, von denen kluge Manager sagen, sie seien das Muster eines falsch geführten Stars. Bei dem Altkanzler handelt es sich nicht um das Muster eines falsch geführten Stars; er ist gar nicht geführt worden. Er ist noch nicht einmal beraten worden. Kein vernünftiger Mensch hätte ihm den Rat geben können, eine solche Entscheidung zu treffen. ({3}) Jetzt will ich an die Sozialdemokraten klar sagen: ({4}) Sie wissen wie ich, wo das Betreiberkonsortium seinen Sitz nimmt. Wissen Sie das? Weiß das der Altkanzler? ({5}) Aus Angst vor der Steuerpolitik der SPD im Kanton Zug. ({6}) Was haben Sie früher über Unternehmen gesagt, die Standortentscheidungen dieser Art getroffen haben? Da versagt die deutsche Sprache, trotz ihrer durchaus kraftvollen Möglichkeiten. ({7}) Die Zeit für den Debattenbeitrag in der Aktuellen Stunde ist zu kurz, um alles vorzulesen. Die Zeitungsausschnitte stehen auch Ihnen zur Verfügung. Ich empfehle Ihnen die Lektüre. Der Sitz des Betreiberkonsortiums soll der Kanton Zug sein. Hätten Sie sich in Ihren kühnsten Träumen vorgestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass ein einstmals von Ihnen gestellter Bundeskanzler in führender Funktion in ein russisches Staatsunternehmen eintritt, dessen Entscheidungsfindungen zweifellos vom Kreml bestimmt werden und dessen Entscheidungsgremium seinen Sitz auch noch im Kanton Zug nimmt? Niemals. Es gibt dafür keine Begründung. ({8}) Wir haben ein Interesse an Transformationsprozessen in Russland, auch ein Interesse an einer freien Presse. Sie wissen so gut wie ich, dass Gasprom-Media nicht gerade ein Unternehmen ist, das zu einer freien Presselandschaft in Russland beiträgt. Sie mögen jetzt sagen: Das hat mit dem Gasgeschäft nichts zu tun. Es ist aber demselben Unternehmen zugeordnet. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ schreibt: Gasprom ist ein Monopolist mit Fernsehsender, „ein Politunternehmen im Cockpit des Kreml“. Mit dem unternehmerischen Ethos, das Sie, meine Damen und Herren von der SPD, hierzulande immer einfordern, hat das überhaupt nichts zu tun. ({9}) Die deutsch-russischen Beziehungen sind wichtig. Aber Sie dürfen deshalb nicht unter den Teppich kehren, was Ihr Altkanzler hier unternimmt. In Polen, in den baltischen Staaten, in der Ukraine hören wir dieselben kritischen Stimmen, was den Pipelinebau und sämtliche Vorläufe betrifft, und dort fühlt man sich jetzt bestätigt. Ich kenne keinen einzigen internationalen Kommentar in irgendeiner Zeitung dieser Welt, der den Sachverhalt anders beschreibt, als ich ihn hier im Debattenbeitrag für die Bundestagsfraktion der FDP vortrage. ({10}) Ich zitiere zum Abschluss zwei hochinteressante Meinungen aus Ihren eigenen Reihen. Der Kollege Reinhard Schultz findet es im Gegensatz zu den zahlreichen von mir zitierten Kommentaren eher beruhigend, dass Schröder und nicht ein Mitglied der russischen Nomenklatura den Pipelinebau steuert. An Schlichtheit ist das nicht zu überbieten. ({11}) Der Kollege Scheer hat gesagt, Schröder habe offensichtlich der Instinkt verlassen. Ich will es etwas deutlicher sagen - bezichtigen Sie mich nicht des Plagiats, weil es ein prominentes Mitglied dieses Hauses schon gesagt hat -: Es ist wirklich instinktlos, was der Altkanzler getan hat, und deshalb muss das hier besprochen werden. ({12}) Das ist nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Das ist nicht im europäischen Interesse. Das ist noch nicht einmal im Interesse der Gewerkschaften. Sie wissen doch, was er auf dem Gewerkschaftstag gesagt hat:

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gerhardt, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß jetzt, wohin ich gehöre. Auch wir wissen es jetzt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Koppelin das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, die Fraktion der FDP hat diese Aktuelle Stunde beantragt, damit die Haltung der Bundesregierung erklärt wird. Auf der Rednerliste steht kein Mitglied der Bundesregierung. Wir beantragen daher, den Vizekanzler herbeizurufen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es ist also ein Geschäftsordnungsantrag gestellt worden. Meldet sich jemand zur Widerrede zu Wort? - Bitte schön, Herr Benneter.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesregierung hat ihre Haltung klar dargetan. ({0}) Insbesondere hat der Vizekanzler deutlich gemacht, ({1}) dass es im deutschen Interesse liegt, dass der ehemalige Bundeskanzler die Oberaufsicht über eine solche Gesellschaft übernimmt. Insofern spreche ich mich gegen diesen Antrag aus und rufe dazu auf, ihn abzulehnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Wer für den Antrag ist, den Vizekanzler herbeizuzitieren, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Wir sind im Präsidium einig, dass die Mehrheit für den Antrag gestimmt hat. ({0}) Deshalb bitte ich darum, dass der Vizekanzler herbeigerufen wird. Bis dahin unterbreche ich die Sitzung. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Der Herr Vizekanzler ist eingetroffen. Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Müntefering. Bevor wir in der Aktuellen Stunde fortfahren, möchte ich Ihnen schnell die Wahlergebnisse bekannt geben. Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht: abgegebene Stimmen 566, davon gültig 563, Enthaltun- gen 4, ungültige Stimmen 3. Fraktionen der CDU/CSU und der SPD 409 Stimmen, Fraktion der FDP 54 Stim- men, Fraktion Die Linke 51 Stimmen, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen 45 Stimmen.1) Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD erhalten neun Mitglieder, die übrigen Fraktionen jeweils ein Mit- glied. Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesver- fassungsgericht sind die Mitglieder in der Reihenfolge gewählt, in der ihr Name auf dem Wahlvorschlag er- scheint. Die Namen der gewählten Mitglieder entneh- men Sie bitte den Drucksachen 16/201 bis 16/204. Sodann Wahl der Mitglieder des Richterwahlaus- schusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes: abgege- bene Stimmen 561, davon gültig 557, Enthaltungen 1, ungültige Stimmen 4. Von den gültigen Stimmen entfie- len auf die Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD 403, auf den Wahlvorschlag der Frak- tion der FDP 56, auf den der Fraktion Die Linke 50 und auf den der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen 47.2) Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD erhalten 13 Mitglieder, die Fraktionen der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen jeweils ein Mitglied. Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mitglieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge gewählt, in der die Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Die Namen der gewählten Mitglieder und Stellvertreter entnehmen Sie bitte den Drucksachen 16/188 bis 16/191. Jetzt fahren wir in der Aktuellen Stunde fort. Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe von der CDU/ CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Be- 1) Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2 2) Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3 rufung von Altbundeskanzler Gerhard Schröder zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline hat viele Fragen, viel Irritation, Verärgerung und - wohl auch unter den eigenen Anhängern - Enttäuschung ausgelöst. ({0}) Der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert, hat deutliche Worte dazu gefunden und damit sicher für viele von uns gesprochen. ({1}) Dankbar bin ich aber auch für eine Reihe kritischer Anmerkungen aus den Reihen der SPD, die deutlich machen: Die kritisch diskutierte private Entscheidung des Altbundeskanzlers ist nichts, was das Miteinander der Koalitionsfraktionen berührt. Im Hinblick auf die Haltung der Unionsfraktion möchte ich daran erinnern, dass wir bereits bei der Unterzeichnung des Vertrages über die Gaspipeline gesagt haben: Wir bejahen die darin zum Ausdruck kommende Vertiefung der deutsch-russischen Energiepartnerschaft. Zugleich kritisieren wir aber die unzureichende Informationspolitik gegenüber den baltischen Staaten, Polen und der Ukraine. - Wir müssen doch wissen, welche Ängste in diesen Staaten eine Politik auslöst, die den Eindruck erweckt, über ihre Köpfe hinweg zu geschehen. Deshalb sind wir dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundesaußenminister Steinmeier deutlich gemacht haben, dass wir gerade in der Zusammenarbeit mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn eine besondere Bedeutung sehen. Das ändert nichts am Ziel einer weiteren Vertiefung der deutsch-russischen Partnerschaft, stellt aber eine wichtige und, wie ich meine, notwendige Ergänzung dieser Politik dar. Den außenpolitischen Kommunikationsmängeln im Vorfeld der Vertragsunterzeichnung folgt nun ein persönliches Verhalten, das weitere Fragen auslöst: Wann wurde diese geschäftliche Zusammenarbeit ins Auge gefasst? Können ein ehemaliger Stasi-Offizier und ein weitgehend von einem ausländischen Staat kontrolliertes Unternehmen überhaupt, also auch jenseits der jetzt diskutierten Karenzzeiten, angemessene Partner für einen ehemaligen deutschen Regierungschef sein? ({2}) Brauchen wir einen Ehrenkodex für ehemalige Regierungsmitglieder? Die erste Frage kann nur der Betroffene beantworten; gute Freunde werden ihm dies sicherlich raten. ({3}) Die zweite Frage beantworte ich mit einem klaren Nein. Intensiver sollten wir uns mit der dritten Frage beschäftigen. Wir jedenfalls werden uns einer ernsthaften Debatte über einen Ehrenkodex nicht verweigern. ({4}) Erste Vorschläge, beispielsweise in Anlehnung an die Regelungen für ehemalige Mitglieder der EU-Kommission, wurden bereits gemacht. Entrüstung ist für die vor uns liegende Debatte allerdings ein schlechter Ratgeber, auch die „nachgeholte Entrüstung“ der Partei des ehemaligen Bundesaußenministers über eine nun plötzlich zu enge Freundschaft Schröders mit Putin, an der man noch vor wenigen Wochen überhaupt nichts Kritikwürdiges fand. Ich verhehle hier aber nicht, dass ich Zweifel an einem schriftlich fixierten Ehrenkodex habe. Anstand erreicht man nicht mit einem komplizierten Regelwerk, ({5}) das zudem sehr differenziert und folglich sehr kompliziert sein müsste. Wir wollen ja einen engeren Austausch zwischen Wirtschaft und Politik, was auch Berufswechsel zwischen diesen Bereichen einschließen muss, ({6}) Berufswechsel übrigens, die in anderen Ländern üblicher sind, was man hierzulande nicht selten beklagt. Zudem gilt Art. 12 des Grundgesetzes, die Freiheit der Berufswahl, natürlich auch für ehemalige Spitzenpolitiker. Auch mag ein schriftlich fixierter Ehrenkodex geradezu in die Versuchung führen, seine Grenzen austesten zu wollen. Aber macht es nicht gerade Anstand aus, auch nach den Buchstaben des Gesetzes Erlaubtes zu unterlassen, weil es sich eben nicht gehört? ({7}) Auch darüber sollten wir im Rahmen der Debatte über einen Ehrenkodex nachdenken. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Bodo Ramelow von der Linken. ({0})

Bodo Ramelow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003824, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Präsident! Ich kann Herrn Gerhardt in der inhaltlichen Analyse über den hier in Rede stehenden Vorgang nur zustimmen, möchte aber erwähnen, dass die FDP als Antragstellerin dieser Aktuellen Stunde allen Grund hat, sich an die eigene Nase zu fassen. ({0}) Den Ehrenkodex im europäischen Rahmen haben wir schließlich Herrn Bangemann zu verdanken, der sich ja sehr bei Telefonica engagiert hat. Das wirft ein anderes Problem auf, über das wir, wie ich denke, viel gründlicher miteinander reden sollten: Reicht ein Ehrenkodex für die Vorgänge, über die wir hier reden, aus oder sind nicht eher transparente Regeln für Politik und Wirtschaft notwendig? ({1}) Ich möchte das an einem aktuellen Beispiel verdeutlichen. Der Gammelfleischskandal in Deutschland zeigt, wie notwendig es ist, eine gläserne Produktion und regelmäßige Kontrollen in der gesamten Kette vom Schlachthaus bis zum Supermarkt zu haben. Eine ähnliche klare und transparente Kette bräuchten wir auch für die deutsche Politik. Das zeigt der aktuelle Vorgang. ({2}) - Sie können die Schlussfolgerungen ziehen, die Sie wollen. Ich würde mir nicht erlauben, die FDP mit Gammelfleisch zu vergleichen. Ich rede von der Kette zwischen Politik und Gesetzgebung. In dieser Kette ist einiges nicht in Ordnung. Das geht mit den Verhaltensregeln für unsere Abgeordneten los. Ich möchte Sie von der FDP ermuntern, Ihren Widerstand aufzugeben. Ich denke, wir brauchen transparente Regeln, die dazu verpflichten, dass alle Nebentätigkeiten von uns Abgeordneten offen gelegt werden. ({3}) - Wissen Sie, Ihre Nähe zur Stasi, die Sie gerade mit Ihrem Herrn Schröder offenbaren, sollten Sie bei sich selber ausmachen. Ich finde es absonderlich, wie Sie jetzt auf andere zeigen. Aber, meine Damen und Herren, es gibt etwas viel Wichtigeres als Ihre dämlichen Zwischenrufe; ({4}) das ist die Ministererlaubnis, mit deren Hilfe sich die Politik über Entscheidungen von Gerichten oder Kontrollkommissionen hinwegsetzen kann. Bei Herrn Müller wusste man nie: Ist er der Vertreter der Wirtschaft in der Regierung oder gehört er zum Parlament und wird durch dieses kontrolliert? Wir fordern deswegen die Abschaffung der Ministererlaubnis ({5}) und sagen ganz klar: Auch bei der anstehenden Entscheidung zu Pro Sieben Sat. 1 und Springer darf es keine Ministererlaubnis geben. Wir werden eine gesetzliche Regelung einbringen und Sie dann bitten, sich klar zu entscheiden, ob Ministererlaubnisse zulässig bleiben sollen oder nicht. Wir werden die FDP klar fragen, ob die Regelungen über die Einkünfte von Abgeordneten sauber dargelegt werden. In diesem Sinne würde ich mir mehr Transparenz von den deutschen Politikern wünschen. ({6}) - Sie können meine Spendenabrechnungen im Internet nachlesen. Ich würde mich freuen, auch Ihre lesen zu können. Es wäre schön, wenn sie transparent wären, aber Ihnen ist es ja schon zu viel, sie dem Präsidenten zu melden. ({7}) Mehr Transparenz in der deutschen Politik bedeutet klare Abgrenzung. Es muss deutlich gemacht werden, dass diejenigen, die zehn Tage vor der Wahl einen Vertrag unterschreiben, nicht einen Monat nach der Wahl für das gleiche Unternehmen - zudem „outgesourct“ in einem Steuersparland - die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden übernehmen können. Ich finde, Herr Westerwelle, das riecht stark nach Gammelfleisch. In diesem Sinne sind wir für Transparenz in der deutschen Politik. Wir fordern Herrn Schröder auf, das Mandat nicht anzunehmen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Obwohl das sicher ein umstrittener Beitrag war, gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich den Versuch unternehmen, die Debatte wieder zur Sachlichkeit zurückzuführen. ({0}) Ich sehe keine Irritation und auch keine Verärgerung darüber, wie sich der Bundeskanzler a. D. verhalten hat. Wir haben in der jetzigen Situation erstmals die Chance, eine direkte Anbindung an die russischen Gasvorräte in Westsibirien zu bekommen. In der nächsten Zeit wird das Volumen des Erdgasimports mit Sicherheit sehr stark steigen. Das müsste jeder wissen, der sich ernsthaft damit auseinander setzt - gerade auch die Partei der Aufsichtsräte, die sich jetzt so empört. ({1}) Das zusätzlich produzierte Gas muss nach Europa transportiert werden. Bisher existieren dafür zwei Pipelines, eine Südroute und eine Route, die durch Polen und Weißrussland führt. Jeder weiß um die technischen und politischen Schwierigkeiten, die mit der Produktion und dem Gastransport nach Deutschland zusammenhängen. ({2}) Die Ostseepipeline bietet uns die Chance, unabhängig von den zwischengeschalteten Staaten direkt an die Energieversorgung angeschlossen zu werden. ({3}) Auch die Grünen müssten wissen, dass in der nächsten Zukunft Windkrafträder allein nicht ausreichen werden. Wir brauchen diesen Öltransport. ({4}) - Entschuldigung. Wir brauchen diesen Gastransport nach Europa. ({5}) Die Pipeline wird in Greifswald anlanden. In Greifswald wird die Verteilung Richtung Nordwesteuropa erfolgen. ({6}) Das wird die wirtschaftlichen Möglichkeiten in einem Landstrich verbessern, der darauf angewiesen ist, mithilfe neuer Technologien nach vorne zu kommen. ({7}) Diese dritte, unabhängige Verbindung verläuft 100 Kilometer entfernt von der polnischen Grenze. Insofern kann sie auch zu einer sicheren Gasversorgung Polens beitragen. Der ehemalige Bundeskanzler wurde von russischer Seite angesprochen, ob er den Aufsichtsratsvorsitz für dieses europapolitisch, geostrategisch, energie- und wirtschaftspolitisch wichtige ({8}) Projekt übernehmen will. In dieser Situation hat sich Gerhard Schröder, dem die Stärkung der deutsch-russischen Beziehungen durch ein gemeinsames, technologisch nach vorne gerichtetes Projekt immer ein Anliegen war, bereit erklärt, die Oberaufsicht über diese Gesellschaft zu übernehmen. ({9}) Über Geld ist überhaupt noch nicht gesprochen worden. ({10}) - Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Sie von der FDP sind ja Kenner der Materie, wenn es um Aufsichtsratstantiemen geht. - Gerhard Schröder hat im ureigenen Interesse Deutschlands die Oberaufsicht für ein Projekt übernommen, das im energiepolitischen und im energiewirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegt. Das muss jedem klar sein. ({11}) Gerade angesichts unserer geostrategischen Situation - allerorten hört man „Weg vom Öl!“ - und der Entwicklung der Ölpreise, die ein Erpressungs- und Nötigungspotenzial der Ölstaaten uns gegenüber nahe legt, müssen wir Wert darauf legen, dass das produzierte Gas möglichst direkt nach Deutschland und Mitteleuropa kommt. ({12}) Genau diesem Projekt widmet sich Gerhard Schröder. In diesem Sinne übernimmt er die Oberaufsicht. Es liegt im ureigenen Interesse Deutschlands, wenn Gerhard Schröder sich so betätigt. ({13}) Herr Kollege Gröhe, Gerhard Schröder bewegt sich in der Linie seiner Kanzlerschaft, in der Linie dessen, was er durchsetzen wollte. ({14}) Ich sehe keinen Anlass, deshalb einen Ehrenkodex einzufordern. Außerdem hieße das ja nur: Wenn jemand eine Tätigkeit übernehmen will, hat er sie vorher anzumelden, damit dann andere darüber entscheiden können, ob er diese Position übernehmen darf oder nicht. Ich bin sicher, dass die Bundesregierung der Meinung ist - das hat der Wirtschaftsminister von der CSU klar zum Ausdruck gebracht -, dass es im Interesse Deutschlands ist, wenn Gerhard Schröder den Aufsichtsratsvorsitz übernimmt. Ich denke, auch die CDU/CSU-Fraktion sollte das so sehen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Benneter hat davon gesprochen, dass wir alle davon ausgehen müssen, dass sich Altbundeskanzler Gerhard Schröder geopfert hat. Ich stelle jedoch fest: Das Einzige, was der Altbundeskanzler geopfert hat, ist sein Ruf. ({0}) Seinen Ruf so leichtfertig zu opfern ist eine politische Eselei. Ich denke, wir müssen uns mit zwei Fragen beschäftigen. Die erste Frage lautet: Von wem hängen wir, was unsere Energieversorgung angeht, ab? Wir hängen beispielsweise von Russland ab, was unsere Versorgung mit Erdgas betrifft, und wir hängen unter anderem von einigen arabischen Staaten ab, wenn es um unsere Versorgung mit Erdöl geht. Wir können also nicht immer nur froh und glücklich darüber sein, welche Regierungen und Konzerne dort das Sagen haben und wie die jeweiligen Machtstrukturen sind. Das ist der erste wichtige Punkt. Der zweite wichtige Punkt ist die Debatte darüber, ob Politikerinnen und Politiker gleichzeitig zu ihrer Tätigkeit im Parlament, im Anschluss daran oder vorher in der Wirtschaft tätig sein dürfen. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich nenne zum einen Friedrich Merz und zum anderen Klaas Hübner von der SPD-Fraktion. Beide sind aus einer unternehmerischen Tätigkeit heraus vor den Wähler getreten und haben sich wählen lassen. Es ist absolut legitim, dass Politiker gleichzeitig zu ihrer Tätigkeit im Parlament auch in der Wirtschaft tätig sind. Das Problem dieser Debatte bestand darin - hier haben, wie ich finde, auch die Kollegen von der FDP überzogen -, dass man die Tätigkeit von Politikerinnen und Politikern in der Wirtschaft generell in Misskredit gebracht hat. Das Kernproblem von Gerhard Schröder ist, dass sein Verhalten eine öffentliche Reaktion hervorgerufen hat, die dazu geführt hat, dass die empörte Öffentlichkeit sofort die generelle Trennung von Politik und Wirtschaft forderte. Ich aber meine, dass Leute mit unternehmerischem Hintergrund hier im Parlament durchaus ihren Platz haben und dass sie zum Beispiel durch das Verhalten des Altbundeskanzlers Gerhard Schröder in ihrer Arbeit diskreditiert werden. ({1}) Der Name Bangemann ist ja schon gefallen und die Bemerkung von Herrn Söder, der gesagt hat, man dürfe Herrn Schröder jetzt nicht mehr Altbundeskanzler nennen, fand ich nicht in Ordnung. Das hat mich an dieser Debatte etwas gestört. Denn ich denke, dass sich die Empörung sehr in Grenzen halten sollte. Aufseiten der Union sollte man beispielsweise einmal an Helmut Kohl und seine Tätigkeit für Kirch denken. Darüber haben Sie von der SPD sich damals zu Recht empört. Deswegen ärgere ich mich, dass Sie jetzt vergleichsweise rückhaltlos hinter dem Bundeskanzler stehen. ({2}) Ich glaube, dass es jenseits eines Ehrenkodexes, über den auch wir innerhalb der Grünen-Fraktion reden sollten, ein ganz klares Kriterium für Anstand gibt. Ich finde es unanständig, wenn der Altkanzler der Bundesrepublik Deutschland den Aufsichtsratsvorsitz einer Tochter der Gasprom übernimmt. ({3}) Lassen Sie mich das begründen. Ich finde das erstens unanständig - darauf hat Herr Gerhardt bereits hingewiesen -, weil die Gasprom in Russland aufgrund ihrer unternehmerischen Verzweigtheit nicht gerade für bürgerliche Freiheitsrechte steht, sondern im Gegenteil - siehe den Fall Chodorkowski - auch davon profitiert, dass Leute inhaftiert werden und der russische Staat seinen starken Arm zeigt. Es gibt sehr viele nicht namentlich zu nennende Personen aus dem Medienbereich, die unter der Gasprom zu leiden haben. ({4}) Ich finde es nicht anständig, eine Führungsposition bei der Gasprom zu übernehmen, deren Vorstandsvorsitzender ein Ex-Stasimajor ist, der zuvor zufälligerweise Wirtschaftsspionage im Bankenbereich betrieben hat und bei der Dresdner Bank tätig war; so viel zum Namen Warnig. Unanständig finde ich das auch deshalb, weil die Gasprom ein Bild von Europa hat, an dem ich Sie noch einen Moment lang teilhaben lassen möchte. Die Gasprom hat vorgestern ein Pressegespräch gemacht und dort der Öffentlichkeit den Hintergrund des Baus der Gaspipeline vorgestellt. Unter der Überschrift „Die norddeutsche Gaspipeline - Versorgungssicherheit für Europa“ wurden eine Reihe von Gründen für den Bau der Pipeline genannt. Man kann dafür oder dagegen sein, dass durch die Ostsee hindurch eine solche Pipeline gebaut wird; das ist eine wirtschaftspolitische Entscheidung. Aber dann wurde folgende Begründung genannt: Ein Grund für den Bau dieser Pipeline sei die Vermeidung unkalkulierbarer Risiken bei der Durchleitung des Gases durch das Territorium von Drittstaaten. Ich möchte hier für den ganzen Deutschen Bundestag feststellen, dass die baltischen Staaten und Polen Teile der Europäischen Union sind ({5}) und dass ich deshalb nicht glaube, dass es unkalkulierbare Risiken gibt. ({6}) Diese Länder sind unsere Partner in der Europäischen Union. Deswegen ist es unanständig, ein solches Unternehmen mit seinem guten Namen zu schmücken. ({7}) Herr Präsident, lassen Sie mich schließen mit einer spontanen Äußerung von Peter Struck - für mich jemand, der in seiner Tätigkeit als Politiker wirklich eine Vorbildfunktion hat -, der am Sonntag im ZDF etwas gesagt hat, womit er mir aus der Seele gesprochen hat. Er hat den schlichten Satz gesagt: Ich hätte das nicht gemacht. - Ich finde, man kann ergänzen: Herr Altbundeskanzler Schröder, verzichten Sie auf diesen zweifelhaften Job! Sie haben das nicht nötig und dieses Land hat das nicht nötig. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Franz Müntefering. ({0})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Aktuellen Stunde war kein Minister auf der Regierungsbank. Das ist dem Parlament gegenüber nicht angemessen und ich bedaure das; das haben wir von der Bundesregierung miteinander zu besprechen. Ich will versuchen, dafür zu sorgen, dass wir da in Zukunft besser sortiert sind. ({0}) Ich will zunächst sagen, dass diese Ostseepipeline ein Projekt von großer Sinnhaftigkeit ist; das ist von einigen Kollegen schon angesprochen worden. Es geht um die Energiesicherheit Deutschlands. Das Unternehmen, das diese Ostseepipeline errichtet, ist ein internationales: Es gehört zu 51 Prozent Gasprom und zu 49 Prozent deutschen Beteiligungen. Das Projekt an sich ist nicht neu: Wir kennen es seit einiger Zeit und haben es gestützt und gefördert. Es ist auch nicht wegzureden mit dem Hinweis, dass es bereits eine Gaspipeline gibt, die durch Polen führt. Die Pipeline, die jetzt gebaut wird, soll nicht nur Deutschland versorgen, sondern weitergeführt werden in die Niederlande, nach Großbritannien und in andere europäische Länder. Diese Bundesregierung hat, wie die Bundesregierung davor, zum Ausdruck gebracht: Sie ist für dieses Projekt. ({1}) Es bedeutet eine Diversifizierung, die angesichts der Probleme, die die Energieversorgung in dieser Welt bereitet, vernünftig ist. Deshalb kann doch kein Mensch in diesem Haus ernstlich infrage stellen, dass es sinnvoll ist, diese Pipeline zu bauen und noch mehr Sicherheit in unsere Energieversorgung zu bringen, indem wir sie diversifizieren. ({2}) - Der Weg weg vom Öl ist ein Thema, das uns alle miteinander verbinden muss. ({3}) Nun hat die FDP eine Frage an die Bundesregierung gestellt. Genauer muss ich sagen: die Spaß-FDP; ich erkenne Sie alle wieder heute. Mit einem Augenzwinkern sind Sie unterwegs, haben geglaubt, sie könnten sich einen Jux daraus machen. Aber die Haltung der Bundesregierung zu dem Projekt dieser Ostseepipeline ist rundum positiv und zustimmend; das will ich hier noch einmal feststellen. ({4}) Das hat auch damit zu tun, dass der Bundeswirtschaftsminister dabei war, als die erste Schweißnaht - das ist so eine Art Grundsteinlegung - gefeiert wurde. Die Kanzlerin hat mit unserem Nachbarn Polen darüber gesprochen, dass die Interessengegensätze, die ja vermutet werden, ausgeglichen werden können. Kurzum: Diese Pipeline kann für ganz Europa von großem Nutzen sein. Nun hat die FDP ja nicht nach der Haltung der Bundesregierung zu diesem Projekt gefragt, sondern dazu, dass Gerhard Schröder, der ehemalige Bundeskanzler, an die Spitze dieses Unternehmens geht. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil sich die Bundesregierung dazu keine Meinung gebildet hat. ({5}) - Nun seien Sie vorsichtig, ehe Sie dazwischenjohlen! Das wäre eine interessante Frage. Aber stellen Sie sich vor, ich würde Ihnen heute hier erzählen, wir hätten im Kabinett darüber gesprochen, ob man so etwas darf oder nicht! Da müsste diese große FDP ja wohl aufspringen und sich empören, was die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich anmaßte, sich einzumischen, wer bei internationalen Unternehmen wie dem dort entstehenden an der Spitze stehen soll! ({6}) Was stellen Sie also für Fragen?! Kleinkariert, schon im Ansatz. ({7}) Sie haben gedacht: Da können wir die mal erwischen, jetzt pieken wir die mal eben an. ({8}) Aber das, was Sie da machen, bleibt unter Ihrem Niveau; Herr Gerhardt, das will ich Ihnen sagen. Das gilt in Maßen auch für Sie von den Grünen. Die Geschwindigkeit, mit der sich manche hier im Raume drehen und glauben, sie könnten hier so herumspuken, finde ich interessant. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Projekt haben wir gefördert und gefordert. Wir haben es in einer Zeit unterstützt, als noch niemand wusste, dass am 18. September Bundestagswahl sein würde. ({10}) Wir haben es unterstützt, ohne zu wissen, wie die Bundestagswahl ausgehen würde. Wir, auch Gerhard Schröder, haben es unterstützt, ohne zu wissen, dass er jetzt nicht mehr Bundeskanzler sein würde. ({11}) Er hat auf den Marktplätzen gestanden und hat gekämpft. Oder wollen Sie sagen, das habe er nur gemacht, um hinterher in diese Funktion wechseln zu können? Es ist absoluter Irrsinn, was Sie da erzählen. ({12}) - Hören Sie auf zu schreien. Sie haben sich ein Ei ins Nest gelegt. Das wird Ihnen noch wehtun. ({13}) Sie fordern die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland auf, sich dazu zu äußern, wenn irgendjemand in bestimmten internationalen Unternehmen an die Spitze der Unternehmen rückt. Dabei geht es zunächst einmal nicht um die Person Gerhard Schröder. Das kann man nicht auf eine Person beziehen. Dann müssten wir auch über andere Personen sprechen. ({14}) Lieber Herr Gerhardt, Bundeskanzler, Regierungsmitglieder und ehemalige wichtige Politiker haben alle möglichen Funktionen übernommen. Sie beraten Verlage, schreiben Bücher und sind im Auftrag der Bundesregierung in Missionen überall auf der Welt unterwegs. Das ist alles richtig. - Sie von den Grünen schütteln den Kopf. Ich bewege mich gerade auf die entscheidende Frage zu - ich umkreise sie nahezu -: ({15}) Sind Sie in der Sache dagegen, dass er das macht, ({16}) oder sind Sie dagegen, weil er Geld dafür bekommt? ({17}) Genau das ist Ihr Problem. Dass Gerhard Schröder mit seiner Kenntnis und seiner Erfahrung der letzten Jahre an dieser Stelle ein guter Mann ist und dass er diese Aufgabe übernehmen kann, werden Sie nicht bestreiten können, wie auch sonst niemand hier im Raum. Das ist die schlichte Wahrheit. ({18}) Es gibt Leute, die Putin schon immer nicht mochten und die deutsch-russische Freundschaft auch nicht. ({19}) - Das habe ich doch gelesen. Sie toben sich jetzt auch aus. Ich sage Ihnen: Es gibt zu diesem Fall keine Haltung der Bundesregierung, weil sie sich dazu keine Meinung gebildet hat. Als Mitglied dieser Bundesregierung sage ich Ihnen aber meine persönliche Meinung als Franz Müntefering: Gerhard Schröder konnte dieses Angebot, das ihm gemacht worden ist, annehmen. Ich bin froh, dass er das getan hat, weil er an dieser Stelle für unser Land und für Europa auch in Zukunft gute strategische Arbeit leisten kann. Dieses Projekt ist ein strategisches Projekt für ganz Europa. Man kann unterschiedlicher Meinung dazu sein, ich persönlich bin mir aber sicher, dass er das mit aller Integrität ausführen wird. Dass sie ihn gefragt haben und nicht einen Herrn Gerhardt, einen Herrn Westerwelle oder einen Herrn Brüderle, ist ein Zeichen dafür, wem sie so etwas zutrauen und wem nicht. Vielen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde zeigt: Die Opposition ist in diesem Parlament nicht machtlos. ({0}) Sie hat es geschafft, dass sich gnädigerweise wenigstens ein Minister ins Parlament begeben hat. Die mangelnde Präsenz der SPD-Fraktion zeigt die innere Distanz der Sozialdemokraten zu ihrem früheren Kanzler. ({1}) Herr Kollege Benneter, Sie sprachen immer von Öl. Ich darf Ihnen verraten: Es geht hier um Gas und um Kohle, aber nicht um Öl. Das sage ich Ihnen, damit Sie die Fakten kennen. ({2}) Herr Müntefering, ich möchte aufgreifen, was Sie gesagt haben, nämlich dass sich die Bundesregierung dazu nicht äußern soll und nicht äußern kann. Der Fall Bangemann, der mir nicht gefallen hat, ist nicht vergleichbar mit dem Fall Schröder. ({3}) - Nein, nein. Der Unterschied ist, dass dort jemand europaweit für generelle Regeln zuständig war. Daran haben Sie sich täglich abgearbeitet. Hier hat ein ehemaliger Kanzler ein konkretes Projekt eines Unternehmens gefördert, das dem russischen Staat gehört und das Instrument der russischen Politik ist. Es ist ein Unterschied, ob Sie im Einzelfall eingreifen oder für generelle Regeln zuständig sind. ({4}) Der Regierungssprecher von Herrn Schröder, UweKarsten Heye - mancher kennt ihn noch -, hat im Fall von Herrn Bangemann öffentlich erklärt, Herr Bangemann habe dem Ansehen der Kommission einen erheblichen Schaden zugefügt. ({5}) Regierungssprecher Heye erklärte, Bangemann habe Deutschland einen schlechten Dienst erwiesen. ({6}) Herr Heye erklärte öffentlich in der „Passauer Neuen Presse“, die Bundesregierung werde sich einer möglichen Klage einiger europäischer Länder gegen den beurlaubten Kommissar anschließen. Regierungssprecher Heye sagte wörtlich, man werde sich beteiligen, wenn es darum gehe, ein Verfahren in Gang zu setzen. - Dort haben Sie sich in einem Fall, der ungleich anders war, durch den Regierungssprecher Ihrer Partei intensiv öffentlich betätigt. Heute sagen Sie, das ginge das Kabinett nichts an. Was ist denn da richtig? ({7}) Das Schlimme ist ja die innere Unaufrichtigkeit. Wirtschaftsminister Müller hat, als er der rot-grünen Regierung angehörte, in seiner Amtszeit die Fusion von Eon und Ruhrgas - auch Partner dieser Pipeline - gegen das Votum des Kartellamts und der Monopolkommission genehmigt. Der ganze ökonomische Sachverstand war dagegen, auch wegen des Marktanteils dieses Unternehmens von 87 Prozent. Später hat sich Schröder beschwert, dass die Gaspreise gestiegen sind. Einführung in die Grundzüge der Ökonomie an der Volkshochschule Mainz-Süd, zweite Stunde: Monopolpreise sind immer höher als Wettbewerbspreise. ({8}) Anschließend ist dieser Herr Müller Vorstandsvorsitzender der Ruhrkohle AG, einer Tochtergesellschaft von Eon, geworden. Staatssekretär Tacke, der das für ihn unterschrieben hat, ist anschließend Vorstandsvorsitzender der STEAG AG, einer Tochtergesellschaft von Eon Ruhrgas, geworden. Das ist die Schieflage, weshalb viele im Land sagen, dass die Politik dort nicht in Ordnung ist. Wir wollen uns nicht in Richtung einer Bananenrepublik bewegen. Hier müssen andere Maßstäbe und andere Haltungen her. Darum geht es. ({9}) Es geht doch gar nicht um diese Gasleitung, die ökonomisch vernünftig ist. Es geht auch gar nicht darum, ob sie nun in Greifswald oder woanders ankommt; es geht um die Haltung. Bundeskanzlerin Merkel spricht mittlerweile liebevoll vom „Altbundeskanzler“. Da schwingt der Kanzler nach. 14 Tage war er abgewählt und aus dem Amt und schon wurde er beim russischen Staatsunternehmen Aufsichtsratsvorsitzender. ({10}) Wahrscheinlich wird er auch noch Ehrenbürger der Schweiz; denn er wirbt ja für den Standort Schweiz. ({11}) Es gibt offenbar keinen besseren Beleg dafür, dass es sich nicht lohnt, ein Unternehmen in dem Land zu wählen, dessen politische Konkursmasse Rot-Grün hinterlassen hat, als nach Zug in die Schweiz zu gehen. Wahrscheinlich erhält er dort den Ehrenpreis für die Standortwerbung für die Schweiz. Was wurde vorher über die unpatriotischen Unternehmer geschimpft, die sich ökonomisch entscheiden! ({12}) Ich habe gelesen - das ist interessant -, was der Chef von Gasprom operativ alles machen soll. Aber Sie sagen ja, es gehe nicht ums Geld, also um die 1,5 Millionen Euro, von denen die „Leipziger Zeitung“ heute berichtet, sondern um die Sache. Sie sollten wirklich einmal die Kirche im Dorf lassen: ({13}) Es ist nicht in Ordnung, dass Sie Monopole begünstigen - ein Unternehmen auf dem Gasmarkt: Marktanteil von 87 Prozent - und anschließend die politisch Zuständigen dorthin gehen. Hier ist wieder so ein Fall. Gasprom ist ja nicht irgendein Unternehmen. Misslebige Medienunternehmen werden schnell aufgekauft. In Weißrussland, wo es einen Diktator gibt, werden günstige Energiepreise gemacht. Das ist ein Instrumentarium der russischen Politik und kein Unternehmen wie Telefonica oder sonst irgendeines, bei dem es einen Markt mit Konkurrenz gibt. Hier ist ein Staatsmonopol in Russland. Dort geht der deutsche Kanzler hin und wird Aufsichtsratsvorsitzender! ({14}) Sie sollten mal überlegen, was Sie tun! Den kleinen Genossen, die bei Ihnen Plakate geklebt haben, kommt das Frühstück hoch und ein Teil Ihrer Fraktion schämt sich draußen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich diese Aktuelle Stunde zunächst zum Anlass nehmen, eine grundsätzliche Bemerkung vorweg zu machen. Der Wechsel von ehemaligen Politikern, insbesondere Mitgliedern der Bundesregierung, nach ihrer Amtszeit in die Wirtschaft ist nicht nur zulässig. Wir halten es auch für sinnvoll, dass sich politischer Sachverstand im Wirtschaftsleben wiederfindet. ({0}) Genauso halten wir es für richtig und wichtig, dass Unternehmer ihren wirtschaftlichen Sachverstand in die Politik einbringen, am besten dadurch, dass sie Parlamentarier werden. Beim heutigen Thema geht es aber nicht um diese grundsätzliche Frage, sondern um die Umstände eines solchen Wechsels. Dass allerdings gerade die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat, ({1}) verleitet zum Nachdenken darüber, wie das denn mit dem schon angesprochenen Fall des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers und EU-Kommissars Martin Bangemann ({2}) und seinem schnellen Wechsel zum spanischen Telefonica-Konzern war. ({3}) - Ich will das jetzt nicht vertiefen. Ich glaube, wir sind uns einig: Fälle dieser Art werfen die Frage des politischen Stils, mehr noch des Anstands auf. Was geziemt sich für ein ehemaliges Mitglied der Bundesregierung, einen hohen Repräsentanten unseres Landes, nach Aufgabe seines Staatsamtes? Ich möchte noch einmal betonen: Es spricht aus meiner Sicht grundsätzlich nichts dagegen, dass ein solch hochrangiger ehemaliger Politiker seinen Sachverstand in die Wirtschaft einbringt. Das kann sogar im Interesse unseres Landes liegen. Aber es sollte alles vermieden werden - auch das muss ich sagen -, was auch nur den Anschein einer Belohnung für bestimmtes politisches Verhalten erwecken könnte. ({4}) - Das ist eine grundsätzliche Bemerkung. - Es geht dabei nicht um die vor allem unter Juristen immer gleich heiß diskutierte Frage der Rechtmäßigkeit eines solchen Verhaltens. Für Zweifel daran - das möchte ich ganz klar sagen - gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte, auch nicht dafür, dass private Interessen mit denen des Staates verknüpft worden sind. Worum es hier geht, ist das Vertrauen. Es geht um Glaubwürdigkeit und um Ansehen, und zwar nicht nur des ehemaligen Bundeskanzlers, sondern letztlich aller Politiker. Wir wissen, dass das Werturteil der Öffentlichkeit in solchen Fällen meist nicht nur den Handelnden gilt, sondern auch den Politikern und damit der Politik insgesamt. Soweit im vorliegenden Fall Zweifel an der moralischen Unangreifbarkeit dieses Handelns geäußert werden und offene Fragen im Raum sind, die die Würde des Staatsamtes tangieren könnten, ist es meiner Meinung nach am früheren Kanzler, für Klarheit zu sorgen. Das würde ich auch begrüßen, da unzweifelhaft in weiten Teilen der Bevölkerung und parteiübergreifend Unverständnis und Unbehagen über die Umstände feststellbar sind. Aber eines ist ganz klar: Vorverurteilungen darf es nicht geben und auch keine Schnellschüsse wie etwa Forderungen nach neuerlichen Änderungen der Verhaltensregeln oder nach einem Ehrenkodex. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Verhaltensregeln haben wir erst vor sechs Monaten geändert, und zwar, wie ich meine, in einer ziemlich missglückten Weise. ({5}) Was diesen Ehrenkodex angeht: Ich habe große Zweifel, ob ein solcher Ehrenkodex ein taugliches Instrument ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. ({6}) Nichts anderes hat im Übrigen der Kollege Gröhe vorher in seiner Rede zum Ausdruck gebracht. Kann man denn das, was Anstand und Common Sense fordern - also die klassischen Beispiele für ungeschriebene Gesetze -, wirklich in Paragraphen fassen? Ich glaube, nicht. ({7}) Ein Verhaltenskodex mag einen gewissen Rahmen setzen. Die schriftliche Fixierung kann aber zu Fehlschlüssen verleiten: Alles, was dort nicht als unanständig aufgeführt ist, wird man in Konsequenz daraus als anständig ansehen. Aber das muss nicht immer der Fall sein. Wir müssen andererseits darauf achten, dass nicht etwas schnell und vordergründig als unehrenhaft gebrandmarkt wird, woran an sich nichts Anstößiges ist. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vizekanzler Müntefering hat zu Recht festgestellt, dass diese von der FDP initiierte Aktuelle Stunde den Charakter einer Juxveranstaltung habe. Viele Ihrer Beiträge bestätigen diese Einschätzung. ({0}) Ich möchte gern auf einige Redebeiträge eingehen und sie auf ihre Ernsthaftigkeit überprüfen. Sie von der FDP reden von Anstand, Moral und Ehre in der Politik. Ich will nicht noch einmal die Erinnerung an Herrn Bangemann strapazieren. Davon war schon so oft die Rede, dass inzwischen sicherlich jeder weiß, was das für eine faule Geschichte war. ({1}) Ich erinnere aber an die Kollegin Flach, die Geld bezogen hat, ohne dafür irgendeine Leistung zu erbringen und ohne diese Einnahmen anzugeben. Wenn ich solche Kolleginnen und Kollegen in den eigenen Reihen hätte, dann wäre ich etwas vorsichtiger mit Begriffen wie Ehre, Anstand und Moral. ({2}) Völlig neu und interessant für mich ist allerdings, dass es mittlerweile aus der Sicht der FDP einem Betrieb schon vorzuwerfen ist, wenn er seinen Geschäftssitz in die Schweiz verlegt. ({3}) Ich wusste gar nicht, dass man einem Betrieb einen Vorwurf daraus machen kann. Nach dem, was Sie, Herr Gerhardt und Herr Brüderle, vorgetragen haben, kann man nur allen Unternehmern bei einem solchen Vorhaben zur Vorsicht raten: Dafür wird man von der FDP in Deutschland ausdrücklich gerügt. ({4}) Herr Berninger, Ihr Beitrag war für mich Heuchelei im Quadrat. ({5}) Entschuldigung, aber Sie waren doch Staatssekretär in einer rot-grünen Regierung, die dieses Projekt beschlossen hat. Vielleicht habe ich es seinerzeit nicht mitbekommen, aber alle Kritikpunkte, die Sie eben an diesem Geschäft aufgeführt haben, habe ich vorher nicht von Ihnen gehört. Wann haben Sie denn Ihre Bedenken vorgetragen? ({6}) Die Öffentlichkeit hat nichts davon erfahren. Deswegen ist es heuchlerisch, wenn Sie sich diese Position zu Eigen machen, nachdem Sie aus dem Amt des Staatssekretärs ausgeschieden sind. ({7}) Lieber Kollege Ramelow, Sie fordern Transparenz in der Politik und die Offenlegung der Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Herzlich willkommen in der Realität! Das haben wir in der letzten Legislaturperiode mühsam durchgesetzt, auch gegen Stimmen aus der FDP und der Union bzw. gerade gegen diese Opposition. Wir haben nämlich seinerzeit festgelegt, dass zukünftig Nebentätigkeiten hinsichtlich ihrer Art und der damit verbundenen Einnahmen offen gelegt werden müssen. Ich kann mich noch gut an die Position der Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU erinnern, die genau das nicht wollten. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass die Öffentlichkeit und auch Sie ein Interesse daran haben, was ein ehemaliger Bundeskanzler macht. Die Öffentlichkeit hat aber auch ein mindestens genauso großes Interesse daran, zu erfahren, was die Abgeordneten machen, die sie gegenwärtig vertreten. ({8}) Gestatten Sie mir deswegen - auch aus Respekt vor dem Amt des Bundestagspräsidenten - einige Sätze. Wenn Herr Lammert das Geschehene als „instinktlos“ bezeichnet, ({9}) aber gleichzeitig versucht, die Regelungen wieder rückgängig zu machen, sodass Abgeordnete in Zukunft Nebentätigkeiten nicht mehr offen legen müssen, dann verkneife ich mir lieber eine Bemerkung. Ich glaube, es interessiert die deutsche Öffentlichkeit, ob jemand wie Friedrich Merz gleichzeitig Abgeordneter ist, dem Aufsichtsrat der Deutschen Börse angehört und einen dortigen Großaktionär berät. ({10}) Die CDU/CSU wollte damals die Regelung zur Offenlegung verhindern. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hält man sie immer noch nicht für sonderlich sinnvoll und will sie wieder zurückschrauben. ({11}) Auch Herr Lammert hat sich schon diesbezüglich geäußert. Wir sollten uns vielleicht langsam einigen, was wir eigentlich wollen: ({12}) einen Ehrenkodex, der keinerlei Auswirkungen hat, oder glasklare Regelungen, die bei Verstößen entsprechende Repressalien zur Folge haben, liebe Genossinnen und Genossen. ({13}) - So weit geht es schon fast mit der großen Koalition! Lassen Sie uns in diesem Sinne wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Ich freue mich auf Ihre Reaktion in der Diskussion über die Verhaltensregeln in den zuständigen Ausschüssen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion der LINKEN Einsetzung eines Ausschusses des Deutschen Bundestages für die Angelegenheiten der neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen - Drucksache 16/130 Überweisungsvorschlag: Ältestenrat Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Mitglieder des Hauses, die an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen, damit diejenigen, die daran teilnehmen wollen, dem Redner folgen können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Redner der Kollege Roland Claus von den Linken. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Genossen Generaldirektor geht es nun um die Angelegenheiten der neuen Bundesländer. Die Fraktion Die Linke schlägt Ihnen vor, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen. ({0}) Ich will in diesem Zusammenhang einen Kenner der ostdeutschen Szene zitieren, der einmal sagte: Eine Bundesregierung, die den Osten so abhängt, muss abgelöst werden im Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern und im Interesse Deutschlands insgesamt. Der Aufbau Ost ist für die Entwicklung Deutschlands von entscheidender Bedeutung. So Edmund Stoiber an die Adresse der Regierung Schröder, lange bevor er regierungsflüchtig wurde. Man kann dazu nur sagen: Wo er Recht hat, hat er Recht. ({1}) Wir sehen in einem solchen Bundestagsausschuss natürlich kein Allheilmittel für die Lösung aller Probleme, wohl aber einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht können wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ein bisschen Hilfestellung leisten. Wenn wir das richtig verstanden haben, dann sind Sie mit der Zuordnung der Zuständigkeit für die neuen Bundesländer nicht klar gekommen: Kanzleramt, Tiefensee-Ministerium, einmal hin und einmal zurück. Wenn Sie den von uns vorgeschlagenen Ausschuss einsetzen, dann haben Sie eine erste gute Adresse für die Angelegenheiten, um die es hier geht. ({2}) Wir werden nicht davon ablassen - das sage ich hier ausdrücklich -, das Grundgesetz zu zitieren, das uns gebietet, für gleichwertige Lebensverhältnisse in der gesamten Republik einzutreten. Die Koalitionsvereinbarung enthält sicherlich sehr viel Gutes zum Thema neue Bundesländer, was die Zielstellung betrifft. Aber immer wenn Sie das Ziel formuliert haben und wir dem begeistert zustimmen, fügen Sie hinzu: Das werden wir mit den bewährten Instrumenten fortsetzen. Das heißt, mit den Instrumenten, die zum Versagen geführt haben, wollen Sie nun einen neuen Weg beschreiten. Daran haben wir gewisse Zweifel. ({3}) - Sie geben mir ein gutes Stichwort. Natürlich verkennen auch wir Linke nicht, dass im Osten Deutschlands vieles erreicht worden ist. ({4}) Obwohl wir der Auffassung sind, dass die beiden letzten Regierungen nicht die richtige Förderpolitik gemacht haben, ist es an dieser Stelle geboten, dass ein ostdeutscher Sozialist den Bürgerinnen und Bürgern in den früher geborenen Bundesländern Dank für die Unterstützung sagt, die nicht nur im Zahlen des Solidaritätszuschlags bestand, sondern auch in vielen anderen Dingen. Das will ich hiermit ausdrücklich tun. ({5}) Schaut man sich die Realitäten des Ostens Deutschlands 2005 genau an, zum Beispiel das Ranking der Bertelsmann-Stiftung, dann stellt man fest: Leider nehmen die Differenzen wieder zu. Die Ergebnisse der von Ihnen eingesetzten Dohnanyi-Kommission sind, wie wir finden, nicht wirklich gewürdigt worden. Dohnanyi hat es auf einen Punkt gebracht, als er gesagt hat, um die Angelegenheiten der neuen Bundesländer und anderer strukturschwacher Regionen sollten sich alle kümmern. Aber damit das klappt, muss es an einer Stelle koordiniert werden. Diesem Gedanken folgen wir mit unserem Vorschlag, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen. ({6}) Inzwischen geht es nicht mehr um Nachsorge. Wir sprechen vielmehr von einem Neuansatz für Ostdeutschland. Es ist doch ein sehr spannender Prozess, dass sich hier zwei Transformationsprozesse überlagern: die noch immer anhaltende gesellschaftliche Transformation und die Transformation der Arbeitswelt. In Ostdeutschland werden heutzutage Erfahrungen gesammelt, die künftig in der ganzen Republik gebraucht werden. Im Osten entsteht Neues, das Verbesserungen für die ganze Republik bringt. Dazu zwei Stichworte: Stadtumbau, auch Rückbau von Wohnungen. Weiterhin nenne ich den Standortvorteil Kinderbetreuung. Reden Sie mit Investoren! Ich weiß, dass Sie das machen. Für die sind diese so genannten weichen Standortfaktoren Standortfaktoren der Zukunft. Darum müssen wir uns kümmern. Deshalb lohnt es sich, diese Erfahrungen einzubringen. Es ist nicht unser Begehren, eine Experimentierwerkstatt für weiteren Sozialabbau einzurichten, sondern eine Denkfabrik für Innovation und soziale Gerechtigkeit. Es lohnt sich, dem Beispiel zu folgen. ({7}) Deshalb möchte ich Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen. Geben Sie sich selbst den viel gerühmten Ruck, den Sie sonst immer von anderen verlangen! Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/ CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Claus, ich freue mich natürlich, dass Sie uns für unseren Koalitionsvertrag gelobt haben. Ich teile Ihre Meinung, dass darin in der Tat einiges steht, was Ostdeutschland voranbringen kann. Wir sprechen aber heute in der allgemeinen Aussprache nicht über die Angelegenheiten Ostdeutschlands. Sie, Herr Claus, fordern vielmehr von diesem Haus, dass es einen eigenen Ausschuss einrichtet, der sich mit Ostdeutschland und mit den besonderen Problemen strukturschwacher Länder befassen soll. ({0}) Das ist der Punkt. Ich räume ein, dass man über den Sinn eines solchen Ausschusses durchaus geteilter Meinung sein kann. Für einen solchen Ausschuss spräche zweifellos, dass es nach wie vor eine gewaltige Menge von ostdeutschen Spezifika gibt, die einer besonderen Behandlung bedürfen und die in allen Politikbereichen beachtet werden müssen. Sie nennen das Transformationsprozess. Das ist eine etwas beschönigende Vokabel. Wir sprechen von teilungsbedingten Nachteilen bzw. teilungsbedingten Belastungen. Das ist der Terminus, der auch im Solidarpakt enthalten ist und auf den sich unser Koalitionsvertrag bezieht. Es stellt sich die Frage, Herr Claus, ob wir dafür eine echte eigene Arbeitsstruktur brauchen oder ob nicht vielleicht die Systematik, nach der dieser Bundestag seit langem gegliedert ist, nämlich dass es sektorale Politikbereiche gibt, nach denen die Ausschussarbeit organisiert ist, ({1}) mittlerweile auch für Ostdeutschland gelten sollte. Anders gesprochen: Soll die Abweichung von der Systematik, nämlich dass man zeitweise geografische Kriterien oder auch strukturelle Kriterien angewandt hat, um einen Ausschuss zu begründen, beibehalten werden oder nicht? Diese Frage ist meines Erachtens durchaus berechtigt. Wir haben im Jahr 2002 erlebt, dass sich die parlamentarische Mehrheit in diesem Haus entschlossen hat, wieder der alten Systematik zu folgen. Wir waren am Anfang sehr skeptisch, ob das richtig ist. Aber mittlerweile haben alle Fraktionen in diesem Hause ihre Arbeit umgestaltet, sodass sie in diese neue Systematik hineinpasst. ({2}) Das war kein leichter Prozess. Wir haben ihn aber bewerkstelligt. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir jetzt die alte Systematik, die wir übergangsweise einmal gehabt haben, wieder einführen sollten. Mir erscheint das als ein Schritt zurück ({3}) und als eine Bindung zusätzlicher Kräfte. Herr Claus, als nächstes muss ich Ihnen etwas Weiteres vorhalten. Wir haben am 22. November dieses Jahres hier in diesem Haus einen gemeinsamen Antrag über die zukünftige Arbeitsstruktur des deutschen Parlaments beschlossen. Das war ein Antrag, der von allen Fraktionen des Bundestages, Herr Gysi, eingebracht worden ist und einstimmig beschlossen wurde. Beantragt wurde, 22 Ausschüsse einzurichten, wobei keiner dieser Ausschüsse speziell für den Aufbau Ost, für die neuen Länder oder für strukturschwache Gebiete zuständig sein sollte. Ich habe mich darum gekümmert, herauszufinden, ob Sie womöglich im Vorältestenrat einen entsprechenden Anspruch geäußert haben. ({4}) Mir wurde gesagt, das sei nicht geschehen. Auch wenn es geschehen sein sollte, wenn ich vielleicht falsch informiert bin, dann wäre es Ihnen jederzeit möglich gewesen, hier noch einen Änderungsantrag einzubringen. Aber das haben Sie nicht getan. Ich frage Sie: Was soll sich Gravierendes in den neun Tagen bis zum Zeitpunkt der Einbringung Ihres heutigen Antrags - das war der 1. Dezember 2005 - geändert haben, um Anlass dafür zu geben, die Arbeitsstruktur des Bundestages noch einmal grundlegend zu ändern? Ich kann nichts erkennen. Herr Kollege Claus, wenn sich so etwas nicht ereignet hat, dann frage ich mich: Welchen Sinn hat Ihre Aktivität eigentlich? Ich sage Ihnen: Es kommt Ihnen offenbar überhaupt nicht darauf an, etwas für Ostdeutschland zu tun oder Ostdeutschland mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In Ihrer Begründung schreiben Sie, einer der Gründe für die Einsetzung eines solchen Ausschusses sei, dass ostdeutsche Probleme nicht genug parlamentarische Aufmerksamkeit gefunden hätten. ({5}) Das ist nicht schlüssig. Die parlamentarische Aufmerksamkeit, die ostdeutsche Probleme erhalten, ist nicht davon abhängig, ob es einen solchen Ausschuss gibt oder nicht. ({6}) Vielmehr ist sie abhängig von der Aktivität der Parlamentarier. Zwei Vertreter Ihrer Fraktion sitzen im Ältestenrat. Sie haben dafür gesorgt, dass jeder Antrag, den Sie auf die Tagesordnung setzen wollten, tatsächlich auf die Tagesordnung kam und hier debattiert worden ist. Was Sie wirklich wollen, hat mit der Einsetzung eines Ausschusses insofern überhaupt nichts zu tun. Die eigentliche Frage ist: Was wollen Sie wirklich bezwecken? Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben mit den anderen Fraktionen zunächst einstimmig eine bestimmte Arbeitsstruktur beschlossen. Eine Woche später haben Sie plötzlich gesagt: Aber wir brauchen noch einen Ausschuss für die Angelegenheiten Ostdeutschlands. Das ist nichts anderes als ein ziemlich durchsichtiger und plumper Versuch, den anderen Fraktionen, den anderen Parteien, den politischen Gegnern für alles, was in Ostdeutschland vielleicht nicht funktioniert, die Schuld zuzuweisen. Ihr Argument würde lauten, dass Ihr jeweiliger Antrag in diesem Ausschuss abgelehnt wurde; Sie hätten alles Mögliche tun wollen, aber die anderen hätten nicht zugestimmt. Sie waren dabei, als die Struktur der Arbeit im Bundestag beschlossen worden ist. Sie haben diesem Beschluss, der unter anderem die Einsetzung von 22 Ausschüssen vorsieht, zugestimmt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Vaatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Claus?

