Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen:
Als Nachfolger für den Kollegen Gerhard Schröder
begrüße ich herzlich den Kollegen Clemens Bollen, der
am 29. November die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Vereinbarte Debatte: Berichte über angebliche Gefangenentransporte sowie die Verbringung deutscher und anderer
Staatsangehöriger durch US-Stellen und das Verhalten
von Bundesdienststellen in diesem Zusammenhang
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Link,
Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Den EU-Haushalt auf höchstens
1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzen und
die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 schnellstmöglich
beschließen
- Drucksache 16/224 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des
Bundesministeriums der Justiz
- Drucksache 16/47 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer
Stinner, Daniel Bahr ({5}), Rainer Brüderle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenverantwortung von Bosnien und Herzegowina stärken - Verfasssungsprozess unterstützen und „Bonn Powers“
des Hohen Repräsentanten abschaffen
- Drucksache 16/228 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norman
Paech, Paul Schäfer ({7}), Monika Knoche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beendigung
der Operation Althea und Einrichtung einer internationalen nicht militärischen Polizeimission in Bosnien
und Herzegowina
- Drucksache 16/217 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Verteidigungsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
- Drucksache 16/229 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
- Drucksache 16/230 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
- Drucksache 16/231 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
- Drucksache 16/232 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
- Drucksache 16/233 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Berufung von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder zum Aufsichtsratsvorsitzenden
des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline ({15})
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Weichenstellung für eine Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer
- Drucksache 16/241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung
- Drucksache 16/194 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Die duale Berufsausbildung in Deutschland kontinuierlich verbessern
- Drucksache 16/235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({19}), Krista Sager, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Berufsausbildung umfassend sichern
- Drucksache 16/198 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({20})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung
- Drucksache 16/197 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt MüllerSönksen, Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Menschenrechte in Usbekistan einfordern
- Drucksache 16/225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({21})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar,
Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Friedensmissionen
durch Menschenrechtsbeobachter
- Drucksache 16/226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 13 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur
europäischen Chemikalienpolitik ({23})
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von
Neuforn, Volker Beck ({24}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen
- Drucksache 16/237 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({25})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Tagesordnungspunkt 24 a - hier handelt es sich um
das Dienstleistungskonjunkturstatistikgesetz - soll abgesetzt werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das scheint der Fall zu sein. Damit ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 2
auf:
4 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zum Europäischen Rat am 15./16. Dezember
2005 in Brüssel
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Link, Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den EU-Haushalt auf höchstens 1 Prozent des
Bruttonationaleinkommens begrenzen und die
finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 schnellstmöglich beschließen
- Drucksache 16/224 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({26})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
({27})
- Wie ich sehe, ist Herr Außenminister Steinmeier noch
nicht im Saal anwesend.
({28})
- Wir werden die angekündigten Beratungen ganz sicher
aufnehmen. Aber die Empfehlung des SPD-Fraktionsvorsitzenden, sicherzustellen, dass möglichst viele an
diesen Beratungen teilnehmen können, hat eine gewisse
Plausibilität.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Solange die Opposition da ist! - Gegenruf der
Und die Spitze der Regierung! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Da kommt er!)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Zeit, die ich nun dem Bundesaußenminister einräume, um sich auf die bevorstehende Regierungserklärung vorzubereiten, möchte ich dazu nutzen, der Kollegin Renate Künast zu ihrem heutigen runden Geburtstag
zu gratulieren.
({0})
- Der Tag beginnt mit einem überfraktionellen Beifall.
Wir wollen einmal sehen, wie lange er sich aufrechterhalten lässt.
Wir kommen nun zum aufgerufenen Tagesordnungspunkt zurück. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter
Steinmeier.
({1})
Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Ich
wurde von Mitgliedern des Parlaments etwas aufgehalten.
Meine Damen und Herren! Heute Nachmittag beginnt
in Brüssel der Europäische Rat. Ich kann und darf Ihnen
nicht verheimlichen, dass er in eine durchaus schwierige
Zeit fällt. Ich habe in meinen öffentlichen Reden in der
letzten Zeit auch nicht verheimlicht, dass ich davon ausgehe, dass sich Europa nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden in einer Krise befindet.
Daran gibt es aus meiner Sicht auch nichts zu beschönigen. Der Verfassungsvertrag wurde nicht aufgegeben,
aber er ist im Augenblick storniert. Wir wollen und werden an ihm festhalten.
Ich sage bei diesem Thema aber auch immer: Wir
müssen hier sehr realistisch sein. Nach den Diskussionen, die wir in den europäischen Hauptstädten führen,
sieht es im Augenblick nicht so aus, als ob wir kurzfristig in die Lage versetzt werden, den Menschen über die
Fortsetzung der Ratifizierungsverfahren in den anderen
Ländern zu zeigen, dass wir in Europa Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, wenngleich einige Länder die Verfahren fortführen.
Die andere Frage, der die britische Ratspräsidentschaft in Hampton Court vor kurzem nachgegangen ist,
lautet: Was kann das große gemeinsame europäische
Projekt sein, wenn wir über den Verfassungsvertrag
kurzfristig nicht zu einem Dokument für die Wiedergewinnung von mehr Handlungsfähigkeit in Europa kommen? Darüber wurde in Hampton Court und wird an
anderer Stelle in Europa diskutiert. Ich sage dazu immer Folgendes: Ich finde die Suche nach dem großen,
neuen gemeinsamen europäischen Projekt richtig. Sie
muss stattfinden. Noch wichtiger ist aber, dass Europa
an einer Stelle Erfolg hat. Diesen Erfolg kann sich Europa in den verbleibenden Tagen dieser Woche mit einer Verständigung über den Finanzrahmen für die Jahre
2007 bis 2013 verschaffen. Ich glaube, das wäre ein Signal, das auch von den Menschen verstanden werden
würde und für das wir kein neues Projekt suchen müssten.
({0})
Sie wissen das. Der finanzielle Rahmen bzw. die finanzielle Vorausschau ist unerlässlich. Wir brauchen
diesen finanziellen Rahmen, damit die EU ihre Politiken innerhalb dieses Rahmens gestalten kann. Er ist
insbesondere dort erforderlich, wo wir eine langfristige
Strategie brauchen, wo wir auf der einen Seite Finanzsicherheit und auf der anderen Seite Planungssicherheit
brauchen. Das gilt etwa für die europäische Forschungspolitik, für die Migrationspolitik und insbesondere für all die Politikbereiche, auf die wir uns im Rahmen der Lissabon-Strategie miteinander verständigt
haben.
Die Einigung ist für uns deshalb mindestens so entscheidend wie für die anderen europäischen Staaten. Im
Juni haben wir die Einigung unter der luxemburgischen
Ratspräsidentschaft in Luxemburg schon einmal versucht. Ich sage voraus: Wenn wir am Ende dieses Jahres
mit dem zweiten Versuch einer Einigung über den Finanzrahmen erneut scheitern würden, dann ginge davon
ein verheerendes Signal für die Bürgerinnen und Bürger
aus. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass sich
ein Scheitern vor allem zulasten der neuen Mitgliedstaaten auswirken würde.
Wir sollten die neuen Mitgliedstaaten im Fokus behalten, weil sie vor allen Dingen diese klare finanzielle
Perspektive brauchen und sie sich auch darauf verlassen
dürfen; denn wir hatten verabredet, dass die Strukturpolitik durch den neuen finanziellen Rahmen so ausgestattet wird, dass ihnen ein Hineinwachsen in die Europäische Union ermöglicht wird. Dieses Versprechen würde
nicht erfüllt, wenn wir jetzt keine langfristige Verständigung über den finanziellen Rahmen hinbekommen würden; denn - ich deutete es eben an - die Mittel für die
Strukturpolitik können nur auf der Grundlage dieses mittelfristigen Finanzrahmens vernünftig eingesetzt werden. Die neuen Mitgliedstaaten der EU brauchen diese
Mittel jetzt. Mit anderen Worten: Je später sie fließen,
desto länger dauern Aufbau- und Aufholprozesse. Wir
alle miteinander wissen: Deutschland hat jedes Interesse
daran, dass diese Prozesse so schnell wie möglich ablaufen.
({1})
Die neuen Mitglieder der EU haben sich verpflichtet,
den Acquis communautaire umzusetzen. Sie sind bereit,
ihren Beitrag zum Haushalt zu leisten. Sie haben deshalb
auch jedes Recht, an den Programmen der Union fair
und solidarisch zu partizipieren. Nur so können sie auch
wirklich in die Europäische Union hineinwachsen und
dieser Union Wachstumsimpulse verleihen, von denen
wir, die alten Mitgliedstaaten, zuvörderst profitieren
werden.
Deshalb sage ich: Die Bundesregierung ist der Auffassung, die Integrationskraft des europäischen Gedankens
hängt jetzt vornehmlich von der Kompromissfähigkeit
aller Mitgliedstaaten ab. Diese Kompromissfähigkeit ist
in guter Tradition des europäischen Gedankens gefordert.
Eitelkeiten - in Einzelheiten wollen wir nicht gehen dürfen nicht den Blick auf das verstellen, was für uns alle
in der Europäischen Union wesentlich ist. Je später eine
Einigung über die Finanzen erfolgt, desto schwieriger
wird sie. Ein Abschluss 2006 - um nicht an Schlimmeres
zu denken - würde jedenfalls ungleich komplizierter sein
als eine Einigung morgen oder spätestens übermorgen.
Wenn ich das so sage, dann werden Sie mit Recht fragen: Wo stehen wir in den augenblicklichen Vorverhandlungen? Sie wissen, dass die britische Ratspräsidentschaft den Mitgliedstaaten in der vergangenen Woche
einen Vorschlag gemacht hat. Sie hat diesen Vorschlag
gestern noch einmal nachgebessert. Wir gehen davon
aus, dass das letzte Wort über diesen Vorschlag noch
nicht gesprochen ist. Der neueste Vorschlag wird heute
Nachmittag in Brüssel diskutiert. Dann gehe ich davon
aus, dass in den Stunden, Tagen und Nächten danach
härtere Auseinandersetzungen auf uns zukommen, und
zwar auch deshalb, weil jeder Mitgliedstaat Rücksicht
auf seine innenpolitische Situation zu nehmen hat. Mit
Blick darauf wissen wir alle, dass die Situation für die
allermeisten Mitgliedstaaten seit dem Versuch im Sommer, Verständigung über den Luxemburger Vorschlag zu
erreichen, nicht einfacher geworden ist.
Für die deutsche Regierung heißt das zentrale Prinzip
Fairness. Die Erweiterung war und ist im Interesse aller
Mitgliedstaaten. Daher treten wir für eine solidarische
Finanzierung der Erweiterung ein. Das bedeutet konkret,
ohne dass ich jetzt den Blick auf einzelne Länder richten
will: Jedes Land muss seinen Anteil leisten. Damit
meine ich: nicht mehr und nicht weniger.
({2})
Wir haben uns - das haben Sie in den letzten Tagen in
öffentlichen Stellungnahmen dieser Regierung häufig
gehört - nicht daran beteiligt, den britischen Vorschlag
in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir haben immer
gesagt, dieser britische Vorschlag ist eine Arbeitsgrundlage. Wir hoffen, dass aufgrund der erneuerten Verhandlungsbox, die die Briten gestern vorgestellt haben, eine
Verständigung möglich ist. Die deutsche Regierung jedenfalls wird sich daran konstruktiv beteiligen.
Wir haben in den letzten drei Wochen versucht, in den
Gesprächen mit den Mitgliedstaaten die Kompromissbereitschaft zu fördern, ohne dabei unsere Ziele aufzugeben. Die Bundeskanzlerin und ich haben in den einschlägigen Gremien darauf hingewiesen, dass uns die
Strukturförderung in den neuen Bundesländern in
besonderem Maße am Herzen liegt, dass die Landwirtschaftsförderung angemessen ausgestaltet sein muss und
dass vor allen Dingen unsere Belastungsgrenze als größter Nettozahler innerhalb der EU anerkannt werden
muss. Ich jedenfalls sehe, dass dies in den Luxemburger
und britischen Vorschlägen der Ratspräsidentschaft berücksichtigt worden ist.
Wir können insbesondere bei dem letzten Punkt, der
Ausgabenobergrenze, mit Selbstbewusstsein vortragen
- ich habe in den einschlägigen Räten gemerkt, dass das
Argument auf Widerhall stößt -: Wir unternehmen in unserem Land größte Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung und können deshalb den Menschen in Deutschland schlecht erklären, dass dies auf der EU-Ebene bei
der Vorbereitung des Haushalts nicht berücksichtigt
wird.
Kurz gesagt habe ich dort zum Ausdruck gebracht:
Ein sparsamer Haushalt ist nicht weniger europäisch als
ein ausgabenfreudiger Haushalt. Das ist auch von den
Nettozahlern in der EU bemerkt worden.
({3})
Alles in allem und zur Abrundung dieses Komplexes:
Ich will nicht mit Blick auf die finanzielle Vorausschau
und die bevorstehenden Gespräche übertriebenen Optimismus verbreiten. Das wäre nicht gerechtfertigt. Ich
fahre aber mit einer gewissen Zuversicht nach Brüssel,
dass alle das allergrößte Interesse daran haben, Verständigung zu suchen, und auch Kompromissbereitschaft
mitbringen. Ich jedenfalls hoffe auf ein großes Maß europäischer Vernunft in den nächsten Tagen.
({4})
Ein Thema jenseits der finanziellen Vorausschau, das
uns in den letzten Tagen auf den Außenministerräten erheblich beschäftigt hat, ist die Beitrittsperspektive für
die Staaten des westlichen Balkans. Ich will das an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Es ist kein einfaches
Thema, sondern eines, zu dem es innerhalb der Europäischen Union weiß Gott keine in jeder Hinsicht übereinstimmende Meinung gibt. Es gibt aber eine Perspektive:
Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass Ahtisaari
mit der Klärung der Statusbestimmung für den Kosovo
in den nächsten zwölf Monaten Erfolg hat. Dieser Erfolg
setzt Rahmenbedingungen. Diese bestehen darin, dass
wir die Annäherung der Staaten des Westbalkans an die
Europäische Union erhalten müssen. Das konzentriert
sich auf dem bevorstehenden europäischen Gipfeltreffen
auf die eine Frage, ob wir Mazedonien den Beitrittskandidatenstatus gewähren werden. Darüber ist in den letzten zwei oder drei Wochen diskutiert und zum Teil auch
gestritten worden. Es scheint sich anzudeuten, dass die
Frage des Beitrittskandidatenstatus mit einigen - insgesamt vier - Staaten, die allergrößte Skepsis hatten, dann
zu lösen sein wird, wenn wir sie mit einer Diskussion
über die Grenzen der Europäischen Union verbinden, die
aber ohnehin ab dem nächsten Jahr zwischen den Mitgliedstaaten geführt werden wird. Insofern gehe ich davon aus, dass sich der Europäische Rat für den Beitrittskandidatenstatus Mazedoniens aussprechen wird.
({5})
Die Kommission wird des Weiteren - das ist das dritte
Thema - auf dem Europäischen Rat ihren Bericht zur
Migration vorstellen. Sie wissen oder ahnen - das war
auch Thema auf dem Euro-Med-Gipfel -, dass die BeBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
deutung dieses Themas für unseren Kontinent gar nicht
überschätzt werden kann. Sie haben sicherlich noch die
dramatischen Ereignisse in den spanischen Enklaven
Ceuta und Melilla vor Augen. Der Bericht der Kommission beruht auf einem politikübergreifenden Ansatz und
stellt insofern einen wichtigen Schritt für die gemeinsame Migrationspolitik dar, als er auch Rücksicht auf
alle Weltregionen - insbesondere die Nachbarschaftsregionen im nördlichen Afrika - nimmt. Deshalb begrüßen
wir diesen Bericht ausdrücklich.
Letztlich - das sollen meine Schlussworte sein - wird
sich der Europäische Rat auf unsere Anregung hin mit
den jüngsten Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad zu Israel befassen. Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben diese
Aussagen - insbesondere die Leugnung des Holocaust
und des Existenzrechts Israels - mit Bestürzung zur
Kenntnis genommen. Wir verurteilen sie aufs Schärfste.
({6})
Derart inakzeptable Ausführungen zum Nahostkonflikt zeigen, mit wie viel Verantwortungslosigkeit und
Zynismus die Situation Israels und des Nahen Ostens
von der iranischen Regierung gegenwärtig beurteilt
wird. Ich habe bereits gestern öffentlich gesagt: Das erschwert natürlich auch die weiteren Verhandlungen über
das iranische Nuklearprogramm. Ich wiederhole an dieser Stelle: Die Regierung in Teheran muss begreifen,
dass die Geduld der internationalen Staatengemeinschaft
nicht endlos ist.
({7})
Ich komme auf meinen Anfangssatz zurück. Der
heute beginnende Europäische Rat ist ein wichtiger Gipfel in einer schwierigen Zeit. Die Bundeskanzlerin und
ich werden später nach Brüssel reisen, um dort deutsche
Interessen entschlossen zu vertreten, gleichzeitig aber alles dazu beizutragen, dass der Rat ein Erfolg für uns und
Europa wird.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister reisen zu
ihrem ersten großen Europäischen Rat in einer krisenhaften Situation der Europäischen Union. Wesentliche
Entscheidungen, die Auswirkungen auf eine ganze
Reihe von europäischen Räten haben, werden zu treffen
sein. Wir als liberale Opposition wünschen ihnen viel
Erfolg bei dem nun beginnenden Europäischen Rat in
Brüssel,
({0})
auch deshalb, weil es in unserem Interesse liegt, dass
manches geklärt wird, was uns sonst vor die Füße fällt,
wenn wir im Januar 2007 die Ratspräsidentschaft übernehmen. Es wäre gut, wenn das eine oder andere vorher
erledigt werden könnte.
Es sind mindestens vier große Komplexe, die Europa
in die gegenwärtige Krise gebracht haben: das bisher
fehlende Einvernehmen über die finanzielle Vorausschau, das Stocken des Verfassungsprozesses, eine
Glaubwürdigkeits- sowie eine Vertrauens- und Zutrauenskrise bei den Bürgerinnen und Bürgern im Hinblick
auf das große europäische Projekt und nicht zuletzt die
wirtschaftliche Situation, die deutlich macht, dass wir im
Hinblick auf das Erreichen der Lissabon-Ziele nicht vorankommen, was übrigens kein Thema der Europäischen
Union, sondern eines ihrer Mitgliedstaaten ist. Deswegen herrschen eher Skepsis und Unsicherheit in der Bevölkerung. Es gibt eine fast sklerotische Erscheinung der
Europäischen Union, die an das erinnert, was Ende der
70er-Jahre/Anfang der 80er-Jahre war. Dann kam damals das große Projekt: der Binnenmarkt. Und innerhalb
kürzester Zeit war von europäischer Sklerose keine Rede
mehr. Deswegen hat der Außenminister Recht, wenn er
sagt: Es bedarf jetzt eines großen, neuen europäischen
Projekts, um die Bürgerinnen und Bürger wieder mitzunehmen, und zwar in Kenntnis der Tatsache, dass wir
diese vertiefte und erweiterte Europäische Union brauchen.
({1})
Man muss sich gegenwärtig nur in der Welt umschauen,
um zu begreifen, dass ein neues europäisches Projekt, zu
dem nach meiner Auffassung der Verfassungsvertrag gehört, dringend erforderlich ist.
Wir haben die Befürchtung, dass bei dem gerade stattfindenden WTO-Gipfel in Hongkong nichts herauskommt. Ob mithilfe der Autorität, die dem amerikanischen Präsidenten im nächsten Jahr noch gegeben sein
wird, einen Vertrag abzuschließen, etwas zustande
kommt, ist noch völlig unklar. Das geht mit Blick auf die
deutschen Interessen weit über die Fragen betreffend die
Agrarpolitik hinaus, so wichtig dieses Feld - hier muss
sich die Europäische Union bewegen - auch sein mag.
Hier geht es vielmehr darum, ob wir in Zukunft noch auf
ein wirklich globales Welthandelssystem setzen können
oder ob wir auf das Niveau eines Systems bzw. Netzwerkes von bilateralen oder interregionalen Vereinbarungen
absinken werden. Letzteres kann nicht im Interesse der
großen Export- und Importnation Bundesrepublik
Deutschland liegen. Wir haben ein großes Interesse an
einer funktionstüchtigen WTO. Hier muss die Europäische Union voll handlungsfähig sein. Deswegen müssen
wir an dem großen europäischen Projekt dringend weiterarbeiten.
({2})
Es kann nicht sein, dass viele Menschen in Europa
fasziniert auf die wirtschaftlichen Entwicklungen in
China und Indien blicken und gleichzeitig fast vor Angst
erstarren. Die Antwort auf die Herausforderungen der
Globalisierung ist die europäische Integration. Hier müssen wir dringend wieder ansetzen.
({3})
Das müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern aber auch
sagen. Dabei darf sich niemand in die Ackerfurche ducken. Wir haben ja in der europäischen Politik die unglückliche Situation, dass das Erklären gegenüber der
Bevölkerung oft einigen wenigen überlassen wird. Diese
sind zumeist so sehr Experten, dass sie vergessen, ihre
Erklärungen so zu formulieren, dass die Bürgerinnen
und Bürger mitkommen. Hier muss sich jeder in der
Politik und insbesondere in diesem Parlament in die
Pflicht nehmen lassen. Das gilt auch für den Verfassungsprozess.
Das - zumindest vorläufige - Scheitern des Verfassungsprozesses ist deshalb so tragisch, weil die Kritik an
der Europäischen Union, die immer wieder vorgetragen
und auch von Politikerinnen und Politikern verstärkt
wird, durch den Verfassungsvertrag selber in wesentlichen Teilen entkräftet worden wäre. Die Bedenken, die
häufig geäußert werden, wären dann, wenn der Verfassungsvertrag durchgekommen wäre, hinfällig. Das gilt
für die Themen Transparenz, Demokratie, Subsidiarität
und Bürgernähe. Deswegen ist es wichtig, dass wir die
Reflexionsphase, die jetzt eingetreten ist und auf die
man sich verständigt hat, tatsächlich zur Reflexion nutzen. Denkpause heißt ja nicht Pause vom Denken, sondern zum Denken.
({4})
Das, was der Europäischen Union fehlt - das merkt
man an der schwierigen Finanzsituation, die heute in
Brüssel zu besprechen sein wird -, ist Leadership, Führungskraft. Weit und breit sind keine Persönlichkeiten zu
erkennen, die für die Menschen einen persönlichen Beitrag leisten könnten, um Europa wirklich voranzubringen.
Es wird sich in den nächsten Jahren viel ändern. Ich
bin davon überzeugt, dass Deutschland eine Schlüsselfunktion zukommen wird, nicht nur wegen der Präsidentschaft, die Deutschland im Jahr 2007 übernehmen
wird, sondern auch deshalb, weil bei den neuen personellen Konstellationen auf Deutschland eine ganz besondere Verantwortung zukommt und eine große Erwartungshaltung auf Deutschland projiziert wird.
Die Menschen in Europa, nicht nur die Politikerinnen
und Politiker, haben den Eindruck, dass in Deutschland
ein Wechsel stattgefunden hat, der auch zu einem Wechsel in der europapolitischen Positionierung führt.
Deutschland wird nicht mehr dazu beitragen - ich bin
ganz sicher, dass die Bundeskanzlerin dafür sorgen wird -,
dass wir als Teil eines Direktoriums wahrgenommen
werden, sondern in der Rolle, die Deutschland aufgrund
seiner Geschichte, der kulturellen Umstände, seiner
Geographie, strategischer Überlegungen und nicht zuletzt
seiner Wirtschaftskraft zukommt. Deutschland muss ein
ausgleichender Faktor sein, und zwar zwischen groß und
klein, zwischen neu und alt und zwischen Verbündeten
und Partnern, die früher nicht so eng zusammengearbeitet haben. Deswegen wird mein Kollege Michael Link
ausführlich auf die Finanzfragen und die Rolle, die
Deutschland bei der Bewältigung dieses Problems spielen muss, eingehen.
Es sind auf dem Weg zu einer Verständigung auf den
letzten Metern noch ganz wichtige Verhandlungen zu
führen. Diese finden übrigens nicht auf der Bühne, sondern weiter hinten statt. Deshalb soll man sich nicht verrückt machen. Es ist darauf zu achten, dass wir, auch im
Hinblick auf unsere eigenen Interessen, sicherstellen,
dass dabei nichts den Bach heruntergeht. Ich denke insbesondere an die Situation der neuen Bundesländer.
Das ist aber auch ein so schwieriges technisches Problem, dass man es nicht auf der großen Bühne austragen
können wird, wenn man es lösen will.
Etwas ist mir in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig. Herr Minister Steinmeier hat zu Recht gesagt: Wir werden dort unsere nationalen Interessen vertreten. - Aber er hat auch gesagt - ich sage es in meinen
Worten -, dass es um das große Ganze gehe. Es muss am
Ende der Europäischen Räte Schluss sein mit den Pressekonferenzen, wo diejenigen, die dort sprechen, den
Menschen den Eindruck vermitteln, Europa sei ein Nullsummenspiel, und sagen, sie hätten für sich etwas herausgeschlagen und dafür habe ein anderer bluten müssen. Nein, meine Damen und Herren, wir müssen endlich wieder über den europäischen Mehrwert reden und
genau den wünschen wir uns für den Europäischen Rat,
der heute beginnt.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an die abschließende Bemerkung
von Herrn Minister Steinmeier anknüpfen. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die scharfe und eindeutige Reaktion der Bundesregierung auf die jüngsten Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zu
Israel. Wir erwarten eine ebenso entschiedene Stellungnahme des Europäischen Rates.
({0})
Wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt und den
Holocaust leugnet - und das zum wiederholten Mal -,
darf von der internationalen Gemeinschaft nicht toleriert
werden. Wer den Versuch unternimmt, die Stabilisierungsbemühungen im Nahen Osten zu torpedieren,
der muss aber auch auf den entschiedenen Widerspruch
der Staaten der Region treffen. Deshalb bedauern wir,
dass weder die Arabische Liga noch die Nachbarstaaten
in der Region bis heute ihrer Verantwortung nachgekommen sind, im Sinne der Friedensbemühungen im größeren Nahen Osten die Äußerungen des iranischen Präsidenten zurückzuweisen.
({1})
Der Außenminister hat die deutsche Position zur
finanziellen Vorausschau ausführlich dargelegt. Ich
möchte für meine Fraktion dazu deshalb nur drei grundsätzliche, kurze Anmerkungen machen:
Erstens. Jedes Mitgliedsland muss einen gerechten
Anteil an der Finanzierung der EU übernehmen.
Deutschland ist bereit, seinen Teil zu einem vernünftigen
Kompromiss beizutragen, im Sinne der Solidarität mit
den Partnerländern. Das heißt aber auch, dass das Wohlstandsniveau und das Ausmaß der finanziellen Belastungen in einer Relation stehen müssen, die von den Bürgern als fair empfunden wird.
({2})
Zweitens. Besonders mit Blick auf die neuen Mitgliedstaaten gilt: Die Lösung der Finanzfrage darf nicht
auf dem Rücken der schwächsten Mitglieder ausgetragen werden. Diesem Grundsatz hat der inzwischen zurückgezogene britische Vorschlag in keiner Weise entsprochen. Wir haben die Überwindung der Teilung
Europas mit der Erweiterung um die ostmitteleuropäischen Staaten vor 18 Monaten doch nicht gefeiert, um
jetzt neue Trennlinien zu ziehen.
Drittens. Angesichts der mehr als schwierigen
Finanzlage Deutschlands wäre es nicht hinnehmbar,
wenn von uns eine im Vergleich zum Vorschlag der
luxemburgischen Präsidentschaft höhere Belastung verlangt werden sollte, sei es durch ein höheres Ausgabenvolumen oder durch eine niedrigere Korrektur. Kein
EU-Mitgliedstaat weist eine so hohe Differenz auf zwischen dem Wohlstandsniveau einerseits - unter den
25 EU-Mitgliedern steht unser Land an elfter Stelle und der Pro-Kopf-Nettobelastung andererseits, bei der
Deutschland an dritter Stelle steht. Wir werden in unserer Bevölkerung nicht die notwendige Akzeptanz für die
Europäische Union finden, wenn diese Schere weiter
auseinander geht, anstatt sich zu schließen.
({3})
Das Gipfeltreffen am Ende einer EU-Präsidentschaft
bietet immer auch den Anlass, eine kritische Bilanz zu
ziehen. Wir hoffen sehr, dass Premierminister Blair alles
tut, damit die Finanzverhandlungen heute und morgen
zu einem erfolgreichen Abschluss kommen und damit
noch ein versöhnliches Ende der britischen Präsidentschaft möglich wird.
Bislang wurden die hohen Erwartungen, die Tony
Blair selbst geweckt hat, nicht erfüllt. Seine Rede im
Juni vor dem Europäischen Parlament hinterließ den
Eindruck: Hier geht einer, der sich selbst als „begeisterten Europäer“ bezeichnet, mit frischem Elan an die
Überwindung der Krise der Europäischen Union, in der
sie sich spätestens seit den gescheiterten Referenden in
Frankreich und in den Niederlanden befindet. Er hat
viele wichtige und auch richtige Fragen aufgeworfen,
wie die EU im Zeitalter der Globalisierung handlungsund konkurrenzfähig bleiben könnte. Es war sogar von
einer Offensive Blairs für eine Modernisierung der Europäischen Union die Rede. Insofern ist er mit einem hohen Anspruch gestartet.
Heute, am Ende der britischen Präsidentschaft,
müssen wir feststellen: Es gab viel Rhetorik und bescheidene Ergebnisse. Es wurde viel Zeit vergeudet,
aber zu wenig getan, um die EU aus der Krise zu führen.
Der fulminanten Rede vor dem Europäischen Parlament
folgte eine lange Zeit des Schweigens. In der Frage der
finanziellen Vorausschau könnten wir heute schon viel
weiter sein, wenn die Präsidentschaft früher ernsthafte
Verhandlungen darüber begonnen hätte, statt erst vor
zehn Tagen einen ersten und dann auch noch inakzeptablen Vorschlag vorzulegen. Dabei steht Großbritannien in
einer besonderen Verpflichtung, eine Lösung zu suchen,
nachdem es unter luxemburgischer Präsidentschaft einen
Kompromiss bei der Finanzfrage durch sein Veto verweigert hat. So ist zu der Verfassungskrise Europas eine
Budgetkrise hinzugekommen.
Wir müssten in Europa schon längst eine breite öffentliche Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union führen, über die Grenzen der EU und über
die Frage, was Sinn und Zweck des europäischen Einigungsprozesses ist.
({4})
Herr Minister Steinmeier, Sie haben Recht: Wir dürfen über diesen grundsätzlichen Fragen die Lösung der
Tagesfragen nicht vergessen. Die Lösung der Tagesfragen ist die Voraussetzung dafür, dass wir handlungsfähig
bleiben. Wir müssen diese grundsätzlichen Fragen angehen, weil wir sonst die Vertrauenskrise in der Europäischen Union und alles, was daraus folgt, nicht überwinden können.
Tony Blair hat das alles vor dem Europäischen Parlament richtig dargestellt. Der Gipfel von Hampton
Court war vielleicht eine interessante Seminarveranstaltung. Doch die Initialzündung für eine breite Diskussion
über die Frage: „Was kann und soll die EU leisten und
was kann sie nicht leisten?“ war er nicht. Wir hoffen
sehr, dass es in den Verhandlungen heute und morgen
noch zu einem erfolgreichen Abschluss in der Finanzfrage kommt und dass sich Großbritannien solidarisch,
das heißt stärker und vor allem dauerhaft, an der Finanzierung der Erweiterung beteiligt.
Wir erkennen sehr wohl an, dass Großbritannien seinen Arbeitsmarkt für Polen, Slowaken und andere Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten geöffnet hat und vielen Tausenden Ostmitteleuropäern erlaubt, dort zu
arbeiten und Geld nach Hause zu schicken. Das hat bisher keine andere europäische Volkswirtschaft in vergleichbarem Umfang getan. Wir erkennen auch an, dass
Premierminister Blair bereit ist, den britischen Beitragsrabatt zu kürzen, obwohl ihm von vielen in Großbritannien Verrat an britischen Interessen vorgeworfen
wird. Aber wir müssen feststellen, dass das, was die britische Präsidentschaft bisher vorgelegt hat, der Solidarität mit den schwächeren Mitgliedstaaten nicht ausreichend Rechnung trägt. Zu dieser Solidarität gehört auch,
dass eine Regelung für die Senkung des britischen
Beitragsrabatts über das Jahr 2013 hinaus gültig bleiben
muss.
({5})
Wenn die Finanzverhandlungen daran scheitern sollten, dann könnte am Ende der Eindruck haften bleiben,
dass hier ein Land seine Präsidentschaft genutzt hat, um
sich finanzielle Vorteile zu erhalten - und dies ausgerechnet auf Kosten der Schwächsten. Ein solches Ergebnis liegt nicht im europäischen Interesse, weil es die
Krise der Europäischen Union verschärfen würde. Es
kann auch nicht im britischen Interesse liegen. Deshalb
zählen wir sehr darauf, dass der britische Premierminister alles unternehmen wird, seine EU-Präsidentschaft erfolgreich abzuschließen.
Es ist dringend erforderlich, die Frage der künftigen
Finanzierung der Europäischen Union endlich vom
Tisch zu bekommen, damit sich die EU auf die Überwindung ihrer Krise konzentrieren kann. Wenn wir bei den
Bürgern mehr Akzeptanz für die Europäische Union
schaffen wollen, dann müssen wir ihnen das Gefühl vermitteln, dass die EU fähig ist, die dringenden Probleme
zu lösen, beispielsweise zur Bewältigung der Globalisierung deutlich mehr wirtschaftliche Stärke und Modernität zu entwickeln und damit Arbeitsplätze zu schaffen.
Was mit der Lissabonner Strategie entwickelt wurde,
ist nach wie vor richtig: flexible Arbeitsmärkte, die weitere Öffnung des Binnenmarkts, die stärkere Förderung
von Forschung, eine stete Verbesserung von beruflichen
Qualifikationen. Wenn wir dem Wettbewerb standhalten
wollen, den andere Regionen der Welt entfalten, dann
gibt es dazu keine Alternative. Aber dann dürfen der
Kok-Bericht und andere Gutachten nicht länger in den
Schubladen begraben bleiben,
({6})
sondern dann müssen die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten die Lissabonner Strategie endlich umsetzen. Lieber Herr Kollege Hoyer, was die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vorgelegt hat, ist der ernsthafte
Versuch, bei dieser Umsetzung ein gutes Stück weiterzukommen.
({7})
Zu der breiten Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union gehört natürlich auch die Frage nach der
Aufnahmefähigkeit der EU. Wenn es keine Rückentwicklung der EU zu einer gehobenen Freihandelszone
geben soll, sondern wenn, wie es die Außenminister am
3. Oktober beschlossen haben, Zusammenhalt, Wirksamkeit und Handlungsfähigkeit der EU verbessert werden sollen und der Integrationsprozess vertieft werden
soll, dann müssen wir unter österreichischer Präsidentschaft im nächsten Halbjahr eine grundsätzliche Debatte
darüber führen, wie dies erreicht werden kann. Wir alle
wissen, wie schwer es in den nächsten 18 Monaten bis
nach den französischen Wahlen werden wird, wichtige
Grundsatzentscheidungen zu treffen. Doch diese Zeit
kann und sollte dazu genutzt werden, über die verschiedenen Vorstellungen von Europa, die es unter den
25 Mitgliedstaaten gibt, zu sprechen und dann daraus
auch Konsequenzen zu ziehen. Die so genannte Denkpause, die sich die EU verordnet hat, ist kein Freibrief
für Nichtstun. In diesem Sinne sollten wir als Deutscher
Bundestag vorbildlich handeln. Wir sollten auch die Anregung der österreichischen Präsidentschaft aufgreifen
und die Fragen betreffend den westlichen Balkan, die
Sie erwähnt haben, Herr Außenminister, in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Diether Dehm, Die Linke,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages
bei den Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte auch der Versuch, sich im Europäischen Rat am 16./17. Mai vergangenen Jahres auf eine
Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 zu
einigen. Allgemein war die Rede von der Krise der
Europäischen Union; nur am Bewusstsein bezüglich
des Charakters und der Tiefe der Krise fehlte es bei Ihnen, den Regierenden, und es gab keinen Gedanken daran, dass der Verfassungsvertrag seines Inhalts wegen
abgelehnt worden war,
({0})
und vor der finanziellen Weichenstellung keinen Versuch, den Weg der Union seit Maastricht kritisch zu hinterfragen.
Dabei weiß doch offenbar niemand so recht Antworten auf vier zentrale Fragen:
Auf welcher Grundlage sind eine nachholende Entwicklung der beigetretenen Länder und ein umfassender
sozialer Zusammenhalt in der Union möglich?
Kann die Europäische Union den gewachsenen Aufgaben mit derselben Finanzausstattung gerecht werden
oder gar mit einer geringeren?
Können in Phasen konjunktureller Stagnation zusätzliche finanzielle Leistungen von den Mitgliedstaaten erwartet und zugleich die Einhaltung der Maastricht-Kriterien verlangt werden?
Ist es den Ländern, die an sich finanziell leistungsfähiger sind als andere, überhaupt möglich, zusätzliche
Beiträge an die Europäische Union aufzubringen, wenn
nicht zugleich Steuerdumping europaweit unterbunden
wird?
({1})
Diese Fragen, meine Damen und Herren, wurden
nicht einmal gestellt. Stattdessen wurde ein weiteres Mal
nach dem ebenso beliebten wie irrealen Motto „Mehr
Europa für weniger Geld“ verfahren. Ich sage für die
Linke, nicht nur in Deutschland: Das gibt Widerstand!
({2})
Bei der Deckelung tat sich besonders die rot-grüne
Bundesregierung hervor, unterstützt von den beiden anderen neoliberalen Bundestagsfraktionen. Zusammen
mit den Regierungen der anderen Nettozahler trat sie dafür ein, die finanzielle Entwicklung auf 1 Prozent der gemeinschaftlichen Wirtschaftsleistung zu schrumpfen.
Auch daran, an Ihnen, scheiterten die Versuche von
Jean-Claude Juncker, bei einem Prozentsatz von 1,06 zu
einer Einigung zu gelangen. Nicht nur am Britenrabatt.
Und nicht nur an der Verteidigung des Agrarkompromisses von 2003 durch die französische Regierung. Es
fehlte auch an der Bereitschaft der Bundesregierung, einen Beitrag zu zahlen, der den Vorteilen entspricht, die
wir als Exportweltmeister aus der EU und auch aus der
Erweiterung ziehen.
({3})
Inzwischen war die Präsidentschaft der Europäischen
Union auf Großbritannien übergegangen. Tony Blair hat
zu ihrem Beginn in leuchtenden Farben fulminante Bilder gemalt. Danach geschah nicht viel. Erst jetzt, nach
fünf Monaten, kurz vor Ende seiner Präsidentschaft,
wurde ein neuer Vorschlag für die finanzielle Vorausschau vorgelegt. Der Bundestag ist von diesen Vorschlägen durch die Bundesregierung nur sehr unvollkommen
informiert worden. Das ist nicht nur bedauerlich; das ist
gänzlich inakzeptabel und stellt eine Missachtung der
parlamentarischen Informations- und Kontrollrechte dar.
({4})
Nach zugänglichen Presseberichten, etwa in der
„FAZ“ von gestern, wird deutlich, dass der jetzige Vorschlag sich auf 1,03 Prozent beläuft, 24 Milliarden Euro
weniger als beim Vorschlag Junckers. Das erfordert erhebliche Kürzungen, die von uns Linken so nicht hingenommen werden können.
({5})
Nach meinen Informationen sollen unter anderem die
Ausgaben für den Fonds für ländliche Entwicklung um
10 Prozent gekürzt werden, ganz im Gegensatz zu den
Sonntagsreden gegenüber den Bauern, in denen sich besonders die Unionsparteien gefallen.
({6})
Das ähnelt sehr stark dem Umgang mit dem Mittelstand,
der stets sonntags gepriesen wird, während werktags die
Großbanken und Konzerne gegenüber Klein- und Mittelunternehmen steuerlich privilegiert und von Regulierungen weithin freigestellt werden.
({7})
Dann wollen Sie noch, dass die Ermäßigung der Mehrwertsteuer für unsere Kleinunternehmer in der EU nicht
verlängert wird. Das, meine Damen und Herren, ist nun
wirklich mittelstandsfeindlich.
({8})
Zu hören ist auch, dass die Strukturfondsmittel für
die neuen Mitgliedstaaten um 10 Prozent oder
16 Milliarden Euro niedriger ausfallen sollen als im
Luxemburger Vorschlag. Welche Folgen hätte das für die
wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder, insbesondere
für deren Infrastruktur und industriellen Sektor - auch
unter ökologischen Gesichtspunkten! In der gestrigen
Sitzung des Europa-Ausschusses haben Regierungsvertreter die geplanten Einschnitte zu relativieren versucht:
Man müsse ja den Beitrittsländern nur helfen, die vorgesehenen Mittel schneller abzurufen und über einen längeren Zeitraum einsetzen zu können; das sei genug der
Hilfe. Es fällt schwer, so etwas nicht für Zynismus zu
halten.
Wer darf sich da noch wundern, wenn Beitrittsländer
nach anderen Instrumenten suchen? Etwa Steuerdumping oder das Absenken sozialer und ökologischer Standards.
Dann kommt noch die Dienstleistungsrichtlinie mit
dem viele soziale Standards platt machenden und aggressiven Herkunftslandsprinzip. Eine Konkurrenz um
Unternehmensansiedlungen mit Mitteln des Steuerdumpings führt nur zur Umverteilung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten, nicht zur Stärkung des Wirtschaftspotenzials insgesamt. Im Ergebnis führt es zu
sinkenden Steuereinnahmen besonders in den alten Mitgliedstaaten.
Die mangelnde Bereitschaft, sich an einer aktiven
europäischen Strukturpolitik für Arbeitsplätze und
Mittelstand durch zusätzliche finanzielle Mittel zu beteiligen, führt dann nicht zu einer besseren, sondern zu
einer schlechteren Haushaltssituation. Die Möglichkeiten, den immer weltfremderen Maastricht-Kriterien zu
genügen, würden noch geringer. Was bliebe? Natürlich:
Die Nettozahlungen an die EU könnten ja weiter reduziert werden. Und: Dann ginge der ganze neoliberale
Zirkel wieder von vorne los.
Es zeigt sich ganz deutlich: Genau wie auf der Ebene
der Einzelstaaten spielt die dogmatische Sparpolitik
eine verhängnisvolle Rolle. Statt über die öffentlichen
Hände, also den Fiskus, unproduktive Geldvermögen für
produktive Investitionen zu mobilisieren, werden Leistungen eingeschränkt oder jedenfalls begrenzt. Das
hieße ja, heilige Kühe wie die Deutsche Bank, Daimler
und Allianz einmal wirklich steuerlich anzupacken.
({9})
Aber so führt die Privilegierung hoher Einkommen
und Vermögen zur Einschränkung öffentlicher Leistungsfähigkeit, auch im europäischen Bereich. Konsequenz ist, dass vorhandene Entwicklungspotenziale stillgelegt statt genutzt werden, dass sich eine noch stärkere
soziale Polarisierung im Land und eine Konfliktverschärfung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten
ergeben. Es ist die Ausdehnung des Wettbewerbskannibalismus auf die gesamte Europapolitik! Sozialstaat und
auch Demokratie, die ja, meine Damen und Herren von
den Liberalen, auf Gleichheitsgrundsätzen beruht, kommen dabei unter die Räder.
Die Kanzlerin zitierte verfälschend. „Lassen Sie uns
mehr Freiheit wagen!“. Das war nicht Willy Brandt, das
war Strauß mit seinem „Freiheit statt Sozialismus!“. Das
ist die Freiheit des Herrn Bolkestein;
({10})
das ist die globale Freiheit der Großbanken von demokratischen Grundregeln. Das ist der Freiheitsbegriff des
Urvaters der Neoliberalen, von Hayek, der es in seinen
„Grundsätzen einer liberalen Gesellschaft“ so formulierte:
Politische Freiheit im Sinne von Demokratie, „innere“ Freiheit, Freiheit im Sinne des Fehlens von
Hindernissen für die Verwirklichung unserer Wünsche oder gar „Freiheit von“ Furcht und Mangel haben wenig mit individueller Freiheit zu tun und stehen im Konflikt mit ihr.
Dieser neoliberale Freiheitsbegriff steht im Gegensatz
zu unserem Grundgesetz. Deswegen wurde die EU-Verfassung abgelehnt. Deswegen werden wir Anfang des
nächsten Jahres gegen Bolkestein in Straßburg demonstrieren. Deswegen bleiben wir Linken da schon lieber
beim Original, bei Willy Brandt: Wir wollen mehr Demokratie wagen!
({11})
Herr Kollege Dehm, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag,
({0})
zu der ich herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten
Wünschen für Ihre weitere parlamentarische Arbeit.
({1})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr Außenminister, das war ja im
Grunde die erste Regierungserklärung dieser neuen großen Koalition zum Thema Europa. Die Europäische
Union - Sie selber haben das angesprochen - ist in einer
tiefen Krise. Ich hätte mir in dieser Situation gewünscht,
dass die Bundesregierung mit ein bisschen mehr Feuer,
mit ein bisschen mehr visionärer Kraft für dieses Europa, so wie es sich der Deutsche Bundestag immer mit
großer Geschlossenheit gewünscht hat, eingetreten wäre.
({0})
Denn, verehrte Frau Merkel und Herr Steinmeier, gerade
Sie in der neuen Bundesregierung, die sich in diesem
Parlament auf eine große Mehrheit stützen kann, haben
in der vor uns liegenden Zeit eine zentrale Aufgabe. Die
finanzielle Vorausschau wird ein erster Schritt dabei
sein.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass Sie im Hinblick
darauf, dass Deutschland die Präsidentschaft der EU in
einer entscheidenden Phase übernehmen wird - wir alle
wünschen Ihnen dafür viel Erfolg -, schon heute die
Richtung Ihrer Politik deutlich gemacht hätten.
Wir hatten große Erwartungen. Der Koalitionsvertrag - das will ich aus meiner Sicht sagen - ist, gerade
was das Thema Europa angeht, positiv formuliert. Europa wird in den Mittelpunkt gestellt. Aber wenn wir die
Theorie mit der Praxis der europäischen Politik der Bundesregierung, die in den letzten Tagen deutlich wurde,
vergleichen, dann muss ich sagen: Der theoretische
Überbau des Koalitionsvertrages hat mit der Wirklichkeit leider nicht sehr viel zu tun.
Schauen wir uns an, welche Rolle die deutsche Regierung bei REACH und der Vorratsdatenspeicherung
gespielt hat. Bei REACH kommt es zu weniger Gesundheitsschutz. Die gefährlichen Chemikalien sind sozusagen geschont worden. Das ist nicht das Europa, das
die Bürger wollen. Sie wollen auch nicht weniger
Datenschutz, wie dies jetzt auf deutliche Intervention
der Bundesregierung gegen die große Mehrheit in diesem Hause befürwortet wurde. Beim Telekommunikationsgesetz waren wir uns alle einig, dass wir das nicht
wollen.
({1})
Jetzt hat die Bundesregierung in den Verhandlungen
plötzlich eine Position eingenommen, die das generelle
Votum des Deutschen Bundestages nicht beachtet hat.
Das ist nicht das Europa, das die Menschen wollen.
Sie wollen ein Europa, das ihre Rechte und ihre Zukunft
sichert. Sie wollen nicht weniger, sondern mehr Gesundheitsschutz, nicht weniger, sondern mehr Datenschutz.
({2})
Das ist das Europa, das wir wollen.
Wir müssen auch das sensibel wahrnehmen, was sich
in Frankreich und in anderen Ländern und auch in
Deutschland abspielt. Meine Einschätzung ist nicht, dass
die Menschen weniger Europa wollen. Die Sensibilität
in der Bevölkerung ist durchaus groß. Sie wollen nur
nicht das Europa, das ihnen zum Teil vermittelt wird;
denn dieses Europa schützt nicht ihre Lebensinteressen
und ihre Zukunftsinteressen, sondern handelt an diesen
Interessen vorbei.
Deshalb glaube ich auch nicht, dass es in Zukunft nur
darum geht, eine bessere Kommunikation zu erreichen,
neue Werbebroschüren über Europa zu verteilen und
neue PR-Kampagnen zu machen. Wir müssen vielmehr
inhaltlich auf dieses Europa Einfluss nehmen. Wir müssen eine Vision von der Zukunft Europas haben und
brauchen keine neuen Hochglanzbroschüren.
({3})
Ein zentraler Teil dieses Europas ist natürlich die
finanzielle Vorausschau. Mit dem Haushalt der EuroRainder Steenblock
päischen Union werden zentrale Weichen gestellt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen zentralen
Punkt nennen. Wie wir Europa kaputtreden können, Herr
Schockenhoff, das haben Sie gerade wieder in Ihrer
Rede bezüglich der Finanzfrage deutlich gemacht.
({4})
Wenn wir die europäische Finanzpolitik nur als Nettosaldenpolitik der nationalen Interessen darstellen, dann
werden wir an der Verantwortung, die wir für Europa
tragen, scheitern.
({5})
- Nein. Er hat wieder die Rechnung aufgemacht, wie
viel wir einbezahlen und wie viel wir aus dem Haushalt
zurückbekommen.
({6})
Herr Hoyer hat den europäischen Mehrwert angesprochen. Ich bezeichne es als Integrationsdividende. Unsere deutsche Volkswirtschaft, die deutschen Arbeitsplätze leben zentral vom europäischen Binnenmarkt.
Das kann man mit dieser Nettosaldenpolitik überhaupt
nicht fassen. Wir brauchen mehr Integration; denn dies
tut den Menschen gut.
({7})
Wir brauchen aber auch einen Haushalt, der die zentralen Zukunftsherausforderungen berücksichtigt. Innovation, Bildung und Forschung, das sind die Schwerpunkte eines zukünftigen Europas, mit denen man auch
in einer globalisierten Welt bestehen und Maßstäbe setzen kann.
Es ist schon skurril bis erschreckend, was der britische Premierminister in seiner Präsidentschaft veranstaltet hat: seine Reden auf der einen Seite und die Praxis auf der anderen Seite. Er gibt uns erst unsere Ziele
vor und kürzt dann die Mittel für den europäischen
Haushalt. Diese Widersprüchlichkeit ist es, die die Menschen überdrüssig macht, wenn es um die europäische
Frage geht.
({8})
Wir brauchen Innovationskraft, wir brauchen aber
auch Solidarität. Wer versucht, gerade bei der Solidarität mit unseren neuen Beitrittsländern die Sparbüchse
aufzumachen, der wird die Integrationskraft, die Europa
in Richtung Spanien und Irland positiv entwickelt hat, in
Richtung Osten schwächen und damit viele unserer Versprechungen verletzen. Deshalb bin ich sehr dafür - das
sage ich für die Fraktion der Grünen -, dass wir die solidarische Verpflichtung, die wir mit der Osterweiterung
übernommen haben, auch in materielle Verantwortung
umsetzen. Das muss sich im Haushalt widerspiegeln.
({9})
Wir brauchen eine andere Agrarpolitik; ich glaube,
darin sind wir uns alle einig. Es wird daher sehr wichtig
sein, dass die deutsche Bundesregierung in den Finanzverhandlungen auch dafür sorgt, dass wir im Hinblick
auf den neuen Finanzrahmen dazu kommen, schon sehr
früh neue Weichenstellungen für den nächsten Haushalt
vorzunehmen. Sie dürfen nicht auf dem Kleinklein der
Abstimmungen des Vorjahres beruhen. Wir brauchen
Überprüfungsregelungen, die schon sehr früh anzeigen,
dass diese Form der Agrarpolitik zu Ende ist. Ich glaube,
wir haben zugelassen - ich will das einmal etwas lax formulieren -, dass Europa auf materieller Ebene zu lange
eine Bauernrepublik war und sich nicht den zentralen
Zukunftsaufgaben gewidmet hat. Der Binnenmarkt war
ein richtiger Schritt. Dieser Schritt ist allerdings nicht
konsequent genug in anderen Bereichen unternommen
worden. Das bereitet uns die Probleme, die wir heute haben. Die Weigerung der Franzosen, sich in diesem Bereich zu bewegen, basiert auf einer vertraglichen Grundlage, die wir akzeptieren. Wir müssen aber dazu
kommen, diese Agrarpolitik zu verändern, auch aufgrund unserer internationalen Verhandlungen; die WTO
sei hier nur als Stichwort genannt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die deutsche
Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einen
zentralen Satz niedergeschrieben, den ich hier gerne
zitieren möchte:
Deutschland trägt aufgrund seiner Geschichte sowie seines politischen und wirtschaftlichen Gewichts eine besondere Verantwortung für den Erhalt
und die Entwicklung des europäischen Integrationswerks.
Sehr verehrte Frau Merkel, dieser Satz ist richtig; wir
unterschreiben das. Dies verpflichtet Sie aber gerade angesichts der anstehenden Verhandlungen, die gestärkte
deutsche Rolle zur Geltung zu bringen. Europa braucht
hier einen Erfolg, nicht um jeden Preis. Ein positiver Abschluss der Verhandlungen wäre jedoch ein ausgesprochen solider Schritt, um Europa für das nächste Jahr und
auch mit Blick auf die deutsche Präsidentschaft als Erfolgsprojekt diskutierbar zu machen. Dies ist aufgrund
der negativen Entwicklungen notwendig.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg, sagen aber sehr
deutlich: Europa braucht keine deutsche Maggie
Thatcher. Europa braucht eine Lady Europe.
({10})
Auf diesem Wege werden wir Sie gerne unterstützen. In
dieser Hinsicht wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Wir hoffen, dass Sie ihn haben werden, im Interesse Europas.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Angelica Schwall-Düren.
({0})
Eine von vielen. - Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir sind uns hier alle einig,
dass mit diesem Europäischen Rat ein schwieriges Jahr
für die Europäische Union zu Ende geht.
Ich habe den Eindruck, dass wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, dass das negative Ergebnis der Verfassungsreferenden und der gescheiterte
Gipfel in Luxemburg natürlich einen ganz gewichtigen
Anteil an dieser Krise haben. Aber, Herr Dehm, es lag
nicht am Inhalt der Verfassung, dass einige Referenden
negativ ausgegangen sind,
({0})
sondern es gab viele unterschiedliche Gründe für die Ablehnung.
({1})
Unter anderem lag es daran, dass die Menschen die Auswirkungen nationaler Politik abgelehnt haben, dass die
Bürger mit ihren Ängsten allein gelassen wurden und
dass sie es der EU nicht zutrauen, die anstehenden Probleme zu lösen.
Deswegen kommt es in der Tat, Herr Steenblock, darauf an, dass ganz konkrete Schritte gemacht und Fragen
und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger von der Politik tatsächlich positiv aufgegriffen werden. Aber das
kann natürlich nicht heißen, dass man in Brüssel mit Maximalforderungen auftritt und letztlich vielleicht eine
Blockade herbeiführt, die überhaupt nichts voranbringt
oder löst.
Herr Dehm, die Skepsis der Bürgerinnen und Bürger ist nicht von der Höhe des Budgets abhängig.
({2})
Das wäre völlig fehl gedacht. Vielmehr kommt es darauf
an, dass überhaupt ein Budget zustande kommt, damit
die Politik handlungsfähig ist.
({3})
Die Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen besteht nicht zu Recht. Die Blockade ist - so hat es
jüngst eine Journalistin beim Deutsch-Ungarischen Forum in Budapest formuliert - nicht von der Kommission
oder vom Europäischen Parlament verursacht worden,
stattdessen trägt jeder einzelne Regierungschef, der sich
im Europäischen Rat einem Konsens verweigert, die
Verantwortung dafür. Deswegen, Herr Dehm, muss ich
Ihren Vorwurf gegenüber Deutschland zurückweisen. In
Luxemburg hat Deutschland den dort vorgetragenen
Kompromiss mitgetragen, wie übrigens 21 andere Staaten auch.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Agenda des
bevorstehenden Europäischen Rates stehen wichtige
Themen, die weiterverfolgt werden müssen. Zu nennen
sind hier insbesondere die Fortführung der Diskussion
zur künftigen Entwicklung der Europäischen Union, das
heute schon öfter erwähnte „große Projekt“, die Gestaltung der künftigen Nachbarschaftspolitik der Gemeinschaft, eine europäische Strategie für Afrika sowie die
Zusammenarbeit in der Migrationspolitik und bei der
Bekämpfung des Terrorismus. Hierzu gehört auch die
eindeutige Zurückweisung der unakzeptablen Äußerung
des iranischen Staatspräsidenten gegenüber Israel durch
die EU.
({5})
Das zentrale Thema des Europäischen Rates ist die
Frage, ob eine Lösung für die künftige Finanzierung der
Europäischen Union gefunden und eine Einigung über
die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 erzielt werden kann. Nachdem die Finanzverhandlungen im Europäischen Rat im Juni nicht zuletzt an Großbritannien gescheitert waren, sah es lange Zeit so aus, als ob die
britische Präsidentschaft keinen weiteren Einigungsversuch wagen oder zustande bringen würde. Deshalb ist es
zu begrüßen, dass sich die britische Regierung nun doch
entschieden hat, ihrer Verantwortung für die Gemeinschaft gerecht zu werden und neue Kompromissvorschläge vorzulegen.
Grundlegende Pfeiler der Europäischen Union sind
das europäische Gesellschaftsmodell und die Solidarität
zwischen den Mitgliedstaaten. Diese findet Ausdruck
in der Struktur- und Kohäsionspolitik der Gemeinschaft.
Ziel dieser Politik ist es, dass die wirtschaftlich schwächeren Regionen und Mitgliedstaaten an die stärkeren
herangeführt werden und so die Ungleichgewichte überwunden werden können. Von dieser Politik haben die
Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft profitiert. Irland
und Spanien sind hierfür gute Beispiele. Aber auch die
ostdeutschen Länder haben europäische Strukturförderungen in großem Umfang erhalten. Es ist nur wenigen
bekannt - das muss an dieser Stelle gesagt werden und
hat nichts mit Aufrechnungen zu tun -, dass Deutschland
nach Spanien im laufenden Finanzzeitraum, in absoluten
Zahlen, der zweitgrößte Empfänger von Strukturmitteln
der EU ist.
({6})
Aber es ist richtig, Herr Steenblock: Wir sollten nicht
vergessen, dass wir jenseits der direkten Rückflüsse wirtschaftlich enorm von der Erweiterung profitieren; denn
trotz oder gerade wegen der erweiterten europäischen
Arbeitsteilung und der damit teilweise verbundenen
Standortverlagerungen profitieren wir als Exportnation
von der steigenden Kaufkraft in unseren Nachbarländern.
Nur wenn Arbeitnehmer in Polen anständige Löhne verdienen, können sie sich deutsche Autos leisten.
Wir stehen gegenüber den neu beigetretenen Ländern
im Wort. Länder wie Tschechien und Estland haben nach
dem Fall der Mauer einen Transformationsprozess
durchlaufen, der von den Bürgern große Anpassungsleistungen erforderte. Deswegen erwarten unsere Nachbarn
nun zu Recht unsere Solidarität. Solidarität bedeutet alDr. Angelica Schwall-Düren
lerdings nicht nur Solidarität bei den Ausgaben der Gemeinschaft, sondern auch bei ihrer Finanzierung. Solidarität auf der Einnahmenseite der Union bedeutet, dass
sich alle Mitgliedstaaten fair, das heißt nach ihrer Leistungsfähigkeit, an der Finanzierung der Gemeinschaft
beteiligen. Hierbei sind Anpassungen erforderlich, da ursprünglich ärmere Mitgliedstaaten - nicht zuletzt durch
die EU-Hilfen - wirtschaftlich aufgeholt haben, sogar in
die erste Reihe aufgerückt sind.
Diese Anpassungen sind insbesondere im Hinblick
auf die Kosten der Erweiterung relevant. Diese Erweiterung wurde gemeinsam von allen Mitgliedstaaten beschlossen. Nun muss sie auch gemeinsam finanziert werden. Gerade Großbritannien hat sich immer für die
Erweiterung stark gemacht. Deshalb ist es nicht nachzuvollziehen, dass sich Großbritannien nicht wie alle anderen an der Finanzierung der Erweiterung beteiligt, sondern seinen Rabatt sogar von den Ärmeren mitbezahlen
lässt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute Vormittag
wissen wir noch nicht, ob es zu einer Einigung kommt.
Der schwierige Spagat einer wirklichen europäischen
Solidarität, auch gegenüber den neuen Mitgliedstaaten,
zwischen Ausgabenbegrenzung und einer gerechten
Lastenteilung bei der Finanzierung, ist noch nicht geschafft. Dennoch will ich noch einmal unterstreichen,
dass sich Großbritannien erfreulicherweise bewegt hat
und bis 2013 auf einen kleinen Teil seines steigenden
Rabatts verzichten will. Den neuen Mitgliedstaaten wird
eine Kürzung der Strukturmittel zugemutet, allerdings
mit der Aussicht, dass die Inanspruchnahme der Mittel
erleichtert wird. Auf dieser Grundlage muss der Europäische Rat nun ernsthaft verhandeln. Wir erwarten aber,
dass Großbritannien sich für Veränderungen noch stärker
öffnet und einem langfristigen, über das Jahr 2013 hinausgehenden Abbau des Britenrabatts den Weg bereitet.
({7})
Die neuen Mitgliedstaaten werden die volle Solidarität Deutschlands erfahren, wenn es darum geht, die
eventuell geringfügig reduzierten Mittel so optimal wie
möglich zu nutzen. Herr Steenblock, dass wir die Notwendigkeit sehen, den Weg der Reformen auch im Bereich der Agrarpolitik fortzusetzen, haben wir schon im
Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebracht. Lösungen
lassen sich in Europa nur gemeinsam finden. Deutschland ist bereit, zusammen mit seinen Nachbarn und
Freunden nach Mitteln und Wegen zu suchen. Wir erwarten deshalb ein Miteinander von größeren und kleineren Staaten, von Nettozahlern und Nettoempfängern.
Herr Hoyer, Deutschland wird mithelfen, dass dieser
Ausgleich zwischen Großen und Kleinen erfolgreich
vollzogen wird.
({8})
Ob nun Deutsche, Franzosen, Niederländer, Schweden
oder Slowaken, um nur einige beispielhaft zu nennen wir alle müssen zu einem Kompromiss beitragen.
Erlauben Sie mir deshalb, in diesem Zusammenhang
an einen Satz unseres Altbundeskanzlers Gerhard
Schröder zu erinnern, der über die im Juni gescheiterten
Finanzverhandlungen schrieb - ich darf zitieren -:
({9})
Am Ende haben ausgerechnet die ärmeren neuen
Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa sich zu Einschnitten bereit erklärt. Das war für die Reichen beschämend - ermutigend allerdings auch: Denn es
zeigt, dass der Geist der Solidarität zwischen den
Mitgliedstaaten noch lebendig ist. … Unsere
Freunde aus den Beitrittsländern haben bewiesen,
dass sie ihrer europäischen Verantwortung vollauf
gerecht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vom Frieden, von
der Demokratie und der Solidarität in Europa profitieren
alle Mitgliedstaaten. Deswegen müssen sich alle bewegen. Niemand darf allein aus nationalen Interessen handeln. Ich bin sicher: Unsere Bundeskanzlerin Frau
Dr. Merkel und unser Außenminister Steinmeier werden
sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen, einen erfolgreichen Abschluss zu erreichen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Link, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
als engagierter Neuer in diesem Haus gleich in seiner
ersten Rede zum Thema finanzielle Vorausschau sprechen darf, dann kann einem der Zauber, der angeblich jedem Anfang innewohnt, rasch vergehen. Denn das, was
uns in Brüssel ab heute Abend bevorsteht - ein Kampf
mit harten Bandagen -, hat mit Zauber wirklich wenig
zu tun. Wir alle kennen schon jetzt die Bilder, die wir,
wenn wir Samstag früh aufstehen, sehen werden: von
angehaltenen Uhren, von letzten und allerletzten Kompromissen, von bleichen Gesichtern und bleichen Unterhändlern - wir hoffen, dass es diesmal nicht so schlimm
wird.
({0})
Später wird wieder die Rechnung aufgemacht, wer
denn nun Gewinner und wer Verlierer des Gipfels ist.
Dann mag sich zwar der eine oder andere als Gewinner
dieses Schacherns fühlen. Aber oft, allzu oft ist es die
EU als Ganzes, die durch dieses untransparente Verfahren verliert.
({1})
Ein kleiner Rückblick: Noch 1999, als auf dem Kölner Gipfel die letzte finanzielle Vorausschau vereinbart
wurde, waren sich alle einig, dass eine Einigung in dieser Form, im letzten Augenblick, sich nicht wiederholen
sollte. Damals dachte man: Auf dem nächsten Gipfel zur
finanziellen Vorausschau wird alles besser; denn bis dahin wird es die EU-Verfassung geben, bis dahin werden
wir geregelte Verfahren haben, dann brauchen wir diese
interinstitutionellen Vereinbarungen nicht mehr.
Doch die EU-Verfassung haben wir noch lange nicht,
geschweige denn eine effiziente Finanzverfassung. So
stehen wir heute mehr denn je vor den Fragen: Was ist
uns die EU wert? Wofür geben wir Geld aus? Und wer
bezahlt? Zwei Schlagworte bestimmen die Diskussion
über die jüngsten Vorschläge der Kommission in der britischen Ratspräsidentschaft: „Draufsatteln“ lautet der
Vorschlag der Kommission und der britische Vorschlag
wird als „Totsparen“ bezeichnet. Beide führen uns nicht
weiter. Entscheidend ist vielmehr, dass die vorhandenen
finanziellen Mittel in zukunftsträchtige Politikfelder umgeschichtet werden. Deshalb fordern die Liberalen eine
Haushaltspolitik, die sich klar zu Wettbewerb, Freihandel und globaler Verantwortung bekennt.
({2})
Die EU hat sich mit den Jahren in einem Gespinst von
kaum mehr nachvollziehbaren, dafür aber umso teureren
Finanzkompromissen selbst gefangen. Gleichzeitig verlieren wir mehr und mehr den Anschluss an die globalisierte Weltwirtschaft. Wir geben abenteuerliche Beträge
für Subventionen bestimmter Länder und Berufsgruppen
aus und vernachlässigen darüber sträflich Investitionen
in wirklichen europäischen Mehrwert: in Forschung, Bildung, die transeuropäischen Netze und - ja, auch dies die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die
ebenfalls zu kurz kommt.
({3})
Wenn es um die nächste finanzielle Vorausschau geht,
lautet daher die zentrale Forderung der FDP: mehr Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Wie aber will man Sicherheit bewerten? Wie viel darf
Frieden kosten? Welchen Haushaltsansatz sollten wir für
den gewaltfreien Export von Menschenrechten und
Marktwirtschaft veranschlagen? All diese Zahlen können wir nicht beziffern. Deshalb geht die Frage, die die
heutige Diskussion beherrscht - bist du Nettozahler oder
Nettoempfänger? -, am Thema vorbei; hier gebe ich
Herrn Steenblock völlig Recht. Die FDP erteilt dieser
Sichtweise, die nur auf die Nettosalden schielt, aber die
viel wichtigere Frage, wofür das vorhandene Geld ausgegeben wird, vergisst, eine klare Absage.
({4})
Wir wollen mehr Investitionen in Europas Wettbewerbsfähigkeit. Wir bezweifeln, dass die beiden größten Ausgabeposten des Haushalts - Agrar- und Kohäsionspolitik so, wie sie heute sind, die richtigen Anreize setzen. Solange das so ist, dürfen wir den EU-Haushalt nicht einfach weiterwachsen lassen. Die Vorschläge der Kommission und auch des Europäischen Parlaments mit
1,14 Prozent bzw. 1,07 Prozent gehen uns zu weit. Auch
der alte Luxemburger Kompromiss mit 1,06 Prozent und
der neueste britische Vorschlag mit 1,03 Prozent sind zu
teuer.
Der Bundestag hat in der 15. Wahlperiode immer wieder betont, dass gegenwärtig mehr als 1,0 Prozent des
BNE nicht drin ist. Herr Finanzminister, Sie waren gestern im Haushaltsausschuss und haben dort nochmals
von einer großen Mehrheit das klare Signal erhalten,
dass die Haushälter gerne am 1-Prozent-Ziel festhalten
würden. Die FDP hat das heute in ihrem Antrag noch
einmal deutlich gemacht. Bitte bleiben Sie beim 1-Prozent-Ziel am Ball! Jetzt mag sich mancher fragen, was
diese Kommazahlen sollen. Sie machen aber einen großen Unterschied. Rechnen wir das einmal im Vergleich
aus: Das jetzige 1-Prozent-Ziel entspricht 824 Milliarden
Euro. Beim manchmal genannten möglichen Kompromissziel von 1,045 Prozent wüchse der Haushalt auf
861 Milliarden Euro an. Der Unterschied von
37 Milliarden Euro bedeutete für Deutschland, dessen
Beitragsanteil bei ungefähr 20 Prozent liegt, verteilt auf
sieben Jahre über 7 Milliarden Euro Mehrkosten, also
jährlich Mehrausgaben von 1 Milliarde Euro; man muss
es einmal so deutlich sagen. Diese Kommastellen haben
es also in sich.
({5})
Herr Präsident, ich will die entscheidenden Punkte
zusammenfassen: Es wäre schön, wenn bei diesem Gipfel eine europäische Einigung erzielt werden könnte und
nicht, wie schon oft, jeder Regierungschef nach Hause
fährt und einen Sieg nationaler Interessen verkündet.
Wir brauchen nicht nur eine europäische Verfassung,
sondern auch - das ist vielleicht unser zweitwichtigstes
Anliegen -, eine europäische Finanzverfassung, die
klare und transparente Verfahren für zukünftige finanzielle Vorausschauen enthält. Der britische Vorschlag,
das gesamte Finanzsystem auf den Prüfstand zu stellen und damit 2009 auch eine Reform der gesamten Ausgaben und Einnahmen der EU zu verbinden, beinhaltet
auch - und das ist bemerkenswert -, im Zusammenhang
damit den eigenen Rabatt zu thematisieren. Dies verdient unsere Zustimmung; denn dieser Rabatt ist ganz
klar ein Anachronismus, der genauso wie Maggie
Thatchers Handtasche ins Haus der Geschichte gehört.
({6})
Wenn diese Punkte erfüllt sind und wir für die finanzielle Vorausschau möglichst das 1-Prozent-Ziel erreichen, könnte Außenminister Jack Straw doch noch
Recht haben, der gesagt hat, dieser Gipfel werde „good
for Europe and good for us“. Die FDP wünscht der Bundesregierung bei den anstehenden nächtlichen Verhandlungen eine glückliche Hand, gute Kondition und auch
europäischen Geist.
Vielen Dank.
({7})
Lieber Kollege Link, ich möchte auch Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren,
({0})
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
Das Wort hat nun der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Tagung des Europäischen Rates in dieser Woche wird
dominiert von den Verhandlungen über die finanzielle
Vorausschau der Europäischen Union für die Jahre 2007
bis 2013. Den meisten von uns ist bekannt, dass es um
einen Haushalt von ungefähr 850 Milliarden Euro geht;
ich will das nur noch einmal in Erinnerung rufen. Das
hat etwas damit zu tun, dass die Europäische Union die
Praxis pflegt, ihren Haushalt faktisch für sieben Jahre
festzulegen. Haushaltsverhandlungen sind wie in jedem
Parlament so auch in der Europäischen Union nicht nur
Verhandlungen über Zahlen, sondern in den Haushaltsverhandlungen spiegeln sich auch die politischen Prioritäten eines Landes bzw. hier der Europäischen Union wider. Bei der Debatte um die Höhe des Haushalts geht es
gleichsam um die Höhe der Förderung durch Strukturfonds, um die Höhe der Agrarförderung, der Forschungsförderung und damit um die künftigen Schwerpunkte der europäischen Politik. Wir reden eben auch
über die künftige gemeinsame Agrarpolitik, über die
Strukturpolitik, über die so genannte Lissabon-Strategie
und über die Rolle Europas in der Welt. Ich denke, dass
es richtig ist, die Auseinandersetzungen so heftig zu führen und so intensiv über den richtigen Weg nachzudenken. Das muss sein; denn es wäre geradezu fahrlässig,
wenn über 850 Milliarden Euro so nebenbei beschlossen
werden würde.
({0})
Zu den Vorschlägen der britischen Ratspräsidentschaft aus der vergangenen Woche und in leicht veränderter Form von gestern Mittag ist in den vergangenen
Tagen sehr viel Kritisches gesagt worden. Die Kritik war
zum Teil sehr heftig, zum Teil war sie mit Blick auf den
Verhandlungsausgang des Europäischen Rates taktisch
motiviert.
Viele dieser Kritikpunkte sind allerdings berechtigt.
Bedauerlicherweise hätte dieser Vorschlag, so wie er uns
heute vorliegt, fatale Auswirkungen. Man kann sich des
Eindrucks nicht erwehren, dass Großbritannien durch
diesen Vorschlag sein Privileg, nämlich den Beitragsrabatt, schont und somit den Konsolidierungsbedarf überstark auf die neuen Mitgliedsländer, also auf die ärmsten
Länder in der Europäischen Union, verlagert. Dass dies
nicht einfach akzeptiert werden kann, auch von uns
nicht, liegt auf der Hand.
Der britische Vorschlag, auch der gestrige, hat jedoch
noch eine andere Seite: Er hat nach meiner festen Überzeugung das Potenzial, zu einer vernünftigen und ausgewogenen Einigung am Ende des kommenden Europäischen Rates zu führen. Wo liegen diese Potenziale?
Darauf möchte ich etwas näher eingehen:
Zum Ersten. Der Haushaltsentwurf der britischen
Ratspräsidentschaft sieht einen sparsamen Haushalt
vor. Mit der Zielmarke von 1,03 Prozent des Bruttonationaleinkommens ist dieser Haushalt kleiner als der des
Luxemburger Vorschlags. Der Bundesaußenminister
hatte mit Recht darauf hingewiesen, dass der Luxemburger Kompromiss, der ja gescheitert ist, leicht über die
Grenzen der deutschen Belastbarkeit hinausging. Grundsätzlich ist dieser Entwurf also positiv.
Positiv ist für uns auch, dass der britische Vorschlag
einen reduzierten Mehrwertsteuerabrufsatz bei den Zahlungen für Deutschland vorsieht. Das ist berechtigt; denn
das trägt der Situation Rechnung, dass wir als Nettozahler in Europa in besonderer Weise belastet sind. Insgesamt bedeutet der Vorschlag Großbritanniens im Vergleich zum Luxemburger Vorschlag eine Reduzierung
unserer Belastungen um etwa 3,5 Milliarden Euro. Das
ist grundsätzlich richtig. Natürlich gibt es jetzt Aufwuchstendenzen. Aber als Grundlage der Verhandlungen
ist das für uns gut.
Zum Zweiten. Die britische Regierung ist das erste
Mal seit dem Europäischen Rat von Fontainebleau von
1984, auf dem der berüchtigte Beitragsrabatt mit der
Zustimmung Deutschlands beschlossen wurde, bereit,
überhaupt über den Beitragsrabatt zu sprechen und ihn,
zumindest in einem kleinen Bereich, zur Disposition zu
stellen. Das ist ein riesengroßer Fortschritt und war vor
wenigen Wochen noch nicht zu erwarten.
({1})
Großbritannien muss sich allerdings, wie ich denke,
noch in zwei Punkten bewegen - Ansätze sind beim
neuen Vorschlag von gestern Mittag schon zu erkennen -:
Zum einen muss die Reduzierung des britischen Beitragsrabatts dauerhaft sein, also über das Jahr 2013 hinaus reichen, zum anderen muss die Reduktion noch etwas stärker sein. Dann, denke ich, ist eine Einigung
möglich.
Zum Dritten. Die drastische Reduzierung der Strukturfondsmittel um etwa 14 Milliarden Euro, vorgeschlagen von der britischen Ratspräsidentschaft, ist von
den neuen Mitgliedstaaten zu Recht kritisiert worden.
Schaut man aber genau in den Vorschlag hinein, so findet man dort aber einige sehr vernünftige und richtige
Ansätze, die, wenn sie ausgebaut werden, nach meiner
Überzeugung zu einer Einigung führen könnten. So wird
zum Beispiel vorgeschlagen, den europäischen Kofinanzierungsanteil für die Strukturfondsmittel von bisher
75 Prozent auf 85 Prozent zu erhöhen und den neuen
Mitgliedsländern nach Bewilligung der Mittel drei Jahre
Zeit zu geben, die Mittel auszugeben und Projekte umzusetzen. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz, und
zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wären die
neuen Mitgliedsländer damit in der Lage, die notwendigen Modernisierungen im Infrastrukturbereich wie auch
in anderen Bereichen schneller durchzuführen. Zum anderen würden wir mit solch einem Beschluss mit einer
lang gepflegten Praxis in der Europäischen Union aufräumen, dass nämlich gerade bei den Haushaltsansätzen
im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung große
Scheindebatten geführt werden. Meist geschieht dies zur
stillen Freude der Finanzminister der Nettozahlerländer;
denn es war bisher immer so, dass die Ansätze der Spitzenzahlen in diesen Haushalten weit höher waren als
das, was jemals real ausgegeben worden ist, sodass jeder
Finanzminister eines Nettozahlerlandes in stiller Freude
immer damit rechnen konnte, dass er den Betrag, der ursprünglich angesetzt worden ist, niemals ausgeben
musste. Es ist auch ein Beitrag zu mehr Transparenz und
Verständlichkeit der Europäischen Union, wenn wir
dazu kommen, dass die Beträge, die im Haushalt stehen,
dann auch real ausgegeben werden. Ich glaube, auch das
wäre sinnvoll.
({2})
Großbritannien hat in seinem Vorschlag auch nachhaltigen Wert darauf gelegt, dass in diesem Finanzplafond die Formulierung einer Revisionsklausel enthalten
sein soll. Ich weiß sehr genau, dass durch diese Revisionsklausel, wenn sie aufgenommen wird, materiell
nichts verändert wird. Aber auch hier stimme ich der Intention Großbritanniens grundsätzlich zu; denn ich halte
es für richtig, dass sich die Europäische Union jetzt zumindest verbal darauf einigt, dass die bisherige Agrarund Strukturpolitik, wie sie 2002 mit dem Agrarkompromiss fortgeführt worden ist, nicht ohne weiteres auf alle
Zeit und Ewigkeit so bleiben kann. Wir müssen auch
hier ansetzen, ohne dass wir den Kompromiss bis 2013
infrage stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt liegt eine
Einigung für mich im Bereich des Möglichen. Ein Erfolg
wäre nicht nur wünschenswert, sondern für die Europäische Union ein wichtiges Signal am Ende eines nicht
übermäßig erfolgreichen europapolitischen Jahres.
Viele Beobachter haben in den letzten Monaten mehr
politische Führung in der EU angemahnt und sie erhoffen dies gerade von der deutschen Bundesregierung. Die
Bundesregierung steht vor diesem Gipfel und während
dieses Europäischen Rates vor einer überaus schwierigen Herausforderung. Bundeskanzlerin Angela Merkel
und die Bundesregierung haben diese Herausforderung
aber angenommen. Gerade in den letzten Wochen der
wichtigen Vorbereitungsphase dieses Europäischen Rates haben Sie, Frau Merkel, eine führende Rolle in der
Moderation und der Diskussion mit den Staats- und Regierungschefs der neuen, der alten, der großen und der
kleinen Mitgliedsländer geführt. Das ist eine wichtige
Voraussetzung. Dafür danke ich.
({3})
Frau Bundeskanzlerin, ich wünsche Ihnen und dem
Bundesaußenminister, Herrn Steinmeier, für die nächsten 50, 60 Stunden eine glückliche Hand, kluge Entscheidungen und vor allen Dingen eiserne Nerven; denn
die braucht man dort auch. Wir alle wünschen uns einen
Erfolg, einen vernünftigen und ausgewogenen Haushalt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Europäische
Union und auch wir in Deutschland diesen Erfolg brauchen. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Erfolg gerade auch mit einer starken Führung der neuen Bundesregierung in Deutschland errungen werden kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
eine Vorbemerkung machen: Ich begrüße es außerordentlich, dass die Bundesregierung sagt, diese EU könne
sich die Ausfälle von Herrn Ahmadinedschad aus dem
Iran nicht gefallen lassen. Es muss hier eine klare europäische Antwort gegeben werden. Das Leugnen des
Holocaust und das Infragestellen des Existenzrechts
Israels kann von diesem Europa gemeinsam nicht akzeptiert werden.
({0})
Ich füge aber auch hinzu: Man muss das seriös tun.
Dazu gehört für mich nicht, darüber zu spekulieren, den
Iran von der Fußballweltmeisterschaft auszuschließen.
Ich glaube, die Teilnahme wird eher die Zivilgesellschaft
im Iran als die Macht des Klerus stärken.
({1})
Die Überwindung der Krise der Europäischen Union
wird das große Projekt sein, das Sie, Frau Merkel, mit
der Präsidentschaft 2007 anzugehen haben. Die Schlüsselfrage dafür wird sein, ob es gelingt, dieses Europa
global wieder wettbewerbsfähiger zu machen, dies aber
in dem Wissen zu tun, dass es dazu eines Mehr an sozialer Kohärenz und der Beachtung einer ökologischen
Nachhaltigkeit bedarf. Diesen Dreiklang zusammenzuhalten und ihn nicht in Richtung ausschließlich der Wettbewerbsfähigkeit zu verabsolutieren, wie ich das gelegentlich aus Ihrer Ecke gehört habe, ist die Grundlage,
wie diesem europäischen Projekt als eine Antwort auf
die Globalisierung wieder so etwas wie eine Sinnstiftung
gegeben werden kann.
({2})
Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sich das in der
Frage zuspitzt: Was wird demnächst mit den europäischen Ressourcen passieren? Die Voraussetzung wird
also sein, eine Lösung für die Frage der finanziellen
Vorausschau zu finden. Hier haben Sie eine RiesenJürgen Trittin
chance, Frau Merkel. Ich habe vorhin wieder eine abfällige Bemerkung über das Verständnis von Direktorien
gehört.
Sehen Sie, lieber Herr Hoyer, Sie wissen das selber
sehr gut: Gerade die kleinen Mitgliedstaaten in Europa
erwarten von den großen Mitgliedstaaten, dass diese
Verantwortung für das Ganze übernehmen und dieser
Verantwortung auch in schwierigen Situationen gerecht
werden.
({3})
Das sage ich bewusst mit Blick auf die Widersprüche,
die diesem schwierigen Projekt zugrunde liegen. Es
wäre in Europa überhaupt nicht nach außen zu vermitteln, dass in diesem Europa ein Land wie Slowenien zum
Nettozahler wird und in der gleichen Entwicklung der
Britenrabatt von heute 5 Milliarden Euro auf 9 Milliarden Euro ansteigt. Das spitzt sich in diesen Stunden zu.
Liebe Frau Merkel, wann anders gibt es überhaupt
eine Chance, an diesem Punkt unter Wahrung der Interessen hinsichtlich der Strukturfonds und auch unter
Wahrung des Kompromisses hinsichtlich der Agrarpolitik etwas zu erreichen? Die erste Säule kann man schauerlich falsch finden - ich habe da erhebliche Bedenken -, aber das war ein Teil dieses Kompromisses, den
wir bis 2013 akzeptieren müssen. Wann wird wieder die
Chance bestehen, in der Frage des Rabattes zu einer Lösung zu kommen, wenn nicht jetzt unter der britischen
Präsidentschaft? Das ist der Kern.
Ich erwarte, dass diese Gelegenheit von Ihnen genutzt
wird und dass Sie das, was der Außenminister gesagt
hat, ernst meinen: In dieser Situation kann sich niemand
an bisherigen Dingen dogmatisch festhalten. Diese
Chance zu nutzen, dafür wünsche ich Ihnen eine feste
Hand.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Axel Schäfer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
europäische Einigung steht heute vor einem zentralen
Problem: der sinkenden Zustimmung der Bürgerinnen
und Bürger. Die Lösung dieses Problems hat einen Namen: Es ist die europäische Einigung.
Die britische Präsidentschaft zeigt: Wir müssen vieles
gleichzeitig tun, weil es sich nicht nacheinander lösen
lässt. Das Entscheidende ist die Handlungsfähigkeit. Am
Anfang dieses Halbjahres stand die Gefahr eines dreifachen Scheiterns: das mögliche Scheitern der europäischen Verfassung, das denkbare Scheitern weiterer
Beitrittsverhandlungen, das einstweilige Scheitern des
Finanzrahmens 2007 bis 2013.
Wo stehen wir heute?
Erstens. Der Prozess zu einer europäischen Verfassung befindet sich in einer Denkpause. Einige scheinen
das missverstanden zu haben und meinen, beim Denken
eine Pause einzulegen. In der veröffentlichten Meinung
unseres Landes jedenfalls ist von einer Debatte noch fast
nichts zu spüren. Der D-Plan der Europäischen Kommission hat auch etwas mit Denken, Demokratie, Dialog
und Diskussion zu tun.
Klar ist: Wir brauchen keine Werbekampagnen - weder schöne Fernsehspots noch bunte Plakate. Wir brauchen Erfolg. Erfolg spricht für sich und er spricht für
uns. Jawohl: Die europäische Einigung war bisher insgesamt eine Erfolgsstory.
({0})
Zweitens. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden wie vereinbart begonnen. Die neu gewählte
Bundesregierung steht in der Kontinuität von Konrad
Adenauer über Willy Brandt und Helmut Kohl bis zu
Gerhard Schröder. Diese deutschen Kanzler haben den
Weg vorgezeichnet.
Mit Kroatien erhielt eine ehemals jugoslawische Republik eine Chance und Mazedonien, einem weiteren
Westbalkanland, wurde die Tür geöffnet. Der Beitritt
von Bulgarien und Rumänien Anfang 2007 wurde zu
Recht mit klaren Vorgaben für die zu leistenden Anforderungen verbunden.
Drittens. Besondere Anforderungen stellen wir bei
den Finanzen. Die Vorschau bis 2006, die unser heutiger
Außenminister in damals anderer Position, aber genauso
effektiv und kompetent mitgestaltet hat, ist ein gutes
Beispiel. Sie wurde unter der deutschen Ratspräsidentschaft auf dem EU-Sondergipfel am 26. März 1999 auf
den Weg gebracht.
Ein anderer, der damals in noch wichtigerer Verantwortung war - bis 14 Tage vorher -, ist der jetzige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, PDS/WASG. Er hat
sich dieser Verantwortung bekanntlich entledigt. Damit
sind wir beim Thema Verantwortung. Sie, Herr Dehm,
entledigen sich heute Ihrer Verantwortung, die zum Beispiel die PDS im Europäischen Parlament mit der Zustimmung zur Verfassung übernommen hat, indem Sie
jetzt auf sehr billige Weise polemisieren.
({1})
- Fragen Sie doch Ihre Kollegin Kaufmann! - Deshalb
sind Ihre Ratschläge heute das Letzte, was wir in puncto
Verantwortung für Europa gebrauchen können.
({2})
Wer jetzt einen Finanzkompromiss schmieden muss,
muss aus den Erfahrungen des Jahres 1999 lernen: Die
Axel Schäfer ({3})
deutsche Außenhandelsleistung, mit der wir Platz eins
einnehmen, muss mit unserem Wohlstandsranking
- Platz elf - und der Nettozahlerposition - Platz drei - in
eine politische Balance gebracht werden, die von
14 bzw. jetzt 24 Staaten mitgetragen wird.
Der Kommissionsvorschlag sieht bekanntlich
1,24 Prozent des Bruttonationaleinkommens als Obergrenze vor. Die auch von Deutschland richtigerweise
aufgestellte 1-Prozent-Forderung liegt schon nahe an
dem, was derzeit verhandelt wird.
Hierbei geht es selbstverständlich in erster Linie um
gesicherte Haushaltsentscheidungen. Es geht aber auch
um ein gesichertes Bild von Europa. Nennen wir das
Problem beim Namen: Bei zunehmender Europäisierung
unserer Gesellschaft und wachsender Europanotwendigkeit überall auf dem Kontinent sind wir zugleich mit
dem zunehmenden Nationalismus in vielen Mitgliedsländern konfrontiert. Dieser Nationalismus kommt oft in
großen Zeitungen in Großbuchstaben daher und ist leider
auch schon in den Parlamenten einer Reihe von EUStaaten angekommen. Gerade wir Deutsche können deshalb in Anlehnung an Heinrich Heine heute noch feststellen: „Wenn man am innigsten bei sich ist, gerät man
am heftigsten außer sich.“ Genau das wollen wir aber
nicht.
({4})
Wenn bestimmte Regierungen von Mitgliedstaaten
Glauben machen wollen, Erfolg sei, möglichst viel in
Europa durch das eigene Land verhindert zu haben, dann
ist dies tatsächlich ein Misserfolg. Erfolg ist nämlich,
möglichst viel für das gemeinsame Europa getan zu haben. Das scheinbar Einfache ist in der Tat schwerer geworden. Die Summe aller nationalen Interessen ergibt
nun einmal nicht Europa als Ganzes. Europa als Ganzes
besteht auch in dem Bewusstsein, welches der Vorgänger
von Frank-Walter Steinmeier, Joschka Fischer, einmal
wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Das wichtigste
deutsche Interesse ist die europäische Einigung.“ Jawohl.
({5})
Wir müssen dabei über das Spannungsfeld zwischen
der Legitimation durch unsere Bürgerinnen und Bürger
sowie unserer Verantwortung in Europa sprechen. Ich
sage ganz offen: Für die SPD heißt das, sich im Rahmen
der europäischen Parteienfamilie auch mit Tony Blair
auseinander zu setzen. Für unsere christdemokratischen
Kolleginnen und Kollegen bedeutet das Ähnliches in
Richtung der britischen Konservativen.
Wir wissen, dass am Ende ein Kompromiss in Europa
stehen muss. Die Idee des Kompromisses ist ein Kernelement unserer europäischen Kultur. Wer zum Kompromiss fähig ist, ist zum Frieden fähig. Wer nur zu
Konfrontation bereit ist, ist friedensunwillig. Frieden ist
für uns selbstverständlich geworden, trotz neuer Gefahren des Terrorismus und der Privatisierung von Kriegen.
Aber diejenigen auf der Welt, die in besonders starkem
Maße in realer Kriegsgefahr leben, wissen das europäische Modell oftmals mehr zu schätzen als manche hier
bei uns. Die unbestrittenen Erfolge der EU-Politik gerade im Hinblick auf die 78 AKP-Staaten sind eine
große Hoffnung für den afrikanischen Kontinent - darum geht es in erster Linie -, genauso wie für andere
Großregionen auf der Welt. Die Hoffnung lautet: von
Konfrontation über Kooperation zu einem Konsens zu
kommen. Sprechen Sie doch einmal mit Politikerinnen
und Politikern aus Afrika oder Lateinamerika! Für sie ist
Europa ein Leitmodell. Die Diskussion mit diesen Politikerinnen und Politikern zeigt: Sie betonen in erster Linie
den Wert des Friedens. Wir reden dagegen manchmal
viel zu oft über den Preis des gemeinsamen Marktes.
Bei aller Bedeutung der 1-Prozent-Marge des Haushalts - sie ist richtig und wir werden auf diesem Weg vorankommen - gilt: 1 Prozent ist kein Wert an sich und ist
auch kein Preis für uns. Es ist vielmehr die Balance zwischen Notwendigem und Möglichem, damit wir Europäer dem Wünschbaren ein Stück näher kommen.
Ich erinnere dabei an den diesjährigen 60. Jahrestag
des Endes des schrecklichsten aller Kriege in Europa.
Bei der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald
durch amerikanische Truppen hatten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus 13 europäischen Ländern
ein Manifest vorgelegt. Darin stand: Wir Deutsche müssen in den europäischen Kulturkreis zurückkehren, und
das heißt vor allen Dingen und in erster Linie die Verständigung mit Frankreich und Polen. - Das ist unser
Weg, den wir gehen, den wir gegangen sind und den wir
auch weitergehen müssen.
Zum heute beginnenden EU-Gipfel reisen die neu gewählte Bundeskanzlerin und der neu gewählte Bundesaußenminister mit berechtigten Hoffnungen. Hoffnung
heißt nach Ernst Bloch: ins Gelingen verliebt.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Dr. Dehm das Wort.
Ich bitte Sie ganz herzlich, Kollege Schäfer - ich
weiß, dass Sie es besser wissen -, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir, die Linke, im Europäischen Parlament gegen die EU-Verfassung gestimmt haben, und zwar wegen des Aufrüstungsgebots, wegen des Neoliberalismus,
der unsere Verfassung überlagert, und wegen der Demokratiedefizite. Dann sind die Stimmen von Le Pen, lieber
Jürgen Trittin, mit dem Referendum in Frankreich halbiert worden. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass dies ein
probates Mittel gegen die Rechten war, dass die Linke
dies mitbetrieben hat und dass Oskar Lafontaine sowie
andere Linke große Verantwortung
({0})
bei der Kampagne in Frankreich übernommen haben,
und zwar nicht nur im Parlament, sondern auch außerDr. Diether Dehm
halb des Parlaments, und das Nein wirkungsvoll begründet haben.
({1})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Schäfer.
Kollege Dehm, nehmen Sie zur Kenntnis, dass Frau
Kaufmann, Mitglied der PDS-Fraktion im Europäischen
Parlament, im Auftrag Ihrer Fraktion an der Verfassung
mitgearbeitet, sie begrüßt hat und heute noch verteidigt
und dass Sie sich aus der Verantwortung stehlen.
({0})
Im Übrigen kann ich zu der besonderen europapolitischen Bedeutung von Oskar Lafontaine nur sagen: Wer
1999 als Papst zurückgetreten ist, kann 2005 nicht als
großer Prophet auftreten.
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Thomas Silberhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hatte bis vor zwei Minuten noch die redliche
Absicht, zu dem auf der Tagesordnung ausgewiesenen
Thema zu sprechen. Aber aus aktuellem Anlass möchte
ich doch sagen, dass die Schablone des Neoliberalismus
nicht überall passt.
({0})
Wie ich den Medien in den letzten Tagen entnehmen
konnte, hat die WASG alle Hände voll damit zu tun, die
Neoliberalen in der PDS im Zaum zu halten.
({1})
Ich meine, Sie sind gut mit sich selbst beschäftigt.
Es verdient Erwähnung, dass es bei der finanziellen
Vorausschau der Europäischen Union, dem wichtigsten
Thema des Gipfels, bereits vor der Bundestagswahl eine
große Koalition gegeben hat. Die Union hat von Anfang
an die Verhandlungsführung auch der alten Bundesregierung unterstützt. Das zeigt, dass verantwortliche Oppositionspolitik im Interesse des Landes betrieben werden
muss.
({2})
Ich sage das bewusst auch für die CSU; denn das Thema
finanzielle Vorausschau ist für uns von besonderer,
durchaus ambivalenter Bedeutung. Das ist nach der Bundestagswahl noch augenfälliger geworden. Wenn Sie
sich den Haushalt der Europäischen Union anschauen,
dann werden Sie feststellen, dass etwa 80 Prozent der
Ausgaben der Europäischen Union in Ressorts fallen,
die von zwei Bundesministern der CSU geführt werden,
nämlich in den Bereich Wirtschaft, zu dem sinnvollerweise wieder die europäische Strukturpolitik gehört, und
in den Bereich Landwirtschaftspolitik. Ich werde mir erlauben, auch in Abwesenheit der beiden Minister dazu
einige Bemerkungen zu machen.
({3})
Die Ausgaben zu begrenzen ist sicher die wichtigste
Aufgabe bei dieser finanziellen Vorausschau. Die Obergrenze sollte möglichst nahe bei 1,0 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Insoweit begrüße ich es auch,
dass die britische Präsidentschaft sich getraut hat, eine
Kürzung der Mittel im absoluten Sinne vorzunehmen. Es
ist schlichtweg notwendig, dass auch die Europäische
Union Haushaltsdisziplin übt. Wir können doch nicht
heute in einer der nachfolgenden Debatten die Abschaffung der Eigenheimzulage beschließen und damit und
mit vielen anderen Vorhaben unseren eigenen Bürgerinnen und Bürgern eine Menge zumuten, auf der anderen
Seite aber die Gelder aus Konsolidierungserfolgen, die
wir uns mühsam abringen, auf der europäischen Ebene
in neue Finanztöpfe stecken. Das würde nicht zusammenpassen.
({4})
Die Europäische Union fordert von uns, dass wir unsere
nationalen Haushalte konsolidieren. Das ist - ich darf
darauf hinweisen - auch ein Bestandteil der LissabonStrategie für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es ist
auch eine Anforderung des Stabilitätspaktes, die wir erfüllen müssen. Deswegen muss beides zusammenpassen: europäische Konsolidierung und nationale Konsolidierung. Es kann nicht sein, dass eine finanzielle
Vorausschau beschlossen wird, die unseren Kurs der
Konsolidierung konterkariert.