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ist Ihnen in der Tat nicht bekannt, dass wir das Ansinnen, einen solchen Ausschuss einzusetzen, in den interfraktionellen Gremien sehr wohl vorgetragen haben? Ist Ihnen in der Tat nicht bekannt, dass wir bei der Einsetzung der anderen Ausschüsse gesagt haben „Jawohl, die unstrittigen Ausschüsse tragen wir natürlich mit; sie sollen eingesetzt werden.“? Wir haben uns dafür eingesetzt, damit nicht immer wieder der Eindruck entsteht, in einem Parlament müssten sich alle nur streiten. Es ging uns darum, dass Einvernehmlichkeit hergestellt wird. Wenn Ihnen das alles in der Tat nicht bekannt ist, dann frage ich einmal nach, mit welchen Strukturen Sie in Ihrer großen, vielleicht zu großen Fraktion zu tun haben. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Claus, Sie haben eine rhetorische Frage gestellt. ({0}) Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Wenn das, was Sie sagen, so ist, dann hätte Sie nichts daran gehindert, einen Änderungsantrag zu stellen, wenigstens einen Debattenbeitrag zu leisten, als hier über den besagten Antrag abgestimmt wurde, ({1}) oder eine Erklärung zur Abstimmung oder was auch immer abzugeben. Das parlamentarische Instrumentarium steht Ihnen dafür zur Verfügung. Sie hätten all das jederzeit machen können. Sie haben es nicht gemacht. Sie wollten zunächst einmal mit uns gemeinsam Tatsachen schaffen, um hinterher gegen die von Ihnen geschaffenen Tatsachen anzurennen. ({2}) Das machen Sie seit Jahr und Tag. Das ist Ihre Strategie in Ostdeutschland. Mit dieser Strategie haben Sie in Ostdeutschland bis jetzt nur Schaden angerichtet und nichts erreicht. ({3}) Ich bitte Sie, Herr Claus: Überdenken Sie die Strategie und bringen Sie sich in einer sinnvollen Art zugunsten Ostdeutschlands ein! ({4}) Wir haben eine Menge zu tun. Wir haben den Solidarpakt II umzusetzen. Wir haben erhebliche Eingriffe in eine ganze Reihe von Gesetzen vor, die das Ziel haben, beispielsweise Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Nur, die Erfahrung zeigt, Herr Claus, dass Sie mit Verfahrensbeschleunigungen nie etwas im Sinn haben. Ich kann Ihnen zum Beispiel aus meinem Wahlkreis von Mitte der 90er-Jahre berichten -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie sollten aber jetzt keine zweite Rede halten, sondern nur auf die Frage antworten.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Claus steht noch. Solange er steht - ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, es geht nicht danach, ob der Fragesteller noch steht. Da könnte jemand eine Stunde stehen bleiben und der Redner könnte eine Stunde antworten. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Ich hatte gemeint, den Kollegen Claus noch eine Weile unterhalten zu müssen, weil er so lange stehen geblieben ist. Aber wenn Sie mich unterbrechen, komme ich zum Schluss. Ich fordere Sie noch einmal auf: Packen Sie mit an und verstricken Sie uns hier nicht in zeitraubende und unnütze Debatten über Strukturfragen, die meines Erachtens nicht notwendig sind, um Ostdeutschland voranzubringen! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Joachim Günther von der FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Vaatz hat das aus einer etwas anderen Sicht betrachtet, als ich das jetzt wohl tun werde, obwohl wir im Ergebnis wahrscheinlich auf eine Linie kommen. Auch wir in der FDP wissen, dass es große Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Ich füge hinzu: Die gibt es auch zwischen Nord und Süd. Deshalb ist es in Ihrem Antrag zumindest ein Fortschritt gegenüber der Zeit von vier oder acht Jahren, dass Sie die strukturschwachen Gebiete integriert haben. Aber genau an dieser Stelle ist für mich der Punkt, an dem ich mich frage: Wie definieren wir diese strukturschwachen Gebiete? Welche Größe muss ein strukturschwaches Gebiet haben, damit es durch diesen Ausschuss vertreten werden kann? Ich nehme einmal das konkrete Beispiel aus meiner Heimat Hochfranken. Das ist auf der anderen Seite von Hof. Dort hat die Arbeitslosigkeit inzwischen dieselbe Größenordnung erreicht wie im Vogtland und in Plauen; allerdings - das gebe ich zu - weit unter dem ostdeutschen Durchschnitt. Jetzt ist die Frage: Gehört das Vogtland noch mit zu Ostdeutschland und damit in den Ausschuss? Muss Hochfranken integriert werden? Die gleiche Frage kann man sich natürlich auch für andere Bereiche stellen. Um das noch einmal klar zu sagen: Wir als FDP möchten, dass der Aufbau Ost zielstrebig und gewissenhaft vorangetrieben wird und dass andere strukturschwache Gebiete nicht zurückbleiben. Darüber sind wir alle uns wahrscheinlich einig. ({0}) Aber genauso bin ich davon überzeugt, dass ein zusätzlicher Ausschuss in dieser Richtung uns nicht wesentlich voranbringt. Ich habe mir die Mühe gemacht, noch einmal einige Unterlagen aus dem Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder der vorletzten Legislaturperiode herauszuziehen. Wenn Sie diese Berichte betrachten, dann stellen Sie fest: Hier wird eindeutig über Dinge gesprochen, die im Endeffekt in anderen Ausschüssen entschieden werden müssen. Der Ausschuss hatte keine eigene Entscheidungskompetenz, zumindest keine, die dann durch irgendjemanden konkret umgesetzt wurde. Wenn man Abgeordnete fragt, die damals Mitglied in diesem Ausschuss waren - von Ihnen waren auch welche dabei -, dann antworten sie: Wir hatten nicht die Anbindung. Wir hatten keinen Fürsprecher, der das Wesentliche umgesetzt hat. Das - das muss ich einmal ganz deutlich sagen - will ich eigentlich ändern. Wir brauchen dafür eine Lobby. Wir brauchen eine Lobby dafür, dass dieser Schwerpunkt, den ich mit „Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland“ bezeichnen möchte, nicht als Aufgabe eines einzelnen Ausschusses, sondern als Querschnittsaufgabe der gesamten Regierung betrachtet wird. ({1}) Wir müssen dieses Thema stärken, wir wollen es stärken, aber effektiv und an den Stellen, an denen wir Wirkung erzielen können. Ich nenne einmal ein Beispiel dazu. Wenn es um Infrastruktur geht, hört man: Wenn in meine Region kein Autobahn- oder Eisenbahnanschluss kommt, kommt keine Industrie, kommen keine Arbeitsplätze. - Das ist vom Grundsatz her richtig. Nun müssen wir denjenigen festnageln, wie man so schön sagt, der dafür dann im Endeffekt die Verantwortung trägt. Wenn es um eine solche Angelegenheit geht, ist der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zuständig. In diesem Ausschuss haben wir es mit Minister Tiefensee mit einem Mann zu tun, der aus dem Osten kommt. Er ist wahrscheinlich auch gerade im Osten unterwegs und schaut nach, wo nichts funktioniert; deswegen ist er nicht hier. Ich bin davon überzeugt, dass Minister Tiefensee sich für diese Dinge mit einsetzen wird. Ich lege mich in dieser Richtung sogar noch weiter fest: Ich möchte jemanden haben, der verantwortlich ist und den ich ansprechen kann; ich möchte keinen anonymen Ausschuss. Ich möchte jemanden haben, der in diesem Bereich nachweisen muss, ob - das mache ich an diesem Beispiel fest, weil ich im Wahlkampf in der Region Leipzig und nordöstlich von Leipzig unterwegs war - Minister Tiefensee dafür steht, dass die Region Torgau an das Autobahnnetz angebunden wird, oder nicht, ob er dafür steht, dass eine Anbindung ans Erzgebirge erfolgt, oder nicht. Das kann man nur dann messen und nachvollziehen. Deswegen möchte ich keinen Ausschuss, der querbeet arbeitet. ({2}) Joachim Günther ({3}) Ich möchte das an einem weiteren Beispiel klar machen, bei dem wir uns als ostdeutsche Abgeordnete, wahrscheinlich aus allen Fraktionen, weitestgehend einig sind, nämlich am Wehrsold. Kann der Ausschuss Ost dieses Thema behandeln? Wehrsold Ost und Wehrsold West sollten gleich sein. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Lebenshaltungskosten - wenn Sie die Miete einmal ausklammern, die da leider immer mit hineingerechnet wird - inzwischen weitestgehend gleich hoch sind; also sollte auch der Wehrsold gleich hoch sein. Dann ist es doch sinnvoll, einen Antrag zu stellen, der im Verteidigungsausschuss und im Finanzausschuss konkret behandelt werden muss. Wenn uns das gemeinsam gelingt, dann haben wir diejenigen, die in diesem Fall die Verantwortung tragen, mit dem Thema direkt befasst und können hoffen, dass wir von ihnen eine Antwort bekommen. ({4}) Engagieren wir uns also - das ist mein Credo in dieser Angelegenheit - in den Ausschüssen, die in den entsprechenden Bereichen Bedeutung haben! ({5}) Engagieren wir uns gemeinsam vielleicht auch in der einen oder anderen Situation fraktionsübergreifend, wenn es darum geht, strukturschwache Gebiete in einer Form zu unterstützen, die mehrere Ministerien betrifft! Kommen wir - das ist meine Bitte - endlich weg von dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich einen Arbeitskreis“! Das möchten wir nicht. Wir möchten in den bestehenden Arbeitskreisen unser Bestes geben. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Gunter Weißgerber, SPD-Fraktion.

Gunter Weißgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002464, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Günther, Sie haben angesprochen, dass der Verkehrs- und Bauminister nicht da sei. Ich halte das für nicht sehr problematisch; denn was wir heute beraten, ist eindeutig Sache des Parlaments. Es ist völlig unerheblich, ob der zuständige Verkehrsminister da ist oder nicht. ({0}) Außerdem ist ja sein Staatssekretär anwesend; die Regierung ist also vertreten. Der vorliegende Antrag auf Einsetzung eines Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen wird von uns abgelehnt werden - aus sachlichen Gründen und nicht etwa, weil er aus der vermeintlich falschen Ecke kommt. Seit 15 Jahren streiten wir für und entscheiden wichtige Vorhaben im Prozess des Zusammenwachsens der beiden ehemaligen deutschen Staaten. Demzufolge konnten wir bisher genügend Erfahrungen im parlamentarischen Umgang mit den Folgeproblemen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR und des Ostblocks sammeln. Ausschüsse, die sich direkt den ostdeutschen Problemen widmeten, gab es in jeder Legislaturperiode bis 2002. Es waren die Ausschüsse, zu denen sich zwar viele berufen fühlten, diese dann aber oft das Gefühl hatten: Hier läuft nicht der Hauptfilm. Die Entscheidungen fallen in den Fraktionen, ihren jeweiligen Gremien und letztlich in den regulären gesamtdeutschen Ausschüssen, also dort, wo jeder Abgeordnete ohnehin seinen Einfluss geltend machen muss. ({1}) Mir ist jedenfalls kein direkter messbarer Erfolg aus den bisherigen „Ostausschüssen“ bekannt. Sämtliche Entscheidungen für die wirtschaftliche, infrastrukturelle und soziale Entwicklung Ostdeutschlands fielen in den dafür vorgesehenen gesamtdeutschen Fachausschüssen. Das ist richtig; nur mussten wir das erst lernen. Wir haben gelernt, dass die ostdeutschen Probleme gesamtdeutsch und in den Fachausschüssen gelöst werden müssen. Auch führte die bisherige, oft einseitig auf Ostdeutschland fokussierte Diskussion nicht zu einem stärkeren Drang vieler Ostdeutscher, ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Parlamentarisch machten wir eine menschlich selbstverständliche Erfahrung. Die bisherige ostdeutsche Sonderprivilegierung schadet den Ostdeutschen zunehmend selbst und führt zu einem beachtlichen emotionalen Verschleiß ostdeutscher Problematiken bei den damit auf deren Solidarität angesprochenen westdeutschen Mitbürgern und Kollegen. Wer diese mit im Boot haben will - und nur mit diesen geht etwas -, der muss andere Wege gehen, nämlich die im Parlament üblichen und erprobten. Üblicherweise steht einem Ministerium immer ein Fachausschuss gegenüber. Im vorliegenden Fall gibt es dieses Ministerium aus gutem Grunde nicht. Der Aufbau Ost ist eine sich durch alle Ministerien ziehende Aufgabe, die vom Verkehrs- und Bauminister lediglich koordiniert wird. Es ist eine Aufgabe, zu der sich die Koalition ausdrücklich bekennt. Ich verweise hier auf den Koalitionsvertrag, der sich in 13 Punkten - um nur einige Schwerpunkte anzuführen: Investitionszulage, Förderpolitik, Gemeinschaftsaufgabe, Förderung Mittelstand, Existenzgründer, Wissenschaft, Innovationen, ländliche Regionen - Ostdeutschlands prioritär annimmt. Erfahrungsgemäß ist ein Ausschuss ohne Spiegelministerium eine zahnlose Veranstaltung. Deshalb wollen wir einen solchen Ausschuss auch nicht für den Aufbau Ost. Wir alle sind Abgeordnete aus verschiedenen Regionen dieser Republik. Es ist unsere Aufgabe, für unsere regionalen Probleme gesamtdeutsche Mitstreiter zu sensibilisieren. Nichts geht für Ostdeutschland ohne die Mehrheit unserer westdeutschen Kollegen. Bisher haben wir diese immer erreichen können. Das wird auch weiterhin geschehen. Denn beispielsweise haben wir in unserer Fraktion eine Arbeitsgruppe Aufbau Ost, in der wir gemeinsam mit westdeutschen Kollegen die Situation Ostdeutschlands diskutieren, wodurch wir zur Meinungsbildung in der gesamten Fraktion beitragen. ({2}) Es sind die gleichen MdBs, die in den Fachausschüssen ihre Heimatinteressen im Einklang mit den Gesamtinteressen vertreten und die zusätzlich in einem Ostausschuss mit erweiterter Aufgabenstellung hinsichtlich der anderen strukturschwachen Regionen sitzen würden. Warum die Sache doppelt organisieren, wenn sie im Fachausschuss bereits an der richtigen Stelle ist? Insgesamt bleibt es aus unserer Sicht dabei: Die Lösung der ostdeutschen Defizite liegt im existenziellen Interesse Gesamtdeutschlands. Der Dampfer „Deutschland“ havariert hauptsächlich im Osten. Die gesamte Besatzung muss alles tun, damit das gemeinsame Schiff weiter vorwärts kommt. Das geschieht im Parlament in allen Ausschüssen. Ein Sonderlamento auf der havarierten Seite würde zwar hörbar sein, würde jedoch am Dilemma praktisch nichts ändern. Sicher werden wir von nun an auf ein Neues mit der ostdeutschen Alleinvertretungskritik der PDS konfrontiert werden. ({3}) Das ist zu erwarten. Treffen wird uns diese Kritik aber nicht. Es sind nämlich die Ostdeutschen in den Koalitionsfraktionen, die sich gegen diese Art von Sonderausschuss aussprechen. An die Adresse links im Haus gerichtet: SPD und CDU/CSU haben in ihren Reihen jeweils mehr ostdeutsche Abgeordnete mit ostspezifischer Einheitserfahrung als die PDS. ({4}) Die Ostkompetenz im gesamten Parlament ist ohnehin wesentlich größer als die von der PDS irreführenderweise beanspruchte. ({5}) Wenn sich die Ostdeutschen in der Linkenfraktion, die sich dort in der Minderheit befinden, nicht durchsetzen können, ist das allein deren Problem. Der Bundestag jedenfalls kann deren Manko nicht ausgleichen. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorweg zu sagen: Auch unsere Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, wird dem Antrag der Fraktion Die Linke auf Einsetzung eines Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen nicht zustimmen. ({0}) Schon der erste Absatz der Begründung stößt auf unseren Widerspruch. Wir können nichts mit einer Formulierung anfangen, die da lautet, dieser Ausschuss sei zwar nicht die einzige, aber eine entscheidende Möglichkeit, gegebene Versprechungen einzulösen. Für mich ist die Zeit der Versprechungen und der Verkündigungen von Heilsbotschaften, Patentlösungen und Masterplänen für den Aufbau Ost vorbei. Denn davon gab es in den letzten 15 Jahren zu viele. ({1}) Die Menschen in Ostdeutschland sind für solche simplen Botschaften nicht mehr zu haben. Bündnis 90/Die Grünen hat deswegen auch im Wahlkampf keine Versprechungen gemacht, sondern wir haben unser Augenmerk auf die argumentative Benennung der Probleme, Sorgen und Nöte gerichtet. Wir haben versucht, den Menschen klar zu machen, dass es für ein vielschichtiges Problem keine einfachen Lösungen geben kann. Versprechen sollten wir daher nur das, was wir auch halten können. Dazu gehört zum Beispiel das Versprechen, dass wir alle unsere Kraft für die Belange der neuen Länder einsetzen, und zwar jede und jeder von uns in den jeweiligen Fachausschüssen. ({2}) Die Einsetzung dieses Ausschusses hat aus unserer Sicht bloßen Symbolcharakter. Aber Symbole reichen nicht aus, um die Herausforderungen in den neuen Ländern zu meistern. Auch der Themenvielfalt könnte dieser Ausschuss nicht gerecht werden. Sie schlagen vor, dass der Ausschuss 15 Mitglieder haben sollte. Das würde konkret bedeuten, dass Ihre und unsere Fraktion jeweils ein Mitglied in diesem Ausschuss hätten. Dieses Mitglied müsste dann alle Themenfelder bearbeiten. Das kann wirklich nicht Ihr Ernst sein, das kann nicht im Sinne des Antragstellers sein. ({3}) Ich gebe zu, dass ich mit der Ansiedlung des Beauftragten für die neuen Länder im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zunächst nicht besonders glücklich war. Aber ich muss auch sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern in den letzten Jahren einiges dazugelernt haben. Es war für sie sicher ungewohnt, über Themen wie den Bericht zum Stand der deutschen Einheit oder die Gemeinschaftsaufgabe „Ost“ zu debattieren. Aber ich finde, gerade in den letzten Monaten der vergangenen Legislaturperiode wurde in diesem Ausschuss über Themen wie beispielsweise den Bericht zum Stand der deutschen Einheit sehr intensiv, sehr ernsthaft und ohne die üblichen Schuldzuweisungen debattiert. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich finde, dass wir diesen guten Ansatz weiterführen sollten. ({4}) Es wurde auch deutlich, dass es auf das Engagement der Berichterstatter ankommt - und nicht auf die Hülle, sprich: den Ausschuss -, ob man mit einem Thema in der medialen Öffentlichkeit tatsächlich Aufmerksamkeit erzielen kann. Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat dieser Lernprozess begonnen. Ich wünsche mir, dass es uns gelingen wird, dass dieser Prozess auch in den anderen Fachausschüssen stattfinden wird bzw. dass er fortgeführt und intensiviert wird. Wir haben alle Möglichkeiten dazu. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, werden diese Chancen doch sicherlich nutzen wollen. ({5}) Ein weiteres Argument, das gegen die Einrichtung eines Ostausschusses spricht, haben Sie selbst geliefert, indem Sie gesagt haben, seine Aktivitäten auf andere strukturschwache Regionen erweitern zu wollen. Ich stimme zwar mit Ihnen darin überein, dass die Transformationsprozesse sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern neue Denkprozesse erfordern. Aber genau das können wir nur in den Fachausschüssen leisten und nicht dadurch, dass wir als ostdeutsche Abgeordnete unter uns bleiben. Wir schaffen nur dann eine gesamtgesellschaftliche Solidarität für die Belange der neuen Länder, wenn wir gemeinsam die gewachsenen regionalen Disparitäten in den alten Ländern mit auf die Agenda setzen und gemeinsam Lösungsansätze erarbeiten. Auch das kann der von Ihnen vorgeschlagene Ausschuss nicht leisten. Ich stimme Ihnen zu, dass es in den nächsten Jahren auch um einen inhaltlichen Neuansatz bei der Förderpolitik gehen wird. Ich weiß nur nicht, ob wir damit das Gleiche meinen. Denn es fehlt aus meiner Sicht nicht an Fördermitteln, sondern an einer effizienten Fördermittelverwendung und einer entsprechenden effizienten Förderinstrumentestruktur. Darauf sollten wir in den nächsten Jahren unser besonderes Augenmerk legen. Die Arbeitsgruppe Ost unserer Bundestagsfraktion hat sich in der letzten Legislaturperiode quasi mit allen im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost relevanten Themen beschäftigt. Das reichte von der Investitionszulage bis zu Hartz IV, von der demographischen Entwicklung bis zum Stadtumbau Ost. Um diese Themen dabei kompetent bearbeiten zu können, haben wir uns regelmäßig auf die aktive Mitarbeit der Fraktionskolleginnen und -kollegen aus den alten Bundesländern verlassen müssen, weil wir selber gar nicht die entsprechende Fachkompetenz hatten. Aber das hat erstens dazu geführt, dass es in unserer Fraktion eine sehr viel höhere Akzeptanz der AG Ost gab, und zweitens, dass wir bei den Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion ein viel größeres Verständnis für die Belange der neuen Länder erreicht haben. Das ist der richtige Ansatz. Diesen Ansatz sollten wir alle weiterführen. ({6}) Es liegt also an uns, die uns bewegenden Themen in die Öffentlichkeit zu tragen und in diesem Haus zu debattieren. Dafür brauchen wir keinen neuen Ausschuss. Unsere Möglichkeiten sind - vielleicht gerade deswegen, weil wir in der Opposition sind - groß. Worauf warten wir also noch? Machen wir uns an die Arbeit! Fangen wir an! Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Manfred Grund, CDU/ CSU-Fraktion.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Aufbau Ost, der Aufbau der neuen Bundesländer, dauert länger und kostet mehr, als sich wohl die meisten von uns vorgestellt, es erwartet oder auch befürchtet haben. Es ist nicht nur die Gleichzeitigkeit der Prozesse, die seit 1989/1990 ablaufen, also der wirtschaftliche Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Mauer, die Globalisierung, die demographische Entwicklung und der Versuch der Angleichung der Lebensbedingungen im Osten an die des Westens. Ich glaube, es ist vielmehr die Hinterlassenschaft, die 1989/1990 vorgefunden worden ist, die dazu beiträgt, dass dieser Prozess so lange dauert und so viele Schwierigkeiten macht. Mit der ehemaligen DDR ist der Bundesrepublik nicht die zehntstärkste Industrienation beigetreten. Es war vielmehr ein wirtschaftlich verwahrlostes, infrastrukturell vernachlässigtes und ökologisch verheertes Gebiet zu übernehmen und aufzubauen. ({0}) - Zu Ihrem Protest muss ich sagen: Es gab vom damaligen Chef der Plankommission, von Gerhard Schürer, im Herbst 1989 eine Ausarbeitung für das Zentralkomitee bzw. das Politbüro. Darin hieß es: Bei Betrachtung aller Dinge muss der - schon damals nicht allzu hohe - Lebensstandard der Bevölkerung der DDR sofort um 30 Prozent gesenkt werden, wenn die Zahlungsunfähigkeit, der Bankrott der DDR nicht sofort eintreten soll. - Das war die Situation. Der Kollege Claus hat zu Recht darauf hingewiesen, dass viel Geld von West nach Ost geflossen ist: 1 000 Milliarden Euro, möglicherweise sogar noch mehr. Das ist aber nicht das Problem, über das wir heute reden. Was uns Sorge machen muss, ist, dass nach wie vor 4 Prozent unseres Bruttosozialprodukts für die Finanzierung dessen, was wir als „Aufbau Ost“ bezeichnen, benötigt werden. Aufgrund des Wirtschaftswachstums von durchschnittlich 1,3 bzw. 1,4 Prozent in den letzten zehn Jahren erfolgt der Aufbau Ost also aus der Substanz der alten Bundesrepublik. Das ist das große Problem. Nun kann man sich fragen, ob man sich 1989/90 ein wenig getäuscht hat und was der Grund dafür ist, dass der Aufbau Ost nicht schneller erfolgt. Am Geld hat es nicht gelegen. Alle Bundesregierungen seit 1989/90 haben versucht, mit diesen Problemen - auf strukturell unterschiedlichen Wegen - fertig zu werden. In den beiden Kabinetten Helmut Kohls waren mehrere ostdeutsche Minister, die mit ihrem Namen für den Aufbau Ost eingestanden sind: Angela Merkel, Claudia Nolte und Paul Krüger, um nur einige von unserer Seite zu nennen. In dieser Zeit hat es einen ganz ordentlichen Aufholprozess gegeben. Danach, mit dem Kabinett Schröder, wurde der Aufbau Ost zur Chefsache, mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Die Schere zwischen West und Ost schloss sich nicht mehr - das war allerdings schon seit 1997/98 so -, aber mit dem Solidarpakt II wurde die Anschlussfinanzierung an den Solidarpakt I auf den Weg gebracht und damit Sicherheit bis zum Jahr 2019. Dafür können wir sehr dankbar sein. Nun hat die Fraktion der Linken den Antrag gestellt - darüber debattieren wir heute -, einen Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen einzurichten. Die Fraktion Die Linke wäre des Oppositionszuschlages nicht wert, wenn sie diesen Antrag nicht gestellt hätte. Ich glaube aber, dass Sie hier einer Fehleinschätzung aufsitzen. Es besteht die große Gefahr, zu glauben, dass in diesem Ausschuss alle Themen, die die neuen Länder betreffen, behandelt und abgearbeitet werden, dass wir Ostdeutsche quasi eine eigene Spielwiese bekommen; dabei ist die Außenwirkung relativ gering. Ich war von 1999 bis 2002 im damaligen Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder, kenne die Debatten und die Ergebnisse. Ich nehme an, dass Sie sich einmal angesehen haben, worüber in diesem Ausschuss in den vier Jahren debattiert worden ist: Man hat sich mit 478 Drucksachen beschäftigt. Das ist möglicherweise ein Nachweis des Fleißes dieses Ausschusses, über die Wertigkeit sagt dies aber relativ wenig. Über die Wertigkeit erfährt man etwas, wenn man fragt, bei wie vielen Beratungsgegenständen dieser Ausschuss federführend und bei wie vielen er mitberatend war. Schätzen Sie einmal: 30 Prozent, 20 Prozent oder 10 Prozent der Vorlagen? Weniger als 10 Prozent, nämlich insgesamt 35 Vorlagen, waren Vorlagen, bei denen der Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder federführend gewesen ist. Sie messen ihm also möglicherweise eine zu hohe Bedeutung bei. Im Wesentlichen handelte es sich um Berichte zum Stand der deutschen Einheit oder um Themen, bei denen man sich mit sich selbst beschäftigt hat. Ich möchte nicht, dass wir ostdeutsche Abgeordnete auf einen Ausschuss, auf eine Spielwiese reduziert werden. Ich möchte, dass wir in den Ausschüssen auf gleicher Augenhöhe sind, im Finanzausschuss, im Haushaltsausschuss und im Wirtschaftsausschuss, ({1}) und dass wir unseren Sonderstatus als Abgeordnete aus dem Osten auf diese Weise irgendwann einmal verlieren und einfach gute Arbeit leisten können. Auch wenn dieser Ausschuss nicht zustande kommen wird, haben Sie gute Möglichkeiten, als Fraktion in den Fachausschüssen mitzuarbeiten. Außerdem regieren Sie seit Jahren in zwei wichtigen deutschen Bundesländern, in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern. Wenn es Ihnen gelingt, in diesen beiden von Ihnen mitregierten Ländern gute Impulse für den Aufbau Ost zu setzen, die auch hier ankommen, leisten Sie das Beste, was Sie leisten können. Hier haben wir ein gemeinsames Anliegen. Insofern sind Sie herzlich willkommen. Arbeiten Sie ordentlich mit, aber lassen Sie in Zukunft solche Schaufensteranträge! ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Hilsberg, SPD-Fraktion.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele meiner Vorredner von der Koalition, aber dankenswerterweise auch von zwei Oppositionsfraktionen, haben gewichtige Gründe ins Feld geführt, die gegen die Einrichtung eines solchen Ausschusses sprechen. Ich will Ihnen von der PDS gerne konzedieren, dass es durchaus auch Argumente gibt - ({0}) - Ach, PDS, SED: Sie können sich noch so oft umbenennen; Sie bleiben der, der Sie sind. Daran ändert sich auch nichts. Insofern ist das kein Namensproblem. ({1}) Ich will aber trotzdem durchaus konzedieren - vielleicht nehmen Sie das als ein Zeichen, dass ich auf Sie zugehe -, dass es auch Argumente für einen solchen Ausschuss gibt. Gleichwohl muss ich sagen: In dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben, stehen diese Argumente gar nicht. Man hat nicht das Gefühl, es sei etwas Neues hinzugekommen. Es sind die alten Kamellen; es ist sehr ideologisch und klingt ein bisschen wie eine Jammerarie. Ich komme noch darauf zu sprechen. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass die Diskussionen, die vor drei Jahren zur Abschaffung des entsprechenden Ausschusses geführt haben, an Ihnen vorbeigegangen sind. Dafür kann man Verständnis haben. Sie waren die letzten drei Jahre nicht im Parlament. Sie werden jetzt wieder an den Diskussionen teilnehmen. Vielleicht werden auch Sie in einigen Jahren zu anderen Auffassungen kommen, als Sie sie hier vorgetragen haben. Es geht schlicht und einfach um folgenden Punkt: Auch wenn wir in Ostdeutschland nach wie vor gewichtige Probleme haben, die uns vor große Herausforderungen stellen, kann man weder aus der Koalitionsvereinbarung, die wir getroffen haben, noch aus der Arbeit der rot-grünen Koalition und unserer Bundesregierung in den letzten drei Jahren in irgendeiner Art und Weise den Vorwurf ableiten, Ostdeutschland habe keine Rolle gespielt. Das glatte Gegenteil davon ist der Fall. ({2}) Da kommt es nicht einfach nur auf ostdeutsche Minister an. Wer hat denn um den Risikostrukturausgleich zugunsten der ostdeutschen Krankenkassen gekämpft? Das war Ulla Schmidt. Sie kommt aus Aachen. Westlicher kann man gar nicht wohnen. Wer hat denn an den verschiedensten Stellen um die Infrastruktur gekämpft? Die entsprechenden Maßnahmen hat Kurt Bodewig veranlasst. ({3}) Da sind zusätzliche finanzielle Mittel bewegt worden. Er kommt aus Nordrhein-Westfalen. Gar keine Frage! Ohne diese Partnerschaft könnte doch die gesamte deutsche Einheit nicht gelingen. Auch darüber muss man sich völlig im Klaren sein. Wir Ostdeutschen müssen nicht die ganze Zeit „danke, danke“ sagen. Aber ein gewisses Gefühl von Dankbarkeit und gesamtdeutscher Verantwortung gehört doch dazu. ({4}) Wir wissen doch alle ganz genau, dass die ostdeutschen Probleme ohne ein gesamtdeutsches Herangehen in keiner Art und Weise zu lösen sind. Daran wird auch Ihr Schauantrag nichts ändern. Nun kann man Ihnen zugute halten, dass Sie in den letzten drei Jahren nicht da waren. Wenn es nach mir ginge, bräuchten Sie auch heute nicht hier zu sein. Aber der Wähler hat gesprochen; das ist zu akzeptieren, gar keine Frage. ({5}) Mich stört etwas - da wird man einen Verdacht nicht los -, wozu Sie diesen Ausschuss eigentlich haben wollen. Der Titel des Antrags spricht Bände: Einsetzung eines Ausschusses ... für die Angelegenheiten der neuen Länder - bis hierhin völlig d’accord und für andere strukturschwache Regionen Was meinen Sie eigentlich damit? Sind Sie etwa wirklich der Meinung, dass der gesamte Osten ein strukturschwaches Gebiet ist? Haben Sie niemals erfahren, dass wir in Ostdeutschland beispielsweise eine Infrastruktur haben, nach der sich selbst die Westdeutschen die Finger lecken? ({6}) Haben Sie nie begriffen, welch hohen europäischen Rang die Topregion Dresden zurzeit hat? Haben Sie nie erfasst, dass eine der Topregionen für Wissenschaft und Forschung das Gebiet Berlin/Brandenburg ist? Und da kommen Sie und sagen, das sei alles strukturschwache Region. Vor Ihnen muss man ja die Ostdeutschen in Schutz nehmen! Sie wissen gar nicht, mit wem Sie es da zu tun haben. ({7}) Natürlich haben wir eine Reihe von sehr schwierigen Problemen zu lösen. Ich erinnere an die Feinjustierung der Ärzteversorgung, den Ärztemangel. Ich erinnere an die GKV. Ich erinnere an die Heizkostenproblematik, die wir übrigens gerade zugunsten der ostdeutschen Kommunen gelöst haben; das ist nämlich dabei herausgekommen. Diese Fragen sind bei uns in der Tat bestens aufgehoben. ({8}) - Die Arbeitslosigkeit spielt eine große Rolle, Frau Enkelmann. Ich will ganz deutlich sagen: 20 Prozent Arbeitslosigkeit - inzwischen ist es etwas weniger, aber wie auch immer - sind zu viel. ({9}) - Da übertreiben Sie ein bisschen. Aber das ist nicht der Punkt. Von einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt spricht man erst bei 5 Prozent. ({10}) Dass dies ein Problem für die Menschen ist, die in Ostdeutschland leben, weiß jeder. Daraus kann man auch ersehen, was für eine Belastung sie nach wie vor haben. Die Hauptlast des Aufbaus in Ostdeutschland liegt nämlich bei den Ostdeutschen selbst. Das darf man an dieser Stelle nicht außer Acht lassen. Umso wichtiger und anerkennenswerter ist es, dass dort inzwischen Topunternehmen entstanden sind und dass dort riesengroße Leistungen erbracht wurden. All das darf man nicht schlecht reden. Ein ausgeglichener Arbeitsmarkt ist das aber nicht; das weiß jeder. Die Lösungen, die Sie vorschlagen, sind aber ideologische Ladenhüter, die mit ein bisschen Mottenpulver aufgepeppt wurden. Nichts anderes ist das. Dafür ist mir die Einrichtung eines Parlamentsausschusses viel zu schade. Anders ist das nicht zu werten. Der Rückgriff auf ein staatliches BeschäftigungsproStephan Hilsberg gramm - das schlagen Sie in Ihrem Programm vor - löst doch das Problem der Arbeitslosigkeit auch nicht. Im Gegenteil: Es würde die Probleme, die wir in Ostdeutschland haben, verschärfen. ({11}) Wir kommen nur weiter, wenn wir an der Investitionsoffensive festhalten. In Ostdeutschland brauchen wir zusätzlich 200 000 Industriearbeitsplätze als Kern. Auf diesem Gebiet sind viele Arbeitsplätze weggebrochen. Dafür gibt es Ursachen. Das muss auf völlig neuem Niveau wieder aufgebaut werden. Die in der Koalitionsvereinbarung beschlossene Verlängerung der Investitionszulage ist eines der wesentlichen Instrumente. Es kommt darauf an, Projekte, wie die Verlängerung der I-Zulage, auch zu realisieren. All das sind Probleme, bei denen Sie mit Ladenhütern, die Sie aus der ideologischen Mottenkiste herauskramen, und irgendwelchen Patentlösungen nicht weiterkommen. Sie werden, genauso wie wir, in der Sache hart arbeiten müssen, und zwar in den Fachausschüssen, dort wo es um Sozial- und Arbeitsmarktpolitik geht, wo es um KfW-Programme geht, wo es um Infrastrukturfinanzierung geht, nämlich im Haushaltsausschuss. Ich lade Sie wirklich ein: Arbeiten Sie diese handfesten Themen, die viel mit unseren Problemen zu tun haben, ab. Werden Sie konstruktiv. Mit Ideologie sind die Probleme Ostdeutschlands schon lange nicht mehr zu lösen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir haben eine Kurzintervention der Abgeordneten Petra Sitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Man kann über viele Dinge, die im Zusammenhang mit der Einrichtung dieses Ausschusses in den Beiträgen gesagt worden sind, nachdenken. Man kann darüber weiter diskutieren. Auf eines - insbesondere im letzten Beitrag ist das deutlich gesagt worden - möchte ich schon reagieren, nämlich dass die Vorschläge, die in unserer Fraktion entwickelt worden sind, ideologische Ladenhüter seien. Vor einigen Tagen hat der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit das Land Mecklenburg-Vorpommern besucht und sich die Ergebnisse angeschaut, die dort im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor erzielt worden sind. Sie wissen, dass im Land Mecklenburg-Vorpommern seit vielen Jahren darum gerungen wird, im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor Beschäftigung für Menschen zu schaffen, die sonst überhaupt keine Chance hätten. Am Ende dieses Besuches wurde festgestellt, dass Mecklenburg-Vorpommern gerade auf dem Sektor des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors wesentlich weiter sei und die Arbeitsmarktreformen sowie die Reformen, die die Bundesagentur infolge der Koalitionsvereinbarung anstrebt, begonnen werden sollten. Man stellte fest, dass man im Rest der Republik vom Nordosten der Bundesrepublik lernen könnte. Insofern möchte ich Ihre Interpretation von ideologischen Ladenhütern an dieser Stelle widerlegt wissen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Hilsberg, bitte.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Sitte, der Beitrag, den Sie gerade gegeben haben, spricht Bände. Sie verteidigen nicht nur Ihre Politik einer Reverstaatlichung der Instrumente des zweiten Arbeitsmarktes, sondern führen die Politik des Landes Mecklenburg-Vorpommern, die man viel stärker unter dem Begriff einer europäischen Arbeitsmarktpolitik subsumieren kann, als Nachweis wirklicher Reverstaatlichung an. Ich will das an zwei Punkten, die sehr klar sind, festmachen. Sie haben dem Mindestlohn das Wort geredet. Das stieß selbst bei Ihrem Partner WASG auf starke Kritik, weil er massive Verwerfungen zur Folge gehabt hätte. Das zeigt, dass die Widersprüche, in die Sie sich hineinbegeben, so tief gehen, dass selbst in Ihrer eigenen Fraktion große Diskussionen geführt werden. Wer die gesamten Mehraufwandsentschädigungen in steuerpflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandeln will, der will diese Form der Beschäftigung, die die Funktion einer Brücke in den ersten Arbeitsmarkt hat, in massenhafter Art und Weise um des ersten Arbeitsmarkts willen - auf dem zweiten Arbeitsmarkt dauerhaft - verstetigen. Sie tun so, als könnte man den Menschen damit eine Perspektive bieten. Das ist nichts anderes als die Verschleierung der Arbeitslosigkeit, die wir zu DDR-Zeiten auch gehabt haben. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/130 an den Ältestenrat vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 8 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 16/109 ({0}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes ({1}) - Drucksache 16/219 ({2}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) - Drucksache 16/245 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Ralf Brauksiepe bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/259 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Waltraud Lehn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksachen 16/162, 16/220 ({5}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6}) - Drucksache 16/253 - Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Grotthaus bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/260 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Waltraud Lehn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weichenstellung für eine Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer - Drucksache 16/241 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Bundesminister Franz Müntefering. ({9})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat zügig mit ihrer Arbeit begonnen. Heute haben wir einige Entscheidungen zu treffen, die einen ganz wichtigen Bereich, den Arbeitsmarkt, betreffen. Dabei geht es um Punkte, die in erheblichem Maße auch das Themenfeld berühren, über das in der letzten Stunde diskutiert wurde. Der Arbeitsmarkt ist für unsere Bemühungen, die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande zu sichern, ein sehr wichtiges Moment. Wir werden erleben, dass der Bundesrat die Gesetzentwürfe, die wir heute beschließen, in der nächsten Woche aufnehmen und ebenfalls beschließen wird, sodass die entsprechenden Gesetze bereits zum 1. Januar 2006 in Kraft treten können. Es geht darum, am Arbeitsmarkt Impulse zu setzen. Es geht um die finanzielle Planungssicherheit für die Städte und Gemeinden. Und es geht darum, was wir für die Arbeitslosen tun und wie wir die Handlungsfähigkeit der Kommunen sicherstellen können. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, müssen effizienter genutzt werden. Sie müssen, was die Zielführung und ihren Schwung angeht, modernisiert, zusammengefasst, gebündelt und wirkungsvoller ausgestaltet werden. Dazu haben wir innerhalb der Koalition einige Vereinbarungen getroffen. Einer unserer Ansatzpunkte ist, dass wir im Jahre 2006 eine „Initiative 50 plus“ starten werden, um auf sehr konzentrierte und gründliche Weise dafür zu sorgen, dass die Altersklasse 50 plus in unserer Gesellschaft in Zukunft größere Chancen am Arbeitsmarkt hat als heute. Die Gesetzentwürfe, die wir heute beschließen, sind Schritte, die dazu beitragen, dass die Bündelung dieser Aufgaben im Verlauf des Jahres 2006 besser als bisher organisiert werden kann. Die Dauer der Entgeltsicherung für Ältere, also der Zuzahlung zu den Lohnkosten bei niedrigen Gehältern, wird verlängert. Auch die Regelung hinsichtlich der Befreiung der Arbeitgeber von der Zahlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für neue Mitarbeiter über 55 Jahre wird verlängert. Die 58er-Regelung wird ebenfalls fortgeschrieben und die Weiterbildung Älterer kann auch in Zukunft gefördert werden. All das sind Punkte, die vernünftig sind und die wir im nächsten Jahr aufgreifen, wenn wir dieses Thema viel konzentrierter, umfassender und gründlicher angehen. Aber wir beschließen heute noch weitere Punkte: Die Bundesagentur für Arbeit soll auch in Zukunft eigenBundesminister Franz Müntefering ständige Träger für Eingliederungsmaßnahmen heranziehen und beauftragen dürfen. Die Ich-AGs laufen nicht zum 31. Dezember dieses Jahres aus, sondern sie werden bis zum 30. Juni 2006 fortgeführt. Im ersten Halbjahr 2006 wollen wir innerhalb der Koalition eine vernünftige Lösung für Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus finden. Wir wollen die verschiedenen Instrumente, die es bisher auf diesem Gebiet gibt, zusammenfügen und daraus eine gute und zielführende Lösung entwickeln. Die Personal-Service-Agenturen sollen nicht mehr zwingend flächendeckend aufgebaut werden müssen, sondern die BA ist beauftragt, dafür zu sorgen, dass Erfolg versprechende Ansätze dort, wo es sie gibt, weiter konkretisiert werden. ({0}) Es geht also um eine Palette von Vorhaben, die wir jetzt vor Jahresende schnell beschließen, damit wir im nächsten Jahr daran anknüpfen und unsere Arbeit fortführen können. In den letzten Tagen haben uns Nachrichten erreicht, dass größere und kleinere Unternehmen in Deutschland in hohem Maße Arbeitsplätze abbauen bzw. ihre Unternehmen ins Ausland verlegen wollen. Wenn man so etwas als verantwortlicher Minister liest - das geht Ihnen als Abgeordnete im Parlament sicherlich genauso -, wenn man konfrontiert wird mit der Sorge der Menschen vor Ort, dann muss man aufpassen, dass man nicht von einem Gefühl der Ohnmacht überwältigt wird. Das fällt schon schwer, aber wir dürfen uns da nicht irremachen lassen, wir dürfen uns die Zuversicht nicht nehmen lassen. Wir müssen im politischen Raum dafür kämpfen, dass Dinge wie im Moment konkret bei AEG in Nürnberg nicht mehr passieren: dass die Unternehmensleitung aus heiterem Himmel heraus mitteilt, einen Standort zu schließen und in ein anderes europäisches Land, in diesem Fall nach Polen, zu verlagern. Das ist zwar erlaubt, aber für die Menschen, die davon betroffen sind, ist das eine Katastrophe. So etwas kann Politiker nicht kalt lassen. ({1}) Deshalb muss man es ansprechen und deutlich machen, dass alle diejenigen, die in Deutschland an dieser Stelle Verantwortung tragen - auch in der Wirtschaft -, sich bewusst sind, dass Politik alleine diese Dinge nicht regeln kann. Vielmehr erwarten wir, dass die Unternehmen bei allen Hilfen, mit denen wir sie bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit unterstützen, ihrer unternehmerischen Aufgabe nachkommen. Diese bedeutet auch, da, wo es möglich ist, Arbeitsplätze an Ort und Stelle zu erhalten - mit den Menschen, mit denen zusammen man groß und manchmal auch reich geworden ist. Diese Erwartung muss einmal zum Ausdruck gebracht werden. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Müntefering, möchten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dirk Niebel zulassen?