({5})
Zu diesem Thema gehört auch, dass nicht neue Töpfe
geschaffen werden. Es ist in der Europäischen Union
eine gute Übung gewesen, dass die Obergrenze tatsächlich als eine Obergrenze verstanden worden ist, die auch
unterschritten werden darf. Es war ständige Praxis, dass
die Obergrenze in den letzten Jahren nicht ausgeschöpft
worden ist. Deswegen sollte man auch aufpassen, dass
jetzt nicht versucht wird, die nicht abgerufenen Haushaltsmittel in einen neuen Fonds zu stecken.
({6})
Dazu ist ein Globalisierungsfonds vorgeschlagen worden. Dieser Globalisierungsfonds würde die Probleme
nicht lösen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre eigenen
Aufgaben lösen und nicht neue beschließen, mit denen
im Ergebnis nur das Unterlassen eigener Reformen belohnt werden würde, indem man einen neuen europäischen Finanzausgleich etabliert. Das kann nicht Sinn einer finanziellen Vorausschau sein.
Ich hoffe, dass es gelingt, im Rahmen der Verhandlungen auch einige strukturelle Veränderungen vorzunehmen, die längerfristig von Bedeutung sind. Dazu
gehört, dass man den Britenrabatt reduziert und nach
Möglichkeit in einen allgemeinen Korrekturmechanismus verwandelt. Ich bitte sehr darum, Frau Bundeskanzlerin, dass wir versuchen, das noch einmal zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen. Wir haben nicht
ohne Grund im Koalitionsvertrag auf diesen allgemeinen
Korrekturmechanismus Bezug genommen. Im Ergebnis
ist auch der Britenrabatt nichts anderes als ein Korrekturmechanismus, der durchaus das legitime Anliegen
verfolgt, dass der Beitrag eines Mitgliedstaates in einem
angemessenen Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steht.
Nur: Dieses legitime Anliegen, das dem Britenrabatt
einst zugrunde lag, gilt natürlich für alle Mitgliedstaaten.
Deswegen wäre es sinnvoll, den Britenrabatt durch einen
allgemeinen Korrekturmechanismus zu ersetzen.
Ein weiteres Element einer längerfristigen Reform
wäre, dass man in der Tat, wie es Großbritannien vorgeschlagen hat, die Ausgaben überprüft. Ich habe die Meldungen gestern so verstanden - es ist sehr kompromisshaft allgemein formuliert worden -: Es müssen alle
Ausgaben auf den Prüfstand gestellt werden. Die Briten
sprechen von einem „review“, also von einer Überprüfung, die bis 2013 stattfinden soll. Ich glaube, diese allgemeine Formulierung ist durchaus begrüßenswert, und
zwar einschließlich der Agrarpolitik.
({7})
Damit wird nicht infrage gestellt, dass der Agrarkompromiss bis 2013 besteht. Aber wir können doch nicht
erst 2013 anfangen, darüber zu diskutieren, wie es nach
2013 weitergehen soll; vielmehr sollten wir jetzt den
Einstieg schaffen und den Übergang so vorbereiten, dass
wir unsere Pläne nach 2013 tatsächlich umsetzen können.
({8})
Zur Agrarpolitik. Mein Anliegen ist, dass wir das
Thema „nationale Kofinanzierung“ wieder auf die Tagesordnung setzen. Dieses Thema ist nicht neu: Ausgerechnet bei der großen Erweiterungsrunde 2004 hat man
eine solche Kofinanzierung für die neuen Mitgliedstaaten eingeführt. Man hat es ihnen schmackhaft gemacht,
indem man gesagt hat: Ihr dürft zu den Förderungen
durch die Europäische Union noch selbst etwas hinzuzahlen. Ich glaube, dass es Sinn macht, überall dort, wo
die Europäische Union Geld ausgibt, nationale Verantwortung in Form einer Kofinanzierung zu schaffen:
Wenn man den eigenen Geldbeutel immer dann öffnen
muss, wenn man eine Förderung von einem Dritten haben möchte, dann diszipliniert das eigene Begehrlichkeiten.
({9})
Ich glaube, dass tatsächlich eine realistische Chance
besteht, einen solchen Einstieg in die Kofinanzierung
auch in der Agrarpolitik zu schaffen. Bis 2013 - erst
dann oder danach soll es umgesetzt werden - wird die
Europäische Union wahrscheinlich einige Mitgliedstaaten mehr haben: Rumänien, Bulgarien, Kroatien. Einige
der Länder, die heute Nettoempfänger sind, werden dann
Nettozahler sein, insbesondere Frankreich. Es besteht
durchaus die realistische Chance, dass wir mit Frankreich und Großbritannien zu einer strukturellen Reform
des Ausgabenhorizontes kommen, wenn wir den allgemeinen Korrekturmechanismus und eine Veränderung in
der Agrarpolitik, was die Kofinanzierung angeht, gemeinsam angehen.
Ich will zum Schluss kommen. Die Europäische
Union könnte einen Erfolg durchaus verkraften. Ich lese
allerdings mit Interesse, dass so oft wie selten zuvor von
einem Scheitern die Rede ist. Ich kann nur sagen: Wer
darauf spekuliert, dass es nicht zu einer Einigung
kommt, der muss realisieren, dass die Rahmenbedingungen für einen Kompromiss nicht besser werden. 2006
finden in vielen Mitgliedstaaten Wahlen statt. Wer gar
darauf spekuliert, dass Deutschland die Sache 2007 regeln könnte, dem muss man sagen, Frau Bundeskanzlerin: Wenn die Bundesregierung selbst erst im Jahr 2007
einen Verhandlungsvorschlag vorlegen müsste, dann
hätte die Bundesregierung doch gar keine andere Möglichkeit, als dies auf der Grundlage der eigenen Verhandlungsposition von heute zu tun, und die ist 1,0 Prozent.
Man muss den Partnern sagen, dass ihre Bedingungen
für einen Kompromiss wahrscheinlich niemals wieder so
gut sein werden.
Ich glaube, es gibt die Chance, zu einer Einigung zu
kommen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass
Deutschland eine neue Vermittlerrolle in der Europäischen Union einnimmt. Ich würde es mir wünschen. Ich
wünsche Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, bei den Beratungen viel Erfolg.
({10})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben es heute sehr deutlich gehört und in
unseren Reihen ausgesprochen: Die Erwartungen an die
eigene Regierung, zu einem Erfolg zu kommen, also das
zu schaffen, was hier heute mehrfach dargestellt worden
ist, sind sehr groß. Die Erwartungen sind aber nicht nur
bei uns, sondern - gerade angesichts der großen Koalition - in ganz Europa groß. Man muss hoffen - wir haben entsprechende Vereinbarungen getroffen -, dass
diese große Koalition in Deutschland zentrale Reformen
durchführt und dieses Land wesentlich voranbringt. Hoffen muss man darüber hinaus, dass dies auch für Europa
möglich ist.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, müssen gleich aufbrechen.
Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, das rechte Augenmaß und - ich glaube, es gibt diese Chance - viel Erfolg. Wenn es dann am Ende so kommt, wie Herr
Steenblock, wie ich fand, genialerweise gesagt hat wenn das aus der Opposition kommt, freut einen das
umso mehr; wir alle müssen uns noch ein bisschen daran
gewöhnen, dass das jetzt die Opposition ist und das wir
jetzt so zusammengehören -,
({0})
und wir feststellen können: „Da ist eine Lady Europe zurückgekommen“, dann ist das ein großer Erfolg für
Deutschland, genau im Sinne dessen, was Joschka
Fischer als deutsches Interesse angesprochen hat. In diesem Sinne also eine gute Reise - mit allem, was dazugehört - und insbesondere eine frohe Rückreise! Darauf
freuen wir uns dann besonders.
({1})
Ich fand gut, was der Kollege Stübgen ein Stück weit
ausdifferenziert hat. Er hat diesen wahrhaftig schwierigen britischen Vorschlag einmal ein bisschen auseinander genommen und die konkreten Chancen ein wenig
ausgelotet. Wenn man einfach einmal ganz grundsätzlich
auf diesen Vorschlag schaut, muss man sagen: Eigentlich
steckt da in zwei Richtungen eine ganze Menge von
dem, was auch unser Interesse ist. Es geht darum, einmal
die Zukunftsperspektive, das, was wir in Bezug auf
Wissenschaft und Forschung machen müssen, ganz
vornan zu stellen und zum anderen in Bezug auf die
Agrarpolitik auch wirklich zu Reformen zu kommen,
die die Kosten deutlich mindern, durchaus in dem Sinne,
in dem mein Vorredner das hier angesprochen hat. Diese
Grundrichtungen können wir, denke ich, teilen. Wenn es
gelingt, darauf zumindest langfristige Festlegungen zu
treffen nach dem Motto „Das lasst die Linie sein“, dann
erhoffen wir von Großbritannien, dass es diesen Schritt
zum eigenen Erfolg geht und den eigenen Rabatt etwas
deutlicher als bisher absehbar senkt.
Auch in Bezug auf die anderen Partner in Europa gibt
es gute Chancen. Wir reden immer wieder - ich glaube,
mit Recht - von der großen Bedeutung der deutschfranzösischen Zusammenarbeit. Sie ist aber nicht deshalb so bedeutend, weil wir uns in allen Punkten so nahe
sind, sondern oft gerade deshalb, weil wir in vielen
Punkten in unserer Herangehensweise und auch in unseren Traditionen so unterschiedlich sind. Wenn zwei so
unterschiedliche Partner einen Kompromiss finden, dann
können sich oft auch die anderen in diesem Kompromiss
wiederfinden. Es kommt für die Zukunft darauf an, dass
wir nicht der Little Boy der lieben französischen
Freunde sind, sondern in dieser Kooperation gerade die
eigenen Standpunkte deutlicher machen, als dies vielleicht manchmal geschehen ist, damit sich die anderen
Partner darin wiederfinden können.
Hierbei kommt Deutschland deshalb eine besondere
Bedeutung zu und dabei - auch dieser Punkt wurde
schon angesprochen - spielt das Verhältnis zu den Kleinen eine Rolle. Wir als Deutsche sind eben nicht nur von
Großen, sondern gerade auch in der unmittelbaren Nachbarschaft von vielen Kleinen umgeben. Deutschland
sollte nicht den Anwalt der kleineren Nachbarn spielen
- das klingt so paternalistisch -, aber es sollte die Interessen der kleineren Nachbarn deutlich im Blick haben.
({2})
Dazu gehören die Nachbarn, die jetzt neu Mitglied geworden sind und die nicht die besonderen Lasten dieses
Gipfels tragen können; dies wäre für uns nicht akzeptabel.
Die Europäische Union, die jetzt, wie oft gesagt
wurde, in einer Krise steckt - Axel Schäfer hat noch einmal deutlich dargelegt, an welchen Punkten es Blockaden gegeben hat -, ist eine Erfolgsgeschichte gerade seit
1990 - lange davor natürlich auch -, weil da die Erweiterungsperspektive und die Vertiefung, das heißt diese verstärkte Integration, als parallele Prozesse gelaufen sind.
Das ist ein Wunder. Zu dieser Auffassung komme ich,
wenn ich an die Diskussion Anfang der 90er-Jahre
denke, als es um die Erweiterung ging. Ich erinnere mich
an eine Fülle von Gesprächen, auch im Europäischen
Parlament, in denen gesagt wurde: Wir wollen erst vertiefen und dann schauen, ob wir erweitern können. Wir
haben gemeinsam durchgesetzt, dass die Prozesse parallel laufen. Es war dann ein großes Wunder, dass wir 2004
die Verfassung auf dem Tisch hatten und gleichzeitig die
Erweiterung beschließen konnten und dementsprechend
Staaten neu Mitglied geworden sind.
Diese Parallelität müssen wir beibehalten. Das ist
wichtig auch für das, was jetzt in Aussicht genommen
worden ist. Bei Mazedonien kam dieser Streit noch einmal neu auf. In den nächsten Monaten wird das weiterverfolgt werden müssen. Wir müssen diese Parallelität
fortführen und dürfen nicht ein Nacheinander schaffen.
Denn - hier schaue ich besonders Richtung Westbalkan - es ist ganz klar, dass wir die Probleme um den
Kosovo und des Westbalkans überhaupt nur lösen werden, wenn wir diesen Staaten nicht nur die Perspektive
geben, dass sie irgendwann einen anderen Status erreichen werden, sondern auch unsere Instrumentarien
schärfen, um genau zu sehen, was für den Westbalkan
getan werden kann, sehr konditional, aber wiederum mit
großem Engagement der Europäischen Union. Denn die
Probleme und das Selbstverständnis der Völker in dieser
Region sind von so zentraler Bedeutung, dass wir ein eigenes Interesse daran haben müssen, die Heranführung
dieser Staaten an die Europäische Union mit zu stabilisieren und den Weg in diese Richtung zu festigen.
({3})
Ich halte es - dies soll mein letzter Punkt sein - für
wichtig, dass wir die Erfolgsgeschichte der Erweiterung
nicht absolut setzen und die Erweiterungsperspektive
nicht als einziges Instrument der Stabilisierung ansehen.
Es war und ist richtig, dass die Europäische Union - vielleicht ein wenig spät - die Nachbarschaftspolitik konzipiert hat, um die Nachbarstaaten zu stabilisieren. Diese
Strukturen müssen aber noch flexibler gestaltet werden.
({4})
Wir dürfen in Bezug auf Belarus, die Ukraine oder die
Staaten des nördlichen Afrika nicht nur mit festen Strukturen, die vorher in Aktionsplänen festgelegt worden
sind, vorgehen. Hier brauchen wir eine stärkere Flexibili434
tät. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass die drei Staaten
des Südkaukasus - glücklicherweise ist er jetzt dabei; am
Anfang war er vergessen worden - nur gemeinsam verhandeln können, obwohl sie ganz unterschiedliche Probleme haben und in dieser Region durch viele Probleme
miteinander verflochten sind. Auch da gibt es, glaube
ich, eine Unflexibilität, die wir verändern müssen.
Ein letzter Punkt zu dieser Nachbarschaftsinitiative.
Sie ist im Grunde zur Zusammenarbeit zwischen Staaten
gedacht; das heißt, sie ist sehr etatistisch. Wir müssen
aber und können auch lernen, dass Demokratie nur entstehen und wachsen kann, wenn die Zivilgesellschaften
unterstützt werden. Gerade dafür brauchen wir neue und
bessere Argumente und Instrumentarien. Ich glaube,
dass wir ein neues Instrument für diese Nachbarschaftspolitik schaffen könnten, indem wir eine Freiheits- und
Demokratiestiftung auf europäischer Ebene ins Leben
rufen, um gerade mit Blick auf die Zivilgesellschaften
mehr tun zu können.
Vielen Dank und noch einmal viel Erfolg.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/224 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Beschränkung der
Verlustverrechnung im Zusammenhang mit
Steuerstundungsmodellen
- Drucksache 16/107 ({0})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 16/254 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Frank Schäffler
Christine Scheel
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/256 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({3})
Dr. Gesine Lötzsch
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der
Eigenheimzulage
- Drucksache 16/108 ({4})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
- Drucksache 16/250 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Michelbach
Dr. Volker Wissing
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/257 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({7})
Dr. Gesine Lötzsch
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Einstieg in ein
steuerliches Sofortprogramm
- Drucksache 16/105 ({8})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 16/255 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Carl-Ludwig Thiele
Kerstin Andreae
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/258 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({11})
Dr. Gesine Lötzsch
Zu dem Gesetzentwurf zur Abschaffung der Eigenheimzulage liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP und Die Linke vor. Zu dem Gesetzentwurf zu einem steuerlichen Sofortprogramm liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich eröffne hiermit die Aussprache und gebe Herrn
Abgeordneten Florian Pronold, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten unter diesem Tagesordnungspunkt drei Gesetze. Einige davon sind schon alte Bekannte aus den Diskussionen der letzten Jahre. Es geht
um die Eigenheimzulage, um die Steuerstundungsmodelle, besser bekannt unter Medienfonds, Schiffsfonds
und anderen Anreizen, wie man sein Geld gut vernichten
kann, um Steuern zu sparen, und um das steuerliche Sofortprogramm, bei dem zwei wesentliche Punkte diskutiert worden sind: die Abfindungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Angehörige des
öffentlichen Dienstes und die Absetzbarkeit der Steuerberaterkosten als Sonderausgaben. All das werden wir
heute unter diesem Tagesordnungspunkt beraten.
Die große Koalition hat sich auf die Fahnen geschrieben, Steuersubventionen abzubauen und finanzielle
Fehlanreize im Steuerrecht zu verhindern. Sie will damit
alle öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen und
Spielraum für Zukunftsinvestitionen gewinnen. Unser
Finanzminister Peer Steinbrück hat damit die schwerste
aller Aufgaben in dieser Regierung übernommen. Wir
werden ihn mit Kräften unterstützen, dass diese Maßnahmen umgesetzt werden.
Man kann eine eigenartige Erfahrung machen. Wenn
über den Abbau von Steuersubventionen diskutiert wird,
dann zeigt sich immer, dass alle dafür sind. Aber spätestens dann, wenn es im Parlament zu Beratungen kommt
und es konkret wird, welche Steuersubventionen denn
abgebaut werden sollen, dann spricht man von Steuererhöhungen. Nach den Vorstellungen der FDP sollen alle
Steuersubventionen im Rahmen einer großen Steuerreform abgebaut werden. Wenn es allerdings konkret wird,
dann spricht sie von Steuererhöhungen. Aber an eine
große Steuerreform glaubt eh niemand mehr.
({0})
Wir wollen heute zwei große Schritte machen. Es besteht große Einigkeit darin, die Eigenheimzulage abzuschaffen und Beschränkungen hinsichtlich der Fonds
einzuführen. Wir wollen mit dem steuerlichen Sofortprogramm aber auch erste kleine Schritte gehen. Damit will
die große Koalition Fehlanreize durch Steuersubventionen und Verwerfungen im Steuerrecht beseitigen.
Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist schon
lange in der Debatte. Wir könnten heute wesentlich mehr
Geld im Haushalt haben, wenn die Einigkeit schon früher so groß gewesen wäre, wie sie momentan ist.
({1})
Wir hätten schon vor längerer Zeit mehr Spielraum für
Forschung, Bildung und Zukunftsinvestitionen haben
können.
Auch hinsichtlich der Schiffsfonds und Medienfonds
waren wir uns schon lange einig. Aber der politische
Prozess der letzten Jahre, der vom Streit zwischen Bundesrat und Bundestag geprägt war, ist dafür verantwortlich, dass diese entsprechenden Maßnahmen nicht ganz
so schnell auf den Weg gebracht worden sind, wie wir es
gemeinsam eigentlich vorgehabt hatten. Aber was lange
währt, wird endlich gut. Jetzt sind wir an dem Punkt, an
dem wir diese beiden wesentlichen Schritte gehen wollen. Zu diesen beiden Gesetzen werden meine Kolleginnen von der SPD-Fraktion Ingrid Arndt-Brauer und Gabi
Frechen noch Details nennen.
Für uns war wichtig, dass der Vertrauensschutz als
zentrales Element berücksichtigt wurde. Die Eigenheimzulage wird erst für die Zukunft abgeschafft. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass die Förderung
für die Altfälle bestehen bleibt.
Der Begriff „Vertrauensschutz“ ist auch wichtig mit
Blick auf unser drittes Gesetzgebungsverfahren. Dabei
handelt es sich um ein ganz sensibles Thema. Es geht um
die teilweise Steuerfreiheit der Übergangsgelder für
Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Im Regelfall sind
hier die Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten betroffen, die
in vielen Herren Ländern unter erschwerten Bedingungen und für wenig Lohn ihren Dienst leisten. Diese verlassen sich darauf - so steht es im Gesetz -, dass die
Übergangsgelder zumindest teilweise steuerfrei sind.
Dieselbe Problematik gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren und von Sozialplänen betroffen sind. Diese verlassen
sich darauf, dass sie die ausgerechneten Nettobeträge
auch tatsächlich bekommen. Die Situation ist für beide
Gruppen nicht einfach.
Wir haben aber gesagt, dass dieser grundsätzliche
Schritt sein muss, um die Fehlanreize, die mit der teilweisen Steuerfreiheit der Abfindungen verbunden sind,
zu beseitigen. Denn es gibt große Konzerne, die fette
Gewinne einfahren, die aber die teilweise Steuerfreiheit
nutzen, um sich relativ günstig ihrer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu entledigen. Es kann nicht gewollt
sein, dass der Steuerzahler dafür aufkommt. Deswegen
muss man für die Zukunft diese Fehlanreize beseitigen.
Ich denke, das ist richtig. Wir sind uns in diesem Punkt
einig.
Ich fand es gut, dass die Fraktion der PDS
({2})
- das ist eine spannende Frage; vielleicht sollte man die
Linke als „PDS mit Westimport“ bezeichnen; lassen Sie
mich aber Sie loben - in den Beratungen des Ausschusses grundsätzlich erklärt hat, dass es hier einen Fehlanreiz gibt, den man, wie Sie gesagt haben, im Rahmen einer großen Steuerreform, bei der auch noch andere
Dinge auf dem Tisch liegen, abschaffen muss. Ich fand
es grundsätzlich gut, dass auch dieser Aspekt in der Beratung zum Ausdruck gebracht worden ist.
Wichtig für uns war aber auch, Vertrauensschutz zu
gewähren und denjenigen, die davon betroffen sind und
dies schon jetzt wissen, so weit wie möglich Verlässlichkeit und die Sicherheit zu geben, dass sich für sie nichts
ändert. Deswegen haben wir in einer relativ konfliktfreien, aber doch intensiven Auseinandersetzung in der
großen Koalition den Vertrauensschutz für die Zeitsoldaten auf drei Jahre sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bei denen schon jetzt feststeht, dass sie ihr
Arbeitsverhältnis leider nicht mehr fortsetzen können,
auf die nächsten zwei Jahre erweitert. Dies bedeutet,
dass alle Abfindungen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den nächsten zwei Jahren zufließen,
dann, wenn noch in diesem Jahr klar ist, dass sie betroffen sind, weiterhin der teilweisen Steuerfreiheit unterliegen. Ich denke, es ist ganz wichtig: Wenn man solche
Reformen macht, muss man gleichzeitig immer sagen,
dass es Vertrauensschutz und Sicherheit gibt.
Außerdem steht weiterhin - auch daran darf an dieser
Stelle erinnert werden - die so genannte Fünftelregelung im Gesetz. Das bedeutet, dass bei Abfindungen
eine günstigere Steuerprogression vorgesehen ist, weil
die Abfindungen rechnerisch auf fünf Jahre aufgeteilt
werden. Das ist sozial gerecht. Denn je geringer die Abfindung und das Einkommen sind, umso geringer ist die
steuerliche Belastung und je höher sie sind, desto höher
ist die steuerliche Belastung. Auch das ist ganz wichtig.
Jeder erlebt es - um die Steuerprogression zu erklären beim Weihnachtsgeld. Man ärgert sich über den Lohnzettel, weil höhere Steuern abgezogen werden. Das ist
die Progressionswirkung. Die Abfindung wird durch die
Fünftelregelung auf fünf Jahre aufgeteilt und die Steuerprogression fällt dann deutlich geringer aus.
Vertrauensschutz ist aber nicht der einzige Aspekt.
Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
geht es auch um die Frage der Gleichbehandlung. Deswegen müssen wir bei den nächsten Schritten, die wir im
Rahmen des steuerlichen Sofortprogramms gehen werden, auch daran denken, dass gleiche Lebenssachverhalte in den Blickpunkt geraten. Das betrifft auch die
teilweise Steuerfreiheit bei der Aufgabe von Betrieben
durch Gewerbetreibende oder Landwirte. Auch dies
wird man angesichts der Haushaltslage nicht völlig außer Betracht lassen können und eine Gleichbehandlung
mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie
den Soldaten vornehmen müssen.
Dann - leider mahnt mich die Präsidentin schon blinkenderweise - wäre noch ein Satz zu den Steuerberaterkosten zu sagen. Auch hier geht es darum, einem alten
Grundsatz im Steuerrecht wieder mehr Klarheit zu verschaffen, nämlich dass nach privaten Aufwendungen und
dem getrennt wird, was betrieblich oder werbungskostentechnisch, also durch den Beruf oder die Einkunftsart,
veranlasst ist. Das wird umgesetzt. Es wird einen erklecklichen Betrag bringen, diesen alten Grundsatz einzuhalten. Das ist mit den beiden großen Finanzverwaltungen, der der Länder und der des Bundes, abgestimmt.
Das wird dazu beitragen, dass wir mehr Spielraum dafür
bekommen, wofür wir das alles machen, nämlich in
Richtung Zukunft zu gehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Volker
Wissing, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist noch lange kein finanzpolitisches Konzept.
({0})
Trotzdem: Die Abschaffung der Eigenheimzulage als
solche ist richtig. Die FDP hat immer konsequent gefordert, Subventionen abzubauen und Ausgaben zurückzufahren. Wer die Haushaltskonsolidierung ernst nimmt,
weiß, dass es dazu keine Alternative gibt.
Aber, meine Damen und Herren von der großen Koalition, das Problem an dieser Stelle ist nicht das, was
Sie machen. Das Problem an dieser Stelle ist das, was
Sie nicht machen. Es ist doch kein Konzept, Vergünstigungen abzubauen, wenn nicht gleichzeitig dringend erforderliche Reformen auf den Weg gebracht werden.
({1})
Belastungen stehen bei Ihnen ganz schnell im Gesetz
und Entlastungen stehen bei Ihnen in den Sternen. So
kann man das nicht machen.
({2})
Sie streichen im Jahr 2005 die Eigenheimzulage und
kündigen an, 2007 ein Instrument zur Förderung von
Wohneigentum auf den Weg zu bringen. Sie beschließen
im Jahr 2005 Belastungen für Bauunternehmen und kündigen an, 2008 längst überfällige Reformen im Bereich
der Unternehmensteuern auf den Weg zu bringen. Das ist
keine Politik der kleinen Schritte. Das ist eine Politik des
Stillstands.
({3})
Damit beweist die große Koalition, dass sie in der Lage
ist, sich sehr schnell zulasten der Bürgerinnen und Bürger zu einigen, und sie demonstriert, dass sie schlichtweg unfähig ist, Reformen auf den Weg zu bringen. Genau das können wir nicht akzeptieren.
Noch einmal: Die Eigenheimzulage zu streichen ist
richtig; die FDP wird dem zustimmen, das steht außer
Frage. Aber es ist unverantwortlich, mit den frei werdenden Mitteln Haushaltslöcher zu stopfen. Das wollte die
Union nicht und deshalb dürfen Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union, das auch nicht mittragen.
Sie werden schlichtweg unglaubwürdig, wenn dem heutigen Schritt nicht spürbare Entlastungen folgen.
({4})
Die FDP fordert Sie auf, den begonnenen Subventionsabbau mit klaren Reformen zu begleiten. Die Menschen erwarten das von Ihnen. Sie erwarten, dass Sie
Ihre Zusagen einhalten und unser Steuerrecht vereinfachen. Sie erwarten zu Recht, dass Sie neben den nun erfolgenden Belastungen umgehend Vorschläge zur Entlastung vorlegen.
({5})
Ohne Entlastungen kommt die Binnennachfrage in unserem Land nicht in Schwung. Was das für den Arbeitsmarkt bedeutet, haben wir in den letzten Jahren erlebt.
So schwer Ihnen das gemeinsame Regieren auch fallen
mag: Sie können sich in der großen Koalition nicht wegducken. Sie tragen Verantwortung dafür, dass die Reformen auf den Weg gebracht werden, die unser Land dringend braucht.
„Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“, so steht es über dem schwarz-roten Koalitionsvertrag. Aber, meine Damen und Herren, was ist denn
daran mutig, sich auf das Kürzen, Streichen und Verwalten zu beschränken? „Gemeinsam für Deutschland“
kann doch nicht bedeuten, dass nur die Bürger sparen.
„Gemeinsam für Deutschland“ kann doch nicht bedeuten, dass die einen tapfer ihren Beitrag leisten und die
anderen sich zurücklehnen und Haushaltslöcher stopfen.
Die Menschen sind bereit, Einschnitte hinzunehmen.
Aber sie wollen wissen, wofür. Genau darauf bleiben Sie
heute eine Antwort schuldig.
({6})
Sie kommen mir vor wie ein Häuslebauer, der zuerst
den Balkon errichtet und sagt: Um das Fundament kümmere ich mich später.
({7})
Das funktioniert weder auf dem Bau noch in der Finanzpolitik.
({8})
Mit den heute vorliegenden Gesetzentwürfen haben
Sie den Beitrag der Bürgerinnen und Bürger eingefordert. Jetzt sind Sie an der Reihe. Die Menschen erwarten
von Ihnen, dass umgehend Reformen auf den Weg gebracht werden, die sie entlasten und die ihnen eine Perspektive bieten. Jetzt müssen Sie eine Gegenleistung
erbringen. In der Finanzpolitik bedeutet diese Gegenleistung, eine grundlegende Steuerreform auf den Weg zu
bringen, eine Reform, durch die die Tarife gesenkt werden, um die Binnennachfrage zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen, eine Reform, die zu Vereinfachungen
führt, damit die Menschen wieder verstehen, nach welchen Regeln sie besteuert werden. Die FDP hat dazu
konkrete Vorschläge gemacht. Jetzt sind Sie an der
Reihe.
Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm haben Sie zunächst einen gewaltigen Schritt in die falsche Richtung gemacht. Anstatt mit
Vereinfachungen dafür zu sorgen, dass die Menschen
keinen Steuerberater brauchen, haben Sie den glorreichen Einfall gehabt, dass man die Kosten für den
Steuerberater nicht mehr als Sonderausgaben absetzen
kann. Diese Regelung kann man nur ablehnen.
({9})
Sie ist zynisch und ein Paradebeispiel für eine Politik,
die weit an dem vorbeigeht, was die Menschen in unserem Land brauchen und was sie von der Politik erwarten,
nämlich ein Steuerrecht, das klar und verständlich ist,
einfach und nicht kompliziert. Was Sie hier auf den Weg
gebracht haben, ist das Gegenteil dessen, was wir in der
Finanzpolitik in Deutschland gebrauchen können.
({10})
Meine Damen und Herren, die FDP ist bereit, Sie bei
einer Reformpolitik zu unterstützen. Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sind bereit, Subventionsabbau mitzutragen. Es kann aber nicht angehen, dass Sie
sich darauf beschränken, Subventionen abzuschaffen,
und die Reformen auf die Zukunft vertagen. Die Bauwirtschaft hat keine Perspektive, wenn Sie sagen, dass
die Eigenheimzulage Ende 2005 gestrichen wird und
überlegt wird, wie es im Jahr 2007 in diesem Bereich
weitergeht. Es wird Ihnen sicherlich aufgefallen sein,
dass zwölf Monate des Jahres 2006 dazwischen liegen.
Für diese Zeit müssen Sie der Bauwirtschaft eine Antwort geben. Das tun Sie heute nicht. Deswegen werden
Sie aus dieser Debatte nicht entlassen, ohne dass wir Ihnen Hausaufgaben mitgeben: Sie müssen sich so schnell
wie möglich der Entlastungsseite annehmen. Sie sind
jetzt gefordert; Sie müssen Ihre Gegenleistung erbringen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten das zu Recht
von Ihnen; denn Sie haben es ihnen vor der Wahl versprochen.
({11})
All Ihre Anstrengungen zum Subventionsabbau müssen von Maßnahmen begleitet werden, die Teil eines
Gesamtkonzeptes sind. Wir fordern eine umfassende
Steuerreform, die den Menschen finanzielle Freiräume
eröffnet, anstatt sie weiter einzuengen, und die wirtschaftliche Kräfte freisetzt, statt sie zu beschränken.
Darüber hinaus fordern wir Bürokratieabbau. „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“ die FDP ist bereit, das zu unterstützen. Wir sind gespannt, wann Sie anfangen, Ihr Motto umzusetzen.
({12})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Otto Bernhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jeder von uns muss sich zunächst in die neue
Rolle einfinden. Ich habe mich sieben Jahre lang von
diesem Rednerpult aus kritisch mit der Politik von RotGrün auseinander gesetzt und - in vielen Bereichen gemeinsam mit der FDP - versucht, bessere Alternativen
zu formulieren. Seit 23 Jahren, Entschuldigung, seit
23 Tagen
({0})
bilden wir nun eine große Koalition. Es zeigt sich schon
nach diesen drei Wochen, wie gut wir zusammenarbeiten.
Für mich ist erstaunlich, dass wir heute, nach 23 Tagen,
schon drei grundlegende Gesetzentwürfe zur Steuerpolitik verabschieden können. Das ist ein Beweis dafür, dass
die große Koalition auch und gerade in der Finanzpolitik
handlungsfähig ist.
({1})
Sie wissen, dass die große Koalition bezogen auf die
Haushalts- und Finanzpolitik zwei Ziele gleichzeitig verfolgt. Das sage ich ganz bewusst zu Beginn meiner Ausführungen, bevor ich auf die Gesetzentwürfe im Einzelnen eingehe. Wir wollen gleichzeitig die öffentlichen
Finanzen nachhaltig stabilisieren und die Wachstumskräfte fördern. Sie von der FDP wissen natürlich genau,
dass heute der eine Teil verabschiedet wird und dass das
Bundeskabinett wahrscheinlich schon in der nächsten
Woche den zweiten Teil mit der Überschrift „Förderung
von Wachstum und Beschäftigung“ verabschieden wird;
denn selbstverständlich wollen wir beide Ziele gleichzeitig erreichen.
({2})
Unser Problem ist - jetzt muss ich doch ein wenig kritisch auf die linke Seite des Hauses schauen, auch wenn
ihr jetzt unsere Partner seid -: Die finanzielle Situation
Deutschlands ist deutlich schlechter, als die Mehrzahl
der Bevölkerung zur Kenntnis genommen hat.
({3})
- Ich wage sogar die Aussage, dass es auch im Deutschen Bundestag noch manchen gibt - damit meine ich
jetzt nicht Sie, Herr Kollege Poß -, dem nicht klar ist,
wie die finanzielle Situation der öffentlichen Hand wirklich ist.
({4})
Wir werden in diesem Jahr zum vierten Mal das
Maastricht-Kriterium verletzen.
({5})
Es sieht nach 3,9 Prozent aus. Die 0,9 Prozentpunkte, die
wir über dem Oberwert liegen, bedeuten, dass wir das
Maastricht-Kriterium um mehr als 25 Prozent verfehlen.
Sie, Herr Thiele, haben völlig Recht, das wird auch im
nächsten Jahr der Fall sein. Schauen Sie sich die Zahlen
an: Im nächsten Jahr hätten wir, wenn wir nichts machten - wir handeln aber schon heute -, eine Haushaltslücke in der Größenordnung von 65 Milliarden Euro.
Allein um das Maastricht-Kriterium 2007 zu erfüllen
- darüber hinaus wollen wir aber auch die Anforderung
des Grundgesetzes, nicht mehr Schulden als Investitionen, erfüllen -, müssen wir eine Lücke in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro überwinden. Das ist nur
möglich, wenn man auf der einen Seite Ausgaben senkt
- das wird aber keine 30 Milliarden Euro erbringen und auf der anderen Seite die Einnahmen erhöht. So ist
das nun einmal.
Das, was wir heute verabschieden, dient natürlich
ausschließlich dem ersten Ziel: Stabilisierung der
Staatsfinanzen. Ich nenne Ihnen die Größenordnung:
Die drei Gesetze werden im nächsten Jahr knapp
1 Milliarde Euro mehr Steuereinnahmen bringen, im
Jahre 2007 rund 4 Milliarden Euro und in der gesamten
Legislaturperiode etwa 16 Milliarden Euro. Das ist ein
wichtiger Beitrag. Wenn ich mir die drei Gesetze anschaue, stelle ich fest, dass wir mit dem ersten genau das
machen, was alle gefordert haben: Subventionsabbau.
Es ist eine Subvention, wenn im Rahmen von Sozialplänen, die Großfirmen vorlegen, hervorragende Abfindungen gezahlt werden und die Steuervergünstigungen
sozusagen von den kleinen Leuten finanziert werden.
({6})
Es ist richtig, dass wir diese Subvention abschaffen. Ich
sage sehr deutlich: Wir haben noch nie so großzügige
Übergangsbestimmungen geschaffen wie dieses Mal. In
der Vergangenheit sind die Beträge oft reduziert worden,
dieses Mal werden sie - mit hervorragenden Übergangsregelungen - abgeschafft.
Was die Steuersparmodelle anbetrifft, die wir heute
gemeinsam abschaffen wollen - ich finde es gut, dass
alle fünf Fraktionen mitmachen -, kann ich nur die Frage
stellen: Warum hat Rot-Grün das in den letzten sieben
Jahren nicht gemacht? Von Ihnen höre ich dann die
Frage: Warum ihr nicht in den 16 Jahren davor? Das
bringt nichts. Ich finde es gut, dass wir diese Modelle
heute gemeinsam abschaffen.
Es gab nur einen Streitpunkt, der uns Bauchweh bereitet hat. Das ist die Frage des Datums. Sie wissen, die
alte Regierung hatte die Absicht, am 10. November eine
Entscheidung zu treffen. Das hat nicht ganz funktioniert.
Die Entscheidung fiel dann am 24. November. Unter
dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes spricht vieles
für den 24. November; das ist mir völlig klar. Wir wollen
Gesetze - möglichst auch in Zukunft - nicht rückwirkend in Kraft setzen. Nur, wen schützen wir damit? In
den 14 Tagen ist so viel Geld gezeichnet worden, dass
die Steuerausfälle 500 Millionen Euro betragen. Das
kann man nicht verantworten. Wen schützen wir hier
wirklich? Schauen Sie sich die Verträge an. Fast alle derjenigen, die seit März gezeichnet haben, haben Rücktrittsklauseln unterschrieben. Das heißt, sie treten jetzt
alle zurück. Sie haben, um es klar zu sagen, keinen Schaden.
({7})
Deshalb muss ich sagen: Angesichts der Tatsache, dass
wir alle gemeinsam solide Finanzen wollen, können wir
auf diese 500 Millionen Euro leider nicht verzichten.
Jetzt komme ich zu dem Thema Eigenheimzulage. In
der Tat: Ich habe die Eigenheimzulage von diesem Platz
aus bestimmt ein halbes Dutzend Mal verteidigt. Auch
im Ausschuss habe ich sehr deutlich gesagt, dass es mir
nicht leicht fällt, sie aufzugeben. Wir wollten mit der
Abschaffung der Eigenheimzulage etwas völlig anderes
erreichen - da haben Sie völlig Recht -: Wir wollten die
enormen Mittel, die durch die Abschaffung dieses Instruments frei werden, nutzen, um den Steuertarif insgesamt zu senken. Nur - jetzt komme ich auf den Ausgangspunkt zurück -, angesichts der finanziellen
Situation haben wir leider keinen Spielraum.
({8})
Deshalb müssen die Einsparungen leider vollständig benutzt werden, um den Haushalt zu sanieren.
Ich sage aber genauso deutlich: Wir haben mit der Eigenheimzulage zwei Ziele verfolgt. Beide geben wir
nicht auf. Das erste Ziel, das wir verfolgt haben, lautete:
möglichst viel Wohnungseigentum in Privatbesitz. Dies
geben wir nicht auf. Wir werden noch in diesem Jahr die
gesetzlichen Grundlagen schaffen. Im Koalitionsvertrag
steht, dass privates Wohneigentum in die geförderte private Altersvorsorge einbezogen wird. Wir arbeiten bereits an entsprechenden gesetzlichen Überlegungen.
({9})
Natürlich wissen auch wir, dass die Eigenheimzulage
manchen Mitnahmeeffekt hatte. Manches Haus wurde
nur aufgrund der Eigenheimzulage gebaut. Das wird
jetzt nicht mehr geschehen.
({10})
Was die Abschaffung der Eigenheimzulage für die
Bauwirtschaft bedeutet, wissen wir alle. Ich erlaube mir
nur den Satz: Wir alle wissen, dass es der Bauwirtschaft
- vorsichtig ausgedrückt - nicht sehr gut geht. Deshalb
werden in dem Gesetz, das ich eben angekündigt habe,
umfangreiche Maßnahmen vorhanden sein, um die Altbausanierung zu fördern. Das ist auch unter den Gesichtspunkten Umweltschutz und Energiekostenersparnis ein wichtiger Beitrag. Das werden wir, wie ich
vermute, im März oder April des kommenden Jahres
verabschieden.
Das heißt, dass die beiden Ziele, die wir mit der Eigenheimzulage verfolgt haben, im Mittelpunkt unserer
Überlegungen bleiben: Das Ziel mehr Wohnungseigentum wird verfolgt über die Einbeziehung in die private
Altersvorsorge. Das Ziel Aufträge für die Bauwirtschaft
wird über eine verstärkte Förderung der Sanierung herbeigeführt. Ich glaube, das ist ein wichtiger Beitrag.
({11})
In den letzten drei Wochen haben wir im Finanzausschuss - das sage ich sehr deutlich - bis an die Grenze
des Zumutbaren arbeiten müssen, damit wir heute abstimmungsreife Gesetze vorlegen können.
({12})
- Frau Kollegin Scheel, wahrscheinlich gab es früher
keine Abstimmungen zwischen den Grünen und der
SPD. Ihr habt alles geschluckt, was sie vorgeschlagen
haben. Jetzt sind die Partner aber gleich stark. Wir müssen uns abstimmen und das ist hervorragend gelungen.
Das war nicht einfach; wir mussten uns an das neue System gewöhnen.
Deshalb sage ich allen Mitgliedern des Finanzausschusses an dieser Stelle ein Dankeschön für ihre konstruktive Mitarbeit. Das richtet sich nicht nur an die Mitglieder der Regierungsfraktionen, sondern auch an die
Mitglieder der drei anderen Fraktionen. In diesen Dank
schließe ich ausdrücklich - denn sie mussten viel leisten - die Mitarbeiter des Sekretariats des Finanzausschusses ein.
Auch mit Blick auf die Regierungsseite kann ich nur
sagen: Mit dem Ministerium haben wir hervorragend zusammengearbeitet. Ein Dankeschön geht daher auch an
Frau Dr. Hendricks; denn die Zusammenarbeit hat hervorragend geklappt. In Zukunft müssen wir die Zeiten
allerdings ein bisschen großzügiger ansetzen; denn die
Belastbarkeit von unabhängigen Abgeordneten ist begrenzt.
({13})
Ich fasse zusammen: Mit unserem heutigen Programm - indem wir also die drei vorliegenden Gesetzentwürfe verabschieden - haben wir einen ersten wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Staatsfinanzen nachhaltig
zu sichern. An dieser Stelle werden wir - ich vermute,
im März oder April - noch weitere Gesetzentwürfe verabschieden, um auch Wachstum und Beschäftigung zu
fördern.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Mein Eindruck ist - ein Blick in die Zeitungen beweist das -, dass
sich die Stimmung in Deutschland seit der Regierungsübernahme durch die große Koalition vor 23 Tagen
schon deutlich verbessert hat.
({14})
Der Professor, bei dem ich Volkswirtschaftspolitik studiert habe, Herr Schiller,
({15})
hat uns Studenten immer wieder gesagt, Wirtschaft ist zu
51 Prozent Psychologie. Lassen Sie uns also gemeinsam
dafür sorgen, dass sich die Stimmung in Deutschland
auch in Zukunft verbessert! Dann geht es in Deutschland
weiter bergauf und wir schaffen mehr Wachstum und
mehr Beschäftigung.
({16})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich mich zu den einzelnen Gesetzentwürfen äußere, möchte ich Ihnen, Herr Bernhardt, sagen: Natürlich
ist es richtig, dass Wirtschaft sehr viel mit Psychologie
zu tun hat. Aber eine wesentliche Grundlage für die Aufarbeitung psychologischer Probleme und für die Herbeiführung einer ordentlichen psychologischen Situation ist
sicherlich Ehrlichkeit. Deswegen muss ich betonen, dass
die Haushaltssituation, in der sich die öffentliche Hand
befindet, hausgemacht ist. Sie ist insbesondere durch die
rot-grüne Regierungspolitik der letzten sieben Jahre entstanden. Davor kann man nicht die Augen verschließen.
({0})
Man muss feststellen: Seit dem Jahr 2000, also seit
fünf Jahren, konnten sich vor allem große Unternehmen
über massive Steuergeschenke freuen. Das kann und
möchte ich mit Zahlen belegen - denn es heißt immer
wieder, das sei nicht so gewesen -: Die tatsächliche
Steuerbelastung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen in der Bundesrepublik Deutschland ist in
den letzten fünf Jahren von durchschnittlich 29 Prozent
auf 20 Prozent - sprich: um 9 Prozentpunkte - gesunken. Von 1998 bis 2004 stiegen die Unternehmens- und
Vermögenseinkommen spiegelbildlich dazu von 412 Milliarden Euro auf 482 Milliarden Euro. Im gleichen
Zeitraum sank der Umfang der auf diese Einkommen abgeführten Steuern von 101 Milliarden Euro auf 96 Milliarden Euro. Der Staat hat also auf Steuereinnahmen
verzichtet.
Auch der tatsächliche Steuersatz auf Einkommen von
Kapitalgesellschaften sank von 21 Prozent im Jahr 1998
auf 15 Prozent im Jahr 2004. Der reale Steuersatz auf
alle Unternehmens- und Vermögenseinkommen sank
ebenfalls: von 24 Prozent auf 20 Prozent. Überall Senkungen, Senkungen, Senkungen. Bei denen, die es wirklich haben, kommt dadurch natürlich mehr an.
Vergleicht man diese Entwicklung mit der Steuerbelastung der Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - es wird ja immer betont, dass Sie durch
Ihre Steuerreformen auch etwas für die kleinen Leute getan hätten -, so stellt man fest, dass auch diese zwischen
1998 und 2004 sank: um 1 Prozentpunkt. Das zeigt eindeutig die Schieflage, in der wir uns befinden.
({1})
Herr Steinbrück hat in der Debatte über die Regierungserklärung betont, dass er ein Einnahmeproblem
hat. Auch hier kann ich ihm nur zustimmen. Allerdings
sollte er die Lösung dieses Problems an der richtigen
Stelle angehen.
({2})
Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu schaffen, wurden die Gewinner der rot-grünen Politik - die
gewinnträchtigen Unternehmen und die Vermögenden immer aufgefordert. Doch sie haben es Ihnen nicht ganz
so gedankt, wie Sie es sich erhofft hatten. Dazu nur zwei
Hiobsbotschaften von dieser Woche - sie sprechen eine
klare Sprache -: Die Telekom hat angekündigt,
32 000 Stellen abzubauen, und 1 700 Arbeitsplätze sind
betroffen von der Schließung des Stammwerkes der
AEG; die Produktion soll nach Polen verlagert werden.
Deutschland hat im Gegensatz zu den anderen EUStaaten gleich zweimal das Säckel über die Vermögenden ausgeschüttet: Einerseits wurden die Steuersätze
drastisch gesenkt und zum anderen wurden die Möglichkeiten zur Steuervermeidung in ihrer Vielfältigkeit sogar
noch erweitert. Das muss man sich wirklich auf der
Zunge zergehen lassen: Sie haben dazu beigetragen, dass
völlig neue Möglichkeiten entstanden sind, wie man
ganz legal Steuern sparen kann. Ich nenne nur drei Beispiele: Erstens. Die volle steuerliche Absetzbarkeit von
Aufwendungen trotz Steuerfreiheit entsprechender Erträge. Zweitens. Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen. Drittens. Die Verlustverrechnung in Organschaften. Drei Beispiele einer absolut widersinnigen
Politik.
({3})
Mit Ihren Taten haben Sie Ihre Worte Lügen gestraft.
Sie haben doch immer verkündet, Sie wollen die Steuersätze senken, aber gleichzeitig die Bemessungsgrundlage verbreitern; so sollten gleichzeitig insgesamt mehr
Steuern eingenommen werden. In anderen europäischen
Ländern wurde eine solche Politik tatsächlich durchgeführt, mit der Folge, dass sich die reale Steuerbelastung
von Unternehmens- und Vermögenseinkommen sogar
erhöht hat. Auch hierzu drei Beispiele: In Frankreich erhöhte sich die effektive Steuerbelastung um 6 Prozentpunkte, in Großbritannien um 3 Prozentpunkte, in Irland
sogar um 10 Prozentpunkte.
({4})
Aber hier bei uns - nichts. Und im Gegensatz zu uns haben es die anderen Länder auch noch geschafft, ihre Arbeitslosenquoten zu senken und tatsächlich mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Auch das ist bei uns
offenkundig fehlgeschlagen.
({5})
Die Verarmung der öffentlichen Hand, die man konstatieren muss, führt natürlich dazu, dass man, wohin
man auch schaut, feststellen muss: Wir haben eine
enorm angestiegene Staatsverschuldung, allein seit
1990 um umgerechnet 500 Milliarden Euro. Wenn man
durch die Städte und Gemeinden geht, sieht man, dass
die öffentliche Hand ihre Aufgaben offenkundig nicht
mehr so erfüllen kann, wie es nötig wäre. Schauen Sie
sich die Schulen an, etwa das Ostwald-Gymnasium in
Leipzig - eine der besten Schulen deutschlandweit, mit
auch im internationalen Vergleich beachtlichen Ergebnissen -: Von außen sieht es aus wie kurz vor dem Zusammenbrechen. Es geschieht nichts; die Kommunen
haben zu wenig Geld,
({6})
auch dank der Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung.
Nun sagen Sie: den Haushalt sanieren, Investitionen
ankurbeln, das Steuerrecht vereinfachen, eine Steuerpolitik aus einem Guss. Wunderbar - wenn Sie es denn
so täten! Herr Pronold hat vorhin gesagt, was wir heute
verabschieden, sind zwei große und mehrere kleine
Schritte. Im Ausschuss war gestern von der Politik der
kleinen Schritte die Rede. Ich will mich hier nicht über
Formulierungen streiten; die sind mir eigentlich egal.
Wichtig ist, dass die Politik, die Sie machen, wenigstens
stringent sein sollte. Und sie muss sozial ausgewogen
sein. Einen geringeren Anspruch sollten wir an unsere
Politik nicht stellen.
({7})
Da muss ich sagen: Gut, dass Sie endlich etwas gegen
die Steuerstundungs- und -sparmodelle unternehmen.
Auch wir sind natürlich dafür, dass diese Modelle geschlossen werden. Die Zahl, die Herr Bernhardt nannte,
verdient es, wiederholt zu werden: Zwischen dem
11. November und dem 24. November 2005 wurden so
viele Fondsanteile gezeichnet, dass es zu Steuerausfällen
von 500 Millionen Euro kommen würde. Deshalb sind
wir auch dafür, dass das Gesetz entsprechend dem hier
vorliegenden Entwurf verabschiedet wird: mit Geltung
ab 11. November; anders geht es nicht. Ich möchte Sie
dazu allerdings noch fragen: Warum haben Sie überhaupt so lange gewartet, diese Modelle zu schließen?
Ein nächster Punkt: Die Abschaffung der Eigenheimzulage. Sie ist richtig und wir als PDS tragen dies mit; es
steht auch in unserem Steuerkonzept.
({8})
- Entschuldigung, jetzt die Linkspartei bzw. Die Linke
im Bundestag. Wobei es richtig ist: Das Steuerkonzept
stammt noch von der PDS.
Wir als Linke im Bundestag tragen die Abschaffung
der Eigenheimzulage mit. Ich muss Sie aber trotzdem
kritisieren, weil auch diese Politik nicht stringent ist. Sie
wollen die Eigenheimzulage und die degressive Abschreibung beim Mietwohnungsbau abschaffen. Diese
beiden Maßnahmen sind der Bauwirtschaft nicht gerade
zuträglich.
({9})
Gleichzeitig wollen Sie privates Wohneigentum im Jahr
darauf, im Jahr 2007, stärker in die private Altersvorsorge einbeziehen. Leider liegt ein Jahr dazwischen.
Ich glaube, es ist wichtig, dass man ein Zeichen setzt
und beim notwendigen Städteumbau wirklich etwas tut:
generationenübergreifend, kinderfreundlich, altersgerecht und barrierefrei. Das vermisse ich.
({10})
Wir schlagen deshalb vor - dabei sind wir gar nicht so
originell; wir greifen auf Ihren Vorschlag aus dem Entwurf eines Haushaltssanierungsgesetzes 2004 zurück -:
Verwenden Sie wenigstens einen Teil der Mittel für ein
zielgerichtetes Städteumbauprogramm - ich schlage ein
Drittel vor -, sodass wir auch die Sicherheit haben, dass
das eingesparte Geld nicht einfach zum Stopfen von
Haushaltslöchern genutzt wird.
Lassen Sie mich zu einem weiteren großen Vorhaben
im Rahmen dieser Gesetze kommen, und zwar zur Streichung der steuerlichen Freibeträge bei Abfindungen.
Eine solche Streichung ist alles andere als gerecht.
({11})
Ich möchte mit Ihnen nicht über die großen Abfindungen
diskutieren. Aber haben Sie sich einmal ausgerechnet,
was das für eine Verkäuferin bedeutet? Ich mache es Ihnen gerne einmal deutlich: Eine Verkäuferin bezahlt
ohne Solizuschlag und ohne Kirchensteuer 4 680 Euro
Steuern im Jahr bei einem Bruttojahreseinkommen von
26 400 Euro, das heißt 2 200 Euro monatlich. Wird sie
entlassen, bekommt sie drei Monatsgehälter Abfindung,
also 6 600 Euro, auf die sie nach der derzeitigen Regelung keine Steuern zahlen müsste. Wenn Sie die Steuerfreiheit streichen und diese Einkünfte zukünftig besteuern, dann bedeutet das, dass die Verkäuferin 2 000 Euro
von ihrer Abfindung verliert. Das, denke ich, ist nicht
zielführend.
({12})
Ich weiß, dass eine Übergangsregelung vorgesehen ist.
Trotzdem ist das ungerecht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Spiller?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin Dr. Höll, Sie haben uns einen schriftlichen Änderungsantrag vorgelegt. Wären Sie so gut, dem
Hause zu erklären, wie Sie sich das Verfahren vorstellen
und wie Sie das mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung bringen wollen, wenn Sie uns bitten:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD … zu ändern:
Wie ist das mit dem Parlamentarismus vereinbar?
({0})
Herr Spiller, darüber haben wir doch schon gestern im
Ausschuss diskutiert. Ich habe Ihnen erklärt, dass das ein
Fehler ist und dass wir das korrigiert haben. Wenn das
bei Ihnen noch nicht angekommen ist, dann tut mir das
Leid. Ihnen ging es gerade aber nicht um den Inhalt. Sie
wollen nur vom Thema ablenken. Es bleibt dabei: Sie
wollen die Steuerfreiheit von Abfindungen streichen.
Das ist sozial ungerecht.
({0})
- Die Rechnung ist richtig. Das wissen Sie, Herr
Binding.
Ich möchte positiv anmerken, dass Sie wenigstens für
die Soldatinnen und Soldaten eine kleine Übergangsfrist
geschaffen haben. Dieser haben wir im Ausschuss zugestimmt. Insgesamt ist das, was Sie hier vorlegen, aber
sehr mangelhaft. Das wird Ihre Probleme nicht lösen.
Des Weiteren haben Sie vor, dass Steuerberatungskosten steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden
können. Die Möglichkeit, Steuerberatungskosten abzusetzen, wollen Sie allerdings nicht ganz abschaffen, sondern nur für den Bereich der privaten Aufwendungen;
das gilt letztendlich also nur für die Anlage K. In der
Anhörung wurde Ihnen dazu selbst vom Vorsitzenden
der Deutschen Steuergewerkschaft gesagt, dadurch
würde quasi die ganze Soße teurer als das Fleisch, das
darin ist. Das würde dazu führen - ich nenne das einmal
zivilen Gehorsam -, dass Menschen, weil sie die Steuerberatungskosten nicht mehr absetzen und sich diese
nicht mehr leisten können, ins Finanzamt gehen - nicht
nur einer, sondern hundert, wahrscheinlich aber tausend
oder zehntausend - und sich, wie es ihr Recht ist, im
Finanzamt beraten lassen. Das wird uns viel teurer kommen.
Herr Steinbrück, ich fordere Sie auf, Ihre Politik konsequent zu gestalten. Stärken Sie die Einnahmeseite mit
Maßnahmen, die wir Ihnen als Linke im Bundestag vorgeschlagen haben, nämlich durch die Wiedereinführung
der Vermögensteuer, durch die Reform der Erbschaftsteuer oder durch die Einführung einer Börsenumsatzsteuer, sodass der Staat mehr Geld einnimmt.
({1})
Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Sie wirklich umsetzen könnten, wozu Sie aber Mut brauchen.
Bringen Sie diesen Mut auf und machen Sie eine sozial
gerechte Finanz- und Steuerpolitik!
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bernhardt, ich finde es enorm, dass Sie
schon nach 23 Tagen Konditionsschwäche zeigen. Die
Gesetze, die hier vorgelegt werden - es geht um die Eigenheimzulage und die Abschaffung der Fonds -, haben
nicht Sie erfunden. Über diese Gesetze ist schon vor einiger Zeit - schon vor den Neuwahlen und vor der großen Koalition - diskutiert worden. Sie hatten genügend
Zeit, sich damit auseinander zu setzen. Jetzt bedauern
Sie, dass Sie das nicht getan haben.
In diesen 23 Tagen haben Sie auf einmal gemerkt, wie
die Situation eigentlich ist und dass es vielleicht doch
notwendig ist, eine derart hohe Subvention wie die Eigenheimzulage abzuschaffen, ohne auf andere Steuereinnahmen zu verzichten. Das finde ich schon ein starkes
Stück. Hier zeigen Sie Konditionsschwäche. Ich bin gespannt, wie es hier in den nächsten Jahren weitergeht.
({0})
Natürlich wird die Abschaffung der Eigenheimzulage von uns begrüßt. Das haben wir immer gesagt. Die
Abschaffung der Eigenheimzulage ist richtig. Sie führt
zu Fehlallokationen auf dem Wohnungsmarkt. Als die
Eigenheimzulage eingeführt wurde, herrschte Wohnungsnot. Diese Situation haben wir heute nicht mehr.
Die Bauzinsen sind auf einem anhaltend niedrigen Niveau. Insofern ist es richtig, diese Subvention jetzt abzuschaffen.
Es gab ja viele Anläufe. Dies ist der dritte Anlauf und
jetzt springen Sie endlich. Im Jahr 2003 haben wir sogar
noch überlegt, im Rahmen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes - dieses Gesetz haben Sie übrigens nur mit
sehr spitzen Fingern angefasst - die Eigenheimzulage
neu zu fassen und mit einer Kinderkomponente zu versehen. Diesen Vorschlag finde ich im Übrigen gar nicht
falsch. Sie haben das weit von sich gewiesen. Aus Ihren
Reihen kam damals die Rechnung, dass man dann
33 Kinder bekommen müsse, um die gleiche Eigenheimzulage zu erhalten wie vorher. Ich bin ganz froh, dass das
den Frauen erspart bleibt.
({1})
Insgesamt muss ich aber schon sagen, dass Sie sehr spät
Einsicht gezeigt haben, dass es richtig ist, diese Subvention abzubauen.
({2})
Es war auch in hohem Maße unverantwortlich. Sie
haben die Haushaltssituation zu Recht und mit Verve beklagt. Wir alle wissen, dass die Haushaltssituation prekär
ist. Über Jahre hinweg haben Sie jedes Jahr verhindert,
dass wir weniger Ausgaben durch die Abschaffung dieser Subvention haben. Das war unverantwortlich. Also
noch einmal: Es ist eine gute Einsicht, die Sie jetzt endlich haben, sie kommt aber sehr spät.
({3})
Richtig ist: Wir müssen Regelungen finden, um das
Wohneigentum in die geförderte Rente zu integrieren.
Wir sollten uns nicht viel Zeit dabei lassen. Sie haben
das angekündigt. Wir sind sehr gespannt, was da kommt.
Zweites Thema, das steuerliche Sofortprogramm. Ich
hätte die Union in ihren Oppositionszeiten einmal erleKerstin Andreae
ben wollen, wie sie diesen Titel kommentiert hätte,
wenn man ein steuerliches Sofortprogramm mit fünf,
sechs Einzelmaßnahmen, mit denen Mehreinnahmen
von 1,2 Milliarden Euro verbunden sind, ganz groß angekündigt hätte. Die Hälfte dieser Mehreinnahmen von
1,2 Milliarden Euro, also 600 Millionen Euro, soll durch
die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für eine
Steuerberatertätigkeit erzielt werden. Das ist der
Grund, weshalb wir diesem Gesetz nicht zustimmen
werden. Wir halten es nämlich für fatal, dass Sie diese
600 Millionen Euro in dem Finanztableau als Einnahmen anführen, die wir über diesen Sonderausgabenabzug erzielen.
({4})
Sie wissen ganz genau, was passiert: Die Erstellung des
Mantelbogens und der „Anlage Kinder“ werden nicht
mehr abzugsfähig sein. Alles andere bleibt abzugsfähig.
({5})
Sie wissen ganz genau, dass sich die Steuerberater bei
einer Situation wie dieser normalerweise melden, auf
den Putz hauen und sagen: Hier ist der ganze Berufsstand bedroht, hier passiert Dramatisches mit den Arbeitsplätzen. - Sie haben gestern im Finanzausschuss gesagt, dass man nicht mehr so viele Briefe bekomme,
wenn man in der Opposition sei. Ich glaube, das ist nicht
der Fall. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie genau wissen,
dass diese Berechnung falsch ist, dass die Steuerberater
in der Lage sein werden, dies mit zwei Rechnungen, die
sie dann erstellen müssen, zu umgehen. Und - das haben
Sie gestern in der Sitzung des Finanzausschusses ja sogar angekündigt - Sie wollen einen Teil der Maßnahmen
im nächsten Jahr sofort wieder rückgängig machen,
wenn es um die steuerliche Absetzbarkeit bei Minijobs
geht. Für diejenigen, die in die Kinderbetreuung investieren und quasi als Arbeitgeber auftreten, werden Sie
das wieder rückgängig machen. Das heißt, Sie schlagen
eine Maßnahme vor und kündigen schon jetzt an, sie in
einem halben Jahr zum Teil wieder zurückzunehmen.
Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz lehnen wir das
ab. Wir halten das für einen falschen Schritt. Nicht jede
Abschaffung im Steuerrecht bedeutet eine Vereinfachung. Deswegen wenden wir uns gegen diese Maßnahme und können diesem Gesetz nicht zustimmen.
({6})
Ich möchte noch etwas zu den Fonds sagen. Grundsätzlich stimmen wir diesem Gesetz und damit der Einschränkung der Verlustverrechnung zu, haben aber ein
deutliches Problem mit der Stichtagsregelung; darauf
wird Frau Scheel nachher noch eingehen.
({7})
Bei den erneuerbaren Energien haben Sie im Koalitionsvertrag ein hohes Ziel vereinbart. Sie wollen den
Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent erhöhen. Wir hätten da weiter gehen können, aber bis 2020
einen Anteil an erneuerbaren Energien von 20 Prozent
zu erreichen, ist ein richtiges Ziel. Man muss dann aber
auch die probaten Mittel zur Förderung der erneuerbaren
Energien einführen. Wenn Sie jetzt aus unterschiedlichen Gründen die Verlustverrechnung auch für Fonds
von erneuerbaren Energien abschaffen wollen, sollten
Sie gleichzeitig überlegen, welche Möglichkeiten Sie
haben, Anschubfinanzierungen im Bereich erneuerbarer
Energien zu gewährleisten, damit Sie dieses richtige
Ziel, das Sie im Koalitionsvertrag angekündigt haben,
einhalten können.
Ich wehre mich für die grüne Fraktion ganz deutlich
gegen den Vorwurf, dass wir Klientelpolitik betreiben.
Wir machen Zukunftspolitik, weil es richtig ist, erneuerbare Energien zu fördern. Ich hoffe, dass Sie bei diesem
Zukunftsthema „Weg vom Öl und hin zu erneuerbaren
Energien“ noch Vorschläge unterbreiten, wie wir das erreichen können. Ich bin gespannt, welche Vorschläge Sie
uns dazu machen werden.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Sie haben eine
Politik der kleinen Schritte angekündigt. Dieser Ankündigung werden Sie mit dem vorliegenden Gesetz gerecht. Damit machen Sie wirklich kleine Schritte. Ich
hoffe, dass Ihre Schritte in der nächsten Zeit ein bisschen
größer werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Wissing, natürlich ist es in einer parlamentarischen Debatte erlaubt, rhetorisch eine Art Pappkameraden aufzubauen und dann mit dem gesamten Waffenarsenal von Sir Lancelot auf dem Turnierplatz gegen
diesen Pappkameraden anzutreten. Ich will damit sagen:
Niemand von der Koalition oder der Bundesregierung
hat behauptet, dass mit den drei Gesetzesvorhaben, die
heute zur Abstimmung stehen, das umfassende Konzept
der Koalition oder der Bundesregierung vorliegt. Niemand hat mit Blick auf das steuerliche Sofortprogramm,
die Beschränkung der Verlustverrechnung bei den Steuersparmodellen oder der Abschaffung der Eigenheimzulage davon gesprochen. Sie haben da einen Popanz aufgebaut, um anschließend darauf einzuschlagen.
Selbstverständlich hat sich diese Bundesregierung
vorgenommen, schon in den nächsten Wochen - spätestens am 9. Januar, dem Datum der ersten Kabinettssitzung im neuen Jahr, gegebenenfalls auch früher - die
ersten steuerlichen Fördertatbestände zu verabschieden,
wie Herr Bernhardt zutreffend dargestellt hat, zum Beispiel um die Liquidität der Wirtschaft zu verbessern,
zum Beispiel um im Bereich der Betreuungskosten voranzukommen, auch mit Blick auf die Stärkung der privaten Haushalte als Arbeitgeber.
Wir werden im Zusammenhang mit dieser Kabinettssitzung eine Vorlage verabschieden, bei der es um die
Aufstockung des Programms für die energetische Gebäudesanierung geht, zu dem mir bereits jetzt sehr positive Stellungnahmen vorliegen, zum Beispiel vom Handwerk und der Bauwirtschaft. Selbstverständlich stehen
wir auch zu der Koalitionsvereinbarung, dass das
Wohneigentum mit Blick auf die Abschaffung der Eigenheimzulage in die Riester-Rente integriert wird. Insofern stehen die Positionen der großen Koalition fest.
({0})
- Es gibt ja keine Erkenntnisblockade für die SPD, Frau
Scheel.
({1})
Selbstredend stehen wir zu der Ankündigung, auch
eine große Unternehmensteuerreform zu verabschieden, bei der allerdings Solidität und Präzision sehr wichtig sind. Bei so etwas schießt man nicht aus der Hüfte.
({2})
- Ja, 2008. Entschuldigen Sie, Sie wissen doch, dass der
Sachverständigenrat sein Gutachten erst im Januar oder
Februar vorlegen wird und dass wir auch von der Stiftung Marktwirtschaft Erkenntnisse brauchen. Das heißt,
wenn Sie von der Regierung fordern, bis zum
1. Januar 2007 ein Gesetz vorzulegen, dann müsste die
Regierung mit einem so weit reichenden Vorhaben in einem halben Jahr fertig sein. Sie wissen, dass das nicht
funktionieren wird. Wir reden in Wirklichkeit über einen
Systemwechsel in der Unternehmensbesteuerung in der
Bundesrepublik Deutschland. So etwas schüttelt man
nicht einfach aus dem Ärmel - auch um Ihrer Kritik zu
entgehen, dass dieses Vorhaben nicht gelungen sei oder
einer Nachbesserung bedürfe.
Wir haben uns eine Menge vorgenommen. Ich glaube,
dass die Einleitung dieser Schritte richtig ist, und ich bin
sehr dankbar, dass uns die beiden Koalitionspartner auch
in den Ausschussberatungen - insbesondere im Finanzausschuss - so behilflich gewesen sind.
Ich habe Ihre Hinweise zum Thema Steuerberater
nicht ganz verstanden, Frau Höll. Mir ist bis jetzt entgangen, dass ausgerechnet Ihre Wählerklientel in so starkem
Maße Steuerberater in Anspruch nimmt. Denn ich gehe
davon aus, dass die große Masse der Lohnsteuerzahler
nicht unbedingt die Klientel der Steuerberater stellt; sie
ist nämlich heute schon in der Lage, ihre Lohnsteuererklärung auf einem Blatt Papier abzugeben, und zwar
nach Lage der Dinge bei den Serviceagenturen der Finanzämter. Das ist zudem kostenlos, was Sie in diesem
Zusammenhang leider verschwiegen haben.
({3})
Was die Frage von Frau Andreae nach den 600 Millionen Euro angeht, so hat es zwar darüber eine Debatte
gegeben, aber wir haben uns dabei insbesondere die Berechnungen des Freistaats Bayern und des Landes Nordrhein-Westfalen zu Eigen gemacht. Wir wissen, dass es
Verhaltensweisen geben wird, durch die einiges in dem
Spannungsbogen zwischen der Anrechnung von Werbungskosten und Sonderausgaben infrage gestellt wird.
Aber wir haben keinen Grund, die Berechnungen der
beiden Bundesländer infrage zu stellen.
Bei vielen der haushalts- und finanzpolitischen Hinweise aus den Reihen der FDP ist mir eines nicht richtig
klar geworden, Herr Wissing. Wenn Sie die Senkung der
Nettokreditaufnahme und der Steuersätze fordern,
gleichzeitig aber eine große Zurückhaltung hinsichtlich
der Abschaffung von Steuervergünstigungen an den Tag
legen - ich drücke mich dabei höflich aus -, ist mir nicht
klar, wie Sie den Haushalt sanieren wollen, ohne massiv
in Leistungsgesetze einzugreifen. Das wird Ihnen nicht
gelingen.
({4})
Die FDP verschweigt dem Publikum bzw. den Bürgerinnen und Bürgern, in welchem Ausmaß sie in der Lage
ist oder es für notwendig ansieht, Eingriffe in Leistungsgesetze in einem Ausmaß vorzunehmen, das spielend zweistellige Milliardensummen erreicht. Außerdem
verschweigen Sie dem Publikum, inwieweit sich diese
Eingriffe auch auf volkswirtschaftliche Parameter bzw.
auf Wachstum und Beschäftigung auswirken.
({5})
- Ich wiederhole, was ich im Ausschuss gesagt habe,
Herr Fricke. Wenn Sie mir sagen, wir dürften die Mehrwertsteuer nicht erhöhen, wodurch dem Bund - von den
Ländern und Kommunen rede ich in diesem Zusammenhang gar nicht - 10 Milliarden Euro fehlen, und als Gegenvorschlag gefordert wird, den Zuschuss zur Rentenversicherung um 8 Milliarden Euro zu kürzen, dann läuft
das auf eine 4- bis 5-prozentige Realkürzung der Renten
hinaus. Da die Rentner keine hohe Sparquote haben,
wirkt sich das auf den Konsum und damit ebenfalls auf
volkswirtschaftliche Parameter aus, wie es auf umgekehrtem Weg in einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei anderen Stellschrauben auch der Fall ist.
Bei Ihrer Argumentation legen Sie das nicht offen.
Sie werden diesen freidemokratischen Dreisatz meines
Erachtens nicht widerspruchsfrei hinbekommen, wenn
Sie weitere Steuersenkungen und die Reduzierung der
Neuverschuldung - darin sind wir uns übrigens einig fordern. Bei Ihnen schwingt auch immer eine Kritik an
dem Abbau von in meinen Augen volkswirtschaftlich
überholten Steuersubventionen mit. Aber Sie verschweigen, welches haushalts- und finanzpolitisches Konzept
dahintersteht. Das wird nicht deutlich.
({6})
Ich will zum Bundeshaushalt und darüber hinaus auch
zu den anderen Haushalten der Gebietskörperschaften in
der Bundesrepublik Deutschland noch einmal deutlich
festhalten, dass wir uns nicht aus den Defiziten heraussparen werden können. Das wird nicht erfolgreich sein.
Wir werden vielmehr die Defizite in der Bundesrepublik
Deutschland nur dann reduzieren können, wenn wir
mehr Wachstumsförderung betreiben, den Arbeitsmarkt
stabilisieren, die Sozialversicherungssysteme robuster gegen die Konjunkturausschläge wie auch gegen die Erosion sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse machen und auch mehr Einnahmen generieren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fricke?
Bitte sehr, Herr Fricke.
Herr Bundesminister, wenn ich Sie richtig verstanden
habe, haben Sie eben kritisiert, dass die FDP keine Vor-
schläge zu den Einsparungen in den Sozialsystemen ma-
che. Darf ich Sie als Mitglied der Regierung fragen, ob
Sie damit sagen wollen, dass die Regierung bei den steu-
erlichen Leistungen, die in die Sozialsysteme fließen,
keinerlei Einschnitte plant, weder bei den Krankenkas-
sen noch bei der Rentenversicherung?1)
Deshalb ist dieser großen Koalition sehr daran gelegen, den Zweiklang aufrechtzuerhalten, also beides zu
tun: auf der einen Seite Impulse zu geben und Wachstumsförderung zu betreiben und auf der anderen Seite
die notwendige Haushaltskonsolidierung voranzutreiben. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben ihren Worten umgehend erste Taten folgen lassen. Das setzt Signale. Aber ich füge hinzu:
Das ist erst der Anfang. Wir haben noch eine ganze Legislaturperiode vor uns.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Frank Schäffler, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wenn wir heute über drei Gesetzentwürfe von
Union und SPD entscheiden, dann sollten wir nicht ver-
gessen, dass diese Gesetzentwürfe das erste Aushänge-
schild der Koalition sind. Rund 100 Tage nach der vor-
gezogenen Bundestagswahl ist das Ihr Lackmustest.
Dabei wollen wir von der FDP als größte Oppositions-
fraktion in diesem Haus
1) Siehe Berichtigung Stenografischer Bericht 10. Sitzung, Anlage 2
({0})
- wir nähern uns an, Sie von oben, wir von unten - keine
Fundamentalpositionen einnehmen. Vielmehr unterstützen wir Sie dort, wo es sinnvoll ist, kritisieren Sie aber
auch dort, wo es uns notwendig erscheint.
Ich will mit den Maßnahmen beginnen, die wir unterstützen. Zu einer notwendigen Konsolidierung der
öffentlichen Haushalte gehört, Subventionen abzubauen und eine unerwünschte Gestaltung des Steuerrechts zu beseitigen. An einem einfacheren und gerechteren Steuerrecht mit niedrigeren Sätzen führt dennoch
kein Weg vorbei.
({1})
Trotzdem sagen wir Ja zur Abschaffung der Eigenheimzulage. Mein Kollege Dr. Wissing hat dies gerade
begründet. Wir sagen ebenfalls Ja zur Einschränkung
von so genannten Steuerstundungsmodellen. Auch
wenn wir systematisch einige Probleme mit diesem Gesetz haben und bezweifeln, dass die gewünschten
Effekte tatsächlich eintreten, wollen wir zustimmen.
({2})
Steuerpolitik basiert jedoch auf dem Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen in diesem Land. Verlässlichkeit ist daher ein hohes Gut. Die
rückwirkende Einschränkung von Investitionen in
Fonds zum 10. November dieses Jahres ist daher ein
schlimmer Präzedenzfall.
({3})
Bürger können künftig nicht mehr die Gewähr haben,
dass ihre Investitionen in ein verlässliches steuerpolitisches Umfeld gestellt werden. Dabei hat die Expertenanhörung in der vergangenen Woche entgegen den Äußerungen des Finanzministers eindeutig ergeben, dass
bereits am 10. November dieses Jahres alle wesentlichen
Fonds platziert waren. Daher verstehe ich nicht, wieso
sich Herr Dr. Meister - er ist nicht anwesend - in seiner
Fraktion nicht durchgesetzt hat. In der letzten Woche hat
er an dieser Stelle noch gesagt:
Zu den Steuersparfonds will ich nur sagen: Mir
liegt im Sinne der Vertrauensbildung daran, dass
wir an dieser Stelle versuchen, soweit als möglich
auf rückwirkendes In-Kraft-Treten zu verzichten …
({4})
Otto Bernhardt, der Fraktionskollege von Herrn
Dr. Meister, zollte ihm noch Beifall in der Debatte. Im
Ausschuss selbst hat er allerdings das Anliegen von
Herrn Meister sehr zurückhaltend bzw. gar nicht unterstützt.
Man sollte auch mit dem Entwurf eines Gesetzes zur
Beschränkung der Verlustverrechnung nicht das Kind
mit dem Bade ausschütten. Das Steuerrecht in Deutschland ist unsäglich kompliziert. Dieser Gesetzentwurf
verkompliziert es zusätzlich. Er schafft nicht nur einen
zusätzlichen § 15 b des Einkommensteuergesetzes, der
allein über eine DIN-A-4-Seite lang ist, sondern widerspricht gleichzeitig auch wichtigen anderen Regelungen
im Gesetz.
({5})
So konterkariert er die Wirkung der Denkmalförderung
nach §§ 7 i und 7 h EStG bei Gebäuden in Sanierungsgebieten. Dies ist insbesondere deshalb bedenklich, weil
sich gleichzeitig Länder und Kommunen aus der Förderung des Denkmalschutzes zunehmend zurückziehen
müssen.
Da Sie auch noch die degressive AfA abschaffen
wollen, müssen Sie sich schon fragen lassen, woher neue
Arbeitsplätze in diesem Land kommen sollen.
({6})
Anders als in Ihrer Begründung für Ihren Entwurf eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm dargestellt, ist gerade die degressive AfA keine
Subvention, sondern spiegelt den Werteverzehr eines
Immobilienneubaus wider, der am Anfang etwas höher
und später niedriger ist. Mit Ihrem Entwurf zum Einstieg
in ein steuerliches Sofortprogramm sollten Sie aufpassen, dass Ihr Einstieg nicht zum Ausstieg in die Arbeitslosigkeit führt.
Vielen Dank.
Herr Abgeordneter Schäffler, das war Ihre erste Rede.
Dazu gratuliert Ihnen das ganze Haus und wünscht alles
Gute für die parlamentarische Arbeit.
({0})
Es hat jetzt der Abgeordnete Leo Dautzenberg von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzpolitik der
16. Legislaturperiode steht vor zwei gleichermaßen bedeutsamen Herausforderungen. Auf der einen Seite steht
die nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen,
auf der anderen Seite die zukunftsorientierte Gestaltung des Steuersystems. Dazu gehören auch die Reduzierung von Steuergestaltungen sowie der Abbau von
Steuersparmodellen. Zu beiden Aufgaben leistet der
heute hier zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf zur
Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen einen wertvollen
Beitrag.
Bereits in ihrem Wahlprogramm hat die Union angekündigt, die lukrativen Verlustverrechnungsmöglichkeiten bei Modellen wie Medien- und Windkraftfonds
abzuschaffen und damit auch das Steuerrecht zu vereinfachen und gerechter zu gestalten. Dieses Ziel wird mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Er sieht vor,
dass die Verluste im Zusammenhang mit so genannten
Steuerstundungsmodellen nur noch mit späteren positiven Einkünften aus derselben Einkunftsquelle verrechnet werden dürfen. Ordnungspolitisch trägt das Gesetz
damit dazu bei, Fehlallokationen am Kapitalmarkt zu
minimieren. Künftig wird die Investition am Kapitalmarkt wieder verstärkt wegen des Vertrauens auf eine
ausreichende Rendite getätigt und nicht mehr, wie bei
den Steuerstundungsmodellen heute oftmals, aufgrund
des damit verbundenen steuerlichen Vorteils.
Durch Beschränkung der Verlustverrechnung wird
damit erstens ein Anreiz zu mehr Rentabilität gesetzt
und zweitens die Förderung fragwürdiger Steuersparmodelle beendet. Ich betone ausdrücklich, dass damit lediglich die Förderung fragwürdiger Steuersparmodelle
beendet wird. Wie Sie wissen, gab es in der Sachverständigenanhörung in der vergangenen Woche auch kritische
Stimmen zu der Frage, ob das Gesetz womöglich zu weit
gefasst sei und Investitionen betreffen könnte, deren
Förderung weiterhin sinnvoll ist. Die Begründung zum
Gesetz verschafft hier positive Klarheit. Dort heißt es
nämlich wörtlich:
Nicht betroffen von der Verlustverrechnungsbeschränkung sind solche Fonds, die nicht primär
darauf angelegt sind, ihren Anlegern einen Verlust
zuzuweisen … Hier sind in erster Linie die vermögensverwaltenden Venture Capital und Private
Equity Fonds zu nennen.
Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf in seiner Begründung auch sicher, dass auch diejenigen Bauträgergesellschaften von der Regelung nicht betroffen sind, in
denen ein Bauträger ein Objekt im Sanierungsgebiet
oder ein Denkmal saniert.
({0})
Wir haben ausdrücklich darauf bestanden, dass diese
Begründung in den Bericht des Ausschusses hineinkommt, damit sie Beschlusslage dieses Hauses wird und
als Grundlage dienen kann, wenn es zukünftig zu Auslegungsproblemen und Abgrenzungsproblemen kommen
sollte. Daher war es wichtig, dass der Finanzausschuss
gerade dies im Protokoll der gestrigen Sitzung explizit
festgehalten hat.
Ausgenommen von der Regelung zur Beschränkung
der Verlustverrechnung sind zudem Verluste, die bei der
Konzeption eines Modells nicht abzusehen waren, wie
beispielsweise unerwarteter Mietausfall, Verlust oder
Beschädigung des Anlageobjektes.
Was die Abgrenzung angeht, ist klar, dass dies diejenigen Projekte sind, die weiterhin nicht negativ erfasst
werden. Diese Klarstellungen in der Gesetzesbegründung sind für die Union von großer Bedeutung; denn
damit bekommen wir hier Rechtsklarheit und damit werden Abgrenzungsprobleme schon von Anfang an vermieden.
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart - das ist für die
deutsche Filmwirtschaft wichtig -, dass spätestens zum
1. Juli 2006 international wettbewerbsfähige und mit
anderen EU-Ländern vergleichbare Bedingungen geschaffen werden sollen, um die Situation des privaten
Kapitals für Filmproduktionen in Deutschland zu verbessern. Damit wollen wir dem Filmstandort Deutschland gerecht werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zum
Stichtag 10. November sagen. Auch in der Anhörung
wurde dieser Stichtag als ein Problem dargestellt. Aber
nach all den Ankündigungen und der damit verbundenen
Diskussion seit dem Frühjahr können sich die allermeisten nicht mehr auf den Vertrauensschutz beziehen. Ich
verweise auf die im Jobvorschlag enthaltenen Punkte.
Rücktrittsmöglichkeiten der Anleger sind in den Verträgen vorgesehen.
Wenn man einen Vergleich zieht mit Gesetzesinitiativen der Vergangenheit, die ebenfalls die Rückwirkungsproblematik betrafen, und abwägt, dann erkennt man:
Was den Vertrauensschutz anbelangt, gab es problematischere Punkte als das, was hier in Bezug auf die Fondsmodelle geregelt ist. Daher können wir mit Blick auf die
verfassungsrechtliche Problematik - auch nach der Abstimmung zwischen den Ressorts - davon ausgehen,
dass wir hier Rechtssicherheit geschaffen haben.
Mit dem, was hier schon ausgeführt worden ist, und
dem, was wir in der Frage „Verlustverrechnung/Verlustbeschränkung“ zuletzt auf den Weg gebracht haben, haben wir eine zustimmungsfähige Grundlage geschaffen.
Ich darf Sie um Zustimmung bitten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich etwas zu den Gesetzesvorlagen sage, möchte
ich gern noch auf einige Vorrednerinnen und Vorredner
eingehen, zunächst auf Frau Dr. Höll vom PDS-Linksbündnis: Es ist schon absurd, wenn Sie auf der einen
Seite behaupten, dass die reale Steuerbelastung der
Unternehmen in Deutschland zu gering ist, und auf der
anderen Seite Irland für beispielhaft erklären, hoffentlich wohl wissend, dass der Unternehmensteuersatz in
Irland bei 12,5 Prozent liegt und dass der zweitgrößte Investor in Irland deutsche Unternehmen sind, nämlich
200 mit 15 000 Beschäftigten. Daran wird doch deutlich,
dass wir ein Problem im Standortwettbewerb haben.
Man kann nicht einerseits die zu geringe Steuerbelastung
hier anprangern und andererseits Irland für beispielhaft
erklären, obwohl die Steuerbelastung dort niedriger ist.
Man sollte nicht meinen, dass man mit Steuerdumping
eine zukunftsweisende Politik betreiben kann.
({0})
Mit Blick auf die Klimaschutzziele, die sich
Deutschland gesetzt hat, freue ich mich, dass Minister
Steinbrück Verbesserungen auf dem Gebiet der energetischen Gebäudesanierungen für das nächste Jahr angekündigt hat. Herr Steinbrück, ich freue mich auch über
Ihre Ankündigung, dass es im Rahmen der privaten
Altersvorsorge in Bezug auf Wohneigentum eine Verbesserung geben wird.
({1})
Das ist gut. Das freut uns Grüne besonders deswegen,
weil wir uns für diese beiden Ziele seit Jahren sehr stark
eingesetzt haben und bislang am Widerstand der SPD
gescheitert waren. Also sind auch Sie lernfähig. Das
freut uns.
({2})
Die FDP handelt immer nach dem Motto „Wünsch dir
was!“ - für Weihnachten mag das schön sein -: Steuersätze runter, Sozialversicherungsbeiträge runter, beim
Haushalt die Maastricht-Kriterien einhalten. Die FDP tut
so, als wenn dann alles gut würde. Aber Sie wissen
selbst, dass die Umsetzung Ihrer Vorschläge nicht finanzierbar ist. Das merkt man daran, dass die Länder, in denen die FDP mitregiert, keine Gesetzentwürfe in den
Bundesrat einbringen, die die Vorschläge enthalten, die
Sie hier im Bundestag immer großspurig vertreten.
Diese Länder wissen nämlich genau, dass das, was Sie
vorhaben, nicht finanzierbar ist.
Insofern sind Sie in dieser Frage doppelzüngig.
({3})
Wir alle wissen, dass das Steuerrecht einfacher werden muss.
({4})
Wir messen alle Vorschläge, die von der neuen großen
Koalition eingebracht werden, an der Frage: Wird das
Steuerrecht für die Steuerpflichtigen in der Bundesrepublik Deutschland durch diese Vorschläge einfacher oder
nicht? Die Bürger erwarten - die Bürgerinnen natürlich
auch -,
({5})
dass die Politik handelt.
Sie haben im Wahlkampf das populäre Thema Vereinfachung als zentrales Thema gehabt und auf diesem
Gebiet Besserung versprochen.
({6})
Man muss schon sagen: Der Wegfall der Eigenheimzulage vereinfacht das Steuerrecht. Das ist richtig.
({7})
Auch das Ziel ist richtig. Aber es ist schon ein bisschen
überraschend, dass die Union jetzt in 23 Tagen zu diesem Ergebnis gekommen ist, nachdem sie drei Jahre
lang nicht in der Lage war, diesen Erkenntniszugewinn
zu erreichen. Es ist schon ein bisschen interessant, jetzt
einmal zu sehen, wie schnell man sich dreht. Bei einer
Drehung um 180 Grad steht man auf dem Kopf. Das ist
schon ein bisschen komisch, aber anscheinend löst es im
Gehirn etwas aus, sodass man am Ende doch zur richtigen Erkenntnis kommt.
({8})
Also: Es ist vernünftig, das zu tun.
Beim Thema Vereinfachung ist das Beispiel der Steuerberatungskosten angesprochen worden. Dabei geht es
nicht um Klientelpolitik. Dabei geht es nicht um die
Steuerberater oder um die Steuerberaterinnen. Aber es
geht darum, dass die Umsetzung dieser Gesetzesvorlage
dazu führt, dass Gestaltungsmöglichkeiten neu aufgemacht werden. Sie streichen ja nur einen Teil dieser
Steuerrechtsregelung. Das führt nicht zur Vereinfachung,
sondern zu einer neuen Verkomplizierung und zu einer
neuen Missbrauchsanfälligkeit, was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages selbst vonseiten
des Ministeriums zugestanden wurde. Das ist der Grund
dafür, dass wir das ablehnen. Das ist keine Vereinfachung, sondern das führt letztlich zu neuen Gestaltungen.
({9})
Das Thema Vertrauensschutz ist für uns ein ganz
wichtiges Thema. Vertrauensschutz ist eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz des Steuerrechts bei den
Bürgern und Bürgerinnen. Vertrauensschutz ist auch ein
zentrales Element, eine ganz zentrale Notwendigkeit für
Investoren im In- und Ausland. Sie haben den Vertrauensschutz im Blick auf die Freibeträge ein Stück verbessert. Sie haben das Vertrauen der Anleger in den Investitionsstandort Deutschland aber beschädigt.
({10})
Wir brauchen Stichtage, die entweder Gegenstand von
Kabinettsbeschlüssen sind, und zwar von wirklichen Kabinettsbeschlüssen, oder mit dem Steuerjahr zusammenfallen.
({11})
Sie dürfen nicht beliebig zustande kommen, weil man
mal gerade Kaffee getrunken hat und sich mal gerade
was überlegt hat.
({12})
Das hat mit verlässlicher Finanzpolitik, lieber Kollege
Florian Pronold, überhaupt nichts zu tun. Wir brauchen
Verlässlichkeit.
({13})
Die Grünen stehen für diese Verlässlichkeit. Wir stehen
auch für die Vereinfachung. In diesem Sinne werden wir
Sie weiter beobachten und auch weiter treiben.
Danke schön.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Dr. Barbara Höll.
Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, wenn Sie mich
kritisieren, setzt das natürlich eigentlich voraus, dass Sie
mir richtig zugehört haben.
({0})
Natürlich wissen wir beide, dass in Irland die Steuersätze niedrig sind. Ich habe aber gar nicht über die Steuersätze, sondern über die effektive Steuerbelastung gesprochen. Dazu müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen,
dass in Irland mit niedrigen Steuersätzen die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durchgesetzt wurde, wodurch die effektive Steuerbelastung gestiegen ist.
Als Zweites möchte ich noch erwähnen: In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag steht, dass die Steuersenkung
der letzten Jahre nicht das Ergebnis hatte, das Sie angestrebt hatten - so haben Sie es immer verkündet -: mehr
Arbeitsplätze und Investitionen. Wenn Sie nun immer
noch beklagen, dass die Steuersätze in Deutschland zu
hoch sind - so habe ich Ihre Einlassung verstanden -,
dann kann das bei Ihnen auch in der Opposition nicht
ganz so gut laufen, wie Sie sich das vielleicht erhoffen.
Ich danke.
({1})
Frau Abgeordnete Scheel, Sie haben die Gelegenheit
zu einer Antwort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Dagegen muss ich doch noch etwas sagen. - Es ist
doch immer die Frage, von welchem Niveau aus man
diskutiert, Frau Dr. Höll. Wenn Sie sagen, die effektive
Steuerbelastung in Irland sei aufgrund der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage im irischen Steuerrecht erhöht worden, dann muss man natürlich dazusagen, wie das Niveau vorher war. Wenn man das mit
Deutschland vergleicht, wird klar, dass die effektive
Steuerbelastung - darum geht es; das ist die reale Steuerbelastung, die Unternehmen in Deutschland zu tragen
haben - hier mitnichten geringer ist als in Irland; sie ist
vielmehr um einiges höher als in Irland.
Das ist der Punkt, den ich Ihnen vorgeworfen habe:
dass Sie hier mit populistischen Äußerungen den Eindruck zu erwecken versuchen, als sei das irische Steuerrecht besser als das deutsche. Irland betreibt auch ein
Stück weit Steuerdumping; das wissen wir alle und da
wollen wir nicht hin.
({0})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ingrid ArndtBrauer von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich möchte auf das Gesetz zur
Abschaffung der Eigenheimzulage zurückkommen,
weil ich denke, dass viele Zuhörer interessiert sind, warum wir die Eigenheimzulage abschaffen wollen und wie
wir das umsetzen, und weil ich glaube, dass das ein sehr
sinnvolles Gesetz ist.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Förderung nach dem
Eigenheimzulagengesetz ab dem 1. Januar 2006 für
Neufälle abzuschaffen. Die Förderung nach geltendem
Recht wird gewährt, wenn vor dem 1. Januar 2006 mit
der Herstellung des Objekts begonnen wird - wer also
jetzt schnell anfängt zu bauen, kann sich die Förderung
noch sichern -, ein notarieller Kaufvertrag abgeschlossen oder einer Genossenschaft beigetreten wird.
Man muss berücksichtigen, dass alle staatlichen Subventionen und Steuervergünstigungen regelmäßig
- besonders in der Situation, in der wir uns im Moment
befinden - auf ihre Effizienz und Notwendigkeit geprüft
und mit Blick auf die Finanzlage der öffentlichen Haushalte bewertet werden müssen. Die Eigenheimzulage ist
- das haben wir hier schon häufiger erörtert - die
höchste Einzelsubvention im Bundeshaushalt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass es Mitnahmeeffekte gibt, dass wir Leute gefördert haben, die diese Förderung eigentlich nicht
gebraucht hätten und die wir auch nicht fördern wollten.
So viel zum Inhalt.
Sehr überraschend waren nach den jahrelangen Diskussionen über dieses Gesetz - wir haben diesen Vorstoß
unter Rot-Grün ja schon mehrmals unternommen - die
einstimmigen Voten aller mitberatenden Ausschüsse und
gestern des Finanzausschusses. Das hat mich sehr gefreut. Es zeigt, dass wir hier ein Gesetz auf den Weg
bringen, hinter dem das gesamte Parlament steht und das
wir deswegen auch gut nach außen vertreten können.
({0})
Der ursprüngliche Förderzweck bestand - um einmal
ganz weit zurückzuschauen - im Prinzip aus vier Teilen.
Der erste Grund war, dass es damals, als man es für sinnvoll hielt, etwas zu unternehmen, zu wenig Wohnraum
gab. Ich denke, dieses Problem gibt es nicht mehr.
Der zweite Förderzweck war, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Zinsbelastung für Bau- oder Kaufwillige sehr viel höher war als heute. Wir haben heute
eine historisch niedrige Zinsbelastung; auch dieser Förderzweck entfällt also.
Der dritte Ansatz war die Familienförderung. Es gab
immer auch eine Familienkomponente. Das heißt, besonders Familien mit vielen Kindern sollte die Möglichkeit gegeben werden, auch bei geringem Einkommen
ausreichend großen Wohnraum zur Verfügung zu haben.
Wer wie ich einmal versucht hat, mit vier Kindern eine
Wohnung zu finden, weiß, dass das kaum möglich ist;
man bekommt immer gesagt, man müsse sich ein Haus
suchen. Dieser Förderzweck war also in den letzten Jahrzehnten durchaus begründet.
Zu diesem Punkt muss ich allerdings sagen, dass wir
gerade im Bereich der Familienförderung viel verändert
haben. Das Kindergeld, das vor 20 Jahren gezahlt wurde,
ist nicht zu vergleichen mit dem Kindergeld und den
Kinderfreibeträgen, die heute gelten. Außerdem ist das
Ergebnis dessen, was wir zur besseren Vereinbarkeit von
Familie und Beruf regeln, dass es meistens beiden Elternteilen wenigstens zeitweise ermöglicht wird zu arbeiten, wodurch sie wesentlich mehr Haushaltseinkommen haben als früher.
Der vierte Förderzweck war schon immer die Idee der
Altersvorsorge. Es war immer vom Staat gewollt und
gefördert, dass die Menschen in ihrer letzten Lebensphase keine Mietzahlungen mehr leisten müssen und
auch - hoffentlich - ihr Häuschen abgezahlt haben. Hier
haben wir gehandelt und im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass wir zwar die Eigenheimzulage abschaffen; weiter
heißt es aber:
Daher werden wir das selbst genutzte Wohneigentum zum 1. Januar 2007 besser in die geförderte Altersvorsorge integrieren.
({1})
- „Ein Jahr nichts“ ist ja so nicht richtig. Ich habe Ihnen
eben gesagt, dass Sie in den letzten Monaten, als wir
über dieses Thema schon diskutiert haben, noch zu
bauen beginnen konnten bzw. auch jetzt noch einen
Kaufvertrag abschließen können. Diese Bautätigkeit
wird sich auch noch in das nächste Jahr hineinziehen.
Ich bin sicher, wir werden keinen totalen Einbruch bei
der Bauwirtschaft haben.
Wir haben bei der Altersvorsorge heute schon die
Möglichkeit, das Wohneigentum in die Riester-Rente einzubeziehen. Wir werden diese Möglichkeit ausbauen.
Natürlich stehen wir zu dem, was im Koalitionsvertrag
steht. Ich denke, das ist eine sehr gute Maßnahme.
({2})
- Nein, das ist überhaupt nicht der Punkt.