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Bitte schön. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Minister Müntefering. Ich stimme Ihnen ja zu, insbesondere was die Ängste der Beschäftigten anbetrifft. Aber würden Sie mir dahin gehend zustimmen, dass es auch eine Frage der Rahmenbedingungen des Standortes Deutschland sein kann, ob sich ein Unternehmen hier oder woanders ansiedelt? Würden Sie mir weiter zustimmen, dass die Nordeuropäische Gaspipeline, bei der der Bundeskanzler a. D. Herr Schröder Aufsichtsratsvorsitzender werden soll, vielleicht auch wegen der schlechten Rahmenbedingungen ihren Sitz nach Zug verlegen wird? ({0})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Ich will ganz ernsthaft auf Ihre Frage eingehen, Herr Niebel. Dass wir als Politiker helfen müssen, dass die Unternehmen in Deutschland wettbewerbsfähig sind, ist wahr. Was die SPD in der rot-grünen Koalition alles getan hat - Senkung der Körperschaftsteuer, der Einkommensteuer usw.; gegen manche Kritik -, wissen Sie alle. Wir haben heute in Deutschland eine Unternehmensbesteuerung, die so niedrig ist, wie sie noch nie gewesen ist. Trotzdem erleben wir, dass uns andere europäische Länder mit einer noch niedrigeren Unternehmensteuer Konkurrenz machen. ({0}) - Was heißt „eben“? Wir müssen in Europa - auch im Rahmen des Gipfels, der ab heute stattfindet - miteinander eine gemeinsame Steuerpolitik anstreben, zumindest was die Bemessungsgrundlagen angeht. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass Europa gelingt. Was aber nicht geht - das sage ich ganz klar; da sind wir alle uns einig, auch in dieser Koalition -, ist, dass wir die Steuern senken, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die Nachbarländer daraufhin ihre noch weiter senken, von uns aber erwarten, dass wir mehr in die europäische Kasse zahlen, aus der sie gefördert werden. Das geht nicht. Steuerdumping und Lohndumping gehen nicht. Diese Position ist auch im Interesse unseres eigenen Landes vernünftig. ({1}) Ein zweites großes Thema haben wir heute auf der Tagesordnung, das im Interesse unseres Landes wichtig ist und das wir zur Beschlussfassung bringen. Es geht um die Kosten für Unterkunft und Heizung für Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Vereinbart ist, dass die Kommunen diejenigen Sozialhilfeempfänger, die jetzt Arbeitslosengeld-II-Empfänger geworden sind, nicht mehr finanzieren müssen. Das bedeutet für die Kommunen eine riesige Ersparnis. Dafür sollen sie die Wohnkosten zahlen. Diese Wohnkosten sind aber so hoch, dass zu vermuten ist, dass die Kommunen nicht die 2,5 Milliarden Euro übrig behalten würden, die wir ihnen zugesagt haben, wenn sie die Wohnkosten voll übernehmen. Also ist damals im Vermittlungsausschuss vereinbart worden, dass der Bund einen Zuschuss von 29,1 Prozent übernimmt. Die haben wir gezahlt und wir haben vereinbart, in diesem Zusammenhang eine Revision durchzuführen. Das ist versucht worden, doch dazu liegen jetzt unterschiedliche Zahlen vor. Darüber ist diskutiert worden. Als Ergebnis haben wir vereinbart, ins Gesetz aufzunehmen: 2005 und 2006 erhalten die Kommunen 29,1 Prozent Zuschuss zu den Wohn- und Heizungskosten, die sie zahlen. Es wird keine weitere Revision geben. Die Kommunen haben Planungssicherheit. Damit ist erreicht, dass über den 1. Januar 2006 keine Vakanz und keine Irritationen entstehen. Das war für uns ein ganz wichtiges Argument, es letztlich so zu machen. Der Bund kommt in seinen Berechnungen auf ein ganz anderes Ergebnis als die Länder und die Kommunen, was die tatsächliche Entlastung bzw. Belastung angeht. Ich kann das nicht objektiv entscheiden. Ich sage nur: Das Gesetz hat insofern eine Schwäche - das müssen wir uns alle miteinander anrechnen lassen -, als es die Entlastung der Kommunen nicht in Euro und Cent sichtbar macht. Es gibt nur Schätzansätze. Diese Schätzansätze machen es schwierig, zu einer gemeinsamen Regelung zu kommen. Also haben wir gesagt: Wir stellen für 2005 und 2006 klare Regeln auf und legen den Zuschuss auf 29,1 Prozent fest, ohne dass eine Revision stattfindet. Im Jahre 2006 machen wir dann ein neues Gesetz, in dem wir diese Problematik für das Jahr 2007 und die folgenden Jahre regeln, sodass wir nicht jedes Jahr eine Revision machen müssen. Ich glaube, das ist alles in allem eine vernünftige Lösung. Wir auf Bundesseite haben den Eindruck, dass wir zu viel zahlen und dass die Kommunen mehr übrig behalten als die 2,5 Milliarden Euro. ({2}) Es gibt natürlich Kommunen, die ein Minus machen, wie es auch Kommunen gibt, die einen Vorteil haben. Auch das ist ein Problem des Gesetzes, dass man das nicht gerecht auf die Kommunen, die einzelnen Städte und Landkreise verteilen kann. Je nachdem, wie die Bedingungen sind, wirkt sich dieses Gesetz unterschiedlich aus. Das ist eine Aufgabe der Länder in diesem wie im nächsten Jahr. Die Aufforderung an die Länder lautet: Sie müssen versuchen, horizontal besser als bisher zwischen den Kommunen, die Vorteile haben, und den Kommunen, die Nachteile haben, auszugleichen. Die Kommunen, die Nachteile haben - diese gibt es -, haben sich bei uns wie auch sicherlich bei Ihnen auf sehr energische Art gemeldet. Die Kommunen, die Vorteile haben, haben sich natürlich nicht gemeldet. Das ist menschlich, das verstehe ich auch. Das kann aber nicht bedeuten, dass der Bund auf ewige Zeit mehr zahlt. Unser Gefühl ist, dass wir in diesem Jahr deutlich zu viel bezahlen. Auch im nächsten Jahr wird das der Fall sein. Die Größenordnung von 1 bis 1,3 Milliarden Euro, um die es zum Schluss ging, ist schon ein dicker Brocken, auch für den Bundeshaushalt. Deshalb kann das im nächsten Jahr nur eine einmalige Zahlung sein. Dann müssen wir neue Klarheit schaffen. Das, was wir machen, ist zum Nutzen der Kommunen und zum Nutzen der Arbeitslosen. Sie können erwarten, dass sich Bund, Länder und Gemeinden nicht in irgendeinem Streit verhakeln, sondern dass sie das Ganze handlungsfähig halten und dafür sorgen, dass sie vermittelt und dass Qualifikationen angeboten werden können, indem die Kommunen finanzierungsfähig bleiben. Zweierlei muss allerdings noch gesagt werden. Nachdem wir hier positiv entscheiden werden und der Bundesrat sicherlich auch, habe ich die Erwartung an alle Länder, dass sie alle Vorteile, die sie durch den Zuschuss zum Wohn- und Heizungsgeld erhalten, an die Kommunen weitergeben. ({3}) Das sind erkennbar mehr als die 1,72 Milliarden Euro. Alle Ländervertreter haben mir unter vier Augen auch gesagt, dass es stimmt, dass die Länder ein gutes Geschäft machen. Deswegen sage ich den Ländern: Gebt das Geld an die Kommunen weiter! An die Kommunen richte ich folgende Bitte - ich denke, das kann ich auch im Auftrag dieses Hauses sagen -: Die Zusage, dass sie 2,5 Milliarden Euro übrig behalten sollen, hing damit zusammen, dass wir sie aufgefordert haben, mehr für die Betreuung der Kinder im vorschulischen Alter zu tun. Wenn nun 2,5 Milliarden Euro bei den Kommunen landen - vermutlich sind es mehr als 2,5 Milliarden Euro -, dürfen wir aber auch erwarten, dass die Kommunen diese 2,5 Milliarden Euro oder mehr für die Betreuung der ganz Kleinen im vorschulischen Alter, für Krippenplätze, für Ganztagskindertagesstätten und alles, was damit zusammenhängt, einsetzen. Sie müssen das Geld für Investitionen vor Ort verwenden. ({4}) In den Kommunen gibt es unendlich viel zu tun. Viele Arbeitsplätze können im Handwerk geschaffen werden, wenn das für die kleinen und mittleren Unternehmen mit niedrigen Losen ausgeschrieben wird. Sie sind unmittelbar am Ort einsetzbar. Das Gesetz insgesamt ist für uns schwierig, weil es so kostenträchtig ist. Für die Arbeitslosen und die KommuBundesminister Franz Müntefering nen bedeutet es aber sicherlich eine Entlastung. Jedenfalls ist sichergestellt, dass über den 1. Januar hinaus diese Maßnahmen in vernünftiger Weise fortgeführt werden können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau eingehalten. Wir vom Präsidium wünschen uns das. Der Nächste, der das probieren kann, ist der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei Betrachtung des Gesetzespaketes, das wir heute beraten, muss ich sagen: Der 15. Dezember 2005 ist ein schwarzer Tag für die älteren Arbeitslosen in Deutschland. ({0}) Diese Menschen, 58, 59 oder 60 Jahre alt, die oft durch den Konkurs ihres Arbeitgebers ihren Arbeitsplatz verloren haben, hatten gehofft, nach der Bundestagswahl werde sich am Arbeitsmarkt etwas zu ihren Gunsten ändern. Sie sehen sich bitter enttäuscht. Denn im ersten arbeitsmarktrelevanten Gesetzgebungsvorhaben, das Sie vorlegen, Herr Minister Müntefering, wird mit der Verlängerung der so genannten 58er-Regelung ein klares Signal an diese Arbeitslosen gesendet. Die bittere Botschaft lautet: Ihr werdet nach wie vor nicht gebraucht. ({1}) Herr Müntefering, das ist aus unserer Sicht ein Skandal. Anstatt sich unverzüglich an die Arbeit zu machen - die Chance haben Sie ja gehabt - und die bestehenden Zugangsbarrieren für ältere Menschen mit einem Eilgesetz abzubauen, wird der Status quo, bei dem ältere Arbeitslose ausgegrenzt werden, einfach verlängert. Ich will hier für die Freie Demokratische Partei sehr deutlich sagen: Wir machen das nicht mit. Ihnen geht es um die Statistik, die nicht belastet werden soll, ({2}) uns geht es um die Menschen, die eine Chance erhalten sollen und müssen, weil es am Ende auch eine Frage der Menschenwürde ist, ob man Ältere einfach aussondert und statistisch entsorgt. Deswegen hat die FDP heute einen Antrag mit dem Ziel vorgelegt, die erfolgreiche Integration der älteren Menschen in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Strukturelle Maßnahmen, durch die eine Ausgrenzung unterstützt wird, müssen beseitigt werden. Die Frühverrentungsmodelle und die 58er-Regelung müssen auslaufen. Auch beim Kündigungsschutz müssen wir etwas tun. Das ist ein heißes Eisen, aber wir dürfen es nicht übersehen. Das Kriterium Alter muss aus der Sozialauswahl herausgenommen werden. Ältere Arbeitnehmer sind auch danach - jedenfalls dann, wenn sie lange bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind - durch das Kriterium „Dauer der Betriebszugehörigkeit“ weiterhin ausreichend geschützt. ({3}) - Das ist kein Hohn. Wir können darüber ja diskutieren. Sie müssen sich auch einmal in den Unternehmen umhören, wie die Einschätzungen dort darüber sind, ({4}) was Herr Pofalla, der heute wieder einmal bei einer wichtigen arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht hier ist, als größte Reform des Kündigungsschutzgesetzes bezeichnet hat. In den Betrieben herrscht Fehlanzeige. Das wird nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Ein Politikwechsel in der Arbeitsmarktpolitik, der Voraussetzung für mehr Arbeitsplätze gewesen wäre, findet damit nicht statt. ({5}) Damit komme ich nach dem Gesetz zur Änderung des SGB III zu einem weiteren wichtigen Gesetz, nämlich zum Gesetz zur Änderung des SGB II, mit dem heute die Revisionsklausel sozusagen vorübergehend befriedet werden soll. Ich will für meine Fraktion sagen, dass wir dem Gesetzentwurf in der Sache zustimmen werden, da die Kommunen eine verlässliche Planungsgrundlage für die Haushalte brauchen. Man muss aber feststellen: Die Revisionsklausel, auf die sich die große Koalition damals schon geeinigt hatte, ist bereits im ersten Fall ihrer Anwendung - im ersten Testfall, im ersten Ernstfall - gescheitert. Das ist ein Beleg mehr dafür, dass die FDP damals richtig lag, als sie das Optionsgesetz als einzige Fraktion im Deutschen Bundestag abgelehnt hat. ({6}) Wenn wir in der Sache auch zustimmen, so kritisieren wir das Verfahren doch sehr nachdrücklich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, in kaum mehr als 24 Stunden wurde hier ein Gesetz gemacht. Das darf in diesem Hohen Hause nicht einreißen. Das Parlament ist nicht das Notariat der Regierung. Dass eine Lösung in Kommissionen und in außerparlamentarischen Arbeitskreisen gefunden wurde, macht die parlamentarische Kontrolle nicht obsolet. Im Gegenteil: Ich meine, gerade dann muss man genau hinschauen. Wir müssen darauf bestehen, in Ruhe einen Blick auf Gesetzesvorhaben werfen zu können. Wir reden hier konkret immerhin über eine Belastung des Bundeshaushaltes von 3,5 Milliarden Euro, die bislang nicht eingeplant waren. Ob die Zahlen, die nach wie vor frei aus der Luft gegriffen sind, am Schluss tragen, bleibt auch noch abzuwarten. ({7}) Herr Minister, die Chance ist leider vertan. Sie hätten einen furiosen Start hinlegen können, wenn Sie heute hierher gekommen wären und gesagt hätten: Wir haben bisher Fehler gemacht, die Arbeitslosigkeit der Älteren in Deutschland ist zu hoch, wir machen einen neuen Ansatz. - Das war nicht Ihre Politik. Das „Weiter so!“, das Sie hier vorgetragen haben, wird jedenfalls nicht zum Erfolg führen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben es sich zum Ziel gesetzt, zum einen die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern und auf der anderen Seite den Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, Unterstützung zu geben, um wieder in den Arbeitsprozess zurückzufinden. Wir beschließen heute zwei Gesetze, die wichtig sind und die ein positives Signal für den Arbeitsmarkt in Deutschland in genau dieser Richtung darstellen. ({0}) Ich will zu dem Thema SGB-II-Änderungsgesetz nur wenige Worte verlieren; der Kollege Müller wird darauf ausführlicher eingehen. Die Botschaft dieses Tages ist: Die große Koalition hält gegenüber den Kommunen Wort. Die versprochene Entlastung, so schwer sie uns finanziell vom Bundeshaushalt her fällt, kommt. Wir schaffen für die Kommunen Planungssicherheit. ({1}) Dies geschieht in der Tat in einem Verfahren, das die große Ausnahme bleiben muss. Ich möchte mich herzlich bei all denen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Ich möchte mich auch ausdrücklich bei der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen bedanken, die dabei sehr kooperativ war. ({2}) Ich möchte ausdrücklich sagen: Herr Kollege Kolb, Sie haben im federführenden Ausschuss bei Ihren eigenen Ausschusskollegen eine denkbar knappe Mehrheit für Ihren Antrag gehabt, die Entscheidung ins nächste Jahr zu verschieben. Zwei von ihnen waren dafür, der Kollege Haustein war dagegen und hat sich als Bürgermeister einer Gemeinde dafür bedankt, dass wir dafür sorgen, den Kommunen in diesem Jahr Planungssicherheit zu geben. Da, wo es die große Koalition tun kann, hilft sie schnell. Ich bin allen dankbar, dass dies möglich gewesen ist. ({3}) Dies ist mir im Übrigen nicht nur wegen der Planungssicherheit für die Kommunen wichtig. Ich sage für unsere Fraktion - ich denke, das gilt für die SPD-Fraktion genauso -: Wir haben die Hartz-IV-Reform nicht in erster Linie deswegen gemacht, um die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern um die Vermittlung von arbeitslosen Menschen in Arbeit zu effektivieren, um die Chancen der Menschen, in Arbeit zu kommen, zu verbessern. Es ist wichtig, dass wir uns, nachdem diese Finanzbeziehung geklärt ist, wieder darauf konzentrieren können. Das erwarten die Menschen mit Recht von uns. Das gehen wir nun mit voller Kraft an. ({4}) Das ist auch der Sachzusammenhang zwischen den beiden Gesetzen, die wir beraten. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Arbeitsmarktpolitik kann nur in begrenztem Maße helfen, Menschen in Arbeit zu bringen. Dazu brauchen wir auch andere Maßnahmen. Es ist gut, dass wir im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik schon heute Morgen Beschlüsse gefasst haben, die uns dabei helfen werden und die die Lage für die Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Das, was Arbeitsmarktpolitik daneben leisten kann, um Menschen in Arbeit zu halten - besser: sie wieder in Arbeit zu bringen -, soll sie auch leisten. Das ist auch das, was wir uns mit dem fünften SGB-III-Änderungsgesetz vorgenommen haben. Wir verlängern damit die Geltungsdauer mehrerer Maßnahmen - der Minister hat es zu Recht angesprochen -, die sich vor allem an ältere Arbeitslose richten, die leider auf dem deutschen Arbeitsmarkt bisher viel zu geringe Chancen haben. Gleichzeitig leisten wir einen notwendigen ersten finanziellen Konsolidierungsbeitrag. Ich will im Zusammenhang mit dem Instrument der Ich-AG sagen: Wir verlängern diese Maßnahme um ein halbes Jahr; das ist richtig. Aber klar ist auch: Wir werden die beiden Instrumente zur Förderung der Selbstständigkeit von bisher Arbeitslosen, das heißt das Instrument der Ich-AG und das Überbrückungsgeld, zusammenführen. Für mich war in der Anhörung, die wir im federführenden Ausschuss durchgeführt haben, erkennbar: Dies sollte mehr in die Richtung des bisherigen Überbrückungsgeldes gehen. Wichtig ist auch, dass die Agenturen einen Ermessensspielraum haben, um teure Mitnahmeeffekte zu vermeiden, die wir in diesem Bereich bisher gehabt haben. Wichtig ist auch, dass die zwingende Einrichtung von Personal-Service-Agenturen in jedem Arbeitsagenturbezirk beendet wird. Dort, wo sich diese Maßnahme bewährt hat, soll sie weiterlaufen. An anderen Stellen - ich denke, das sind die meisten - kann das bisher dafür verwendete Geld sinnvoller ausgegeben werden. Ich bin der SPD-Fraktion dankbar, dass sie das mitgemacht hat. Für uns ist das relativ einfach gewesen. Wir haben diese Instrumente, zum Beispiel die Personal-Service-Agenturen und auch die Ich-AG, immer für falsch gehalten. Für die SPD ist dies aber schwieriger; denn sie hatte Hoffnungen bezüglich dieses Projekts, die sich nicht erfüllt haben. Trotzdem ist sie jetzt bereit, einen neuen Weg mitzugehen. Ich bin dankbar, dass wir uns gemeinsam auf diesen Weg gemacht haben. ({5}) Ich will etwas zu der 58er-Regelung sagen. ({6}) - Herr Kollege Kolb, das, was Sie hier erzählt haben, hat mit der Realität auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland leider überhaupt nichts zu tun. ({7}) Ich bekenne mich dazu: Auch nach drei Wochen der Bundesregierung unter Angela Merkel ist es leider noch so, dass 58- und 59-Jährige so gut wie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Das haben wir in drei Wochen nicht ändern können. Das ist leider so. ({8}) - Herr Kolb, ich sage Ihnen als Nichtjurist - auch ich habe mir das aneignen müssen -: Gelegentlich hilft Nichtjuristen wie Juristen ein Blick ins Gesetz. Reden wir über die Vorschrift, deren Geltungsdauer wir verlängern wollen, § 428 und den möglichen Bezug von Arbeitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen. Was heißt denn das? Anspruch auf Arbeitslosengeld … haben auch Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben und die Regelvoraussetzungen … allein deshalb nicht erfüllen, weil sie nicht arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen wollen, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Ich frage Sie angesichts der Realität des Arbeitsmarktes in Deutschland: Welche Möglichkeiten haben denn 58- oder 59-Jährige heutzutage, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden? Sie reden doch an der Realität vorbei. Die Menschen haben so gut wie keine Chance mehr. Deswegen ist es richtig, dass wir der Realität ins Auge sehen. Das hat mit Frühverrentungsanreizen - darauf komme ich noch zu sprechen - nichts zu tun. Wir verlängern die Geltungsdauer einer Regelung, die sich auf das Verhältnis zwischen dem älteren Arbeitslosen und der Arbeitsverwaltung konzentriert. Wir sorgen dafür, dass sich die Arbeitsverwaltung auf diejenigen konzentrieren kann, die bessere Chancen haben, in Arbeit vermittelt zu werden. Kein arbeitsloser 58- oder 59-Jähriger muss zu dem Schluss kommen, mit der Arbeitsverwaltung nichts mehr zu tun haben zu wollen. ({9}) Jeder kann sämtliche Leistungen des Arbeitsmarktes in Anspruch nehmen. Aber wir wollen nicht Menschen mit Maßnahmen überhäufen, die sie als Drangsalieren oder Schikane empfinden müssen, weil sie wissen, dass sie bei der heutigen Arbeitsmarktlage keine Chance haben, eine Beschäftigung zu finden. Dieser Realität haben wir uns zu stellen und diesem Zweck dient die befristete Verlängerung der Geltungsdauer der Vorschrift. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb zuzulassen?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich stimme Ihnen in der Einschätzung, dass 58- oder 59-Jährige heutzutage - nach fünf Jahren konjunktureller Schwäche - Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben, durchaus zu. Aber das ist auch darauf zurückzuführen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen ihnen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erschweren. ({0}) Deswegen frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, dass es nicht genügt, die Symptome zu korrigieren, sondern dass man die Lösung des Grundproblems angehen muss? Dabei stellt sich die Frage, wie aus der Sicht der Unternehmen - das mag einigen von Ihnen nicht gefallen, aber letztlich kommt es darauf an - die Chancen für ältere Arbeitnehmer, Beschäftigung zu finden, verbessert werden können. Stimmen Sie mir darin zu? ({1}) Ich habe eine zweite Frage. Stimmen Sie mir auch darin zu, dass es mit der Freiwilligkeit im Zusammenhang mit der Regelung des § 428 SGB III so eine Sache ist? In der Praxis kommt es bei der Bundesagentur für Arbeit vor - davor darf man nicht die Augen verschließen -, dass ältere Arbeitslose in Richtung einer statistisch nicht mehr relevanten Arbeitslosigkeit geschoben werden. Das ist doch Realität. ({2}) Ich gehe davon aus, dass Sie genau wie ich die Fakten vor Ort zur Kenntnis nehmen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie dann hier eine andere Sprache sprechen. ({3})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Herr Kollege, weil das, was Sie ausgeführt haben, mit der Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt nichts zu tun hat. Sie tun so, als würden die Arbeitsvermittler auf Bergen von Beschäftigungsangeboten für 58- oder 59-Jährige sitzen und sich weigern, diese Angebote zur Verfügung zu stellen. Das ist nicht der Fall. Das hat damit nichts zu tun, Herr Kollege Kolb. ({0}) Ich will noch etwas zu der Gesetzeslage anmerken, weil Sie die derzeitigen und die zukünftigen Rahmenbedingungen angesprochen haben. Mit Stand vom Dezember 2005 hat der 58-jährige Arbeitslose in der Tat einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I für die Dauer von 32 Monaten und kann mit 60 Jahren aus der Arbeitslosigkeit heraus in Rente gehen. Das heißt, er kann diesen Zeitraum überbrücken. Bisher gibt es in der Tat noch einen entsprechenden Frühverrentungsanreiz. ({1}) In zwei Jahren - im Dezember 2007 -, wenn die von uns jetzt verlängerte Geltungsdauer der Regelung des § 428 ausläuft, dann hat ein 58-Jähriger, der dann arbeitslos wird, 18 Monate lang Anspruch auf Arbeitslosengeld. ({2}) Er kann mit 63 Jahren in Rente gehen und muss dreieinhalb Jahre überbrücken. Es gibt dann keinen Frühverrentungsanreiz mehr. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Sie beklagen, gibt es dann nicht mehr. Das ist die Rechtslage. ({3}) Von daher ist es richtig, dass Fehlanreize und Fehlsteuerungen wie Frühverrentungsanreize abgebaut werden müssen. Das ist auch der Fall. Die Regelung in der Fassung, deren Geltungsdauer wir jetzt verlängern, nimmt Rücksicht auf die Realität des Arbeitsmarktes und bedeutet keinen zusätzlichen Anreiz zur Frühverrentung. Deswegen führen wir diese Maßnahme für zwei Jahre durch. In diesen zwei Jahren - das haben wir uns vorgenommen und das werden wir auch umsetzen - werden wir sämtliche Maßnahmen der Arbeitsförderungspolitik überprüfen und das Instrumentarium effektiver gestalten. ({4}) Wir werden es in zwei Jahren mit anderen Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben als jetzt. Dann ist eine Regelung entbehrlich, auf die wir sinnvollerweise jetzt noch in Form einer Verlängerung zurückgreifen. ({5}) Wir werden mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf gleichzeitig die Dauer der Übergangsregelung im Arbeitszeitgesetz um ein Jahr bis Ende 2006 verlängern. Das bedeutet nicht, dass wir mit dieser Regelung glücklich sind. Wir wissen, dass dies für die Kliniken, die sich in Tarifverträgen an die europarechtlich vorgegebene geänderte Rechtslage angepasst haben, eine schwierige Situation ist. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen - auch das hat aus meiner Sicht die Anhörung im federführenden Ausschuss ergeben -, dass die Tarifvertragsparteien noch nicht so weit sind, dass es zu verantworten wäre, schon zum jetzigen Zeitpunkt zwingend das zu geltendem Recht zu machen, worauf man sich in Europa verständigt hat und was wir zum 1. Januar 2007 zum Gesetz machen. Die Botschaft an die Betroffenen ist also ganz klar: Es gibt eine Verlängerung um ein Jahr. Wir erwarten dann, dass alle Tarifverträge so geändert sind, dass die europäische Regelung greifen kann.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Anja Hajduk zuzulassen?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte, Frau Hajduk.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege Brauksiepe, wir sprechen in dieser Beratung über die Verlängerung der Geltungsdauer diverser Arbeitsmarktinstrumente. Habe ich Sie richtig verstanden - wenn ja, möchte ich das von Ihnen bestätigt wissen -, dass die große Koalition bei der Verlängerung der Geltungsdauer der so genannten 58er-Regelung ausdrücklich darauf verzichtet, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 32 Monate zu verlängern - das stand einmal in Rede; Rot-Grün hatte das beschlossen; dazu hatte ich damals eine durchaus kritische Erklärung zu Protokoll gegeben; die Verlängerung über Februar 2006 hinaus war dann im Bundesrat hängen geblieben -, und zwar im Hinblick darauf, dass man dann ab 2007 ein Potenzial in Höhe von mehreren Milliarden Euro im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit hat, um die Lohnnebenkosten zu senken? Ich möchte das nur noch einmal klargestellt wissen; denn auch aus den Reihen der Union wurde im Vorwahlkampf eine Änderung der Gesetzeslage, also eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I als zwölf bzw. 18 Monate, vehement gefordert. Ich stelle fest, dass die große Koalition auf eine Verlängerung der Bezugsdauer verzichtet. Sind wir uns einig, wenn ich festhalte, dass das die Position ist, die Sie nun für richtig halten?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin mit Ihnen insoweit einig, als Sie sich auf das beziehen, was im Koalitionsvertrag steht. ({0}) Wir haben uns darauf verständigt, ab 1. Februar 2006 die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf zwölf bzw. 18 Monate für über 55-Jährige und den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung zu senken. So ist in der Tat die Lage. Dabei spielt es in der Rückbetrachtung keine Rolle mehr, dass wir das im Wahlkampf gefordert haben. Nun haben wir uns darauf gemeinsam verständigt. Das werden wir auch machen. Bei der Bundesagentur für Arbeit sind Einsparungen zu erbringen. Natürlich geht es darum, die entsprechenden Maßnahmen umzusetzen; denn wir wollen mit dem Senken der Lohnnebenkosten in der Tat Ernst machen. Auch wenn wir uns größere Schritte gewünscht hätten, werden wir auf jeden Fall eine Beitragssatzsenkung um zwei Punkte vornehmen, wenn wir das darstellen können. Natürlich gehört in diesen Zusammenhang auch die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass es sich hier nicht um beispiellosen sozialen Kahlschlag handelt. Schließlich betrug bis zum Jahr 1985 die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes maximal zwölf Monate. Nun wird die Bezugsdauer bei maximal 18 Monaten liegen. Das ist eine sinnvolle Maßnahme; dazu bekennen wir uns. Das werden wir gemeinsam machen, auch um die Lohnnebenkosten zu senken. ({1}) Was wir heute auf den Weg bringen - darüber muss man sich im Klaren sein -, kostet auch Geld, insbesondere das, bei dem wir gegenüber den Kommunen im Wort sind. Die heutigen Beschlüsse haben wir zwar schnell, nur wenige Wochen nach der Regierungsbildung, gefasst. Aber das, was wir dem Parlament heute vorlegen, kann nur der Auftakt der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sein, die wir in den nächsten Jahren ergreifen werden. Das bezieht sich auf das SGB III und das SGB II gleichermaßen. Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Angesichts des großen Konsolidierungsbedarfs im Haushalt - der durch die neuen Gesetze ja nicht geringer wird - werden wir darauf achten müssen, dass wir auch die Maßnahmen ergreifen, die kein Geld kosten. Das bedeutet beispielsweise die Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Gesetzes zur Änderung des Kündigungsschutzes. Das werden wir in nächster Zeit angehen, und zwar in der Weise, wie wir es im Koalitionsvertrag angekündigt haben. Der Minister hat bereits in der Debatte anlässlich der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin darauf hingewiesen. Natürlich werden wir angesichts des Konsolidierungsbedarfs, den wir haben, nicht darum herumkommen, auch die Korrekturen anzupacken, die wir uns bei Hartz IV vorgenommen haben. Der Einsparungs- und Konsolidierungsbedarf im Haushalt muss gedeckt werden. ({2}) Wir haben die absurde Situation, dass wir für die Menschen, um die es hier geht und denen wir helfen wollen, sehr viel mehr Geld ausgegeben haben als je zuvor. Die Kosten hatte man in der Vergangenheit nicht im Griff. Gleichzeitig wird in vielen Teilen der Bevölkerung der Eindruck erweckt, das wäre der soziale Kahlschlag. Das Gegenteil ist der Fall! Bei allen Härten, die für viele Menschen in Einzelfällen damit verbunden sind, ist es so, dass für die Menschen mehr Geld ausgegeben worden ist als in der Vergangenheit. Wir werden gemäß dem, was Bundeskanzlerin Angela Merkel völlig zu Recht in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, zu Korrekturen und Einsparungen kommen müssen: Es muss verhindert werden, dass Schwache keine Leistungen bekommen. Den Schwachen muss geholfen werden. Es muss aber auch verhindert werden, dass Starke sich erfolgreich als Schwache tarnen können und Leistungen beziehen, die sie nicht brauchen und auf die sie keinen Anspruch haben. - Das muss angegangen werden. ({3}) Das wird noch harte Maßnahmen erfordern. Wir haben uns aber gemeinsam darauf verständigt. Das wird eine Aufgabe für die Regierungskoalition, aber auch für die Länder und Kommunen und hoffentlich auch für eine verantwortungsvolle Opposition sein. Ich glaube, dass auch die Bundesagentur für Arbeit mit den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, auf dem Weg ist, ein effizienterer Partner zu werden, als sie es in der Vergangenheit war. Es ist klar, dass wir auch in Zukunft auf eine entsprechende Arbeit der Bundesagentur angewiesen sind, wenn es gelingen soll, nicht nur den Satz des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu senken, sondern auch zu einer besseren Vermittlung von Menschen in Arbeit zu kommen. Deswegen werden wir als Regierungskoalition uns ehrlich bemühen, die zahllosen und komplizierten Instrumente, die es im Moment in der Arbeitsförderung noch gibt, zu durchforsten, um bürokratischen Ballast auch für die BA zu beseitigen und den Vermittlern und Beratern in den Arbeitsagenturen den notwendigen Entscheidungsspielraum zu geben, den sie vor Ort für eine effektivere Arbeitsmarktpolitik brauchen. Also, es liegt noch viel vor uns. ({4}) Wir sind erst drei Wochen an der Regierung. In den drei Wochen haben wir gemeinsam eine Menge geschafft. Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die dabei mitgemacht haben! Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Werner Dreibus von der Fraktion Die Linke. ({0})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Weihnachten sollte eigentlich die Zeit froher Botschaften sein. ({0}) Das denken wir jedenfalls und das ist es auch für viele Menschen. Für 32 000 Beschäftigte der Telekom, wie wir diese Woche erfahren haben, für 1 750 Beschäftigte der AEG in Nürnberg und für viele Tausende von Beschäftigten in anderen Unternehmen wird das Fest der Freude wohl auch in diesem Jahr ein Fest - wenn überhaupt - existenzieller Sorgen sein. Ich betone: existenzieller Sorgen. Auch der Minister hat in seiner Erklärung zu Recht davon gesprochen. Was tut die Koalition, so fragen wir uns, in dieser Situation von angekündigten Massenentlassungen und steigender Arbeitslosigkeit? ({1}) Sie legt einen Gesetzentwurf zum SGB III vor, der aus unserer Sicht arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vorsieht, die dem Problem der Massenarbeitslosigkeit in keiner Weise gerecht werden. ({2}) Was brauchen die betroffenen Menschen, die Beschäftigten, eigentlich? Sie brauchen erstens eine angemessene soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit. ({3}) Sie brauchen zweitens Weiterbildungs- und Vermittlungsangebote - je älter, je mehr -, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich verbessern. ({4}) Sie brauchen drittens - auch darüber müssen wir im Zusammenhang mit diesem Artikelgesetz reden - Arbeitsschutzbestimmungen, die ihnen ein menschenwürdiges Arbeiten ermöglichen. ({5}) In allen drei Belangen war aus unserer Sicht die Politik der alten Bundesregierung mangelhaft. Die verlor auch deshalb ihre politische Mehrheit. ({6}) Nun versuchen die neue Bundesregierung und die neue Mehrheit, das Falsche dadurch zu bekämpfen, dass sie die Dosis der falschen Medizin noch erhöhen, jedenfalls im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. ({7}) Für andere Bereiche wie Steuerpolitik und Finanzpolitik gilt das ebenso. Ich will Ihnen dafür, bezogen auf den vorliegenden Gesetzentwurf, drei Beispiele nennen: Erstens. Was ist an dem Vorhaben sinnvoll, die Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für Ältere beizubehalten? Ältere haben in der Regel tatsächlich lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Gleichzeitig haben sie besonders geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Realität ist nun einmal so, auch wenn Herr Kolb versucht, das ideologisch zu rechtfertigen. ({8}) Wir meinen, Ältere haben ein Recht - ich sage an dieser Stelle ganz ausdrücklich: ein Menschenrecht - auf einen deutlich längeren Bezug von Arbeitslosengeld als jüngere Menschen. ({9}) Es ist arbeitsmarktpolitisch notwendig, die schlechteren Vermittlungsaussichten der älteren Arbeitslosen durch eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zumindest ansatzweise zu kompensieren. Herr Minister, noch im Sommer dieses Jahres waren Sie - damals noch in anderer Funktion - der gleichen Auffassung. Es gibt mehrere öffentliche Erklärungen von Ihnen dazu. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, gilt das auch für so manchen aus der Fraktion der CDU/ CSU, beispielsweise für Herrn Pofalla. Aber damals begann der Wahlkampf. Da ging es um Wählerstimmen. Zweitens. Was ist sinnvoll an einem Vorhaben, den erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld für Arbeitslose über 58 Jahre über das Jahr 2006 beizubehalten, wenn Sie gleichzeitig die Kürzungen beim Arbeitslosengeld I nicht zurücknehmen? Wir meinen, die 58er-Regelung ist sinnvoll, auch deren Verlängerung. Sie ist also gut gemeint, aber sie ist nicht gut gemacht; denn der entscheidende zweite Teil - die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes betreffend - fehlt. ({10}) Sie helfen den betroffenen älteren Menschen damit nur wenig. Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit hat in der Anhörung zu Recht gesagt, dass die praktische Bedeutung der Verlängerung der 58er-Regelung vor dem Hintergrund der genannten Tatsachen deutlich abnehmen wird, weil Sie gleichzeitig die Kürzungen beim Arbeitslosengeld I nicht zurücknehmen. Drittens. Was ist sinnvoll an dem Vorhaben, die Erstattungspflicht für Unternehmen bei der Kündigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu streichen? Wir meinen - Herr Kolb, da weiß ich sehr genau, wovon ich rede; denn ich bin ein Mann aus der Praxis -, die Bundesregierung streicht damit ein zugegeben sehr kompliziertes, aber in der betrieblichen Praxis sehr wohl vorhandenes und auch wirksames Mittel, Druck auf die Unternehmer auszuüben, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Betrieb nicht leichtfertig herauszuwerfen, sondern weiterzubeschäftigen. ({11}) Wohlgemerkt, das ist eine komplizierte Regelung; aber das ist immer noch besser als gar keine Regelung. ({12}) Dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit werden damit nach Schätzungen der Bundesagentur selber für dieses Jahr weitere 200 Millionen Euro entzogen. Dieses Geld fehlt für Qualifizierung und Vermittlung. ({13}) - Das ist am Montag so gesagt worden, Herr Kollege Brandner. - Wenn das die arbeitsmarktpolitische Linie der neuen Bundesregierung ist, dann sollte sich der Arbeitsminister möglicherweise besser Arbeitslosigkeitsminister nennen und seine Reden zur Bedeutung älterer Beschäftigter in diesem Zusammenhang in einem Ordner mit der Aufschrift „Sonntags- und Feiertagsreden“ abheften. ({14}) Fazit dieses Teils: Eine Verzögerung von Kürzungen und ein Unterlassen notwendiger Schritte ist in der Summe eben keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung. ({15}) Ich möchte ein paar Bemerkungen zu dem Thema „Bereitschaftszeit und Arbeitszeit“ machen. Zunächst einmal wundere ich mich sehr, Herr Minister, dass Sie selber zu diesem Thema in Ihrer Einleitung gar nichts gesagt haben. ({16}) Für meine Begriffe ist dies exemplarisch dafür, wie grob fahrlässig sich die Koalition im Umgang mit den Interessen von Beschäftigten und ihrer Verantwortung für beschäftigungsförderliche Rahmenbedingungen verhält. Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrleute und andere Beschäftigtengruppen leiden seit langem unter überlangen Arbeitszeiten, die aus der Kombination von Normalarbeitszeit, Mehrarbeit und Bereitschaftsdiensten resultieren. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurde unter anderem bereits im Jahr 1993, also vor zwölf Jahren, in der europäischen Arbeitszeitrichtlinie festgelegt, dass Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zu werten sind. Damit kann und soll das von den betroffenen Beschäftigten tatsächlich geleistete Arbeitspensum auf ein gesundheitsverträgliches Maß begrenzt werden. ({17}) Angesichts der Zeitspanne von zwölf Jahren - das sind ja nicht nur ein paar Wochen -, die seit 1993 zur Umsetzung dieser Richtlinie zur Verfügung gestanden hat, ist Ihre Begründung für die weitere Verlängerung der Übergangsfrist falsch und entlarvend. ({18}) Die erneute Verlängerung räumt den Tarifparteien nicht mehr Zeit ein, diese Richtlinie in Tarifverträgen zu berücksichtigen, wie Sie zur Begründung anführen; es passiert nichts anderes, als dass den Arbeitgebern ein weiteres Jahr Gelegenheit gegeben wird, auf dem Rücken von Beschäftigten und Patienten zu sparen. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen bitte dringend zum Schluss kommen.

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine Bemerkung zum Schluss. - Diese Reparatur und alle weiteren Reparaturen an den Hartz-Gesetzen ändern nichts an der verheerenden Bilanz Ihrer so genannten Jahrhundertreform. Sie - ich wende mich hier vor allem an die sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen - wollten eine epochale Wende der Arbeitsmarktpolitik herbeiführen. Mit dem, was Sie bisher getan haben, und mit der Reparatur jetzt ist das weitere Desaster eher vorprogrammiert. Das ist dann das eigentlich Epochale an Ihrer Reform. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Dreibus, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu gratulieren wir alle Ihnen und wünschen für die parlamentarische Arbeit alles Gute. ({0}) Ich bedanke mich in dem Zusammenhang ausdrücklich bei Herrn Meckelburg, der die Tradition eingehalten hat, bei einer ersten Rede auf eine Zwischenfrage zu verzichten. ({1}) Ich gebe der Kollegin Brigitte Pothmer von Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Abgeordnete der großen Koalition, ({0}) Sie hatten angekündigt, in Sachen Arbeitsmarktpolitik ganz neue Wege beschreiten zu wollen; auch die Kanzlerin hat das in ihrer Regierungserklärung getan. In diesem Gesetzentwurf kann ich davon zunächst einmal nichts erkennen; im Gegenteil: An einem für mich sehr zentralen Punkt scheint mir eher ein Sieg des alten Denkens zu verzeichnen zu sein. ({1}) Das Beispiel, auf das ich jetzt eingehen will, ist ein aus meiner Sicht gerade sehr innovatives Instrument der Arbeitsmarktpolitik, nämlich die Ich-AG. Diesen IchAGs wird jetzt noch einmal ein halbes Jahr Übergangsfrist eingeräumt und dann sollen sie entfallen. ({2}) Das hat Herr Brauksiepe hier noch einmal deutlich gesagt. ({3}) Herr Brauksiepe, können Sie mir einmal erläutern, woher Sie die Erkenntnis haben, dass sich die Hoffnungen in Bezug auf dieses Instrument - angeblich - nicht erfüllt haben? Inzwischen haben über 300 000 Menschen dieses Instrument in Anspruch genommen. Die Betriebsgründungen in Form dieser Ich-AGs sind genauso effektiv, jedenfalls bis jetzt, wie andere Betriebsgründungen auch. ({4}) Ich will Ihnen dazu einmal Folgendes sagen: Sie waren aus ideologischen Gründen schon immer dagegen. Deswegen sind Sie auch in diesem Fall dagegen. Das Problem ist aber, dass sich die SPD im Wahlkampf noch damit geschmückt hat. Wirtschaftsminister Clement hat ebendiese Regelung noch im April letzten Jahres bis 2007 verlängert. Jetzt lassen Sie das Instrument zu meinem tiefen Kummer wie eine heiße Kartoffel fallen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Brauksiepe zuzulassen?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist die wunderbare Gelegenheit, die Redezeit zu verlängern.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut. - Dann sprechen Sie jetzt! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist wiederum mein Job. - Bitte, Herr Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Kollegin, Sie haben mich nach unserer Bewertung der Ich-AG gefragt. Ich frage zurück: Haben Sie sich einmal damit beschäftigt, wie viel Geld in die Ich-AG-Regelung geflossen ist und mit welchem Ergebnis? Wenn Sie das nicht selbst im Detail nachgeprüft haben, haben Sie denn einmal - wie wir es beispielsweise getan haben - mit Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit darüber gesprochen, wie diese selbst die Effizienz dieses Instruments bewerten? Es läuft nämlich darauf hinaus, dass man in der Tat von dem Obligatorium und von der Zweispurigkeit, die es bei der Existenzförderung nach Arbeitslosigkeit gibt, wegkommen sollte.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, das habe ich mehrfach getan. Ich habe auch sehr aufmerksam bei der Anhörung im Ausschuss zugehört, als die Vertreter des IAB darauf hingewiesen haben, dass das Instrument zwar evaluiert wird, dass es aber bereits jetzt erkennbare Hinweise gibt, dass dieses Instrument sehr erfolgreich ist und durchaus akzeptiert wird. ({0}) Wenn man über die Kosten redet, dann muss man selbstverständlich auch gegenrechnen, dass die betroffenen Arbeitslosen in diesem Zeitraum sonst eine andere Form von Arbeitslosenunterstützung erhalten hätten, Herr Brauksiepe. ({1}) Weil wir in dieser Frage - das will ich durchaus zugeben - noch keine endgültige Klarheit haben, halte ich es für falsch, dieses Instrument jetzt holterdiepolter abzuschaffen, bevor überhaupt der Beweis erbracht werden konnte, ob es eine Erfolgsgeschichte oder eine Misserfolgsgeschichte ist. Ich sage Ihnen etwas: Wenn Sie erfolgreich Arbeitsmarktpolitik betreiben wollen, dann brauchen Sie vor allen Dingen eines, nämlich Verlässlichkeit. Es ist ein Fehler, bei diesem Instrument jetzt so kurzatmig zu reagieren. Das wissen die Kolleginnen und Kollegen von der SPD ganz genau; aber da haben sie ihren Preis gezahlt. ({2}) Nun komme ich - das ist mir sehr wichtig - zu der 58er-Regelung. Sie scheint vordergründig ein Privileg für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sein, weil diese Arbeitslosenunterstützung bekommen, ohne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen. Faktisch wirkt diese Regelung aber genau gegenteilig, weil sie dazu führen wird, dass die Jobagenturen ihre Anstrengungen, diese Gruppe in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zurückfahren werden. ({3}) Deswegen ist diese Regelung für die älteren Arbeitslosen eher ein Problem als ein Vorteil. Herr Brauksiepe hat darauf hingewiesen, dass das Arbeitslosengeld I zukünftig für ältere Arbeitslose nicht mehr 32 Monate, sondern 18 Monate gezahlt wird. Wenn man aber die materielle Unterstützung verringert, dann muss man doch im Gegenzug die Anstrengung, diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, erhöhen; dann muss man diese Anstrengung forcieren, statt sie zurückzufahren. So wird ein Schuh daraus. ({4}) Das haben wir auch im Ausschuss ausdrücklich immer wieder thematisiert. Wir alle waren uns am Ende, zumindest am Tisch der Wahrheit, doch einig darüber, dass diese Regelung dazu führen wird, dass die Jobagenturen, aber auch die Personalabteilungen der Firmen die älteren Arbeitslosen drängen werden, auf eine Vermittlung zu verzichten. Das wird das Ergebnis sein. ({5}) Sie behaupten immer wieder propagandistisch, Sie wollten viel für ältere Arbeitslose tun. Aber mit der Regelung in diesem Gesetzentwurf erreichen Sie haargenau das Gegenteil. Da hilft Ihnen dann auch die Initiative „50 plus“ nicht weiter. ({6}) Es gibt noch einen anderen Hinweis darauf, dass Sie für ältere Arbeitnehmer nichts tun wollen: Sie wollen auf die Förderung der beruflichen Weiterbildung von Älteren verzichten. Das zeigt doch eines: Was Sie für ältere Arbeitnehmer tun wollen, ist nur Propaganda, Reklame. In der Realität marschieren Sie haargenau in die andere Richtung. ({7}) Meine Redezeit ist leider begrenzt; deswegen nur noch ein paar Sätze zu der Frage, wie Sie mit dem Arbeitszeitgesetz umgehen. ({8}) Sie erinnern sich vielleicht noch daran, dass die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung ausgeführt hat, sie wolle zukünftig EU-Recht eins zu eins umsetzen. Damals bezog sich das auf das Antidiskriminierungsgesetz. Jetzt ist von eins zu eins aber keine Rede mehr. Beim Arbeitszeitgesetz wird geschoben und nochmals geschoben. An dieser Stelle wird EU-Recht nicht umgesetzt. Im Gegenteil: Sie kalkulieren sogar ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen die Bundesrepublik Deutschland ein. Was aber noch viel schlimmer ist: Sie riskieren damit die Sicherheit der Patientinnen und Patienten. Herr Brauksiepe, es stimmt doch nicht, dass dieses Gesetz noch nicht umgesetzt werden konnte. 50 Prozent der Krankenhäuser haben entsprechende Maßnahmen bereits umgesetzt oder sind in diesem Moment dabei. Was Sie hier machen, ist ein Kniefall vor den Ministerpräsidenten der Länder. Wenn hier überhaupt einer durchregiert, dann sind es die Ministerpräsidenten und nicht die große Koalition in Berlin. ({9}) Dies hier ist ein Weihnachtsgeschenk für diejenigen, die Gesetze nicht einhalten, also ein Weihnachtsgeschenk für Gesetzesbrecher. ({10}) Sie belohnen mit diesem Gesetz diejenigen, die sich verweigern, und Sie bestrafen die Pflichtbewussten. Diejenigen, die fleißig und rechtstreu sind, sind bei Ihrer Politik die Dummen. ({11}) Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche Signale insgesamt eine sehr negative Wirkung haben werden. Prost Mahlzeit, wenn das so weitergeht. Ihre Weihnachtsbotschaft lautet doch in diesem Jahr: Friede der Koalition und den Beschäftigten und den Arbeitslosen kein Wohlgefallen. ({12}) Wir werden dem SGB-III-Änderungsgesetz nicht zustimmen. Wir stimmen nur dem SGB-II-Änderungsgesetz zu. Ich danke Ihnen. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit den Themen, die die Bundesregierung für die nächsten Wochen und Monate als zentrale Punkte auf die Agenda genommen hat. Es geht um den Arbeitsmarkt. Damit geht es um Menschen, die arbeitslos sind. Es geht auch um junge Menschen, die in Arbeit und Ausbildung wollen. Es geht ferner um Menschen, deren Arbeitsplatz gefährdet ist. Wir müssen in diesem Bereich die Weichen richtig stellen. Dabei sollte uns das Machbare am Herzen liegen. Dass immer noch etwas draufzusatteln wäre und dass es noch weitere Möglichkeiten gäbe, wäre zwar wünschenswert. Aber wir haben uns den Realitäten zu beugen. ({0}) Es ist klar, dass sich meine Fraktion lieber an das Machbare hält als an das Wünschenswerte. Herr Kolb, damit meine ich insbesondere das Wünschenswerte, das Sie vorhin dargestellt haben. ({1}) Es ist leider so, dass sich der Arbeitsmarkt für Ältere trotz unserer in der letzten Legislaturperiode eingeleiteten Maßnahmen nicht so entwickelt hat, wie wir es uns erhofft hatten. Wir sind der Auffassung, dass die Politik diese Tatsache zu berücksichtigen hat. Deswegen ist es entgegen allem auch von uns Gewollten durchaus richtig, dass die 58er-Regelung verlängert wird. Wir tragen damit den aktuellen Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser Rechnung. Wir haben dazu am Montag dieser Woche eine Anhörung von Sachverständigen im Bundestag gehabt. Bei allen Differenzen in den Meinungen sind sie sich zumindest in diesem Punkt einig: Es ist ein Märchen, dass die 58er-Regelung dafür verantwortlich ist, dass älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eher gekündigt wird. Die Ursache liegt vielmehr in den Köpfen der Arbeitgeber, bei denen sich leider die Meinung noch nicht durchgesetzt hat, dass aus ökonomischer Sicht auf das Potenzial der älteren Arbeitnehmer nicht verzichtet werden darf. ({2}) Mit dem Fünften SGB-III-Änderungsgesetz gehen wir dieses Thema konkret an. Wir werden daher die Förderung der Weiterbildung älterer und von Arbeitslosigkeit bedrohter Arbeitnehmer ab 50 Jahren in kleinen Betrieben mit bis zu 100 Mitarbeitern verlängern. ({3}) Wer davon spricht, dass lebenslanges Lernen im Job und im Beruf vonnöten ist, der muss frohen Herzens zumindest diesem Teil des Gesetzes zustimmen. Wenn wir Menschen in Arbeit halten wollen, dann müssen sie sich tatsächlich den notwendigen Gegebenheiten und den technischen Anforderungen im Beruf weiterhin stellen können. Dazu sind, wie gesagt, Weiterbildung und Zusatzausbildung notwendig. ({4}) Die Beschäftigung Älterer wird weiter gezielt unterstützt. Arbeitslose ab dem 50. Lebensjahr erhalten, sofern sie eine geringer bezahlte Beschäftigung aufnehmen, die Lohndifferenz für eine befristete Zeit zur Hälfte ausgeglichen. Das kann man mit dem Begriff „Entgeltsicherung“ benennen. Zusätzlich wird ihr Rentenbeitrag aufgestockt. ({5}) - Herr Kolb, da es richtig ist, dass dieses Angebot leider nicht genutzt wird, ({6}) muss man fragen: Wem geben wir hier eine Chance? ({7}) Wir geben sowohl den älteren Kolleginnen und Kollegen als auch den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eine Chance. Wenn diese die nicht nutzen, können Sie dafür nicht die Politik verantwortlich machen. Wir in der Politik müssen vielmehr dafür sorgen, dass dieses Thema am Kochen gehalten wird und ({8}) es transparent gemacht wird, und wir müssen es kommunizieren. ({9}) Auch im nächsten Jahr brauchen Arbeitgeber, die Arbeitslose über 55 Jahre einstellen, keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu entrichten. Die Bundesagentur begrüßt diese Maßnahme. Ich gestehe Ihnen zu, dass auch dieses Angebot zurzeit nicht in dem Maße genutzt wird, ({10}) wie wir uns das vorstellen. Aber ich sage Ihnen: Aus den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen wird erkennbar, dass die Politik die Voraussetzungen dafür schafft, dass Ältere nicht mehr aus dem Arbeitsleben ausgegliedert werden müssen, ({11}) sondern es interessant ist, Ältere aufgrund ihrer Berufserfahrung, ihres Könnens und Wissens im Beruf zu halten oder wieder einzustellen. Hier sind, Herr Kolb, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber am Zug. Sie müssen sich damit beschäftigen, warum es in dieser Republik so ist, dass Tausende von Ingenieuren gesucht werden und Tausende von Ingenieuren, die über immenses Wissen verfügen, von den Betrieben entlassen worden sind, auf der Straße stehen und sich arbeitslos gemeldet haben. Dies liegt weiß Gott nicht an den Maßnahmen, die wir in Bezug auf den Arbeitsmarkt getroffen haben. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Grotthaus, sind Sie denn bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb zuzulassen?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, dem Herrn Kolb gestatte ich keine Zwischenfrage. ({0}) Denn ich habe gerade erlebt, wie er mit meinem Kollegen von der CDU/CSU umgegangen ist. Er wollte nämlich seine Zwischenfrage überhaupt nicht beantwortet haben ({1}) und hat diese nur rhetorisch gestellt. Wir können uns darauf einigen, dass Sie Ihre Zwischenfragen demnächst so stellen, dass sie gezielt als Frage erkennbar sind und nicht Ihre Redezeit verlängern. ({2}) Ich will den Vertretern der FDP auf den Weg geben, dass ich in meinem 36-jährigen Berufsleben nie erlebt habe, dass die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten zu mehr Einstellungen in den Betrieben geführt hat. ({3}) Wer glaubt, dass man hier etwas dadurch erreicht, dass man den Kündigungsschutz reduziert oder den Gesichtspunkt des Alters bei der Sozialauswahl herausnimmt, irrt sich beträchtlich. Dies führt nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern nur zur Reduzierung von Arbeitnehmerrechten. ({4}) Gerade damit werden Arbeitnehmer, die älter sind, angreifbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Arbeitsschutz machen. Der Gesetzgeber hat das Arbeitszeitgesetz zum 1. Januar 2004 an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes angepasst. Bereitschaftsdienste werden seitdem arbeitsschutzrechtlich als Arbeitszeit bewertet. Sie sind in vollem Umfang in die Ermittlung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit einzubeziehen. Wir wollten eine Übergangsfrist von nur zwei Jahren. Wir haben uns jetzt im Rahmen der Koalitionsvereinbarung darauf geeinigt, dass diese Übergangsfrist um ein Jahr verlängert wird. All denjenigen, die heute nach dem Gesetzgeber rufen, würde ich empfehlen, sich dann, wenn sie hier in diesem Hause die Tarifhoheit reklamieren, daran zu erinnern, dass sich der Gesetzgeber da, wo es möglich ist, aus tarifhoheitlichen Rechten heraushalten oder sich dort zurückhalten sollte. ({5}) Deswegen sagen wir: Für 55 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist schon eine Lösung erzielt worden. Eine Lösung für die restlichen 45 Prozent wird - so hoffen wir - im kommenden Jahr zumindest angegangen werden. Den Arbeitgebern gebe ich mit auf den Weg, dass es tatsächlich möglich ist, kürzere Arbeitszeiten zu realisieren, Belastungen abzubauen und die Bedingungen für eine Balance zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Zeitanforderungen zu verbessern. Da gibt es die verschiedensten Möglichkeiten: über Gleitzeit, über Arbeitszeitkonten und über viele Dinge mehr. Hier ist die Kreativität derjenigen gefragt, die die Situation in den Betrieben, also die Situation vor Ort, kennen. Wir sind der Auffassung, dass in diesem einen Jahr eine Lösung gefunden werden kann. Aber ich sage hier stellvertretend für meine Fraktion: Sollte es bis Ende 2006 nicht zu einer Lösung gekommen sein, werden wir das Gesetz voll und ganz zur Geltung bringen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir eine Lösung finden werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Abgeordnete Daniel Bahr, FDPFraktion.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Minister Müntefering hat hier elf Minuten gesprochen. Er hatte aber nicht einmal Zeit, ein oder zwei Sätze zu dem Protest von Hunderten von Klinikärzten in Deutschland zu sagen. ({0}) Dabei wird hier die Übergangsfrist für die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie verlängert. Damit ignorieren Sie als Arbeitsminister die Proteste der Klinikärzte, die gegen ihre unhaltbaren Arbeitsbedingungen protestieren. Das dürfen Sie nicht ignorieren. Sie müssen sie endlich ernst nehmen, sehr geehrter Herr Minister. ({1}) Ich habe großes Verständnis für den Frust der Ärzte. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich zusehends. Immer weniger Medizinstudenten arbeiten später als Arzt in Deutschland. Sie gehen in Unternehmen, Unternehmensberatungen oder ins Ausland. Ein Ärztemangel wird künftig die Folge sein. Darunter werden dann auch die Patienten zu leiden haben. Die große Koalition hat die Proteste der Ärzte mit ihrer Entscheidung zur Fristverlängerung zusätzlich angeheizt. Mir ist vollkommen klar, dass sich Kommunen und Länder in einer schwierigen Haushaltssituation befinden; das will ich überhaupt nicht leugnen. Dies erschwert natürlich die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie; ich kenne die Probleme in den Ländern. Durch diese Fristverlängerung aber wird in die laufenden Tarifverhandlungen eingegriffen. Die Positionen werden deutlich zuungunsten der Klinikärzte verschoben. Herr Kollege Grotthaus, damit mischen Sie sich in die Tarifautonomie ein. ({2}) Die Bundesregierung will mit ihrem Vorschlag einer Fristverlängerung einen europarechtswidrigen Zustand für ein Jahr aufrechterhalten. Dieser Zustand wird ja nicht europarechtskonform, indem Sie die Frist verlängern. ({3}) Das Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens - die Kollegin von den Grünen hat darauf hingewiesen - ist nicht auszuschließen. Das ist für die Bundesrepublik Deutschland sicherlich nicht positiv. Die Krankenhäuser hatten für die Umstellung immerhin zwei Jahre Zeit. Ein Drittel der Krankenhäuser hat sich an die Gesetze und Erklärungen der Politik gehalten; sie hat sich auf die Politik verlassen und die europäischen Arbeitszeitanforderungen umgesetzt. Etwa weitere 20 Prozent setzen zurzeit entsprechende Modelle um. Das heißt, etwa die Hälfte der Krankenhäuser in Deutschland hätte die Arbeitszeitregelung einhalten Daniel Bahr ({4}) können. Leider orientiert sich die große Koalition in ihrem Gesetz aber an denen, die noch nicht gehandelt haben. Das sind insbesondere Universitätskliniken und Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft. Der müde, weil überarbeitete Arzt ist eine Gefahr für den Patienten. Untersuchungen haben ergeben, dass ein nach 24 Stunden Arbeit übermüdeter Arzt eine Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit hat, als ob er 1 Promille Alkohol im Blut hätte. Damit dürfte und könnte er nicht einmal Auto fahren. Ich würde mich ungern von einem Taxifahrer mit 1 Promille Alkohol im Blut fahren lassen. Wir aber muten den Ärzten zu, unter solchen Bedingungen zu operieren. ({5}) Folge der Fristverlängerung durch die große Koalition wird ein ungleicher Zustand sein. Ab Januar wird es in Deutschland zwei Sorten von Krankenhäusern geben: Die einen Krankenhäuser haben die Arbeitszeitanforderungen rechtzeitig umgesetzt; Tarifverträge wurden entsprechend neu vereinbart und beinhalten die neue Arbeitszeitregelung. Der neue Tarifvertrag wirkt wie geplant ab dem neuen Jahr. In den anderen Krankenhäusern aber gelten die alten Tarifverträge fort. Das führt zu einer erheblichen Wettbewerbsverzerrung zwischen den Krankenhäusern. Das können Sie nicht ignorieren. Damit unterstützen Sie die Krankenhäuser, die nicht gehandelt haben, und nicht die Krankenhäuser, die neue Regelungen vereinbart haben. ({6}) Ich frage mich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was soll sich in diesem einen Jahr ändern? Was gedenkt die Bundesregierung eigentlich zu tun, damit das kommende Jahr nicht ungenutzt bleibt und wir in einem Jahr nicht vor dem gleichen Problem stehen? Wer stellt eigentlich sicher, dass die vielen Krankenhäuser, die bisher noch nicht reagiert haben, die Arbeitszeitregelung dann umsetzen werden? Den Krankenhäusern werden für die Umstellung 700 Millionen Euro bis zum Jahr 2009 zur Verfügung gestellt. Wenn Sie die Frist verlängern und wollen, dass die restlichen Krankenhäuser in diesem einen Jahr vorankommen, hätten Sie das mit der Entscheidung koppeln sollen, diese 700 Millionen Euro nicht bis zum Jahr 2009 auszuzahlen, sondern den Termin auf das Jahr 2006 vorzuziehen. Damit wäre ein Anreiz geschaffen, die neuen Arbeitszeitregelungen so schnell wie möglich umzusetzen. Das machen Sie nicht. Im Gegenteil, Sie belasten die Krankenhäuser weiter; denn wegen Hartz IV wird der Zuwachs nicht 0,83 Prozent betragen, sondern 0,63 Prozent. Damit erschweren Sie den Krankenhäusern die Umstellung. Sie orientieren sich an den Krankenhäusern, die die Arbeitszeitregelung noch nicht umgesetzt haben. Sie sollten aber eher die Krankenhäuser unterstützen, die sich auf die Politik verlassen haben. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zum Ende dieser Debatte hat das Wort der Abgeordnete Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dr. Kolb, Sie haben Ihre Rede mit der Behauptung begonnen, heute sei ein schwarzer Tag für ältere Arbeitnehmer. ({0}) Sie werden verstehen, dass ich Ihre Kritik insofern nicht nachvollziehen kann. Ich möchte zunächst einmal festhalten, dass der heutige Tag auf jeden Fall ein guter Tag für die Kommunen in Deutschland ist, ({1}) weil die Kommunen endlich Rechtssicherheit haben: Es ist klar, was sie an Ausgleichszahlungen für Hartz IV bekommen. Herr Dr. Kolb, Sie haben vorhin hervorgehoben, dass Sie seinerzeit die kommunale Option abgelehnt haben. ({2}) Das sei Ihnen unbenommen. Ich habe den Eindruck, dass es in den Optionskommunen mittlerweile besser läuft als in den Kommunen, die Arbeitsgemeinschaften gegründet haben. ({3}) Ich darf Sie bitten, das anhand von gesicherten Kenntnissen darüber zu bewerten, wie es tatsächlich gelaufen ist. Liebe Kollegen von der FDP, ich habe allerdings sehr viel Verständnis dafür, dass Sie kritisieren, dass dieses Gesetz in einem sehr schnellen Durchgang beraten worden ist. Auch wir haben in der letzten Legislaturperiode durchaus immer wieder diese Kritik angebracht. Insofern ist Ihre Kritik nachvollziehbar. Ich halte die Eile aber in diesem Fall für gerechtfertigt, weil wir dadurch erreichen, dass die Kommunen noch vor Ende des Jahres die Rechtssicherheit haben, die sie dringend brauchen. Ich will auch zu dem zweiten Gesetzentwurf, den wir heute beraten, etwas sagen. Es ist den Kommunen seinerzeit zugesichert worden, dass sie in ihrer Gesamtheit in Deutschland als Folge von Hartz IV eine jährliche Nettoentlastung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bekommen. Unter Berücksichtigung aller Be- und Entlastungen hat man sich darauf geeinigt, dass der Bund eine von Jahr zu Jahr variierende Erstattungsleistung zahlt, die insgesamt auf etwa 3,2 Milliarden Euro jährlich beziffert worden ist. Man hat sich dann darauf verständigt, dass der Betrag im Jahre 2005 durch eine Erstattung in Stefan Müller ({4}) Höhe von 29,1 Prozent der Unterkunftskosten nach dem SGB II erbracht werden sollte. Dennoch hat die vorherige Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Entlastung von 29,1 Prozent auf null reduziert hätte. Seinerzeit sind unterschiedliche Berechnungsgrundlagen ins Feld geführt worden. In einer Revisionsklausel war vereinbart, dass es zu einer Überprüfung kommen soll. Natürlich muss man sagen, Herr Bundesminister, dass die Be- und Entlastungen bei den Kommunen sehr unterschiedlich ausfallen dürften, dass es sicherlich auch gewisse Verwerfungen geben wird und dass es unter den Landkreisen und Städten Gewinner und Verlierer geben wird. Ich stimme Ihnen aber ausdrücklich zu, dass es natürlich nicht sein darf, dass die Länder nunmehr das Geld bekommen, es aber nicht an die Kommunen weitergeben. ({5}) Wir alle wissen, wie es tatsächlich läuft. In den Ländern gibt es Finanzminister, die immer wieder auch etwas für sich behalten wollen. Das ist natürlich nicht zu akzeptieren. Deswegen muss sichergestellt sein, dass das Geld tatsächlich ankommt. Es wird auf weitere Revisionsverfahren verzichtet, weil sich das seinerzeit beschlossene Revisionsverfahren nicht bewährt hat. Gleichwohl müssen wir alle überlegen, wie wir künftig dieses Verfahren verändern. Wir müssen uns ein anderes Instrument überlegen. Insbesondere müssen sicherlich die Berechnungsgrundlagen vor dem Hintergrund verändert werden, dass es bei diesem Verfahren Probleme gegeben hat. Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung sich in den Verhandlungen für die Festschreibung auf 29,1 Prozent in den Jahren 2005 und 2006 stark gemacht hat, wie es der Freistaat Bayern gefordert hat. Insofern bin ich für die Zustimmung aller Fraktionen sehr dankbar. Ich komme auf mein Eingangsargument zurück. Es ist wichtig, dass wir alle dieses Signal an die Kommunen geben, dass es Rechtssicherheit gibt. Ich glaube, dass wir mit den vorliegenden Gesetzentwürfen alles das auf den Weg bringen, was wir im Koalitionsvertrag als dieses Jahr noch zu erledigen fixiert haben. Insbesondere beweisen wir damit, dass das so schnell passiert, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung, aber auch der sie tragenden Fraktionen. ({6}) Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch werden alle Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung verlängert, die bislang befristet waren. Die Verlängerung ist notwendig, um die Vermittlungschancen, insbesondere die der älteren Arbeitsuchenden, zu verbessern. Auch dazu ist schon viel gesagt worden. Ich will das nicht alles wiederholen. Ich glaube, dass es in diesem Hause Konsens ist, dass wir gerade für diese Zielgruppe, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hat, wirklich etwas tun wollen. Darum werden verschiedene Arbeitsmarktmaßnahmen für Ältere verlängert. Sie werden im Übrigen auch deswegen verlängert, weil noch keine gesicherten Erkenntnisse über die Wirkung einzelner Instrumente vorliegen. Es ist aber beabsichtigt, dass wir nach Abschluss der Wirkungsuntersuchungen die Ergebnisse bewerten und gegebenenfalls Änderungen vornehmen. In einzelnen Studien wird dargelegt, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgen kann. Vor allem geht es darum, dass wir die aktive Arbeitsmarktpolitik bis zum Jahr 2007 durch die Zusammenführung und Vereinfachung von Instrumenten neu ausrichten, insbesondere um Beitrags- und Steuermittel so effizient wie möglich einzusetzen. Eines ist uns allen klar: Aktive Arbeitsmarktpolitik allein wird nicht dafür sorgen, dass in diesem Land neue Arbeitsplätze geschaffen werden. ({7}) Natürlich ist es erforderlich, dass wir in der Wirtschaftsund Finanzpolitik die Rahmenbedingungen so setzen, dass neue Arbeitsplätze entstehen können. ({8}) Insbesondere müssen wir Anreize für mehr Investitionen schaffen und helfen, damit sich wirtschaftliche Dynamik in diesem Land entfalten kann. ({9}) An diesem Punkt habe ich eigentlich mit einem Zwischenruf von der FDP zum Thema Mehrwertsteuererhöhung gerechnet. Dazu will ich gerne etwas sagen, um den Zwischenruf vorwegzunehmen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass Sie sich im negativen Teil Ihrer Redezeit befinden.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zum Schluss. - Es geht uns nicht allein um eine isolierte Mehrwertsteuererhöhung, sondern vor allem um eine Senkung der Lohnnebenkosten. ({0}) Es gehört sehr viel mehr dazu, zum Beispiel Anreize, damit die Unternehmen mehr investieren, damit der Staat mehr investieren kann, damit für Forschung und Entwicklung mehr Geld ausgegeben wird. Ich glaube, auf diesem Gebiet hat der Koalitionsvertrag sehr viel mehr zu bieten, als Sie bereit sind anzuerkennen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse mich sehr kurz. Ein Eindruck, den der Kollege Müller in seinem Redebeitrag erweckt hat, darf nicht stehen bleiben: Richtig ist, dass die FDP damals das Optionsgesetz abgelehnt hat. ({0}) Falsch ist, dass wir das getan hätten, weil wir den Kommunen nicht das Recht, in diesem Bereich tätig zu werden, einräumen wollten. ({1}) Richtig ist: Wir haben abgelehnt, weil dies nur 69 Kommunen tun durften und wir eine flächendeckende Betreuung Langzeitarbeitsloser durch die Kommunen wollten. ({2}) - Die CDU/CSU wollte das damals auch. Das ist vollkommen richtig, Herr Kollege Weiß. - Wir haben damals einen weiter gehenden Vorschlag eingebracht, nämlich durch eine Grundgesetzänderung die Finanzierung der Kommunen sicherzustellen. Die Erfahrungen mit der gescheiterten Revisionsklausel zeigen, dass auch dieser Ansatz der FDP richtig gewesen ist. Das wollte ich nur klarstellen, damit hier nicht dauerhaft ein falscher Eindruck entsteht. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Müller, bitte schön.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Kolb, ich bin gerne bereit, anzuerkennen, dass wir seinerzeit auf dem gleichen Weg waren. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Sie, sobald wir gesicherte Erkenntnisse darüber haben, dass das tatsächlich so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben, uns wohlwollend begleiten und unseren Vorschlägen zustimmen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozial- gesetzbuch und anderer Gesetze auf Drucksache 16/109. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/245, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 16/273? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion der Linken, bei Ablehnung durch die SPD- Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion sowie einige Abgeord- nete von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP-Fraktion und einiger Abgeordneter von Bünd- nis 90/Die Grünen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Ablehnung der gesamten Op- position angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Noch Tagesordnungspunkt 8 a: Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Än- derung des Arbeitszeitgesetzes auf Drucksache 16/219. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/245, den Gesetz- entwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit ein- stimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 8 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch; Drucksachen 16/162 und 16/220. Hierzu liegen von den Abgeordneten Ulrike Flach, Jürgen Koppelin, Otto Fricke und Dr. Claudia Winterstein Erklärungen zur Ab- stimmung vor.1) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/253, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist je- weils nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz- entwurf zustimmen möchten, mögen bitte aufstehen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent- wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/241 1) Anlage 4 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes - Drucksache 16/88 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 16/252 Berichterstattung: Abgeordnete Volker Kauder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Hans-Christian Ströbele Hierzu liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Interfraktionell ist verabredet, dass die Aussprache eine halbe Stunde dauert. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem Kollegen Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das Wort.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hinter so spröden Begrifflichkeiten wie „Zollfahndungsneuregelungsgesetz“ oder „Gesetz zur Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt“ verbirgt sich - ich meine, das wird von jedermann im Lande befürwortet die Aufgabe des Staates, vorbeugende Maßnahmen zu treffen zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, zur Verhinderung des Exportes von Bestandteilen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, zur Verhinderung von schweren Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und zur Verhinderung der Ausfuhr von Gütern bzw. Anlagen, mit denen Produkte zur massenhaften Vernichtung von Menschenleben hergestellt werden können. Das ist im Übrigen auch oft ein außenpolitisch heikles Thema. Ich erinnere nur an die Diskussion, die wir vor einigen Jahren auch in diesem Hause über die Giftgasfabrik in Rabta geführt haben. In diesem höchst sicherheitsrelevanten Bereich ist es - ich denke, auch darüber herrscht breite Übereinstimmung - äußerst wichtig, bereits im Vorbereitungsstadium derartiger Straftaten Erkenntnisse zu gewinnen, um sie bereits im Vorfeld zu verhindern. Um hierüber Erkenntnisse gewinnen zu können, ist die Möglichkeit der Anordnung von Telefonüberwachungsmaßnahmen unerlässlich; Kriminalisten wissen, dass dadurch wesentliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Ich bin sicher, dass die Menschen im Lande zustimmen werden, dass der Staat alle notwendigen Vorkehrungen treffen muss, ({0}) um derartige schwerste Straftaten bereits im Frühstadium zu erkennen und zu vereiteln, Herr Kollege Ströbele. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. März 2004 die Regelungen, die zu dem Zweck, den ich eben zu beschreiben versucht habe, 1992 - ein Seitenblick zur FDP: 1992, also nicht zur Zeit der rot-grünen Regierung, sondern als Sie regierten und das betreffende Ressort führten ({1}) im Außenwirtschaftsgesetz niedergelegt worden sind, wegen erheblicher Verstöße gegen die Grundsätze der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit für verfassungswidrig erklärt. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gleichzeitig darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bei einer Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung auch die im Urteil vom 3. März 2004 niedergelegten Grundsätze zur Wohnraumüberwachung zu berücksichtigen habe. Das war der Grund, weshalb wir fast vor genau einem Jahr, am 21. Dezember 2004, hier in diesem Hohen Hause die Neuregelung des Gesetzes zur präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung mit den Möglichkeiten für das Zollkriminalamt eingeführt haben. Wir haben damit mit Blick auf den verfassungswidrigen Zustand, den wir vorgefunden haben, eine Neuregelung vorgenommen. Wir haben klare Eingriffsvoraussetzungen geschaffen: Nur bei schwersten Straftaten soll vorgegangen werden. Wir haben die Vorbereitungshandlung gesetzlich eindeutig definiert und wir haben auch für Überwachungs- und Aufzeichnungsmaßnahmen bei Berufsgeheimnisträgern neue Verhältnismäßigkeitsgrundsätze eingeführt. ({3}) Ferner haben wir Regelungen getroffen, unter welchen Kautelen Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung an andere Stellen weitergegeben werden dürfen bzw. welche zu löschen sind. Damit haben wir alles das berücksichtigt, was das Bundesverfassungsgericht bei der 92erRegelung angemahnt hatte. Das alles haben wir seinerzeit unter erheblichem Zeitdruck geleistet: Wir hatten nur knapp ein Dreivierteljahr Zeit, um diese Neuregelung zu treffen. Offen geblieben war, ob über die Konkretisierung, Klarstellung und Verschärfung, wann eingegriffen werden kann, hinaus auch zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung des Einzelnen weiter gehende Regelungen getroffen werden müssen. Wir haben das damals bewusst offen gelassen, weil das Ganze nur Sinn macht, wenn für den Gesamtbereich der Telefonüberwachung - nicht nur hinsichtlich präventiver Maßnahmen durch das Zollkriminalamt, sondern insbesondere im Bereich von § 100 a der Strafprozessordnung, beim G-10-Gesetz usw. - eine Neuregelung auf den Weg gebracht wird. Dies haben wir in diesem Jahr nicht geschafft. ({4}) Aus diesem Grund schlagen wir Ihnen heute vor, das Gesetz, das wir damals bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet haben, für einen Zeitraum von 18 Monaten zu verlängern. Vielleicht sind wir auch schneller. Die Diskussion, die sicherlich gleich beginnen wird, wird sich darum drehen, ob das vertretbar ist. Denn in der Sache selber - davon gehe ich jetzt einmal aus - sind wir uns alle einig, dass der Staat derartige Regelungen braucht, um solche Taten verhindern zu können. Ich bin der festen Überzeugung, dass niemand von uns das Entstehen einer Sicherheitslücke - diese würde entstehen, wenn wir die neue Befristung heute nicht beschließen würden - verantworten kann. ({5}) Zumindest diejenigen können das nicht verantworten, die in diesem Land politisch Verantwortung tragen. Denn das würde ein großes sicherheitspolitisches Risiko im Inland bedeuten und könnte auch außenpolitisch - darauf habe ich bereits hingewiesen - zu erheblichen Konflikten führen. Ich will auch angesichts der Debatte, die wir gestern geführt haben, hierzu nicht meiner Fantasie freien Lauf lassen. Eine Regelungslücke kann niemand verantworten. ({6}) Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Begründung. Ich bin aber überzeugt, dass die Fristverlängerung, die wir hier vornehmen wollen, auch verfassungsrechtlich vertretbar ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema vom 27. Juli dieses Jahres - es gab in der Zwischenzeit eine weitere Entscheidung -, mit der wesentliche Bestimmungen zu präventiven Abhörmöglichkeiten des niedersächsischen Polizeigesetzes für verfassungswidrig erklärt worden sind, und zwar wiederum im Wesentlichen wegen Verstößen gegen das Bestimmtheitsgebot und Ähnliches. ({7}) Das Gericht hat in seiner Entscheidung vom Juli 2005 ausdrücklich darauf hingewiesen - das ist zwischen den Kollegen der Grünen und uns in der alten Koalition immer Streitpunkt gewesen; deswegen sind wir bei § 100 a StPO auch nicht zum Ende gekommen -, dass die aufgestellten Grundsätze zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung im Bereich der Wohnraumüberwachung - Art. 13 Grundgesetz - nicht eins zu eins auf den Bereich der Telefonüberwachung - Art. 10 Grundgesetz - übertragen werden können. Die Eingriffstiefe ist eine andere. Das ist nicht zu vergleichen. So ist es zu lesen. Andererseits weist das Gericht darauf hin - das will ich nicht verkennen -, dass auch über Art. 10 Grundgesetz der Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung aus dem Kernbereich von Art. 1 Grundgesetz sicherzustellen ist. ({8}) Das Gericht sagt hierzu wörtlich: Bestehen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommunikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen und muss unterbleiben. ({9}) - Sie müssen weiterlesen, wie Sie das im Studium gelernt haben, Herr Kollege Ströbele. Im nächsten Absatz der Entscheidung führt das Gericht ausdrücklich aus: Verfassungsrechtlich hinzunehmen ist dieses Risiko allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsguts und einer durch konkrete Anhaltspunkte gekennzeichneten Lage, die auf einen unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der Straftat schließen lässt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe versucht, die Änderungen, die wir vor einem Jahr ins Gesetz aufgenommen haben, zu skizzieren. Ich bin der Meinung, dass wir damit diese Voraussetzungen erfüllt haben. Von daher bin ich überzeugt, dass wir mit der Verlängerung der Befristung verfassungsrechtlich keine Probleme bekommen werden. Deshalb werden wir das heute auch so beschließen. Ich weiß aber auch, dass wir den Bereich insgesamt neu überarbeiten müssen; auf § 100 a StPO und andere Regelungen hatte ich hingewiesen. Mit der gesamten Überarbeitung werden wir Anfang nächsten Jahres in diesem Hohen Hause beginnen. Dazu haben wir, wie Sie wissen, Herr Ströbele, in der letzten Legislaturperiode umfangreiche Vorarbeiten gemacht. ({10}) Wir fangen also nicht bei null an. Der Gesetzgeber ist bereits tätig geworden. Wir sind damit nur nicht zum Ende gekommen. ({11}) Von daher bin ich guten Mutes, dass wir nicht 18 Monate brauchen werden, sondern dass wir, wenn wir alle gemeinsam zügig an die Arbeit gehen, die Arbeiten schneller leisten werden. Da wir trotzdem eine Befristung von 18 Monaten vorsehen, sind wir auf der sicheren Seite. ({12}) - Herr Ströbele, wenn Sie gute Vorschläge machen, dann sind wir, wie Sie wissen, bereit, diese Vorschläge aufzunehmen. ({13}) Gehen wir also gemeinsam ab Mitte Januar an die Arbeit. Schönen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute erstmals in der 16. Wahlperiode eine rechtspolitische Initiative der Bundesregierung. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass es sich dabei um eine Initiative handelt, die geeignet ist, eine Neuausrichtung der neuen Bundesregierung in der Innen- und Rechtspolitik erkennen zu lassen. ({0}) Leider ist aber das Gegenteil der Fall. ({1}) Mit dem Gesetzentwurf will die Bundesregierung die Geltungsdauer eines verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetzes um weitere zwei Jahre verlängern; Herr Stünker, Sie haben eigentlich sehr gut ausgeführt, dass das verfassungsrechtlich bedenklich ist. ({2}) Das ist mit der FDP nicht zu machen. ({3}) Sie haben es ja schon dargelegt: Ende 2004 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt verabschiedet. Das Gesetz war notwendig geworden, weil das Bundesverfassungsgericht zuvor die Regelungen für die präventive Telekommunikations- und Postüberwachung für den Außenwirtschaftsbereich durch das Zollkriminalamt für verfassungswidrig erklärt hat. Der sodann von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf wurde den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes gerade nicht gerecht. Deshalb hat die FDP-Fraktion dem Gesetzentwurf damals auch nicht zugestimmt. ({4}) Wir sind nämlich durchaus in der Lage, aus Fehlern, die vielleicht einmal begangen wurden, zu lernen. ({5}) Die Bundesregierung hatte sich verpflichtet, innerhalb eines Jahres eine gesetzliche Neuregelung vorzulegen, in der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt werden sollten. Nun geht das Jahr 2005 zu Ende, ohne dass die Regierung ihre Hausaufgaben gemacht hat. Vielmehr soll die Geltungsdauer der verfassungsrechtlich bedenklichen Regelung um weitere zwei Jahre verlängert werden, wie es von der Regierung hieß. Die Koalitionsfraktionen haben dazu zwei Änderungsanträge vorgelegt, in denen sie zuerst eine Befristung von einem Jahr und später eine Befristung von 18 Monaten vorschlagen. ({6}) Dieser Umstand zeigt doch schon, dass auch innerhalb der Koalition Bedenken gegen den Entwurf der eigenen Regierung bestehen. Dies ist ja auch verständlich; denn in diesem Entwurf werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung erneut außer Acht gelassen. ({7}) Darüber hinaus werden in ihm auch die Grundsätze missachtet, die das Gericht im Juli 2005 zur präventiven Telefonüberwachung aufgestellt hat: Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung haben zu unterbleiben. ({8}) Meine Damen und Herren, Ende 2004 meinte die vorherige Bundesregierung noch, innerhalb eines Jahres einen entsprechenden Entwurf vorlegen zu können. Es ist für mich in keiner Weise einzusehen, wieso es bei der neuen Regierung nun nochmals anderthalb Jahre dauern soll, einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vorzulegen. ({9}) Die Begründung der Koalition für eine Verlängerung um anderthalb Jahre, man wolle die Erarbeitung eines umfangreichen Gesamtkonzeptes in der Telekommunikationsüberwachung abwarten, verheißt nichts Gutes. ({10}) Wir warten schon viel zu lange auf die Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema. Ich habe nicht die Hoffnung, dass die große Koalition die Kraft aufbringen wird, die angekündigten Reformen tatsächlich anzugehen. ({11}) Aus Sicht der FDP ist eine Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes um weitere anderthalb Jahre unvertretbar und deshalb nicht zustimmungsfähig. Die FDP-Fraktion hat daher einen Änderungsantrag eingebracht, wonach die Geltungsdauer des Gesetzes lediglich bis zum 30. Juni 2006 befristet werden soll. Vor dem Hintergrund der nun schon lange währenden Diskussion muss diese Zeit ausreichen, um das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. Der Tatsache, dass wir überhaupt eine Verlängerung in Erwägung ziehen, liegt die Einsicht zugrunde, dass das Zollkriminalamt Eingriffsbefugnisse für die Übergangszeit haben muss. Meine Damen und Herren von der Linken, deswegen ist Ihr Entschließungsantrag, der eine Regelungslücke zur Folge hätte, insbesondere mit Blick auf die internationale Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, auch abzulehnen. ({12}) Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, Sie haben zwar versucht, die Vorgaben aus Karlsruhe in Ihren Änderungsantrag einfließen zu lassen, ({13}) dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die unterschiedlichen Eingriffsbefugnisse nicht ohne eine ausführliche Sachverständigenanhörung geregelt werden können, ({14}) die unseres Erachtens im ersten Quartal 2006 stattfinden muss ({15}) und die im Übrigen 2004 von allen gefordert wurde. Die Bundesregierung zeigt mit dem Gesetzentwurf, dass sie in der Rechtspolitik auf Kontinuität setzt. Kontinuität bedeutet hier leider Kontinuität bei dem weiteren Abbau von Bürgerrechten. ({16}) Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind so viele und so tiefe Eingriffe in so kurzer Zeit in die Freiheit der Bürger wie unter der letzten Bundesregierung vorgenommen worden. ({17}) Das Bundesverfassungsgericht hat in letzter Zeit den Gesetzgeber oft daran erinnert, dass bei der Ausgestaltung von Gesetzen das Grundgesetz wieder zum Maßstab des Handelns werden muss. ({18}) Der Gesetzgeber sollte diese Mahnung ernst nehmen. Einen parteiübergreifenden Konsens kann es erst dann wieder geben, wenn die Bundesregierung zu einer grundrechtsorientierten Rechtspolitik zurückfindet und bereit ist, bei ihren Initiativen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit unter Berücksichtigung anerkannter Verfassungsgrundsätze herzustellen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes ist dafür ein misslungener Anfang. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Gesetz zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes zustimmen. ({0}) Es wird eine Verlängerung der Gültigkeit des Gesetzes um 18 Monate sein. Diese Zeit muss das Parlament nutzen, um Unebenheiten und verfassungsrechtliche Bedenken auszugleichen. Nun werden in wenigen Minuten der Kollege Neskovic und der Kollege Ströbele ans Rednerpult treten und möglicherweise erklären, dass dieser Gesetzentwurf zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes verfassungswidrig sei, dass auch ein temporärer Verfassungsbruch ein Verfassungsbruch sei und dass man deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen könne. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist juristisch nicht zu Ende gedacht und politisch nicht vernünftig. ({1}) Was ist der Sinn dieser zugelassenen Post- und Telekommunikationsüberwachung? Das Gesetz soll schon im Ansatz verhindern, dass mit Massenvernichtungswaffen aus Deutschland illegal Handel getrieben wird und dass ganze Giftgasanlagen in Krisengebiete geliefert werden. Das heißt, wir haben es mit einem hohen und insbesondere hohen außenpolitischen Gut zu tun. Würde in diesem Bereich ein Vakuum eintreten, hätten wir eiSiegfried Kauder ({2}) nen außenpolitischen Flurschaden, der nicht zu beheben wäre. ({3}) Nun ist nicht zu verkennen, dass uns dazu zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. März 2004 vorliegen. Das eine befasste sich mit dem Thema des Kernbereiches der persönlichen Lebensgestaltung, den auch der Gesetzgeber nicht antasten darf. Das Urteil bezog sich auf den großen Lauschangriff, besser gesagt: die akustische Wohnraumüberwachung. Das andere Urteil vom gleichen Tag befasste sich mit dem Außenwirtschaftsgesetz. Darin stand zu dem Problem des Kernbereichs höchstpersönlicher Lebensgestaltung nichts. Diese beiden Urteile waren für die Rechtswissenschaft Anlass, heftig darüber zu debattieren, ob das Urteil zum großen Lauschangriff auf das Außenwirtschaftsgesetz eins zu eins oder überhaupt anwendbar ist. Diese Frage wurde noch bis in den November 2005 hinein kontrovers und ergebnisoffen von den Rechtswissenschaftlern diskutiert. Aber wir können auch nicht verkennen, dass es eine weitere Entscheidung vom 27. Juli 2005 gibt, in dem das Verfassungsgericht das niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - also ein Polizeigesetz - als verfassungswidrig aufgehoben hat, ({4}) weil mehrere Vorgaben, die die Verfassung vorsieht, nicht erfüllt waren. In diesem Urteil ist zum ersten Mal expressis verbis formuliert, dass der Kernbereich der persönlichen Lebensgestaltung auch bei der Post- und Telekommunikationsüberwachung zu beachten ist. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung muss der Gesetzgeber reagieren. Bedeutet dies nun - wie es Kollege Neskovic ausführen wird -, dass eine Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Gesetzes zur Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung verfassungswidrig wäre? Man kann sich schlicht und ergreifend an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientieren, um zu erkennen, dass dies nicht stimmt. Denn auch das Bundesverfassungsgericht muss ein Gesetz, das nicht verfassungskonform ist, nicht sofort für nichtig erklären. Es nimmt nämlich eine Vorprüfung vor, ob bei Nichtvorhandensein des als verfassungswidrig angesehenen Gesetzes die Verfassungslage schlechter wäre als bei der Fortdauer des Gesetzes. ({5}) Es werden also verschiedene Rechtsgüter gegeneinander abgewogen. Ich kann nur wiederholen, dass es hierbei um einen schweren außenpolitischen Schaden geht. Deswegen kann man davon ausgehen, dass das Bundesverfassungsgericht von der zweiten Lösung Gebrauch machen würde, nämlich statt das Gesetz für nichtig zu erklären allenfalls feststellen würde, dass es mit der Verfassung nicht vereinbar wäre. In diesem Fall muss man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 61. Band, Seite 319 f. kennen. Ich erlaube mir, zu zitieren: Im vorliegenden Fall ist es geboten, ausnahmsweise im Interesse der Rechtssicherheit die weitere Anwendung der angegriffenen Norm bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum ... zuzulassen. Für die Neuregelung, die umfangreiche und zeitraubende Vorarbeiten erfordert, muss dem Gesetzgeber ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Das ist vom Bundesverfassungsgericht gut geregelt worden; denn die Richter wissen, dass wir eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht eins zu eins umzusetzen haben, sondern einen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum brauchen. ({6}) Aber das ist unser Problem: Zu dem Zollfahndungsdienstgesetz liegt keine verfassungsgerichtliche Entscheidung vor. ({7}) Deswegen müssen wir den zeitlichen Rahmen festlegen, in dem wir die verlängerte Gültigkeitsdauer des Gesetzes ohne Korrekturen verfassungsrechtlich für vertretbar halten. ({8}) Man kann - wie die FDP - ein halbes Jahr durchaus für ausreichend halten. Ich war der Meinung, ein Jahr sei vertretbar. Jetzt diskutieren wir über ein Jahr und sechs Monate. Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich in solchen Fällen daran, was im parlamentarischen Tagesbetrieb umzusetzen ist. Die FDP weiß, dass ein halbes Jahr deutlich zu kurz ist. Sie will lediglich Druck machen; das ist legitim. Es nützt auch nichts, wenn uns die Grünen einen Änderungsantrag vorlegen, der etwas konfus zwischen der Post- und Telekommunikationsüberwachung hin- und herschleudert und nicht durchdacht, sondern mit heißer Nadel gestrickt ist. ({9}) Wir müssen in Ruhe in den zuständigen Gremien darüber diskutieren. Dazu ist eine fundierte parlamentarische Beratung notwendig. Deswegen glaube ich, dass 18 Monate durchaus vertretbar sind. ({10}) Aber wir sollten uns auch an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, die uns im Fall einer Entscheidung gemacht würden, orientieren. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu stellen sein, ob in der Übergangsfrist von 18 Monaten nicht begleitend Korrekturen vorgenommen werden sollten. Deswegen bitte Siegfried Kauder ({11}) ich an die Herren Staatssekretäre gerichtet, bei den zuständigen Ministerien - dem Bundesjustiz- und Bundesfinanzministerium - kurzfristig die beiden folgenden Fragen zu klären: ({12}) Erstens. Welche Bemühungen sind in den beiden Ministerien seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 2005 unternommen worden, um die verfassungsgerichtlichen Vorgaben zum Schutz des unantastbaren Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung gesetzgeberisch umzusetzen? Zweitens. Lässt sich für die nächsten 18 Monate vorübergehend durch Verwaltungsvorschriften ein Schutz des unantastbaren Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung bei Vorschriften zur Post- und Telekommunikationsüberwachung des Zollfahndungsdienstgesetzes gewährleisten? Wir werden nämlich der Öffentlichkeit und gegebenenfalls dem Bundesverfassungsgericht erklären müssen, was wir getan haben, um dieses Gesetz möglichst schnell mit dem Grundgesetz kompatibel zu machen, so Bedenken bestehen. ({13}) Zum Schluss bitte ich die Bundesjustizministerin und den Bundesfinanzminister, innerhalb von sechs Monaten einen Zwischenbericht über den Stand des gesetzgeberischen Verfahrens zu geben, damit wir wissen, wie weit die Bemühungen vorangeschritten sind. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Neskovic von der Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Neskovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf ist - Herr Kauder hat es vorweg genommen - abzulehnen. Hier teile ich die Auffassung der FDP. ({0}) In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es wie üblich: Alternativen - keine. Richtigerweise hätte es heißen müssen: Alternativen - ein verfassungsgemäßes Gesetz. ({1}) Statt einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den bereits zitierten Entscheidungen vom 3. März 2004 und der Entscheidung vom 27. Juli 2005 gerecht wird, ignoriert die Regierungskoalition das Bundesverfassungsgericht und legt einen Gesetzentwurf vor, der darauf abzielt, die Geltungsdauer eines bereits bestehenden, verfassungswidrigen Gesetzes zu verlängern. Ich bringe in Erinnerung: In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht am 3. März 2004 zwei Entscheidungen getroffen, nämlich eine zum großen Lauschangriff und zur akustischen Wohnraumüberwachung und eine andere, in der sich das Gericht mit dem Außenwirtschaftsgesetz und den Befugnissen des Zollkriminalamtes präventiver Art im Bereich der Post- und Telekommunikationsüberwachung beschäftigte. In der letzten Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit das Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Nun geht es genau um dieses Gesetz, und zwar um die Verlängerung seiner Geltungsdauer. Bei der Neufassung war es zwischen den Fraktionen streitig - das ist hier zutreffend wiedergegeben worden -, ob die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung entwickelt hat, auch in diesem Regelungszusammenhang zur Anwendung kommen mussten. Dieser Streit musste nicht nur den halbwegs gebildeten Juristen, sondern auch den juristischen Laien überraschen. ({2}) - Es müsste genauso den juristischen Laien überraschen. Ich versuche, das auch aus der Laienperspektive zu sehen. ({3}) Wenn es einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung gibt, warum sollte er nur den Bereich der akustischen Wohnraumüberwachung und nicht auch den Bereich der Post- und Telekommunikationsüberwachung umfassen? Anders ausgedrückt, für diejenigen, die es nicht verstehen wollen: Für den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist es völlig unerheblich, in welcher Art und Weise der Eingriff erfolgt. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung ist umfassend und nur dann absolut geschützt, wenn er seine Schutzfunktion gegen jede Form des Eingriffes entfaltet. ({4}) Selbst diejenigen, die sich, wie ich finde, solcher einfacher und nahe liegender Überlegungen durch Ignoranz entziehen wollen, müssen sich dem Vorwurf aussetzen, dann zumindest die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Außenwirtschaftsgesetz nicht richtig gelesen zu haben. Am Ende der Entscheidung befinden sich nämlich so genannte Segelanweisungen. Solche Anweisungen sollen dem Adressaten - hier dem Gesetzgeber - helfen, mögliche Fehler, die bei erneuter Befassung mit der Materie entstehen, zu unterlassen. Sie sollen also schlicht verhindern, dass der Gesetzgeber in die falsche Richtung segelt. „Der Gesetzgeber“, so heißt es dort, wird bei der Neuregelung - nun kommt die entscheidende Passage - „auch die Grundsätze zu beachten haben, die der Senat in seinem Urteil zum großen Lauschangriff für die akustische Wohnraumüberwachung niedergelegt hat“. Herr Kauder, das ist der von Ihnen vermisste Bezug. ({5}) - Darüber haben wir schon im Ausschuss diskutiert. Ich hatte gehofft, dass Sie es verstanden haben. Im Klartext heißt dieser Hinweis: Was für Art. 13 GG gilt, gilt auch für Art. 10 GG. So einfach ist das. ({6}) Wenn man sich nun aber nicht der Mühe unterziehen will, die Entscheidung bis zu Ende zu lesen, dann hätte man wenigstens die Presseerklärung lesen können. Dort hätte man das schon im fünften Satz nachlesen können. Nie war Segeln so leicht. Das sage ich als jemand, der von der Küste kommt. ({7}) Damit aber nicht genug. Am 27. Juli dieses Jahres - darauf ist auch hingewiesen worden - hat das Bundesverfassungsgericht klipp und klar gesagt, dass auch im Gewährleistungsbereich des Art. 10 des Grundgesetzes der Kernbereich privater Lebensgestaltung zu regeln ist. Damit war alles klar, möchte man meinen. Aber dieses Gesetzgebungsverfahren belehrt uns eines Besseren. Trotz dieser eindeutigen Verfassungslage wollen Sie heute mehrheitlich die Geltung eines Gesetzes verlängern, von dem Sie nach dem vorher Gesagten eigentlich wissen müssten, dass es verfassungswidrig ist, und zwar weil es die geforderten Schutzvorschriften zum Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht enthält. ({8}) Das ist unstreitig.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Wolfgang Neskovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich bin gleich zu Ende. ({0}) Eine Befristung der Geltungsdauer des Gesetzes auf anderthalb Jahre ändert daran nichts; denn befristeter Verfassungsbruch bleibt Verfassungsbruch. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. Ich darf noch einmal darauf hinweisen: Sie müssen zum Schluss kommen.

Wolfgang Neskovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin auch am Schluss. - Deswegen wird die Linksfraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und Sie sollten sich uns anschließen. Auf Gutgläubigkeit können Sie sich spätestens nach diesem Redebeitrag nicht berufen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Christian Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie haben hier die Gelegenheit, sich für eine Fristverlängerung um null Monate, für eine Fristverlängerung um sechs Monate, für eine Fristverlängerung um ein Jahr oder für eine Fristverlängerung um anderthalb Jahre zu entscheiden. Das sind viele Variationsmöglichkeiten. ({0}) Nun kann man denken: Das scheint relativ willkürlich zu sein. Da nehmen wir doch ein Jahr und einigen uns in der Mitte. - Es geht aber in der Tat um die Frage, ob wir eine gesetzliche Regelung verlängern, die möglicherweise verfassungswidrig ist. Da wäre jeder Tag, den dieses Gesetz, so wie es heute ausgestaltet ist, verfassungswidrig fortbesteht, ein Tag zu viel; denn wir Abgeordnete des Deutschen Bundestags dürfen kein Gesetz verabschieden, bei dem wir billigend in Kauf nehmen, dass es verfassungswidrig ist und dann weiter gilt. ({1}) Das Bündnis 90/Die Grünen hat einen Änderungsantrag vorgelegt, um zu zeigen, was wirklich konstruktive Opposition ist. Wir wenden uns nicht einfach an die Regierung und fordern ein besseres Gesetz, sondern wir machen uns die Mühe, selber einen Gesetzentwurf zu formulieren. ({2}) Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt, der eindeutig akzeptiert - das ist hier mehrfach gesagt worden -, dass wir nicht ohne gesetzliche Regelung weiterleben wollen; denn auch wir wollen nicht, dass eine Giftgasfabrik irgendwohin in die Welt geliefert wird. Wir wollen auch nicht, dass schwere Kriegswaffen irgendwohin geliefert werden. ({3}) Wir wollen auch nicht, dass etwa Teile in Staaten, die diese möglicherweise zur Kriegswaffenproduktion missbrauchen, geliefert werden. Weil dieses Gesetz also erforderlich ist, um so etwas zu verhindern, sind wir dafür, die Geltung dieses Gesetzes zu verlängern. Wir wollen aber aus dieser Zwickmühle heraus. Wir wollen nicht die Geltung eines möglicherweise verfassungswidrigen Gesetzes um ein Jahr verlängern, um dann zu prüfen, ob sich die eine oder andere Regelung in der Zwischenzeit als veränderungs- oder verbesserungsbedürftig erwiesen hat. Wir wollen vielmehr Regelungen einbauen, die den verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung tragen. ({4}) Herr Kollege Stünker, wir haben in der Tat lange darüber diskutiert, ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auf die Telefonüberwachung, auch auf die durch den Zoll, anwendbar ist. Wir haben unterschiedliche Auffassungen vertreten. Wir waren von Anfang an dafür, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auf die Telefonüberwachung auszudehnen. Darüber konnten wir uns nicht einigen und deshalb enthält das bisher geltende Gesetz dazu keine Regelung. Wir hatten uns aber vorgenommen, in diesem Jahr für eine Klärung zu sorgen. Das ist aus Gründen, die weder Sie noch wir zu vertreten haben, nicht geschafft worden. Aber die Folgerung daraus kann nicht sein, dass man die Geltungsdauer des bisher geltenden Gesetzes einfach verlängert. Stimmen Sie vielmehr unserem Änderungsantrag zu! Wir kommen den Petita, die die FDP immer wieder formuliert hat, voll entgegen, indem wir durch eine eindeutige Formulierung den Kernbereich der privaten Lebensführung schützen. Danach dürfen zum Beispiel keine Briefe durchgelesen werden, die diesen Kernbereich betreffen. Wenn ein Brief den Kernbereich der privaten Lebensführung betrifft, dann muss die Lektüre abgebrochen werden. ({5}) Wir schützen den Kernbereich privater Lebensführung auch beim Telefonieren. Wenn ein Richter feststellt, dass der Kernbereich der privaten Lebensführung Gegenstand eines abgehörten Telefonats war, dann darf der Inhalt nicht verwendet werden und die Aufnahme muss sofort gelöscht werden. Die Erkenntnisse, die aus dem Abhören dieses Telefonats gewonnen worden sind, dürfen im Verfahren nicht eingesetzt werden; vielmehr muss ein Verwertungsverbot greifen. ({6}) Wir haben eine weitere Regelung in unseren Änderungsantrag aufgenommen - auch da könnte man unterschiedlicher Meinung sein -, die darauf abzielt, dass damit Schluss gemacht wird, dass die Berufsgeheimnisträger in Deutschland nur mangelhaft geschützt sind. Wir wollen, dass Geistliche, Ärzte, Rechtsanwälte, Strafverteidiger, aber auch Journalisten in vollem Umfang geschützt sind, wenn sie telefonieren und wenn sie Briefe schreiben. Deshalb sollen sie von jeglicher Überwachung ausgenommen werden. Wir haben das in unserem Änderungsantrag wunderbar formuliert. Ich fordere alle Seiten daher auf: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Dann hätten wir in Zukunft ein verfassungskonformes Gesetz und es gäbe keine Regelungslücke. Niemand könnte Waffenfabriken oder Ähnliches ins Ausland transportieren, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er nach einer Telefon- oder Briefüberwachung erwischt wird. So ist unser Petitum. Geben Sie sich einen Ruck! Wir zeigen, wie konstruktive Oppositionsarbeit möglich ist. Zeigen Sie, wie konstruktive Koalitionsarbeit und konstruktive Oppositionsarbeit zusammenfinden können! ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes auf Drucksache 16/88. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/252, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/271 zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/272? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit bei Enthaltung der FDP und einer Enthaltung bei der Linken gegen die Stimmen der Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der meisten Abgeordneten der Linken abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/277. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Was ist mit der Fraktion der Grünen? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt ({0}) Gilt bei der Fraktion der Grünen Enthaltung, so wie das bei einigen Mitgliedern der Fall war, oder beteiligt sie sich nicht an der Abstimmung? ({1}) - Wenn ich das Signal richtig deute, ist es „Enthaltung“. ({2}) - Dagegen? - Ich wiederhole die Abstimmung, damit es sauber ist. Es geht um den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- trag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen, der FDP und der Grünen mit Ausnahme der Enthaltung einer Abgeordneten gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Verbraucherinformationsgesetzes ({3}) - Drucksache 16/199 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Bleser, Ursula Heinen, Gitta Connemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Waltraud Wolff ({5}), Ulrich Kelber, Volker Blumentritt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Lebensmittelskandalen effektiv entgegenwirken - Verbraucher umfassend informieren - Drucksache 16/195 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile dem Kollegen Dr. Reinhard Loske von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. ({7}) - Herr Kollege, einen Moment! Vielleicht könnten die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal verlassen oder zumindest die Gespräche so führen, dass man dem Redner zuhören kann. - Ich bedanke mich. Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute unseren Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes ein. Uns geht es darum, den Verbraucherinnen und Verbrauchern umfassende Informationsrechte gegenüber der öffentlichen Hand und gegenüber Unternehmen einzuräumen. Bei der Regierungserklärung ist von der Bundeskanzlerin ein hoher Ton angeschlagen worden. Es ging um „Mehr Freiheit wagen“. Was wir mit diesem Gesetzentwurf wollen, ist „Mehr Informationsfreiheit wagen“. Darum geht es uns. ({0}) Hintergrund der Debatte, die wir heute führen, ist natürlich der Ekelfleisch- und Gammelfleischskandal. Es muss klar sein, dass solche kriminellen Machenschaften rücksichtslos aufgedeckt und streng geahndet werden. Wer so etwas tut, kann definitiv nicht mit der Rücksicht des Staates rechnen. Wer betrügt, umdeklariert, panscht oder abzockt, muss mit harten Sanktionen rechnen. Vor allem - das ist zentral - müssen in Zukunft Ross und Reiter genannt werden. ({1}) Für uns ist die Schaffung von Informationsrechten aber nicht erst seit der aktuellen Ekelfleischdebatte zentral. Heute unternehmen wir den dritten Versuch, den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir haben 2002 das Verbraucherinformationsgesetz eingebracht. Es ist damals an unionsgeführten Ländern im Bundesrat gescheitert. 2004 haben wir umfassende Verbraucherinformationsrechte im Rahmen des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs eingebracht. Auch das ist im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss an Union und FDP gescheitert. Gegen beide Gesetze hat übrigens auch der CSU-Abgeordnete Seehofer gestimmt. Ich hätte gar nicht darüber geredet, ehrlich gesagt, ({2}) weil das Schnee von gestern ist, aber wenn jetzt Geschichtsklitterung betrieben wird, wenn so getan wird, als beginne man erst jetzt mit dem Verbraucherschutz, dann muss ich ganz klar sagen: Die Ursache dafür, dass schwarze Schafe bis heute nicht beim Namen genannt werden, hat ganz eindeutig einen Namen, und zwar Union. ({3}) Zu unserem Gesetzentwurf. Wir wollen, dass öffentliche Stellen und Unternehmen gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern auskunftspflichtig sind. Es kann nicht sein, dass öffentliche Stellen nach Lust und Laune Auskunft erteilen oder verweigern können. Aber falsch ist auch, was die große Koalition offenbar vorhat, nämlich die Auskunftspflicht auf die öffentlichen Stellen zu beschränken. Es ist mindestens genauso wichtig, den Unternehmen eine Informationspflicht aufzuerlegen. Die Klügeren unter den Unternehmen erteilen bereits Auskunft. Sie haben längst erkannt, dass eine moderne Kommunikationskultur und Information der Verbraucher die Chance bieten, die Kundenbindung zu erhöhen. Es geht hier also nicht um eine Last, sondern um eine reale wirtschaftliche Chance. Ich wünsche mir, dass auch die große Koalition das endlich versteht. Es gibt - das ist dem Antrag von der CDU/CSU und der SPD zu entnehmen - einen Bürokratievorwurf gegenüber unserem Gesetzentwurf, der ungefähr so lautet: Wenn man den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu viel Informationsrechte einräumt, dann bombardieren sie möglicherweise die Unternehmen mit Anfragen und legen sie lahm. Das ist natürlich völliger Humbug. Ich lese Ihnen einmal § 10 unseres Gesetzentwurfes vor. Dort heißt es: Jeder hat Anspruch, dass Unternehmen die bei ihnen vorliegenden Verbraucherinformationen in einer der Größe des Unternehmens angemessenen Art und Weise zugänglich machen … Ihr Reden von Bürokratie oder überbordenden Anforderungen ist also nichts anderes als Ablenkung von der eigenen Tatenlosigkeit. Das muss man ganz klar sagen. ({4}) Es geht uns nicht nur um Verbraucherinformationsrechte bei Lebensmitteln, sondern auch um umfassende Verbraucherinformationsrechte bei allen Produkten und Dienstleistungen. Wir finden, dass die Verbraucher auch ein Recht darauf haben, zu erfahren, ob in Kinderspielzeugen Weichmacher sind, ob Kosmetika mithilfe von Tierversuchen oder Teppiche in Kinderarbeit hergestellt worden sind oder ob Pensionsfonds bei der Geldanlage auch ethische Kriterien berücksichtigen. Das sind keine unmäßigen Forderungen; in anderen Ländern, beispielsweise im angelsächsischen Raum, wird das längst praktiziert. Ich fordere Sie auf, diesem Beispiel zu folgen. ({5}) Ich habe schon meine Zweifel, dass die große Koalition dieses Thema ernst genug nimmt. Die Entscheidungen in der letzten Zeit sind sehr problematisch. ({6}) - Herr Goldmann, Sie sind nicht an der Regierung, kapieren Sie das endlich! Sie müssen nicht mehr die CDU/ CSU verteidigen, sondern Opposition machen. Lernen Sie das endlich einmal! ({7}) Ich habe meine Zweifel, wenn ich sehe, dass Herr Gabriel nach Brüssel fährt und dort aus der Chemikalienrichtlinie Verbraucherrechte herausstreicht. Das ist schon sehr problematisch. Die Verbraucherverbände haben dazu das Notwendige gesagt. Zweifel habe ich auch, wenn ich sehe, dass Herr Minister Seehofer gestern neue, gentechnisch veränderte Organismen genehmigt hat, bei denen ausgesprochen fragwürdig ist, welche Gesundheitsfolgen und Folgen bezüglich der genetischen Vielfalt sie haben. Jetzt soll es ein Verbraucherinformationsgesetz geben, das die Unternehmen aus der Informationspflicht ausnimmt. Da kann ich nur sagen: Das hat so viel mit Verbraucherschutz zu tun wie die Kuh mit dem Sonntag, nämlich gar nichts. Das ist kein Verbraucherschutz. ({8}) Wir brauchen mehr Verbraucherschutz, mehr Informationsfreiheit, denn der mündige Verbraucher benötigt Informationen, um gut entscheiden zu können; deshalb dieses Gesetz. Lieber Kollege Goldmann, werfen Sie Ihr Herz über die Hürde und stimmen Sie dem Gesetz zu; denn es ist ein sehr gutes Gesetz! Schönen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Dr. Gerd Müller.