Die Einsparungen im Staatshaushalt betragen bis
zum Jahr 2010 10,7 Milliarden Euro. Hier sind wir an einem Punkt, bei dem wir auf das zurückkommen, was
Rot-Grün von Anfang an wollte: Wir müssen in Bildung
und Forschung, also in die Zukunft, investieren. Das
wird uns durch diese Einsparungen möglich. Dadurch,
dass wir im Haushalt ein bisschen Luft bekommen, können wir das tun, was im Rahmen des Lissabon-Prozesses
gefordert wird, nämlich mindestens 500 Millionen Euro
jährlich in Bildung und Forschung zu investieren.
({3})
Ich denke, auch das ist sehr wichtig.
Noch eine Bemerkung zu dem, was noch alles bis
zum Auslaufen der Eigenheimförderung angeboten
wird. Vielleicht haben Sie genauso wie ich einen Prospekt bekommen - ich habe ihn hier vorliegen -, in dem
ernsthaft empfohlen wird, jetzt noch schnell ein Objekt
für 448 000 Euro zu kaufen, bevor die Eigenheimzulage
wegfällt. Ich denke, hier wird der ganze Widersinn in der
Diskussion deutlich. Wir reden von Leuten mit geringem
Einkommen, Alleinstehende bis 70 000 Euro und Verheiratete bis 140 000 Euro auf der Berechnungsgrundlage von zwei Jahren. Wie sollen sich diese Leute ein
Objekt für 448 000 Euro mithilfe der Eigenheimzulage
leisten können? Ich denke, an dieser Stelle wird die Diskussion widersinnig. Es werden Menschen bewusst in
irgendwelche Anlageobjekte getrieben, die sie sich nicht
leisten können. Das wollen wir nicht. Wir wollen eine
klare Regelung und denjenigen Leuten helfen, die Hilfe
nötig haben. Aber wir wollen solche widersinnigen Anlageobjekte nicht fördern.
Ein Wort noch zur FDP, zur größten Oppositionspartei. Man kann heutzutage angesichts unserer jetzigen Situation nicht jede Belastung mit einer gleichwertigen
Entlastung koppeln.
({4})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir auf diese Weise
unseren Haushalt nicht sanieren können. Deshalb können Sie nicht eine gleichwertige Steuerentlastung fordern. Das ist einfach nicht machbar. Die Zeiten haben
sich geändert.
({5})
Ich persönlich habe mich natürlich gefreut, dass die
CDU/CSU jetzt mit uns Schritte in die gleiche Richtung
geht. Ich denke, das ist ein guter Weg. Ich bin optimistisch, dass wir in dieser großen Koalition noch viele
große und kleine Schritte zusammen gehen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Tatsache: Nach
Monaten des politischen Stillstands packt die große Koalition jetzt die Sanierung unseres Landes entschlossen
an.
({0})
Nur eine Woche nach der Konstituierung des Finanzausschusses wird mit Steuerrechtsänderungen und Subventionsabbau wirklich ernst gemacht. Die Verantwortung der CDU/CSU für unser Land dabei heißt:
Herausforderungen annehmen - Aufgaben kraftvoll angehen. Das ist die Situation.
({1})
Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, grundlegende Konsolidierungen und Änderungen bei den
Steuersubventionen weiter aufzuschieben. Jede Art der
Realitätsverweigerung würde einen neuen Aufschwung
in unserem Land verhindern.
({2})
Dieser Aufschwung ist für unser Land notwendig und
ganz sicher möglich, wenn wir hier die richtigen Schritte
gehen.
({3})
Meine sehr geehrten Kollegen von der FDP, ich kann
Ihnen nur sagen, dass ich die Kritik, die Sie an unsere
Adresse richten, zurückweisen muss.
({4})
Es ist doch kein Konzept, sich der Verantwortung einfach zu entziehen und sich in die Büsche zu schlagen.
({5})
Die Union ist nicht auf den rot-grünen wirtschafts- und
haushaltspolitischen Kurs der Vergangenheit eingeschwenkt.
Ich sage Ihnen, meine Herren von der FDP: Sie suchen immer noch die Milchkuh, die im Himmel gefüttert
wird und auf Erden gemolken werden kann. Wir geben
zu, dass auch wir diese Milchkuh sieben Jahre zusammen mit Ihnen gesucht haben. Aber sie gibt es nicht; das
ist die Situation.
({6})
Wir haben kein Erkenntnisproblem, Frau Scheel. Wir
sind vielmehr aufgrund der Verantwortung der CDU/
CSU dabei, zu lernen, Kröten zu schlucken, wenn dies
notwendig ist. Rot-Grün hat es nicht geschafft. Wir übernehmen die Verantwortung. Das ist für die Menschen in
unserem Land auch notwendig.
Die Lage unserer Staatsfinanzen ist nun einmal desolat und die finanzpolitische Bilanz katastrophal. Die laufenden Ausgaben des Bundes liegen deutlich über den
laufenden Einnahmen, sodass ein strukturelles Defizit
von mehr als 60 Milliarden Euro besteht. Mit einem Einsparvolumen von mehr als 25 Milliarden Euro müssen
wir jetzt maßgeblich dazu beitragen, die Verschuldung
der öffentlichen Haushalte zu begrenzen. Dazu gibt es
keine Alternative.
Nur der Dreiklang aus Sanieren, Reformieren und Investieren eröffnet Chancen, unser Land nach Jahren der
Stagnation jetzt wieder nach vorne zu bringen. Dafür
steht die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Nicht alles, was wünschenswert wäre, wird in Zukunft finanzierbar sein; das sollten wir den Menschen
immer wieder sagen.
({8})
Besonders bedenkenswert ist für mich als Mittelständler
natürlich die Zustimmung zur Abschaffung der Eigenheimzulage. Tatsache ist aber: Durch das Gesetz zur
Abschaffung der Eigenheimzulage kann die öffentliche
Hand bis zum Jahr 2010 mit Einsparungen in Höhe von
sage und schreibe 10,7 Milliarden Euro rechnen.
({9})
Tatsache ist aber auch - das ist richtig -: Die Eigenheimzulage war immer eine Subvention,
({10})
die aus unserer Sicht zur Belebung der Bauwirtschaft
beitragen sollte. Man muss aber auch deutlich sehen,
dass in den letzten Jahren 800 000 Beschäftigte im Baugewerbe trotz der Subvention „Eigenheimzulage“ ihren
Arbeitsplatz verloren haben.
Das heißt für mich nichts anderes als Folgendes:
Keine noch so gut gemeinte schuldenfinanzierte Subvention kann auf Dauer eine wachstumsfreundliche und
Vertrauen schaffende Gesamtkonzeption der Haushaltskon-solidierung ersetzen. Vorangehen muss immer die
Haushaltskonsolidierung, weil dann Vertrauen geschaffen wird. Damit kann man dann zukünftig Wachstumserfolge und Beschäftigungserfolge erzielen.
({11})
Wenn unsere Koalition ihren Kurs aus Konsolidierung der Haushalte, Stärkung der Investitionen und Reform des Arbeitsmarktes mit Mut und Augenmaß fortsetzt, wird sich das Vertrauen der Verbraucher und
Investoren wieder festigen. Es mehren sich ja die Zeichen für ein Licht am Ende des Tunnels.
({12})
Wir haben in der Wirtschaft einen Stimmungswechsel.
Es ist erstmals wieder Hoffnung auf Verbesserungen
vorhanden.
({13})
Wir werden auch dem Bauhandwerk eine bessere Zukunft geben, damit es wieder nach vorne kommt. Die
Förderung von Gebäudesanierungen, die Unternehmensteuerreform oder auch die Fähigkeit des Abzugs von
Handwerkerrechnungen werden wir in den nächsten Wochen und Monaten auf den Gesetzesweg bringen. Das
wird uns letzten Endes voranbringen.
({14})
Ein Aufbruch für Deutschland benötigt eine Reformpolitik, eine Sanierungspolitik, weniger Staat, mehr Freiheit, mehr Leistungsbereitschaft, weniger Bürokratie
und mehr Eigenverantwortung. Deutschland braucht die
Kraftanstrengung aller. Wir als CDU/CSU sind bereit,
uns diesen Fragen offensiv zu widmen und auch unpopuläre Maßnahmen zu verantworten.
Ich darf Sie herzlich dazu einladen, mit diesem Anfang heute für eine bessere Zukunft der Menschen in unserem Land zu sorgen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat die Abgeordnete Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein
moderner Staat benötigt zur Finanzierung seiner vielfältigen Aufgaben Einnahmen, die im Wesentlichen durch
Steuereinnahmen erzielt werden. Eine wichtige Grundlage unseres Steuersystems ist die Besteuerung nach
der Leistungsfähigkeit.
Ich halte es für nachvollziehbar, dass Steuerpflichtige
jede legale Möglichkeit nutzen, um ihren Beitrag an der
Finanzierung des Staates zu mindern. Mitunter tun sich
durch Auslegungen der Gesetze, durch Lücken oder gar
Steuerschlupflöcher so verlockende Möglichkeiten auf,
die man einfach nicht ungenutzt verstreichen lassen
kann. Wie gesagt, ich kann das nachvollziehen. Aber
kann und will ich es hinnehmen, dass solche Gestaltungsspielräume gesucht, gefunden und zum Vorteil weniger angewendet werden? Ich sage: Nein! Der Abbau
solcher Gestaltungsmöglichkeiten war in der vergangenen Legislaturperiode ein Thema für uns, das wir - unter
anderem den obwaltenden Mehrheitsverhältnissen geschuldet - nicht immer so angehen konnten, wie wir
wollten. Aber daran müssen wir anknüpfen. Ich denke,
mit dem Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrechnung zeigen wir, dass wir es gemeinsam sehr ernst meinen.
In „Focus Online“ war dazu am 24. November zu lesen:
Damit machen Union und SPD mit dem Abbau von
Steuerprivilegien Ernst. Durch die bisher großzügige steuerliche Verlustverrechnung gehen dem
Staat jährlich Milliarden verloren. Vermögende Abschreibungskünstler haben über diese „Steuerstundungsmodelle“ ihre Abgabenlast gesenkt.
Und weiter heißt es:
Das Aus hatte sich schon seit dem Frühjahr abgezeichnet.
Darauf komme ich noch zurück.
Die große Beliebtheit resultierte aus einer hohen Verlustzuweisung in der Anfangsphase, die bisher mit anderen Einkünften verrechnet werden konnte und so zu
Steuerminderungen führte. Dies wollen wir ändern. Die
Verluste werden nicht abgeschnitten, sind also nicht verloren, sondern werden künftig nur noch mit Einkünften
aus derselben Quelle verrechnet. Das führt zu einer
gleichmäßigen Besteuerung und dazu, dass bei Anlagen
künftig die Rendite entscheidender ist als der Steuervorteil. Betroffen sind insbesondere Verluste aus Medienfonds, Schiffsbeteiligungen, New-Energy-Fonds, Leasingfonds, Wertpapierhandels- und Videogamefonds.
Nicht betroffen sind - das steht ausdrücklich im Bericht Private-Equity- und Venture-Capital-Fonds. Wir haben
alle uns bekannten Modelle, also neben gewerblichen
Einkünften auch Einkünfte aus Selbstständigkeit und
sonstige Einkünfte, eingeschlossen, um die Gleichheit
bei der Besteuerung zu gewährleisten. Ich bin mir aber
fast sicher, dass auch hier das altbekannte Hase-undIgel-Spiel die Kreativität der steuergestaltenden Köpfe
herausfordern wird.
Einigkeit über die Abschaffung dieser Modelle wurde
relativ schnell erzielt. Doch wie immer steckt die Herausforderung im Detail. Hier war es das Datum des
Wirksamwerdens: Rückwirkung oder Vertrauensschutz, ein Schutz der Steuerpflichtigen, der zu Recht einen sehr hohen Wert darstellt? Wir haben uns für den
10. November entschieden, also für den Tag, an dem das
alte Kabinett in enger Abstimmung mit dem neuen die
Vorlage unterzeichnen wollte. Leider hat der damalige
Minister Trittin seine Unterschrift verweigert mit der
Folge, dass die Vorlage erst vom neuen Kabinett am
24. November unterzeichnet wurde. Jetzt aber einen Vertrauensschutz für die Zwischenzeit oder gar eine Verlängerung bis zum 31. Dezember zu fordern, halte ich für
ungerechtfertigt.
({0})
Bereits im März beim Jobgipfel hatten sich Union
und SPD geeinigt, dass diese Modelle abgeschafft werden. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurden die Anleger darauf hingewiesen, dass das Aus für Steuerstundungsmodelle unmittelbar bevorsteht. „Zeichnen Sie
jetzt, zeichnen Sie schnell“, so lautete ab März die Devise. Nach dem 10. November wurde weiter, zum Teil
auch aggressiver geworben. Allerdings wurde von den
Fonds ein Rücktrittsrecht eingeräumt für den Fall, dass
die Gesetzesänderung vor dem 1. Januar 2006 in Kraft
tritt.
Unter der Überschrift „Steuersparfonds werden weiter
verkauft“ schrieb das „Handelsblatt“ am 16. November:
Anleger sollten keine Beteiligung ohne Rücktrittsrecht und zugesicherte Rückzahlung der Einlage inklusive Agio eingehen.
Damit ist wohl eindeutig, dass die interessierte Öffentlichkeit sehr wohl das Risiko kannte und nach dem
Motto „no risk, no fun“ handelte.
Das Risiko des entgangenen Steuervorteils nun auf
die Allgemeinheit der Steuerzahler abzuwälzen, halte ich
geradezu für widersinnig und auch nicht für ein schützenswertes Gut.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Möglichkeit
der Rückwirkung genau für diesen Fall, nämlich dann,
wenn der Bürger zum Zeitpunkt, auf den sich das rückwirkende Gesetz bezieht, mit der Neuregelung rechnen
musste. Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember hätte
geradezu eine Schlussverkaufsstimmung ausgelöst. Genau den Modellen, die wir abschaffen wollen, hätten wir
somit zu einem Riesenhype verholfen. Das kann doch
wohl in diesem Hause nicht gewünscht sein.
({2})
Die Verhinderung von Steuerumgehungsmöglichkeiten ist ein wichtiger Beitrag zur Steuergerechtigkeit, die
eng mit der Akzeptanz der Steuergesetze in der Bevölkerung verknüpft ist. Diese Akzeptanz und das Vertrauen
der breiten Masse der Steuerpflichtigen brauchen wir
dringend. Der vorliegende Gesetzentwurf ist einer von
vielen Schritten in diese Richtung.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Olav Gutting, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielleicht können auch diejenigen Kolleginnen und
Kollegen, die der Debatte erst seit kurzem beiwohnen,
dem Redner zuhören.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Gesetzentwurf zum Einstieg in ein steuerliches
Sofortprogramm leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung der Staatsfinanzen.
({0})
Nein, es ist nicht der große Wurf, den manch einer erwartet hat,
({1})
aber dieser Gesetzentwurf erhebt auch nicht den Anspruch, ein großer Wurf zu sein. Er ist nicht mehr, aber
auch nicht weniger als ein erster Schritt in die richtige
Richtung. Wir werden noch mehrere Schritte tun müssen, um zu einem einfacheren, gerechteren und auch international wettbewerbsfähigen Steuerrecht zu gelangen.
({2})
Dieses Ziel werden wir weiterhin im Auge behalten.
Natürlich wäre es wünschenswert, mit den erwarteten
Mehreinnahmen den Einkommensteuertarif zu senken.
Derjenige, der das fordert, muss aber auch klar sagen,
auf welchem anderen Wege die notwendige Haushaltskonsolidierung erfolgen soll.
({3})
Die mittlerweile desaströse Situation der öffentlichen
Haushalte lässt leider keinen Raum für spürbare Steuersenkungen. Man kann es nicht oft genug wiederholen:
Allein im Bundeshaushalt hat die strukturelle Lücke eine
Größenordnung von fast 65 Milliarden Euro erreicht. In
diesem Umfang sind laufende Ausgaben nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt. Wer verantwortlich handelt, kann sich schon aus Respekt vor den kommenden
Generationen nicht dem Schuldenabbau verschließen.
({4})
Die Menschen wissen, dass die Schulden von heute
die Steuern von morgen sind. Den Menschen fehlt das
Vertrauen in die Finanzpolitik, auch deshalb sind die
Steuersenkungen der letzten Jahre konjunkturell verpufft. Wo kein Vertrauen ist, kann kein Wachstum entstehen; wo kein Vertrauen ist, bleiben die Wachstumskräfte
gefesselt.
({5})
Das klare Bekenntnis zum Schuldenabbau ist ein Signal für mehr Vertrauen in die Finanzpolitik, ist ein Signal
für mehr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Dieses Vertrauen brauchen wir, um Deutschland
wieder auf Wachstumskurs zu bringen.
({6})
Einer dieser kleinen Schritte ist der Wegfall der Freibeträge bei Abfindungen wegen Auflösung von
Dienstverhältnissen. Dies ist ein richtiger Schritt. Warum soll auch die Kassiererin in einem Supermarkt mit
ihren Steuergeldern die Abfindung eines Mitarbeiters
beispielsweise von Daimler-Chrysler subventionieren,
der für sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis das doppelte Jahresgehalt bekommt?
({7})
Warum soll die Allgemeinheit die von Unternehmen gezahlten Abfindungen subventionieren, zumal mit dem
Progressionsvorteil, der weiterhin bestehenden Fünftelregelung, Härtefälle abgefedert werden?
Mit der jetzt noch eingefügten Verlängerung der Zeitspanne für den Zufluss der Abfindungen ist die richtige
Balance zwischen Vertrauensschutz auf der einen Seite
und fiskalischen Interessen auf der anderen Seite gefunden. Auch deshalb war der Änderungsantrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
({8})
Der Wegfall dieser Freibeträge ist auch deshalb wünschenswert, weil er hilft, Abfindungen die Attraktivität
zu nehmen. Tatsache ist doch, dass die Unternehmen die
Abfindungszahlungen bereits in den Lohnkosten einpreisen. Die immer weiter zunehmende Anzahl von Abfindungen geht letztendlich zulasten der regulären Gehälter.
Das, was der Arbeitnehmer am Ende seines Arbeitsverhältnisses als Abfindung erhält, wurde ihm doch in den
Jahren zuvor vom Lohn einbehalten.
({9})
Weniger Abfindung bedeutet damit mittelfristig mehr
regulären Lohn. Entscheidend sind dabei die Begleitmaßnahmen. Wir müssen die Arbeitsverwaltung weiter
verbessern. Wir brauchen eine effektivere, eine schnellere Vermittlung in neue Arbeitsverhältnisse und wir
brauchen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen
für die Wirtschaft in Deutschland, für mehr Wachstum
und für mehr Arbeit.
({10})
Sicherlich, bei den insgesamt fünf Einzelmaßnahmen
dieses Gesetzes gibt es auch Punkte, über die man streiten kann. Es stellt sich in der Tat die Frage, ob die von
den Finanzministerien der Länder prognostizierten
Mehreinnahmen tatsächlich fließen. Ich will gerne zugeben, dass ich meine Zweifel daran habe, ob die durch die
Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für private
Steuerberatungskosten anvisierten 600 Millionen Euro
jährlich hereinkommen. Ich zweifle nicht daran - damit
Sie mich richtig verstehen -, dass die Finanzministerien
richtig gerechnet haben. Die zugrunde liegenden Annahmen halte ich aber für fehlerhaft. Man unterschätzt die
Kreativität, die die Menschen entwickeln, zumal wenn
sie unter einer hohen Abgabenlast leiden. Ob durch die
Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für private
Steuerberatungskosten 600 Millionen Euro hereinkommen, werden wir wohl nie erfahren. Es lässt sich schlicht
nicht nachweisen, nicht berechnen. Darauf kommt es
aber auch nicht vorwiegend an.
Entscheidend ist, dass die Besteuerungsgrundlage insgesamt verbreitert wird. Die große Koalition hat es sich
zum Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2007 ein Konsolidierungsvolumen von 35 Milliarden Euro zu erreichen. Das
Fundament dafür besteht aus drei Säulen: Neben wachstumsorientierten und perspektivischen Reformen kommen wir nicht ohne Sanierungsmaßnahmen aus. Der vorliegende Gesetzentwurf ist Teil dieser notwendigen
Einsparmaßnahmen. Dieser Gesetzentwurf ist von der
Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands
getragen. Stimmen Sie deshalb diesem Gesetzentwurf
zu!
({11})
Hiermit schließe ich die Aussprache.
Wir haben jetzt eine ganze Reihe von Abstimmungen
und Wahlen vor uns, bevor wir zu einer weiteren spannenden Debatte kommen.
Zunächst die Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschränkung der Verlustverrechnung im
Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen auf
Drucksache 16/107. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/254,
den Entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Abstimmung mit dem entsprechenden Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Abschaffung der Eigenheimzulage auf
Drucksache 16/108. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/250,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen erheben sich bitte,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit dem vormaligen
Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/274? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Dafür haben die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion gestimmt; die übrigen Mitglieder des Hauses haben dagegen gestimmt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/275? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt.
Dafür haben die Abgeordneten der Fraktion Die Linke
gestimmt; die übrigen Mitglieder des Hauses haben dagegen gestimmt.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 5 c: Abstimmung
über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Gesetzentwurf zum Einstieg in ein
steuerliches Sofortprogramm, Drucksache 16/105. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/255, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/270? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung der Linken,
bei Gegenstimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD und der FDP und bei einigen Gegenstimmen und
einigen Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und der
SPD-Fraktion und bei Gegenstimmen der Fraktionen der
FDP und der Linken sowie bei Enthaltung der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem zuvor ermittelten Stimmenverhältnis
angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6; das sind weitere Wahlen zu Gremien.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 6 a auf:
Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/187 Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer
liegen die Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/187 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die Wahlvorschläge mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und
Kollegen im Namen des gesamten Hauses recht herzlich
und wünsche ihnen Spaß bei der Arbeit und eine gute
Zusammenarbeit.
({0})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zu zwei Wahlen zu Gremien mit Stimmkarten und Wahlausweisen. Es handelt sich um die Wahlen folgender Gremien: Erstens, Richterwahlausschuss
gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes; zweitens, Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. An diese zwei Wahlgänge schließen
sich dann noch weitere Wahlen an, die mittels Handzeichen durchgeführt werden.
Ich bitte jetzt um Ihre Aufmerksamkeit für einige
Hinweise zu den durchzuführenden Wahlen mit Stimmkarte und Wahlausweis. Die Stimmkarten in den Farben
Orange und Grün werden bereits im Saal verteilt. Sie benötigen außerdem Ihre Wahlausweise in den Farben
Orange und Grün. Bevor Sie Ihre Stimmkarte in eine der
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren dazugehörigen Wahlausweis einem der Schriftführer oder einer
der Schriftführerinnen an den Wahlurnen. Der Nachweis
der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe
des Wahlausweises erbracht werden. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, darauf zu achten,
dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis übergeben
wird. Die Wahlen finden offen statt; Sie können das
Kreuz auf Ihren Stimmkarten also an Ihrem Platz machen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 b:
Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes
- Drucksachen 16/188, 16/189, 16/190, 16/191 Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 16/188 bis
16/191 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Sie benötigen
für diese Wahl die Stimmkarte in der Farbe Orange. Sollten Sie diese Stimmkarte noch nicht haben, besteht jetzt
noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten
zu erhalten. Ich mache besonders darauf aufmerksam,
dass Sie auf der orangefarbenen Stimmkarte nur einen
einzigen Vorschlag ankreuzen dürfen. Ungültig sind
Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, Zusätze, Bildchen
oder Ähnliches enthalten. Wer sich der Stimme enthalten
will, nimmt bitte keine Eintragung vor. Bevor Sie die
orangefarbene Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und
Schriftführern an den Wahlurnen Ihren orangefarbenen
Wahlausweis.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die erste Wahl,
die Wahl zum Richterwahlausschuss.
({1})
Gibt es ein Mitglied im Hause, das seine Stimme noch
nicht abgegeben hat? - Ich schließe den Wahlgang und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird
Ihnen später bekannt gegeben.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 c:
Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes
über das Bundesverfassungsgericht
- Drucksachen 16/201, 16/202, 16/203, 16/204 Dazu liegen Ihnen auf Drucksachen 16/201 bis 16/204
Listen mit Wahlvorschlägen vor.
Für diese Wahl benötigen Sie die grünen Stimmkarten, die im Saal verteilt wurden. Sollten Sie noch keine
Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit,
sie sich aushändigen zu lassen.
Ich mache darauf aufmerksam, dass Sie auf der grünen Stimmkarte wiederum nur einen Vorschlag ankreuzen können. Wer sich der Stimme enthalten will, macht
keine Eintragung. Bevor Sie die grüne Stimmkarte in
eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den
Schriftführerinnen und Schriftführern an den Wahlurnen
Ihren Wahlausweis.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze eingenommen. Ich eröffne die Wahl.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht
der Fall zu sein.
Ich schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen auch in diesem
Falle später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, jetzt
wieder Platz zu nehmen, damit ich die Wahlergebnisse
zweifelsfrei feststellen kann. Wir kommen jetzt nämlich
zu Wahlen mittels Handzeichen.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 6 d auf:
Gemeinsamer Ausschuss gemäß Art. 53 a des
Grundgesetzes
- Drucksache 16/205 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/205 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 e:
Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Abs. 2 des
Wahlprüfungsgesetzes
- Drucksache 16/206 Dazu liegen wiederum Vorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/206 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 f:
- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung des Gremiums gemäß Art. 13
Abs. 6 des Grundgesetzes
- Drucksache 16/207 - Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes
- Drucksache 16/208 Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/207 vor.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Damit ist das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neun festgelegt.
Zu diesem soeben eingesetzten Gremium liegen Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen auf Drucksache 16/208
vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind wiederum einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g:
Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 16/209 Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 16/209 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Damit sind
die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss gewählt.
Tagesordnungspunkt 6 h:
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in
der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates ({1}) gemäß Art. 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl
der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des
Europarates
- Drucksache 16/210 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/210 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig
angenommen. Damit sind die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates, die zugleich Vertreter in der Versammlung der Westeuropäischen Union sind, gewählt.
Tagesordnungspunkt 6 i:
Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes
- Drucksache 16/211 Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen liegen auf
Drucksache 16/211 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 j:
Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau
- Drucksachen 16/212, 16/213 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/
CSU sowie Wahlvorschläge der Fraktionen der FDP und
der Linken vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 16/212? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das war jetzt nicht
ganz klar erkennbar.
Ich wiederhole den Wahlgang. Es liegt der Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 16/212
zur Abstimmung vor. Wer stimmt gegen diesen Wahlvorschlag? - Niemand. Wer enthält sich? - Was ist mit
den Linken? Stimmen Sie mit oder stimmen Sie nicht
mit?
({2})
Ist es richtig, dass Sie sich enthalten? ({3})
- Ich weiß, dass sich die Grünen enthalten haben.
({4})
Auch die Linke enthält sich, gut. Damit ist der Wahlvorschlag bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
der Linken angenommen.
Wer stimmt für die Wahlvorschläge der Fraktionen
der FDP und der Linken auf Drucksache 16/213? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Es ist wirklich
sehr schwer, das Ergebnis festzustellen, weil in allen
Fraktionen unterschiedlich gestimmt wird.
({5})
Ich wiederhole diesen Wahlgang. Es stehen die Wahlvorschläge der Fraktionen der FDP und der Linken auf
Drucksache 16/213 zur Abstimmung. Wer stimmt für
diese Wahlvorschläge? - Jetzt sieht es schon besser aus.
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind von allen Fraktionen bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wenn es nicht
klappt, dann muss man es eben üben. Das ist so.
({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 6 k:
Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
- Drucksache 16/214 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/214 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 l:
Mitglieder des Beirats zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesministerium der Finanzen
({7})
- Drucksache 16/215 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 16/215 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind
angenommen bei Zustimmung aller Fraktionen und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 6 m:
Mitglieder des Beirats für die grafische Gestaltung der Postwertzeichen beim Bundesministerium der Finanzen ({8})
- Drucksache 16/216 -
Auf Drucksache 16/216 liegen dazu die Wahlvor-
schläge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind mit
gleichem Stimmergebnis angenommen, nämlich bei Zu-
stimmung aller Fraktionen und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 6 n:
Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetz-
agentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen
- Drucksache 16/247 -
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/247 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig
angenommen.
Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungs-
punkte 23 a bis 23 j sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c
auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Bereinigung des Bundesrechts im Zuständig-
keitsbereich des Bundesministeriums für Ver-
braucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
- Drucksache 16/27 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über
die Bereinigung von Bundesrecht im Zustän-
digkeitsbereich des Bundesministeriums des
Innern
- Drucksache 16/28 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Reform hufbeschlagrechtlicher Regelungen
und zur Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/29 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes
zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes
und der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksache 16/33 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit
- Drucksache 16/34 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Ausschuss für Tourismus
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Seeaufgabengesetzes
- Drucksache 16/35 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über
soziale Sicherheit
- Drucksache 16/37 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abkommens vom 31. März 1992 zur
Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee ({13})
- Drucksache 16/38 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 14. April 2005 über den
Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der
Republik Ungarn, der Republik Malta, der
Republik Polen, der Republik Slowenien und
der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen von 1980 über das auf vertragliche
Schuldverhältnisse anzuwendende Recht sowie zu dem Ersten und dem Zweiten Protokoll
über die Auslegung des Übereinkommens
durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ({15})
- Drucksache 16/41 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der
Zweiten Änderung des Übereinkommens vom
25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ({17})
- Drucksache 16/43 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht
im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz
- Drucksache 16/47 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({18})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({19}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Eigenverantwortung von Bosnien und
Herzegowina stärken - Verfassungsprozess unterstützen und „Bonn Powers“ des
Hohen Repräsentanten abschaffen
- Drucksache 16/228 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({20})
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({21}),
Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Beendigung der Operation Althea und
Einrichtung einer internationalen nicht militärischen Polizeimission in Bosnien und
Herzegowina
- Drucksache 16/217 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({22})
Verteidigungsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 24 b
bis 24 h sowie den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Es handelt
sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung
der Bundesnotarordnung
- Drucksache 16/106 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24})
- Drucksache 16/246 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/246, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Wie stimmen die Grünen in
diesem Fall ab? - Sie haben zugestimmt. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Zustimmung aller
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Betrieb elektronischer Mautsysteme
({25})
- Drucksache 16/32 ({26})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({27})
- Drucksache 16/221 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/221, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Statistik zur Informationsgesellschaft ({28})
- Drucksache 16/40 ({29})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({30})
- Drucksache 16/248
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joachim Pfeiffer
Dr. Rainer Wend
Martin Zeil
Dr. Herbert Schui
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/248, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({31}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einundsiebzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 15/5994, 16/135 Nr. 2.1, 16/249 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Fuchs
Dr. Ditmar Staffelt
Martin Zeil
Dr. Herbert Schui
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 15/5994 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({32}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Vierte Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung
- Drucksachen 16/66, 16/135 Nr. 2.2, 16/234 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/66 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD, der Linken und des Bündnisses 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/276. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, der Linken
und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der
FDP-Fraktion abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({33})
Übersicht 1
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/244 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
- Drucksache 16/196 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
ist damit eingesetzt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
- Drucksache 16/229 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 1 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
- Drucksache 16/230 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 2 auf Drucksache 16/230
ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
- Drucksache 16/231 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 3 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
- Drucksache 16/232 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 4 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
- Drucksache 16/233 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 5 ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP
Haltung der Bundesregierung zur Berufung
von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder
zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline ({39})
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Fraktionsvorsitzende der FDP-Fraktion, Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
({40})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich an viele Debattenbeiträge aus früheren Zeiten
vor allem von Sozialdemokraten bei Wechseln von politischen Repräsentanten aus anderen Fraktionen als der
SPD in das wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik
Deutschland oder anderer Länder. Sie haben jeweils,
liebe Kolleginnen und Kollegen, aus einer Wolke hoch
kondensierter Moral über all das geurteilt. Altkanzler
Gerhard Schröder hat sich mit besonderen Beiträgen zur
Sitzgestaltung von Unternehmen an der Debatte rege beteiligt. Das Wort „vaterlandslos“ war noch eine milde
Beschreibung, wenn es um Ereignisse ging, wie sie auch
in dem vorliegenden Fall eine Rolle spielen.
Jetzt sagen Sie, das sei alles eine persönliche bzw. private Entscheidung des Altkanzlers. Das ist aber auch
schon alles, was richtig ist. Alles andere ist falsch und
nicht zu vertreten. Das wird auch in Ihren eigenen Reihen nicht bestritten.
({0})
Der Altkanzler Gerhard Schröder pfeift auf die Prinzipien, die er als Bundeskanzler mit tatkräftiger Unterstützung der Sozialdemokraten vertreten hat.
({1})
Das ist nicht eine Behauptung von mir; das ist in Zeitungen nachzulesen.
({2})
Ich füge noch eine Bemerkung hinzu: „Aber es ist der
Stil, wenn nicht die politische Moral, der selbst enge
Weggefährten abstößt.“ Das schreibt die „Zeit“ unter der
Überschrift „Egotrip“. Das ist der Punkt, den wir hier besprechen müssen.
Nennen wir es zunächst einmal ganz vorsichtig ungeschickt oder bezeichnen wir es als Zusammentreffen
glücklicher wie unglücklicher Umstände. Die Zeittabelle
in Bezug auf die Unterzeichnung des Abkommens stellt
sich wie folgt dar: erste Meldungen aus Russland, dass
der Altkanzler erwäge, eine solche Position anzunehmen; Dementi des früheren Regierungssprechers Anda;
im Nachhinein hin und her gewendete Debatte, ob denn
die deutschen Beteiligten schon zugestimmt hätten; Aussage des neu gewählten Vorsitzenden der SPD - im
Nachhinein interpretiert -, er habe Freitag mit Mittwoch
verwechselt, als die Anfrage gekommen sei.
Es gab noch viele weitere unterschiedliche Erklärungen. Sie erinnern mich an Transfers von Spielern in der
Bundesliga, von denen kluge Manager sagen, sie seien
das Muster eines falsch geführten Stars. Bei dem Altkanzler handelt es sich nicht um das Muster eines falsch
geführten Stars; er ist gar nicht geführt worden. Er ist
noch nicht einmal beraten worden. Kein vernünftiger
Mensch hätte ihm den Rat geben können, eine solche
Entscheidung zu treffen.
({3})
Jetzt will ich an die Sozialdemokraten klar sagen:
({4})
Sie wissen wie ich, wo das Betreiberkonsortium seinen
Sitz nimmt. Wissen Sie das? Weiß das der Altkanzler?
({5})
Aus Angst vor der Steuerpolitik der SPD im Kanton
Zug.
({6})
Was haben Sie früher über Unternehmen gesagt, die
Standortentscheidungen dieser Art getroffen haben? Da
versagt die deutsche Sprache, trotz ihrer durchaus kraftvollen Möglichkeiten.
({7})
Die Zeit für den Debattenbeitrag in der Aktuellen Stunde
ist zu kurz, um alles vorzulesen. Die Zeitungsausschnitte
stehen auch Ihnen zur Verfügung. Ich empfehle Ihnen
die Lektüre. Der Sitz des Betreiberkonsortiums soll der
Kanton Zug sein. Hätten Sie sich in Ihren kühnsten Träumen vorgestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, dass ein einstmals von Ihnen gestellter Bundeskanzler in führender Funktion in ein russisches Staatsunternehmen eintritt, dessen Entscheidungsfindungen
zweifellos vom Kreml bestimmt werden und dessen Entscheidungsgremium seinen Sitz auch noch im Kanton
Zug nimmt? Niemals. Es gibt dafür keine Begründung.
({8})
Wir haben ein Interesse an Transformationsprozessen
in Russland, auch ein Interesse an einer freien Presse.
Sie wissen so gut wie ich, dass Gasprom-Media nicht gerade ein Unternehmen ist, das zu einer freien Presselandschaft in Russland beiträgt.
Sie mögen jetzt sagen: Das hat mit dem Gasgeschäft
nichts zu tun. Es ist aber demselben Unternehmen zugeordnet. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ schreibt: Gasprom ist ein Monopolist mit Fernsehsender, „ein Politunternehmen im Cockpit des Kreml“. Mit dem
unternehmerischen Ethos, das Sie, meine Damen und
Herren von der SPD, hierzulande immer einfordern, hat
das überhaupt nichts zu tun.
({9})
Die deutsch-russischen Beziehungen sind wichtig.
Aber Sie dürfen deshalb nicht unter den Teppich kehren,
was Ihr Altkanzler hier unternimmt. In Polen, in den baltischen Staaten, in der Ukraine hören wir dieselben kritischen Stimmen, was den Pipelinebau und sämtliche Vorläufe betrifft, und dort fühlt man sich jetzt bestätigt. Ich
kenne keinen einzigen internationalen Kommentar in irgendeiner Zeitung dieser Welt, der den Sachverhalt anders beschreibt, als ich ihn hier im Debattenbeitrag für
die Bundestagsfraktion der FDP vortrage.
({10})
Ich zitiere zum Abschluss zwei hochinteressante Meinungen aus Ihren eigenen Reihen. Der Kollege Reinhard
Schultz findet es im Gegensatz zu den zahlreichen von
mir zitierten Kommentaren eher beruhigend, dass
Schröder und nicht ein Mitglied der russischen Nomenklatura den Pipelinebau steuert. An Schlichtheit ist das
nicht zu überbieten.
({11})
Der Kollege Scheer hat gesagt, Schröder habe offensichtlich der Instinkt verlassen. Ich will es etwas deutlicher sagen - bezichtigen Sie mich nicht des Plagiats,
weil es ein prominentes Mitglied dieses Hauses schon
gesagt hat -: Es ist wirklich instinktlos, was der Altkanzler getan hat, und deshalb muss das hier besprochen werden.
({12})
Das ist nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Das ist nicht im europäischen Interesse. Das ist
noch nicht einmal im Interesse der Gewerkschaften. Sie
wissen doch, was er auf dem Gewerkschaftstag gesagt
hat:
Herr Gerhardt, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich weiß jetzt, wohin ich gehöre. Auch wir wissen es
jetzt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Koppelin das
Wort.
Herr Präsident, die Fraktion der FDP hat diese
Aktuelle Stunde beantragt, damit die Haltung der Bundesregierung erklärt wird. Auf der Rednerliste steht kein
Mitglied der Bundesregierung. Wir beantragen daher,
den Vizekanzler herbeizurufen.
({0})
Es ist also ein Geschäftsordnungsantrag gestellt worden. Meldet sich jemand zur Widerrede zu Wort? - Bitte
schön, Herr Benneter.
Die Bundesregierung hat ihre Haltung klar dargetan.
({0})
Insbesondere hat der Vizekanzler deutlich gemacht,
({1})
dass es im deutschen Interesse liegt, dass der ehemalige
Bundeskanzler die Oberaufsicht über eine solche Gesellschaft übernimmt. Insofern spreche ich mich gegen diesen Antrag aus und rufe dazu auf, ihn abzulehnen.
({2})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer für den Antrag
ist, den Vizekanzler herbeizuzitieren, den bitte ich um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Wir sind im Präsidium einig, dass die Mehrheit für den
Antrag gestimmt hat.
({0})
Deshalb bitte ich darum, dass der Vizekanzler herbeigerufen wird.
Bis dahin unterbreche ich die Sitzung.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Der Herr Vizekanzler ist eingetroffen. Vielen Dank,
dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Müntefering.
Bevor wir in der Aktuellen Stunde fortfahren, möchte
ich Ihnen schnell die Wahlergebnisse bekannt geben.
Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses gemäß § 6
Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht:
abgegebene Stimmen 566, davon gültig 563, Enthaltun-
gen 4, ungültige Stimmen 3. Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD 409 Stimmen, Fraktion der FDP 54 Stim-
men, Fraktion Die Linke 51 Stimmen, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen 45 Stimmen.1)
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD erhalten
neun Mitglieder, die übrigen Fraktionen jeweils ein Mit-
glied. Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesver-
fassungsgericht sind die Mitglieder in der Reihenfolge
gewählt, in der ihr Name auf dem Wahlvorschlag er-
scheint. Die Namen der gewählten Mitglieder entneh-
men Sie bitte den Drucksachen 16/201 bis 16/204.
Sodann Wahl der Mitglieder des Richterwahlaus-
schusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes: abgege-
bene Stimmen 561, davon gültig 557, Enthaltungen 1,
ungültige Stimmen 4. Von den gültigen Stimmen entfie-
len auf die Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD 403, auf den Wahlvorschlag der Frak-
tion der FDP 56, auf den der Fraktion Die Linke 50 und
auf den der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen 47.2)
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD erhalten
13 Mitglieder, die Fraktionen der FDP, der Linken und
des Bündnisses 90/Die Grünen jeweils ein Mitglied.
Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mitglieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge gewählt, in der die Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Die Namen der gewählten Mitglieder und
Stellvertreter entnehmen Sie bitte den Drucksachen 16/188
bis 16/191.
Jetzt fahren wir in der Aktuellen Stunde fort. Das
Wort hat der Kollege Hermann Gröhe von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Be-
1) Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
2) Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3
rufung von Altbundeskanzler Gerhard Schröder zum
Aufsichtsratsvorsitzenden des Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline hat viele Fragen, viel Irritation, Verärgerung und - wohl auch unter den eigenen Anhängern - Enttäuschung ausgelöst.
({0})
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert
Lammert, hat deutliche Worte dazu gefunden und damit
sicher für viele von uns gesprochen.
({1})
Dankbar bin ich aber auch für eine Reihe kritischer Anmerkungen aus den Reihen der SPD, die deutlich machen: Die kritisch diskutierte private Entscheidung des
Altbundeskanzlers ist nichts, was das Miteinander der
Koalitionsfraktionen berührt.
Im Hinblick auf die Haltung der Unionsfraktion
möchte ich daran erinnern, dass wir bereits bei der Unterzeichnung des Vertrages über die Gaspipeline gesagt
haben: Wir bejahen die darin zum Ausdruck kommende
Vertiefung der deutsch-russischen Energiepartnerschaft.
Zugleich kritisieren wir aber die unzureichende Informationspolitik gegenüber den baltischen Staaten, Polen und
der Ukraine. - Wir müssen doch wissen, welche Ängste
in diesen Staaten eine Politik auslöst, die den Eindruck
erweckt, über ihre Köpfe hinweg zu geschehen. Deshalb
sind wir dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin Angela
Merkel und der Bundesaußenminister Steinmeier deutlich gemacht haben, dass wir gerade in der Zusammenarbeit mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn
eine besondere Bedeutung sehen. Das ändert nichts am
Ziel einer weiteren Vertiefung der deutsch-russischen
Partnerschaft, stellt aber eine wichtige und, wie ich
meine, notwendige Ergänzung dieser Politik dar.
Den außenpolitischen Kommunikationsmängeln im
Vorfeld der Vertragsunterzeichnung folgt nun ein persönliches Verhalten, das weitere Fragen auslöst: Wann
wurde diese geschäftliche Zusammenarbeit ins Auge gefasst? Können ein ehemaliger Stasi-Offizier und ein
weitgehend von einem ausländischen Staat kontrolliertes
Unternehmen überhaupt, also auch jenseits der jetzt diskutierten Karenzzeiten, angemessene Partner für einen
ehemaligen deutschen Regierungschef sein?
({2})
Brauchen wir einen Ehrenkodex für ehemalige Regierungsmitglieder?
Die erste Frage kann nur der Betroffene beantworten;
gute Freunde werden ihm dies sicherlich raten.
({3})
Die zweite Frage beantworte ich mit einem klaren Nein.
Intensiver sollten wir uns mit der dritten Frage beschäftigen.
Wir jedenfalls werden uns einer ernsthaften Debatte
über einen Ehrenkodex nicht verweigern.
({4})
Erste Vorschläge, beispielsweise in Anlehnung an die
Regelungen für ehemalige Mitglieder der EU-Kommission, wurden bereits gemacht. Entrüstung ist für die vor
uns liegende Debatte allerdings ein schlechter Ratgeber,
auch die „nachgeholte Entrüstung“ der Partei des ehemaligen Bundesaußenministers über eine nun plötzlich zu
enge Freundschaft Schröders mit Putin, an der man noch
vor wenigen Wochen überhaupt nichts Kritikwürdiges
fand.
Ich verhehle hier aber nicht, dass ich Zweifel an einem schriftlich fixierten Ehrenkodex habe. Anstand erreicht man nicht mit einem komplizierten Regelwerk,
({5})
das zudem sehr differenziert und folglich sehr kompliziert sein müsste. Wir wollen ja einen engeren Austausch
zwischen Wirtschaft und Politik, was auch Berufswechsel zwischen diesen Bereichen einschließen muss,
({6})
Berufswechsel übrigens, die in anderen Ländern üblicher sind, was man hierzulande nicht selten beklagt. Zudem gilt Art. 12 des Grundgesetzes, die Freiheit der Berufswahl, natürlich auch für ehemalige Spitzenpolitiker.
Auch mag ein schriftlich fixierter Ehrenkodex geradezu
in die Versuchung führen, seine Grenzen austesten zu
wollen. Aber macht es nicht gerade Anstand aus, auch
nach den Buchstaben des Gesetzes Erlaubtes zu unterlassen, weil es sich eben nicht gehört?
({7})
Auch darüber sollten wir im Rahmen der Debatte über
einen Ehrenkodex nachdenken.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Bodo Ramelow von der
Linken.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter
Herr Präsident! Ich kann Herrn Gerhardt in der inhaltlichen Analyse über den hier in Rede stehenden Vorgang
nur zustimmen, möchte aber erwähnen, dass die FDP als
Antragstellerin dieser Aktuellen Stunde allen Grund hat,
sich an die eigene Nase zu fassen.
({0})
Den Ehrenkodex im europäischen Rahmen haben wir
schließlich Herrn Bangemann zu verdanken, der sich ja
sehr bei Telefonica engagiert hat.
Das wirft ein anderes Problem auf, über das wir, wie
ich denke, viel gründlicher miteinander reden sollten:
Reicht ein Ehrenkodex für die Vorgänge, über die wir
hier reden, aus oder sind nicht eher transparente Regeln
für Politik und Wirtschaft notwendig?
({1})
Ich möchte das an einem aktuellen Beispiel verdeutlichen. Der Gammelfleischskandal in Deutschland zeigt,
wie notwendig es ist, eine gläserne Produktion und regelmäßige Kontrollen in der gesamten Kette vom
Schlachthaus bis zum Supermarkt zu haben. Eine ähnliche klare und transparente Kette bräuchten wir auch für
die deutsche Politik. Das zeigt der aktuelle Vorgang.
({2})
- Sie können die Schlussfolgerungen ziehen, die Sie
wollen. Ich würde mir nicht erlauben, die FDP mit Gammelfleisch zu vergleichen. Ich rede von der Kette zwischen Politik und Gesetzgebung. In dieser Kette ist einiges nicht in Ordnung.
Das geht mit den Verhaltensregeln für unsere Abgeordneten los. Ich möchte Sie von der FDP ermuntern, Ihren Widerstand aufzugeben. Ich denke, wir brauchen
transparente Regeln, die dazu verpflichten, dass alle Nebentätigkeiten von uns Abgeordneten offen gelegt werden.
({3})
- Wissen Sie, Ihre Nähe zur Stasi, die Sie gerade mit Ihrem Herrn Schröder offenbaren, sollten Sie bei sich selber ausmachen. Ich finde es absonderlich, wie Sie jetzt
auf andere zeigen.
Aber, meine Damen und Herren, es gibt etwas viel
Wichtigeres als Ihre dämlichen Zwischenrufe;
({4})
das ist die Ministererlaubnis, mit deren Hilfe sich die
Politik über Entscheidungen von Gerichten oder Kontrollkommissionen hinwegsetzen kann. Bei Herrn
Müller wusste man nie: Ist er der Vertreter der Wirtschaft in der Regierung oder gehört er zum Parlament
und wird durch dieses kontrolliert? Wir fordern deswegen die Abschaffung der Ministererlaubnis
({5})
und sagen ganz klar: Auch bei der anstehenden Entscheidung zu Pro Sieben Sat. 1 und Springer darf es keine
Ministererlaubnis geben. Wir werden eine gesetzliche
Regelung einbringen und Sie dann bitten, sich klar zu
entscheiden, ob Ministererlaubnisse zulässig bleiben sollen oder nicht. Wir werden die FDP klar fragen, ob die
Regelungen über die Einkünfte von Abgeordneten sauber dargelegt werden.
In diesem Sinne würde ich mir mehr Transparenz von
den deutschen Politikern wünschen.
({6})
- Sie können meine Spendenabrechnungen im Internet
nachlesen. Ich würde mich freuen, auch Ihre lesen zu
können. Es wäre schön, wenn sie transparent wären, aber
Ihnen ist es ja schon zu viel, sie dem Präsidenten zu melden.