Dr. Gerd Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002742

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Loske, Sie sind in der Realität nicht angekommen. Ihre Realität heißt: Zurück zur Illusion. Das zeigt sich auch an dem von Ihnen eingebrachten Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes. Der Bürger hat einen Anspruch auf Informationen. Verbraucherinformation ist ein Bürgerrecht. Wir werden ihm nachkommen. Der Verbraucherschutz ist eine wichtige Querschnittsaufgabe in der Politik geworden. Der Ekelfleischskandal hat uns ganz aktuell die Notwendigkeit neuer Instrumente vor Augen geführt, die über den bisherigen Katalog hinausgehen. Minister Seehofer hat kurz und prägnant, aber auch entschlossen mit einem Zehnpunktekatalog reagiert. Ich möchte einige Punkte stichwortartig nennen. Wir werden erstens das komplette Melde- und Kontrollsystem zwischen den Ländern und dem Bund, aber auch auf europäischer Ebene auf den Prüfstand stellen und mit neuen Ansätzen zu wesentlichen Verbesserungen beitragen. Ich möchte an dieser Stelle sagen: In einer globalisierten Welt, in der wir offene Märkte auch für Lebensmittel propagieren - Stichwort WTO -, wird die Frage, wie wir diese offenen Märkte für den Verbraucher nachvollziehbar kontrollieren und ihm Sicherheit geben, eine immer höhere Bedeutung bekommen. ({0}) Wir werden zweitens als Reaktion auf diesen aktuellen Skandal den Gewerbezugang zukünftig verschärfen. Das zielt auf diejenigen, die beispielsweise am Fleischmarkt, mit dem Laptop in Appartements zurückgezogen, auf kriminelle Weise agieren und damit eine gesamte Branche in Verruf bringen. Es geht darum, diese kriminellen Subjekte aus dem Markt zu drängen. Deshalb werden wir die Regelungen hinsichtlich des Gewerbezugangs für Personen, die mit Lebensmitteln zu tun haben, verschärfen. Ein dritter Punkt ist die Rückverfolgbarkeit der Produkte. Wir streben in einem bundesweiten Modellversuch eine bessere Vernetzung der Systeme der staatlichen Kontrolle auf kommunaler Ebene und Länderebene mit der Bundesebene und eine Vernetzung der staatlichen Systeme mit den Eigenkontrollsystemen des Handels an. Wir freuen uns sehr, dass der Handel und die Industrie auf diese Initiativen eingestiegen sind. Denn effektiven Schutz können wir am besten nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft und mit dem Handel organisieren. ({1}) Herr Loske, wir gehen gegen die Missstände konkret und entschlossen vor. Dazu gehört viertens ein neues Verbraucherinformationsgesetz, das die Rechte des Verbrauchers stärkt. Wir gehen dieses Thema an; wir wollen mehr Transparenz und mehr Offenheit. Daran sind Verbraucher und Wirtschaft gleichermaßen interessiert. Wir freuen uns, dass auch die Wirtschaft dies im eigenen Interesse so sieht und deshalb offen und transparent dem Verbraucher gegenübertritt und dieses Gesetz unterstützt. Wir machen hier keinen Schnellschuss, sondern wir werden Ihnen zu Beginn des Jahres einen abgestimmten und durchdachten Vorschlag unterbreiten. Unser Verbraucherinformationsgesetz hat zwei wesentliche Bestandteile. Erstens die Namensnennung. Zukünftig müssen schwarze Schafe - beispielsweise solche, die beim Fleischskandal in Erscheinung getreten sind - genannt werden. ({2}) Dies ist zwar bisher schon möglich. Aber wir werden eine Ergänzung der bestehenden Rechtslage vornehmen. Schwarze Schafe müssen zukünftig auch dann genannt werden, wenn das Fleisch bereits auf den Markt gebracht und verbraucht ist. Es ist ja geradezu ein Paradoxon, dass diejenigen belohnt werden, die ihr Fleisch schnell am Markt unterbringen. Hier bedarf es natürlich einer Ergänzung. Wir erwarten uns von der Namensnennung einen Druck auf die Wirtschaft, der zu einer Verbesserung der Eingangs- und Eigenkontrollen der Industrie führt. Zweitens. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz schaffen wir einen Paradigmenwechsel. Die Verbraucher erhalten zukünftig einen Rechtsanspruch auf Akteneinsicht und einen Rechtsanspruch auf Behördenauskunft. Das ist, wie gesagt, ein Paradigmenwechsel im Vergleich zur aktuellen Rechtslage. ({3}) Die Grünen fordern darüber hinaus einen Anspruch auf Auskunft gegenüber den Unternehmen. Man muss sich das einmal vorstellen! Jeder Verbraucher soll ein Auskunftsrecht gegenüber den Unternehmen haben. Wir können so etwas realistischerweise national nicht umsetzen. ({4}) Dazu müsste es einen europäischen Ansatz geben. Es würde sich die Situation ergeben, dass große Handelsketten die Wahrung dieses Auskunftsrechts noch garantieren können. Aber die mittelständischen Betriebe würden in arge Bedrängnis gebracht werden. Die Grünen fordern in ihrem Gesetzentwurf weiterhin einen Anspruch auf Information - ich musste mir das notieren, weil ich es nicht glauben konnte - über allgemeine Menschenrechtsanliegen, über Rechte von Kindern in der Produktion. Sie haben mit Ihren Forderungen natürlich den Rahmen der Realität verlassen. Sie erheben Maximalforderungen und fallen in die Zeit von vor sieben Jahren zurück, als Sie in der Opposition waren. Sie machen damit Schlagzeilenpolitik. Das haben Sie sehr schnell wieder gelernt. Sie waren sieben Jahre in der Verantwortung. Frau Künast hat fünf Jahre in dem zuständigen Ressort die Verantwortung getragen. Sie hatte Zeit, die Verbraucherrechte zu stärken. Deswegen sagt Herr Minister Seehofer sehr zu Recht: Das war Symbolpolitik. ({5}) Sie haben kein Gesetz in das Gesetzgebungsblatt gebracht. ({6}) Wir werden das schaffen. ({7}) Wir haben im Bundesrat, wie Sie eben angedeutet haben, diese Pläne, die das Ziel „Zurück zur Illusion“ hatten, natürlich gestoppt. Wir gehen jetzt einen realistischen Ansatz. ({8}) Sie haben fünf Jahre diskutiert und wir werden im Januar einen Gesetzentwurf vorlegen, ({9}) der in den zwei von mir genannten Punkten einen realistischen Ansatz und einen Quantensprung nach vorne in der Stärkung der Verbraucherrechte mit sich bringt. Wir werden diesen Ansatz in Abwägung der Interessen der Wirtschaft und zur Stärkung der Verbraucher zusammen mit den Bundesländern auf der Basis des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses einbringen. Alle sind dazu eingeladen, zum Erfolg beizutragen. Herzlichen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Clemens Bollen, herzlich willkommen an deinem ersten wirklichen Arbeitstag heute hier im Plenum! Heute las ich etwas sehr Schönes in einer großen Handwerkszeitung. Ich las nämlich die Überschrift: Beim Metzger gibt es kein Gammelfleisch. In Norddeutschland würde man sagen: im Fleischerfachgeschäft. In Bayern sagt man eher: Beim Metzger gibt es kein Gammelfleisch. ({0}) Ich trage das deshalb vor, weil es mir sehr darum geht, dass man in der Diskussion um dieses so genannte Gammelfleisch ein bisschen differenzierter zu Werke geht, dass man nicht generell von mafiösen Strukturen spricht, sondern zwischen denjenigen unterscheidet, die Böses bzw. Schlimmes getan haben, und denjenigen, die sich in einem schwierigen Markt mit hoher Qualität nach wie vor erfolgreich behaupten. ({1}) Ich meine, man sollte auch ein bisschen differenzieren, wenn es darum geht, wie viele Fehlgriffe und Auffälligkeiten bei Kontrollen festgestellt werden. Wissen Sie, dass eine gesprungene Fliese eine Anmerkung bedeutet, dass das Fehlen von Papierhandtüchern kritisiert wird? Wir müssen also schon etwas genauer hinschauen, wenn wir die einzelnen Fälle fachlich betrachten. Ich kann nur dazu appellieren, zu Fachlichkeit und Sachlichkeit bei diesem Thema zurückzukehren und von der Hysterie, die in einigen Bereichen herrscht, wegzukommen. ({2}) Insgesamt würde ich es sehr begrüßen, wenn der Bereich der Lebensmittelverarbeitung und gerade die Fleischbranche bei uns allen ein bisschen mehr und positiver ins Bewusstsein rücken würden. Da ich selbst in diesem Bereich beruflich tätig war, kann ich sagen, dass diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, unter der Diskriminierung, die ihnen in weiten Teilen der Gesellschaft entgegengebracht wird, sehr leiden. ({3}) Es gibt immer noch Leute, die glauben, dass die Erziehung schlecht gelaufen ist, wenn ein junger Mann den Fleischerberuf erlernen will. Ich denke, wenn wir insgesamt dafür sorgen, dass es mehr Anerkennung für den Wert von guten Lebensmitteln gibt und der Fleischerberuf, der Bäckerberuf und die Hotel- und Gaststättenberufe, also die Lebensmittel verarbeitenden Berufe insgesamt, in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert haben, dann machen wir uns auf den richtigen Weg. Lassen Sie uns das etwas breiter anlegen! Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass zum Beispiel Fächer wie Ernährungslehre heute wieder in den Schulen und in der Gesellschaft insgesamt einen höheren Stellenwert bekommen. ({4}) - Herr Loske, das steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verbraucherinformationsgesetz. Denn derjenige, der kundig ist, braucht dieses Gesetz, das Sie hier auf den Weg bringen wollen, nicht. Es geht nämlich nicht darum, dass der Staat jedem sagt, worüber er sich informieren soll. ({5}) Es geht vielmehr darum, dass wir dafür sorgen, dass der Verbraucher überall dort, wo er sich aus eigener Kraft nicht informieren kann, an die entsprechende Information kommt. ({6}) Deswegen sind wir für eine Deklaration - auch für eine differenzierte - der Inhaltsstoffe; das ist überhaupt keine Frage. Aber wir sind entschieden dagegen, Herr Loske, dass es so weitergeht wie bisher. Über Nacht - ich war damals im Vermittlungsausschuss dabei - sollte Ihr EntHans-Michael Goldmann wurf eines Verbraucherinformationsgesetzes in das Futtermittel- und Lebensmittelgesetz hineinkommen. ({7}) So war es überhaupt nicht möglich, ihn differenziert zu betrachten. ({8}) Einem Verbraucherinformationsgesetz, das dem Verbraucher die Chance gibt, sich zu informieren, und der Wirtschaft, mit diesem Thema fair umzugehen, stehen wir offen gegenüber. Wir werden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eine Anhörung verlangen. Dabei werden wir eine außerordentlich konstruktive Rolle einnehmen. Da brauchen Sie sich überhaupt keine Gedanken zu machen. Es ist keine Frage, dass Gammelfleisch auf dem Markt nichts zu suchen hat; darüber brauchen wir uns nicht zu streiten. Herr Staatssekretär, Sie haben hier das Zehnpunkteprogramm von Herrn Seehofer genannt. Generell wird damit die richtige Richtung verfolgt. Ich bitte aber darum, hier noch einmal sehr genau hinzuschauen. Ich bin für ein Frühwarnsystem und für die Rückverfolgbarkeit gerade im Bereich des Kategorie-3Materials. Ich bin für eine Verzahnung von staatlichen und privaten Qualitätssicherungssystemen. Ich bin für eine Informationspflicht und - das steht in unseren Pressemitteilungen und das mache ich auch in Gesprächen mit der Fleischwirtschaft deutlich - für einen Ehrenkodex in dieser Branche. ({9}) - Ja, noch einer. Ich will keinen Vergleich zum Altbundeskanzler ziehen, wie es der Kollege von der Linken heute Morgen gemacht hat. Ich glaube, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, diesen Bereich durch Gesetze so kontrollieren zu können, dass - ich will mich einmal so ausdrücken - Drecksäcke in diesem Markt keine Chance haben. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass diejenigen, die qualitätsorientiert arbeiten, jene outen, die diesen Bereich kaputtmachen. Die wenigen schwarzen Schafe müssen an den Pranger gestellt werden und durch Berufsverbot aus dem Markt verschwinden. Durch ein solch klares Vorgehen können wir dafür sorgen, dass die Qualität des Marktes nach außen sichtbar gemacht wird. Außerdem hängen an diesem Markt unendlich viele Arbeitsplätze in Deutschland, die wir gewahrt wissen wollen. ({10}) Wir setzen auf Fachlichkeit statt auf Populismus. Nun zum Thema Namensnennung. Es ist ganz simpel: Die Namensnennung ist schon heute möglich, wenn gesundheitliche Gefahr im Verzug ist. Jeder, der ein bisschen Ahnung hat, weiß, dass damals die Firma Coppenrath & Wiese genannt worden ist. Lassen Sie uns also keinen Popanz über Neues aufbauen! Lassen Sie uns erst einmal die gegebenen Möglichkeiten nutzen! Lassen Sie uns die Kontrollsysteme verbessern! Wirken wir darauf hin, dass die Länder und die Kommunen die Lebensmittelkontrollen verstärken und dass die Koordination zwischen den Behörden verbessert wird! Herr Dr. Müller - ich würde auch den neuen Minister ansprechen, wenn er hier wäre -, was Bayern in diesem Punkt geleistet hat, war wirklich ein Paradebeispiel für Fehlverhalten von Behörden und örtlichen Ministern. Wer behauptet, dass die Staatsanwaltschaft keine Pflicht zur Information und zur Bekämpfung solcher Missstände hat, der ist schlicht auf dem falschen Trip. Wir sollten hier viel Gemeinsamkeit entwickeln, um den Problemen zu begegnen. Wir sind bereit, ein vernünftiges Verbraucherinformationsgesetz qualifiziert zu begleiten. Dann werden wir - dessen bin ich mir sicher zu einem guten Ergebnis kommen. Herzlichen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kleine Schweinerei gefällig?“, so lautete ein Werbeslogan, der den Verbraucherinnen und Verbrauchern Appetit auf Schweinefleisch machen sollte. Die große Schweinerei, die uns seit einigen Monaten beschäftigt, droht allerdings so manchem die Lust auf Fleisch zu versauen. Wenn nach dem Motto „Aus Alt mach Neu“ verdorbenes Fleisch umetikettiert und mit neuem Haltbarkeitsdatum versehen wird, wenn Schlachtabfälle wie Haut, Haare und Innereien zu lebensmitteltauglichem Fleisch umdeklariert werden, wenn schmierige, schimmelige Wurst abgewaschen und mit Öl eingerieben wieder als Frischwurst an der Ladentheke angeboten wird, dann ist das nicht nur eklig, sondern im schlimmsten Fall gesundheitsgefährdend und in jedem Fall kriminell. ({0}) Als kriminelle Tat müssen solche Vorfälle mit aller Härte geahndet werden. ({1}) Die These „Geiz gebiert Gammel“ ist da zu hören. ({2}) Das klingt nach einem Zweiklassenlebensmittelsortiment und danach, dass diejenigen, die zum Billigangebot greifen, selber schuld seien. Aber es kann nicht sein, dass den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Verantwortung für solche Machenschaften zugeschoben wird. Sie müssen davon ausgehen können, dass alle Lebensmittel - egal zu welchem Preis sie angeboten werden - den gesetzlichen Standards entsprechen und weder gesundheitlich bedenklich noch ekelerregend sind. ({3}) Doch weniger das Kaufverhalten der Verbraucher als vielmehr die hemmungslose Profitgier einzelner Anbieter schafft die Anreize für solchen Betrug. Da werden Produkte zu Preisen angeboten, zu denen sie nicht erzeugt werden können. Da werden die Entsorgungskosten für Abfälle gespart, indem die Abfälle zu Lebensmitteln umdeklariert und verkauft werden. „Gammel ist geil“, ({4}) wenn er sich zweimal rechnet: durch Einsparung der Entsorgungskosten und durch Profit beim Verkauf. - Ich weiß nicht, was der liebe Gott damit zu tun hat, Herr Kollege Goldmann. Der Gammelfleischskandal zeigt auch: „Billig“ kann etwas völlig anderes als „preiswert“ sein. Verdorbene Lebensmittel sind ihren Preis nicht wert. Wir wollen den aufgeklärten Verbraucher, der Zugang zu der Information hat, ob ein Produkt seinen Preis wert ist. ({5}) Um solche Skandale zu verhindern, brauchen wir ein umfassendes, eigenständiges Verbraucherinformationsgesetz, das die Befugnis der Behörden zur Information der Öffentlichkeit erweitert. Es reicht nicht aus, wenn die Namen der in solche Skandale verwickelten Unternehmen nur dann genannt werden dürfen, wenn die Ware noch in den Verzehr kommen könnte. Wir brauchen ein Verbraucherinformationsgesetz, das für Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit schafft, an die bei den Behörden vorliegenden Informationen über Verstöße zu kommen. Denn das sorgt für Vertrauen und Transparenz. Das versetzt Verbraucher in die Lage, bewusste Kaufentscheidungen zu treffen und sich vor zweifelhaften Angeboten zu schützen. Das hat eine abschreckende Wirkung auf Verantwortungslose, die aus Profitgier die Standards unterlaufen; denn solche Machenschaften können nur im Dunkeln gedeihen. Ein solches Verbraucherinformationsgesetz liegt auch im Interesse der Wirtschaft; denn es hilft den korrekt und verantwortlich handelnden Unternehmen - und das ist Gott sei Dank immer noch die große Mehrheit -, sich gegen eine kleine, kriminelle Minderheit durchzusetzen und sie vom Markt zu drängen. Deshalb sollten auch die bei der Wirtschaft selbst vorliegenden Informationen den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugänglich gemacht werden, damit nicht eine ganze Branche ungerechtfertigt in Verdacht gerät und unter solchen Skandalen leiden muss. ({6}) Sehr geehrten Damen und Herren, andere Länder sind in diesem Punkt schon weiter. In den USA zum Beispiel veröffentlicht die FDA - das ist die Food and Drug Administration - solche Informationen mit Produkt- und Firmennamen im Internet, also für jeden zugänglich. Wir könnten ein Verbraucherinformationsgesetz längst haben. Wer hier mit datenschutzrechtlichen Bedenken argumentiert, muss sich die Ungleichbehandlung von Firmendaten und privaten Daten vorwerfen lassen. Wenn Händler zum Beispiel über Kundenkarten umfangreiche Daten über ihre Abnehmer sammeln dürfen, warum sollen die Kunden dann kein Recht auf Information über Herkunft und Qualität der Produkte haben? ({7}) Herr Staatssekretär, das Verbraucherinformationsgesetz ist zwar nicht die Erfindung von Herrn Minister Seehofer, aber wir sind froh darüber, dass Sie sich eine gute Idee zu Eigen machen. Ich versichere Ihnen: Sie haben unsere volle Unterstützung. ({8}) Der Fleischskandal sorgt für Handlungsdruck. Ihr angekündigter und in den Medien breit diskutierter Maßnahmenkatalog hat eine hohe Erwartungshaltung in der Bevölkerung erzeugt. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass den Ankündigungen auch Taten folgen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf und unsere politische Glaubwürdigkeit verlangt es, dass wir gemeinsam alle Möglichkeiten nutzen, um Verstöße zu verhindern und gewissenlosen Betrügern das Handwerk zu legen. Dazu gehört auch: Mehr Abschreckung durch harte und konsequente Verfolgung von Verstößen gegen lebensmittelrechtliche und futtermittelrechtliche Bestimmungen. Solche Verstöße sind keine Kavaliersdelikte, sondern kriminell. Kein Verkauf unter Einstandspreis; denn wenn standardgemäße Produktion Verluste verursacht, werden seriöse Anbieter vom Markt verdrängt und ihre Existenz wird gefährdet. Mehr Transparenz und Rückverfolgbarkeit, auch bei Schlachtabfällen. Verbesserung bei den Kontrollen und eine bessere länderübergreifende Koordinierung. Sehr geehrte Damen und Herren, im Ernährungsbereich darf es null Toleranz für Schlampereien und Betrug geben. So wie die BSE-Krise werden wir auch diesen Gammelfleischskandal nutzen, um für mehr Transparenz und Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen. Mit dem Spruch „Der Kunde ist König“ wird in der Wirtschaft gern geworben. Auch in der Verbraucherpolitik wollen wir den Kunden, den Verbraucher, an oberster Stelle. Der Schutz der Verbraucher muss Priorität haben, auch vor wirtschaftlichen Interessen. Beim Verbraucherinformationsgesetz können wir gemeinsam zeigen, dass es uns damit Ernst ist. Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat die Kollegin Frau Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass sich der Bundestag mal wieder mit dem Verbraucherinformationsgesetz beschäftigt. Als Fraktion Die Linke begrüßen wir selbstverständlich alle Initiativen, die den berechtigten Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern dienen. Das Verbraucherinformationsgesetz gehört dazu. Angesichts der hektischen Betriebsamkeit sei jedoch daran erinnert, dass der Bundestag bereits 2002 und 2005 Gesetzesinitiativen beschlossen hat, die aber im Bundesrat gescheitert sind. Für den Streit, wer wann wie und warum wen blockiert hat, haben Menschen außerhalb dieses Parlaments wenig Verständnis. Sie sehen das als ein Kapitel des kollektiven Versagens. ({0}) Der immer geringere Zeitabstand zwischen den Lebensmittelskandalen erzwingt nun den Neuanfang mit neu gemischten politischen Karten. Das wird sehr spannend; denn bislang lagen die Positionen der neuen Koalitionäre bei diesem Thema weit auseinander, wie auch dem Plenarprotokoll vom Juni 2005 zu entnehmen ist. Dem angekündigten Gesetzentwurf der Koalition sehen wir daher mit Skepsis entgegen. Wir werden sehen, welche Ideen aus dem rot-grünen Projekt überlebt haben. Die Einbeziehung der Erfahrung und des Sachverstands der Verbraucherschutzorganisationen in den Entscheidungsprozess halten wir für unverzichtbar. ({1}) Unsere Forderung ist ein verlässliches, leicht und ohne finanzielle Hürden zugängliches, transparentes Informationssystem. Das hätte sicherlich auch die gewollte disziplinierende Wirkung. Das ist aber nur ein Teil der Lösung und kein Ersatz für wirkliche Präventionskonzepte. Dazu müssen die wirklichen Ursachen dieser Skandale offen benannt werden: der ruinöse Wettbewerb kurzfristig gedachter Kapitalverwertungsinteressen. Wenn Entsorgung von Gammelfleisch über den menschlichen Magen günstiger ist als über die Deponie, dann kann in diesem System etwas nicht richtig sein. ({2}) Der Gesetzgeber hat einen klaren Handlungsauftrag zur Sicherung der Interessen der Gesellschaft. Es muss geprüft werden, ob nicht mit einigen Entscheidungen ein Sektor der Halblegalität geschaffen wurde, in dem der Weg zur Illegalität sehr kurz geworden ist. Ein aufgabenorientiertes Informationssystem setzt eine klare, eindeutige Definition voraus, welche Informationen verbraucherrelevant sind. Diffuse Datensammlungen können schnell zum Datenfriedhof werden. Es ist sehr verwunderlich, dass es diesbezüglich noch kein Handlungskonzept gibt; denn mit dem BVL und dem BfR wurden nach dem BSE-Skandal zwei Bundesbehörden völlig neu geschaffen, die sich explizit mit Fragen der Lebensmittelsicherheit beschäftigen sollen. Aber auch in andere Richtungen müssen wir neu denken. Es ist doch gruselig, was heute so alles, mit und ohne Kennzeichnung, in Lebensmittel eingemischt wird. Die Allergiker wissen, wovon ich rede. Sowohl bundesweit koordinierte hoheitliche als auch unabhängige Eigenkontrollsysteme sind erforderlich und sie müssen dringend vernetzt werden. Konsequente Sanktions- und Handlungsregelungen machen die Kontrollen aber überhaupt erst sinnvoll. Die private Wirtschaft darf nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Aber mittlerweile gibt es auch solche Qualitätssicherungssysteme, die die von uns geforderten Transparenzkriterien vom Stall bis zur Theke erfüllen. Auch eine entsprechende Zertifizierung kann die Kaufentscheidung erleichtern, wenn sie verlässlich und transparent ist. Über unsere beiden Regierungsbeteiligungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern werden wir im Bundesrat selbstverständlich vernünftige Vorlagen unterstützen. Hier kann man zu guten Lösungen kommen. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Ursula Heinen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Machen wir uns doch nichts vor: Wenn man den Gesetzentwurf liest, den die Grünen eingebracht haben, dann denkt man, man lebt auf einem anderen Stern. Die Realität wird komplett ausgeblendet, ökonomische Gegebenheiten werden ignoriert und die Unternehmen werden per se an den Pranger gestellt. Ich möchte Ihnen gerne aus einer Pressemitteilung der Grünen vorlesen, ({0}) in der das abschließend deutlich wird. ({1}) Dort heißt es: Wir bringen den Gesetzentwurf ein, um den Bürgern zu mehr Rechten zu verhelfen und ihre Abhängigkeit gegenüber Unternehmen … zu verringern. ({2}) Ich bin Volkswirtin und habe gelernt, dass Unternehmen ihre Produkte dann verkaufen können, wenn sie gut und in Ordnung sind. ({3}) Das gilt für die große Mehrheit der Unternehmen in Deutschland. ({4}) Es ist nicht so, dass die Unternehmen das Ziel haben, die Menschen zu betrügen. ({5}) Die Unternehmen wollen ihre Produkte verkaufen. Das schaffen sie aber nur, wenn sie sich vernünftig verhalten. ({6}) Der Versuch, den Sie jetzt unternehmen, ist nicht neu. Schon im Jahr 2001 haben Sie diese Forderungen in einem Eckpunktepapier erhoben, konnten diese aber nicht einmal in Ihrem eigenen rot-grünen Kabinett durchsetzen. Heute müssen wir sagen: Wir loben die Kollegen von der SPD, die diese abstrusen Vorstellungen, wie Sie sie niedergeschrieben haben und jetzt wieder verkünden, gestoppt haben. ({7}) Herr Loske, diese Forderungen haben Sie in der Folgezeit nicht mehr aufgestellt. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass wir schon mehrfach über das Verbraucherinformationsgesetz debattiert haben. Als Gerda Hasselfeldt als stellvertretende Vorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion für diesen Bereich zuständig war, haben wir einen Antrag zu diesem Thema eingebracht; auch damals haben wir darüber diskutiert. Aber Sie haben Ihre Forderungen nicht mehr eingebracht. Auch im Rahmen der von Michael Goldmann zitierten Nacht-und-Nebel-Aktion haben Sie Ihre Forderungen nicht mehr erhoben, sondern Sie haben sich genau so geäußert, wie es Staatssekretär Müller vorhin getan hat. ({8}) Sie hatten überhaupt keine anderen Ideen. Das, was Sie hier machen, ist absolut scheinheilig, Herr Loske! ({9}) Sie wissen auch, warum das, was Sie hier tun, scheinheilig ist. Der Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ging viel zu weit. Er ist in der Realität nicht umsetzbar. ({10}) Der Begriff „Verbraucherinformation“ - das ist schon angesprochen worden - soll, wenn es nach Ihnen geht, Belange des Tierschutzes, der Menschenrechte, Kinderarbeit etc. umfassen. Anstatt sich um die Verbesserung der Situation im Lebensmittelbereich zu kümmern, überhöhen Sie das Thema Verbraucherinformation noch zusätzlich durch Ihre Ideologie. ({11}) Das ist nicht machbar. Der Anspruch auf Information, den Sie fordern, ist überhaupt nicht durchsetzbar. Ich lade Sie ganz herzlich ein - das können wir nächste Woche, noch vor Weihnachten, machen -, gemeinsam mit mir in der Kölner Innenstadt die kleinen Metzgereibetriebe anzuschauen. Wir können auch eine kleine Milchgenossenschaft besuchen. Spätestens dann werden wir wissen, ob sie in der Lage sind, Ihren wahnsinnigen Auskunftsansprüchen Rechnung zu tragen. ({12}) Ich kann Ihnen die Antwort auf diese Frage aber schon jetzt geben. Wie soll das funktionieren? Das können sie nicht leisten. ({13}) Ihre etwas vage Formulierung hilft den Unternehmen nicht. Wenn jemand von einem kleinen Metzgereibetrieb ganz genaue Auskünfte haben möchte, funktioniert das einfach nicht. Aber wir beide können gerne einen Termin dafür ausmachen und das nächste Woche einmal ausprobieren. ({14}) Wenn wir uns damit befassen, Auskunftsansprüche gegenüber Unternehmen einzuführen, können wir das doch nicht in Deutschland im Alleingang machen. Wir leben doch hier nicht auf einer Insel der Glückseligkeit! Wir können uns es nicht leisten, immer wieder mit irgendetwas vorzupreschen. Wenn, müssen wir uns auf europäischer Ebene darüber unterhalten. Aber da frage ich Sie von den Grünen, die Sie fünf Jahre lang die Ressortverantwortung dafür hatten: Haben Sie in diesen fünf Jahren dazu irgendeine Initiative auf europäischer Ebene gestartet? ({15}) Nein, kein einziges Mal haben Sie das Thema „bessere Verbraucherinformation“ auf europäischer Ebene eingebracht. ({16}) Doch jetzt fordern Sie hier Gott weiß was! Und um sozusagen das i-Tüpfelchen draufzusetzen, fordern Sie einen Bundesbeauftragten für den Zugang zu Verbraucherinformationen. Das ist noch das Allerbeste! Da bin ich ja der Kollegin von der Linken fast dankbar, dass sie auf die ganzen Ämter und Behörden aufmerksam gemacht hat, die es für diesen Bereich bereits gibt, beispielsweise das Bundesamt für Verbraucherschutz. Damit nicht genug: Auch jedes Bundesland muss, wie in Ihrem Gesetzentwurf steht, einen eigenen Beauftragten für den Zugang zu Verbraucherinformationen benennen. Haben Sie sich einmal mit den Bundesländern darüber unterhalten, wie viele Leute sie ohnehin abstellen müssen, wenn wir diesen Anspruch auf Information einführen? Das wird alles gar nicht so einfach sein; das lässt sich nicht aus dem hohlen Bauch machen oder aus der Portokasse finanzieren. Anstatt hier einen zusätzlichen Beauftragten zu fordern, sollten Sie sich ein Beispiel daran nehmen, wie wir von der CDU/ FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen gerade einen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten: indem wir das Beauftragtenunwesen deutlich zurückfahren. ({17}) Wir werden in der Tat eine bessere Regelung zur Verbraucherinformation schaffen. Aber - und das ist der Unterschied - wir werden es durchdacht machen, in Absprache mit den betroffenen Verbänden, mit denen es selbstverständlich eine Anhörung geben wird. Unsere Regelung wird das Problem an der Wurzel packen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit geben, sich bei den Behörden - da gehört es hin! - vernünftig zu informieren über alle Fragen, die das Lebensmittel selbst betreffen, aber nicht auch noch über die zahlreichen weltanschaulichen Fragen, die Ihnen vorschweben. In diesem Sinne werbe ich für unseren Antrag, in dem wir auch unsere Unterstützung für ein Verbraucherinformationsgesetz erklären. Ich denke, dass wir im neuen Jahr vernünftige Beratungen darüber haben werden, und freue mich auf die neuerliche Diskussion über ein vernünftiges, durchdachtes Verbraucherinformationsgesetz. Danke schön. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Waltraud Wolff, SPDFraktion. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als vorhin meine Kollegin Elvira DrobinskiWeiß gesprochen hat, habe ich das Raunen bemerkt: Man solle vielleicht lieber nicht über Ekelfleisch reden, von schmierig und schimmlig, und besser verschweigen, dass Haut und Haare beigemischt wurden. Aber das gehört dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn genau das zeigt uns doch, dass ein umfassendes Verbraucherinformationsgesetz sowohl dringend notwendig ({0}) als auch überfällig ist. Herr Loske, ich will auch in Ihre Richtung einmal sagen: Wir haben nicht vergessen, was wir in sieben Jahren gemacht haben. Auch die neue Bundesregierung will diesen Weg weitergehen - es gibt keine Geschichtsklitterung. Aber das, was Sie jetzt betreiben, ist auch nicht ganz lauter. ({1}) Und, wie gesagt: Das Gesetz ist seit Jahren in der Pipeline. Es kann nicht angehen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher das Gefühl haben, dass sie fürs Falschparken sofort ein Knöllchen bekommen, während Menschen, die mit erheblicher krimineller Energie Abfälle als Lebensmittel verhökern, ungeschoren davonkommen sollen. ({2}) Das muss anders werden. Ich bin Herrn Minister Seehofer für seine klaren Worte und für sein konsequentes Vorgehen dankbar. Wir unterstützen ausdrücklich den Maßnahmenkatalog der Bundesregierung. ({3}) Wir alle, auch die Zuschauer oben auf der Tribüne, haben das Recht darauf, zu wissen, ob zwischen dem, was drin ist, und dem, was drauf steht, Unterschiede bestehen; ({4}) denn es geht schließlich um unsere Gesundheit. Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht betrogen werden. ({5}) Meine Damen und Herren, die Fraktion der Grünen hat auf die Schnelle einen Gesetzentwurf vorgelegt oder, besser gesagt, aus der Schublade gezogen. Vom Ansatz her ist er richtig. Sicherlich brauchen wir mehr und bessere Informationen für die Verbraucher, aber im Detail offenbaren sich Schwächen; meine Kollegin Heinen hat schon darauf hingewiesen. „Opposition macht frei“, dafür habe ich Verständnis. ({6}) Waltraud Wolff ({7}) Wenn aber die Gesetzentwürfe, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, nicht mehr als Grundlage dienen, sondern Sie viel weiter zurückgehen, ({8}) dann ist das unlauter. Für die Menschen draußen im Land, die genau wissen, dass solche Gesetze nicht beschlossen werden können, ist das Augenwischerei. Die Wünsche des Katalogs, den Sie aufgestellt haben, sind nicht zu erfüllen. ({9}) Wir brauchen ein praktikables Konzept, das zusammen mit den Ländern zügig umgesetzt werden kann. Eine weitere Bauchlandung mit einem Verbraucherinformationsgesetz können wir uns nicht leisten. Die Menschen erwarten endlich einen Erfolg, nämlich ein Gesetz, das ihrem Informationsanspruch gerecht wird. ({10}) Die Bundesregierung hat bereits Gespräche mit den Ländern und der Fleischwirtschaft geführt und wird einen Entwurf vorlegen. Ich nehme an, Herr Staatssekretär, dass das in der nächsten Zeit geschehen wird. Das Gesetz muss - das wissen wir alle; das ist in dieser Debatte ganz breit diskutiert worden - einen umfassenden Informationsanspruch der Verbraucher gegenüber den Behörden bieten. ({11}) Auf Nachfrage müssen Auskünfte erteilt und Ross und Reiter genannt werden. Aber nicht nur das. Die Behörden müssen Informationen auch aktiv an die Öffentlichkeit weitergeben, sodass schwarze Schafe sich nicht mehr verstecken können. Riesenschweinereien dürfen nicht durch fehlende Information gedeckt werden. Das wird in Zukunft anders. ({12}) Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. Wir haben in der Vergangenheit über den Weg zu mehr Information und zu mehr Transparenz gestritten. Wir haben verschiedene Gesetzentwürfe beraten. Die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten nun von uns entschlossenes Handeln und Taten. Lassen Sie uns an dieser Stelle weitermachen und nicht in der Vergangenheit grasen. Helfen Sie mit, dass wir ein vernünftiges Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg bringen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade der Fleischskandal macht wieder einmal mehr deutlich, dass Markttransparenz nutzt, und zwar allen. Märkte, die zusammenbrechen, bedeuten für die Verbraucher Vertrauensverlust, für die Unternehmer Image- und Finanzverlust und für die Beschäftigten Arbeitsplatzverlust. Das will niemand. ({13}) Keiner meiner Vorredner ist auf die guten Beispiele eingegangen. Ich möchte an die Firma Hipp erinnern. Einer ihrer Lieferanten von Putenfleisch für Kindernahrung hatte Selbstanzeige erstattet, als bemerkt wurde, dass etwas nicht stimmte. Anschließend erfolgte ein ganz transparentes Verfahren. ({14}) In der letzten Woche war ich in meinem Wahlkreis unterwegs und habe die Zerbster Fleisch- und Wurstwarenfabrik besucht. Diesen Namen sage ich gerne. Dieses Unternehmen hat nämlich keine Angst vor Transparenz, hat keine Angst, Auskünfte zu erteilen. Denn diese Firma wünscht sich, dass auf diesem Weg den Unholden das Handwerk gelegt wird. ({15}) Korrekt arbeitende Unternehmen müssen sich schützen können. Schwarze Schafe gehören an den Pranger; denn sie schaden der gesamten Branche. Natürlich brauchen wir auch mehr Aufklärung bei den Verbrauchern und Verbraucherinnen und auch eine verstärkte Bewusstseinsschulung. Das ist uns allen ja klar. ({16}) Die Wertigkeit der Lebensmittel ist in Deutschland nicht so, wie wir sie uns wünschen. Deutsche geben mit rund 15 Prozent ihres Einkommens nur die Hälfte von dem für Essen und Trinken aus, was zum Beispiel Franzosen und Italienern ihre Nahrungsmittel wert sind. Das zeigt diesen Mangel an Bewusstsein, der bei uns vorherrscht. Deshalb ist es wichtig, auch an diesen Punkten zu arbeiten. Mein Fazit lautet: Erstens. Ein Mehr an Informationen für die Verbraucher ist dringend erforderlich. Zweitens. Gemeinsam mit der CDU/CSU werden wir in naher Zukunft ein mit den Ländern abgestimmtes Verbraucherinformationsgesetz vorlegen, mit dem hoffentlich alle, auch die Wirtschaft, leben können. Danke. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/199 und 16/195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und zur Änderung weiterer Gesetze - Drucksache 16/39 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Arbeitgeberausgleich bei Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Fall von Krankheit und Mutterschaft ({1}) - Drucksache 16/46 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - Drucksache 16/243 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Albach Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion. ({4})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Regelungen über die Umlageverfahren zum Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlungen und Mutterschaftsleistungen überarbeitet. Die neuen Regelungen befinden sich künftig im eigenständigen Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung. Wesentlicher Inhalt der Neuregelungen ist die Umsetzung einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Anspruchsgrundlage für den Arbeitgeberzuschuss nach dem Mutterschutzgesetz nicht mit dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes vereinbar ist. Der uns alle bindende Art. 3 Abs. 2 im Grundgesetz lautet: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Wir werden dies mit dem neuen Gesetz tun. ({0}) Durch das bisherige Verfahren werden die Aufwendungen der Arbeitgeber bei Mutterschaft nur für Unternehmen mit weniger als 20 oder 30 Beschäftigten - je nach Satzung der Krankenkasse - ausgeglichen. Selbstverständlich erhalten auch die bei mittleren und großen Unternehmen beschäftigten Frauen beim schließlich sehr erfreulichen Ereignis einer Mutterschaft Mutterschaftsgeld. Nach der augenblicklichen Gesetzeslage findet hier aber kein Ausgleich statt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts besteht daher die Gefahr, dass mittlere und große Unternehmen Frauen im so genannten gebärfähigen Alter - Pi mal Daumen also fast alle Frauen bis 40 Jahre - bei der Einstellung benachteiligen. Wer kennt aus der Praxis nicht die zu Recht oder auch Unrecht geführten Diskussionen über den potenziellen Ausfall von Beschäftigten und die damit verbundenen möglichen Kosten für den Arbeitgeber? Schauen wir uns die Statistik an. In so genannten Kleinunternehmen bis 20 Beschäftigten arbeiten circa 9 Millionen Männer und Frauen. Mit kleineren Abweichungen in den alten bzw. neuen Bundesländern hält sich unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten das Verhältnis zwischen Frauen und Männern so ziemlich die Waage. Ganz anders sieht das Geschlechterverhältnis der Beschäftigten allerdings in den mittleren und großen Unternehmen aus. Circa 25 Millionen Beschäftigte sind hier tätig, davon 15 Millionen Männer, aber nur 10 Millionen Frauen. Frauen müssen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Dies ist nicht nur verfassungsrechtlich geboten, sondern sowohl für die einzelne Frau als auch für unsere Gesellschaft aus arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sicht zwingend. ({1}) Noch etwas anderes wurde vom Bundesverfassungsgericht herausgehoben. Diese 25 Millionen Beschäftigten sind nicht in das Ausgleichs- und Umlageverfahren einbezogen. Zu deren Arbeitgebern gehören allerdings nicht nur die so genannten produktionsorientierten Unternehmen, sondern auch Wohlfahrtsverbände und der öffentliche Dienst. Der Arbeitgeber hatte mit diesen mittleren und größeren Unternehmen wegen des so genannten Verwaltungsaufwandes keinerlei Rückerstattung vereinbart. Aber diese vermeintlichen Praktikabilitätserwägungen rechtfertigen das Risiko einer faktischen Diskriminierung von Frauen keinesfalls, egal welche Branche, ob öffentlicher Dienst, Wohlfahrtsverband oder Industrie. ({2}) Im Übrigen gleichen sich bei größeren Betrieben die Höhe der Mutterschaftsleistungen und die Umlage langfristig aus. Ein Kostenargument zählt also nicht. Ausdrücklich hingewiesen wurde auf die Möglichkeit der Ausweitung des Umlageverfahrens von Mutterschaftsleistungen, das so genannte U-2-Verfahren, auf alle Arbeitgeber, und zwar unabhängig von der Beschäftigungszahl. Hinzu kommt für uns, dass ein einheitliches Umlageverfahren, das nicht nach der Unternehmensgröße unterscheidet, den Vorteil der Verbreiterung der Beitragsbasis bietet. Es gab Kritik. Die Arbeitgeber haben sich in der Vergangenheit immer wieder auch im Rahmen der Anhörungen zu diesem Gesetzentwurf grundsätzlich gegen die Mutterschaftsleistungen gewandt und sich für eine Finanzierung aus Steuermitteln ausgesprochen. Diese Forderung ist nicht neu. Wir aber bleiben dabei, dass Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl - dazu gehört der Schutz von Müttern und Kindern auf jeden Fall - entlassen werden. Die mit den Mutterschaftsleistungen verbundenen Kosten dürfen auch von Verfassungs wegen grundsätzlich zwischen den Kostenträgern Bund, Krankenkassen und Arbeitgebern aufgeteilt werden. Das bedeutet: Alle Arbeitgeber sind in das Umlageverfahren einzubeziehen. So kommentierte auch das Bundesverfassungsgericht gegenüber der Presse seinen Beschluss wie folgt: Trotz des gestiegenen Anteils der Arbeitgeberleistungen überwiegen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung die öffentlichen Leistungen für den Schutz von Mutter und Kind bei weitem die Belastungen der Arbeitgeber. Der Staat ist verfassungsrechtlich also keineswegs verpflichtet, die Kosten des Mutterschutzes alleine zu tragen. Als Gesetzgeber nutzen wir daher bei der hier vorliegenden Umsetzung dieser sozialpolitischen Aufgabe unseren weiten Gestaltungsspielraum. Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf werden allerdings noch weitere Neuerungen erfolgen. Zusätzlich zur Ausweitung des so genannten U-2-Verfahrens erfolgen Änderungen bei der Einbeziehung der Gruppe der Angestellten in das Umlageverfahren zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Dieses so genannte U-1-Verfahren bezieht sich derzeitig nur auf die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Entgeltfortzahlungsgesetz hatte die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bereits hergestellt. Es ist daher aus Gleichbehandlungsgründen nur folgerichtig, auch die Angestellten in den Ausgleich für die Entgeltfortzahlung einzubeziehen. ({3}) In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird auch noch ein dritter Bereich geregelt. In beide Umlageverfahren - das Umlageverfahren für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, „U1“, wie auch in das Umlageverfahren für Mutterschaftsleistungen, „U2“ - werden nun auch die Ersatz- und Betriebskrankenkassen einbezogen. Die Umlageverfahren werden künftig von allen Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkassen durchgeführt. Denn die Beschränkung auf die derzeit im Gesetz aufgeführten Kassenarten ist mit den seit 1996 bestehenden Wahlrechten der Versicherten und dem Kassenwettbewerb nicht mehr vereinbar. Diese Regelungen wurden auch seitens der Arbeitgeber begrüßt. Das vorliegende Gesetzesvorhaben ist wichtig und drängend. Zum einen wird sichergestellt, dass Mütter auch ab dem 1. Januar 2006 den Zuschuss zum Mutterschaftsgeld in vollem Umfang von ihren Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen erhalten. Zum anderen wird die durch das Bundesverfassungsgericht festgestellte Gefahr einer Diskriminierung von Frauen bei der Einstellung in mittleren und großen Unternehmen zumindest auf gesetzlicher Ebene beseitigt. Ich gehe davon aus, wir alle werden das Unsrige tun, damit dies auch in der Praxis verwirklicht wird. Zum Dritten werden die Umlageverfahren, die derzeit noch im Lohnfortzahlungsgesetz geregelt sind, an die aktuellen Strukturen in der Sozialversicherung angeglichen. Deshalb begrüße ich es, dass diesem Gesetzentwurf hoffentlich einvernehmlich zugestimmt wird. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Herzlichen Glückwunsch! Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Heinz Lanfermann, FDP-Fraktion.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November 2003 sind immerhin zwei Jahre vergangen, bis das Gesundheitsministerium in der Lage war, in einer recht überschaubaren Angelegenheit diesen kleinen Gesetzentwurf mit im Wesentlichen zwölf Paragraphen vorzulegen. So sind wir hart an das Ende der Frist geraten, die das Verfassungsgericht dem Parlament gesetzt hat, um die Aufwendungen neu zu regeln, die bei einer Mutterschaft anfallen. Diese Eilbedürftigkeit ist auch einer der Gründe dafür, dass die FDP auf eine mögliche Anhörung verzichtet hat und sich auch - indem wir uns bei der Abstimmung enthalten werden - dem In-Kraft-Treten der von der Regierung vorgeschlagenen Lösung nicht in den Weg stellt. Ich will auch gern bestätigen, dass diese Lösung ein Weg ist, die Verfassungswidrigkeit des bisher geltenden Gesetzes zu beseitigen. Wenn die Gefahr bestand, dass Frauen von größeren Firmen bei der Einstellung diskriminiert werden, weil diese Firmen nicht der Umlagepflicht für die Mutterschaftsleistungen unterliegen, sondern das Risiko der zusätzlichen Leistungen bei Schwangerschaft unmittelbar - allein und in voller Höhe tragen, dann kann diese Gefahr dadurch beseitigt werden, dass man auch diese Firmen in den Kreis der Umlagepflichtigen einbezieht. Im Sinne des Verfassungsgerichts und seiner Entscheidung ist damit die gestellte Aufgabe erfüllt. Es handelt sich dann allerdings nur um eine ausreichende, nicht aber um eine wirklich gute Lösung. Betrachten wir erst einmal das Problem. Es besteht sicherlich zwischen uns allen Konsens darüber, dass wir nicht nur wieder mehr Kinder in unserer Gesellschaft wollen, sondern dass wir auch die Bedingungen dafür schaffen bzw. verbessern müssen. Dabei gibt es gerade auch für die Mütter - vor und nach der Geburt - und die Familien viel zu tun. Es gilt aber, seitens der gesamten Gesellschaft auch denen zu helfen, die durch die Schwangerschaften indirekt belastet werden. Die Arbeitgeber - das gilt insbesondere für die kleinen Firmen haben neben finanziellen Aspekten schon durch den Ausfall einer Mitarbeiterin und die damit verbundenen organisatorischen Probleme bei weiteren Einstellungen Belastungen zu tragen. ({0}) Das hat das Verfassungsgericht ausdrücklich bestätigt. Mittlerweile ist der Arbeitgeberzuschuss auch zum wesentlichen Bestandteil der Leistungen an die Mütter geworden. Der Grundbetrag von 13 Euro ist konstant geblieben, der Arbeitgeberzuschuss aber mit den Löhnen ständig gestiegen. Durchschnittlich beträgt der Zuschuss mittlerweile 3 430 Euro pro Mutterschaft. Wir haben es also mit einer ständig gestiegenen Last der Arbeitgeber und damit auch mit einer Zunahme der Arbeitskosten zu tun. Sucht man nach einem Zusammenhang zwischen Arbeitsverhältnis und Mutterschaft, der es rechtfertigen soll, den Hauptteil der Kosten der Mutterschaft den Arbeitgebern aufzuerlegen, findet man eigentlich keinen Anhaltspunkt, der wirklich überzeugt. So wird die Umlage nach der Lohnsumme aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer berechnet. Das bedeutet, dass auch die Arbeitgeber mit der Umlage belastet werden, die ausschließlich männliche Arbeitnehmer beschäftigen, was gerade kleinen Betrieben, in denen körperlich anstrengende Arbeitsleistungen erbracht werden, besondere Probleme bereitet. Hinzu kommt, dass bisher nicht alle Krankenkassen beteiligt sind, die Grenze der Teilnahmepflicht zwischen 20 und 30 Beschäftigten schwankt und die Beitragshöhen erhebliche Unterschiede aufweisen. Versucht man, die finanziellen Auswirkungen der vorgeschlagenen Neuregelung zu erfassen, findet man bei der Bundesregierung lediglich die Aussage: Durch die Neuregelungen … werden Unternehmen in unterschiedlichem Maße kostenseitig sowohl entlastet als auch belastet. Im Klartext heißt das: Man weiß es nicht genau und hat keinen Überblick. ({1}) Das ist verwirrend, zeigt aber, dass man mit untauglichen Mitteln versucht, einen Ausgleich zwischen Gruppen von Arbeitgebern zu organisieren, der offensichtlich noch nicht einmal innerhalb der Arbeitgeber zu gerechten Ergebnissen führt. ({2}) Bedenklich ist ebenfalls, dass die Einbeziehung der öffentlichen Arbeitgeber in das Umlagesystem die öffentliche Hand zum Nachteil der Privatwirtschaft entlastet, und zwar ohne Ausgleich. Da die öffentlichen Arbeitgeber mehr Frauen beschäftigen, aber nach der Gesamtzahl der Beschäftigten die Umlage zahlen, erhalten sie einen Vorteil, der von der Privatwirtschaft finanziert wird. Dabei sieht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Ausweitung vor. Zudem sind die öffentlichen Arbeitgeber ohnehin an den Auftrag des Grundgesetzes gebunden, Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen auch bei den Einstellungen zu gewährleisten. Ich komme noch einmal darauf zurück: Der Zusammenhang zwischen Arbeitsverhältnis und finanziellen Lasten durch Mutterschaft ist nicht ohne weiteres gegeben. Die Versuche, dennoch die Kosten den Arbeitgebern aufzuerlegen, führen auch nicht zu gerechten Ergebnissen. Dagegen widerspricht doch wohl niemand der These, dass die Erleichterung von Mutterschaft, dass der Mutterschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Dann kann man aber nur die richtige Konsequenz ziehen, dass die Gesellschaft insgesamt die anfallenden Kosten zu tragen hat. Deshalb ist die Steuerfinanzierung dieser Lasten die richtige Lösung. An dieser Lösung will die FDP als Zielvorstellung festhalten. ({3}) Wir verkennen dabei nicht, dass dieses Ziel - eine solche Steuerfinanzierung dürfte etwa einen Betrag von 2 Milliarden Euro erfordern - nach sieben Jahren desaströser rot-grüner Haushaltspolitik eher weiter in die Ferne gerückt ist. ({4}) Deswegen stellen wir jetzt noch keine entsprechenden Anträge, was ja die Konsequenz bei einer Ablehnung des Gesetzentwurfes wäre. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Peter Albach, CDU/ CSU-Fraktion.

Peter Albach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003730, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Mit meiner Wahl in den Deutschen Bundestag hatte ich - da ich Jurist von Beruf bin - so manches gedanklich verbunden, was das Gesetzgebungsverfahren betrifft, nicht jedoch den Umstand, in meiner Jungfernrede zum Mutterschutz zu reden. ({0}) Ich bin meinen Vorrednern und Vorrednerinnen wirklich dankbar, mir bei diesem spannenden Thema noch etwas übrig gelassen zu haben, was durchaus zu einem Erkenntnisgewinn in meinen Ausführungen gegenüber dem Plenum beitragen könnte. Ich muss eingangs meiner Betrachtungen zum vorliegenden Gesetzentwurf anerkennen, dass neun Minuten Redezeit reichlich bemessen sind ({1}) - ich mache Ihnen natürlich gern ein paar Komplimente; was bin ich heute höflich! - angesichts des Umstandes, dass es kaum strittige Punkte im Verfahren und insbesondere im federführenden Ausschuss gab, die nicht hätten gelöst werden können, einmal abgesehen von dem Vorschlag einer etwaigen Steuerfinanzierung des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld; das haben wir hier wieder vernommen. Wir sind durch das Bundesverfassungsgericht aufgefordert, zum 31. Dezember 2005 durch Gesetz zu regeln ({2}) - ja -, „dass sich Schutzvorschriften auf Arbeitnehmerinnen faktisch nicht mehr diskriminierend auswirken“, auch unter Berücksichtigung des aufgestellten Leitsatzes, „dass der Art. 6 Abs. 4 GG keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates begründet, die Kosten des Mutterschutzes allein zu tragen“. Die Diskriminierung der Arbeitnehmerinnen ergibt sich für den Ersten Senat des Verfassungsgerichtes allein aus dem Umstand, dass nicht alle Arbeitgeber in das Umlageverfahren, mit welchem durch das Lohnfortzahlungsgesetz bedingt die Aufwendungen der Arbeitgeber bei Mutterschaft ausgeglichen werden, einbezogen sind. Plausibel, das ist das so genannte U-2-Verfahren. Das hat zur Konsequenz, dass Frauen im gebärfähigen Alter das Risiko - Sie hatten es schon erwähnt - einer faktischen Diskriminierung in Kauf nehmen, da das Ausgleichs- und Umlageverfahren gerade den Zweck hat, die unterschiedliche Verteilung der Risiken bedingt durch mögliche Mutterschaften auszugleichen und damit Beschäftigungshemmnisse abzubauen. Leicht nachzuvollziehen. Dadurch aber, dass dieses Verfahren nicht bei allen Arbeitgebern geltendes Recht ist, sieht das Gericht vorgenannte faktische Diskriminierungen. Der Arbeitgeber könnte bei der Einstellung finanzielle Erwägungen - durch mögliche Mutterschaften bedingt - zur Grundlage seiner Entscheidungsfindung machen, ob denn nun Frau oder Mann einzustellen sei. Im Ausschuss waren wir uns einig, dass wir dies nicht länger dulden werden und selbstverständlich die faktische Diskriminierung beendet wird. ({3}) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dem durch die Ausweitung der Umlageverpflichtung auf alle Arbeitgeber unabhängig von der Größe des Unternehmens nach mehrheitlicher Auffassung der Mitglieder des Ausschusses für Gesundheit Rechnung. Es ist zudem Regelungsgegenstand des Gesetzes, in das so genannte U-1Verfahren - gemeint ist das Umlageverfahren zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - weiterhin betriebsgrößenbeschränkt künftig auch die Angestellten einzubeziehen, und in beide Verfahren - das wurde schon erwähnt; ich wiederhole es, weil ich es mir so aufgeschrieben hatte - sollen auch Betriebs- und Ersatzkassen einbezogen sein. ({4}) - Es gibt ja nichts Schlimmeres, als den Faden zu verlieren. Das ist ja peinlich. ({5}) Des Weiteren soll der diesbezügliche Gesetzentwurf des Bundesrates für erledigt erklärt werden, da der Bundesrat bei einem im Wesentlichen ohnehin gleichen Regelungsinhalt keine Einwände gegen den Regierungsentwurf geltend machen wird. Zudem bedarf das Grundstoffüberwachungsgesetz - es gibt keinen sachlichen Zusammenhang, aber einen zeitlichen - infolge zweier EU-Verordnungen zur Änderung des EU-Grundstoffrechts der Anpassung an nationales Recht. - Ich freue mich so richtig, dass ich Jurist bin. - Zeitlich war die Anpassung zunächst nicht eher möglich. Das Anliegen ist es, mittels dieser Gesetzesänderung bestehende Strafbarkeitslücken zu schließen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt hier einstimmig die Zustimmung zur Gesetzesänderung. ({6}) - Danke. Während hinsichtlich des Grundstoffüberwachungsgesetzes kein weiterer Erörterungsbedarf bestand, so wurde bezüglich des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld von mehreren Seiten darauf verwiesen, dass eine steuerfinanzierte Lösung - das haben wir heute wieder hier gehört - zur Finanzierung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe vorzuziehen wäre. Aus diesem Grund deshalb zu unser aller Erkenntnisgewinn noch einige weiterführende Bemerkungen, die man aber auch schon im Volltext des Bundesverfassungsgerichtsurteils hätte nachlesen können. Alle Befürworter der Steuerfinanzierung übersehen - in diesem Fall wurde es einmal nicht übersehen -, dass, unabhängig davon, dass zurzeit kein Steueraufkommen zur Verfügung steht - es soll erst durch die fleißige und sachorientierte Arbeit der Koalition zukünftig verfügbar sein; ({7}) die Hoffnung, dass es dazu kommt, ist begründet; schließlich arbeite ich mittlerweile mit -, die Arbeitgeber selbst ein gesellschaftlicher Bestandteil sind und dass die Entlassung der Arbeitgeber aus dem gesamtgesellschaftlichen Interesse Mutterschutz insofern weder heute noch in Zukunft möglich sein wird. ({8}) Des Weiteren wird gern übersehen - das halte ich für eine erstaunliche Denkleistung des Bundesverfassungsgerichts; man sollte sich die Volltexte doch ab und zu durchlesen -, dass es gerade arbeitsplatzbedingte Gefahren sind, vor welchen die im Arbeitsverhältnis stehende Mutter und das Kind sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung zu schützen sind. Davon geht ja keine Gefahr für das Finanzamt aus, nicht wahr? ({9}) Es besteht eine Verantwortungsbeziehung ({10}) - hören Sie sich das doch ruhig einmal an! - des Arbeitgebers zum Zwecke der Regelung, sodass das Verfassungsgericht folgerichtig formuliert: Die Verpflichtung der Arbeitgeber, einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld zu zahlen, ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels auch geeignet und erforderlich. Warum wollen wir denn immer schlauer sein als das Bundesverfassungsgericht? Manches kann man sich doch sparen. Dort hat man ein umfassendes Anhörungsverfahren zur Entscheidungsfindung durchgeführt. Wie dem auch sei, wir beenden heute mit unserer Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung satte elf bzw. 13 Jahre - das ist eine Frage der Betrachtungsweise - Prozessgeschichte, welche 1992 begann und über eine Verfassungsbeschwerde nunmehr zur Gesetzesänderung führt. Ihnen allen ein besinnliches Weihnachtsfest und ein gutes Jahr 2006. Danke. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Albach, Sie erwähnten es bereits selbst: Es war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu sehr herzlich, verbunden mit den besten Wünschen! ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Spieth, Fraktion Die Linke. ({1})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach Herrn Albach steht ein zweiter Thüringer an diesem Pult. Es wird möglicherweise nicht ganz so vergnüglich, aber mit Sicherheit auch nicht brottrocken, das kann ich versprechen. Herr Albach, möglicherweise hat dieses Gesetz, wenn es irgendwann einmal bewertet wird, einen Vater. Insofern kann ich Sie beruhigen: Ihre Jungfernrede war amüsant und erfreulich. Sie gehen mit Ihrem Beitrag zu diesem Gesetz vielleicht in die Annalen ein. Wir beraten heute eine Gesetzesänderung im Bereich des Mutterschaftsgeldes. Im Kern geht es dabei darum, Nachteile, die Frauen hieraus auf dem Arbeitsmarkt entstehen können, zu beseitigen. Es ist schade, dass die Bundesregierung in diesem Fall erst auf Initiative eines Gerichts, nämlich des Bundesverfassungsgerichts, tätig wird. Der vorliegende Gesetzentwurf stärkt das Sozialstaatsgebot der Verfassung. Er bejaht die ihm zugrunde liegenden Prinzipien des staatlich organisierten solidarischen und sozialen Ausgleichs. Er schafft - ich sage ausdrücklich, dass ich da gegenteiliger Meinung als Sie bin, Herr Lanfermann - geradezu die Voraussetzungen für fairen Wettbewerb der Unternehmen untereinander. Er fördert die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau. In diesem Sinne folgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung damit erfreulicherweise einer vollkommen anderen Logik, als es das Regierungsprogramm erkennen lässt. So weit, so gut. Während Sie, meine Damen und Herren insbesondere auf der rechten Seite dieses Saales, üblicherweise mehr Eigenverantwortung und die Senkung der Lohnnebenkosten fordern und damit eigentlich meinen, dass die Vermögenden und die Besserverdienenden weniger Beiträge zu unseren Sozialsystemen leisten sollen, werden Sie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes geradezu dazu gezwungen, einer anderen Philosophie zu folgen, der Philosophie des in der Verfassung verankerten Sozialstaatsgebotes. Das Bundesverfassungsgericht fordert Sie auf, mehr Chancengleichheit herzustellen. Es verlangt von Ihnen, dass Sie für mehr Solidarität sorgen und Unternehmen in ein soziales Ausgleichssystem einbeziehen, anstatt sie, wie es heute der Zeitgeist ist, von solchen Verpflichtungen zu befreien. Wenn Sie - auch dies sage ich deutlich - nicht davon überzeugt sind, wie das in Ihrem Koalitionsvertrag eher zum Ausdruck kommt, werden Sie hier vom Bundesverfassungsgericht überzeugt, das Richtige zu tun. Ihre abwartende Haltung bei der Neufinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung spricht nach unserer Auffassung in diesem Zusammenhang eine andere Sprache. Erste Stimmen aus der großen Koalition deuten an: Das bisher ausgesparte Projekt „Finanzreform der GKV“ wird im Ergebnis offenkundig auf eine Mischung von Kopfpauschale und Bürgerversicherung hinauslaufen, bei der zu befürchten ist, dass wesentliche sozialstaatliche Elemente unter die Räder kommen. ({0}) Wir befürchten, dass Sie damit erneut Folgendes realisieren werden: weniger Solidarität der Gesunden mit den Kranken, weniger Solidarität der gut Verdienenden mit den Geringverdienern und weniger sozialen Ausgleich zwischen jungen und alten Menschen. Nicht umsonst hat es auch beim Mutterschaftsgeld zwei Jahre gedauert, bis die Regierung tätig wurde. Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass gesetzliche Verbesserungen für die Menschen, wenn sie denn heute mit diesem Gesetz beschlossen werden, die Folge von Gerichtsurteilen und nicht das Ergebnis eigener politischer Überzeugungen sind. So war das - erinnern wir uns! - bei der Anhebung des Kindergeldes zu Beginn der ersten rot-grünen Koalition und so ist das, wie heute beschlossen, bei der Arbeitszeitrichtlinie. Das Bundesverfassungsgericht macht aber auch mit der ewigen Leier von der unzumutbaren Belastung deutscher Unternehmen Schluss. Wie selbstverständlich wird angesichts des vorliegenden Gesetzentwurfs von Wirtschaftsverbänden erneut die Forderung nach Steuerfinanzierung von Sozialleistungen und natürlich auch nach Abschaffung der paritätischen Finanzierung gestellt. Dem widersprechen wir. Hinsichtlich des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung begrüßen wir die Einführung eines einheitlichen Umlagesystems, welches nicht mehr nach Unternehmensgrößen sowie nach privaten und öffentlichen Unternehmen unterscheidet. Die Menschen in Deutschland erwarten sichere und nachhaltige soziale und solidarische Sicherungssysteme. Dies gilt auch für die gesetzliche Krankenversicherung. Machen Sie bei der Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Bürgerversicherung im Sinne des vorgelegten Gesetzentwurfs weiter! Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Schönen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, bei Ihnen war das ebenfalls die erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ihnen gilt unser Glückwunsch und gelten unsere guten Wünsche für die weitere Arbeit! ({0}) Ich erteile der Kollegin Birgitt Bender, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie bereits dargelegt, beseitigt der vorliegende Gesetzentwurf eine Schieflage, die uns zunächst vom Bundesverfassungsgericht attestiert werden musste. Mit der alten Regelung bestand die Gefahr, dass Betriebe mit mehr als 20 oder 30 Beschäftigten bei der Einstellung Frauen benachteiligen. Wir begrüßen diesen Gesetzentwurf. Es ist richtig, dass jetzt alle Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen inklusive des öffentlichen Dienstes und der Wohlfahrtsverbände in das Ausgleichsverfahren zu den Mutterschaftsleistungen einbezogen werden. Dies ist ein Schritt, der Arbeitgeber, die viele Frauen beschäftigen, entlastet und Arbeitgeber, die mehr Männer beschäftigen, an den Ausgaben für die Mutterschutzleistungen beteiligt. Wie heißt es doch so schön? Kinder haben nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Es ist gut, dass diese Erkenntnis beim Punkt Mutterschaftsleistungen nun auch im Arbeitsleben ankommt. ({0}) Es gäbe sicherlich auch darüber hinaus noch frauenpolitischen Handlungsbedarf im Arbeitsleben. Aber das ist ein anderes Thema. ({1}) Die Vereinheitlichung der Regelungen sowohl beim Ausgleichsverfahren Mutterschaftsleistungen als auch beim Ausgleichsverfahren Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall war bereits überfällig. Es ist richtig, dass jetzt historische Relikte wie die Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten durch die Einbeziehung der Ersatz- und Betriebskrankenkassen abgeschafft werden. Auch ist die Einbeziehung der Arbeitgeber aus dem Feld der freien Berufe stringent und systematisch richtig. Bei der Umlageentgeltfortzahlung im Krankheitsfall gelten in Zukunft erstens klare Regelungen für die Wohlfahrtsverbände, zweitens einheitliche Erstattungssätze, drittens eine einheitliche, nicht von der Satzung der jeweiligen Krankenkasse abhängige Grenze, bis zu der sich die Unternehmen an dieser Umlage beteiligen, und viertens die Einbeziehung aller Krankenkassen. Dies baut - das ist ein wichtiger Gesichtspunkt - Bürokratie in den Personalabteilungen ab. Es ist jetzt für Betriebe mit bis zu 20 bzw. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eindeutig geklärt, dass für alle Beschäftigten die Umlage greift. Es hängt nicht mehr von der Krankenkasse eines oder einer Beschäftigten ab, ob das Umlagesystem greift oder nicht. Diese Vereinheitlichung ermöglicht es den Krankenkassen, diese Aufgabe zukünftig an eine kassenübergreifende Stelle zu übertragen. Ich hoffe, dass diese Chance von den gesetzlichen Krankenkassen genutzt wird und sich hierdurch weitere Vereinfachungen für die Betriebe ergeben. Wir werden die Entwicklung in den nächsten Jahren beobachten und feststellen, ob der Bürokratieabbau tatsächlich eintritt. Abschließend noch ein guter Ratschlag in Richtung der Kollegen von der FDP: Herr Kollege Lanfermann, wenn man im Wahlkampf Plakate klebt, auf denen groß „Steuern runter“ steht, dann sollte man sich vielleicht anschließend mit der Forderung nach zusätzlichen Staatsausgaben eher zurückhalten. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über den Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und zur Änderung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms weiterer Gesetze, Drucksache 16/39. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/243, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der FDPFraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/46 über den Arbeitgeberausgleich bei Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Fall von Krankheit und Mutterschaft. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/243, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für ein modernes Berufsbeamtentum - Drucksache 16/129 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben einen Antrag vorgelegt, weil gerade die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in dieser Legislaturperiode ein sehr wichtiger Punkt sein wird. Der Deutsche Beamtenbund, Verdi und der Bundesminister des Innern haben sich auf ein Eckpunktepapier geeinigt, das für Verbände wirklich vorbildlich ist. Denjenigen, die immer über Beamte herziehen, sage ich: Schauen Sie sich einmal an, was diese Organisation geleistet hat und welchen Reformwillen sie gezeigt hat! Das ist wirklich vorbildlich für viele andere. ({0}) Es geht jetzt darum, dass wir den hier gezeigten Reformwillen nicht verspielen und dass die Politik ihn nicht konterkariert. Ich erinnere Sie noch einmal daran, was parallel zur Arbeit der Föderalismuskommission passiert ist. Der damalige Bundesinnenminister Schily hat mit dem Deutschen Beamtenbund und auch mit Verdi verhandelt und ein Papier entwickelt. Obwohl er als Verfassungsminister eigentlich für die Föderalismusreform zuständig war, hat er sich aus der Föderalismuskommission völlig ausgeklinkt. Dort wurde etwas völlig anderes beschlossen. CDU/CSU und SPD haben sich gemeinsam auf Punkte geeinigt, die zu dem, was Schily mit dem Beamtenbund ausgehandelt hat, völlig konträr waren. So kann man kein Vertrauen schaffen; so kann man keine Politik machen. ({1}) Wir von der FDP bekennen uns zu einem modernen Beamtentum. Wir brauchen das Beamtentum. Wir bekennen uns allerdings auch dazu, dass es auf die Kernaufgaben konzentriert wird. Wir bekennen uns insbesondere dazu, dass der Leistungsgedanke im Beamtentum gestärkt wird und dass wir noch mehr Leistungskomponenten einarbeiten. In unserem Antrag finden Sie exakt beschrieben, wie so etwas gehen kann. Wir können nicht immer weiter an dieser und jener Stelle kürzen. Denn wir brauchen eine leistungsfähige Verwaltung. Dazu brauchen wir qualifizierte Beamte. Diese bekommen wir aber nicht, wenn wir immer mehr kürzen. Wir bekommen sie nur dann, wenn wir jetzt ein Zukunftskonzept entwickeln. Wir müssen sagen, in welchen Aufgabenbereichen Beamte gebraucht werden. Ich fordere die große Koalition und den Bundesinnenminister auf, in dieser Richtung tätig zu werden. Nur dann werden wir eine leistungsfähige Verwaltung haben, die wir ganz dringend brauchen. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht. Unterstützen Sie uns und gehen Sie diesen Weg mit uns! Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel von der CDU/ CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der öffentliche Dienst ist die tragende Säule des Rechtsstaats. So ist es auch in dem Antrag der FDP formuliert. Dem kann man völlig zustimmen. Es ist richtig und wichtig, dass auch der öffentliche Dienst auf die sich ändernden Rahmenbedingungen eingestellt wird. Deshalb ist es eine Daueraufgabe, das öffentliche Dienstrecht an der Lebenswirklichkeit zu messen. Entscheidend ist dabei, dass diese Veränderungen nicht nur um ihrer selbst willen gemacht werden. Mit den Maßnahmen muss zum einen die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung gestärkt werden und zum anderen müssen wir den Beschäftigten einen Rahmen geben, in dem sie sich bewegen können. Das muss das Ziel sein. Der Kollege Burgbacher hat rekurriert auf die gemeinsame Initiative des Deutschen Beamtenbundes und von Verdi, die sehr lobenswert ist. Sie hat am Ende dazu geführt, dass sich aus diesem Vorschlag neue Wege für den öffentlichen Dienst ergeben haben und ein Strukturreformgesetz entwickelt worden ist. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde vorgelegt; er fiel allerdings der Diskontinuität zum Opfer. Wir dürfen aber einen zweiten Bereich nicht vergessen, nämlich den Bereich der öffentlichen Angestellten. Denn auch dort ist etwas passiert, das durchaus eines Lobes wert ist. Der Bund und die Gemeinden haben gemeinsam mit den Tarifparteien und den Beschäftigten einen neuen Tarifvertrag ausgehandelt, der den überkommenen, alten BAT ablösen wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben worden. Beide Gruppen sind zukünftig einem einheitlichen Entlohnungssystem unterworfen. Auch hier hat sich also vieles bewegt. Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD vereinbart, dass das Beamtenrecht auf der Basis der Vorschläge der Föderalismuskommission und des Strukturreformgesetzes entwickelt wird. Die Leistungsbezogenheit des Dienstrechtes und der flexible Personaleinsatz werden also fortentwickelt und es wird ein Besoldungsrecht geschaffen, in dem die individuelle Leistung der Beamtinnen und Beamten besser erfasst werden kann. Entscheidend bei diesen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir zukünftig haben werden, ist etwas, was auch in Ihrem Antrag steht, nämlich dass das Dienstrecht so gestaltet wird, dass dabei möglichst wenig Bürokratie entsteht. Wenn man viele neue Komponenten in ein solches System einfügt, wird es nicht gelingen - das kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus sagen -, dies mit den bisherigen Bordmitteln umzusetzen. Das wird automatisch dazu führen, dass wir andere Leistungsbeurteilungssysteme brauchen werden. Das Ganze wird komplexer werden. Als Gesetzgeber muss es unsere Aufgabe sein, einen solchen Rahmen zu schaffen, der es den Behörden, die ihn dann auszufüllen haben, ermöglicht, die eigene Verwaltung möglichst bürokratiearm zu gestalten. ({0}) Dies wird eine große Herausforderung werden. Ich persönlich bin gespannt, wie dies akzeptiert werden wird. Wir haben ja schon Erfahrungen mit Leistungskomponenten gemacht. Nach geltendem Recht ist es durchaus möglich, Leistungszulagen und Leistungsprämien zu gewähren. Wenn Sie sich allerdings den behördlichen Alltag bzw. die Praxis anschauen, dann werden Sie feststellen, dass von diesen als Motivation gedachten Leistungselementen nur sehr sparsam Gebrauch gemacht wird. Auch ist die Akzeptanz innerhalb des Personalkörpers durchaus streitig. Ich bin dennoch der Auffassung, dass wir im Bereich der Beamtenbesoldung stärker zur leistungsbezogenen Bezahlung übergehen sollten. Ich teile allerdings nicht den Vorschlag der FDP, gleich mit einer 20-ProzentMarge zu beginnen. Ich will noch zu zwei Ziffern, die in Ihrem Antrag enthalten sind, etwas sagen. Sie haben zum Ersten in der Ziffer 6 breit ausgeführt, wie Sie sich das Verfahren der Leistungsbeurteilungen in Zukunft vorstellen. In Ziffer 6 steht sicherlich nichts Falsches. Ich bin nur der Auffassung, dass nicht das deutsche Parlament, der Deutsche Bundestag, der Adressat ist, an den sich diese Forderung richten muss. Wir können zwar den gesetzlichen Rahmen dafür liefern. Aber es sollte dabei bleiben, dass es eine Trennung zwischen der Ressortverantwortlichkeit des Ministers und dem gibt, was wir als Parlamentarier zu verantworten haben. Es ist ganz eindeutig, dass die Beantwortung der Frage, nach welchem System, mit welchen Mitteln und nach welchen Verfahren dienstliche Beurteilungen stattfinden, im ausschließlichen Bereich der Exekutive liegt. Das ist zwar für den Deutschen Bundestag von Interesse; in diesem Bereich haben wir aber keine Regelungsmacht. Zum Zweiten will ich die Ziffer 7 ansprechen, in der Sie Führungsinstrumente dargestellt haben. Da gilt im Grunde das Gleiche: Das betrifft natürlich den Bereich des Ministers. Er muss seinen Bereich so organisieren, wie es für das Ministerium richtig ist. Ich will hier allerdings ganz deutlich sagen - denn in Ihrem Antrag entsteht der Eindruck, dass es in der öffentlichen Verwaltung noch keine modernen Führungsinstrumente gäbe -: Es gibt in vielen öffentlichen Verwaltungen moderne Führungsinstrumente und moderne Führungsmethoden. Die müssen nicht mehr eingeführt werden. Sie sind vielmehr in vielen Verwaltungen in der Bundesrepublik Deutschland bereits tägliche Praxis. Auch das sollte an dieser Stelle gesagt werden. Ich will zum Schluss auf das kommen, was Herr Kollege Burgbacher angesprochen hat, nämlich die Frage, wie es weitergeht. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart - das habe ich schon dargestellt -, dass die Ergebnisse der Föderalismuskommission umgesetzt werden. Es gab gestern dazu ein Gespräch mit den Ministerpräsidenten. Das heißt, Teile, die bisher in den Regelungsbereich des Deutschen Bundestages fielen, werden an den Regelungsbereich der Länder zurückgehen. Es handelt sich um das Besoldungs-, Versorgungs- und Laufbahnrecht. Ich glaube, dass wir hier im deutschen Parlament sicherlich noch Gelegenheit haben werden, im Detail zu erörtern und zu debattieren, was auf die Länder übertragen wird und was sinnvollerweise weiter Regelungsgegenstand der Bundesebene bleibt. Im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf bin ich der Auffassung, dass wir erst diese Diskussion führen und abschließen sollten, bevor wir uns dann dem zuwenden, was für uns als Bund im Hinblick auf unsere Bundesbeamten übrig geblieben ist, sodass wir also in der zeitlichen Abfolge zunächst die Ergebnisse der Föderalismuskommission umsetzen sollten und uns anschließend dem Strukturreformgesetz und dem Papier „Neue Wege im öffentlichen Dienst“ widmen sollten. Mein Vorschlag wäre, so zu verfahren. Dann hätten sich Teile des Antrags inhaltlich erledigt. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehe ich zum Detail komme, möchte ich etwas Grundsätzliches sagen. Wir - damit meine ich die Linkspartei - haben mit dem deutschen Beamtenwesen schon immer ein Problem gehabt. Beamte genießen bestimmte Privilegien. Im Gegenzug aber müssen sie auf Bürgerrechte verzichten. Sie müssen brav sein. Courage ist verboten. ({0}) Ich finde, das ist altbacken, preußisch und auch nicht modern. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vergleich wiederholen, den die Kolleginnen und Kollegen, die dieses spannende Thema bereits in den letzten zwei Legislaturperioden bearbeitet haben, schon kennen, der aber unser Verhältnis zum Beamtentum immer noch ganz gut beschreibt: Die Linkspartei.PDS ist gegen Prostitution. Aber solange es Prostitution gibt, so lange werden wir uns dafür einsetzen, dass die Prostituierten nicht sozial benachteiligt und ausgebeutet werden. ({1}) Dasselbe Prinzip legen wir bei der Bundeswehr an, die wir eigentlich auch abschaffen wollen, ebenso bei Beamtinnen und Beamten. ({2}) Ich finde, dass auch die Beamtinnen und Beamten ein Recht auf Vertrauensschutz haben. Das heißt, dass die Eckpunkte für eine Reform des Beamtenrechts, die Bundesinnenminister a. D. Schily mit dem Beamtenbund und Verdi ausgehandelt hat, nicht mir nichts, dir nichts Makulatur werden können. Insofern stimme ich der FDP zu: Auch Beamtinnen und Beamte haben ein Recht auf Vertrauensschutz. Sie sind nicht der Spielball der Nation. ({3}) Die FDP fordert weiter, nur noch dort Beamtinnen und Beamte einzusetzen, wo es um die so genannten Kernaufgaben des Staates geht, beispielsweise bei der Polizei. Dies läuft darauf hinaus, das ausufernde Beamtenwesen zu begrenzen. Das finde ich - entsprechend meiner Eingangsbemerkung - völlig richtig. Nun sollen Beamtinnen und Beamte künftig mehr nach ihrer Leistung bezahlt werden und weniger nach ihrem Dienstalter. Das klingt gut, vorausgesetzt, es gibt objektive Kriterien, nach denen die Leistung von Beamtinnen und Beamten gerecht bewertet werden kann. Gerecht heißt aber auch, dass bundesweit ein einheitliches Dienstrecht gelten muss und nicht in jedem Bundesland ein anderes. Letzteres würde nämlich ganz schnell zu Beamten erster, zweiter und dritter Klasse führen, nicht weil ihre Leistungen erst- oder drittklassig sind, sondern weil wir arme und reiche Bundesländer haben. Ich finde, auch für Beamtinnen und Beamte muss gelten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! ({4}) Damit bin ich allerdings bei einer übergeordneten Debatte, der Föderalismusreform. Sie ist nötig und schwierig. Sie ist nötig, weil die bestehenden Strukturen und Kompetenzen schwer zu überschauen sind. Wenn aber etwas schwer zu überschauen ist, dann ist es meist auch wenig demokratisch. Sie ist schwierig, weil sich bei der Föderalismusreform zwei Grundkonzepte gegenüberstehen: Die einen wollen einen Wettbewerbsföderalismus. Das klingt gut, ist aber schlecht, weil es zulasten der kleinen und ärmeren Bundesländer gehen würde. Die Linkspartei will einen solidarischen Föderalismus, was im Übrigen dem Grundgesetz und dem Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse entsprechen würde. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann von der SPD-Fraktion.