({7})
Mehr Transparenz in der deutschen Politik bedeutet
klare Abgrenzung. Es muss deutlich gemacht werden,
dass diejenigen, die zehn Tage vor der Wahl einen Vertrag unterschreiben, nicht einen Monat nach der Wahl für
das gleiche Unternehmen - zudem „outgesourct“ in einem Steuersparland - die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden übernehmen können. Ich finde, Herr
Westerwelle, das riecht stark nach Gammelfleisch. In
diesem Sinne sind wir für Transparenz in der deutschen
Politik. Wir fordern Herrn Schröder auf, das Mandat
nicht anzunehmen.
({8})
Obwohl das sicher ein umstrittener Beitrag war, gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
von der SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich den Versuch unternehmen, die Debatte wieder zur Sachlichkeit
zurückzuführen.
({0})
Ich sehe keine Irritation und auch keine Verärgerung darüber, wie sich der Bundeskanzler a. D. verhalten hat.
Wir haben in der jetzigen Situation erstmals die Chance,
eine direkte Anbindung an die russischen Gasvorräte in
Westsibirien zu bekommen. In der nächsten Zeit wird
das Volumen des Erdgasimports mit Sicherheit sehr stark
steigen. Das müsste jeder wissen, der sich ernsthaft damit auseinander setzt - gerade auch die Partei der Aufsichtsräte, die sich jetzt so empört.
({1})
Das zusätzlich produzierte Gas muss nach Europa transportiert werden. Bisher existieren dafür zwei Pipelines,
eine Südroute und eine Route, die durch Polen und
Weißrussland führt. Jeder weiß um die technischen und
politischen Schwierigkeiten, die mit der Produktion und
dem Gastransport nach Deutschland zusammenhängen.
({2})
Die Ostseepipeline bietet uns die Chance, unabhängig
von den zwischengeschalteten Staaten direkt an die
Energieversorgung angeschlossen zu werden.
({3})
Auch die Grünen müssten wissen, dass in der nächsten Zukunft Windkrafträder allein nicht ausreichen werden. Wir brauchen diesen Öltransport.
({4})
- Entschuldigung. Wir brauchen diesen Gastransport
nach Europa.
({5})
Die Pipeline wird in Greifswald anlanden. In Greifswald
wird die Verteilung Richtung Nordwesteuropa erfolgen.
({6})
Das wird die wirtschaftlichen Möglichkeiten in einem
Landstrich verbessern, der darauf angewiesen ist, mithilfe neuer Technologien nach vorne zu kommen.
({7})
Diese dritte, unabhängige Verbindung verläuft
100 Kilometer entfernt von der polnischen Grenze. Insofern kann sie auch zu einer sicheren Gasversorgung Polens beitragen.
Der ehemalige Bundeskanzler wurde von russischer
Seite angesprochen, ob er den Aufsichtsratsvorsitz für
dieses europapolitisch, geostrategisch, energie- und wirtschaftspolitisch wichtige
({8})
Projekt übernehmen will. In dieser Situation hat sich
Gerhard Schröder, dem die Stärkung der deutsch-russischen Beziehungen durch ein gemeinsames, technologisch nach vorne gerichtetes Projekt immer ein Anliegen
war, bereit erklärt, die Oberaufsicht über diese Gesellschaft zu übernehmen.
({9})
Über Geld ist überhaupt noch nicht gesprochen worden.
({10})
- Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Sie von der FDP
sind ja Kenner der Materie, wenn es um Aufsichtsratstantiemen geht. - Gerhard Schröder hat im ureigenen
Interesse Deutschlands die Oberaufsicht für ein Projekt
übernommen, das im energiepolitischen und im energiewirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegt. Das muss
jedem klar sein.
({11})
Gerade angesichts unserer geostrategischen Situation
- allerorten hört man „Weg vom Öl!“ - und der Entwicklung der Ölpreise, die ein Erpressungs- und Nötigungspotenzial der Ölstaaten uns gegenüber nahe legt, müssen
wir Wert darauf legen, dass das produzierte Gas möglichst direkt nach Deutschland und Mitteleuropa kommt.
({12})
Genau diesem Projekt widmet sich Gerhard Schröder. In
diesem Sinne übernimmt er die Oberaufsicht. Es liegt im
ureigenen Interesse Deutschlands, wenn Gerhard
Schröder sich so betätigt.
({13})
Herr Kollege Gröhe, Gerhard Schröder bewegt sich in
der Linie seiner Kanzlerschaft, in der Linie dessen, was
er durchsetzen wollte.
({14})
Ich sehe keinen Anlass, deshalb einen Ehrenkodex einzufordern. Außerdem hieße das ja nur: Wenn jemand
eine Tätigkeit übernehmen will, hat er sie vorher anzumelden, damit dann andere darüber entscheiden können,
ob er diese Position übernehmen darf oder nicht. Ich bin
sicher, dass die Bundesregierung der Meinung ist - das
hat der Wirtschaftsminister von der CSU klar zum Ausdruck gebracht -, dass es im Interesse Deutschlands ist,
wenn Gerhard Schröder den Aufsichtsratsvorsitz übernimmt. Ich denke, auch die CDU/CSU-Fraktion sollte
das so sehen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Benneter hat davon gesprochen, dass wir alle
davon ausgehen müssen, dass sich Altbundeskanzler
Gerhard Schröder geopfert hat. Ich stelle jedoch fest:
Das Einzige, was der Altbundeskanzler geopfert hat, ist
sein Ruf.
({0})
Seinen Ruf so leichtfertig zu opfern ist eine politische
Eselei.
Ich denke, wir müssen uns mit zwei Fragen beschäftigen. Die erste Frage lautet: Von wem hängen wir, was unsere Energieversorgung angeht, ab? Wir hängen beispielsweise von Russland ab, was unsere Versorgung mit
Erdgas betrifft, und wir hängen unter anderem von einigen arabischen Staaten ab, wenn es um unsere Versorgung mit Erdöl geht. Wir können also nicht immer nur
froh und glücklich darüber sein, welche Regierungen und
Konzerne dort das Sagen haben und wie die jeweiligen
Machtstrukturen sind. Das ist der erste wichtige Punkt.
Der zweite wichtige Punkt ist die Debatte darüber, ob
Politikerinnen und Politiker gleichzeitig zu ihrer Tätigkeit im Parlament, im Anschluss daran oder vorher in
der Wirtschaft tätig sein dürfen. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich nenne zum einen Friedrich Merz und zum anderen Klaas Hübner von der SPD-Fraktion. Beide sind
aus einer unternehmerischen Tätigkeit heraus vor den
Wähler getreten und haben sich wählen lassen. Es ist absolut legitim, dass Politiker gleichzeitig zu ihrer Tätigkeit im Parlament auch in der Wirtschaft tätig sind.
Das Problem dieser Debatte bestand darin - hier haben, wie ich finde, auch die Kollegen von der FDP überzogen -, dass man die Tätigkeit von Politikerinnen und
Politikern in der Wirtschaft generell in Misskredit gebracht hat. Das Kernproblem von Gerhard Schröder ist,
dass sein Verhalten eine öffentliche Reaktion hervorgerufen hat, die dazu geführt hat, dass die empörte Öffentlichkeit sofort die generelle Trennung von Politik und
Wirtschaft forderte. Ich aber meine, dass Leute mit unternehmerischem Hintergrund hier im Parlament durchaus ihren Platz haben und dass sie zum Beispiel durch
das Verhalten des Altbundeskanzlers Gerhard Schröder
in ihrer Arbeit diskreditiert werden.
({1})
Der Name Bangemann ist ja schon gefallen und die
Bemerkung von Herrn Söder, der gesagt hat, man dürfe
Herrn Schröder jetzt nicht mehr Altbundeskanzler nennen, fand ich nicht in Ordnung. Das hat mich an dieser
Debatte etwas gestört. Denn ich denke, dass sich die Empörung sehr in Grenzen halten sollte. Aufseiten der
Union sollte man beispielsweise einmal an Helmut Kohl
und seine Tätigkeit für Kirch denken. Darüber haben Sie
von der SPD sich damals zu Recht empört. Deswegen
ärgere ich mich, dass Sie jetzt vergleichsweise rückhaltlos hinter dem Bundeskanzler stehen.
({2})
Ich glaube, dass es jenseits eines Ehrenkodexes, über
den auch wir innerhalb der Grünen-Fraktion reden sollten, ein ganz klares Kriterium für Anstand gibt. Ich finde
es unanständig, wenn der Altkanzler der Bundesrepublik
Deutschland den Aufsichtsratsvorsitz einer Tochter der
Gasprom übernimmt.
({3})
Lassen Sie mich das begründen. Ich finde das erstens
unanständig - darauf hat Herr Gerhardt bereits hingewiesen -, weil die Gasprom in Russland aufgrund ihrer
unternehmerischen Verzweigtheit nicht gerade für bürgerliche Freiheitsrechte steht, sondern im Gegenteil
- siehe den Fall Chodorkowski - auch davon profitiert,
dass Leute inhaftiert werden und der russische Staat seinen starken Arm zeigt. Es gibt sehr viele nicht namentlich zu nennende Personen aus dem Medienbereich, die
unter der Gasprom zu leiden haben.
({4})
Ich finde es nicht anständig, eine Führungsposition
bei der Gasprom zu übernehmen, deren Vorstandsvorsitzender ein Ex-Stasimajor ist, der zuvor zufälligerweise
Wirtschaftsspionage im Bankenbereich betrieben hat
und bei der Dresdner Bank tätig war; so viel zum Namen
Warnig. Unanständig finde ich das auch deshalb, weil
die Gasprom ein Bild von Europa hat, an dem ich Sie
noch einen Moment lang teilhaben lassen möchte. Die
Gasprom hat vorgestern ein Pressegespräch gemacht und
dort der Öffentlichkeit den Hintergrund des Baus der
Gaspipeline vorgestellt. Unter der Überschrift „Die
norddeutsche Gaspipeline - Versorgungssicherheit für
Europa“ wurden eine Reihe von Gründen für den Bau
der Pipeline genannt. Man kann dafür oder dagegen sein,
dass durch die Ostsee hindurch eine solche Pipeline gebaut wird; das ist eine wirtschaftspolitische Entscheidung. Aber dann wurde folgende Begründung genannt:
Ein Grund für den Bau dieser Pipeline sei die Vermeidung unkalkulierbarer Risiken bei der Durchleitung des
Gases durch das Territorium von Drittstaaten. Ich
möchte hier für den ganzen Deutschen Bundestag feststellen, dass die baltischen Staaten und Polen Teile der
Europäischen Union sind
({5})
und dass ich deshalb nicht glaube, dass es unkalkulierbare Risiken gibt.
({6})
Diese Länder sind unsere Partner in der Europäischen
Union. Deswegen ist es unanständig, ein solches Unternehmen mit seinem guten Namen zu schmücken.
({7})
Herr Präsident, lassen Sie mich schließen mit einer
spontanen Äußerung von Peter Struck - für mich jemand, der in seiner Tätigkeit als Politiker wirklich eine
Vorbildfunktion hat -, der am Sonntag im ZDF etwas gesagt hat, womit er mir aus der Seele gesprochen hat. Er
hat den schlichten Satz gesagt: Ich hätte das nicht gemacht. - Ich finde, man kann ergänzen: Herr Altbundeskanzler Schröder, verzichten Sie auf diesen zweifelhaften Job! Sie haben das nicht nötig und dieses Land hat
das nicht nötig.
({8})
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Franz
Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
dieser Aktuellen Stunde war kein Minister auf der Regierungsbank. Das ist dem Parlament gegenüber nicht
angemessen und ich bedaure das; das haben wir von der
Bundesregierung miteinander zu besprechen. Ich will
versuchen, dafür zu sorgen, dass wir da in Zukunft besser sortiert sind.
({0})
Ich will zunächst sagen, dass diese Ostseepipeline ein
Projekt von großer Sinnhaftigkeit ist; das ist von einigen
Kollegen schon angesprochen worden. Es geht um die
Energiesicherheit Deutschlands. Das Unternehmen, das
diese Ostseepipeline errichtet, ist ein internationales: Es
gehört zu 51 Prozent Gasprom und zu 49 Prozent deutschen Beteiligungen. Das Projekt an sich ist nicht neu:
Wir kennen es seit einiger Zeit und haben es gestützt und
gefördert. Es ist auch nicht wegzureden mit dem Hinweis, dass es bereits eine Gaspipeline gibt, die durch
Polen führt. Die Pipeline, die jetzt gebaut wird, soll nicht
nur Deutschland versorgen, sondern weitergeführt werden in die Niederlande, nach Großbritannien und in andere europäische Länder. Diese Bundesregierung hat,
wie die Bundesregierung davor, zum Ausdruck gebracht:
Sie ist für dieses Projekt.
({1})
Es bedeutet eine Diversifizierung, die angesichts der
Probleme, die die Energieversorgung in dieser Welt bereitet, vernünftig ist. Deshalb kann doch kein Mensch in
diesem Haus ernstlich infrage stellen, dass es sinnvoll
ist, diese Pipeline zu bauen und noch mehr Sicherheit in
unsere Energieversorgung zu bringen, indem wir sie diversifizieren.
({2})
- Der Weg weg vom Öl ist ein Thema, das uns alle miteinander verbinden muss.
({3})
Nun hat die FDP eine Frage an die Bundesregierung
gestellt. Genauer muss ich sagen: die Spaß-FDP; ich erkenne Sie alle wieder heute. Mit einem Augenzwinkern
sind Sie unterwegs, haben geglaubt, sie könnten sich einen Jux daraus machen. Aber die Haltung der Bundesregierung zu dem Projekt dieser Ostseepipeline ist rundum
positiv und zustimmend; das will ich hier noch einmal
feststellen.
({4})
Das hat auch damit zu tun, dass der Bundeswirtschaftsminister dabei war, als die erste Schweißnaht - das ist so
eine Art Grundsteinlegung - gefeiert wurde. Die Kanzlerin hat mit unserem Nachbarn Polen darüber gesprochen,
dass die Interessengegensätze, die ja vermutet werden,
ausgeglichen werden können. Kurzum: Diese Pipeline
kann für ganz Europa von großem Nutzen sein.
Nun hat die FDP ja nicht nach der Haltung der Bundesregierung zu diesem Projekt gefragt, sondern dazu,
dass Gerhard Schröder, der ehemalige Bundeskanzler, an
die Spitze dieses Unternehmens geht. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil sich die Bundesregierung dazu
keine Meinung gebildet hat.
({5})
- Nun seien Sie vorsichtig, ehe Sie dazwischenjohlen!
Das wäre eine interessante Frage. Aber stellen Sie
sich vor, ich würde Ihnen heute hier erzählen, wir hätten
im Kabinett darüber gesprochen, ob man so etwas darf
oder nicht! Da müsste diese große FDP ja wohl aufspringen und sich empören, was die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich anmaßte, sich einzumischen,
wer bei internationalen Unternehmen wie dem dort entstehenden an der Spitze stehen soll!
({6})
Was stellen Sie also für Fragen?! Kleinkariert, schon im
Ansatz.
({7})
Sie haben gedacht: Da können wir die mal erwischen,
jetzt pieken wir die mal eben an.
({8})
Aber das, was Sie da machen, bleibt unter Ihrem Niveau;
Herr Gerhardt, das will ich Ihnen sagen.
Das gilt in Maßen auch für Sie von den Grünen. Die
Geschwindigkeit, mit der sich manche hier im Raume
drehen und glauben, sie könnten hier so herumspuken,
finde ich interessant.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Projekt haben wir gefördert und gefordert. Wir haben es in
einer Zeit unterstützt, als noch niemand wusste, dass am
18. September Bundestagswahl sein würde.
({10})
Wir haben es unterstützt, ohne zu wissen, wie die Bundestagswahl ausgehen würde. Wir, auch Gerhard
Schröder, haben es unterstützt, ohne zu wissen, dass er
jetzt nicht mehr Bundeskanzler sein würde.
({11})
Er hat auf den Marktplätzen gestanden und hat gekämpft. Oder wollen Sie sagen, das habe er nur gemacht,
um hinterher in diese Funktion wechseln zu können? Es
ist absoluter Irrsinn, was Sie da erzählen.
({12})
- Hören Sie auf zu schreien. Sie haben sich ein Ei ins
Nest gelegt. Das wird Ihnen noch wehtun.
({13})
Sie fordern die Bundesregierung der Bundesrepublik
Deutschland auf, sich dazu zu äußern, wenn irgendjemand in bestimmten internationalen Unternehmen an die
Spitze der Unternehmen rückt. Dabei geht es zunächst
einmal nicht um die Person Gerhard Schröder. Das kann
man nicht auf eine Person beziehen. Dann müssten wir
auch über andere Personen sprechen.
({14})
Lieber Herr Gerhardt, Bundeskanzler, Regierungsmitglieder und ehemalige wichtige Politiker haben alle
möglichen Funktionen übernommen. Sie beraten Verlage, schreiben Bücher und sind im Auftrag der Bundesregierung in Missionen überall auf der Welt unterwegs.
Das ist alles richtig. - Sie von den Grünen schütteln den
Kopf. Ich bewege mich gerade auf die entscheidende
Frage zu - ich umkreise sie nahezu -:
({15})
Sind Sie in der Sache dagegen, dass er das macht,
({16})
oder sind Sie dagegen, weil er Geld dafür bekommt?
({17})
Genau das ist Ihr Problem. Dass Gerhard Schröder mit
seiner Kenntnis und seiner Erfahrung der letzten Jahre
an dieser Stelle ein guter Mann ist und dass er diese Aufgabe übernehmen kann, werden Sie nicht bestreiten können, wie auch sonst niemand hier im Raum. Das ist die
schlichte Wahrheit.
({18})
Es gibt Leute, die Putin schon immer nicht mochten
und die deutsch-russische Freundschaft auch nicht.
({19})
- Das habe ich doch gelesen. Sie toben sich jetzt auch
aus.
Ich sage Ihnen: Es gibt zu diesem Fall keine Haltung
der Bundesregierung, weil sie sich dazu keine Meinung
gebildet hat. Als Mitglied dieser Bundesregierung sage
ich Ihnen aber meine persönliche Meinung als Franz
Müntefering: Gerhard Schröder konnte dieses Angebot,
das ihm gemacht worden ist, annehmen. Ich bin froh,
dass er das getan hat, weil er an dieser Stelle für unser
Land und für Europa auch in Zukunft gute strategische
Arbeit leisten kann. Dieses Projekt ist ein strategisches
Projekt für ganz Europa. Man kann unterschiedlicher
Meinung dazu sein, ich persönlich bin mir aber sicher,
dass er das mit aller Integrität ausführen wird. Dass sie
ihn gefragt haben und nicht einen Herrn Gerhardt, einen
Herrn Westerwelle oder einen Herrn Brüderle, ist ein
Zeichen dafür, wem sie so etwas zutrauen und wem
nicht.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Brüderle von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde zeigt: Die Opposition ist in diesem Parlament nicht machtlos.
({0})
Sie hat es geschafft, dass sich gnädigerweise wenigstens
ein Minister ins Parlament begeben hat. Die mangelnde
Präsenz der SPD-Fraktion zeigt die innere Distanz der
Sozialdemokraten zu ihrem früheren Kanzler.
({1})
Herr Kollege Benneter, Sie sprachen immer von Öl.
Ich darf Ihnen verraten: Es geht hier um Gas und um
Kohle, aber nicht um Öl. Das sage ich Ihnen, damit Sie
die Fakten kennen.
({2})
Herr Müntefering, ich möchte aufgreifen, was Sie gesagt haben, nämlich dass sich die Bundesregierung dazu
nicht äußern soll und nicht äußern kann. Der Fall
Bangemann, der mir nicht gefallen hat, ist nicht vergleichbar mit dem Fall Schröder.
({3})
- Nein, nein. Der Unterschied ist, dass dort jemand europaweit für generelle Regeln zuständig war. Daran haben
Sie sich täglich abgearbeitet. Hier hat ein ehemaliger
Kanzler ein konkretes Projekt eines Unternehmens gefördert, das dem russischen Staat gehört und das Instrument der russischen Politik ist. Es ist ein Unterschied, ob
Sie im Einzelfall eingreifen oder für generelle Regeln
zuständig sind.
({4})
Der Regierungssprecher von Herrn Schröder, UweKarsten Heye - mancher kennt ihn noch -, hat im Fall von
Herrn Bangemann öffentlich erklärt, Herr Bangemann
habe dem Ansehen der Kommission einen erheblichen
Schaden zugefügt.
({5})
Regierungssprecher Heye erklärte, Bangemann habe
Deutschland einen schlechten Dienst erwiesen.
({6})
Herr Heye erklärte öffentlich in der „Passauer Neuen
Presse“, die Bundesregierung werde sich einer möglichen Klage einiger europäischer Länder gegen den beurlaubten Kommissar anschließen. Regierungssprecher
Heye sagte wörtlich, man werde sich beteiligen, wenn es
darum gehe, ein Verfahren in Gang zu setzen. - Dort haben Sie sich in einem Fall, der ungleich anders war,
durch den Regierungssprecher Ihrer Partei intensiv öffentlich betätigt. Heute sagen Sie, das ginge das Kabinett
nichts an. Was ist denn da richtig?
({7})
Das Schlimme ist ja die innere Unaufrichtigkeit.
Wirtschaftsminister Müller hat, als er der rot-grünen Regierung angehörte, in seiner Amtszeit die Fusion von
Eon und Ruhrgas - auch Partner dieser Pipeline - gegen
das Votum des Kartellamts und der Monopolkommission
genehmigt. Der ganze ökonomische Sachverstand war
dagegen, auch wegen des Marktanteils dieses Unternehmens von 87 Prozent. Später hat sich Schröder beschwert, dass die Gaspreise gestiegen sind. Einführung
in die Grundzüge der Ökonomie an der Volkshochschule
Mainz-Süd, zweite Stunde: Monopolpreise sind immer
höher als Wettbewerbspreise.
({8})
Anschließend ist dieser Herr Müller Vorstandsvorsitzender der Ruhrkohle AG, einer Tochtergesellschaft von
Eon, geworden. Staatssekretär Tacke, der das für ihn unterschrieben hat, ist anschließend Vorstandsvorsitzender
der STEAG AG, einer Tochtergesellschaft von Eon
Ruhrgas, geworden.
Das ist die Schieflage, weshalb viele im Land sagen,
dass die Politik dort nicht in Ordnung ist. Wir wollen uns
nicht in Richtung einer Bananenrepublik bewegen. Hier
müssen andere Maßstäbe und andere Haltungen her. Darum geht es.
({9})
Es geht doch gar nicht um diese Gasleitung, die ökonomisch vernünftig ist. Es geht auch gar nicht darum, ob
sie nun in Greifswald oder woanders ankommt; es geht
um die Haltung. Bundeskanzlerin Merkel spricht mittlerweile liebevoll vom „Altbundeskanzler“. Da schwingt
der Kanzler nach. 14 Tage war er abgewählt und aus
dem Amt und schon wurde er beim russischen Staatsunternehmen Aufsichtsratsvorsitzender.
({10})
Wahrscheinlich wird er auch noch Ehrenbürger der
Schweiz; denn er wirbt ja für den Standort Schweiz.
({11})
Es gibt offenbar keinen besseren Beleg dafür, dass es
sich nicht lohnt, ein Unternehmen in dem Land zu wählen, dessen politische Konkursmasse Rot-Grün hinterlassen hat, als nach Zug in die Schweiz zu gehen. Wahrscheinlich erhält er dort den Ehrenpreis für die
Standortwerbung für die Schweiz. Was wurde vorher
über die unpatriotischen Unternehmer geschimpft, die
sich ökonomisch entscheiden!
({12})
Ich habe gelesen - das ist interessant -, was der Chef
von Gasprom operativ alles machen soll. Aber Sie sagen
ja, es gehe nicht ums Geld, also um die 1,5 Millionen Euro, von denen die „Leipziger Zeitung“ heute berichtet, sondern um die Sache. Sie sollten wirklich einmal die Kirche im Dorf lassen:
({13})
Es ist nicht in Ordnung, dass Sie Monopole begünstigen
- ein Unternehmen auf dem Gasmarkt: Marktanteil von
87 Prozent - und anschließend die politisch Zuständigen
dorthin gehen. Hier ist wieder so ein Fall. Gasprom ist ja
nicht irgendein Unternehmen. Misslebige Medienunternehmen werden schnell aufgekauft. In Weißrussland, wo
es einen Diktator gibt, werden günstige Energiepreise
gemacht. Das ist ein Instrumentarium der russischen
Politik und kein Unternehmen wie Telefonica oder sonst
irgendeines, bei dem es einen Markt mit Konkurrenz
gibt. Hier ist ein Staatsmonopol in Russland. Dort geht
der deutsche Kanzler hin und wird Aufsichtsratsvorsitzender!
({14})
Sie sollten mal überlegen, was Sie tun! Den kleinen
Genossen, die bei Ihnen Plakate geklebt haben, kommt
das Frühstück hoch und ein Teil Ihrer Fraktion schämt
sich draußen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich diese Aktuelle Stunde zunächst zum Anlass nehmen, eine grundsätzliche Bemerkung vorweg zu machen. Der Wechsel von ehemaligen
Politikern, insbesondere Mitgliedern der Bundesregierung, nach ihrer Amtszeit in die Wirtschaft ist nicht nur
zulässig. Wir halten es auch für sinnvoll, dass sich politischer Sachverstand im Wirtschaftsleben wiederfindet.
({0})
Genauso halten wir es für richtig und wichtig, dass Unternehmer ihren wirtschaftlichen Sachverstand in die
Politik einbringen, am besten dadurch, dass sie Parlamentarier werden.
Beim heutigen Thema geht es aber nicht um diese
grundsätzliche Frage, sondern um die Umstände eines
solchen Wechsels. Dass allerdings gerade die FDP diese
Aktuelle Stunde beantragt hat,
({1})
verleitet zum Nachdenken darüber, wie das denn mit
dem schon angesprochenen Fall des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers und EU-Kommissars Martin
Bangemann
({2})
und seinem schnellen Wechsel zum spanischen Telefonica-Konzern war.
({3})
- Ich will das jetzt nicht vertiefen.
Ich glaube, wir sind uns einig: Fälle dieser Art werfen
die Frage des politischen Stils, mehr noch des Anstands
auf. Was geziemt sich für ein ehemaliges Mitglied der
Bundesregierung, einen hohen Repräsentanten unseres
Landes, nach Aufgabe seines Staatsamtes? Ich möchte
noch einmal betonen: Es spricht aus meiner Sicht grundsätzlich nichts dagegen, dass ein solch hochrangiger ehemaliger Politiker seinen Sachverstand in die Wirtschaft
einbringt. Das kann sogar im Interesse unseres Landes
liegen. Aber es sollte alles vermieden werden - auch das
muss ich sagen -, was auch nur den Anschein einer Belohnung für bestimmtes politisches Verhalten erwecken
könnte.
({4})
- Das ist eine grundsätzliche Bemerkung. - Es geht dabei nicht um die vor allem unter Juristen immer gleich
heiß diskutierte Frage der Rechtmäßigkeit eines solchen
Verhaltens. Für Zweifel daran - das möchte ich ganz klar
sagen - gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte, auch
nicht dafür, dass private Interessen mit denen des Staates
verknüpft worden sind.
Worum es hier geht, ist das Vertrauen. Es geht um
Glaubwürdigkeit und um Ansehen, und zwar nicht nur
des ehemaligen Bundeskanzlers, sondern letztlich aller
Politiker. Wir wissen, dass das Werturteil der Öffentlichkeit in solchen Fällen meist nicht nur den Handelnden
gilt, sondern auch den Politikern und damit der Politik
insgesamt.
Soweit im vorliegenden Fall Zweifel an der moralischen Unangreifbarkeit dieses Handelns geäußert werden und offene Fragen im Raum sind, die die Würde des
Staatsamtes tangieren könnten, ist es meiner Meinung
nach am früheren Kanzler, für Klarheit zu sorgen. Das
würde ich auch begrüßen, da unzweifelhaft in weiten
Teilen der Bevölkerung und parteiübergreifend Unverständnis und Unbehagen über die Umstände feststellbar
sind. Aber eines ist ganz klar: Vorverurteilungen darf es
nicht geben und auch keine Schnellschüsse wie etwa
Forderungen nach neuerlichen Änderungen der Verhaltensregeln oder nach einem Ehrenkodex. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Verhaltensregeln haben wir
erst vor sechs Monaten geändert, und zwar, wie ich
meine, in einer ziemlich missglückten Weise.
({5})
Was diesen Ehrenkodex angeht: Ich habe große Zweifel, ob ein solcher Ehrenkodex ein taugliches Instrument
ist, das angestrebte Ziel zu erreichen.
({6})
Nichts anderes hat im Übrigen der Kollege Gröhe vorher
in seiner Rede zum Ausdruck gebracht. Kann man denn
das, was Anstand und Common Sense fordern - also die
klassischen Beispiele für ungeschriebene Gesetze -,
wirklich in Paragraphen fassen? Ich glaube, nicht.
({7})
Ein Verhaltenskodex mag einen gewissen Rahmen
setzen. Die schriftliche Fixierung kann aber zu Fehlschlüssen verleiten: Alles, was dort nicht als unanständig
aufgeführt ist, wird man in Konsequenz daraus als anständig ansehen. Aber das muss nicht immer der Fall
sein. Wir müssen andererseits darauf achten, dass nicht
etwas schnell und vordergründig als unehrenhaft gebrandmarkt wird, woran an sich nichts Anstößiges ist.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vizekanzler Müntefering hat zu Recht festgestellt, dass diese von
der FDP initiierte Aktuelle Stunde den Charakter einer
Juxveranstaltung habe. Viele Ihrer Beiträge bestätigen
diese Einschätzung.
({0})
Ich möchte gern auf einige Redebeiträge eingehen
und sie auf ihre Ernsthaftigkeit überprüfen. Sie von der
FDP reden von Anstand, Moral und Ehre in der Politik.
Ich will nicht noch einmal die Erinnerung an Herrn
Bangemann strapazieren. Davon war schon so oft die
Rede, dass inzwischen sicherlich jeder weiß, was das für
eine faule Geschichte war.
({1})
Ich erinnere aber an die Kollegin Flach, die Geld bezogen hat, ohne dafür irgendeine Leistung zu erbringen
und ohne diese Einnahmen anzugeben. Wenn ich solche
Kolleginnen und Kollegen in den eigenen Reihen hätte,
dann wäre ich etwas vorsichtiger mit Begriffen wie
Ehre, Anstand und Moral.
({2})
Völlig neu und interessant für mich ist allerdings,
dass es mittlerweile aus der Sicht der FDP einem Betrieb
schon vorzuwerfen ist, wenn er seinen Geschäftssitz in
die Schweiz verlegt.
({3})
Ich wusste gar nicht, dass man einem Betrieb einen Vorwurf daraus machen kann. Nach dem, was Sie, Herr
Gerhardt und Herr Brüderle, vorgetragen haben, kann
man nur allen Unternehmern bei einem solchen Vorhaben zur Vorsicht raten: Dafür wird man von der FDP in
Deutschland ausdrücklich gerügt.
({4})
Herr Berninger, Ihr Beitrag war für mich Heuchelei
im Quadrat.
({5})
Entschuldigung, aber Sie waren doch Staatssekretär in
einer rot-grünen Regierung, die dieses Projekt beschlossen hat. Vielleicht habe ich es seinerzeit nicht mitbekommen, aber alle Kritikpunkte, die Sie eben an diesem Geschäft aufgeführt haben, habe ich vorher nicht von Ihnen
gehört. Wann haben Sie denn Ihre Bedenken vorgetragen?
({6})
Die Öffentlichkeit hat nichts davon erfahren. Deswegen
ist es heuchlerisch, wenn Sie sich diese Position zu Eigen machen, nachdem Sie aus dem Amt des Staatssekretärs ausgeschieden sind.
({7})
Lieber Kollege Ramelow, Sie fordern Transparenz in
der Politik und die Offenlegung der Nebeneinkünfte von
Abgeordneten. Herzlich willkommen in der Realität!
Das haben wir in der letzten Legislaturperiode mühsam
durchgesetzt, auch gegen Stimmen aus der FDP und der
Union bzw. gerade gegen diese Opposition.
Wir haben nämlich seinerzeit festgelegt, dass zukünftig Nebentätigkeiten hinsichtlich ihrer Art und der damit
verbundenen Einnahmen offen gelegt werden müssen.
Ich kann mich noch gut an die Position der Kolleginnen
und Kollegen aus der CDU/CSU erinnern, die genau das
nicht wollten. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass die
Öffentlichkeit und auch Sie ein Interesse daran haben,
was ein ehemaliger Bundeskanzler macht. Die Öffentlichkeit hat aber auch ein mindestens genauso großes Interesse daran, zu erfahren, was die Abgeordneten machen, die sie gegenwärtig vertreten.
({8})
Gestatten Sie mir deswegen - auch aus Respekt vor
dem Amt des Bundestagspräsidenten - einige Sätze.
Wenn Herr Lammert das Geschehene als „instinktlos“
bezeichnet,
({9})
aber gleichzeitig versucht, die Regelungen wieder rückgängig zu machen, sodass Abgeordnete in Zukunft Nebentätigkeiten nicht mehr offen legen müssen, dann verkneife ich mir lieber eine Bemerkung. Ich glaube, es
interessiert die deutsche Öffentlichkeit, ob jemand wie
Friedrich Merz gleichzeitig Abgeordneter ist, dem Aufsichtsrat der Deutschen Börse angehört und einen dortigen Großaktionär berät.
({10})
Die CDU/CSU wollte damals die Regelung zur Offenlegung verhindern. Wenn ich Sie richtig verstanden habe,
hält man sie immer noch nicht für sonderlich sinnvoll
und will sie wieder zurückschrauben.
({11})
Auch Herr Lammert hat sich schon diesbezüglich geäußert. Wir sollten uns vielleicht langsam einigen, was wir
eigentlich wollen:
({12})
einen Ehrenkodex, der keinerlei Auswirkungen hat, oder
glasklare Regelungen, die bei Verstößen entsprechende
Repressalien zur Folge haben, liebe Genossinnen und
Genossen.
({13})
- So weit geht es schon fast mit der großen Koalition!
Lassen Sie uns in diesem Sinne wieder auf den Boden
der Tatsachen zurückkehren. Ich freue mich auf Ihre Reaktion in der Diskussion über die Verhaltensregeln in
den zuständigen Ausschüssen.
Vielen Dank.
({14})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus, Dr. Dietmar
Bartsch und der Fraktion der LINKEN
Einsetzung eines Ausschusses des Deutschen
Bundestages für die Angelegenheiten der
neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen
- Drucksache 16/130 Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Mitglieder des Hauses, die an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen, damit diejenigen, die
daran teilnehmen wollen, dem Redner folgen können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Roland Claus von den Linken.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dem Genossen Generaldirektor geht es
nun um die Angelegenheiten der neuen Bundesländer.
Die Fraktion Die Linke schlägt Ihnen vor, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder
und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen.
({0})
Ich will in diesem Zusammenhang einen Kenner der ostdeutschen Szene zitieren, der einmal sagte:
Eine Bundesregierung, die den Osten so abhängt,
muss abgelöst werden im Interesse der Menschen in
den neuen Bundesländern und im Interesse
Deutschlands insgesamt. Der Aufbau Ost ist für die
Entwicklung Deutschlands von entscheidender Bedeutung.
So Edmund Stoiber an die Adresse der Regierung
Schröder, lange bevor er regierungsflüchtig wurde. Man
kann dazu nur sagen: Wo er Recht hat, hat er Recht.
({1})
Wir sehen in einem solchen Bundestagsausschuss natürlich kein Allheilmittel für die Lösung aller Probleme,
wohl aber einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht können wir Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, ein bisschen Hilfestellung
leisten. Wenn wir das richtig verstanden haben, dann
sind Sie mit der Zuordnung der Zuständigkeit für die
neuen Bundesländer nicht klar gekommen: Kanzleramt,
Tiefensee-Ministerium, einmal hin und einmal zurück.
Wenn Sie den von uns vorgeschlagenen Ausschuss einsetzen, dann haben Sie eine erste gute Adresse für die
Angelegenheiten, um die es hier geht.
({2})
Wir werden nicht davon ablassen - das sage ich hier
ausdrücklich -, das Grundgesetz zu zitieren, das uns gebietet, für gleichwertige Lebensverhältnisse in der gesamten Republik einzutreten. Die Koalitionsvereinbarung enthält sicherlich sehr viel Gutes zum Thema neue
Bundesländer, was die Zielstellung betrifft. Aber immer
wenn Sie das Ziel formuliert haben und wir dem begeistert zustimmen, fügen Sie hinzu: Das werden wir mit den
bewährten Instrumenten fortsetzen. Das heißt, mit den
Instrumenten, die zum Versagen geführt haben, wollen
Sie nun einen neuen Weg beschreiten. Daran haben wir
gewisse Zweifel.
({3})
- Sie geben mir ein gutes Stichwort.
Natürlich verkennen auch wir Linke nicht, dass im
Osten Deutschlands vieles erreicht worden ist.
({4})
Obwohl wir der Auffassung sind, dass die beiden letzten
Regierungen nicht die richtige Förderpolitik gemacht haben, ist es an dieser Stelle geboten, dass ein ostdeutscher
Sozialist den Bürgerinnen und Bürgern in den früher geborenen Bundesländern Dank für die Unterstützung sagt,
die nicht nur im Zahlen des Solidaritätszuschlags bestand, sondern auch in vielen anderen Dingen. Das will
ich hiermit ausdrücklich tun.
({5})
Schaut man sich die Realitäten des Ostens Deutschlands 2005 genau an, zum Beispiel das Ranking der
Bertelsmann-Stiftung, dann stellt man fest: Leider nehmen die Differenzen wieder zu. Die Ergebnisse der von
Ihnen eingesetzten Dohnanyi-Kommission sind, wie
wir finden, nicht wirklich gewürdigt worden. Dohnanyi
hat es auf einen Punkt gebracht, als er gesagt hat, um die
Angelegenheiten der neuen Bundesländer und anderer
strukturschwacher Regionen sollten sich alle kümmern.
Aber damit das klappt, muss es an einer Stelle koordiniert werden. Diesem Gedanken folgen wir mit unserem
Vorschlag, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen.
({6})
Inzwischen geht es nicht mehr um Nachsorge. Wir
sprechen vielmehr von einem Neuansatz für Ostdeutschland. Es ist doch ein sehr spannender Prozess, dass sich
hier zwei Transformationsprozesse überlagern: die
noch immer anhaltende gesellschaftliche Transformation
und die Transformation der Arbeitswelt. In Ostdeutschland werden heutzutage Erfahrungen gesammelt, die
künftig in der ganzen Republik gebraucht werden.
Im Osten entsteht Neues, das Verbesserungen für die
ganze Republik bringt. Dazu zwei Stichworte: Stadtumbau, auch Rückbau von Wohnungen. Weiterhin nenne
ich den Standortvorteil Kinderbetreuung. Reden Sie mit
Investoren! Ich weiß, dass Sie das machen. Für die sind
diese so genannten weichen Standortfaktoren Standortfaktoren der Zukunft. Darum müssen wir uns kümmern.
Deshalb lohnt es sich, diese Erfahrungen einzubringen.
Es ist nicht unser Begehren, eine Experimentierwerkstatt
für weiteren Sozialabbau einzurichten, sondern eine
Denkfabrik für Innovation und soziale Gerechtigkeit. Es
lohnt sich, dem Beispiel zu folgen.
({7})
Deshalb möchte ich Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen. Geben Sie sich selbst den viel gerühmten
Ruck, den Sie sonst immer von anderen verlangen!
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Claus, ich freue mich natürlich, dass Sie uns für unseren Koalitionsvertrag gelobt
haben. Ich teile Ihre Meinung, dass darin in der Tat einiges steht, was Ostdeutschland voranbringen kann. Wir
sprechen aber heute in der allgemeinen Aussprache nicht
über die Angelegenheiten Ostdeutschlands. Sie, Herr
Claus, fordern vielmehr von diesem Haus, dass es einen
eigenen Ausschuss einrichtet, der sich mit Ostdeutschland und mit den besonderen Problemen strukturschwacher Länder befassen soll.
({0})
Das ist der Punkt. Ich räume ein, dass man über den Sinn
eines solchen Ausschusses durchaus geteilter Meinung
sein kann. Für einen solchen Ausschuss spräche zweifellos, dass es nach wie vor eine gewaltige Menge von ostdeutschen Spezifika gibt, die einer besonderen Behandlung bedürfen und die in allen Politikbereichen beachtet
werden müssen. Sie nennen das Transformationsprozess.
Das ist eine etwas beschönigende Vokabel. Wir sprechen
von teilungsbedingten Nachteilen bzw. teilungsbedingten Belastungen. Das ist der Terminus, der auch im Solidarpakt enthalten ist und auf den sich unser Koalitionsvertrag bezieht.
Es stellt sich die Frage, Herr Claus, ob wir dafür eine
echte eigene Arbeitsstruktur brauchen oder ob nicht vielleicht die Systematik, nach der dieser Bundestag seit langem gegliedert ist, nämlich dass es sektorale Politikbereiche gibt, nach denen die Ausschussarbeit organisiert
ist,
({1})
mittlerweile auch für Ostdeutschland gelten sollte. Anders gesprochen: Soll die Abweichung von der Systematik, nämlich dass man zeitweise geografische Kriterien
oder auch strukturelle Kriterien angewandt hat, um einen
Ausschuss zu begründen, beibehalten werden oder
nicht? Diese Frage ist meines Erachtens durchaus berechtigt.
Wir haben im Jahr 2002 erlebt, dass sich die parlamentarische Mehrheit in diesem Haus entschlossen hat,
wieder der alten Systematik zu folgen. Wir waren am
Anfang sehr skeptisch, ob das richtig ist. Aber mittlerweile haben alle Fraktionen in diesem Hause ihre Arbeit
umgestaltet, sodass sie in diese neue Systematik hineinpasst.
({2})
Das war kein leichter Prozess. Wir haben ihn aber bewerkstelligt. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir jetzt
die alte Systematik, die wir übergangsweise einmal gehabt haben, wieder einführen sollten. Mir erscheint das
als ein Schritt zurück
({3})
und als eine Bindung zusätzlicher Kräfte.
Herr Claus, als nächstes muss ich Ihnen etwas Weiteres vorhalten. Wir haben am 22. November dieses Jahres
hier in diesem Haus einen gemeinsamen Antrag über
die zukünftige Arbeitsstruktur des deutschen Parlaments beschlossen. Das war ein Antrag, der von allen
Fraktionen des Bundestages, Herr Gysi, eingebracht
worden ist und einstimmig beschlossen wurde. Beantragt wurde, 22 Ausschüsse einzurichten, wobei keiner
dieser Ausschüsse speziell für den Aufbau Ost, für die
neuen Länder oder für strukturschwache Gebiete zuständig sein sollte.
Ich habe mich darum gekümmert, herauszufinden, ob
Sie womöglich im Vorältestenrat einen entsprechenden
Anspruch geäußert haben.
({4})
Mir wurde gesagt, das sei nicht geschehen. Auch wenn
es geschehen sein sollte, wenn ich vielleicht falsch informiert bin, dann wäre es Ihnen jederzeit möglich gewesen, hier noch einen Änderungsantrag einzubringen.
Aber das haben Sie nicht getan. Ich frage Sie: Was soll
sich Gravierendes in den neun Tagen bis zum Zeitpunkt
der Einbringung Ihres heutigen Antrags - das war der
1. Dezember 2005 - geändert haben, um Anlass dafür zu
geben, die Arbeitsstruktur des Bundestages noch einmal
grundlegend zu ändern? Ich kann nichts erkennen.
Herr Kollege Claus, wenn sich so etwas nicht ereignet
hat, dann frage ich mich: Welchen Sinn hat Ihre Aktivität eigentlich? Ich sage Ihnen: Es kommt Ihnen offenbar
überhaupt nicht darauf an, etwas für Ostdeutschland zu
tun oder Ostdeutschland mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In Ihrer Begründung schreiben Sie, einer
der Gründe für die Einsetzung eines solchen Ausschusses sei, dass ostdeutsche Probleme nicht genug parlamentarische Aufmerksamkeit gefunden hätten.
({5})
Das ist nicht schlüssig. Die parlamentarische Aufmerksamkeit, die ostdeutsche Probleme erhalten, ist nicht davon abhängig, ob es einen solchen Ausschuss gibt oder
nicht.
({6})
Vielmehr ist sie abhängig von der Aktivität der Parlamentarier. Zwei Vertreter Ihrer Fraktion sitzen im Ältestenrat. Sie haben dafür gesorgt, dass jeder Antrag, den
Sie auf die Tagesordnung setzen wollten, tatsächlich auf
die Tagesordnung kam und hier debattiert worden ist.
Was Sie wirklich wollen, hat mit der Einsetzung eines
Ausschusses insofern überhaupt nichts zu tun.
Die eigentliche Frage ist: Was wollen Sie wirklich bezwecken? Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben mit
den anderen Fraktionen zunächst einstimmig eine bestimmte Arbeitsstruktur beschlossen. Eine Woche später
haben Sie plötzlich gesagt: Aber wir brauchen noch einen Ausschuss für die Angelegenheiten Ostdeutschlands. Das ist nichts anderes als ein ziemlich durchsichtiger und plumper Versuch, den anderen Fraktionen, den
anderen Parteien, den politischen Gegnern für alles, was
in Ostdeutschland vielleicht nicht funktioniert, die
Schuld zuzuweisen. Ihr Argument würde lauten, dass Ihr
jeweiliger Antrag in diesem Ausschuss abgelehnt wurde;
Sie hätten alles Mögliche tun wollen, aber die anderen
hätten nicht zugestimmt.
Sie waren dabei, als die Struktur der Arbeit im Bundestag beschlossen worden ist. Sie haben diesem Beschluss, der unter anderem die Einsetzung von
22 Ausschüssen vorsieht, zugestimmt.
Herr Kollege Vaatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Claus?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Claus.
Herr Kollege, ist Ihnen in der Tat nicht bekannt, dass
wir das Ansinnen, einen solchen Ausschuss einzusetzen,
in den interfraktionellen Gremien sehr wohl vorgetragen
haben? Ist Ihnen in der Tat nicht bekannt, dass wir bei
der Einsetzung der anderen Ausschüsse gesagt haben
„Jawohl, die unstrittigen Ausschüsse tragen wir natürlich mit; sie sollen eingesetzt werden.“? Wir haben uns
dafür eingesetzt, damit nicht immer wieder der Eindruck
entsteht, in einem Parlament müssten sich alle nur streiten. Es ging uns darum, dass Einvernehmlichkeit hergestellt wird. Wenn Ihnen das alles in der Tat nicht bekannt
ist, dann frage ich einmal nach, mit welchen Strukturen
Sie in Ihrer großen, vielleicht zu großen Fraktion zu tun
haben.
({0})
Verehrter Herr Claus, Sie haben eine rhetorische
Frage gestellt.
({0})
Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Wenn das, was Sie
sagen, so ist, dann hätte Sie nichts daran gehindert, einen
Änderungsantrag zu stellen, wenigstens einen Debattenbeitrag zu leisten, als hier über den besagten Antrag
abgestimmt wurde,
({1})
oder eine Erklärung zur Abstimmung oder was auch immer abzugeben. Das parlamentarische Instrumentarium
steht Ihnen dafür zur Verfügung. Sie hätten all das jederzeit machen können. Sie haben es nicht gemacht. Sie
wollten zunächst einmal mit uns gemeinsam Tatsachen
schaffen, um hinterher gegen die von Ihnen geschaffenen Tatsachen anzurennen.
({2})
Das machen Sie seit Jahr und Tag. Das ist Ihre Strategie
in Ostdeutschland. Mit dieser Strategie haben Sie in Ostdeutschland bis jetzt nur Schaden angerichtet und nichts
erreicht.
({3})
Ich bitte Sie, Herr Claus: Überdenken Sie die Strategie
und bringen Sie sich in einer sinnvollen Art zugunsten
Ostdeutschlands ein!
({4})
Wir haben eine Menge zu tun. Wir haben den
Solidarpakt II umzusetzen. Wir haben erhebliche Eingriffe in eine ganze Reihe von Gesetzen vor, die das Ziel
haben, beispielsweise Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Nur, die Erfahrung zeigt, Herr Claus, dass
Sie mit Verfahrensbeschleunigungen nie etwas im Sinn
haben. Ich kann Ihnen zum Beispiel aus meinem Wahlkreis von Mitte der 90er-Jahre berichten -
Sie sollten aber jetzt keine zweite Rede halten, sondern nur auf die Frage antworten.
Herr Claus steht noch. Solange er steht - ({0})
Nein, es geht nicht danach, ob der Fragesteller noch
steht. Da könnte jemand eine Stunde stehen bleiben und
der Redner könnte eine Stunde antworten.
({0})
Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Ich hatte gemeint, den Kollegen Claus noch eine Weile unterhalten
zu müssen, weil er so lange stehen geblieben ist. Aber
wenn Sie mich unterbrechen, komme ich zum Schluss.
Ich fordere Sie noch einmal auf: Packen Sie mit an
und verstricken Sie uns hier nicht in zeitraubende und
unnütze Debatten über Strukturfragen, die meines Erachtens nicht notwendig sind, um Ostdeutschland voranzubringen!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Kollege Vaatz hat das aus einer etwas anderen
Sicht betrachtet, als ich das jetzt wohl tun werde, obwohl
wir im Ergebnis wahrscheinlich auf eine Linie kommen.
Auch wir in der FDP wissen, dass es große Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Ich füge hinzu: Die
gibt es auch zwischen Nord und Süd. Deshalb ist es in
Ihrem Antrag zumindest ein Fortschritt gegenüber der
Zeit von vier oder acht Jahren, dass Sie die strukturschwachen Gebiete integriert haben. Aber genau an dieser Stelle ist für mich der Punkt, an dem ich mich frage:
Wie definieren wir diese strukturschwachen Gebiete?
Welche Größe muss ein strukturschwaches Gebiet haben, damit es durch diesen Ausschuss vertreten werden
kann?
Ich nehme einmal das konkrete Beispiel aus meiner
Heimat Hochfranken. Das ist auf der anderen Seite von
Hof. Dort hat die Arbeitslosigkeit inzwischen dieselbe
Größenordnung erreicht wie im Vogtland und in Plauen;
allerdings - das gebe ich zu - weit unter dem ostdeutschen Durchschnitt. Jetzt ist die Frage: Gehört das Vogtland noch mit zu Ostdeutschland und damit in den Ausschuss? Muss Hochfranken integriert werden? Die
gleiche Frage kann man sich natürlich auch für andere
Bereiche stellen.
Um das noch einmal klar zu sagen: Wir als FDP
möchten, dass der Aufbau Ost zielstrebig und gewissenhaft vorangetrieben wird und dass andere strukturschwache Gebiete nicht zurückbleiben. Darüber sind wir alle
uns wahrscheinlich einig.
({0})
Aber genauso bin ich davon überzeugt, dass ein zusätzlicher Ausschuss in dieser Richtung uns nicht wesentlich voranbringt. Ich habe mir die Mühe gemacht,
noch einmal einige Unterlagen aus dem Ausschuss für
die Angelegenheiten der neuen Länder der vorletzten
Legislaturperiode herauszuziehen. Wenn Sie diese Berichte betrachten, dann stellen Sie fest: Hier wird eindeutig über Dinge gesprochen, die im Endeffekt in anderen
Ausschüssen entschieden werden müssen. Der Ausschuss hatte keine eigene Entscheidungskompetenz, zumindest keine, die dann durch irgendjemanden konkret
umgesetzt wurde.
Wenn man Abgeordnete fragt, die damals Mitglied in
diesem Ausschuss waren - von Ihnen waren auch welche dabei -, dann antworten sie: Wir hatten nicht die Anbindung. Wir hatten keinen Fürsprecher, der das Wesentliche umgesetzt hat. Das - das muss ich einmal ganz
deutlich sagen - will ich eigentlich ändern. Wir brauchen
dafür eine Lobby. Wir brauchen eine Lobby dafür, dass
dieser Schwerpunkt, den ich mit „Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland“ bezeichnen
möchte, nicht als Aufgabe eines einzelnen Ausschusses,
sondern als Querschnittsaufgabe der gesamten Regierung betrachtet wird.
({1})
Wir müssen dieses Thema stärken, wir wollen es stärken, aber effektiv und an den Stellen, an denen wir Wirkung erzielen können. Ich nenne einmal ein Beispiel
dazu. Wenn es um Infrastruktur geht, hört man: Wenn in
meine Region kein Autobahn- oder Eisenbahnanschluss
kommt, kommt keine Industrie, kommen keine
Arbeitsplätze. - Das ist vom Grundsatz her richtig. Nun
müssen wir denjenigen festnageln, wie man so schön
sagt, der dafür dann im Endeffekt die Verantwortung
trägt. Wenn es um eine solche Angelegenheit geht, ist
der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zuständig. In diesem Ausschuss haben wir es mit Minister Tiefensee mit einem Mann zu tun, der aus dem Osten
kommt. Er ist wahrscheinlich auch gerade im Osten unterwegs und schaut nach, wo nichts funktioniert; deswegen ist er nicht hier. Ich bin davon überzeugt, dass Minister Tiefensee sich für diese Dinge mit einsetzen wird.
Ich lege mich in dieser Richtung sogar noch weiter
fest: Ich möchte jemanden haben, der verantwortlich ist
und den ich ansprechen kann; ich möchte keinen anonymen Ausschuss. Ich möchte jemanden haben, der in diesem Bereich nachweisen muss, ob - das mache ich an
diesem Beispiel fest, weil ich im Wahlkampf in der Region Leipzig und nordöstlich von Leipzig unterwegs
war - Minister Tiefensee dafür steht, dass die Region
Torgau an das Autobahnnetz angebunden wird, oder
nicht, ob er dafür steht, dass eine Anbindung ans Erzgebirge erfolgt, oder nicht. Das kann man nur dann messen
und nachvollziehen. Deswegen möchte ich keinen Ausschuss, der querbeet arbeitet.
({2})
Joachim Günther ({3})
Ich möchte das an einem weiteren Beispiel klar machen, bei dem wir uns als ostdeutsche Abgeordnete,
wahrscheinlich aus allen Fraktionen, weitestgehend einig sind, nämlich am Wehrsold. Kann der Ausschuss
Ost dieses Thema behandeln? Wehrsold Ost und Wehrsold West sollten gleich sein. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Lebenshaltungskosten - wenn Sie die
Miete einmal ausklammern, die da leider immer mit hineingerechnet wird - inzwischen weitestgehend gleich
hoch sind; also sollte auch der Wehrsold gleich hoch
sein. Dann ist es doch sinnvoll, einen Antrag zu stellen,
der im Verteidigungsausschuss und im Finanzausschuss
konkret behandelt werden muss. Wenn uns das gemeinsam gelingt, dann haben wir diejenigen, die in diesem
Fall die Verantwortung tragen, mit dem Thema direkt
befasst und können hoffen, dass wir von ihnen eine Antwort bekommen.
({4})
Engagieren wir uns also - das ist mein Credo in dieser
Angelegenheit - in den Ausschüssen, die in den entsprechenden Bereichen Bedeutung haben!
({5})
Engagieren wir uns gemeinsam vielleicht auch in der einen oder anderen Situation fraktionsübergreifend, wenn
es darum geht, strukturschwache Gebiete in einer Form
zu unterstützen, die mehrere Ministerien betrifft! Kommen wir - das ist meine Bitte - endlich weg von dem
Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich einen
Arbeitskreis“! Das möchten wir nicht. Wir möchten in
den bestehenden Arbeitskreisen unser Bestes geben.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Gunter Weißgerber,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Günther, Sie haben angesprochen, dass der
Verkehrs- und Bauminister nicht da sei. Ich halte das für
nicht sehr problematisch; denn was wir heute beraten, ist
eindeutig Sache des Parlaments. Es ist völlig unerheblich, ob der zuständige Verkehrsminister da ist oder
nicht.
({0})
Außerdem ist ja sein Staatssekretär anwesend; die Regierung ist also vertreten.
Der vorliegende Antrag auf Einsetzung eines Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder und
anderer strukturschwacher Regionen wird von uns abgelehnt werden - aus sachlichen Gründen und nicht etwa,
weil er aus der vermeintlich falschen Ecke kommt. Seit
15 Jahren streiten wir für und entscheiden wichtige Vorhaben im Prozess des Zusammenwachsens der beiden
ehemaligen deutschen Staaten. Demzufolge konnten wir
bisher genügend Erfahrungen im parlamentarischen Umgang mit den Folgeproblemen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR und des Ostblocks sammeln.
Ausschüsse, die sich direkt den ostdeutschen Problemen
widmeten, gab es in jeder Legislaturperiode bis 2002. Es
waren die Ausschüsse, zu denen sich zwar viele berufen
fühlten, diese dann aber oft das Gefühl hatten: Hier läuft
nicht der Hauptfilm.
Die Entscheidungen fallen in den Fraktionen, ihren
jeweiligen Gremien und letztlich in den regulären gesamtdeutschen Ausschüssen, also dort, wo jeder Abgeordnete ohnehin seinen Einfluss geltend machen muss.
({1})
Mir ist jedenfalls kein direkter messbarer Erfolg aus den
bisherigen „Ostausschüssen“ bekannt. Sämtliche Entscheidungen für die wirtschaftliche, infrastrukturelle und
soziale Entwicklung Ostdeutschlands fielen in den dafür
vorgesehenen gesamtdeutschen Fachausschüssen.
Das ist richtig; nur mussten wir das erst lernen. Wir
haben gelernt, dass die ostdeutschen Probleme gesamtdeutsch und in den Fachausschüssen gelöst werden müssen. Auch führte die bisherige, oft einseitig auf Ostdeutschland fokussierte Diskussion nicht zu einem
stärkeren Drang vieler Ostdeutscher, ihre Dinge selbst in
die Hand zu nehmen.
Parlamentarisch machten wir eine menschlich selbstverständliche Erfahrung. Die bisherige ostdeutsche Sonderprivilegierung schadet den Ostdeutschen zunehmend
selbst und führt zu einem beachtlichen emotionalen Verschleiß ostdeutscher Problematiken bei den damit auf
deren Solidarität angesprochenen westdeutschen Mitbürgern und Kollegen. Wer diese mit im Boot haben will
- und nur mit diesen geht etwas -, der muss andere
Wege gehen, nämlich die im Parlament üblichen und erprobten.
Üblicherweise steht einem Ministerium immer ein
Fachausschuss gegenüber. Im vorliegenden Fall gibt es
dieses Ministerium aus gutem Grunde nicht. Der Aufbau
Ost ist eine sich durch alle Ministerien ziehende Aufgabe, die vom Verkehrs- und Bauminister lediglich koordiniert wird. Es ist eine Aufgabe, zu der sich die Koalition ausdrücklich bekennt. Ich verweise hier auf den
Koalitionsvertrag, der sich in 13 Punkten - um nur
einige Schwerpunkte anzuführen: Investitionszulage,
Förderpolitik, Gemeinschaftsaufgabe, Förderung Mittelstand, Existenzgründer, Wissenschaft, Innovationen,
ländliche Regionen - Ostdeutschlands prioritär annimmt. Erfahrungsgemäß ist ein Ausschuss ohne Spiegelministerium eine zahnlose Veranstaltung. Deshalb
wollen wir einen solchen Ausschuss auch nicht für den
Aufbau Ost.
Wir alle sind Abgeordnete aus verschiedenen Regionen dieser Republik. Es ist unsere Aufgabe, für unsere
regionalen Probleme gesamtdeutsche Mitstreiter zu sensibilisieren. Nichts geht für Ostdeutschland ohne die
Mehrheit unserer westdeutschen Kollegen. Bisher haben
wir diese immer erreichen können. Das wird auch weiterhin geschehen. Denn beispielsweise haben wir in unserer Fraktion eine Arbeitsgruppe Aufbau Ost, in der wir
gemeinsam mit westdeutschen Kollegen die Situation
Ostdeutschlands diskutieren, wodurch wir zur Meinungsbildung in der gesamten Fraktion beitragen.
({2})
Es sind die gleichen MdBs, die in den Fachausschüssen ihre Heimatinteressen im Einklang mit den Gesamtinteressen vertreten und die zusätzlich in einem Ostausschuss mit erweiterter Aufgabenstellung hinsichtlich der
anderen strukturschwachen Regionen sitzen würden.
Warum die Sache doppelt organisieren, wenn sie im
Fachausschuss bereits an der richtigen Stelle ist?
Insgesamt bleibt es aus unserer Sicht dabei: Die Lösung der ostdeutschen Defizite liegt im existenziellen Interesse Gesamtdeutschlands. Der Dampfer „Deutschland“ havariert hauptsächlich im Osten. Die gesamte
Besatzung muss alles tun, damit das gemeinsame Schiff
weiter vorwärts kommt. Das geschieht im Parlament in
allen Ausschüssen. Ein Sonderlamento auf der havarierten Seite würde zwar hörbar sein, würde jedoch am Dilemma praktisch nichts ändern.
Sicher werden wir von nun an auf ein Neues mit der
ostdeutschen Alleinvertretungskritik der PDS konfrontiert werden.
({3})
Das ist zu erwarten. Treffen wird uns diese Kritik aber
nicht. Es sind nämlich die Ostdeutschen in den Koalitionsfraktionen, die sich gegen diese Art von Sonderausschuss aussprechen. An die Adresse links im Haus gerichtet: SPD und CDU/CSU haben in ihren Reihen
jeweils mehr ostdeutsche Abgeordnete mit ostspezifischer Einheitserfahrung als die PDS.
({4})
Die Ostkompetenz im gesamten Parlament ist ohnehin
wesentlich größer als die von der PDS irreführenderweise beanspruchte.
({5})
Wenn sich die Ostdeutschen in der Linkenfraktion,
die sich dort in der Minderheit befinden, nicht durchsetzen können, ist das allein deren Problem. Der Bundestag
jedenfalls kann deren Manko nicht ausgleichen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es vorweg zu sagen: Auch unsere Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen, wird dem Antrag der Fraktion
Die Linke auf Einsetzung eines Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen nicht zustimmen.
({0})
Schon der erste Absatz der Begründung stößt auf unseren Widerspruch. Wir können nichts mit einer Formulierung anfangen, die da lautet, dieser Ausschuss sei
zwar nicht die einzige, aber eine entscheidende Möglichkeit, gegebene Versprechungen einzulösen. Für mich ist
die Zeit der Versprechungen und der Verkündigungen
von Heilsbotschaften, Patentlösungen und Masterplänen
für den Aufbau Ost vorbei. Denn davon gab es in den
letzten 15 Jahren zu viele.
({1})
Die Menschen in Ostdeutschland sind für solche simplen
Botschaften nicht mehr zu haben.
Bündnis 90/Die Grünen hat deswegen auch im Wahlkampf keine Versprechungen gemacht, sondern wir haben unser Augenmerk auf die argumentative Benennung
der Probleme, Sorgen und Nöte gerichtet. Wir haben versucht, den Menschen klar zu machen, dass es für ein
vielschichtiges Problem keine einfachen Lösungen geben kann. Versprechen sollten wir daher nur das, was wir
auch halten können. Dazu gehört zum Beispiel das Versprechen, dass wir alle unsere Kraft für die Belange der
neuen Länder einsetzen, und zwar jede und jeder von
uns in den jeweiligen Fachausschüssen.
({2})
Die Einsetzung dieses Ausschusses hat aus unserer
Sicht bloßen Symbolcharakter. Aber Symbole reichen
nicht aus, um die Herausforderungen in den neuen Ländern zu meistern. Auch der Themenvielfalt könnte dieser
Ausschuss nicht gerecht werden. Sie schlagen vor, dass
der Ausschuss 15 Mitglieder haben sollte. Das würde
konkret bedeuten, dass Ihre und unsere Fraktion jeweils
ein Mitglied in diesem Ausschuss hätten. Dieses Mitglied müsste dann alle Themenfelder bearbeiten. Das
kann wirklich nicht Ihr Ernst sein, das kann nicht im
Sinne des Antragstellers sein.
({3})
Ich gebe zu, dass ich mit der Ansiedlung des Beauftragten für die neuen Länder im Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zunächst nicht besonders
glücklich war. Aber ich muss auch sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern in den
letzten Jahren einiges dazugelernt haben. Es war für sie
sicher ungewohnt, über Themen wie den Bericht zum
Stand der deutschen Einheit oder die Gemeinschaftsaufgabe „Ost“ zu debattieren. Aber ich finde, gerade in den
letzten Monaten der vergangenen Legislaturperiode wurde
in diesem Ausschuss über Themen wie beispielsweise den
Bericht zum Stand der deutschen Einheit sehr intensiv,
sehr ernsthaft und ohne die üblichen Schuldzuweisungen
debattiert. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich finde, dass
wir diesen guten Ansatz weiterführen sollten.
({4})
Es wurde auch deutlich, dass es auf das Engagement
der Berichterstatter ankommt - und nicht auf die Hülle,
sprich: den Ausschuss -, ob man mit einem Thema in
der medialen Öffentlichkeit tatsächlich Aufmerksamkeit
erzielen kann.
Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
hat dieser Lernprozess begonnen. Ich wünsche mir, dass
es uns gelingen wird, dass dieser Prozess auch in den anderen Fachausschüssen stattfinden wird bzw. dass er
fortgeführt und intensiviert wird. Wir haben alle Möglichkeiten dazu. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linkspartei, werden diese Chancen doch sicherlich nutzen wollen.
({5})
Ein weiteres Argument, das gegen die Einrichtung eines Ostausschusses spricht, haben Sie selbst geliefert, indem Sie gesagt haben, seine Aktivitäten auf andere
strukturschwache Regionen erweitern zu wollen. Ich
stimme zwar mit Ihnen darin überein, dass die Transformationsprozesse sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern neue Denkprozesse erfordern. Aber
genau das können wir nur in den Fachausschüssen leisten und nicht dadurch, dass wir als ostdeutsche Abgeordnete unter uns bleiben.
Wir schaffen nur dann eine gesamtgesellschaftliche
Solidarität für die Belange der neuen Länder, wenn wir
gemeinsam die gewachsenen regionalen Disparitäten in
den alten Ländern mit auf die Agenda setzen und gemeinsam Lösungsansätze erarbeiten. Auch das kann der
von Ihnen vorgeschlagene Ausschuss nicht leisten.
Ich stimme Ihnen zu, dass es in den nächsten Jahren
auch um einen inhaltlichen Neuansatz bei der Förderpolitik gehen wird. Ich weiß nur nicht, ob wir damit das
Gleiche meinen. Denn es fehlt aus meiner Sicht nicht an
Fördermitteln, sondern an einer effizienten Fördermittelverwendung und einer entsprechenden effizienten Förderinstrumentestruktur. Darauf sollten wir in den nächsten Jahren unser besonderes Augenmerk legen.
Die Arbeitsgruppe Ost unserer Bundestagsfraktion
hat sich in der letzten Legislaturperiode quasi mit allen
im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost relevanten Themen beschäftigt. Das reichte von der Investitionszulage
bis zu Hartz IV, von der demographischen Entwicklung
bis zum Stadtumbau Ost. Um diese Themen dabei kompetent bearbeiten zu können, haben wir uns regelmäßig auf
die aktive Mitarbeit der Fraktionskolleginnen und -kollegen aus den alten Bundesländern verlassen müssen, weil
wir selber gar nicht die entsprechende Fachkompetenz
hatten. Aber das hat erstens dazu geführt, dass es in unserer Fraktion eine sehr viel höhere Akzeptanz der AG
Ost gab, und zweitens, dass wir bei den Kolleginnen und
Kollegen unserer Fraktion ein viel größeres Verständnis
für die Belange der neuen Länder erreicht haben. Das ist
der richtige Ansatz. Diesen Ansatz sollten wir alle weiterführen.
({6})
Es liegt also an uns, die uns bewegenden Themen in
die Öffentlichkeit zu tragen und in diesem Haus zu debattieren. Dafür brauchen wir keinen neuen Ausschuss.
Unsere Möglichkeiten sind - vielleicht gerade deswegen, weil wir in der Opposition sind - groß. Worauf warten wir also noch? Machen wir uns an die Arbeit! Fangen wir an!
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Manfred Grund, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Aufbau Ost, der Aufbau der neuen Bundesländer, dauert länger und kostet
mehr, als sich wohl die meisten von uns vorgestellt, es
erwartet oder auch befürchtet haben.
Es ist nicht nur die Gleichzeitigkeit der Prozesse, die
seit 1989/1990 ablaufen, also der wirtschaftliche Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Mauer, die Globalisierung, die demographische Entwicklung und der Versuch der Angleichung der Lebensbedingungen im Osten
an die des Westens. Ich glaube, es ist vielmehr die Hinterlassenschaft, die 1989/1990 vorgefunden worden ist,
die dazu beiträgt, dass dieser Prozess so lange dauert und
so viele Schwierigkeiten macht.
Mit der ehemaligen DDR ist der Bundesrepublik
nicht die zehntstärkste Industrienation beigetreten. Es
war vielmehr ein wirtschaftlich verwahrlostes, infrastrukturell vernachlässigtes und ökologisch verheertes
Gebiet zu übernehmen und aufzubauen.
({0})
- Zu Ihrem Protest muss ich sagen: Es gab vom damaligen Chef der Plankommission, von Gerhard Schürer, im
Herbst 1989 eine Ausarbeitung für das Zentralkomitee
bzw. das Politbüro.
Darin hieß es: Bei Betrachtung aller Dinge muss der
- schon damals nicht allzu hohe - Lebensstandard der
Bevölkerung der DDR sofort um 30 Prozent gesenkt
werden, wenn die Zahlungsunfähigkeit, der Bankrott der
DDR nicht sofort eintreten soll. - Das war die Situation.
Der Kollege Claus hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass viel Geld von West nach Ost geflossen ist:
1 000 Milliarden Euro, möglicherweise sogar noch
mehr. Das ist aber nicht das Problem, über das wir heute
reden. Was uns Sorge machen muss, ist, dass nach wie
vor 4 Prozent unseres Bruttosozialprodukts für die
Finanzierung dessen, was wir als „Aufbau Ost“ bezeichnen, benötigt werden. Aufgrund des Wirtschaftswachstums von durchschnittlich 1,3 bzw. 1,4 Prozent in den
letzten zehn Jahren erfolgt der Aufbau Ost also aus der
Substanz der alten Bundesrepublik. Das ist das große
Problem.
Nun kann man sich fragen, ob man sich 1989/90 ein
wenig getäuscht hat und was der Grund dafür ist, dass
der Aufbau Ost nicht schneller erfolgt. Am Geld hat es
nicht gelegen. Alle Bundesregierungen seit 1989/90 haben versucht, mit diesen Problemen - auf strukturell unterschiedlichen Wegen - fertig zu werden. In den beiden
Kabinetten Helmut Kohls waren mehrere ostdeutsche
Minister, die mit ihrem Namen für den Aufbau Ost eingestanden sind: Angela Merkel, Claudia Nolte und Paul
Krüger, um nur einige von unserer Seite zu nennen. In
dieser Zeit hat es einen ganz ordentlichen Aufholprozess
gegeben. Danach, mit dem Kabinett Schröder, wurde der
Aufbau Ost zur Chefsache, mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Die Schere zwischen West und Ost
schloss sich nicht mehr - das war allerdings schon seit
1997/98 so -, aber mit dem Solidarpakt II wurde die
Anschlussfinanzierung an den Solidarpakt I auf den Weg
gebracht und damit Sicherheit bis zum Jahr 2019. Dafür
können wir sehr dankbar sein.
Nun hat die Fraktion der Linken den Antrag gestellt
- darüber debattieren wir heute -, einen Ausschuss für
die Angelegenheiten der neuen Länder und für andere
strukturschwache Regionen einzurichten. Die Fraktion
Die Linke wäre des Oppositionszuschlages nicht wert,
wenn sie diesen Antrag nicht gestellt hätte. Ich glaube
aber, dass Sie hier einer Fehleinschätzung aufsitzen. Es
besteht die große Gefahr, zu glauben, dass in diesem
Ausschuss alle Themen, die die neuen Länder betreffen,
behandelt und abgearbeitet werden, dass wir Ostdeutsche quasi eine eigene Spielwiese bekommen; dabei ist
die Außenwirkung relativ gering.
Ich war von 1999 bis 2002 im damaligen Ausschuss
für die Angelegenheiten der neuen Länder, kenne die
Debatten und die Ergebnisse. Ich nehme an, dass Sie
sich einmal angesehen haben, worüber in diesem Ausschuss in den vier Jahren debattiert worden ist: Man hat
sich mit 478 Drucksachen beschäftigt. Das ist möglicherweise ein Nachweis des Fleißes dieses Ausschusses,
über die Wertigkeit sagt dies aber relativ wenig. Über die
Wertigkeit erfährt man etwas, wenn man fragt, bei wie
vielen Beratungsgegenständen dieser Ausschuss federführend und bei wie vielen er mitberatend war. Schätzen
Sie einmal: 30 Prozent, 20 Prozent oder 10 Prozent der
Vorlagen? Weniger als 10 Prozent, nämlich insgesamt
35 Vorlagen, waren Vorlagen, bei denen der Ausschuss
für die Angelegenheiten der neuen Länder federführend
gewesen ist. Sie messen ihm also möglicherweise eine
zu hohe Bedeutung bei. Im Wesentlichen handelte es
sich um Berichte zum Stand der deutschen Einheit oder
um Themen, bei denen man sich mit sich selbst beschäftigt hat.
Ich möchte nicht, dass wir ostdeutsche Abgeordnete
auf einen Ausschuss, auf eine Spielwiese reduziert werden. Ich möchte, dass wir in den Ausschüssen auf gleicher Augenhöhe sind, im Finanzausschuss, im Haushaltsausschuss und im Wirtschaftsausschuss,
({1})
und dass wir unseren Sonderstatus als Abgeordnete aus
dem Osten auf diese Weise irgendwann einmal verlieren
und einfach gute Arbeit leisten können.
Auch wenn dieser Ausschuss nicht zustande kommen
wird, haben Sie gute Möglichkeiten, als Fraktion in den
Fachausschüssen mitzuarbeiten. Außerdem regieren Sie
seit Jahren in zwei wichtigen deutschen Bundesländern,
in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern. Wenn es Ihnen gelingt, in diesen beiden von Ihnen mitregierten
Ländern gute Impulse für den Aufbau Ost zu setzen, die
auch hier ankommen, leisten Sie das Beste, was Sie leisten können. Hier haben wir ein gemeinsames Anliegen.
Insofern sind Sie herzlich willkommen. Arbeiten Sie ordentlich mit, aber lassen Sie in Zukunft solche Schaufensteranträge!
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Hilsberg,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viele meiner Vorredner von der Koalition,
aber dankenswerterweise auch von zwei Oppositionsfraktionen, haben gewichtige Gründe ins Feld geführt,
die gegen die Einrichtung eines solchen Ausschusses
sprechen. Ich will Ihnen von der PDS gerne konzedieren,
dass es durchaus auch Argumente gibt - ({0})
- Ach, PDS, SED: Sie können sich noch so oft umbenennen; Sie bleiben der, der Sie sind. Daran ändert
sich auch nichts. Insofern ist das kein Namensproblem.
({1})
Ich will aber trotzdem durchaus konzedieren - vielleicht nehmen Sie das als ein Zeichen, dass ich auf Sie
zugehe -, dass es auch Argumente für einen solchen
Ausschuss gibt. Gleichwohl muss ich sagen: In dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben, stehen diese Argumente gar nicht. Man hat nicht das Gefühl, es sei etwas
Neues hinzugekommen. Es sind die alten Kamellen; es
ist sehr ideologisch und klingt ein bisschen wie eine
Jammerarie. Ich komme noch darauf zu sprechen.
Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass die Diskussionen, die vor drei Jahren zur Abschaffung des entsprechenden Ausschusses geführt haben, an Ihnen vorbeigegangen sind. Dafür kann man Verständnis haben. Sie
waren die letzten drei Jahre nicht im Parlament. Sie werden jetzt wieder an den Diskussionen teilnehmen. Vielleicht werden auch Sie in einigen Jahren zu anderen Auffassungen kommen, als Sie sie hier vorgetragen haben.
Es geht schlicht und einfach um folgenden Punkt:
Auch wenn wir in Ostdeutschland nach wie vor gewichtige Probleme haben, die uns vor große Herausforderungen stellen, kann man weder aus der Koalitionsvereinbarung, die wir getroffen haben, noch aus der Arbeit
der rot-grünen Koalition und unserer Bundesregierung in
den letzten drei Jahren in irgendeiner Art und Weise den
Vorwurf ableiten, Ostdeutschland habe keine Rolle gespielt. Das glatte Gegenteil davon ist der Fall.
({2})
Da kommt es nicht einfach nur auf ostdeutsche Minister an. Wer hat denn um den Risikostrukturausgleich zugunsten der ostdeutschen Krankenkassen gekämpft? Das
war Ulla Schmidt. Sie kommt aus Aachen. Westlicher
kann man gar nicht wohnen. Wer hat denn an den verschiedensten Stellen um die Infrastruktur gekämpft? Die
entsprechenden Maßnahmen hat Kurt Bodewig veranlasst.
({3})
Da sind zusätzliche finanzielle Mittel bewegt worden. Er
kommt aus Nordrhein-Westfalen. Gar keine Frage!
Ohne diese Partnerschaft könnte doch die gesamte
deutsche Einheit nicht gelingen. Auch darüber muss man
sich völlig im Klaren sein. Wir Ostdeutschen müssen
nicht die ganze Zeit „danke, danke“ sagen. Aber ein gewisses Gefühl von Dankbarkeit und gesamtdeutscher
Verantwortung gehört doch dazu.
({4})
Wir wissen doch alle ganz genau, dass die ostdeutschen
Probleme ohne ein gesamtdeutsches Herangehen in
keiner Art und Weise zu lösen sind. Daran wird auch Ihr
Schauantrag nichts ändern.
Nun kann man Ihnen zugute halten, dass Sie in den
letzten drei Jahren nicht da waren. Wenn es nach mir
ginge, bräuchten Sie auch heute nicht hier zu sein. Aber
der Wähler hat gesprochen; das ist zu akzeptieren, gar
keine Frage.
({5})
Mich stört etwas - da wird man einen Verdacht nicht
los -, wozu Sie diesen Ausschuss eigentlich haben wollen. Der Titel des Antrags spricht Bände:
Einsetzung eines Ausschusses ... für die Angelegenheiten der neuen Länder
- bis hierhin völlig d’accord und für andere strukturschwache Regionen
Was meinen Sie eigentlich damit? Sind Sie etwa wirklich der Meinung, dass der gesamte Osten ein strukturschwaches Gebiet ist? Haben Sie niemals erfahren, dass
wir in Ostdeutschland beispielsweise eine Infrastruktur
haben, nach der sich selbst die Westdeutschen die Finger
lecken?
({6})
Haben Sie nie begriffen, welch hohen europäischen
Rang die Topregion Dresden zurzeit hat? Haben Sie nie
erfasst, dass eine der Topregionen für Wissenschaft und
Forschung das Gebiet Berlin/Brandenburg ist? Und da
kommen Sie und sagen, das sei alles strukturschwache
Region. Vor Ihnen muss man ja die Ostdeutschen in
Schutz nehmen! Sie wissen gar nicht, mit wem Sie es da
zu tun haben.
({7})
Natürlich haben wir eine Reihe von sehr schwierigen
Problemen zu lösen. Ich erinnere an die Feinjustierung
der Ärzteversorgung, den Ärztemangel. Ich erinnere an
die GKV. Ich erinnere an die Heizkostenproblematik, die
wir übrigens gerade zugunsten der ostdeutschen Kommunen gelöst haben; das ist nämlich dabei herausgekommen. Diese Fragen sind bei uns in der Tat bestens aufgehoben.
({8})
- Die Arbeitslosigkeit spielt eine große Rolle, Frau
Enkelmann. Ich will ganz deutlich sagen: 20 Prozent Arbeitslosigkeit - inzwischen ist es etwas weniger, aber
wie auch immer - sind zu viel.
({9})
- Da übertreiben Sie ein bisschen. Aber das ist nicht der
Punkt. Von einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt spricht
man erst bei 5 Prozent.
({10})
Dass dies ein Problem für die Menschen ist, die in
Ostdeutschland leben, weiß jeder. Daraus kann man auch
ersehen, was für eine Belastung sie nach wie vor haben.
Die Hauptlast des Aufbaus in Ostdeutschland liegt nämlich bei den Ostdeutschen selbst. Das darf man an dieser
Stelle nicht außer Acht lassen. Umso wichtiger und anerkennenswerter ist es, dass dort inzwischen Topunternehmen entstanden sind und dass dort riesengroße Leistungen erbracht wurden. All das darf man nicht schlecht
reden. Ein ausgeglichener Arbeitsmarkt ist das aber
nicht; das weiß jeder. Die Lösungen, die Sie vorschlagen, sind aber ideologische Ladenhüter, die mit ein bisschen Mottenpulver aufgepeppt wurden. Nichts anderes
ist das. Dafür ist mir die Einrichtung eines Parlamentsausschusses viel zu schade. Anders ist das nicht zu werten. Der Rückgriff auf ein staatliches BeschäftigungsproStephan Hilsberg
gramm - das schlagen Sie in Ihrem Programm vor - löst
doch das Problem der Arbeitslosigkeit auch nicht. Im
Gegenteil: Es würde die Probleme, die wir in Ostdeutschland haben, verschärfen.
({11})
Wir kommen nur weiter, wenn wir an der Investitionsoffensive festhalten. In Ostdeutschland brauchen
wir zusätzlich 200 000 Industriearbeitsplätze als Kern.
Auf diesem Gebiet sind viele Arbeitsplätze weggebrochen. Dafür gibt es Ursachen. Das muss auf völlig
neuem Niveau wieder aufgebaut werden. Die in der
Koalitionsvereinbarung beschlossene Verlängerung der
Investitionszulage ist eines der wesentlichen Instrumente. Es kommt darauf an, Projekte, wie die Verlängerung der I-Zulage, auch zu realisieren.
All das sind Probleme, bei denen Sie mit Ladenhütern, die Sie aus der ideologischen Mottenkiste herauskramen, und irgendwelchen Patentlösungen nicht
weiterkommen. Sie werden, genauso wie wir, in der Sache hart arbeiten müssen, und zwar in den Fachausschüssen, dort wo es um Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
geht, wo es um KfW-Programme geht, wo es um Infrastrukturfinanzierung geht, nämlich im Haushaltsausschuss.
Ich lade Sie wirklich ein: Arbeiten Sie diese handfesten Themen, die viel mit unseren Problemen zu tun haben, ab. Werden Sie konstruktiv. Mit Ideologie sind die
Probleme Ostdeutschlands schon lange nicht mehr zu lösen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Wir haben eine Kurzintervention der Abgeordneten
Petra Sitte.
Man kann über viele Dinge, die im Zusammenhang
mit der Einrichtung dieses Ausschusses in den Beiträgen
gesagt worden sind, nachdenken. Man kann darüber weiter diskutieren. Auf eines - insbesondere im letzten Beitrag ist das deutlich gesagt worden - möchte ich schon
reagieren, nämlich dass die Vorschläge, die in unserer
Fraktion entwickelt worden sind, ideologische Ladenhüter seien.
Vor einigen Tagen hat der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit das Land Mecklenburg-Vorpommern besucht und sich die Ergebnisse angeschaut, die dort im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor erzielt worden
sind. Sie wissen, dass im Land Mecklenburg-Vorpommern seit vielen Jahren darum gerungen wird, im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor Beschäftigung für
Menschen zu schaffen, die sonst überhaupt keine
Chance hätten. Am Ende dieses Besuches wurde festgestellt, dass Mecklenburg-Vorpommern gerade auf dem
Sektor des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors
wesentlich weiter sei und die Arbeitsmarktreformen sowie die Reformen, die die Bundesagentur infolge der
Koalitionsvereinbarung anstrebt, begonnen werden sollten. Man stellte fest, dass man im Rest der Republik vom
Nordosten der Bundesrepublik lernen könnte.
Insofern möchte ich Ihre Interpretation von ideologischen Ladenhütern an dieser Stelle widerlegt wissen.
({0})
Herr Hilsberg, bitte.
Sehr geehrte Frau Sitte, der Beitrag, den Sie gerade
gegeben haben, spricht Bände. Sie verteidigen nicht nur
Ihre Politik einer Reverstaatlichung der Instrumente des
zweiten Arbeitsmarktes, sondern führen die Politik des
Landes Mecklenburg-Vorpommern, die man viel stärker
unter dem Begriff einer europäischen Arbeitsmarktpolitik subsumieren kann, als Nachweis wirklicher Reverstaatlichung an.
Ich will das an zwei Punkten, die sehr klar sind, festmachen. Sie haben dem Mindestlohn das Wort geredet.
Das stieß selbst bei Ihrem Partner WASG auf starke
Kritik, weil er massive Verwerfungen zur Folge gehabt
hätte. Das zeigt, dass die Widersprüche, in die Sie sich
hineinbegeben, so tief gehen, dass selbst in Ihrer eigenen
Fraktion große Diskussionen geführt werden. Wer die
gesamten Mehraufwandsentschädigungen in steuerpflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandeln will,
der will diese Form der Beschäftigung, die die Funktion
einer Brücke in den ersten Arbeitsmarkt hat, in massenhafter Art und Weise um des ersten Arbeitsmarkts willen
- auf dem zweiten Arbeitsmarkt dauerhaft - verstetigen.
Sie tun so, als könnte man den Menschen damit eine Perspektive bieten. Das ist nichts anderes als die Verschleierung der Arbeitslosigkeit, die wir zu DDR-Zeiten auch
gehabt haben.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/130 an den Ältestenrat vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
8 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/109 ({0})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Arbeitszeitgesetzes ({1})
- Drucksache 16/219 ({2})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 16/245 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ralf Brauksiepe
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/259 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 16/162, 16/220 ({5})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6})
- Drucksache 16/253 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/260 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Weichenstellung für eine Verbesserung der
Beschäftigungschancen Älterer
- Drucksache 16/241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Franz Müntefering.
({9})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung hat zügig mit ihrer
Arbeit begonnen. Heute haben wir einige Entscheidungen zu treffen, die einen ganz wichtigen Bereich, den
Arbeitsmarkt, betreffen. Dabei geht es um Punkte, die in
erheblichem Maße auch das Themenfeld berühren, über
das in der letzten Stunde diskutiert wurde. Der Arbeitsmarkt ist für unsere Bemühungen, die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande zu sichern, ein sehr wichtiges
Moment.
Wir werden erleben, dass der Bundesrat die Gesetzentwürfe, die wir heute beschließen, in der nächsten Woche
aufnehmen und ebenfalls beschließen wird, sodass die
entsprechenden Gesetze bereits zum 1. Januar 2006 in
Kraft treten können. Es geht darum, am Arbeitsmarkt Impulse zu setzen. Es geht um die finanzielle Planungssicherheit für die Städte und Gemeinden. Und es geht darum, was wir für die Arbeitslosen tun und wie wir die
Handlungsfähigkeit der Kommunen sicherstellen können.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die uns zur
Verfügung stehen, müssen effizienter genutzt werden.
Sie müssen, was die Zielführung und ihren Schwung angeht, modernisiert, zusammengefasst, gebündelt und
wirkungsvoller ausgestaltet werden. Dazu haben wir innerhalb der Koalition einige Vereinbarungen getroffen.
Einer unserer Ansatzpunkte ist, dass wir im Jahre 2006
eine „Initiative 50 plus“ starten werden, um auf sehr
konzentrierte und gründliche Weise dafür zu sorgen,
dass die Altersklasse 50 plus in unserer Gesellschaft in
Zukunft größere Chancen am Arbeitsmarkt hat als heute.
Die Gesetzentwürfe, die wir heute beschließen, sind
Schritte, die dazu beitragen, dass die Bündelung dieser
Aufgaben im Verlauf des Jahres 2006 besser als bisher organisiert werden kann. Die Dauer der Entgeltsicherung
für Ältere, also der Zuzahlung zu den Lohnkosten bei
niedrigen Gehältern, wird verlängert. Auch die Regelung
hinsichtlich der Befreiung der Arbeitgeber von der Zahlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für neue
Mitarbeiter über 55 Jahre wird verlängert. Die 58er-Regelung wird ebenfalls fortgeschrieben und die Weiterbildung Älterer kann auch in Zukunft gefördert werden. All
das sind Punkte, die vernünftig sind und die wir im nächsten Jahr aufgreifen, wenn wir dieses Thema viel konzentrierter, umfassender und gründlicher angehen.
Aber wir beschließen heute noch weitere Punkte: Die
Bundesagentur für Arbeit soll auch in Zukunft eigenBundesminister Franz Müntefering
ständige Träger für Eingliederungsmaßnahmen heranziehen und beauftragen dürfen.
Die Ich-AGs laufen nicht zum 31. Dezember dieses
Jahres aus, sondern sie werden bis zum 30. Juni 2006
fortgeführt. Im ersten Halbjahr 2006 wollen wir innerhalb der Koalition eine vernünftige Lösung für Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus finden. Wir
wollen die verschiedenen Instrumente, die es bisher auf
diesem Gebiet gibt, zusammenfügen und daraus eine
gute und zielführende Lösung entwickeln.
Die Personal-Service-Agenturen sollen nicht mehr
zwingend flächendeckend aufgebaut werden müssen,
sondern die BA ist beauftragt, dafür zu sorgen, dass Erfolg versprechende Ansätze dort, wo es sie gibt, weiter
konkretisiert werden.
({0})
Es geht also um eine Palette von Vorhaben, die wir
jetzt vor Jahresende schnell beschließen, damit wir im
nächsten Jahr daran anknüpfen und unsere Arbeit fortführen können.
In den letzten Tagen haben uns Nachrichten erreicht,
dass größere und kleinere Unternehmen in Deutschland
in hohem Maße Arbeitsplätze abbauen bzw. ihre Unternehmen ins Ausland verlegen wollen. Wenn man so
etwas als verantwortlicher Minister liest - das geht Ihnen
als Abgeordnete im Parlament sicherlich genauso -,
wenn man konfrontiert wird mit der Sorge der Menschen
vor Ort, dann muss man aufpassen, dass man nicht von
einem Gefühl der Ohnmacht überwältigt wird. Das fällt
schon schwer, aber wir dürfen uns da nicht irremachen
lassen, wir dürfen uns die Zuversicht nicht nehmen lassen. Wir müssen im politischen Raum dafür kämpfen,
dass Dinge wie im Moment konkret bei AEG in Nürnberg nicht mehr passieren: dass die Unternehmensleitung aus heiterem Himmel heraus mitteilt, einen Standort zu schließen und in ein anderes europäisches Land, in
diesem Fall nach Polen, zu verlagern. Das ist zwar erlaubt, aber für die Menschen, die davon betroffen sind,
ist das eine Katastrophe. So etwas kann Politiker nicht
kalt lassen.
({1})
Deshalb muss man es ansprechen und deutlich machen, dass alle diejenigen, die in Deutschland an dieser
Stelle Verantwortung tragen - auch in der Wirtschaft -,
sich bewusst sind, dass Politik alleine diese Dinge nicht
regeln kann. Vielmehr erwarten wir, dass die Unternehmen bei allen Hilfen, mit denen wir sie bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit unterstützen, ihrer unternehmerischen Aufgabe nachkommen. Diese bedeutet
auch, da, wo es möglich ist, Arbeitsplätze an Ort und
Stelle zu erhalten - mit den Menschen, mit denen zusammen man groß und manchmal auch reich geworden
ist. Diese Erwartung muss einmal zum Ausdruck gebracht werden.
({2})
Herr Müntefering, möchten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Dirk Niebel zulassen?
Bitte schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Minister Müntefering.
Ich stimme Ihnen ja zu, insbesondere was die Ängste
der Beschäftigten anbetrifft. Aber würden Sie mir dahin
gehend zustimmen, dass es auch eine Frage der Rahmenbedingungen des Standortes Deutschland sein kann, ob
sich ein Unternehmen hier oder woanders ansiedelt?
Würden Sie mir weiter zustimmen, dass die Nordeuropäische Gaspipeline, bei der der Bundeskanzler a. D.
Herr Schröder Aufsichtsratsvorsitzender werden soll,
vielleicht auch wegen der schlechten Rahmenbedingungen ihren Sitz nach Zug verlegen wird?
({0})
Ich will ganz ernsthaft auf Ihre Frage eingehen, Herr
Niebel. Dass wir als Politiker helfen müssen, dass die
Unternehmen in Deutschland wettbewerbsfähig sind, ist
wahr. Was die SPD in der rot-grünen Koalition alles getan hat - Senkung der Körperschaftsteuer, der Einkommensteuer usw.; gegen manche Kritik -, wissen Sie alle.
Wir haben heute in Deutschland eine Unternehmensbesteuerung, die so niedrig ist, wie sie noch nie gewesen
ist. Trotzdem erleben wir, dass uns andere europäische
Länder mit einer noch niedrigeren Unternehmensteuer
Konkurrenz machen.
({0})
- Was heißt „eben“? Wir müssen in Europa - auch im
Rahmen des Gipfels, der ab heute stattfindet - miteinander eine gemeinsame Steuerpolitik anstreben, zumindest
was die Bemessungsgrundlagen angeht. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass Europa gelingt. Was aber
nicht geht - das sage ich ganz klar; da sind wir alle uns
einig, auch in dieser Koalition -, ist, dass wir die Steuern
senken, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern,
die Nachbarländer daraufhin ihre noch weiter senken,
von uns aber erwarten, dass wir mehr in die europäische
Kasse zahlen, aus der sie gefördert werden. Das geht
nicht. Steuerdumping und Lohndumping gehen nicht.
Diese Position ist auch im Interesse unseres eigenen
Landes vernünftig.
({1})
Ein zweites großes Thema haben wir heute auf der
Tagesordnung, das im Interesse unseres Landes wichtig
ist und das wir zur Beschlussfassung bringen. Es geht
um die Kosten für Unterkunft und Heizung für Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Vereinbart ist, dass die
Kommunen diejenigen Sozialhilfeempfänger, die jetzt
Arbeitslosengeld-II-Empfänger geworden sind, nicht
mehr finanzieren müssen. Das bedeutet für die Kommunen eine riesige Ersparnis. Dafür sollen sie die Wohnkosten zahlen. Diese Wohnkosten sind aber so hoch,
dass zu vermuten ist, dass die Kommunen nicht die
2,5 Milliarden Euro übrig behalten würden, die wir ihnen zugesagt haben, wenn sie die Wohnkosten voll übernehmen. Also ist damals im Vermittlungsausschuss vereinbart worden, dass der Bund einen Zuschuss von
29,1 Prozent übernimmt. Die haben wir gezahlt und wir
haben vereinbart, in diesem Zusammenhang eine Revision durchzuführen.
Das ist versucht worden, doch dazu liegen jetzt unterschiedliche Zahlen vor. Darüber ist diskutiert worden. Als
Ergebnis haben wir vereinbart, ins Gesetz aufzunehmen:
2005 und 2006 erhalten die Kommunen 29,1 Prozent Zuschuss zu den Wohn- und Heizungskosten, die sie zahlen.
Es wird keine weitere Revision geben. Die Kommunen
haben Planungssicherheit. Damit ist erreicht, dass über
den 1. Januar 2006 keine Vakanz und keine Irritationen
entstehen. Das war für uns ein ganz wichtiges Argument,
es letztlich so zu machen.
Der Bund kommt in seinen Berechnungen auf ein
ganz anderes Ergebnis als die Länder und die Kommunen, was die tatsächliche Entlastung bzw. Belastung angeht. Ich kann das nicht objektiv entscheiden. Ich sage
nur: Das Gesetz hat insofern eine Schwäche - das müssen wir uns alle miteinander anrechnen lassen -, als es
die Entlastung der Kommunen nicht in Euro und Cent
sichtbar macht. Es gibt nur Schätzansätze. Diese Schätzansätze machen es schwierig, zu einer gemeinsamen Regelung zu kommen. Also haben wir gesagt: Wir stellen
für 2005 und 2006 klare Regeln auf und legen den Zuschuss auf 29,1 Prozent fest, ohne dass eine Revision
stattfindet. Im Jahre 2006 machen wir dann ein neues
Gesetz, in dem wir diese Problematik für das Jahr 2007
und die folgenden Jahre regeln, sodass wir nicht jedes
Jahr eine Revision machen müssen. Ich glaube, das ist
alles in allem eine vernünftige Lösung.
Wir auf Bundesseite haben den Eindruck, dass wir zu
viel zahlen und dass die Kommunen mehr übrig behalten
als die 2,5 Milliarden Euro.
({2})
Es gibt natürlich Kommunen, die ein Minus machen, wie
es auch Kommunen gibt, die einen Vorteil haben. Auch
das ist ein Problem des Gesetzes, dass man das nicht gerecht auf die Kommunen, die einzelnen Städte und
Landkreise verteilen kann. Je nachdem, wie die Bedingungen sind, wirkt sich dieses Gesetz unterschiedlich
aus.