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Kollegin Pau, ich bin schon erstaunt, welches Klischee Sie pflegen. Sie haben Ihren Redebeitrag mit einem Verweis begonnen und sich gewissermaßen selbst zitiert, indem Sie einen Vergleich gebracht haben, den Sie schon in den letzten Wahlperioden angeführt haben. Vielleicht bietet Ihnen diese Debatte die Gelegenheit, Ihr Bild von engagierten, auch zivilcouragierten Beamtinnen und Beamten im öffentlichen Dienst zu überprüfen. Ich glaube, das wäre dringend geboten. ({0}) Aber dies steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Im Mittelpunkt der Debatte steht der Aufschlag, den die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag „Für ein modernes Berufsbeamtentum“ gemacht hat. Eine Duplizität der Ereignisse: Vor knapp einem Jahr haben Sie hier einen vergleichbaren Aufschlag gewagt. Wohl wahr, wir beraten nunmehr im Kontext der großen Koalition. Es ist vorgetragen worden: Wir hatten den Entwurf eines Strukturreformgesetzes gewissermaßen ante portas. ({1}) - Ja, aber er hat uns noch nicht im geordneten parlamentarischen Verfahren beschäftigt. - Diskontinuität erfordert nun neue Aktivitäten. Positiv möchte ich zunächst hervorheben, dass der Antrag sich auf das Eckpunktepapier „Neue Wege im öffentlichen Dienst“ bezieht, das - da muss ich Ihnen widersprechen - von Herrn Schily wesentlich geprägt wurde. Sie haben versucht, das so darzustellen, als hätte Herr Schily seinen eigenen Reformimpuls konterkariert. Das sehe ich anders. ({2}) - Auf die Föderalismusreform komme ich noch zu sprechen. Der Antrag, der nunmehr vorliegt, unterscheidet sich substanziell von dem seinerzeit eingebrachten Antrag, und zwar durch die Behauptung, die Koalitionsvereinbarung beschreibe nichts Konkretes. Ich halte dem entgegen: Koalitionsvereinbarungen sind keine ausformulierten Gesetzentwürfe. Die Koalitionsvereinbarung ist, gerade was den Bereich des öffentlichen Dienstes anbelangt, nach meiner Überzeugung hinreichend konkret. In dem, was wir zur Modernisierung des öffentlichen Dienstrechtes auflegen, müssen allerdings wichtige Eckpunkte der Verabredung zur Föderalismuskommission mitbedacht werden. In der Koalitionsvereinbarung ist verabredet, Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes zu modifizieren und zu ergänzen: Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums sind nicht nur zu regeln, sondern auch fortzuentwickeln. ({3}) In diesem Zusammenhang erlaube ich mir den schlichten Hinweis, dass der damalige Bundesinnenminister, Otto Schily, selber dies Anfang dieses Jahres in die Debatten zur Föderalismuskommission eingebracht hat. In Ihrem Antrag wird zumindest für mich nicht überzeugend deutlich, wie Sie zu dieser Verfassungsänderung stehen. Ihre Frage „Was heißt das eigentlich?“ möchte ich anhand eines konkreten Beispieles beleuchten. Sie behaupten, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentumes böten genügend Spielraum für eine umfassende Fortentwicklung und Erneuerung des Beamtenrechtes. Aber diese Behauptung blendet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes aus. Danach sind zum Beispiel Kinderzuschläge in der Besoldung zwingend geboten. Solche familienstandsabhängigen Leistungen sind wiederum Ausdruck des Unterhaltscharakters der Beamtenbesoldung und widersprechen dem Kerngedanken, das Leistungsprinzip deutlich auszugestalten. Deshalb werden wir uns hier sehr intensiv mit der Änderung von Art. 33 Abs. 5 im Kontext der Verabredung zur Föderalismuskommission befassen müssen. Ich erwähnte, dass in der Koalitionsvereinbarung ebenso fixiert ist, die Leistungsbezogenheit des Dienstrechtes und einen flexiblen Personaleinsatz herbeizuführen. Herr Kollege Göbel verwies darauf, dass das Eckpunktepapier dabei eine wichtige Orientierung bietet, ebenso der Entwurf des Strukturreformgesetzes. Zugleich wurde aber in der Koalitionsvereinbarung ein Abwägungsgebot vereinbart, den damit verbundenen Verwaltungsaufwand kritisch zu würdigen, damit unnötige Apparate vermieden werden. Das, was die alte Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen beabsichtigte, wird man mit Sicherheit nicht eins zu eins umsetzen können, weil weitergehende Verabredungen, die über Art. 33 Abs. 5 hinausgehen, zu berücksichtigen sein werden. Insofern teile ich Herrn Göbels Vorschlag einer Schrittfolge: Zunächst arbeiten wir die Verabredung im verfassungsrechtlichen Bereich ab, dann gehen wir in das konkrete Gesetzgebungsverfahren. ({4}) Eine Anmerkung, mit der ich jeglichen Missverständnissen vorbeugen will: Auch für mich gilt das in der Föderalismuskommission Vereinbarte. Gleichwohl - Herr Göbel hat eine Andeutung gemacht; ich möchte über diese Andeutung hinausgehen - nehme ich die Hinweise der Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sehr ernst, die im Vorfeld der gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz - so war es in der „FAZ“ zu lesen - ihre Einwände formuliert haben. Sie waren offenkundig gar nicht davon begeistert, die ihnen zugedachten Kompetenzen tatsächlich übertragen zu bekommen. Ich sage es mit meinen Worten: Möglicherweise halten sie das, was ihnen angereicht wird, eher für ein trojanisches Pferd. Sie sehen zusätzlichen Personalaufwand, eine Erschwernis insbesondere für die finanzschwachen Bundesländer. Auch wenden sie ein, dass sich die Spitzenkräfte natürlich bei den finanzstarken Bundesländern bewerben und dort ihre Dienstherren suchen werden. Nun haben die Ministerpräsidenten einen einstimmigen Beschluss gefasst, sich gewissermaßen zu dem in dem Koalitionsvertrag Vereinbarten bekannt. Gleichwohl haben die Vertreter der beiden angesprochenen Länder Fußnoten formuliert, die uns in der weiteren parlamentarischen Beratung des beamtenrechtlichen Teils der Föderalismuskommission begleiten werden. Ich glaube - Herr Göbel, auch das habe ich sehr wohl vernommen -, dass wir ganz schön aufpassen müssen, damit wir in diesem Gesetzgebungsprozess nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Lassen Sie mich abschließend zum Spannungsverhältnis zwischen der Modernisierung des öffentlichen Dienstrechtes und dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand grundsätzlich anmerken: Auch wenn - das ist Realität - zeitgleich über Beiträge des öffentlichen Dienstes zur Haushaltssanierung gesprochen werden muss, darf die Modernisierung des Beamtenrechts kein verkappter Sanierungsbeitrag für den Bundeshaushalt sein. Die Modernisierung des Beamtenrechts zielt darauf ab, dass das Äquivalent für berufliches Engagement leistungsbezogen ausgestaltet werden kann. Dies wiederum setzt, über die verwandten Instrumente hinaus, voraus, dass nachvollziehbare Kriterien für eine letztendlich als gerecht empfundene Beurteilung des Geleisteten zur Verfügung stehen. Damit gehen hohe Anforderungen an die Personalarbeit in den Verwaltungen einher. Herr Göbel, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist. Wenn es aber um das Phantom Verwaltungsaufwand geht, muss man auch - gerade bei diesem ModernisierungsSiegmund Ehrmann projekt - die gewissermaßen reformimmanenten, notwendigen Zusatzkosten betrachten. Moderne Personalarbeit hat die Aufgabe, eine Führungskultur zu entwickeln, in der die Mitarbeiter- und Beurteilungsgespräche nicht als lästige Pflicht, sondern als grundlegendes Instrument der Personalentwicklung betrachtet und praktiziert werden. In diesem Kontext kommt der Auswahl und der Qualifizierung der Führungskräfte und des Führungskräftenachwuchses eine Schlüsselrolle zu. Das sind - ich erwähnte es bereits zugegebenermaßen Kosten, die aber nach meiner Überzeugung letztendlich rentierlich sein werden; denn nur durch eine so geprägte Verwaltungsstruktur wird die Motivation der Beschäftigten und dadurch bedingt die Qualität und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auf einen Stand gebracht, der Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Zusammenfassend: Die große Koalition wird weiterhin den vereinbarten Modernisierungspfad mit Sorgfalt beschreiten. Ich sehe dem Entwurf des Strukturreformgesetzes, aber auch dem Prozess der Umsetzung der Ergebnisse der Föderalismusreform mit großem Interesse entgegen. Die Ermahnung, die Machiavelli in seinem Werk „Über die Reform des Staates Florenz“ hinterlassen hat, sollte uns dabei leiten - das gilt nicht nur für dieses Gesetzgebungswerk -: Wenn Reformen dauerhaft sein sollen, so müssen sie langsam - ich ergänze: und sorgfältig durchgeführt werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haltung der FDP in dieser Frage ist total widersprüchlich. ({0}) Ich muss sagen, ich habe weder Ihren Antrag noch Ihre Rede nachvollziehen können. Sie haben zu Recht gesagt, die große Koalition hat sich darauf verständigt, die Zuständigkeit für die Beamten weitestgehend auf die Länder zu übertragen. Dies kann sie aber nur mit Ihrer Zustimmung machen. Diesen zweiten Satz haben Sie verschwiegen. Ich habe mir die Sitzungsergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz sehr genau angeschaut. Ich habe mir auch die Fußnoten angesehen. Sie kamen aus SchleswigHolstein und Mecklenburg-Vorpommern, sie kamen nicht aus Niedersachsen oder einem der anderen Länder, in denen Sie mitregieren. Übernehmen Sie bitte für das Verhalten Ihrer Parteikollegen in den Ländern auch hier im Bundestag die Mitverantwortung. ({1}) Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Ich glaube, dass wir im Interesse der Bediensteten tatsächlich eine intensive Debatte darüber führen müssen, in welche Richtung es mit der Modernisierung des öffentlichen Dienstes und insbesondere des Beamtenrechts gehen soll. Ich sehe keinen Modernisierungsschritt darin, einerseits zu sagen, dass man 17 Gesetze zu Besoldung und Pensionen braucht - eines in jedem Bundesland und eines auf Bundesebene -, und andererseits zu sagen, dass man den Inhalt eines Eckpunktepapiers umsetzen will. Diejenigen, die die Debatte der vergangenen Jahre mitbekommen haben, wissen sehr genau, dass mit dem Eckpunktepapier der Versuch unternommen worden ist, die Übertragung von Kompetenzen auf die Länder zu verhindern. Dazu sollten wir uns auch im Interesse derjenigen, über die wir sprechen, offen bekennen. Was ich am Antrag der FDP, in dem es ja um Modernisierung geht, überhaupt nicht verstanden habe, ist, dass Sie einerseits für die Übertragung von Kompetenzen auf die Länder sind und somit 17 Gesetze zum Beamtenrecht bei Ihnen Modernisierung bedeuten, und dass Sie andererseits strikt an der heutigen Formulierung des Grundgesetzes festhalten wollen. Wir sagen ganz klar: Mit dem engen Korsett des Art. 33 des Grundgesetzes werden wir in diesem Bereich die notwendige Weiterentwicklung und Modernisierung nicht hinbekommen. Als Grüne sage ich auch, dass sich in Zukunft erneut die Statusfrage stellen wird. Ich will diesen Weg weiterhin im Dialog mit den Bediensteten und den Gewerkschaften gehen. Das heißt, wir müssen den Status weiterentwickeln und ihn europatauglich machen. Beamte müssen zum Beispiel zwischen den verschiedenen Ebenen - Kommune, Land und Bund - wechseln und auf Zeit in europäischen und internationalen Institutionen arbeiten können. Aufgrund der Hemmnisse beim Wechsel zwischen Wirtschaft und Verwaltung werden wir eine Weiterentwicklung des Status durchführen müssen. Das Endziel, das wir anstreben - das haben wir immer gesagt -, besteht darin, in kleinen Schritten den Weg hin zu einem einheitlichen öffentlichen Dienstrecht zu gehen. Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der mich richtig entsetzt hat: Sie stellen als positiv heraus, dass es das Streikverbot gibt, und Sie nennen Personalräte ein bürokratisches Hindernis. Das ist schlicht gewerkschaftsfeindlich. Die Einführung von Leistungskomponenten, die wir ja wollen, können wir nur erreichen, wenn wir die Mitbestimmungsrechte stärken, anstatt sie als bürokratische Hindernisse zu bezeichnen. Auch in diesem Punkt widersprechen wir Ihrem Antrag, der die gewerkschaftsfeindliche Haltung der FDP zum Ausdruck bringt, ganz eindeutig. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Frau Stokar muss ich nicht viel sagen, außer dass sie vielleicht nicht bemerkt hat, dass unsere Vorschläge nichts anderes als die rasche Umsetzung des Eckpunktepapiers bedeuten, das immerhin die Unterschrift des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske trägt. ({0}) Indem wir unseren Antrag einbringen, wollen wir der Koalition die Gelegenheit geben, in einigen Punkten Klarheit zu schaffen. Die heutigen Beiträge der Redner der Koalition haben diese Klarheit leider nicht gebracht. Jetzt haben die beiden Redner von SPD und CDU/CSU zur Übertragung von Kompetenzen auf die Länder eher Zweifel formuliert. Wir werden uns überraschen lassen, wie ihre endgültige Haltung sein wird. Mir zumindest ist sie nicht klar geworden. Allerdings haben Sie sich - das ist begrüßenswert für die Fortführung der von Herrn Schily gemeinsam mit dem Deutschen Beamtenbund und Verdi ausgehandelten Reform ausgesprochen. Wir sind der Meinung, dass diese Reform auf jeden Fall umgesetzt werden muss; denn wir wollen den guten öffentlichen Dienst, den wir haben, modernisieren. Für den Bund besteht, egal wie die Kompetenzen letztlich verteilt sind, auf jeden Fall die Notwendigkeit, diese Reform durchzuführen. ({1}) Der eigentliche Grund für meine kurze Wortmeldung ist, dass der Kollege Wolfgang Bosbach, Fraktionsvize der CDU/CSU, in der Aussprache über die Regierungserklärung für weitere Unklarheit gesorgt hat. Es gibt nämlich einen Widerspruch zwischen dem, was in der Koalitionsvereinbarung angekündigt wurde - finanzielle Einschnitte für die Beamten; insbesondere hat Herr Schäuble ja von einer deutlichen Kürzung des Weihnachtsgeldes, auch für die Pensionäre, gesprochen -, und den Ausführungen von Herrn Bosbach, der addiert hat, welche Belastungen den Beamten in den letzten Jahren zugemutet worden sind, und der daher für einen fairen Umgang mit ihnen plädiert. Bitte nutzen Sie die heutige Debatte dazu - noch sind es einige Tage bis Weihnachten -, klarzustellen, was in diesem Punkt von der Koalition denn zu erwarten ist. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/129 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung - Drucksache 16/194 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen legen wie im Koalitionsvertrag vereinbart ein erstes Paket vor. Wir zeigen damit Handlungsfähigkeit und vor allen Dingen, dass wir es ernst meinen mit dem, was wir im Koalitionsvertrag im Zusammenhang mit Gesundheitspolitik und Pflegepolitik vereinbart haben. Ich glaube, dass dies überfällig ist, dass wir reagieren mussten. Man muss sich nur einmal die Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung anschauen. ({0}) In allen Bereichen haben wir deutliche Einsparungen. Der einzige Bereich, der aus dem Rahmen fällt, sind die Arzneimittelkosten. Hier hatten wir in den ersten drei Quartalen ein Kostenplus von 19,1 Prozent. Hierfür hatte die gemeinsame Selbstverwaltung von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen ein Ausgabenplus von 8,1 Prozent angepeilt. Dieses Ziel haben sie deutlich verfehlt. Die Selbstverwaltung hat ihre Hausaufgaben hinsichtlich der Kontrolle also ganz klar nicht gemacht. ({1}) Deshalb ist es wichtig, dass der Gesetzgeber rasch und entschieden handelt. Heute behandeln wir ein Sparpaket in erster Lesung, mit dem wir genau diesen Druck aus dem System nehmen wollen. Denn wir brauchen Beitragsstabilität und wir brauchen verlässliche Rahmenbedingungen, um uns - wie es im Koalitionsvertrag nachzulesen ist - im Jahr 2006 in aller Ruhe auf eine große Finanzreform zu verständigen. Nun mussten wir heute lesen, dass einige AOKs die Beitragssätze dennoch anheben wollen. Ich fordere von dieser Stelle die Landesregierungen - bei denen die Aufsicht liegt - ganz deutlich auf, sich die Berechnungen näher anzuschauen und ihre Aufsichtsfunktion hier ein Stück weit wahrzunehmen. ({2}) Denn es kann nicht sein, dass uns eine andere Zahl gemeldet wird als diejenige, die praktisch Grundlage der Beschlüsse ist. ({3}) Nur eine Zahl kann stimmen! Wenn beispielsweise die AOK Hessen dem Schätzerkreis ein Plus von 90 Millionen Euro meldet, gleichzeitig aber eine Beitragssatzanhebung fordert, dann haben doch die Versicherten - und um diese geht es doch - einen Anspruch darauf, zu wissen, worauf diese zurückzuführen ist. Uns hat man immer gesagt, man braucht ein Arzneimittelpaket; dies würde von den Kassen begrüßt und es würde zur Beitragsstabilität beitragen. Ich denke, der Gesetzgeber ist hier deutlich in Vorleistung getreten, er hat Wort gehalten. Ich erwarte das Gleiche jetzt auch von der Kassenseite. ({4}) Denn nur so kommen wir miteinander weiter. Was sind die Bestandteile des Pakets, das die Koalitionsfraktionen hier vorgelegt haben? Erstens. Wir machen Schluss mit der unsäglichen Praxis der Naturalrabatte. Man konnte in einem großen Wochenmagazin lesen, wie diese Praxis aussieht. Es ist nicht in Ordnung, dass Geschäfte zulasten der gesetzlichen Kassen und zulasten der Beitragszahler gemacht wurden. Die Verkäuferin trägt mit ihren Beiträgen quasi dazu bei, dass ein Zusatzgeschäft gemacht wird - das war so nie vorgesehen -, indem demjenigen, der zehn Schachteln eines Medikaments bestellt, zwei Schachteln umsonst gewährt werden und dass diese zulasten der GKV abgerechnet werden. Diese Praxis stellen wir mit den Maßnahmen dieses Paketes ab. Das ist überfällig. Die Versicherten haben einen Anspruch auf Wahrheit und Klarheit. Es gibt eine klare Regelung, es gibt klare Strukturen. Diese gilt es einzuhalten. ({5}) Das Ganze wird von einem Preisstopp und der Absenkung der Preise bei Generika flankiert. Wir sind der Auffassung, dass wir auch in diesem Bereich Wirtschaftlichkeitspotenziale erschließen müssen. Zweitens. Im Rahmen der Festbeträge wird künftig strikter danach unterschieden, welche Produkte eine Innovation darstellen und welche Produkte diesen Kriterien nicht entsprechen. ({6}) Auch bei den Festbeträgen haben wir Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben. Es war überfällig, dass wir stärker differenzieren, wo es um echte Innovationen für die Patientinnen und Patienten geht und wo es darum geht, Zusatzkosten einzusparen. Drittens. Wir möchten - auch dieser Aspekt in diesem Sparpaket ist mir sehr wichtig -, dass die Ärzte mehr Verantwortung übernehmen und dass sie auf unserer Seite stehen. Ich finde es etwas befremdlich, wenn wir Äußerungen lesen müssen, dieses Paket sei ein „Geiz ist geil“-Paket. Es wäre besser, wenn diejenigen Ärztevertreter, die so etwas sagen, erst einmal genauer hinsehen würden. ({7}) Bislang war es so, dass diejenigen, die sich um ihre Patientinnen und Patienten gekümmert haben, die sich gut verhalten haben und Medikamente sparsam und wirtschaftlich verordnet haben, damit sie Raum haben, um den Patienten, die es brauchen, wirklich Innovationen zukommen zu lassen, im System nicht ausreichend gewürdigt und belohnt wurden. Damit machen wir Schluss. Wir möchten, dass klar und wirtschaftlich verschrieben wird. Wir möchten die individuelle Verantwortung der Ärzte stärken. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass im Rahmen dieses Paketes das erste Mal die Praxissoftware zertifiziert wird. Es war nicht in Ordnung - auch das wurde aufgedeckt -, dass Pharmafirmen die Software subventionieren, damit ihre Produkte als Produkte der ersten Wahl ausgewiesen werden, auch wenn sie es vom therapeutischen Nutzen her gar nicht sind. Das hier vorliegende Paket erfüllt meiner Meinung nach drei Kriterien: Wir erhöhen zum Ersten die Transparenz im System; wir heben zum Zweiten die Effizienzreserven; wir gehen zum Dritten sparsamer und wirtschaftlicher mit den Beiträgen der Versicherten um. Ich glaube, das ist ein mutiger und wichtiger Schritt nach vorne. Die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker werden bei ihren Beratungen mit Sicherheit noch zusätzlich den einen oder anderen Aspekt aufspüren. Wir aber haben Wort gehalten, so wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr von der FDPFraktion.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, dass das GMG beschlossen worden ist. Gerade einmal zweieinhalb Jahre liegt das zurück. Ich habe den Eindruck, dass Sie, Frau Staatssekretärin, Daniel Bahr ({0}) von Ihren eigenen vollmundigen Versprechungen eingeholt worden sind. ({1}) Was haben wir nicht alles gehört, was das GMG erreichen sollte! Wir müssten im Durchschnitt längst bei einem Beitragssatz von 13,0 Prozent sein, wenn man den Sonderbeitrag einmal unberücksichtigt lässt. Im Durchschnitt liegt er aber bei 14,0 Prozent. Sie haben das GMG damals mit der gleichen Argumentation und Begründung eingebracht wie dieses Gesetz. Sie wollen die Wirtschaftlichkeitsreserven im System heben. Wenn das so einfach wäre, dann hätten Sie das doch schon längst tun können. ({2}) Aufgrund der Vorschläge, die Sie damals im GMG gemacht haben, gab es doch schon viele Stellschrauben, zum Beispiel die Festbeträge und andere. Von daher bin ich sehr skeptisch, ob die Wirtschaftlichkeitsreserven, von denen Sie sprechen, mit diesem erneuten Arzneimittelsparpaket realisiert werden. Gerade heute haben die AOK Hessen und die AOK Schleswig-Holstein angekündigt, ihre Beiträge zu erhöhen. Noch in der letzten Woche haben Sie geschimpft, als Allgemeine Ortskrankenkassen angekündigt haben, sie überlegten, die Beiträge zu erhöhen. Sie haben gesagt, es kann doch nicht angehen, dass schon die Überlegungen in den Medien so dargestellt werden, als ob die Beiträge erhöht werden. Heute haben die Allgemeinen Ortskrankenkassen in Hessen und in Schleswig-Holstein entschieden, dass sie die Beiträge erhöhen. Sie reagieren erneut mit einem Ausweichmanöver, indem Sie jetzt die Aufsichtsbehörden einschalten. ({3}) Nehmen Sie doch endlich einmal die reale Situation wahr, dass die beitragspflichtigen Einnahmen im nächsten Jahr nicht steigen, sondern möglicherweise sogar zurückgehen werden und dass die Leistungsausgaben um voraussichtlich 3 Prozent steigen werden. Das hat auch seine Gründe. Das ist nämlich unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Zahl chronisch kranker Menschen steigt und dass therapeutische Verbesserungen zumindest in den Anfangsjahren im Regelfall eher teurer sind. Eine weitere Ursache ist das Wegbrechen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Davor warnt der Sachverständigenrat. Man erkennt an Ihren Annahmen, dass Sie das bisher nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Hinzu kommt, dass allen Beteuerungen zum Trotz immer wieder die Lasten aus anderen sozialen Sicherungsbereichen in die gesetzliche Krankenversicherung verschoben werden, wie das unlängst erst wieder durch Hartz IV geschehen ist. Ja, durch die Entscheidung der großen Koalition wird das mit dem Wegfall des Bundeszuschusses zu den versicherungsfremden Leistungen und der Anhebung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent sogar noch weiter betrieben. Hier wird die gesetzliche Krankenversicherung weiter belastet. Deswegen kann ich verstehen, dass die Krankenkassen unsicher sind und Sorgen haben, dass das zu Belastungen und damit zu Beitragserhöhungen führt. ({4}) Die Großkoalitionäre müssen jetzt für ihre Entscheidung aus dem Jahre 2003 haften, keine grundlegende Reform des Systems geschultert zu haben. Sie haben versucht, sich mit Kostendämpfungsmaßnahmen über die Runden zu retten. Im Arzneimittelbereich hat das zwar zum Beispiel dazu geführt, dass im Jahr 2004 wegen der Vorzieheffekte in 2003 und der Anhebung des Herstellerrabattes von sechs auf 16 Prozent künstliche Einsparungen erzielt werden konnten. Das hat jedoch im Jahr 2005 - das war absehbar - zu einer ebenso künstlich aufgeblähten Steigerung der Arzneimittelausgaben von voraussichtlich 14 Prozent geführt, die sich zu einem Teil auch durch eine Zunahme der Befreiung von der Zuzahlung erklärt. Etwa 8 Prozent dieser Steigerung sind dabei aufgrund des GMG übrigens erwartet worden. Es ist ja nicht so, dass die Steigerung der Arzneimittelausgaben, die wir in diesem Jahr erleben, nicht schon im Jahre 2003 einkalkuliert worden ist. Also muss man sich über die Steigerung der Steigerungsrate unterhalten, die Sie ursprünglich einkalkuliert haben. Dann sieht das zumindest schon etwas anders aus. Diese in weiten Teilen selbst geschaffene Steigerungsrate nimmt man nun zum Anlass, den heute schon durch eine ungeheure Vielzahl von unterschiedlichsten Instrumenten überregulierten Arzneimittelbereich noch einmal mit zusätzlichen Kostendämpfungsversuchen zu drangsalieren. ({5}) Eines der schönsten Instrumente ist übrigens die Möglichkeit für die gesetzlichen Krankenkassen, über die in einem mühsamen und aufwendigen Verfahren einheitlich und gemeinsam durch die Spitzenverbände der Krankenkassen nach Vorarbeit durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ermittelten Festbeträge hinausgehen zu dürfen, wenn nachgewiesen wird, dass diese Mehrausgaben durch Rabatte desselben Herstellers wieder eingespielt werden können. ({6}) Verworrener, bürokratischer und aufwendiger geht es wirklich kaum noch. ({7}) Wer eine solche Flexibilisierung schaffen will, der muss sich von der Vorstellung einheitlicher und gemeinsamer Festbeträge lösen und diese durch kassenindividuelle Festzuschüsse ersetzen. ({8}) In der Presseerklärung des Bundesgesundheitsministeriums zum Arzneimittelgesetz vom 2. Dezember 2005 heißt es: Daniel Bahr ({9}) Die gesetzliche Krankenversicherung stünde finanziell noch erheblich besser da, wenn die Ausgabenzuwächse im Arzneimittelbereich im Rahmen der von der Selbstverwaltung vereinbarten Steigerungsrate geblieben wären. Das Versagen der Selbstverwaltung - Sie haben es eben wiederholt bei der Steuerung der Arzneimittelausgaben erfordert deshalb weiteres Handeln des Gesetzgebers, … Ich erwarte Rationierungen aufgrund des Gesetzes. Wenn das bedeuten soll, dass die Ministerin diese zukünftig mitverantworten will, dann ist das anscheinend nur zu begrüßen. Zumindest wird so argumentiert. Es wird zukünftig noch weitere Festbeträge geben und ihre Höhe wird nach unten korrigiert, aber nicht etwa durch diejenigen, die das Geschäft seit Jahren betreiben, nämlich durch die Selbstverwaltung, sondern erstmals durch den Gesetzgeber. Die Regelung wird dazu führen, dass mehr Patienten deutlich mehr für ihre Arzneimittel bezahlen müssen. Die Pharmaunternehmen werden ihre Preise nicht zwangsläufig auf die Festbeträge absenken. Das kann man wollen, dann soll man das aber auch deutlich sagen. Eine mit Ausnahme der Selbstbeteiligung voll finanzierte Arzneimittelversorgung gibt es nur noch für das Notwendigste. Das ist aber nicht immer das Beste. Wenn selbst die Krankenkassen die Kostenübernahme bestimmter Medikamente durch die Neuregelung nicht mehr in voller Höhe gewährleistet sehen - die BKK hat darauf hingewiesen -, dann sollte uns zumindest nachdenklich stimmen, dass das selbst die Krankenkassen tun. Die Bundeskanzlerin hat vor der Wahl verkündet, den Pharmastandort Deutschland stärken zu wollen. In ihrer Regierungserklärung hat sie dies erneut bekräftigt. Davon findet sich in dem vorgelegten Entwurf allerdings nicht viel wieder. Ein zweijähriges Preismoratorium, Preisabschläge für Generika, die ganz nebenbei eigentlich den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt beleben, die eben schon angesprochene Absenkung der Festbeträge, eine Bonus-Malus-Regelung für Ärzte bei Überschreiten so genannter Tagestherapiekosten, die dazu führen werden, dass sich die Ärzte mehr um den Preis als um die Qualität ihrer Therapie sorgen müssen, all das ist wohl eher nicht geeignet, die Zielsetzung der Kanzlerin zu befördern. Da hilft auch der Versuch nicht sonderlich weiter, innovationsfreundlicher als bisher zu definieren, was unter einem neuartigen Arzneimittel zu verstehen ist. Die jetzt im Gesetz verankerte Definition ist nämlich gar nicht weit von dem entfernt, was der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Verfahrensordnung bereits festgelegt hat. ({10}) Die Bundesministerin scheint eine Strategie wie auf dem Basar zu verfolgen, nämlich immer weit über das Ziel hinauszupreschen. Die CDU/CSU scheint sich darin zu erschöpfen, das Schlimmste zu verhindern. Damit kommen wir im Gesundheitswesen nicht weiter. Ich bin auf die Anhörung zu diesem Gesetz gespannt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Bahr. An dieser Stelle zu behaupten, das GMG, das GKV-Modernisierungsgesetz, habe nicht gewirkt, ist nicht richtig. ({0}) Sie wissen genauso gut wie wir alle: Zum damaligen Zeitpunkt bestand die Gefahr, dass die Beiträge über 15 Prozent steigen. Gleichzeitig hatten wir die Tatsache zu verkraften, dass die Krankenkassen über 8 Milliarden Euro Schulden aufwiesen. Heute sind die meisten Kassen von ihrer Schuldenlast herunter. Die Beitragssätze sind gesunken. Zu behaupten, das GMG habe nicht gewirkt, ist einfach nicht richtig. ({1}) Nach dem, was in der Koalitionsvereinbarung zum Arzneimittelbereich stand, haben wir uns an zwei Zielen orientiert. Erstens. Wir wollen die Rahmenbedingungen für innovative Arzneimittel verbessern und damit auch den Pharmastandort Deutschland stärken. Zweitens. Einsparungen sollen durch Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven bei Arzneimittelverordnungen erzielt werden. Um beide Ziele gleichermaßen zu erreichen, müssen die vorgesehenen gesetzlichen Maßnahmen in sich ausgewogen sein. Wir haben versucht, das zu erreichen. Wir haben folgende Maßnahmen beschlossen, die zu einer Verbesserung in Bezug auf innovative Arzneimittel führen. Gerade auch an die FDP gerichtet sage ich: Das Gesetz stellt klar, dass jede Arzneimittelinnovation, die aus wissenschaftlicher Sicht den Therapieerfolg für die Patienten verbessert, grundsätzlich immer von der Festbetragsregelung freizustellen ist. Dies ist auch dann möglich, wenn sich die therapeutische Verbesserung auf einzelne Patientengruppen und Indikationsbereiche beschränkt. ({2}) Künftig wird eine therapeutische Verbesserung nicht nur dann anerkannt - wie es jetzt im Gesetz steht -, wenn schwere Nebenwirkungen vermieden werden, sondern bereits dann, wenn es zu einer therapierelevanten Verringerung der Nebenwirkungen kommt. Drittens. Es wird klargestellt, dass eine therapeutische Verbesserung auch bei Arzneimitteln zu berücksichtigen ist, die nicht neuartig sind, sondern eine bereits eingeführte patentfreie Substanzklasse modifizieren. Ein weiterer Punkt. Die Anforderungen an den Nachweis einer Innovation über klinische Studien werden auf ein zumutbares Maß beschränkt. Auch wird die Transparenz der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses verbessert. Die Entscheidungsgründe müssen künftig den Arzneimittelherstellern vorab mitgeteilt werden. Ein anderer Punkt. Das Festbetragsverfahren wird durch Abkürzung des Entscheidungsweges wesentlich beschleunigt. Auch das bringt den Beteiligten mehr Planungssicherheit. Das Festbetragssystem wird zudem flexibler. Arzneimittelhersteller, die zum Beispiel ihre Preise nicht auf das Festbetragsniveau absenken wollen - ich darf nur an die Wirkung in anderen europäischen Ländern erinnern -, können künftig mit den Krankenkassen Rabattverträge abschließen. Dadurch bleiben diese Arzneimittel am Markt wettbewerbsfähig. Gleichzeitig profitieren davon auch die Versicherten jener Kassen, die solche Verträge abschließen. Wenn ein Arzneimittel innovativ ist - das heißt, eine bessere therapeutische Wirkung hat oder weniger Nebenwirkungen verursacht -, dann soll es von der Festbetragsregelung ausgenommen werden. Die jetzt beschlossenen Regelungen werden dies weit besser sicherstellen als das bisher geltende Recht. Diese Klarstellungen bedeuten eine eindeutige Verbesserung für die Hersteller innovativer Arzneimittel. Wir machen damit deutlich, dass wir die Arzneimittelforschung in Deutschland stärken wollen. ({3}) Unsere zweite Zielvorgabe war die Ausschöpfung vorhandener Wirtschaftlichkeitsreserven. Ich glaube, das ist uns einigermaßen moderat und in einer für alle Beteiligten akzeptablen Art und Weise gelungen. Wir werden die Festbeträge in den Gruppen 2 und 3 auf das untere Preisdrittel absenken. Gleichzeitig wollen wir aber sicherstellen, dass die Auswahl an Arzneimitteln, die innerhalb dieser Gruppen zur Verfügung stehen, gewährleistet ist. Deshalb schreiben wir vor, dass innerhalb des Festbetrages mindestens ein Fünftel aller Verordnungen und ein Fünftel aller Packungen einer Arzneimittelgruppe verfügbar bleiben. Dies trägt dazu bei, Versorgungsmängel zu vermeiden. Außerdem stellen wir sicher, dass bei größeren Arzneimittelgruppen wenigstens zwei Wirkstoffe innerhalb des Festbetrages vorhanden sind. Dies ist eine Maßnahme im Sinne der Arzneimittelsicherheit. Denn wenn es bei einem Wirkstoff zu Unverträglichkeiten kommen sollte, hat der Arzt die Möglichkeit, die Therapie auf ein anderes Arzneimittel umzustellen. Beide Entscheidungen dämpfen zwar das Potenzial der Einsparmöglichkeiten, aber sie sind im Sinne der Patientenversorgung und der Arzneimittelsicherheit aus unserer Sicht unverzichtbar. Wir halten diesen Schritt für richtig, auch wenn wir damit nur einen Mittelweg beschritten haben. Die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung ist uns das aber wert. ({4}) Eine weitere Maßnahme ist das Preismoratorium für Arzneimittel zur Begrenzung des Ausgabenzuwachses. Auch hierbei haben wir einen Kompromiss gefunden. Wir können die Industrie nur für ihre eigenen Preise verantwortlich machen. Deshalb ist es richtig, das Preismoratorium auf den Herstellerabgabepreis und nicht auf den Apothekenverkaufspreis zu beziehen. Dadurch werden die Arzneimittelhersteller nicht zu einem Kostenausgleich für eventuelle Steigerungen von Zuschlägen für Apotheker und Großhändler herangezogen. ({5}) Ein weiteres Problem gab es im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuererhöhung. Es wäre sicherlich nicht sachgerecht - darin sind wir uns zumindest unter den Gesundheitspolitikern in diesem Hause einig -, den Arzneimittelherstellern vorzuschreiben, zum Ausgleich einer Steuererhöhung ihre Preise zu senken, zumal dies in keinem anderen Wirtschaftszweig der Fall ist. Ich glaube, die Politiker hätten sich schwer getan, dies nach außen zu rechtfertigen. Wir Gesundheitspolitiker stimmen darin überein, dass das Problem auf andere Weise gelöst werden muss. Ich verhehle nicht, dass die Gesundheitspolitiker es vorziehen würden, wenn auch die Arzneimittel dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen würden. ({6}) Als letzten Punkt möchte ich die Stärkung der individuellen Verantwortung der Ärzte für Arzneimittelverordnungen ansprechen. Diese Regelung beinhaltet einen Malus für überdurchschnittliche Arzneimittelverordnungen auf der Basis von Tagestherapiekosten. Diese Bezugsgröße ist neu. Sie stellt für den einzelnen Arzt eine Erleichterung dar; denn bei bestimmten Arzneimittelgruppen kann er die Ausgaben künftig wesentlich besser steuern. Als weiteren Beitrag zum Abbau der Bürokratie kommt ihm zugute, dass der Arzt nicht mehr routinemäßig doppelt für sein Verordnungsverhalten geprüft werden soll, weil wir diese Maßnahmen aus der Überprüfung herausnehmen. Die Regelung beinhaltet darüber hinaus auch einen Bonus. Bei einem individuellen Bonus könnte es leicht heißen, der Arzt spare an den Arzneimitteln, um sich höWolfgang Zöller here Einnahmen zu verschaffen. Deshalb haben wir uns auf eine andere Lösung geeinigt, die ich auch für richtig halte, nämlich den so genannten kollektiven Bonus. Damit kann zum Beispiel die einzelne KV sicherstellen, dass der Bonus den Ärzten zugute kommt, die das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten. Damit wird eine grundsätzliche Haltung belohnt, nicht jedoch eine Minderversorgung von Patienten im Einzelfall. Ich glaube, dass dies ein sinnvoller Weg ist. ({7}) Angesichts der letzten drei Sekunden meiner Redezeit möchte ich noch feststellen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist, glaube ich, ein Beleg dafür, dass wir - das kann ich zumindest für die letzten Verhandlungen sagen - sehr konstruktiv zusammengearbeitet und gemeinsam einen Weg gefunden haben, um die Kosten in diesem Bereich einigermaßen in den Griff zu bekommen. ({8}) - Richtig, und das nach nur drei Wochen! Wir sind gespannt, welche Argumente die Gegenseite in der Anhörung anführen wird. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Spieth von der Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere im Arzneimittelbereich sind - darauf wurde schon hingewiesen - stark gestiegen. Die Bundesregierung veranschlagt den Zuwachs im laufenden Kalenderjahr auf etwa 16 Prozent bzw. rund 3,5 Milliarden Euro. Dies dürfte eher konservativ geschätzt sein. Zum 1. Januar 2005 wurde das bis dahin geltende Preismoratorium durch die Bundesregierung aufgehoben. Warnungen insbesondere aus dem Kreis der gesetzlichen Krankenkassen vor einem solchen Schritt wurden geflissentlich ignoriert. Gemeinsam warnten die Spitzenverbände der Krankenkassen vor einem Jahr vor der Absenkung des Rabatts für Arzneimittel, für die es keinen Festbetrag gibt, und vor dem Wegfall des Preismoratoriums, da dies unweigerlich eine Steigerung der Arzneimittelausgaben nach sich zöge. Die damals prognostizierten negativen Auswirkungen für die Beitragsentwicklung und die Beitragszahler waren also benannt. Nun sind sie eingetreten. Die Kurzatmigkeit dieser Politik verursacht einen ständigen Korrektur- und Gesetzgebungsbedarf. Nach unserer Auffassung ist das Problem, dass ständig zu kurz gesprungen wird. Der Gesetzentwurf in seiner ursprünglichen Fassung musste auf Druck der CDU/CSU zurückgezogen werden. Wesentliche Vorschläge wurden eingedampft. Gewährt wird nun im Rahmen der Vereinbarung der großen Koalition - hört, hört! - nur noch ein zweijähriges Preismoratorium. Völlig zurückziehen mussten Sie, Frau Schmidt, Ihren Vorschlag - darauf wurde schon hingewiesen -, die Mehrwertsteuererhöhung auf die Pharmahersteller abzuwälzen. Die geplante Mehrwertsteuererhöhung wird im Arzneimittelbereich dazu führen - das soll an dieser Stelle deutlich unterstrichen werden -, dass zusätzliche Belastungen voraussichtlich in einer Größenordnung von 800 Millionen Euro auf die Patienten abgewälzt werden. Wir halten das für einen Skandal. Wir fordern Sie auf, meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Wahlversprechen einzuhalten und auf eine Mehrwertsteuererhöhung komplett zu verzichten. ({0}) Verbrauchsteuererhöhungen treffen nämlich immer und zuerst die kleinen Leute und in diesem Fall in besonderer Weise die Kranken. Ihr Gesetz vermag nach unserer Überzeugung das eigentliche Problem wiederum nicht zu lösen. Anstatt endlich die dringend notwendige Positivliste einzuführen und damit den Problemen stärker auf den Grund zu gehen, bleiben Sie wieder einmal an der Oberfläche. Die von Ihnen vorgeschlagenen Einsparungen werden voraussichtlich durch die geplante Mehrwertsteuererhöhung aufgefressen. Was bedeutet das im Endeffekt? Wer wird für die weiter steigenden Arzneimittelkosten aufkommen? Wir fragen außerdem: Trifft es zu, dass es sich die angeblich Not leidende Pharmaindustrie leisten kann, mehr Geld für Werbung und Vermarktung auszugeben als für die Forschung? ({1}) Warum müssen die Versicherten mit den ständig steigenden Arzneimittelausgaben Heerscharen an Pharmavertretern finanzieren? Ein Unsinn allererster Güte! Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ein Gesetz zu machen, das die Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben hätte - hierzu gab es viele Vorschläge - und unter anderem zu einer Verbesserung der Qualität und der Versorgung und nicht zu einer Steigerung der Profite geführt hätte? Es ist davon auszugehen, dass die Arzneimittelhersteller Ihren Vorschlag dazu benutzen werden, bis zum In-Kraft-Treten der vorgesehenen Maßnahmen noch einmal schnell Kasse zu machen. Ihr Gesetz wird - davon bin ich sehr überzeugt - vor allem Hausärzte und chronisch Kranke treffen. Die vorgesehene Bonus-MalusRegelung und die Einführung von Tagestherapiekosten werden nach meiner Meinung bürokratische Monster produzieren und zudem das Arzt-Patienten-Verhältnis schwer belasten. ({2}) Wir fordern Sie deshalb auf: Legen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück in Ihren Giftschrank und realisieren Sie endlich die Positivliste, mit der Sie wirksam und intelligent die Wirtschaftlichkeitsreserven dort heben können, wo sie vorhanden sind! Bitten Sie diejenigen zur Kasse, die mit Scheininnovationen Milliarden verdienen, und nicht diejenigen, die auf eine wirksame, qualitativ hochwertige und preiswerte Medikamentenversorgung angewiesen sind. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf hat eine klare Botschaft und die heißt: Lobbyismus lohnt sich. ({0}) Schon der erste Arbeitsentwurf aus dem Ministerium war nicht geeignet, die Arzneimittelausgaben dauerhaft in den Griff zu bekommen. Denn Maßnahmen wie ein zweijähriger Preisstopp für alle rezeptpflichtigen Medikamente oder eine einmalige Preissenkung für Generika wirken gewiss, aber nur kurzfristig. An der langfristigen Ausgabenentwicklung ändern derartige Kostendämpfungsmaßnahmen gar nichts. Schon dieser Entwurf krankte daran, dass er sich nicht an die Ursachen der übermäßigen Ausgabensteigerungen im Arzneimittelbereich herantraute. Die liegen nun einmal darin, dass in Deutschland jedes zugelassene Arzneimittel, soweit es rezeptpflichtig ist, umstandslos von den Krankenkassen erstattet werden muss. Das ist geradezu eine Einladung an die Pharmahersteller, teure Scheininnovationen auf den Markt zu werfen, bei denen die Ausgaben für das Marketing weit über den Entwicklungskosten liegen. ({1}) Diesen Fehlanreiz behebt man nur, wenn man neue Arzneimittel konsequent auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis gegenüber den bereits eingeführten Medikamenten überprüft und erst dann erstattungsfähig macht, wenn sie diese Prüfung bestehen. Damit würden tatsächlich innovative Hersteller belohnt. Eine derartige Regelung aber, so erinnern wir uns, hat die Union schon in der Gesundheitsreform erfolgreich verhindert und dementsprechend hat sich Frau Schmidt auch nicht getraut, dieses in ihren Arbeitsentwurf hineinzuschreiben. ({2}) Nun bleiben diese Defizite und Leerstellen im Koalitionsentwurf bestehen. Darüber hinaus hat man ihn, Herr Kollege Zöller, auch noch verschlimmbessert; denn jetzt sind Sie dabei, das Festbetragssystem, auf das wir uns einmal gemeinsam geeinigt hatten, vollends gegen die Wand zu fahren. Erst vor wenigen Wochen hat das Bundessozialgericht wie vor ihm schon das Bundesverfassungsgericht und auch der EuGH das Festbetragssystem bestätigt. Diese Rechtssicherheit, die wir dadurch gewonnen hatten, wird in dem Gesetzentwurf wieder infrage gestellt. ({3}) Denn auf Betreiben der Union, Herr Kollege - Ihre Kollegin Widmann-Mauz lobt sich noch dafür, den forschenden Arzneimittelherstellern entgegengekommen zu sein -, strotzt der Entwurf vor Definitionen, was denn nun echte Innovationen und Scheininnovationen bei Arzneimitteln sein sollen. Durch diesen Wust von vielfach unbestimmten Rechtsbegriffen wird die Abgrenzung aber nicht einfacher, sondern schwieriger. ({4}) Weiteren Gerichtsverfahren werden Tür und Tor geöffnet. Damit werden Teile der Pharmaindustrie ihrem erklärten Ziel, das Festbetragssystem endlich zu schleifen, erheblich näher kommen. Vor diesem Hintergrund sind die im Finanztableau des Gesetzentwurfs ausgewiesenen 800 Millionen Euro, die durch eine, wie Sie sagen, Neujustierung des Festbetragssystems erwirtschaftet werden sollen, ein frommer Wunsch. Belastbar sind einzig die 500 Millionen Euro an Einsparungen, die für die Krankenkassen durch die Preissenkung bei Generika entstehen sollen. Aber durch die Anhebung der Mehrwertsteuer im übernächsten Jahr, die Sie ja planen, werden die Arzneimittelausgaben um 900 Millionen Euro steigen. Das nun vorgelegte so genannte Sparpaket ist also allenfalls dazu geeignet, die von der Koalition selber veranlassten Mehrausgaben gerade einmal auszugleichen. Da kann ich Ihnen nur sagen: Darüber hinaus werden nicht einmal kurz- und mittelfristig bedeutsame Einsparungen entstehen - von langfristigen Entlastungen ganz zu schweigen. Das heißt, Sie sind miteinander zu kurz gesprungen und - unter Lobbydruck - auch noch in die falsche Richtung, meine Damen und Herren von der Koalition. Dies ist kein guter Start in der Gesundheitspolitik. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arzneimittelausgaben sind im Jahr 2005 gegenüber dem Jahr 2004 um 16 Prozent gestiegen. Das ist wirklich eine inakzeptable Größe. Man kann in Rechnung stellen, dass das Jahr 2004 ein besonderes Jahr war: Es gab Vorzieheffekte aus dem Jahr 2003 und der Herstellerrabatt wurde 2004 von 6 auf 16 Prozent erhöht; 2005 wurde er wieder gesenkt. Diese beiden Faktoren führten aber lediglich zu Kostensteigerungen von weniger als 30 Prozent. Das heißt, 70 Prozent der Kostensteigerungen können nicht durch diese Faktoren begründet werden und sie sind zum großen Teil auch medizinisch nicht begründet. Die Kostensteigerungen sind überwiegend durch die Scheininnovationen bedingt. Gemeint sind damit neue Medikamente, Medikamente, die in der Regel teuer sind, und Medikamente, die durch Heerscharen von Pharmareferenten, die durch die Praxen ziehen, gut vermarktet werden. Diese Medikamente sind zwar teurer, haben aber keine bessere Wirkung. An diese Scheininnovationen müssen wir heran. ({0}) - Frau Bender, wir machen das ja. Die Verordnung von Arzneimitteln ist natürlich auch ein Ergebnis der Vereinbarung der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen. Man muss eben auch feststellen: Die Selbstverwaltung ist ihrer Verantwortung hier nicht gerecht geworden. Weil die Selbstverwaltung ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist, muss der Gesetzgeber hier eingreifen. Das tun wir. Ich kann heute nicht auf alle Regelungen des Gesetzentwurfs eingehen. Ich möchte mich auf die Aspekte beschränken, von denen ich denke, dass sie in der Diskussion im Ausschuss noch wichtig sein werden. Eine zentrale Maßnahme ist das Einfrieren der Arzneimittelpreise für zwei Jahre. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 ist nicht von den Herstellern zu tragen, wie wir es ursprünglich gewollt haben. Das heißt, dass das Damoklesschwert Mehrwertsteuererhöhung über den Kassen und damit den Beitragszahlern schwebt. Deshalb sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass für Arzneimittel, wie in fast allen anderen europäischen Ländern, der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt. ({1}) Umfassende Änderungen sind im Festbetragsbereich vorgesehen. Hintergrund der Regelungen ist, dass die bereits erwähnten Scheininnovationen allen bisherigen Maßnahmen zum Trotz immer noch erheblich teurer sind als therapeutisch gleichwertige Generika. Deshalb sollen die Festbeträge generell ins untere Preisdrittel abgesenkt werden. ({2}) Wenn es nicht dazu kommen sollte, dass die Hersteller ihre Preise auf das Festbetragsniveau absenken, was in der Vergangenheit bereits vorgekommen ist - wir alle erinnern uns an den Fall Sortis -, erhalten die Krankenkassen die Möglichkeit, für ihre Versicherten Rabattverträge abzuschließen. Durch diese sollen die Mehrkosten gegenfinanziert werden. Wenn derartige Verträge tatsächlich abgeschlossen werden, ist dies natürlich im Interesse der einzelnen Patienten, die anderenfalls die Differenz zwischen Festbetrag und Arzneimittelpreis tragen müssten. Was diese Maßnahme aber für den Arzneimittelmarkt und die Versichertengemeinschaft bedeutet, ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Festbetragsregelungen sind eine überaus komplexe Materie. Ich möchte an dieser Stelle dafür werben, dass wir uns intensiv mit den Auswirkungen der neuen Regelung befassen, vor allem mit den Auswirkungen auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten und auf das Instrument, das wir in der letzten Gesundheitsreform mühevoll gesetzlich verankert haben, nämlich die Nutzenbewertung der Arzneimittel durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit, dessen Bedeutung nach meiner Auffassung zukünftig noch gestärkt werden muss. ({3}) Unbedingt verhindern wollen wir, dass das Geld, das durch das Verbot von Naturalrabatten eingespart wird, sozusagen in den Bilanzen der Industrie und des Großhandels versickert. Deswegen wird bei Generika ein Abschlag auf den Herstellerabgabepreis in Höhe von 10 Prozent erfolgen. Ich plädiere an dieser Stelle ausdrücklich dafür, bei der jetzt vorgesehenen Regelung zu bleiben und keine Ausnahme für den Bereich der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel zu machen, wie dies gelegentlich gefordert wird. Dieser Rabatt ist eine der wichtigsten finanzwirksamen Regelungen, da sich hier die Unwägbarkeiten in engen Grenzen halten. Auch die Ärzte müssen einen Teil zu den Einsparungen beitragen; ({4}) denn die Ausgabenzuwächse erklären sich vor allem durch das Verordnungsverhalten der Ärzte, die zu oft die erwähnten Scheininnovationen verordnen, statt auf bewährte preisgünstigere Therapien zurückzugreifen. Wir stärken hier die individuelle Verantwortung des Arztes für seine Verordnungen. Unser Weg ist ein gesetzlich verankertes Bonus-Malus-System. Es ist damit Schluss mit dem Wischiwaschi, bei dem man den verantwortlich verordnenden Arzt nicht von dem unwirtschaftlich verordnenden Arzt trennen kann. Wenn wir über diese Bonus-Malus-Regelung diskutieren, müssen wir eines sicherstellen - das ist mir als Ärztin wichtig -: Ärzte dürfen nicht in einen Konflikt getrieben werden und Patienten notwendige Arzneimittel aus wirtschaftlichen Erwägungen vorenthalten. ({5}) Ich halte das „Geiz ist geil“-Argument vom Präsidenten der Bundesärztekammer für völlig daneben, weil es Patienten und Ärzte verunsichert. Vielmehr müssen die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass eine Versorgung nach den Prinzipien „notwendig“, „zweckmäßig“ und „wirtschaftlich“ erfolgt. Hier haben alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen Beitrag zu leisten, die Ärztekammer allemal. Das gilt für alle Regelungen, wie wir sie in diesem Gesetz vorgesehen haben. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Wolf Bauer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Als letzter Redner hat man natürlich immer ein Problem: Man will keine Wiederholungen vortragen. ({0}) Ich möchte mich daher bemühen, noch ein paar andere Akzente zu setzen. Mehrmals ist auf die Kostensteigerungen hingewiesen worden. Es führt nun einmal kein Weg daran vorbei: Es musste jetzt gehandelt werden, und zwar schnell. ({1}) Da sollte man uns von der Koalition auch einmal dafür loben, dass wir in so kurzer Zeit diesen Gesetzentwurf auf die Beine gestellt haben. ({2}) Das eine oder andere wird sicherlich nicht ideal sein - das ist ganz klar -, aber ich sage noch einmal: Wichtig war, jetzt zu handeln und schnell zu handeln. ({3}) Ganz klar muss sein, dass wir mit diesem AVWG unsere Arbeit noch nicht erledigt haben. Wir werden mit Sicherheit darangehen müssen - jetzt ist etwas Zeit zur Verfügung -, eine vernünftige und gute Strukturreform in unserem Gesundheitswesen auf die Beine zu stellen. Aber es muss eine echte Strukturreform sein, die uns solche Gesetze, wie wir sie jetzt haben, in Zukunft erspart. Ich höre von der rechten Seite den einen oder anderen Einwurf. Es ist nun einmal so, wie es ist. Wir müssen jetzt handeln. ({4}) Ich muss die Kritik natürlich hinnehmen. Zu den zehn Kostendämpfungsgesetzen in 25 Jahren tun wir jetzt noch eines dazu; das ist klar. Trotzdem - ich sage es noch einmal -: Es führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen vor allem sorgfältig darauf achten, dass alles, was wir jetzt beschließen, kompatibel mit dem ist, was wir möglicherweise in Zukunft in einer Strukturreform festhalten wollen. Über die einzelnen Punkte ist bereits viel gesagt worden, auch über die Festbeträge und über das Preismoratorium. Ich möchte nur noch auf eines hinweisen: Vergleicht man den Einfluss der Festbeträge auf die Preisentwicklung bei Arzneimitteln mit dem Einfluss eines Preismoratoriums, so ist unschwer zu erkennen, dass die Effektivität der Festbeträge ungleich größer ist. ({5}) Insofern ist es richtig, dass wir dieses Instrument hier angegangen haben. Es wird sicherlich noch das eine oder andere zu verbessern sein. In Bezug auf die Festbeträge möchte ich Ihnen aber nur eines sagen, Frau Bender: Sie werden nie eine saubere Definition von Innovation hinbekommen. ({6}) Ich glaube, das wird eine wissenschaftliche Aufgabe sein, die keiner lösen kann, da immer wieder etwas anderes darunter zu verstehen ist. Wenn jetzt mit diesem Gesetz zum ersten Mal der Aspekt der Verbesserung der Lebensqualität eingeführt wird, dann sollten wir alle das doch begrüßen und nicht sofort wieder davon reden, dass das ein schwammiger Begriff sei, den man letztendlich nicht greifen könne. ({7}) Ich weiß natürlich, dass das schwierig ist. In diesem Zusammenhang ist auch positiv hervorzuheben, dass es uns bisher immer wieder gelungen ist, für alle GKV-Versicherten eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sicherzustellen. ({8}) Die Versicherten durften an den Innovationen partizipieren; wir sollten durchaus einmal erwähnen, dass das vernünftig ist. Die einzelnen Ausführungen zu den Schritten, die wir vorgenommen haben, sind im AVWG niedergelegt. Art. 2 des Gesetzentwurfes beinhaltet die Änderung des Heilmittelwerbegesetzes. Da habe ich persönlich Probleme; denn so, wie sich das Heilmittelwerbegesetz jetzt darstellt, ist es für mich ein bürokratisches Monster, das fast nicht mehr zu überschauen ist. Gerade an den § 7 müssen wir einmal ernsthaft herangehen, ihn neu konzipieren und ihn vor allem so formulieren, dass endlich nicht mehr nur wenige Spezialisten verstehen, was darin steht, und dass nicht jeder, der Gesetze befolgen soll, eine juristische Interpretation braucht, um dies tun zu können. Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist, ob es gesetzessystematisch richtig ist, das Nichtgewähren von Rabatten - gegen das ich gar nicht sprechen will - in ein Heilmittelwerbegesetz hineinzuschreiben. Das müssten wir uns noch einmal überlegen; denn die Intention des Heilmittelwerbegesetzes ist ja, die Gesundheit des Einzelnen und die Gesundheit der Gesamtheit zu schützen. Ob man das mit dem Verbot von Rabatten erreicht, ziehe ich zumindest kräftig in Zweifel. Insofern müssen wir an dieses Thema einmal herangehen. Ich habe ja vorhin von Kompatibilität gesprochen: Wenn wir sagen, dass Rabatte Einfluss auf die Gesundheit des Einzelnen und auf die Gesundheit des gesamten Volkes haben, dann müssten wir zum Beispiel auch den Versandhandel, den wir erst unlängst erlaubt haben, wieder verbieten. Aus dem Ausland ist der Versandhandel erlaubt; wenn die Arzneimittel aus dem Ausland hereinkommen, gelten insofern wieder andere Bedingungen. Auch dies passt also nicht ganz zusammen. Man muss jetzt aber nicht den Versandhandel wieder verbieten. Ich glaube nur, dass wir einmal ernsthaft an dieses Thema herangehen müssen. Ich wünsche mir natürlich auch, dass wir zu mehr Harmonisierung kommen. Es geht mit Sicherheit nicht, dass wir wieder Ungleichheit zwischen deutschen Leistungsanbietern und Anbietern aus anderen EU-Staaten schaffen. Manche sprechen heutzutage ja schon von einer Inländerdiskriminierung. Ich glaube, hier müssen wir ein bisschen aufpassen und noch etwas gegensteuern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Bauer, bedenken Sie bitte die Zeit.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gerade noch den letzten Satz sagen. - Ich weise noch einmal darauf hin, dass wir jetzt den richtigen Schritt getan haben und dass weitere Schritte folgen müssen. Ich bin optimistisch, dass wir mit dieser Koalition auch weitere Probleme lösen können. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/194 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Statt Ausbildungspakt - Für eine umlagefinanzierte berufliche Erstausbildung - Drucksache 16/122 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die duale Berufsausbildung in Deutschland kontinuierlich verbessern - Drucksache 16/235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({3}), Krista Sager, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Berufsausbildung umfassend sichern - Drucksache 16/198 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Cornelia Hirsch von der Fraktion Die Linke das Wort. ({5})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Sache als Erstes klarstellen: Mit unserem Antrag wollen wir keinesfalls anzweifeln, dass die formalen Zusagen des Ausbildungspaktes eingehalten wurden. Wir kennen die Zahlen wahrscheinlich genauso gut wie Sie. Es ist richtig, dass jedes Jahr rund 30 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Das war sogar etwas mehr als die vereinbarten 25 000 Einstiegsqualifizierungen. ({0}) Dies ist für uns allerdings kein Grund, Ihnen zum Ausbildungspakt zu gratulieren. ({1}) Denn es ist doch vollkommen unentscheidend, ob formale Paktvereinbarungen eingehalten wurden. Entscheidend ist für uns die Frage, ob der Ausbildungspakt ein taugliches Mittel und Instrument ist, um die Perspektiven der Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern. Genau an dieser Stelle ist die Bilanz verheerend. ({2}) Der grundsätzliche Fehler liegt aus unserer Sicht schon darin, dass mit dem Pakt keine zusätzlichen Ausbildungsplätze geschaffen werden, sondern dass lediglich versucht wird, die Ausbildungsplätze, die im gleichen Zeitraum wegfallen, zu kompensieren. Nicht einmal dieses Ziel wird vollständig erreicht. So gab es in den letzten Jahren 10 Prozent weniger Ausbildungsstellen. Die Quote der betrieblichen Ausbildung ist in diesem Jahr mit 23,4 Prozent auf einem neuen Tiefststand. Konkret bedeutet das für die ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen, dass es mehr Bewerberinnen und Bewerber und gleichzeitig weniger Ausbildungsangebote gibt. Das ist wahrlich keine Erfolgsgeschichte. ({3}) Die Leidtragenden in dieser Situation sind die Jugendlichen. Wir finden es zynisch, wenn in der Presse und in den Medien immer wieder auf die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit hingewiesen und behauptet wird, die Ausbildungslücke habe sich durch den Ausbildungspakt verringert. Aus unserer Sicht ist das Schönrechnerei. Denn ein Großteil der Jugendlichen wird aus dieser Statistik schon vorher herausgerechnet. Sie befinden sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen, nehmen an Einstiegsqualifizierungen teil oder - das ist aus unserer Sicht ein sehr wichtiger Punkt, über den wir diskutieren sollten - fangen ohne Berufsausbildung direkt an zu arbeiten. All diese Jugendlichen, die natürlich auch einen Bedarf an Ausbildungsplätzen haben, tauchen dann in der Statistik gar nicht mehr auf. Wir fordern Sie deshalb dazu auf, die Ausbildungsmisere endlich einzugestehen und zuzugeben, dass der Ausbildungspakt kein sinnvolles Mittel ist, um die Ausbildungsmisere zu beheben. ({4}) Die Alternative zu diesem unverbindlichen und wirkungslosen Ausbildungspakt haben die Kolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Bundesregierung im letzten Jahr bereits selbst vorgeschlagen. Es wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, der die Forderung nach der Einführung einer Umlagefinanzierung in der beruflichen Erstausbildung enthielt. Als es allerdings Kritik gab, wurde dieser aus unserer Sicht sehr sinnvolle Entwurf gleich wieder auf Eis gelegt. ({5}) Die Begründung, eine Umlagefinanzierung faktisch einzuführen, hat damals der Kollege Jörg Tauss formuliert. Er hat gesagt: Ausbildung ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung der Wirtschaft, sondern Pflicht. ({6}) Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Wir setzen uns nun dafür ein, das Gesetz erneut einzubringen, zu diskutieren und sicherzustellen, dass es auch wirklich zur Einführung einer Umlagefinanzierung kommt. In dem Koalitionsvertrag - das wurde schon angesprochen - wird die Möglichkeit angedeutet, branchenbezogene Umlagefinanzierungen einzuführen, was durchaus ein erster Ansatzpunkt sein kann. ({7}) Wir freuen uns auch, dass von den Grünen und ebenfalls von der FDP Anträge zu diesem Thema eingebracht wurden. Gerade dem Antrag der Grünen stimmen wir natürlich zu. Dort heißt es nämlich, dass man sich nicht nur auf den Ausbildungsbereich beschränken darf, sondern dass grundlegende Bildungsreformen auch in anderen Bildungssystemen notwendig sind. Wir freuen uns darauf, gemeinsam über die Herausforderung der Europäisierung oder über Forderungen der GEW nach einer Stärkung von vollschulischen Lehrstellen zu diskutieren. Das alles sind Punkte, die in der Diskussion sind und die aufzugreifen wichtig ist. ({8}) Bei diesen Maßnahmen ist für uns allerdings klar: Nicht auf Grundlage eines wirkungslosen Ausbildungspaktes! Nicht, wenn nicht endlich die Ausbildungsmisere offen gelegt wird! Und nicht, wenn mit solchen Diskussionen lediglich versucht wird, von der Notwendigkeit einer Umlagefinanzierung abzulenken oder diese immer weiter hinauszuzögern! Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hirsch, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer von der CDU/CSU-Fraktion.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehrte Kollegin Hirsch, Sie sagen, der Ausbildungspakt habe sich nicht gelohnt, weil er formal nur 30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Jahr geschaffen habe. ({0}) Dazu stelle ich fest: Es sind immerhin 60 000 Ausbildungsplätze, durch die junge Menschen heute eine Perspektive bekommen. Das ist mehr als eine Formalie. Das ist ein Erfolg des Ausbildungspaktes. ({1}) Sie zeigen mit Ihrem Antrag: Es geht Ihnen nicht um Lösungen. Es geht immer noch um Ideologie, um einen gewissen Konflikt. Statt Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Gruppen, der Tarifpartner und der Politik fordern Sie eine staatlich organisierte Umlagefinanzierung. Sie bekämpfen den Ausbildungspakt und wollen ein Umlagegesetz. Die Wirklichkeit ist: Es gibt einen Ausbildungspakt - er ist erfolgreich ({2}) und es gibt seit über 30 Jahren tarifliche Formen der Umlagefinanzierung, beispielsweise in der Bauwirtschaft und im Gartenbau. Das muss also kein Widerspruch sein. ({3}) Hier haben die Tarifpartner ihren Spielraum genutzt. Wir Gewerkschafter und Tarifexperten wissen, was das bedeutet. ({4}) Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. ({5}) Doch „Autonomie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet übertragen: nach eigenen Gesetzen lebend. Also: Gesetzgeber, halte dich raus! ({6}) Natürlich wird eine solche Tarifforderung mit anderen Forderungen verrechnet. Doch wenn sie den Gewerkschaften wichtig ist, dann müssen sie den entsprechenden Preis dafür zahlen. Der Staat ist nicht das Dienstmädchen der Gewerkschaften und auch nicht der Arbeitgeberverbände. Eine staatlich organisierte Umlagefinanzierung würde ein staatliches Inkassowesen, eine staatliche Mittelverwaltung, eine staatliche Mittelvergabe, eine staatliche Mittelkontrolle und am Ende die Verstaatlichung der Berufsausbildung bedeuten. ({7}) Dies ist ein bürokratischer Moloch, der sich selbst verwaltet und zentralistisch Mangelwirtschaft betreibt. ({8}) - Wir müssen uns annähern; aber wir sind auf einem guten Weg. ({9}) Es ist besser, die Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifparteien zu nutzen. Da gibt es, Kollege Rossmann, eine Fülle an kreativen Vorstellungen. ({10}) Es ist gut, dass wir in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben, beide Tarifpartner - auch die Gewerkschaften - an der Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes zu beteiligen. ({11}) Der Antrag der Linken zeigt: Sie trauen den Gewerkschaften weder tariflich noch politisch im Ausbildungspakt etwas zu. Das zuständige Gremium hat noch nicht einmal getagt und schon wollen Sie den Pakt abschaffen. Wir brauchen nicht eine, wir brauchen viele Maßnahmen. Trotz tariflicher Umlage sind die Ausbildungsplätze in der Bauwirtschaft von etwa 100 000 auf 38 000 eingebrochen. ({12}) - Es gibt zwar eine höhere Ausbildungsquote. Die gilt jedoch generell für das Handwerk. Betriebe brauchen Zukunft, sie brauchen Aufträge. Wer in den nächsten drei Monaten keine Aufträge hat, kann sich nicht drei Jahre lang an einen Menschen binden. Ich-AGs und die kleine Handwerksnovelle haben dem Handwerk stark zugesetzt. 40 000 betriebliche Insolvenzen im Jahr führen zu einem Verlust von 400 000 Arbeits- und Ausbildungsplätzen. ({13}) Dass der Ausbildungspakt vor diesem Hintergrund immer noch funktioniert, ist ein Vorteil und zeigt, dass er erfolgreich ist. Was wir brauchen, ist ein besserer wirtschaftlicher Rahmen. Erste Akzente werden in der Koalitionsvereinbarung gesetzt. Kennzeichen der großen Koalition ist: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Wir werden erstens den Ausbildungspakt Ende des Jahres nach Beendigung der Nachvermittlung überprüfen. Er benötigt mehr Dynamik. Wir werden zweitens mit den Tarifpartnern über tarifliche und betriebliche Bündnisse für mehr Ausbildungsplätze sprechen. Wir werden drittens im nächsten Jahr überprüfen, wie die Umsetzung der Berufsbildungsreform, die in diesem Jahr in Kraft getreten ist, beschleunigt werden kann. Die drei vorliegenden Anträge sind Schnellschüsse. In ihnen wird das gefordert, was Sie schon immer gefordert haben. Wir wollen neu denken und gründlich arbeiten. ({14}) Ministerin Schavan hat alle Beteiligten des Ausbildungspaktes für den 30. Januar zu einem Gespräch eingeladen. Die Union wird anschließend, wie ich hoffe, gemeinsam mit der SPD einen soliden Antrag einbringen, ({15}) gemäß dem Grundsatz: Sorgfalt vor Schnelligkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von der FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So ist es. ({0}) - Das ist aber nett, Herr Tauss. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die duale Berufsausbildung ist ein Markenzeichen Deutschlands. Ich muss unserer

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Trained in Germany hat immer noch einen hervorragenden Ruf. ({0}) Für die FDP-Fraktion gibt es hier kein Hin und Her, sondern die klare Aussage, dass wir zum dualen Berufsausbildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland stehen. ({1}) Diese Berufsausbildung muss gestärkt und kontinuierlich verbessert werden. Aber auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Die FDP will, dass Berufsschüler mehr Zeit im Betrieb verbringen. Wir wollen die Europäisierung aktiv nutzen, Ausbildungshindernisse für die Betriebe abbauen. Vor allem aber wollen wir die Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen verbessern. ({2}) Wir wollen nicht die Unternehmer bestrafen, die geeignete Lehrstellenbewerber suchen, aber nicht finden. ({3}) Der von der Linken eingebrachte Vorschlag einer Ausbildungsplatzabgabe ist total daneben. ({4}) Er berücksichtigt in keiner Weise die regionalen Märkte. Beschäftigungsintensive Betriebe des Mittelstands werden besonders bestraft. Die duale Ausbildung wird schleichend verstaatlicht. Felix Rauner, einer der führenden und anerkannten Berufsbildungsexperten, bringt es auf den Punkt: Sie belohnt und bestraft die Falschen. Sie verstärkt die Arbeitslosigkeit und verschärft die Krise der Berufsbildung. - Das sind klare Worte. Klare Konsequenz: Das bürokratische Monster Lehrstellensteuer gibt es mit uns nicht. ({5}) Grundfalsch allerdings wäre es, die duale Ausbildung durch mehr vollzeitschulische Ausbildung zu schwächen. Gerade das Kennenlernen betrieblicher Strukturen und die praktische Arbeit als solche bewirken doch den pädagogischen Erfolg des dualen Systems. ({6}) Das duale System ist der Bildungsexportschlager der Bundesrepublik Deutschland. Wir gehören mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn andere Staaten die duale Ausbildung von uns übernehmen und wir sie in Deutschland aushöhlen und aufweichen, wo immer es geht. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen einen klaren Plan. Erstens: Modernisierung. Wir wollen neue Berufsbilder schneller einführen. Wir brauchen eine Ausweitung der Stufenausbildung und die Modularisierung für alle Berufsbilder muss konsequent verfolgt werden. Modernisieren heißt aber auch, dass wir vor der beruflichen Bildung ansetzen müssen. Der Umstand, dass 80 000 Jugendliche ohne Hauptschulabschluss sind, weitere 120 000 ohne ausreichende Ausbildungsbefähigung und es zudem eine Bugwelle von Altbewerbern von nochmals 120 000 gibt, macht deutlich, dass wir unser Bildungssystem weiterentwickeln müssen. Diese jungen Menschen brauchen eine zweite Chance. ({8}) Zweitens: Wir müssen flexibler werden, und zwar - ich weiß, dass gleich ein Aufschrei kommt - bei der Ausbildungsvergütung. Freie Vereinbarungen zwischen Betrieben und Azubis müssen möglich sein. Wenn in manchen Regionen Deutschlands 50 Prozent der Betriebe einer Branche nicht tariflich gebunden sind und wir dort zugleich einen dramatischen Lehrstellenmangel haben, dann sind 50 Euro weniger im Geldbeutel besser - das sage ich ganz klar -, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen. ({9}) Drittens: Öffnung. Wir müssen schnellstens dafür sorgen, dass Hochschulen für Absolventen der beruflichen Ausbildung geöffnet werden. ({10}) Außerdem müssen wir unsere berufliche Ausbildung für den europäischen Qualifikationsrahmen öffnen, aber nicht so, dass unsere Ausbildung im europäischen Vergleich abgestuft wird, sondern so, dass unsere gute berufliche Bildung in Europa volle Anerkennung erhält. ({11}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir dürfen nicht unentwegt Schule zum Experimentierfeld machen. Die Grundrichtung muss klar sein, und diese heißt: duale Ausbildung. Diese müssen wir weiterentwickeln. Diese müssen wir praxisnäher gestalten, und das Ganze möglichst unbürokratisch. Wenn die Bundesregierung bei der beruflichen Bildung diesen Weg verfolgt, dann hat sie uns an ihrer Seite. Zeigen Sie Mut! Herr Staatssekretär, gerade in der Bildung gilt: Wagen Sie mehr Freiheit! Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Meinhardt, auch Ihnen gratuliere ich sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Als nächster Redner hat nun der Kollege Willi Brase von der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, dass die Zahlen - wie sich das Ausbildungsjahr Ende September dargestellt hat - von mir nicht wiederholt werden müssen. Bei der Betrachtung sollten wir aber nie vergessen, dass die „fünfte Zeit“ - nämlich die Monate der Nachvermittlung - manches Positive auch im Sinne von zusätzlichen betrieblichen Ausbildungsplätzen auf den Weg gebracht hat. Wir konnten die Lücke um 40 Prozent verkleinern. Das ist ein besseres Ergebnis. Es ist nicht gut genug, aber es ist ein guter Anfang und ein guter Weg. ({0}) Lassen Sie mich, weil der Ausbildungspakt angesprochen wurde, auf die Einstiegsqualifizierung eingehen. Ich will nicht verhehlen, dass wir als SPD-Fraktion sie sehr kritisch gesehen haben. Aber die unabhängige Untersuchung der GIB hat zutage gebracht, dass der gewünschte Klebeeffekt offensichtlich funktioniert hat. Über 61 Prozent der befragten Jugendlichen mit Einstiegsqualifizierung haben eine Ausbildung erhalten. ({1}) Das Schöne dabei ist, dass von diesen Teilnehmern 71 Prozent keinen oder einen niedrigen Schulabschluss bzw. einen schwierigen Migrationshintergrund besaßen und besitzen. Offensichtlich ist es der bessere Weg, benachteiligte junge Leute, die bestimmte Probleme haben, nicht in schulische Maßnahmen oder Maßnahmen der Bundesagentur zu schicken, sondern im betrieblichen Rahmen sozusagen an die Realität heranzuführen. Das haben wir seinerzeit gewollt. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen. ({2}) Ich bin mir sicher, dass dabei das EQJ-Programm eine Brücke sein kann. Wir haben es im Rahmen der Reform des Berufsbildungsgesetzes diskutiert: Wir wünschen uns, dass dieses EQJ sich in den nächsten Jahren weiter zu einer Berufsausbildungsvorbereitung im Betrieb entwickelt, weil dort der Hintergrund genau richtig ist, und dass irgendwann die Unternehmen dies begreifen. Das war ja ein Teil der Reform des Berufsbildungsgesetzes. ({3}) - Das sowieso. Trotzdem wollen wir nicht vergessen: 10 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland verlassen Jahr für Jahr die Schule ohne einen Schulabschluss. Jeder fünfte Schulabbrecher ist nicht deutscher Herkunft. Angesichts der demographischen Entwicklung bin ich der Auffassung, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist, diese jungen Leute nicht zu vergessen. ({4}) Auf der anderen Seite werden - das können Sie in den Untersuchungen von BIBB und IAB feststellen - Fachkräfte, Fachkräfte mit qualifizierten Tätigkeiten und Fachkräfte mit Führungsaufgaben, die Bereiche sein, in denen ein Aufwuchs von Arbeitsplätzen stattfindet. Nur noch 8 bis 10 Prozent der Arbeitsplätze werden für Anund Ungelernte zur Verfügung stehen. Wenn das so ist, dann muss es unsere Aufgabe sein, alle Jugendlichen mitzunehmen und allen eine qualifizierte Ausbildung zu gönnen. Dazu gehört auch eine Qualifizierung beim Einstieg. ({5}) Ich will nicht verhehlen, dass es auf der anderen Seite ausbildungsfähige Betriebe gibt, die noch nicht ausbilden. Diese müssen wir für die Schaffung von Ausbildungsplätzen gewinnen. Wir haben im Koalitionsvertrag explizit vereinbart, dass kein Jugendlicher unter 25 Jahren länger als drei Monate arbeitslos sein soll. Aus der Praxis wissen wir, dass das eine gewaltige Aufgabe für die Argen, die optierten Kommunen und ein Stück weit auch für die Bundesagentur für Arbeit ist. Wenn uns das gelingt, tun wir etwas sehr Gutes für die jungen Menschen. Ich bin sicher, dass die Bundesregierung alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen wird, um dies auf den Weg zu bringen. Deshalb erinnern wir ganz bewusst an die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft. ({6}) Es ist richtig, dass Frau Schavan darauf hingewiesen hat, dass der Ausbildungspakt überarbeitet bzw. weiterentwickelt werden muss. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Gewerkschaften und der DGB einbezogen werden. Für mich heißt das, dass diejenigen, die jetzt dem Pakt angehören, ihre Bedingungen nicht einfach fortschreiben können. ({7}) Das bedeutet, dass wir auch die Vorschläge, die aus den Gewerkschaften kommen, daraufhin prüfen müssen, ob sie zu mehr Ausbildungsplätzen führen. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung die Möglichkeit offen gelassen haben, zum Beispiel die branchenbezogene Umlagefinanzierung zur Steigerung von Ausbildungsplatzangeboten gemeinsam mit den Partnern zu diskutieren. ({8}) Kollege Schummer, in diesem Zusammenhang ist nicht nur der Bereich der Bauwirtschaft zu nennen; es könnten auch noch andere erwähnt werden. In der Debatte über das Berufsausbildungssicherungsgesetz haben wir auch darüber diskutiert, dass es in Zukunft immer wichtiger wird, den Fachkräftenachwuchs in den Facharbeiterbranchen zu sichern. Branchenbezogene und ähnliche sektorale Konzepte können hierbei durchaus von großer Bedeutung sein. ({9}) Nun höre ich immer wieder, dass die Zeit im Betrieb sinnvoller ist als die Zeit in der Berufsschule. Was ist eigentlich Berufsfähigkeit? Was ist das Berufsprinzip? Das Berufsprinzip besagt doch, dass sich die Ausbildung an den Arbeits- und Geschäftsprozessen im realen Leben, in den Unternehmen, in den Betrieben und bei den Dienstleistern, orientiert. Das, was die jungen Menschen dort auf der Grundlage von Ausbildungsplänen erfahren, wird im Berufskolleg theoretisch untermauert, verarbeitet und weiterentwickelt. Dieses Berufsprinzip kann man durch eine zu starke Modularisierung möglicherweise kaputtmachen. Dann würden wir den hoch qualifizierten Fachkräftenachwuchs verlieren, ({10}) weil dieser Nachwuchs Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Handlungskompetenz entwickeln muss. Das braucht seine Zeit. Wir haben seit Jahrzehnten - die erste Reform stammt aus dem Jahre 1969, die letzte haben wir in diesem Jahr gemeinsam auf den Weg gebracht - eine geordnete Berufsausbildung in unserem Lande. Ich halte das für richtig und bin deshalb gegen eine Modularisierung an dieser Stelle. ({11}) Im Berufsbildungsgesetz haben wir die Regelung der vollzeitschulischen Ausbildung mit dem Rechtsanspruch auf Abschlussprüfung bei den Kammern vorgesehen. Diese ist in § 43 Abs. 2 geregelt. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass es hierzu einen gemeinsamen Beschluss des Bundesrates gab. Die Länder haben uns aufgefordert, dies zu prüfen. Wir haben uns damit sehr schwer getan, weil wir der Meinung waren, dass es nicht ohne Teilhabe der Mitglieder im Landesausschuss für Berufsbildung auf den Weg gebracht werden kann. Interessant ist nur, dass bis heute keine Landesregierung diesen Weg eingeschlagen hat. Insofern glaube ich, dass wir auch dieses Instrument im Laufe der nächsten Jahre überprüfen werden. Ich glaube, es war und ist für uns selbstverständlich, die Wirkung der Reform des Berufsbildungsgesetzes in dieser Legislaturperiode zu überprüfen. An dieser Stelle ist der Antrag der Linken nach meiner Auffassung nicht notwendig. Im Zusammenhang der Weiterentwicklung der beruflichen Bildung kommen wir unweigerlich zum europäischen Bildungsraum, Stichworte: europäischer Qualifizierungsrahmen und Leistungspunktesystem ECVET. Wir sollten in den nächsten Monaten sehr genau aufpassen. Ich plädiere dafür, dass wir uns Zeit für die Bewertung dessen, was von der Kommission derzeit vorgeschlagen hat, nehmen. Die Sozialpartner, Gewerkschaften wie Arbeitgeber, geben ihre Stellungnahmen bis zum 31. Dezember dieses Jahres ab. Sie sind hochinteressant. Ich plädiere dafür, dass wir uns auch für deren Bewertung Zeit nehmen. Wenn es zu dem europäischen Qualifizierungsrahmen kommt, sollten wir eine ausreichende Probezeit einplanen. Ich möchte nicht, dass wir über ein europäisches Leistungspunktesystem und eine starke Modularisierung eine Zerstückelung und einen Abbau des Prinzips der Berufsfähigkeit in der Erstausbildung bekommen und damit sozusagen durch die Hintertür, über den Prozess der Harmonisierung, unser duales Berufsausbildungssystem kaputtmachen. ({12}) Das sollten wir nicht machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich glaube, dass die quantitative Entwicklung von großer Bedeutung ist, die qualitative aber ebenso. Zum Beispiel haben wir mit der Reform den Berufsbildungsausschüssen bei den Kammern vor Ort wie auch denen auf Landesebene aufgegeben, Qualitätsansprüche, Qualitätsnormen und Qualitätsanforderungen für die Ausbildung zu entwickeln. Das halte ich für richtig. Meiner Meinung nach geht es darum, denen Freiheit zu geben, die in der Lage sind, an den entscheidenden Stellen etwas auf den Weg zu bringen. Deshalb war es richtig, dass wir das gemacht haben. ({13}) Meine letzte Bemerkung betrifft die alte Leier von der hohen Ausbildungsvergütung. Hier verweise ich auf die entsprechenden Untersuchungen des BIBB, in denen eindeutig zum Ausdruck kam, dass die Ausbildungsvergütungen nicht etwa zu hoch sind, sondern - im Gegenteil - nur in geringem Maße gestiegen sind. ({14}) Wenn Sie sich ansehen, in welchen Bereichen die meisten Ausbildungsplätze vorhanden sind, stellen Sie fest, dass die Vergütungen nicht gerade hoch sind. Das Durchschnittsalter der Auszubildenden ist höher und sie müssen teilweise selbstständig leben. Ich sage Ihnen klipp und klar: Das, was Sie wollen - die Abschaffung der tarifpolitischen Auseinandersetzungen bzw. der tarifpolitischen Normen -, ist mit uns nicht zu machen. Vielen Dank für Ihre Geduld. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz von Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen heute, am Ende des Jahres 2005, ganz nüchtern feststellen, dass wieder nicht genügend Lehrstellen bereitgestellt wurden, dass nicht alle jungen Leute einen Ausbildungsplatz gefunden haben und dass sich in diesem Jahr die Zahl der betrieblichen Ausbildungsstellen sogar verringert hat. Auch aus diesem Grund muss man leider feststellen, dass der Ausbildungspakt noch kein Pakt des Erfolges ist. ({0}) Dabei darf es allerdings nicht bleiben. Es ist nicht nur für die Teilhabe junger Menschen an der Gesellschaft wichtig, sondern es ist auch eine ökonomische Frage, dass unsere Berufsausbildung gut ist und alle Jugendlichen eine gute Berufsausbildung bekommen. Gerade deshalb müsste es auch im Interesse der Wirtschaft sein, wenn sie ihr Engagement verstärken würde, um neue, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. ({1}) Union und SPD haben dieses Problem in ihrem Koalitionsvertrag zwar angesprochen. Aber es ist völlig unklar, wann und mit welchen konkreten Maßnahmen Sie gegen die Lehrstellenmisere vorgehen wollen. Denn der allgemeine Hinweis darauf, dass man noch eine Reform des Berufsbildungsgesetzes durchführen und den Jugendlichen eine zweite Chance geben will, reicht aus meiner Sicht nicht aus. ({2}) Dabei hat sich die neue Ministerin ausdrücklich - man könnte auch sagen: notgedrungen - zu einer Berufs- und Weiterbildungsministerin erklärt. Jetzt erwarten nicht nur wir, sondern auch die Jugendlichen ganz konkrete Schritte. ({3}) Von der FDP erreicht uns wieder ihr typischer Reflex, dass die Ausbildungsvergütungen gesenkt werden müssten. Als ob 50 Euro weniger im Monat zu mehr Ausbildungsplätzen führen würden! ({4}) Die diesbezügliche Untersuchung wurde bereits angesprochen. Die Unternehmen haben bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen ganz andere Probleme. Ganz besonders haarsträubend ist die Forderung Ihres Antrags, die Anerkennung der Abschlüsse vollschulischer Ausbildungsgänge zurückzunehmen. Diese Möglichkeit wurde gerade deshalb geschaffen, weil es in unserem dualen System nicht genügend Ausbildungsplätze gibt. ({5}) Die Bundesregierung muss die Anerkennung dieser Abschlüsse jetzt durchsetzen. Hier hat die Bundesregierung eine Bringschuld. ({6}) - Ja, die auch. Aber da die Bundesministerin immer sagt, dass sie künftig auf Bundesebene keine Zuschauerin sein will, soll sie sich bitte einmischen. ({7}) Nun erklärt die PDS ({8}) die Umlage zum allein selig machenden Instrument. Für meine Fraktion kann ich sagen: Sie ist ein Instrument. Gerade weil wir in unserer Partei und Fraktion eine lange Diskussion darüber geführt haben, kann ich Ihnen aber auch sagen: Eine Umlage auf Bundesebene kann sehr viele, auch bürokratische Tücken haben. ({9}) Deswegen haben wir uns auf das Moratorium und den Ausbildungspakt eingelassen. Es gäbe auch andere Instrumente, die man prüfen könnte. Aber ich sage ganz ausdrücklich: Der Pakt muss jetzt erfüllt werden. Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzulehnen. Vielmehr müssen die Partner ihre Anstrengungen bis zum kommenden Jahr auf jeden Fall verstärken, ({10}) zum Beispiel indem sich der Bund in Zusammenarbeit mit den Ländern dafür einsetzt, dass die Kooperation der Ausbildungsträger - der Schulen, der Betriebe und der Arbeitsagentur - verbessert wird. Hier sieht die Zwischenbilanz des Paktes düster aus. Im Pakt ist die Verbesserung der Berufsreife vereinbart; diese lässt auf sich warten. Die Überprüfung der Einstiegsqualifizierung ist ebenfalls notwendig, und zwar nicht, weil nicht genügend Jugendliche über dieses Programm in eine Ausbildung kommen, sondern weil wir Hinweise haben, dass die Hürden nach wie vor zu hoch sind, und weil das EQJ nicht auf die Ausbildungszeit angerechnet wird. ({11}) Das muss überprüft werden; wir erwarten von Ihnen, dass Sie hier tätig werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hinz, bedenken Sie die Zeit!

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, der Ausbildungspakt gründet sich auf ein Moratorium. Wir wollen, dass die Bundesregierung bis zum Jahr 2006 ihre Anstrengungen mit den Partnern verdoppelt und bis zum Beginn des Jahres 2007 einen Bericht vorlegt, aus dem hervorgeht, mit welchen neuen Instrumenten dann weitergearbeitet werden muss. Das kann dann auch das Instrument einer Umlage sein. Wir haben auf jeden Fall alle Anstrengungen zu unternehmen. Wir können es uns nicht leisten, eine ganze Generation zu verlieren. Hier sollten wir alle zusammenstehen und alle Partner, vor allen Dingen die im dualen System, sollten ihrer Verpflichtung nachkommen. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hinz, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Alexander Dobrindt von der CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, wenn sich der Deutsche Bundestag regelmäßig mit der Ausbildungssituation in Deutschland befasst. Das ist wichtig für die Menschen - besonders für die Jugendlichen natürlich - und es ist wichtig, dass alle sehen, dass die Politik der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, den jungen Menschen Ausbildungsplätze zu verschaffen, große Aufmerksamkeit widmet. ({0}) Es ist aber schlecht, wenn man feststellen muss, dass in der Debatte keine wirklichen Fortschritte gemacht werden, sondern immer wieder die alten ideologischen Kamellen herausgeholt werden - ohne die reale Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen. ({1}) - Es gibt hervorragende Ausnahmen; gar keine Frage. ({2}) Im Antrag der Linken steht, dass es mit den Vereinbarungen zum Ausbildungspakt nicht gelungen ist, die Wirtschaft hinreichend in die Verantwortung für die Ausbildung zu nehmen und die Perspektiven für Jugendliche zu verbessern usw. Meine Damen und Herren von der Linken, was Sie da schreiben, ist nicht nur falsch. Vielmehr würdigen Sie damit auch die Leistung all derer herab, die oftmals trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in hohem Maße nachkommen und zusätzliche Ausbildungsplätze für die jungen Menschen zur Verfügung stellen, ihnen eine Lehrstelle verschaffen. ({3}) Sie würdigen diejenigen herab, die wir in diesem Land in besonderem Maße brauchen: die Mittelständler, die Verantwortung übernehmen und sich engagieren, vor allem für die jungen Menschen in diesem Lande. ({4}) Die Ausbildungsplatzsituation hat sich gegenüber dem Vorjahr verbessert: Die rechnerische Lücke zwischen den unbesetzten Ausbildungsplätzen und den noch nicht vermittelten Bewerbern ist nochmals gesunken, sodass man davon ausgehen kann, dass zumindest bis Anfang nächsten Jahres jedem Bewerber eine Lehrstelle oder eine Einstiegsqualifizierung angeboten werden kann. Das ist das Ergebnis einer freiwilligen Kraftanstrengung von Tausenden von Betrieben, die ihrer Verantwortung nachkommen - und dies ganz ohne staatliche Zwangsregulierung mittels einer Ausbildungsplatzabgabe. ({5}) Deswegen sind alle beteiligten Gruppen heute eigentlich der Überzeugung, dass der Ausbildungspakt funktioniert, nur die Linken und Teile der Gewerkschaften nicht. Es wird Ihnen, meine Damen und Herren, aber nicht gelingen - das sei an dieser Stelle gesagt -, die Anstrengungen, die viele gemeinsam unternommen haben, hier schlecht zu reden. Für mich steht fest: Die Zukunft der jungen Menschen muss im Vordergrund stehen. Deswegen setze ich auf Freiheit und nicht auf Zwangsverpflichtung. ({6}) Selbstverständlich müssen wir noch weitere Anstrengungen unternehmen; das ist überhaupt keine Frage. Die derzeitige Situation darf man aber nicht unabhängig von den Rahmenbedingungen betrachten. Zu den Rahmenbedingungen gehören zwei Dinge: zum einen ein modernes Berufsbildungsgesetz und zum anderen eine Mittelstandsoffensive, die Signale für einen Aufschwung setzt. Zum ersten Punkt. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes haben wir gemeinsam beschlossen. ({7}) Es beginnt, seine Wirkung zu entfalten. Wir haben die Verbundausbildung gestärkt. Immer weniger Betriebe können angesichts der zunehmenden Spezialisierung alleine ein komplettes Berufsbild in der Ausbildung abdecken. Gemeinsam mit anderen Betrieben ist das möglich. Es ergeben sich neue Synergieeffekte. ({8}) Wir haben die Stufenausbildung beschlossen. Natürlich bedarf sie etwas Zeit. Aber darin liegt die riesengroße Chance, dass theorieschwächere Jugendliche einen attraktiven Ausbildungsplatz vermittelt bekommen, der dann in einen Arbeitsplatz mündet und nicht beim Arbeitsamt, wie bei denjenigen, die eine vollzeitschulische Ausbildung gemacht haben. Das richte ich an diejenigen, die meinen, man könnte das Problem einfach mit einer vollzeitschulischen Ausbildung beheben. ({9}) In das Berufsbildungsgesetz haben wir eine ganz wichtige Formulierung aufgenommen. In dem Entschließungsantrag zu diesem Gesetz wird zum ersten Mal von betrieblichen Bündnissen für Ausbildung gesprochen. Die betrieblichen Bündnisse für Ausbildung müssen ausgebaut werden. Wir fordern, dass diese Chance offensiv genutzt wird und zukünftig vor Ort in den Betrieben flexiblere Regelungen bei Arbeitszeit und natürlich bei Vergütung, auch abweichend von tariflichen Vereinbarungen, wenn es nicht anders geht, gelten. Vor Ort kann vieles geregelt werden, wenn sich alle Partner einig sind. Das ist wichtig. Darin steckt auch eine große Chance für mehr Ausbildung von jungen Menschen. Zum zweiten Punkt, den ich angesprochen habe. Wir müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Mittelstand verbessern. Hier sind wir auf einem guten Weg. Gemeinsam haben wir im Koalitionsvertrag vieles dazu vereinbart: Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten, Abbau der Bürokratie, deutliche Förderung von Forschung und Technologie. Wir brauchen einen Maßnahmenmix, um die Ausbildungsplatzsituation in Zukunft zu verbessern. Dieser Maßnahmenmix muss kreiert werden. Definitiv nicht dazu gehört eine Ausbildungsplatzabgabe, wie von den Linken gefordert. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/122, 16/235 und 16/198 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zwangsverheiratung bekämpfen - Opfer schützen - Drucksache 16/61 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder Mensch hat das Recht, seinen Ehepartner selbst zu bestimmen. So sieht es die UN-Menschenrechtskonvention vor. ({0}) Doch dieses Recht wird Tag für Tag nicht eingehalten. Über 200 Frauen wenden sich jährlich allein in Berlin an Beratungsstellen für zwangsverheiratete Frauen. In einer Befragung im Auftrag der Bundesregierung äußerten 10 Prozent der Migrantinnen, zur Ehe gezwungen worden zu sein. Das wollen wir ändern. ({1}) Nun hat auch die Union damit begonnen, sich für die spezifischen Interessen von Migrantinnen zu interessieren, allerdings häufig aus dem Grund, um die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert zu erklären. Wir Grünen sehen das anders. Wir wollen eine multikulturelle Gesellschaft und wollen die Vielfalt der Kulturen. ({2}) Wo allerdings Menschenrechte verletzt werden, da endet für uns jegliche kulturelle Toleranz. ({3}) Die grüne Bundestagsfraktion hat als erste Fraktion Zwangsverheiratung und Gewalt im Namen der Ehre in Deutschland thematisiert. Wir stehen für den Schutz von Frauen vor Gewalt und Zwang. ({4}) In den vergangenen Jahren haben wir zusammen mit der rot-grünen Regierung viel erreicht. Ich nenne nur das eigenständige Aufenthaltsrecht für verheiratete Migrantinnen und das ausdrückliche Verbot von Zwangsverheiratung im Strafgesetzbuch. Weitere Schritte sind aber dringend nötig. Den „Aktionsplan Zwangsverheiratung bekämpfen“ können Sie, verehrte Regierungskoalition, jetzt gemeinsam mit den Bundesländern umsetzen. Hinter mangelnden Mehrheiten im Bundesrat können Sie sich jetzt nicht mehr verstecken. ({5}) Es wäre aber reine Symbolpolitik, jetzt nur das Strafrecht zu ändern. Das würde den Frauen nicht helfen. Darum wollen wir das seit 2005 bestehende Strafrecht erst einmal evaluieren, statt es jetzt blind und sofort zu ändern. Was die Opfer von Zwangsverheiratung nämlich wirklich brauchen, ist ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Nur so können sie sich einer Zwangsehe entziehen, ohne Angst vor einer Ausweisung zu haben. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der CDU/CSU, nutzen Sie jetzt doch Ihre Mehrheiten und vergessen Sie einmal Ihre Missbrauchsunterstellung gegenüber den Migrantinnen. ({7}) Konkret fordern wir, dass Frauen, die glaubhaft machen können, dass sie in Deutschland zwangsverheiratet wurden, sofort ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Für die Frauen, die aus Deutschland zur Verheiratung in andere Länder verbracht werden, fordern wir, dass ihr Aufenthaltsrecht nicht nach sechs Monaten erlischt, sondern dass sie die Möglichkeit haben, auch später als nach sechs Monaten nach Deutschland zurückzukehren. Diese Chance ist ihnen bisher verwehrt. ({8}) Die Flucht vor einer Zwangsehe gleicht heute in Deutschland oftmals eher einem Hindernislauf. Darum brauchen wir niedrigschwellige Beratungs- und Schutzprogramme. Ohne bürokratischen Aufwand müssen Betroffene Unterkunft, Papiere, Datenschutz und Leistungen nach dem Jugendhilferecht erhalten. Wir brauchen auch dringend verlässliches Datenmaterial; denn ohne dieses können wir das tatsächliche Ausmaß von Zwangsverheiratungen nicht sehen. Nicht zuletzt ist das beste Instrument natürlich die Prävention. Hier sind vor allem wieder die Länder am Zuge. Nachziehende Ehegattinnen dürfen nicht länger ihrem Schicksal in ihrer neuen Familie überlassen werden. Indem wir Integrationsansprüche an sie stellen, stärken wir sie auch in ihrer eigenen Familie. ({9}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das ist wesentlich sinnvoller, als den Frauen das Nachzugsrecht erst mit 21 Jahren zu gewähren. Das liegt auch ganz knapp neben der Verfassung. ({10}) - Das ist ja die reinste Begeisterung hier am späten Abend. Besondere Aufmerksamkeit müssen wir aber auch dem männlichen Geschlecht zukommen lassen. Die Erziehung zur Übernahme patriarchaler Rollenmuster und männlicher Gewalt geschieht ja bereits früh in der Familie. Schule, Jungenarbeit, aber auch die MigrantInnencommunities müssen alles daran setzen, diese Situation zu verändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Zwangsverheiratung ist keine Ehrensache, sondern sie ist eine Menschenrechtsverletzung. Lassen Sie uns in diesem Hause gemeinsam darangehen, dies zu beenden. Ich freue mich auf die Beratung und ich weiß von der einen oder anderen Kollegin und auch von Kollegen, dass sie unserem Antrag inhaltlich zustimmen könnten. Vielleicht führen wir ein Berichterstattungsgespräch durch und vielleicht können wir in einem halben Jahr tatsächlich etwas für die Frauen und auch für einige Männer tun. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion. ({0})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Schewe-Gerigk, bevor ich auf Ihren Vortrag eingehe, möchte ich erst einmal kurz eine kleine Geschichte erzählen. Sie hat sich vor zehn Jahren zugetragen. Es war auch kurz vor Weihnachten und eine Marokkanerin lebte in meiner Familie. Wir freuten uns auf das Weihnachtsfest, wie wahrscheinlich auch manche von Ihnen, und wir freuten uns auf ein paar friedliche Tage in der Familie. Das Mädchen hieß Latifa. Zu der Zeit wurde Latifa aber immer introvertierter und verschlossener. Ich habe sie gefragt: Freust du dich eigentlich nicht, dass du über Weihnachten nach Hause zu deiner Familie fährst? - Sie sagte nichts. Kurz vor dem Abreisetermin nach Marokko fing sie an zu weinen und sagte: Wenn ich nach Hause komme, werde ich verheiratet. Meine Familie hat bereits alles arrangiert. - Damals habe ich zum ersten Mal selbst gehört, mitbekommen und mitgefühlt, was es für ein junges Mädchen bedeutet, zwangsverheiratet zu werden. Latifa war verzweifelt und sagte: Ich kann ihn nicht heiraten, ich hatte einen deutschen Freund und bin keine Jungfrau mehr. Daraufhin habe ich mit meinem Selbstverständnis von Familie gesagt: Dann erkläre das doch deiner Familie. Ich selber habe auch einen Migrationshintergrund. Ihre Antwort war: Nein, ich habe Angst um mein Leben. - Diese Worte habe ich nicht vergessen. Deswegen freue ich mich, dass ich zu diesem Thema heute sprechen kann. Es ist mir natürlich klar, dass wir relativ begrenzte Möglichkeiten haben, um unmittelbar Einfluss auf die Familienstruktur in einem Bergdorf in Marokko zu nehMichaela Noll men. Manche Täter versuchen noch ihr Handeln mit dem Argument zu rechtfertigen: Andere Länder, andere Sitten. Aber wir dürfen es hier nicht zulassen, dass das Schicksal, das ich Ihnen gerade geschildert habe, auf deutschem Boden passiert, und zwar mitten unter uns, in Familien, die seit Generationen hier in Deutschland leben. ({0}) Viele von Ihnen haben von ähnlichen Schicksalen gehört, ob über die Medien oder die Presse. Das jüngste Beispiel war der tragische Tod einer jungen Frau hier in Berlin. Die Folgen von Zwangsverheiratung soll man ruhig einmal drastisch darstellen. Die jungen Frauen müssen meist die Schulausbildung abbrechen, sie werden häufig sexuell ausgebeutet und sind meistens von ihren Ehemännern finanziell abhängig. Sie haben kein eigenes Leben. Tausende von diesen jungen Muslimas leben in Deutschland unter dem Zwang des Patriarchats, zum Teil in der Wohnung eingesperrt, hilflos gegen männliche Gewalt, bis hin zum Ehrenmord. Allein in meinem Wahlkreis waren es im letzten Jahr acht Frauen, die aus einer extrem isolierten Lebensform ins Frauenhaus geflüchtet sind. Jede Dritte sagt: Ich bin zwangsverheiratet worden. Diese Frauen haben keine Chance auf Integration. Sie verschwinden in einer Parallelwelt. All dies ist eindeutig gegen unser Grundgesetz, und zwar gegen Art. 3 - Gleichheitsgebot - und gegen Art. 6, der die Eheschließungsfreiheit gewährleistet. ({1}) Unser Grundgesetz gilt für alle: für Männer und für Frauen, ungeachtet der Herkunft und ungeachtet der Religion. Ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben ist ein grundlegender und zentraler Wert unserer Gesellschaft. Doch von diesen Rechten können diese Opfer wirklich nur träumen. Deshalb müssen wir jetzt handeln. Das werden wir auch tun. Jetzt zu Ihrem Antrag. Aus frauen- und gesellschaftspolitischer Sicht ist das Ziel dieses Antrages, Opfer von Zwangsheirat noch stärker zu schützen, zu begrüßen. ({2}) Wir können doch nicht nur von Einzelschicksalen sprechen; denn die Medien zeigen ja, dass die Dunkelziffer viel höher ist. Viele Frauen trauen sich nicht, sich aus diesen Zwängen zu befreien und die Tat anzuzeigen, weil sie wissen, dass dies zu Racheakten in ihrer Familie führen wird. Konkrete Daten - da gebe ich Ihnen Recht - fehlen. Deswegen halten wir eine bundesweite Studie zum Thema Zwangsheirat für sinnvoll. Auch die Forderung, die Antragsfrist zur Aufhebung der Ehe zu verlängern und die Prävention zu verstärken, tragen wir mit. Aber all das - Entschuldigung - ist nicht ganz neu. Das war im Bundesratsentwurf bereits enthalten, Bundestagsdrucksache 15/5951. Sie ist zum Nachlesen sehr geeignet. Darüber hinaus stellt auch die Einführung eines niederschwelligen Schutzprogramms für Opfer einen wichtigen Aspekt dar. Aber das ist Aufgabe der Länder und der Kommunen. Insofern kann ich nur sagen: Einige Punkte in Ihrem Antrag gehen in die richtige Richtung. Aber die von Ihnen angedachten ausländerrechtlichen Änderungen gehen in vielen Punkten zu weit und sind auch in vielen Punkten leider nicht praktikabel. ({3}) - Ich möchte jetzt auf diesen Vorschlag nicht im Detail eingehen, weil dafür meine Redezeit zu kurz ist. Da dies heute die erste Lesung ist, biete ich Ihnen an, darüber in den weiteren Beratungen zu diskutieren. Noch ein Wort zu Ihnen, Frau Schewe-Gerigk. Sie haben uns eben ein bisschen angegriffen. Schauen Sie einmal in unseren Koalitionsvertrag. ({4}) Auf den Seiten 119 und 120 steht genau, was wir hier erreichen wollen, und wir wollen einiges. ({5}) Das werde ich Ihnen kurz erklären. Erstens. Es geht uns nicht nur um eine reine Strafrechtsverschärfung. Natürlich wollen wir einen neuen Straftatbestand zur Zwangsheirat. ({6}) Wir wollen ihn ganz einfach deshalb einführen, weil damit mehr Rechtsklarheit geschaffen wird. Die gleiche Situation haben wir beim Stalking. Zweitens. Wir wollen die Prävention verstärken. Auch wir wollen Betreuungs- und Beratungsangebote verbessern. Aber wir haben einen anderen Ansatz. Wir wollen das Selbstbewusstsein der Jungen und der Mädchen stärken. ({7}) Zunächst zum Straftatbestand. Es ist zwar richtig, dass die Zwangsheirat unter den Nötigungsparagraphen fällt. Aber wenn Sie sich mit Menschen aus der Praxis unterhalten, dann sehen Sie ganz genau, dass eine solche Bestrafung ausgesprochen selten Anwendung findet. Deswegen sagen wir: Ein eigener Straftatbestand setzt einfach ein deutlicheres politisches Signal. Deutschland wird Zwangsverheiratung nicht dulden. ({8}) Der Entwurf, der im Sommer im Bundesrat verabschiedet wurde, enthält zum Beispiel zivilrechtliche Regelungen. Manche Dinge sind nicht zu Ende gedacht. Warum reichen Frauen so selten den Antrag zur Aufhebung der Ehe ein? Der Grund ist, dass sie dann vor dem finanziellen Ruin stehen. Sie bekommen nämlich keinen Unterhalt. Der Bundesratsentwurf zielte genau darauf ab, die Rechtstellung im Unterhaltsrecht und im Erbrecht zu verbessern; denn es darf nicht sein, dass der Täter hinterher das Opfer beerbt. Die gesetzliche Erbfolge wird so ausgehebelt. All das enthält dieser Entwurf. ({9}) - Jetzt bin ich dran. Außerdem ist eine Höchststrafe von zehn Jahren vorgesehen und schon der Versuch der Zwangsverheiratung ist strafbar. Deswegen halte ich es für richtig, beim Strafrecht anzusetzen. In einem gebe ich Ihnen Recht: Wir dürfen auch die Täter nicht vergessen, und zwar die Brüder, Väter, Ehemänner und bedauerlicherweise auch die Mütter. Im Fall des Ehrenmordes in Berlin waren es die Brüder des Opfers. Den Schlagzeilen war zu entnehmen, dass muslimische Oberschüler diesen Ehrenmord gefeiert haben. Dieselben Schüler hatten zuvor ein Mädchen gemobbt, weil es nicht entsprechend gekleidet war. Das heißt, wir müssen bei den Jungen ansetzen. Denn die Akzeptanz, die bei den Jungen in Migrantenfamilien anscheinend vorhanden ist, können wir auf Dauer nicht akzeptieren. Deswegen setzen wir gezielt auf Präventionsarbeit. Auch hierbei sind die Schulen gefragt. Denn die Opfer sind meistens minderjährig und schulpflichtig. Insofern können wir versuchen, unsere Präventionsarbeit in die Schulen zu transportieren. Ob die Lehrpläne dafür geeignet sind, müssen wir dahingestellt sein lassen. Denkbar sind zum Beispiel Schulungen von Vertrauenslehrern. Dass die Täter nicht als „Zwangsverheirater“ geboren, sondern dazu erzogen werden, ist ebenfalls klar. Was hat das zur Folge? Wir müssen versuchen, die Väter und Mütter mit ins Boot zu holen. Denn nur bei den jungen Mädchen anzusetzen, greift meiner Meinung nach viel zu kurz. ({10}) Auch die islamischen Organisationen sind gefordert. Denn sie haben Zugang zu den Eltern und können diese aufklären. Nur so erreichen wir ein Umdenken. ({11}) Außerdem müssen die Frauen über ihre Rechte aufgeklärt werden. Die mangelnden Deutschkenntnisse haben zur Folge, dass sie sich nicht über ihre Rechte informieren können. Was Ihre Kritik an den Beschlüssen der Innenministerkonferenz angeht, weise ich darauf hin, dass eine verfassungsrechtliche Prüfung erfolgen wird. Aber Sie greifen sich immer nur die Rosinen heraus, wie es Ihnen passt. Wichtig ist, dass bei der Einreise Deutschkenntnisse vorhanden sein müssen. Nur dann können sich die Frauen vor Ort verständigen. Deswegen meine ich, dass wir die Diskussion erst einmal abwarten sollten. ({12}) Wenn sie sich nicht verständigen können, brauchen diese Frauen auch Beratung in türkischer und arabischer Sprache. ({13}) Wir wollen selbstbewusste Mädchen und Jungen, die ihr Leben selbst bestimmen. Sie sollen selbst entscheiden dürfen, wie sie leben und wen sie lieben. ({14}) Jeder Fall von Zwangsverheiratung ist ein Fall zu viel. Alle diese Opfer leiden. Bis zu 80 Prozent wurden vorher misshandelt oder missbraucht. Unser Maßnahmenpaket wird einiges ändern. Es wäre schön, wenn Sie uns in dem Punkt folgen könnten. Nun möchte ich noch einmal kurz auf Latifa zurückkommen. Sie hatte in ihrer Situation zwei Möglichkeiten, nämlich entweder einen Arzt zu finden - es gibt in Deutschland Ärzte, die bestimmte Eingriffe wieder rückgängig machen - oder mit ihrer Familie zu brechen. Sie hat sich für Letzteres entschieden und ist nicht mehr nach Marokko zurückgekehrt. So weit darf es in Deutschland nicht mehr kommen. Diese moderne Form der Sklaverei muss ein Ende haben. Danke schön. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte kurz auf Ihre Rede eingehen, Frau Kollegin Noll. Sie haben eindrucksvoll geschildert, wie Sie gerade um Weihnachten eine hochproblematische Situation miterlebt haben. Ich meine das nicht zynisch, sondern sage es ganz bewusst sehr nachdenklich: Weihnachten ist eine Zeit, in der Scheidungsanwälte und Familienrechtsexperten viel zu tun haben. Wir sprechen heute nicht zum ersten Mal über das Thema Zwangsverheiratung. Schon in der Debatte vor einem Jahr über den Antrag der FDP zum Thema „Kulturelle Vielfalt - universelle Werte. Neue Wege zu einer rationalen Integrationspolitik“ wurde das Thema Zwangsheirat von uns aufgegriffen und als Menschenrechtsverletzung nach Art. 6 Grundgesetz, Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 12 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten klassifiziert. Die Zwangsheirat verletzt die Menschenwürde. Diese ist ein zentraler Grundwert, deren Verletzung aus vorSibylle Laurischk geblich religiösen oder kulturellen Gründen nicht toleriert werden kann. ({0}) Im Dezember 2004 war uns auch der Dialog mit Repräsentanten muslimischer Gruppen ein wichtiges Anliegen, um in die so genannten Communities der Migranten hineinwirken zu können. Diesen Antrag haben Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, damals als Mitglieder der Bundesregierung abgelehnt. ({1}) In einer weiteren Debatte des Bundestages am 10. März 2005 anlässlich des Internationalen Frauentages wurde das Thema Zwangsverheiratung erneut diskutiert. Wir hätten es tatsächlich sehr begrüßt, wenn seitens der Grünen - damals in der Bundesregierung - eine Aktion aufgegriffen worden wäre, wie sie seitens des Landes Baden-Württemberg bereits angestoßen worden war. Tatsächlich hat aber in der Debatte vom 10. März 2005 die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Beck, eingeräumt, dass es in der Politik immer wieder vorkomme, dass man zu lange brauche, um zunächst verborgene gesellschaftliche Entwicklungen zu entdecken. ({2}) Wenn nun die Grünen aufenthaltsrechtliche und zivilrechtliche Änderungen fordern, um die Situation der von Zwangsheirat Betroffenen zu stärken, dann kann ich dies nur begrüßen. Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass mit § 240 Abs. 4 StGB seit Februar 2005 die Zwangsheirat als besonders schwerer Fall der Nötigung strafbar ist. Die Anwendung dieses Paragraphen in den einzelnen Bundesländern muss aber evaluiert werden. Es wäre sicherlich sehr hilfreich, zu erfassen, inwieweit dieser neue Straftatbestand tatsächlich angewendet wird. ({3}) Ich möchte ergänzen: Die Ausdehnung der Strafbarkeit scheint mir persönlich nicht der vorrangige Weg zu sein; denn die flankierenden Maßnahmen - an diesen fehlt es - sind, denke ich, wichtiger, um den bestehenden Straftatbestand umzusetzen. ({4}) Richtigerweise muss man davon ausgehen, dass nur bei bestehenden sachgerechten flankierenden Maßnahmen die einzelne Frau, die in der Regel das eigentliche Opfer einer Zwangsverheiratung ist, tatsächlich den Weg zu Polizei und Staatsanwaltschaft findet. Die begründete Angst vor gewalttätigen Familienmitgliedern wird häufig dazu führen, dass sie ihr Schicksal weiter trägt und keine Strafanzeige erstattet. Deshalb sind auch flankierende Maßnahmen unabdingbar, wie die Sicherstellung der Finanzierung eines ausreichenden Netzes von Frauenhäusern und psychologischer Beratung der häufig traumatisierten Opfer. Eine Verbesserung des Aufenthaltsstatus ist ebenso sinnvoll, darf allerdings nicht dazu führen - hier bin ich hinsichtlich der Vorschläge der Grünen vorsichtig -, dass die Behauptung einer Zwangsverheiratung automatisch zu einer Änderung der aufenthaltsrechtlichen Modalitäten führt. Dabei ist daran zu denken, dass im Antrag der Grünen vorrangig von Migrantinnen die Rede ist. Es dürfte aber bei einer entsprechenden Änderung der aufenthaltsrechtlichen Gesetzgebung kaum möglich sein, ausschließlich für Frauen eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, wie wir in dieser Frage eine angemessene Änderung - sie ist möglicherweise notwendig - vornehmen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass schon im Sommer 2005 auf Betreiben des baden-württembergischen Justizministers Goll Zwangsverheiratung zum Thema einer Bundesratsinitiative gemacht wurde. Leider konnte dies wegen der vorgezogenen Bundestagswahl nicht weiter behandelt werden. Ich möchte noch auf einen anderen Gesichtspunkt hinweisen, nämlich die familiäre Gewalt in unserer Gesellschaft insgesamt. Im Jahr 2000 wurde § 1631 Abs. 2 des BGB dahin gehend geändert, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben und dass körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen nicht zulässig sind. Hier muss im Grunde verstärkt angesetzt werden, um familiäre Entwicklungen, die in Druck zur Zwangsverheiratung münden, zu vermeiden. Auch die deutsche Gesellschaft muss sich mit Fragen der familiären Gewalt auseinander setzen. Dies ist nicht ausschließlich ein Problem der so genannten Communities von Migranten und Migrantinnen. Beim Thema „familiäre Gewalt“ geht es um eine breite Problematik in unserer Gesellschaft. Um eine zunehmende Entwicklung von Parallelgesellschaften zu vermeiden, müssen die Vermeidung und der Abbau von familiärer Gewalt schon im Kindesalter eine vorrangige Zielsetzung zur Prävention besonderer Gewaltformen wie der Zwangsheirat sein. Kinder sind schon in Kindergarten und Schule entsprechend zu informieren und zu erziehen. Um die von der Bundesregierung zu ergreifenden Maßnahmen - hoffentlich in Zusammenarbeit mit der Integrationsbeauftragten - inhaltlich begleiten und bewerten zu können, wird die FDP-Fraktion im Rahmen der Ausschussarbeit eine Anhörung beantragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gehe davon aus, dass die Zwangsehe nicht länger ein Tabuthema in Deutschland bleibt, sondern durch eine entschlossene Anwendung des bestehenden Strafrechts - bei gleichzeitiger Entwicklung notwendiger flankierender Maßnahmen - auch im Kreis der Betroffenen zunehmend als eine die Menschenwürde verneinende Straftat verstanden wird. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die türkische Zeitung „Hürriyet“ widmete einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Präventionsstrategien zur Zwangsverheiratung“ am 4. November dieses Jahres einen kurzen Artikel. Ich habe mich darüber ziemlich geärgert; denn durch eine Auswahl einiger Sätze aus meinem Referat, das ich dort gehalten habe, hat diese Zeitung den Eindruck vermittelt, ich hätte die Unerträglichkeit von Zwangsverheiratungen selbst relativiert. Dabei hatte ich lediglich mit Blick auf konkrete Erlebnisse, die ich genauso wie Frau Noll als junge Frau hatte, aus meinem Freundeskreis Beispiele für mit meinen Vorstellungen von Partnerfindung ebenfalls nicht vereinbare vermittelte Ehen gegeben. Ärgerlich an dem besagten „Hürriyet“-Artikel war neben dieser gezielten Fehlinterpretation auch die Tatsache, dass mit keinem Wort erwähnt wurde, dass wir bei der Novellierung des Sexualstrafrechts im Februar 2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als besonders schweren Fall der Nötigung ins Strafgesetzbuch aufgenommen haben. Dieser Paragraph ist eine ausdrückliche Warnung an die Akteure, die Tochter oder den Sohn gegen den eigenen Willen zu verheiraten bzw. ihn oder sie eine Ehe schließen zu lassen, in die der künftige Partner gezwungen wird. ({0}) Für mich und die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Es gibt keine wie auch immer geartete Rechtfertigung der Zwangsverheiratungen. Das haben wir hier schon mehrfach diskutiert. Auch in der Türkei ist die Zwangsverheiratung übrigens verboten. Frau Laurischk hat schon den Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angesprochen. Diese klaren Botschaften aufzunehmen, hätte ich von einer Zeitung, die immerhin von der Mehrzahl der türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland gelesen wird und die eine Verpflichtung hat, bei der Integration dieser Menschen mitzuhelfen, eigentlich erhofft und erwartet. ({1}) Am meisten leiden unter der Zwangsverheiratung junge Frauen, weil sie in einem traditionell männlich dominierten Umfeld die Schwächeren und Verletzbareren sind, denen mit einer Zwangsehe auch alle persönlichen Rechte genommen werden. Ich werde deshalb im Weiteren vorwiegend auf die Situation der jungen Frauen eingehen. Im Hinterkopf sollten wir aber auch die Situation von jungen Männern haben, insbesondere von schwulen jungen Männern, die, weil Homosexualität in islamisch geprägten Ländern als krank und kriminell angesehen wird, ebenfalls unter Anwendung von Zwang und Druck verheiratet werden. ({2}) Tatsache ist, dass wir in Anbetracht der offensichtlichen Häufung von Fällen in Deutschland dringend prüfen müssen, wie die Zwangsverheiratung bekämpft werden kann, bei der ja oft archaisch, grausam und ohne Rücksicht auf die Menschenwürde die Ehe auch mit Gewalt vollzogen wird. Eine wichtige Säule der Bekämpfung der Zwangsverheiratung ist zweifellos - da gebe ich Frau Noll Recht das Strafrecht. Ich habe gerade schon auf den § 240 StGB - besonders schwere Nötigung -, der schon mehrfach angesprochen worden ist, mit einem Strafrahmen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren hingewiesen. Wir müssen hier ernsthaft prüfen, ob die Regelung im § 240 ausreicht. Eine Evaluation in den nächsten Wochen und Monaten wäre da sehr hilfreich. Ich persönlich tendiere allerdings gefühlsmäßig trotz der Gefahr einer symbolischen Gesetzgebung zu einem eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung. ({3}) Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf eine Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 20. Juni 2005, welche unterstreicht, dass sich auch Personen strafbar machen, die freiwillig an der Zwangsverheiratung beteiligt waren, zum Beispiel der Ehemann oder diejenigen, die zum Beispiel als Familienangehörige Beihilfe zum Zustandekommen einer Zwangsverheiratung leisten. Familienrechtlich ist schon heute eine unter Zwang geschlossene Ehe ungültig. Ein Standesbeamter muss seine Mitwirkung an einer Eheschließung verweigern, wenn deutlich wird, dass ein Ehepartner durch Drohung oder Druck zur Eheschließung gezwungen wird. Vielleicht wäre hier allerdings manchmal ein Einzelgespräch mit jedem der künftigen Ehepartner eine Rettung für die Betroffenen. Gleiches müsste meiner Ansicht nach für Konsularbeamte gelten, die - auch das ist eine Anregung des Europarates - bei der Übertragung im Ausland geschlossener Ehen die Ehegatten befragen sollten. Bei den Regelungen zur Aufhebung einer Ehe müsste man über eine eventuelle Verlängerung der Aufhebungsfrist nachdenken. Aber auch das ist wie viele andere Dinge einer entsprechenden Anhörung, die wir vielleicht durchführen sollten, vorbehalten. ({4}) Neben dem Strafrecht und dem Zivilrecht gibt es - da sind wir, Frau Noll, ein bisschen auseinander - auch auAngelika Graf ({5}) fenthaltsrechtlich und ausländerrechtlich je nach Situation einen unterschiedlichen Handlungsbedarf. ({6}) Da gibt es - Fall A - die so genannten Importbräute. Sie sind - das muss man selbstkritisch sagen - ein Indiz dafür, dass unsere Integrationsbemühungen bei manchen jungen Männern im Migrantenmilieu und bei ihren Familien eben nicht erfolgreich waren. Unsicher und ohne unsere Regeln des Zusammenlebens zu akzeptieren, holen sie sich eine Frau aus der Heimat, die in das traditionelle Familienbild passt. Eine solche „Importbraut“ kann im Normalfall nicht Deutsch und ist jeder Einschüchterung, jedem Zwang, jeder Gewalt hilflos ausgesetzt. Das wird sich meines Erachtens auch nicht ändern, wenn man das Zuzugsalter erhöht, wie es die Innenministerkonferenz gefordert hat. ({7}) Ich glaube, dies bringt uns auch in Konflikte mit Art. 6 des Grundgesetzes, und zwar ganz abgesehen davon, dass der gewünschte Effekt, wie gesagt, nicht eintreten wird. ({8}) Viel wichtiger wäre hier - das ist ein Appell an die Bundesländer und Kommunen -, mit einer aufsuchenden, nicht diskriminierenden Beratung Zugang zu den Betroffenen zu suchen, um sie aus ihrer Isolation herauszuholen, sie dazu zu animieren, die Sprache zu lernen und ihnen Hilfe anzubieten. Dazu gehört auch der Hinweis, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht für Ehepartner schon nach geltendem Recht in Härtefällen nicht mit der üblichen zweijährigen Wartezeit verbunden ist. Hier sollten wir allerdings über klarere Regelungen für Opfer von Zwangsverheiratungen reden. Ich komme nun zu Fall B: Immer mehr junge Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit werden aus Deutschland in ihr Herkunftsland verbracht, um dort unter Zwang verheiratet zu werden. Ich hatte in meinem Wahlkreis selber einen solchen Fall. Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass die Angelegenheit selbst dann im Sande verläuft, wenn man sich einsetzt. Die deutschen Botschaften oder Konsulate haben wenige Möglichkeiten, Einfluss auf die offensichtlich lasche strafrechtliche Verfolgung dieses Delikts in den betreffenden Ländern zu nehmen. Hier muss man, zum Beispiel im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Druck auf die jeweiligen Regierungen ausüben, damit sich da etwas tut. ({9}) Andererseits müssen wir in Deutschland der Tatsache ins Auge sehen, dass diese „Exportbräute“ mit der Verschleppung nach einem halben Jahr auch ihren gesicherten Aufenthaltstitel in Deutschland verlieren, selbst wenn sie seit ihrer Geburt in Deutschland gelebt haben und hier gut integriert waren. Oft wird ihnen auch der Pass abgenommen. Wir müssen uns also überlegen, wie wir mit diesem Phänomen umgehen. ({10}) Man sollte zum Beispiel über § 51 Abs. 1 und § 37 des Aufenthaltsgesetzes diskutieren. Grundsätzlich scheint es mir notwendig zu sein, die Situation der Opfer stärker in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Da gebe ich all meinen Vorrednerinnen Recht. Der Antrag der Grünen hat diesbezüglich ja einiges, was wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam diskutiert haben, aufgenommen. Zu einem guten Opferschutz gehören Beratungsangebote und anonyme Schutzeinrichtungen. Hier sind die Länder und Kommunen genauso wie bei der Bildung der Betroffenen in der Pflicht. Das A und O ist aber eine breite und aufklärende Informationspolitik, ({11}) die alle Multiplikatoren aus Sozialarbeit, Bildungseinrichtungen, Polizei und Justiz einschließt. Die Informationspolitik muss ebenso - damit komme ich zurück auf diesen ärgerlichen Artikel in „Hürriyet“ - die Migrantenszene einbeziehen. Für vorbildlich halte ich auch einen auf Türkisch erschienenen Flyer des Bezirksamts Kreuzberg, der mir heute auf den Tisch kam. Er enthält eine Liste der Beratungs- und Zufluchtseinrichtungen in Berlin und spricht den jungen Frauen Mut zu, sich gegen Zwangsverheiratungen zur Wehr zu setzen. Er beginnt mit dem Satz: Sag Nein zur Zwangsverheiratung! Niemand darf Dich gegen Deinen Willen verheiraten, nicht in der Türkei, nicht in Albanien, nicht im Libanon, nicht in Asien, nicht in Afrika und auch nicht in Deutschland. Nirgendwo. Daran sollten wir uns halten. Daran sollten wir arbeiten. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dagdelen, Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es herrscht Einigkeit bei dem Thema Zwangsheirat. Zwangsheirat ist ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf die freie Wahl des Ehepartners und greift grundlegend in die körperliche und seelische Integrität der Betroffenen ein. Eine freiheitliche Rechtsordnung kann das nicht akzeptieren. ({0}) Es ist allerdings ein großer Unterschied, ob man wieder nach Strafrechtsverschärfung ruft oder ob man über Traditionen, die in einer freiheitlichen Gesellschaft unangebracht sind, einen öffentlichen Diskurs führt mit dem Ziel, dass die Akteure Einsicht gewinnen und ihr Verhalten freiwillig ändern. Der Koalitionsvertrag sieht vor, Zwangsverheiratungen als eigenen Straftatbestand einzuführen. Auch der uns vorliegende Antrag der Grünen geht mit der Forderung nach Prüfung weiter gehender strafrechtlicher Maßnahmen in eine ähnliche Richtung. ({1}) Die geführte Debatte mit dem Fokus auf das Strafrecht birgt die Gefahr, eine Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren und ihr pauschal kulturelle Rückständigkeit zu unterstellen. Es ist vielmehr eine gesellschaftliche Debatte notwendig, die nicht dazu führen darf, die hier lebenden Menschen, die kulturellen Minderheiten, insbesondere Muslime, zu stigmatisieren. ({2}) Zwangsheirat geschieht immer in patriarchalischen Gesellschaftsverhältnissen bzw. Geschlechterverhältnissen und autoritären Familienstrukturen, die kulturell übergreifend sind. Ich habe leider den Eindruck gewonnen, dass es in der Debatte nicht primär darum geht, die Situation der Betroffenen wirklich zu verbessern. ({3}) Wenn dem so wäre, hätten die Verfasser des Koalitionsvertrags und auch die rot-grüne Regierung in den letzten sieben Jahren statt auf eine Strafrechtsverschärfung auf eine aufenthaltsrechtliche Verbesserung gesetzt. Sie hätten finanzielle Mittel zur Aufklärung und Prävention vorgesehen und den Willen zum Ausdruck gebracht, die Zusammenarbeit mit Frauen- und Migrantenorganisationen zu suchen. Davon ist kaum ein Wort zu lesen. ({4}) - Abwarten! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bietet dagegen eine Reihe von positiven und auch konkreten Forderungen, die wir an dieser Stelle wirklich ausdrücklich unterstützen. Längst überfällig ist nämlich die Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen für Migranten. ({5}) Es geht zum Beispiel darum, die Rückkehroption für diejenigen zu verlängern, die zwangsweise ins Ausland verheiratet werden. Zwangsverheirateten Ehepartnern in Deutschland muss ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt werden - unabhängig von der Dauer der Ehe. Wir müssen ebenso einen Schwerpunkt auf Prävention legen. Das heißt, es gilt, in einen Dialog mit den Eltern zu kommen, sie davon zu überzeugen, sich für die Interessen und die Freiheit ihrer Kinder einzusetzen. ({6}) Wir müssen Migranten und ihre Organisationen gewinnen, um mit ihrer Unterstützung diese wichtige Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsrecht besonders von Frauen zu führen - jenseits kultureller Stigmatisierungen. Zwangsverheiratungen müssen verhindert werden. Dies kann uns nur gelingen, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Betroffenen Schutz und eine echte Perspektive auf ein gleichberechtigtes, freies und unabhängiges Leben bieten, damit sie sich aus dieser Zwangslage befreien können. ({7}) Wir als Fraktion Die Linke fordern die Bundesregierung deshalb auf, in Zusammenarbeit mit Frauen- und Migrantenorganisationen sowie Beratungsstellen einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Zwangsverheiratung zu erarbeiten. Im Vorfeld dazu sollten die beteiligten Ausschüsse eine Anhörung durchführen. Inwieweit die Regierung auch Verbesserungen der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen vorsieht, wird letztlich Gradmesser dafür sein, Frau Noll und Frau Graf, wie ernst es der großen Koalition mit ihrem Anliegen wirklich ist. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich, wünsche Ihnen persönlich und für Ihre Arbeit in diesem Hohen Hause alles Gute. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/61 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Sibylle Laurischk, Sabine LeutheusserVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung - Drucksache 16/128 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({2}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen - Drucksache 16/237 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion. ({4})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat beginnen: Wir bekräftigen unsere bereits bei Novellierung des Telekommunikationsgesetzes zum Ausdruck gekommene Ablehnung einer Mindestspeicherungsfrist für Verkehrsdaten und fordern die Bundesregierung auf, einen etwaigen Beschluss in den Gremien der Europäischen Union, der eine solche Verpflichtung für Unternehmen in Deutschland vorsähe, nicht mitzutragen. Meine Damen und Herren, das ist kein Beschluss von ein paar von dem einen oder anderen vielleicht als durchgeknallt eingeschätzten Datenschützern. Das ist auch kein Beschluss des FDP-Kreisverbandes Düsseldorf. Das ist der Beschluss des Deutschen Bundestages, kein Jahr alt. Wir haben das am 22. Dezember 2004 beschlossen und diskutieren heute darüber, was daraus in Brüssel leider geworden ist. ({0}) Was ist denn das Ergebnis? Nach der Abstimmung im Europäischen Parlament in dieser Woche werden in Zukunft 450 Millionen Bürger anlassunabhängig beim Telefonieren - sei es mit dem Handy oder über das Festnetz - und auch bei jeder Bewegung im Internet überwacht. ({1}) So stelle ich mir einen Rechtsstaat, der auch den Bürgerrechten verpflichtet ist, nicht vor. ({2}) Die Telekommunikationsanbieter werden verpflichtet, alle diese Daten für mindestens ein halbes Jahr zu speichern - es können aber auch 24 Monate oder länger sein; mal schauen, was passiert. Damit Sie nur einmal verstehen, was das für eine Masse an Daten ist: Das sind 639 000 gebrannte CDs jeden Tag. Das sind im Jahr 233 Millionen Datenträger. Wenn Sie diese nebeneinander aufstellen, dann ergäbe das eine Breite von 116 Kilometern. Glauben Sie im Ernst, dass das effektiv sein kann? ({3}) - Das ist aber beschlossen worden. ({4}) Das sind nur die Mindestzahlen. Das ist im Übrigen auch etwas, was mit Datensparsamkeit nach dem Bundesdatenschutzgesetz wirklich nichts mehr zu tun hat. Es geht aber nicht nur um die Frage der Masse, sondern auch um die Frage der Kosten. Diese Richtlinie wird dem Wirtschaftsstandort Deutschland erheblich schaden. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf 150 Millionen Euro. Diese Kosten müssen nach dem erklärten Willen der Bundesregierung von den Unternehmen gezahlt werden. Der Bundesinnenminister sagt dazu sogar, das seien staatsbürgerliche Pflichten. Meine Damen und Herren, ich wundere mich wirklich, was aus einem ehemaligen Bundesvorsitzenden einer wirtschaftsnahen Partei geworden ist, wenn er sich so verhält. ({5}) Ich habe mir staatsbürgerliche Pflichten ehrlich gesagt immer etwas anders vorgestellt; aber er wird mir das vielleicht im Einzelnen erklären können. Frau Ministerin Zypries hat die Richtlinie sogar mit den Worten begrüßt, dass sie den deutschen Interessen zugute komme. Ich habe nicht verstanden, was das mit unserem Beschluss zu tun hat, der ja zumindest für die erste Zeit ihrer Verhandlungen noch gegolten hat. Ich bin gespannt, wie die Bundesregierung diese Richtlinie jetzt umsetzen wird und ob sie tatsächlich bei der Mindestdauer bleibt. ({6}) - Ich habe hier schon vieles erlebt. Die Überlegung, dass man bei der einen oder anderen EU-Richtlinie draufsattelt, kennen Sie von Rot-Grün nun wirklich gut genug. ({7}) Heute Nachmittag haben wir über das Zollfahndungsdienstgesetz und auch über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur präventiven Telefonüberwachung gesprochen. Hier haben wir jetzt eine präventive Datensammlung für alle unsere Bürger. Das halten wir Liberale nicht für richtig und für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. ({8}) Das bedeutet aus unserer Sicht einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte insbesondere absolut rechtstreuer Bürger. Auch das dürfen Sie nicht vergessen. Mit diesem Vorgehen setzen Sie den Begriff der Verhältnismäßigkeit wirklich außer Kraft; denn wer kann eigentlich noch beurteilen, was verhältnismäßig ist: sechs Monate, zwölf Monate, fünf Jahre, zehn Jahre? Das kann leider keiner von uns mehr beurteilen. Es hätte Methoden gegeben, die weniger einschneidend gewesen wären. Das ist offensichtlich überhaupt nicht diskutiert worden. Auch diese Kritik richte ich an die Bundesregierung. Ein weiterer Punkt, der für uns wichtig ist: Wie wollen Sie eigentlich noch die Pressefreiheit garantieren, wenn Sie das umsetzen? Denn natürlich sind Mandantenschutz und Informantenschutz dann überhaupt nicht mehr gegeben. Auch da sind wir gespannt. In der Vergangenheit ist die rot-grüne Bundesregierung ein bisschen lax mit diesem Thema umgegangen. Wir wollen einmal schauen, was hier passiert. Wir sind leider eines Besseren belehrt worden. ({9}) - Ich diskutiere heute mit Ihnen. - Ich dachte nämlich, dass es in Deutschland so ist, dass jemand, der im Internet surft, ein Recht auf Privatheit hat. Ich stelle aber fest: Privatheit wird ein Luxus. Sie haben in Brüssel zu dieser Kontinuität in der Rechtspolitik beigetragen. Kontinuität heißt hier aber leider Abbau von Bürgerrechten. ({10}) Noch nie in der Geschichte hat es in so kurzer Zeit einen solch starken Abbau von Bürgerrechten gegeben. ({11}) Wir Liberale wollen Sie daran erinnern, dass das Grundgesetz Maßstab des Handelns des Parlaments ist. Daran sollten Sie sich alle halten. Es geht um ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit unter Berücksichtigung anerkannter Verfassungsgrundsätze. Es tut mir Leid, wenn ich Sie daran erinnern muss. Ich befinde mich dabei in guter Gesellschaft mit dem Bundesverfassungsgericht. Ihr Beitrag in Brüssel, aber auch Ihre Koalitionsvereinbarung, in der das Wort Bürgerrechte nicht ein einziges Mal vorkommt, ({12}) lassen uns nichts Gutes ahnen. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, ich muss Sie ermahnen, auf die Redezeit zu achten.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, meine letzte Bemerkung. „Mehr Freiheit wagen!“, das würden wir uns in diesem Bereich insbesondere von der großen Koalition wünschen. ({0}) Wir sind gespannt, ob Sie den Mut dazu haben. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär der Justiz, Alfred Hartenbach. ({0})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was ein Glück, dass es Frau Piltz und die FDP gibt. Ansonsten würde es in Deutschland in Sachen Rechtsstaatlichkeit sofort duster. ({0}) Die Bundesregierung hat den Beschluss des Bundestages ernst genommen und sie nimmt auch ihre Verpflichtung für Bürgerrechte ernst. Sie hat in Brüssel in Sachen Vorratsdatenspeicherung lange, intensiv und durchaus erfolgreich verhandelt. ({1}) Wir haben einen Kompromiss erreicht, mit dem wir zufrieden sein können. ({2}) - Sie auch, Herr Ströbele. ({3}) Es ist uns gelungen, die Vorratsdatenspeicherung auf das zu reduzieren, was wirklich zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität erforderlich und angemessen ist. Übrigens hat auch das Europäische Parlament mit Ausnahme der Grünen, der Liberalen und anderer ({4}) - immerhin die beiden großen Volksparteien - gestern mit großer Mehrheit diesem Kompromiss zugestimmt, sodass die Richtlinie jetzt verabschiedet werden kann. Man sollte sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass Entwürfe der Kommission und einer Gruppe von vier Mitgliedstaaten auf dem Tisch lagen, die erheblich weiter gegangen wären als das jetzige Ergebnis. ({5}) Was haben wir erreicht? Die Mindestspeicherfrist wird nach der Richtlinie sechs Monate betragen und nicht zwölf oder 24 Monate, wie es in den Entwürfen stand und wie Sie es, Frau Piltz, als Menetekel eben an die Wand gemalt haben. Erfolglose Anrufversuche müssen nicht gespeichert werden, es sei denn, es geschieht bereits. Das war eines unserer wichtigsten Anliegen. Denn die Speicherung dieser Daten wäre einerseits für die TK-Unternehmen sehr teuer geworden und andererseits gibt es in der Tat keinen Bedarf für die Speicherung dieser Flut von Daten. Ebenfalls nicht gespeichert werden müssen Standortdaten am Ende von Mobilfunkverbindungen. Auch das war gefordert worden. Ich denke, auch hier haben wir ein großes Stück Rechtsstaatlichkeit erreicht, indem nicht durch das Anlegen von engmaschigen Bewegungsprofilen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird. Beim Internet wird schließlich lediglich gespeichert, dass sich der Nutzer online befindet. Es werden ebenfalls Daten zur Internettelefonie und bezüglich der E-MailDienste gespeichert. Inhalte, wie immer behauptet wird, also auch Informationen, welche Websites benutzt werden, werden nicht gespeichert. Der kritische Beschluss des Bundestages vom Januar, nicht vom Dezember, hat uns bei den Verhandlungen in Brüssel den Rücken gestärkt. ({6}) - Wir waren dankbar dafür; das weiß der Herr Tauss auch. - Wir haben diesen Beschluss zur Grundlage unserer Verhandlungsposition gemacht und uns dafür auf europäischer Ebene sehr viel Kritik anhören müssen. ({7}) - Von dir, lieber Jörg, auch eine Menge Kritik. - Von den Initiatoren der Vorratsdatenspeicherung haben wir verlangt, dass der Umfang der Speicherpflicht überdacht und der Bedarf für die Speicherung der einzelnen Daten rechtstatsächlich belegt wird. Das ist auch geschehen. Wir brauchen Verbindungsdaten zur Aufklärung von schwersten Straftaten und zur Aufdeckung von organisierten Täterstrukturen. ({8}) Bei bestimmten Delikten - denken Sie etwa an den Internethandel mit Kinderpornographie, verehrter Herr Ströbele - bieten die Verbindungsdaten oftmals sogar den einzigen weiterführenden Ermittlungsansatz. Dass dieser Bedarf besteht, wird wohl auch die FDP-Fraktion nicht bestreiten. Wir haben erst vor gut einem Jahr die Geltungsdauer der §§ 100 g und 100 h Strafprozessordnung, die den Zugriff auf ebendiese Daten erlauben, verlängert, und zwar mit den Stimmen aller Fraktionen, auch mit denen der FDP. Oder haben wir heute eine völlig neue FDP? Wenn umfangreiche Ermittlungen durchzuführen sind, lässt sich oft nicht sofort erkennen, welche Verbindungsdaten benötigt werden. Nach einem Terroranschlag kann es eine Weile dauern, bis man weiß, auf welche Personen sich die Ermittlungen konzentrieren müssen und auf welche Verbindungsdaten es ankommt. Das ist ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit, weil die Unternehmen die Verbindungsdaten üblicherweise nach kurzer Frist - in aller Regel nach drei Monaten - nicht mehr für ihre Kundenrechnungen benötigen und die Daten löschen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Verbindungsdaten auch noch nach diesen drei Monaten gebraucht werden. Schon deshalb sollen die TKUnternehmen in Zukunft bestimmte Datenarten noch weitere drei Monate vorhalten, insgesamt also mindestens sechs Monate. Natürlich ist diese Speicherpflicht ein Eingriff in die Grundrechte nicht nur der Nutzer, sondern auch der TK-Unternehmen. Das will auch niemand wegreden. Nur, daraus folgt nicht, dass eine solche Regelung per se gegen die Verfassung verstoßen würde, ({9}) wie das die FDP in ihrem Antrag zu suggerieren versucht. Daraus folgt nur, dass eine entsprechende Regelung vernünftigen Gemeinwohlbelangen dienen muss und dabei die Grenzen der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind. Beides ist hier gewährleistet. Eine Totalverweigerung in Brüssel, so wie es die Antragsteller offenbar wollen, ist und war kontraproduktiv. Wer von vornherein blockiert, wird auch nicht in Kompromissverhandlungen einbezogen und hat deshalb keine Chance, die auf dem Tisch liegenden Entwürfe mitzugestalten und zu verbessern. Bei einer Blockadehaltung wären wir von der Mehrheit der anderen Mitglieder überstimmt worden, ohne dass es zuvor Zugeständnisse in unsere Richtung gegeben hätte, so wie wir sie jetzt in vollem Umfang erreicht haben. Vermutlich hätte uns dann die FDP wieder vorgehalten, dass wir nicht vernünftig verhandelt hätten. Lassen Sie mich abschließend eines sagen - Frau Präsidentin, das ist mein letzter Satz; Sie brauchen nicht streng zu schauen -: Natürlich haben wir diesem Kompromiss unter Parlamentsvorbehalt zugestimmt. Ich darf schon jetzt versichern, dass wir zunächst einmal das Parlament in weiteren Beratungen mit dieser Richtlinie befassen werden und dass wir dann bei der Umsetzung der Richtlinie alle rechtsstaatlichen Gesichtspunkte so beachten, wie Sie das in einem Rechtsstaat erwarten dürfen. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jan Korte, Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist für mich als Neuling der Linken besonders bemerkenswert, dass die große Koalition offensichtlich ausgerechnet die FDP, mit der ich ideologisch relativ wenig zu tun hatte, ({0}) und die Linksfraktion in Sachen Demokratie zusammenschweißt. Denn - dies ist im Antrag der FDP richtig formuliert - der vorliegende Vorschlag einer Richtlinie ist ein weiterer staatlicher Angriff auf die Privatsphäre und bedeutet einen weiteren Abbau von Bürgerrechten. Jeder, der ein Telefon benutzt, eine E-Mail schreibt, eine SMS verschickt oder ins Internet geht, steht künftig de facto unter Generalverdacht. Das ist entgegen der Meinung der Kanzlerin weniger, nicht mehr Freiheit. Deswegen lehnen wir dies ab. ({1}) Einen Eingriff solchen Ausmaßes in das Fernmeldegeheimnis und in die Privatsphäre hat es noch nicht gegeben. Es wurde schon angedeutet, dass auch die Pressefreiheit dadurch beeinträchtigt wird, da niemand mehr einen Quellen- und Informantenschutz gewährleisten kann, außer man trifft sich auf einer dunklen Brücke im Nebel, sofern diese nicht bereits videoüberwacht wird. ({2}) Es ist falsch, dass diese Eingriffe unter dem Deckmäntelchen der Terrorbekämpfung erfolgen sollen; denn den Beweis der Nützlichkeit wie auch den Nachweis des konkreten Sinns und Zwecks der Vorratsdatenspeicherung ist die Bundesregierung und sind auch Sie, Herr Staatssekretär, uns schuldig geblieben. ({3}) Darüber hinaus ist die Maßnahme ein bürokratischer Moloch und droht zu einem Milliardengrab zu werden. Merkwürdig ist - damit komme ich auf meine Eingangsbemerkung zurück -, dass sich ausgerechnet die Linke und die FDP zusammenfinden müssen, um gegen diesen weiteren Schritt zum Überwachungsstaat zu opponieren. - Ich habe heute nach kurzer Zeit festgestellt, dass ich umso mehr Recht haben muss, wenn Herr Tauss dazwischen ruft. ({4}) Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schließen: Wer wie ich stets den aufgeblähten Überwachungsapparat der DDR kritisiert hat, kann nicht für die Vorratsdatenspeicherung sein. Die Linke immerhin hat aus der Geschichte gelernt. Es ist schade, dass dies bei der großen Koalition offensichtlich nicht der Fall ist. Mit den Bürgerrechten geht es weiter bergab. Rot-Grün hat schon die entsprechende Vorarbeit geleistet. Ich erinnere nur an die Otto-Pakete. Jetzt geht es mit verschärftem Tempo weiter. Rechtsstaatlich aber wird es mit Sicherheit nicht dunkel; dafür wäre die FDP ein zu kleines Licht. Jetzt ist die Linke wieder im Bundestag. Deswegen wird es eher hell werden. Schönen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Korte, auch Sie haben heute Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause gehalten. Herzlichen Glückwunsch und für Sie persönlich und für Ihre Arbeit hier alles Gute! ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anstatt hier apokalyptische Szenarien zu entwerfen, wie es der Kollege von der Linken und die Kollegin von der FDP getan haben, möchte ich empfehlen, angesichts dieses wichtigen Themas wieder zu einer Versachlichung zurückzukommen. ({0}) Bei dem Thema der Vorratsdatenspeicherung ist es wichtig - das hat Frau Piltz richtigerweise gesagt -, die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden, man kann auch sagen: zwischen den berechtigten Interessen der Bürger und der Strafverfolgungsbehörden nach Sicherheit, den gesellschaftlichen Interessen und natürlich auch den Interessen der Telekommunikationsunternehmen nach Gewinn und Wirtschaftlichkeit. Dabei kommt es ganz entscheidend auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen an. Es ist völlig richtig: Keiner in diesem Hohen Hause will wahllos Datenberge anhäufen. Es geht auch nicht darum, die Unternehmen zu entlasten oder gar, wie Ihr Vorwurf lautete, über Gebühr zu belasten. Um welche Daten geht es hier? Das, Frau Kollegin Piltz, habe ich in Ihrem Antrag ein bisschen vermisst. Man muss natürlich die Daten, um die es geht, exakt aufführen, weil sonst in der Bevölkerung Ängste geschürt werden, was wir nicht wollen und was aus meiner Sicht auch verantwortungslos wäre. Es geht um Verkehrsdaten, die Rückschlüsse auf Nutzer, Ort und Kommunikationsstrukturen zulassen, also darauf, wer zu welchem Zeitpunkt mit wem telefoniert bzw. kommuniziert. Diesen Daten kommt bei der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten eine ganz entscheidende Bedeutung zu, zum einen wegen der neuen und in immer stärkerem Maße genutzten Möglichkeiten der modernen Kommunikation und zum anderen, weil sich gerade der Telekommunikationsmarkt immer rasanter fortentwickelt und immer neue Geschäftsmodelle angeboten werden. Stichworte sind hier die Internettelefonie und die immer häufiger werdenden Pauschaltarife, also Flatrates, nicht nur im Festnetz, sondern auch im Mobilfunk. Bei diesen Geschäftsmodellen besteht für Unternehmen überhaupt keine Veranlassung mehr, die Verkehrsdaten, die ich vorhin angesprochen habe, für die Abrechnung zu speichern. Sie brauchen die Daten einfach nicht mehr, weil die Kunden eben eine Pauschale zahlen, egal wie oft und wie lange sie telefonieren. Angesichts der heutigen Rechtslage in Deutschland hätten die Behörden überhaupt keinen Zugriff auf diese Daten mehr, weil es sie nicht mehr gibt. Insofern ist die Einführung von Mindestspeicherpflichten bezüglich bestimmter Daten bei Beachtung der Prinzipien der Verhältnismäßigkeit ein berechtigtes Anliegen. ({1}) Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich dafür auf EU-Ebene erfolgreich eingesetzt hat. Dafür mein Dank, Herr Staatssekretär Hartenbach. ({2}) Es ist richtig, sich in Europa auf einen Korridor zu einigen. Denn in Europa haben wir ein ganzes Sammelsurium unterschiedlichster nationaler Vorschriften und technischer Regelungen. Gerade der Bereich Telefonie/ Internet macht nicht an staatlichen Grenzen halt. Wenn es uns um die Verfolgung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht, dann müssen wir international, vor allem europaweit, konsequent vorgehen. Der Flickenteppich an unterschiedlichen Modellen, den wir in Europa haben, erschwert dies. Deshalb brauchen wir gesetzlich festgelegte Mindestspeicherfristen in diesem Korridor. ({3}) Wichtig ist mir, dass wir nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgehen. Für uns in der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion gelten eindeutige Prinzipien: Es muss klar definiert sein, zu welchem Zweck die Daten vorgehalten werden müssen, nämlich zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung bestimmter Straftaten. Es dürfen keinesfalls alle anfallenden Daten auf Vorrat gespeichert werden - diesen Eindruck erwecken Sie von der FDP leider in Ihrem Antrag -, sondern nur ganz bestimmte Datentypen. Niemand will jeden Mausklick oder den gesamten Internettraffic aufzeichnen. ({4}) Dies wäre unverhältnismäßig. Das würde einfach nur Datenberge anhäufen. Das wollen wir nicht. ({5}) Um zur Versachlichung der Debatte beizutragen: Es geht keinesfalls um die Aufzeichnung der Inhalte der Kommunikation, sondern sowohl bei der Sprachtelefonie als auch beim E-Mail-Verkehr nur um die Verkehrsdaten. Bei der Verhältnismäßigkeit spielt die Speicherfrist eine große Rolle. Sie - die Linke weniger, weil sie in der vergangenen Legislaturperiode nicht im Parlament dabei war - werden sich an die Gespräche über das Telekommunikationsgesetz und die vielen Monate intensiver Diskussion auf EU-Ebene erinnern. Teilweise wurden Speicherfristen von 24 Monaten, sogar von 32 Monaten ({6}) - 36 Monaten! - gefordert. Dies geht eindeutig zu weit und lässt sich schon deshalb nicht rechtfertigen, weil der überwiegende Teil der Anfragen der Strafverfolgungsbehörden sich auf Daten bezieht, die nicht älter als sechs Monate sind. Deshalb ist aus meiner Sicht alles, was darüber hinausgeht, unverhältnismäßig. Dies wollen wir nicht. ({7}) Die Verhandlungen der Bundesregierung, gestärkt durch den Antrag, den wir im Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode interfraktionell verabschiedet haben, haben zu einem pragmatischen Entwurf geführt, der eine Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen „Freiheit“ und „Sicherheit“ sowie den Interessen der Telekommunikationsunternehmen herstellt, die wir im Lissabon-Prozess in einem vereinigten Europa natürlich nicht über Gebühr national einseitig belasten dürfen. Darüber hinaus konnte bei der Umsetzung in nationales Recht hinsichtlich der Dauer der Vorratsdatenspeicherung ein flexibler Zeitkorridor vereinbart werden. Nationalstaatliche, individuelle Lösungen sind wichtig, weil einige Länder in diesem Bereich unterschiedliche Traditionen und Bedürfnisse haben. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung in der Richtlinienentscheidung klare Akzente setzen konnte: so wenig Vorratsdatenspeicherung wie möglich, aber eben auch so viel wie notwendig, um die Sicherheit zu gewährleisten. ({8}) Für uns sind insbesondere folgende Punkte, die verankert werden konnten, wichtig: Erfolglose Anrufversuche und die Standortdaten am Ende einer Mobilfunkverbindung sind in die Speicherungsverpflichtungen nicht einbezogen, weil deren Erfassung nach den uns vorliegenden Stellungnahmen der Telekommunikationsunternehmen für die Unternehmen Kosten in Millionenhöhe bedeutet hätte, ohne dass sie einen zusätzlichen Sicherheitsgewinn mit sich gebracht hätte. ({9}) - Ein Riesenerfolg. Ich bin dankbar, dass dies auch die Kollegen von der FDP so werten. ({10}) Der Herr Staatssekretär hat schon angesprochen, dass die Standortdaten bei Mobilfunkverbindungen nur für den Beginn der Verbindung, nicht für ihr Ende gespeichert werden. Das war für unsere Fraktion ein ganz wichtiger Punkt in den Verhandlungen. Im Internet dürfen lediglich die Einwahldaten, IP-Adressen und Verkehrsdaten zu E-Mails und Internettelefonie gespeichert werden, ausdrücklich nicht Mausklicks und der gesamte Internettraffic, weil dies unverhältnismäßig gewesen wäre. So wird ein angemessenes Verhältnis zwischen den sicherheitspolitischen Belangen, den gesellschaftlichen und den Unternehmensinteressen gewahrt. Ich kann die Behauptung in dem Antrag der FDP, das Kommunikationsverhalten der europäischen Bevölkerung werde lückenlos erfasst, vor dem Hintergrund dessen, was sich jetzt auf europäischer Ebene bewegt hat, absolut nicht verstehen. Ich finde es grob fahrlässig, wenn man auf diesem Wege versucht, bei den Bürgern Ängste zu schüren. Sie stellen den Sinn der Vorratsdatenspeicherung ganz grundsätzlich infrage.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben?

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Die FDP begründet dies mit den Umgehungsmöglichkeiten, die man im Internet hat. Natürlich kann sich jeder irgendwo in ein Internetcafe setzen und versuchen, dies so anonym wie möglich zu tun. Wer aber davon ausgeht, dass man im Internet sowieso versuchen kann, anonym zu bleiben, der erklärt das Internet zum rechtsfreien Raum im 21. Jahrhundert und kapituliert vor den Straftaten im Internet. Wir lassen das nicht zu. In diesem Sinne werden wir das, was auf EU-Ebene erreicht worden ist, unterstützen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere und verurteile, dass sich die Bundesregierung in ihren Verhandlungen nicht an das eindeutige Votum des Bundestages gehalten hat. Dieses Votum haben wir nicht nur einmal als fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag abgegeben, sondern auch im Rahmen des Telekommunikationsgesetzes und bei der Zurückweisung der Forderung des Bundesrats. Ich finde, das ist schon ein ziemlich merkwürdiger Vorgang. Andere EU-Staaten haben sich in dieser Frage anders verhalten. Sie haben eindeutig erklärt, sie könnten dem Kompromissvorschlag nicht zustimmen, weil ihre Parlamente Vorbehalte angemeldet hätten. Wenn uns die jetzige Bundesregierung auffordert ({0}) - ich habe sehr genau zugehört -, erst einmal dieser EURichtlinie, die gegen diesen Beschluss verstößt, zuzustimmen, um als Bundestag dann bei der Umsetzung der Richtlinie beteiligt zu werden, dann habe ich dafür wenig Verständnis. ({1}) Ich möchte die Argumente gar nicht wiederholen; auf die bürgerrechtlichen Gründe ist schon eingegangen worden. In Zukunft werden wir die Kommunikationsdaten von 400 Millionen EU-Bürgern langfristig speichern. Der Vorstandsvorsitzende des Verbands der deutschen Internetwirtschaft hat zum Verhalten der großen Koalition in Deutschland gesagt: Mit der Begründung, Terroristen zu jagen, speichert man jetzt nutzlose Daten auf Kosten der Industrie. - Auch der Dachverband der europäischen Internetwirtschaft bringt ein sehr interessantes Argument an: Dadurch wird der globale Wettbewerb völlig verzerrt. Die Maßnahmen, die in Europa offensichtlich für die Terrorismusbekämpfung erforderlich sind, belasten die gesamte europäische Internetwirtschaft in hohem Maße und schädigen ihre Wettbewerbsfähigkeit. Aus diesem Grunde sage ich Ihnen: Solche Regelungen wären in den USA, wo es bekanntermaßen die größten Internetprovider gibt, nicht möglich. Noch kurz dazu, welche Regelungen zur Terrorismusbekämpfung es in Amerika gibt: Die US-Behörden haben in begründeten Verdachtsfällen - also in Einzelfällen die Möglichkeit, die Provider zu bitten, bestimmte Kundendaten zu speichern. Dann haben sie 90 Tage Zeit, um Beweise zu sammeln und per Gerichtsbeschluss die Herausgabe der Daten über eine bestimmte Person zu erwirken. Das sind die Regelungen, die in den USA, selbst im Zuge der Terrorismusbekämpfung, gelten. Diese bürgerrechtsfreundlichen Regelungen wurden in den USA möglich, weil die dortige Regierung auf die erheblichen Nachteile für die Wirtschaft reagiert hat. Ich führe dieses Argument an, weil die große Koalition auch angetreten ist, um die Bürokratie abzubauen und die Wirtschaft zu entlasten. Aber die Vertreter der deutschen Telekommunikationswirtschaft - das belegt eine ganze Reihe von Zitaten, die mir vorliegen - sind über Ihr Verhalten entsetzt. Lassen Sie mich zum Schluss - ich habe nur vier Minuten Redezeit - deutlich sagen: Die Regierung kann den Unternehmen, wenn es um die Frage der Entschädigung geht, nun wahrlich nicht das Sammeln von Dateien für die Polizei auferlegen. Das ist nicht deren staatsbürgerliche Pflicht, sondern bringt nur Ihre wirtschaftsfeindliche Haltung zum Ausdruck. Ihr „Kompromiss“ - das sagen alle Bürgerrechtsorganisationen und alle Datenschützer - stellt einen massiven Eingriff in die freie Telekommunikation dar. Rot-Grün hat einmal von einer freien Informationsgesellschaft geredet. Sie haben es allerdings geschafft, die überwachte Informationsgesellschaft auf den Weg zu bringen. Mit Sicherheit hat das Ganze nichts zu tun, sondern es ist in hohem Maße bürgerrechtsfeindlich und wirtschaftsfeindlich. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Dr. Peter Danckert, SPD-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Deshalb schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/128 und 16/237 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/237 - Zusatzpunkt 14 - soll abweichend von der Tagesordnung zur Federführung an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Dezember 2005, 9 Uhr ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einen schönen Restabend. Die Sitzung ist geschlossen.