Das ist eine Aufgabe der Länder in diesem wie im
nächsten Jahr. Die Aufforderung an die Länder lautet:
Sie müssen versuchen, horizontal besser als bisher zwischen den Kommunen, die Vorteile haben, und den
Kommunen, die Nachteile haben, auszugleichen. Die
Kommunen, die Nachteile haben - diese gibt es -, haben
sich bei uns wie auch sicherlich bei Ihnen auf sehr energische Art gemeldet. Die Kommunen, die Vorteile haben, haben sich natürlich nicht gemeldet. Das ist
menschlich, das verstehe ich auch. Das kann aber nicht
bedeuten, dass der Bund auf ewige Zeit mehr zahlt.
Unser Gefühl ist, dass wir in diesem Jahr deutlich zu
viel bezahlen. Auch im nächsten Jahr wird das der Fall
sein. Die Größenordnung von 1 bis 1,3 Milliarden Euro,
um die es zum Schluss ging, ist schon ein dicker Brocken, auch für den Bundeshaushalt. Deshalb kann das im
nächsten Jahr nur eine einmalige Zahlung sein. Dann
müssen wir neue Klarheit schaffen.
Das, was wir machen, ist zum Nutzen der Kommunen
und zum Nutzen der Arbeitslosen. Sie können erwarten,
dass sich Bund, Länder und Gemeinden nicht in irgendeinem Streit verhakeln, sondern dass sie das Ganze
handlungsfähig halten und dafür sorgen, dass sie vermittelt und dass Qualifikationen angeboten werden können,
indem die Kommunen finanzierungsfähig bleiben.
Zweierlei muss allerdings noch gesagt werden. Nachdem wir hier positiv entscheiden werden und der Bundesrat sicherlich auch, habe ich die Erwartung an alle
Länder, dass sie alle Vorteile, die sie durch den Zuschuss
zum Wohn- und Heizungsgeld erhalten, an die Kommunen weitergeben.
({3})
Das sind erkennbar mehr als die 1,72 Milliarden Euro.
Alle Ländervertreter haben mir unter vier Augen auch
gesagt, dass es stimmt, dass die Länder ein gutes Geschäft machen. Deswegen sage ich den Ländern: Gebt
das Geld an die Kommunen weiter!
An die Kommunen richte ich folgende Bitte - ich
denke, das kann ich auch im Auftrag dieses Hauses sagen -: Die Zusage, dass sie 2,5 Milliarden Euro übrig
behalten sollen, hing damit zusammen, dass wir sie aufgefordert haben, mehr für die Betreuung der Kinder im
vorschulischen Alter zu tun. Wenn nun 2,5 Milliarden
Euro bei den Kommunen landen - vermutlich sind es
mehr als 2,5 Milliarden Euro -, dürfen wir aber auch erwarten, dass die Kommunen diese 2,5 Milliarden Euro
oder mehr für die Betreuung der ganz Kleinen im vorschulischen Alter, für Krippenplätze, für Ganztagskindertagesstätten und alles, was damit zusammenhängt,
einsetzen. Sie müssen das Geld für Investitionen vor Ort
verwenden.
({4})
In den Kommunen gibt es unendlich viel zu tun. Viele
Arbeitsplätze können im Handwerk geschaffen werden,
wenn das für die kleinen und mittleren Unternehmen mit
niedrigen Losen ausgeschrieben wird. Sie sind unmittelbar am Ort einsetzbar.
Das Gesetz insgesamt ist für uns schwierig, weil es so
kostenträchtig ist. Für die Arbeitslosen und die KommuBundesminister Franz Müntefering
nen bedeutet es aber sicherlich eine Entlastung. Jedenfalls ist sichergestellt, dass über den 1. Januar hinaus
diese Maßnahmen in vernünftiger Weise fortgeführt
werden können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau eingehalten. Wir vom Präsidium wünschen
uns das.
Der Nächste, der das probieren kann, ist der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei Betrachtung des Gesetzespaketes, das wir
heute beraten, muss ich sagen: Der 15. Dezember 2005
ist ein schwarzer Tag für die älteren Arbeitslosen in
Deutschland.
({0})
Diese Menschen, 58, 59 oder 60 Jahre alt, die oft durch
den Konkurs ihres Arbeitgebers ihren Arbeitsplatz verloren haben, hatten gehofft, nach der Bundestagswahl
werde sich am Arbeitsmarkt etwas zu ihren Gunsten ändern. Sie sehen sich bitter enttäuscht. Denn im ersten arbeitsmarktrelevanten Gesetzgebungsvorhaben, das Sie
vorlegen, Herr Minister Müntefering, wird mit der Verlängerung der so genannten 58er-Regelung ein klares
Signal an diese Arbeitslosen gesendet. Die bittere Botschaft lautet: Ihr werdet nach wie vor nicht gebraucht.
({1})
Herr Müntefering, das ist aus unserer Sicht ein Skandal. Anstatt sich unverzüglich an die Arbeit zu machen
- die Chance haben Sie ja gehabt - und die bestehenden
Zugangsbarrieren für ältere Menschen mit einem Eilgesetz abzubauen, wird der Status quo, bei dem ältere Arbeitslose ausgegrenzt werden, einfach verlängert. Ich
will hier für die Freie Demokratische Partei sehr deutlich
sagen: Wir machen das nicht mit. Ihnen geht es um die
Statistik, die nicht belastet werden soll,
({2})
uns geht es um die Menschen, die eine Chance erhalten
sollen und müssen, weil es am Ende auch eine Frage der
Menschenwürde ist, ob man Ältere einfach aussondert
und statistisch entsorgt.
Deswegen hat die FDP heute einen Antrag mit dem
Ziel vorgelegt, die erfolgreiche Integration der älteren
Menschen in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Strukturelle Maßnahmen, durch die eine Ausgrenzung unterstützt wird, müssen beseitigt werden. Die Frühverrentungsmodelle und die 58er-Regelung müssen auslaufen.
Auch beim Kündigungsschutz müssen wir etwas
tun. Das ist ein heißes Eisen, aber wir dürfen es nicht
übersehen. Das Kriterium Alter muss aus der Sozialauswahl herausgenommen werden. Ältere Arbeitnehmer
sind auch danach - jedenfalls dann, wenn sie lange bei
einem Arbeitgeber beschäftigt sind - durch das Kriterium „Dauer der Betriebszugehörigkeit“ weiterhin ausreichend geschützt.
({3})
- Das ist kein Hohn. Wir können darüber ja diskutieren.
Sie müssen sich auch einmal in den Unternehmen umhören, wie die Einschätzungen dort darüber sind,
({4})
was Herr Pofalla, der heute wieder einmal bei einer
wichtigen arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht hier ist,
als größte Reform des Kündigungsschutzgesetzes bezeichnet hat. In den Betrieben herrscht Fehlanzeige. Das
wird nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen.
Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Ein
Politikwechsel in der Arbeitsmarktpolitik, der Voraussetzung für mehr Arbeitsplätze gewesen wäre, findet damit
nicht statt.
({5})
Damit komme ich nach dem Gesetz zur Änderung des
SGB III zu einem weiteren wichtigen Gesetz, nämlich
zum Gesetz zur Änderung des SGB II, mit dem heute die
Revisionsklausel sozusagen vorübergehend befriedet
werden soll. Ich will für meine Fraktion sagen, dass wir
dem Gesetzentwurf in der Sache zustimmen werden, da
die Kommunen eine verlässliche Planungsgrundlage für
die Haushalte brauchen.
Man muss aber feststellen: Die Revisionsklausel, auf
die sich die große Koalition damals schon geeinigt hatte,
ist bereits im ersten Fall ihrer Anwendung - im ersten
Testfall, im ersten Ernstfall - gescheitert. Das ist ein Beleg mehr dafür, dass die FDP damals richtig lag, als sie
das Optionsgesetz als einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag abgelehnt hat.
({6})
Wenn wir in der Sache auch zustimmen, so kritisieren
wir das Verfahren doch sehr nachdrücklich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, in kaum
mehr als 24 Stunden wurde hier ein Gesetz gemacht. Das
darf in diesem Hohen Hause nicht einreißen. Das Parlament ist nicht das Notariat der Regierung. Dass eine Lösung in Kommissionen und in außerparlamentarischen
Arbeitskreisen gefunden wurde, macht die parlamentarische Kontrolle nicht obsolet. Im Gegenteil: Ich meine,
gerade dann muss man genau hinschauen. Wir müssen
darauf bestehen, in Ruhe einen Blick auf Gesetzesvorhaben werfen zu können. Wir reden hier konkret immerhin
über eine Belastung des Bundeshaushaltes von 3,5 Milliarden Euro, die bislang nicht eingeplant waren. Ob die
Zahlen, die nach wie vor frei aus der Luft gegriffen sind,
am Schluss tragen, bleibt auch noch abzuwarten.
({7})
Herr Minister, die Chance ist leider vertan. Sie hätten
einen furiosen Start hinlegen können, wenn Sie heute
hierher gekommen wären und gesagt hätten: Wir haben
bisher Fehler gemacht, die Arbeitslosigkeit der Älteren
in Deutschland ist zu hoch, wir machen einen neuen Ansatz. - Das war nicht Ihre Politik. Das „Weiter so!“, das
Sie hier vorgetragen haben, wird jedenfalls nicht zum
Erfolg führen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
haben es sich zum Ziel gesetzt, zum einen die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern und auf
der anderen Seite den Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, Unterstützung zu geben, um wieder in den
Arbeitsprozess zurückzufinden. Wir beschließen heute
zwei Gesetze, die wichtig sind und die ein positives Signal für den Arbeitsmarkt in Deutschland in genau dieser Richtung darstellen.
({0})
Ich will zu dem Thema SGB-II-Änderungsgesetz nur
wenige Worte verlieren; der Kollege Müller wird darauf
ausführlicher eingehen. Die Botschaft dieses Tages ist:
Die große Koalition hält gegenüber den Kommunen
Wort. Die versprochene Entlastung, so schwer sie uns
finanziell vom Bundeshaushalt her fällt, kommt. Wir
schaffen für die Kommunen Planungssicherheit.
({1})
Dies geschieht in der Tat in einem Verfahren, das die
große Ausnahme bleiben muss. Ich möchte mich herzlich bei all denen bedanken, die daran mitgewirkt haben.
Ich möchte mich auch ausdrücklich bei der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen bedanken, die dabei sehr kooperativ war.
({2})
Ich möchte ausdrücklich sagen: Herr Kollege Kolb,
Sie haben im federführenden Ausschuss bei Ihren eigenen Ausschusskollegen eine denkbar knappe Mehrheit
für Ihren Antrag gehabt, die Entscheidung ins nächste
Jahr zu verschieben. Zwei von ihnen waren dafür, der
Kollege Haustein war dagegen und hat sich als Bürgermeister einer Gemeinde dafür bedankt, dass wir dafür
sorgen, den Kommunen in diesem Jahr Planungssicherheit zu geben. Da, wo es die große Koalition tun kann,
hilft sie schnell. Ich bin allen dankbar, dass dies möglich
gewesen ist.
({3})
Dies ist mir im Übrigen nicht nur wegen der Planungssicherheit für die Kommunen wichtig. Ich sage für
unsere Fraktion - ich denke, das gilt für die SPD-Fraktion genauso -: Wir haben die Hartz-IV-Reform nicht in
erster Linie deswegen gemacht, um die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen auf eine
neue Grundlage zu stellen, sondern um die Vermittlung
von arbeitslosen Menschen in Arbeit zu effektivieren,
um die Chancen der Menschen, in Arbeit zu kommen, zu
verbessern. Es ist wichtig, dass wir uns, nachdem diese
Finanzbeziehung geklärt ist, wieder darauf konzentrieren können. Das erwarten die Menschen mit Recht von
uns. Das gehen wir nun mit voller Kraft an.
({4})
Das ist auch der Sachzusammenhang zwischen den
beiden Gesetzen, die wir beraten. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Arbeitsmarktpolitik kann nur in
begrenztem Maße helfen, Menschen in Arbeit zu bringen. Dazu brauchen wir auch andere Maßnahmen. Es ist
gut, dass wir im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik
schon heute Morgen Beschlüsse gefasst haben, die uns
dabei helfen werden und die die Lage für die Wirtschaft
und auf dem Arbeitsmarkt verbessern.
Das, was Arbeitsmarktpolitik daneben leisten kann,
um Menschen in Arbeit zu halten - besser: sie wieder in
Arbeit zu bringen -, soll sie auch leisten. Das ist auch
das, was wir uns mit dem fünften SGB-III-Änderungsgesetz vorgenommen haben. Wir verlängern damit die Geltungsdauer mehrerer Maßnahmen - der Minister hat es
zu Recht angesprochen -, die sich vor allem an ältere
Arbeitslose richten, die leider auf dem deutschen Arbeitsmarkt bisher viel zu geringe Chancen haben.
Gleichzeitig leisten wir einen notwendigen ersten finanziellen Konsolidierungsbeitrag.
Ich will im Zusammenhang mit dem Instrument der
Ich-AG sagen: Wir verlängern diese Maßnahme um ein
halbes Jahr; das ist richtig. Aber klar ist auch: Wir werden die beiden Instrumente zur Förderung der Selbstständigkeit von bisher Arbeitslosen, das heißt das Instrument der Ich-AG und das Überbrückungsgeld,
zusammenführen. Für mich war in der Anhörung, die
wir im federführenden Ausschuss durchgeführt haben,
erkennbar: Dies sollte mehr in die Richtung des bisherigen Überbrückungsgeldes gehen. Wichtig ist auch, dass
die Agenturen einen Ermessensspielraum haben, um
teure Mitnahmeeffekte zu vermeiden, die wir in diesem
Bereich bisher gehabt haben.
Wichtig ist auch, dass die zwingende Einrichtung von
Personal-Service-Agenturen in jedem Arbeitsagenturbezirk beendet wird. Dort, wo sich diese Maßnahme bewährt hat, soll sie weiterlaufen. An anderen Stellen - ich
denke, das sind die meisten - kann das bisher dafür verwendete Geld sinnvoller ausgegeben werden.
Ich bin der SPD-Fraktion dankbar, dass sie das mitgemacht hat. Für uns ist das relativ einfach gewesen. Wir
haben diese Instrumente, zum Beispiel die Personal-Service-Agenturen und auch die Ich-AG, immer für falsch
gehalten. Für die SPD ist dies aber schwieriger; denn sie
hatte Hoffnungen bezüglich dieses Projekts, die sich
nicht erfüllt haben. Trotzdem ist sie jetzt bereit, einen
neuen Weg mitzugehen. Ich bin dankbar, dass wir uns
gemeinsam auf diesen Weg gemacht haben.
({5})
Ich will etwas zu der 58er-Regelung sagen.
({6})
- Herr Kollege Kolb, das, was Sie hier erzählt haben, hat
mit der Realität auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland
leider überhaupt nichts zu tun. ({7})
Ich bekenne mich dazu: Auch nach drei Wochen der
Bundesregierung unter Angela Merkel ist es leider noch
so, dass 58- und 59-Jährige so gut wie keine Chance auf
dem Arbeitsmarkt haben. Das haben wir in drei Wochen
nicht ändern können. Das ist leider so.
({8})
- Herr Kolb, ich sage Ihnen als Nichtjurist - auch ich
habe mir das aneignen müssen -: Gelegentlich hilft
Nichtjuristen wie Juristen ein Blick ins Gesetz.
Reden wir über die Vorschrift, deren Geltungsdauer
wir verlängern wollen, § 428 und den möglichen Bezug
von Arbeitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen. Was heißt denn das?
Anspruch auf Arbeitslosengeld … haben auch Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben
und die Regelvoraussetzungen … allein deshalb
nicht erfüllen, weil sie nicht arbeitsbereit sind und
nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen wollen,
um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden.
Ich frage Sie angesichts der Realität des Arbeitsmarktes in Deutschland: Welche Möglichkeiten haben denn
58- oder 59-Jährige heutzutage, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden? Sie reden doch an der Realität vorbei. Die Menschen haben so gut wie keine Chance mehr.
Deswegen ist es richtig, dass wir der Realität ins
Auge sehen. Das hat mit Frühverrentungsanreizen - darauf komme ich noch zu sprechen - nichts zu tun. Wir
verlängern die Geltungsdauer einer Regelung, die sich
auf das Verhältnis zwischen dem älteren Arbeitslosen
und der Arbeitsverwaltung konzentriert. Wir sorgen dafür, dass sich die Arbeitsverwaltung auf diejenigen konzentrieren kann, die bessere Chancen haben, in Arbeit
vermittelt zu werden. Kein arbeitsloser 58- oder 59-Jähriger muss zu dem Schluss kommen, mit der Arbeitsverwaltung nichts mehr zu tun haben zu wollen.
({9})
Jeder kann sämtliche Leistungen des Arbeitsmarktes
in Anspruch nehmen. Aber wir wollen nicht Menschen
mit Maßnahmen überhäufen, die sie als Drangsalieren
oder Schikane empfinden müssen, weil sie wissen, dass
sie bei der heutigen Arbeitsmarktlage keine Chance haben, eine Beschäftigung zu finden. Dieser Realität haben
wir uns zu stellen und diesem Zweck dient die befristete
Verlängerung der Geltungsdauer der Vorschrift.
({10})
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb zuzulassen?
Bitte schön.
Herr Kollege, ich stimme Ihnen in der Einschätzung,
dass 58- oder 59-Jährige heutzutage - nach fünf Jahren
konjunktureller Schwäche - Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben, durchaus zu. Aber das ist auch darauf
zurückzuführen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen ihnen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erschweren.
({0})
Deswegen frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, dass es
nicht genügt, die Symptome zu korrigieren, sondern dass
man die Lösung des Grundproblems angehen muss? Dabei stellt sich die Frage, wie aus der Sicht der Unternehmen - das mag einigen von Ihnen nicht gefallen, aber
letztlich kommt es darauf an - die Chancen für ältere Arbeitnehmer, Beschäftigung zu finden, verbessert werden
können. Stimmen Sie mir darin zu?
({1})
Ich habe eine zweite Frage. Stimmen Sie mir auch darin zu, dass es mit der Freiwilligkeit im Zusammenhang
mit der Regelung des § 428 SGB III so eine Sache ist? In
der Praxis kommt es bei der Bundesagentur für Arbeit
vor - davor darf man nicht die Augen verschließen -,
dass ältere Arbeitslose in Richtung einer statistisch nicht
mehr relevanten Arbeitslosigkeit geschoben werden.
Das ist doch Realität.
({2})
Ich gehe davon aus, dass Sie genau wie ich die Fakten
vor Ort zur Kenntnis nehmen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie dann hier eine andere Sprache sprechen.
({3})
Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Herr Kollege, weil
das, was Sie ausgeführt haben, mit der Realität auf dem
deutschen Arbeitsmarkt nichts zu tun hat. Sie tun so, als
würden die Arbeitsvermittler auf Bergen von Beschäftigungsangeboten für 58- oder 59-Jährige sitzen und sich
weigern, diese Angebote zur Verfügung zu stellen. Das
ist nicht der Fall. Das hat damit nichts zu tun, Herr Kollege Kolb.
({0})
Ich will noch etwas zu der Gesetzeslage anmerken,
weil Sie die derzeitigen und die zukünftigen Rahmenbedingungen angesprochen haben. Mit Stand vom Dezember 2005 hat der 58-jährige Arbeitslose in der Tat einen
Anspruch auf Arbeitslosengeld I für die Dauer von
32 Monaten und kann mit 60 Jahren aus der Arbeitslosigkeit heraus in Rente gehen. Das heißt, er kann diesen
Zeitraum überbrücken. Bisher gibt es in der Tat noch einen entsprechenden Frühverrentungsanreiz.
({1})
In zwei Jahren - im Dezember 2007 -, wenn die von
uns jetzt verlängerte Geltungsdauer der Regelung des
§ 428 ausläuft, dann hat ein 58-Jähriger, der dann arbeitslos wird, 18 Monate lang Anspruch auf Arbeitslosengeld.
({2})
Er kann mit 63 Jahren in Rente gehen und muss dreieinhalb Jahre überbrücken. Es gibt dann keinen Frühverrentungsanreiz mehr. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Sie beklagen, gibt es dann nicht mehr. Das
ist die Rechtslage.
({3})
Von daher ist es richtig, dass Fehlanreize und Fehlsteuerungen wie Frühverrentungsanreize abgebaut werden müssen. Das ist auch der Fall. Die Regelung in der
Fassung, deren Geltungsdauer wir jetzt verlängern,
nimmt Rücksicht auf die Realität des Arbeitsmarktes
und bedeutet keinen zusätzlichen Anreiz zur Frühverrentung. Deswegen führen wir diese Maßnahme für zwei
Jahre durch. In diesen zwei Jahren - das haben wir uns
vorgenommen und das werden wir auch umsetzen - werden wir sämtliche Maßnahmen der Arbeitsförderungspolitik überprüfen und das Instrumentarium effektiver
gestalten.
({4})
Wir werden es in zwei Jahren mit anderen Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben als jetzt.
Dann ist eine Regelung entbehrlich, auf die wir sinnvollerweise jetzt noch in Form einer Verlängerung zurückgreifen.
({5})
Wir werden mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf gleichzeitig die Dauer der Übergangsregelung im
Arbeitszeitgesetz um ein Jahr bis Ende 2006 verlängern. Das bedeutet nicht, dass wir mit dieser Regelung
glücklich sind. Wir wissen, dass dies für die Kliniken,
die sich in Tarifverträgen an die europarechtlich vorgegebene geänderte Rechtslage angepasst haben, eine
schwierige Situation ist. Aber wir müssen zur Kenntnis
nehmen - auch das hat aus meiner Sicht die Anhörung
im federführenden Ausschuss ergeben -, dass die Tarifvertragsparteien noch nicht so weit sind, dass es zu verantworten wäre, schon zum jetzigen Zeitpunkt zwingend
das zu geltendem Recht zu machen, worauf man sich in
Europa verständigt hat und was wir zum 1. Januar 2007
zum Gesetz machen. Die Botschaft an die Betroffenen
ist also ganz klar: Es gibt eine Verlängerung um ein Jahr.
Wir erwarten dann, dass alle Tarifverträge so geändert
sind, dass die europäische Regelung greifen kann.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Anja Hajduk zuzulassen?
Aber gerne.
Bitte, Frau Hajduk.
Sehr geehrter Herr Kollege Brauksiepe, wir sprechen
in dieser Beratung über die Verlängerung der Geltungsdauer diverser Arbeitsmarktinstrumente. Habe ich Sie
richtig verstanden - wenn ja, möchte ich das von Ihnen
bestätigt wissen -, dass die große Koalition bei der Verlängerung der Geltungsdauer der so genannten 58er-Regelung ausdrücklich darauf verzichtet, die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I auf 32 Monate zu verlängern
- das stand einmal in Rede; Rot-Grün hatte das beschlossen; dazu hatte ich damals eine durchaus kritische
Erklärung zu Protokoll gegeben; die Verlängerung über
Februar 2006 hinaus war dann im Bundesrat hängen geblieben -, und zwar im Hinblick darauf, dass man dann
ab 2007 ein Potenzial in Höhe von mehreren Milliarden
Euro im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit hat, um
die Lohnnebenkosten zu senken? Ich möchte das nur
noch einmal klargestellt wissen; denn auch aus den Reihen der Union wurde im Vorwahlkampf eine Änderung
der Gesetzeslage, also eine längere Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I als zwölf bzw. 18 Monate, vehement gefordert. Ich stelle fest, dass die große Koalition
auf eine Verlängerung der Bezugsdauer verzichtet. Sind
wir uns einig, wenn ich festhalte, dass das die Position
ist, die Sie nun für richtig halten?
Ich bin mit Ihnen insoweit einig, als Sie sich auf das
beziehen, was im Koalitionsvertrag steht.
({0})
Wir haben uns darauf verständigt, ab 1. Februar 2006 die
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf zwölf bzw.
18 Monate für über 55-Jährige und den Beitragssatz in
der Arbeitslosenversicherung zu senken. So ist in der Tat
die Lage. Dabei spielt es in der Rückbetrachtung keine
Rolle mehr, dass wir das im Wahlkampf gefordert haben.
Nun haben wir uns darauf gemeinsam verständigt. Das
werden wir auch machen.
Bei der Bundesagentur für Arbeit sind Einsparungen zu erbringen. Natürlich geht es darum, die entsprechenden Maßnahmen umzusetzen; denn wir wollen mit
dem Senken der Lohnnebenkosten in der Tat Ernst machen. Auch wenn wir uns größere Schritte gewünscht
hätten, werden wir auf jeden Fall eine Beitragssatzsenkung um zwei Punkte vornehmen, wenn wir das darstellen können. Natürlich gehört in diesen Zusammenhang auch die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass es sich hier nicht um beispiellosen sozialen
Kahlschlag handelt. Schließlich betrug bis zum Jahr
1985 die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes maximal
zwölf Monate. Nun wird die Bezugsdauer bei maximal
18 Monaten liegen. Das ist eine sinnvolle Maßnahme;
dazu bekennen wir uns. Das werden wir gemeinsam machen, auch um die Lohnnebenkosten zu senken.
({1})
Was wir heute auf den Weg bringen - darüber muss
man sich im Klaren sein -, kostet auch Geld, insbesondere das, bei dem wir gegenüber den Kommunen im
Wort sind. Die heutigen Beschlüsse haben wir zwar
schnell, nur wenige Wochen nach der Regierungsbildung, gefasst. Aber das, was wir dem Parlament heute
vorlegen, kann nur der Auftakt der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sein, die wir in den nächsten Jahren
ergreifen werden. Das bezieht sich auf das SGB III und
das SGB II gleichermaßen. Ich möchte an dieser Stelle
deutlich sagen: Angesichts des großen Konsolidierungsbedarfs im Haushalt - der durch die neuen Gesetze ja nicht geringer wird - werden wir darauf achten
müssen, dass wir auch die Maßnahmen ergreifen, die
kein Geld kosten. Das bedeutet beispielsweise die Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Gesetzes
zur Änderung des Kündigungsschutzes. Das werden wir
in nächster Zeit angehen, und zwar in der Weise, wie wir
es im Koalitionsvertrag angekündigt haben. Der Minister hat bereits in der Debatte anlässlich der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin darauf hingewiesen.
Natürlich werden wir angesichts des Konsolidierungsbedarfs, den wir haben, nicht darum herumkommen, auch die Korrekturen anzupacken, die wir uns bei
Hartz IV vorgenommen haben. Der Einsparungs- und
Konsolidierungsbedarf im Haushalt muss gedeckt werden.
({2})
Wir haben die absurde Situation, dass wir für die Menschen, um die es hier geht und denen wir helfen wollen,
sehr viel mehr Geld ausgegeben haben als je zuvor. Die
Kosten hatte man in der Vergangenheit nicht im Griff.
Gleichzeitig wird in vielen Teilen der Bevölkerung der
Eindruck erweckt, das wäre der soziale Kahlschlag. Das
Gegenteil ist der Fall! Bei allen Härten, die für viele
Menschen in Einzelfällen damit verbunden sind, ist es
so, dass für die Menschen mehr Geld ausgegeben worden ist als in der Vergangenheit. Wir werden gemäß dem,
was Bundeskanzlerin Angela Merkel völlig zu Recht in
ihrer Regierungserklärung gesagt hat, zu Korrekturen
und Einsparungen kommen müssen: Es muss verhindert
werden, dass Schwache keine Leistungen bekommen.
Den Schwachen muss geholfen werden. Es muss aber
auch verhindert werden, dass Starke sich erfolgreich als
Schwache tarnen können und Leistungen beziehen, die
sie nicht brauchen und auf die sie keinen Anspruch haben. - Das muss angegangen werden.
({3})
Das wird noch harte Maßnahmen erfordern. Wir haben
uns aber gemeinsam darauf verständigt. Das wird eine
Aufgabe für die Regierungskoalition, aber auch für die
Länder und Kommunen und hoffentlich auch für eine
verantwortungsvolle Opposition sein.
Ich glaube, dass auch die Bundesagentur für Arbeit
mit den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, auf dem
Weg ist, ein effizienterer Partner zu werden, als sie es in
der Vergangenheit war. Es ist klar, dass wir auch in Zukunft auf eine entsprechende Arbeit der Bundesagentur
angewiesen sind, wenn es gelingen soll, nicht nur den
Satz des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu senken, sondern auch zu einer besseren Vermittlung von
Menschen in Arbeit zu kommen. Deswegen werden wir
als Regierungskoalition uns ehrlich bemühen, die zahllosen und komplizierten Instrumente, die es im Moment in
der Arbeitsförderung noch gibt, zu durchforsten, um
bürokratischen Ballast auch für die BA zu beseitigen und
den Vermittlern und Beratern in den Arbeitsagenturen
den notwendigen Entscheidungsspielraum zu geben, den
sie vor Ort für eine effektivere Arbeitsmarktpolitik brauchen. Also, es liegt noch viel vor uns.
({4})
Wir sind erst drei Wochen an der Regierung. In den drei
Wochen haben wir gemeinsam eine Menge geschafft.
Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die
dabei mitgemacht haben!
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Werner Dreibus von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und liebe Kollegen! Weihnachten sollte eigentlich die Zeit froher Botschaften sein.
({0})
Das denken wir jedenfalls und das ist es auch für viele
Menschen. Für 32 000 Beschäftigte der Telekom, wie
wir diese Woche erfahren haben, für 1 750 Beschäftigte
der AEG in Nürnberg und für viele Tausende von Beschäftigten in anderen Unternehmen wird das Fest der
Freude wohl auch in diesem Jahr ein Fest - wenn überhaupt - existenzieller Sorgen sein. Ich betone: existenzieller Sorgen. Auch der Minister hat in seiner Erklärung zu Recht davon gesprochen.
Was tut die Koalition, so fragen wir uns, in dieser Situation von angekündigten Massenentlassungen und
steigender Arbeitslosigkeit?
({1})
Sie legt einen Gesetzentwurf zum SGB III vor, der aus
unserer Sicht arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vorsieht, die dem Problem der Massenarbeitslosigkeit in
keiner Weise gerecht werden.
({2})
Was brauchen die betroffenen Menschen, die Beschäftigten, eigentlich? Sie brauchen erstens eine angemessene soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit.
({3})
Sie brauchen zweitens Weiterbildungs- und Vermittlungsangebote - je älter, je mehr -, die ihre Chancen auf
dem Arbeitsmarkt tatsächlich verbessern.
({4})
Sie brauchen drittens - auch darüber müssen wir im Zusammenhang mit diesem Artikelgesetz reden - Arbeitsschutzbestimmungen, die ihnen ein menschenwürdiges Arbeiten ermöglichen.
({5})
In allen drei Belangen war aus unserer Sicht die Politik
der alten Bundesregierung mangelhaft. Die verlor auch
deshalb ihre politische Mehrheit.
({6})
Nun versuchen die neue Bundesregierung und die
neue Mehrheit, das Falsche dadurch zu bekämpfen, dass
sie die Dosis der falschen Medizin noch erhöhen, jedenfalls im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
({7})
Für andere Bereiche wie Steuerpolitik und Finanzpolitik
gilt das ebenso.
Ich will Ihnen dafür, bezogen auf den vorliegenden
Gesetzentwurf, drei Beispiele nennen:
Erstens. Was ist an dem Vorhaben sinnvoll, die Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für
Ältere beizubehalten? Ältere haben in der Regel tatsächlich lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt.
Gleichzeitig haben sie besonders geringe Chancen auf
dem Arbeitsmarkt. Die Realität ist nun einmal so, auch
wenn Herr Kolb versucht, das ideologisch zu rechtfertigen.
({8})
Wir meinen, Ältere haben ein Recht - ich sage an dieser
Stelle ganz ausdrücklich: ein Menschenrecht - auf einen
deutlich längeren Bezug von Arbeitslosengeld als jüngere Menschen.
({9})
Es ist arbeitsmarktpolitisch notwendig, die schlechteren
Vermittlungsaussichten der älteren Arbeitslosen durch
eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zumindest ansatzweise zu kompensieren.
Herr Minister, noch im Sommer dieses Jahres waren
Sie - damals noch in anderer Funktion - der gleichen
Auffassung. Es gibt mehrere öffentliche Erklärungen
von Ihnen dazu. Wenn ich es richtig mitbekommen habe,
gilt das auch für so manchen aus der Fraktion der CDU/
CSU, beispielsweise für Herrn Pofalla. Aber damals begann der Wahlkampf. Da ging es um Wählerstimmen.
Zweitens. Was ist sinnvoll an einem Vorhaben, den
erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld für Arbeitslose über 58 Jahre über das Jahr 2006 beizubehalten,
wenn Sie gleichzeitig die Kürzungen beim Arbeitslosengeld I nicht zurücknehmen? Wir meinen, die
58er-Regelung ist sinnvoll, auch deren Verlängerung.
Sie ist also gut gemeint, aber sie ist nicht gut gemacht;
denn der entscheidende zweite Teil - die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes betreffend - fehlt.
({10})
Sie helfen den betroffenen älteren Menschen damit nur
wenig. Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit hat
in der Anhörung zu Recht gesagt, dass die praktische
Bedeutung der Verlängerung der 58er-Regelung vor dem
Hintergrund der genannten Tatsachen deutlich abnehmen wird, weil Sie gleichzeitig die Kürzungen beim
Arbeitslosengeld I nicht zurücknehmen.
Drittens. Was ist sinnvoll an dem Vorhaben, die
Erstattungspflicht für Unternehmen bei der Kündigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu streichen? Wir meinen - Herr Kolb, da weiß ich
sehr genau, wovon ich rede; denn ich bin ein Mann aus
der Praxis -, die Bundesregierung streicht damit ein zugegeben sehr kompliziertes, aber in der betrieblichen
Praxis sehr wohl vorhandenes und auch wirksames Mittel, Druck auf die Unternehmer auszuüben, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Betrieb nicht
leichtfertig herauszuwerfen, sondern weiterzubeschäftigen.
({11})
Wohlgemerkt, das ist eine komplizierte Regelung; aber
das ist immer noch besser als gar keine Regelung.
({12})
Dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit werden
damit nach Schätzungen der Bundesagentur selber für
dieses Jahr weitere 200 Millionen Euro entzogen. Dieses
Geld fehlt für Qualifizierung und Vermittlung.
({13})
- Das ist am Montag so gesagt worden, Herr Kollege
Brandner. - Wenn das die arbeitsmarktpolitische Linie
der neuen Bundesregierung ist, dann sollte sich der Arbeitsminister möglicherweise besser Arbeitslosigkeitsminister nennen und seine Reden zur Bedeutung älterer
Beschäftigter in diesem Zusammenhang in einem Ordner mit der Aufschrift „Sonntags- und Feiertagsreden“
abheften.
({14})
Fazit dieses Teils: Eine Verzögerung von Kürzungen
und ein Unterlassen notwendiger Schritte ist in der
Summe eben keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung.
({15})
Ich möchte ein paar Bemerkungen zu dem Thema
„Bereitschaftszeit und Arbeitszeit“ machen. Zunächst
einmal wundere ich mich sehr, Herr Minister, dass Sie
selber zu diesem Thema in Ihrer Einleitung gar nichts
gesagt haben.
({16})
Für meine Begriffe ist dies exemplarisch dafür, wie grob
fahrlässig sich die Koalition im Umgang mit den Interessen von Beschäftigten und ihrer Verantwortung für beschäftigungsförderliche Rahmenbedingungen verhält.
Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrleute und andere
Beschäftigtengruppen leiden seit langem unter überlangen Arbeitszeiten, die aus der Kombination von Normalarbeitszeit, Mehrarbeit und Bereitschaftsdiensten resultieren. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurde unter
anderem bereits im Jahr 1993, also vor zwölf Jahren, in
der europäischen Arbeitszeitrichtlinie festgelegt, dass
Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zu werten sind. Damit kann und soll das von den betroffenen Beschäftigten
tatsächlich geleistete Arbeitspensum auf ein gesundheitsverträgliches Maß begrenzt werden.
({17})
Angesichts der Zeitspanne von zwölf Jahren - das
sind ja nicht nur ein paar Wochen -, die seit 1993 zur
Umsetzung dieser Richtlinie zur Verfügung gestanden
hat, ist Ihre Begründung für die weitere Verlängerung
der Übergangsfrist falsch und entlarvend.
({18})
Die erneute Verlängerung räumt den Tarifparteien nicht
mehr Zeit ein, diese Richtlinie in Tarifverträgen zu berücksichtigen, wie Sie zur Begründung anführen; es passiert nichts anderes, als dass den Arbeitgebern ein weiteres Jahr Gelegenheit gegeben wird, auf dem Rücken von
Beschäftigten und Patienten zu sparen.
({19})
Herr Kollege, Sie müssen bitte dringend zum Schluss
kommen.
Eine Bemerkung zum Schluss. - Diese Reparatur und
alle weiteren Reparaturen an den Hartz-Gesetzen ändern
nichts an der verheerenden Bilanz Ihrer so genannten
Jahrhundertreform. Sie - ich wende mich hier vor allem
an die sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen - wollten eine epochale Wende der Arbeitsmarktpolitik herbeiführen. Mit dem, was Sie bisher getan haben,
und mit der Reparatur jetzt ist das weitere Desaster eher
vorprogrammiert. Das ist dann das eigentlich Epochale
an Ihrer Reform.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Dreibus, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu gratulieren wir alle Ihnen und wünschen für die parlamentarische Arbeit alles Gute.
({0})
Ich bedanke mich in dem Zusammenhang ausdrücklich bei Herrn Meckelburg, der die Tradition eingehalten
hat, bei einer ersten Rede auf eine Zwischenfrage zu verzichten.
({1})
Ich gebe der Kollegin Brigitte Pothmer von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Abgeordnete der großen Koalition,
({0})
Sie hatten angekündigt, in Sachen Arbeitsmarktpolitik
ganz neue Wege beschreiten zu wollen; auch die Kanzlerin hat das in ihrer Regierungserklärung getan. In diesem
Gesetzentwurf kann ich davon zunächst einmal nichts
erkennen; im Gegenteil: An einem für mich sehr zentralen Punkt scheint mir eher ein Sieg des alten Denkens zu
verzeichnen zu sein.
({1})
Das Beispiel, auf das ich jetzt eingehen will, ist ein
aus meiner Sicht gerade sehr innovatives Instrument der
Arbeitsmarktpolitik, nämlich die Ich-AG. Diesen IchAGs wird jetzt noch einmal ein halbes Jahr Übergangsfrist eingeräumt und dann sollen sie entfallen.
({2})
Das hat Herr Brauksiepe hier noch einmal deutlich gesagt.
({3})
Herr Brauksiepe, können Sie mir einmal erläutern, woher Sie die Erkenntnis haben, dass sich die Hoffnungen
in Bezug auf dieses Instrument - angeblich - nicht erfüllt haben? Inzwischen haben über 300 000 Menschen
dieses Instrument in Anspruch genommen. Die Betriebsgründungen in Form dieser Ich-AGs sind genauso effektiv, jedenfalls bis jetzt, wie andere Betriebsgründungen
auch.
({4})
Ich will Ihnen dazu einmal Folgendes sagen: Sie waren aus ideologischen Gründen schon immer dagegen.
Deswegen sind Sie auch in diesem Fall dagegen. Das
Problem ist aber, dass sich die SPD im Wahlkampf noch
damit geschmückt hat. Wirtschaftsminister Clement hat
ebendiese Regelung noch im April letzten Jahres bis
2007 verlängert. Jetzt lassen Sie das Instrument zu meinem tiefen Kummer wie eine heiße Kartoffel fallen.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Brauksiepe zuzulassen?
Wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird,
gern.
Das ist die wunderbare Gelegenheit, die Redezeit zu
verlängern.
Gut. - Dann sprechen Sie jetzt!
({0})
Das ist wiederum mein Job. - Bitte, Herr Brauksiepe.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, Sie haben mich nach
unserer Bewertung der Ich-AG gefragt. Ich frage zurück:
Haben Sie sich einmal damit beschäftigt, wie viel Geld
in die Ich-AG-Regelung geflossen ist und mit welchem
Ergebnis? Wenn Sie das nicht selbst im Detail nachgeprüft haben, haben Sie denn einmal - wie wir es beispielsweise getan haben - mit Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit darüber gesprochen, wie diese selbst
die Effizienz dieses Instruments bewerten? Es läuft nämlich darauf hinaus, dass man in der Tat von dem Obligatorium und von der Zweispurigkeit, die es bei der Existenzförderung nach Arbeitslosigkeit gibt, wegkommen
sollte.
Ja, das habe ich mehrfach getan. Ich habe auch sehr
aufmerksam bei der Anhörung im Ausschuss zugehört,
als die Vertreter des IAB darauf hingewiesen haben, dass
das Instrument zwar evaluiert wird, dass es aber bereits
jetzt erkennbare Hinweise gibt, dass dieses Instrument
sehr erfolgreich ist und durchaus akzeptiert wird.
({0})
Wenn man über die Kosten redet, dann muss man selbstverständlich auch gegenrechnen, dass die betroffenen
Arbeitslosen in diesem Zeitraum sonst eine andere Form
von Arbeitslosenunterstützung erhalten hätten, Herr
Brauksiepe.
({1})
Weil wir in dieser Frage - das will ich durchaus zugeben - noch keine endgültige Klarheit haben, halte ich es
für falsch, dieses Instrument jetzt holterdiepolter abzuschaffen, bevor überhaupt der Beweis erbracht werden
konnte, ob es eine Erfolgsgeschichte oder eine Misserfolgsgeschichte ist. Ich sage Ihnen etwas: Wenn Sie erfolgreich Arbeitsmarktpolitik betreiben wollen, dann
brauchen Sie vor allen Dingen eines, nämlich Verlässlichkeit. Es ist ein Fehler, bei diesem Instrument jetzt so
kurzatmig zu reagieren. Das wissen die Kolleginnen und
Kollegen von der SPD ganz genau; aber da haben sie ihren Preis gezahlt.
({2})
Nun komme ich - das ist mir sehr wichtig - zu der
58er-Regelung. Sie scheint vordergründig ein Privileg
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sein,
weil diese Arbeitslosenunterstützung bekommen, ohne
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen. Faktisch wirkt diese Regelung aber genau gegenteilig, weil
sie dazu führen wird, dass die Jobagenturen ihre Anstrengungen, diese Gruppe in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zurückfahren werden.
({3})
Deswegen ist diese Regelung für die älteren Arbeitslosen eher ein Problem als ein Vorteil.
Herr Brauksiepe hat darauf hingewiesen, dass das
Arbeitslosengeld I zukünftig für ältere Arbeitslose nicht
mehr 32 Monate, sondern 18 Monate gezahlt wird.
Wenn man aber die materielle Unterstützung verringert,
dann muss man doch im Gegenzug die Anstrengung,
diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, erhöhen; dann muss man diese Anstrengung forcieren, statt sie zurückzufahren. So wird ein Schuh daraus.
({4})
Das haben wir auch im Ausschuss ausdrücklich immer
wieder thematisiert. Wir alle waren uns am Ende, zumindest am Tisch der Wahrheit, doch einig darüber, dass
diese Regelung dazu führen wird, dass die Jobagenturen,
aber auch die Personalabteilungen der Firmen die älteren
Arbeitslosen drängen werden, auf eine Vermittlung zu
verzichten. Das wird das Ergebnis sein.
({5})
Sie behaupten immer wieder propagandistisch, Sie
wollten viel für ältere Arbeitslose tun. Aber mit der Regelung in diesem Gesetzentwurf erreichen Sie haargenau
das Gegenteil. Da hilft Ihnen dann auch die Initiative
„50 plus“ nicht weiter.
({6})
Es gibt noch einen anderen Hinweis darauf, dass Sie
für ältere Arbeitnehmer nichts tun wollen: Sie wollen auf
die Förderung der beruflichen Weiterbildung von Älteren verzichten. Das zeigt doch eines: Was Sie für ältere Arbeitnehmer tun wollen, ist nur Propaganda, Reklame. In der Realität marschieren Sie haargenau in die
andere Richtung.
({7})
Meine Redezeit ist leider begrenzt; deswegen nur
noch ein paar Sätze zu der Frage, wie Sie mit dem
Arbeitszeitgesetz umgehen.
({8})
Sie erinnern sich vielleicht noch daran, dass die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung ausgeführt hat, sie
wolle zukünftig EU-Recht eins zu eins umsetzen. Damals bezog sich das auf das Antidiskriminierungsgesetz.
Jetzt ist von eins zu eins aber keine Rede mehr. Beim Arbeitszeitgesetz wird geschoben und nochmals geschoben. An dieser Stelle wird EU-Recht nicht umgesetzt. Im
Gegenteil: Sie kalkulieren sogar ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen die Bundesrepublik
Deutschland ein. Was aber noch viel schlimmer ist: Sie
riskieren damit die Sicherheit der Patientinnen und Patienten.
Herr Brauksiepe, es stimmt doch nicht, dass dieses
Gesetz noch nicht umgesetzt werden konnte. 50 Prozent
der Krankenhäuser haben entsprechende Maßnahmen
bereits umgesetzt oder sind in diesem Moment dabei.
Was Sie hier machen, ist ein Kniefall vor den Ministerpräsidenten der Länder. Wenn hier überhaupt einer
durchregiert, dann sind es die Ministerpräsidenten und
nicht die große Koalition in Berlin.
({9})
Dies hier ist ein Weihnachtsgeschenk für diejenigen, die
Gesetze nicht einhalten, also ein Weihnachtsgeschenk
für Gesetzesbrecher.
({10})
Sie belohnen mit diesem Gesetz diejenigen, die sich verweigern, und Sie bestrafen die Pflichtbewussten. Diejenigen, die fleißig und rechtstreu sind, sind bei Ihrer Politik die Dummen.
({11})
Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche Signale insgesamt eine sehr negative Wirkung haben werden. Prost
Mahlzeit, wenn das so weitergeht. Ihre Weihnachtsbotschaft lautet doch in diesem Jahr: Friede der Koalition
und den Beschäftigten und den Arbeitslosen kein Wohlgefallen.
({12})
Wir werden dem SGB-III-Änderungsgesetz nicht zustimmen. Wir stimmen nur dem SGB-II-Änderungsgesetz zu.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus
von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit den Themen, die die Bundesregierung
für die nächsten Wochen und Monate als zentrale Punkte
auf die Agenda genommen hat. Es geht um den Arbeitsmarkt. Damit geht es um Menschen, die arbeitslos sind.
Es geht auch um junge Menschen, die in Arbeit und
Ausbildung wollen. Es geht ferner um Menschen, deren
Arbeitsplatz gefährdet ist.
Wir müssen in diesem Bereich die Weichen richtig
stellen. Dabei sollte uns das Machbare am Herzen liegen. Dass immer noch etwas draufzusatteln wäre und
dass es noch weitere Möglichkeiten gäbe, wäre zwar
wünschenswert. Aber wir haben uns den Realitäten zu
beugen.
({0})
Es ist klar, dass sich meine Fraktion lieber an das Machbare hält als an das Wünschenswerte. Herr Kolb, damit
meine ich insbesondere das Wünschenswerte, das Sie
vorhin dargestellt haben.
({1})
Es ist leider so, dass sich der Arbeitsmarkt für Ältere
trotz unserer in der letzten Legislaturperiode eingeleiteten Maßnahmen nicht so entwickelt hat, wie wir es uns
erhofft hatten. Wir sind der Auffassung, dass die Politik
diese Tatsache zu berücksichtigen hat. Deswegen ist es
entgegen allem auch von uns Gewollten durchaus
richtig, dass die 58er-Regelung verlängert wird. Wir tragen damit den aktuellen Beschäftigungschancen älterer
Arbeitsloser Rechnung.
Wir haben dazu am Montag dieser Woche eine Anhörung von Sachverständigen im Bundestag gehabt. Bei allen Differenzen in den Meinungen sind sie sich zumindest in diesem Punkt einig: Es ist ein Märchen, dass die
58er-Regelung dafür verantwortlich ist, dass älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eher gekündigt
wird. Die Ursache liegt vielmehr in den Köpfen der Arbeitgeber, bei denen sich leider die Meinung noch nicht
durchgesetzt hat, dass aus ökonomischer Sicht auf das
Potenzial der älteren Arbeitnehmer nicht verzichtet
werden darf.
({2})
Mit dem Fünften SGB-III-Änderungsgesetz gehen
wir dieses Thema konkret an. Wir werden daher die Förderung der Weiterbildung älterer und von Arbeitslosigkeit bedrohter Arbeitnehmer ab 50 Jahren in kleinen Betrieben mit bis zu 100 Mitarbeitern verlängern.
({3})
Wer davon spricht, dass lebenslanges Lernen im Job und
im Beruf vonnöten ist, der muss frohen Herzens zumindest diesem Teil des Gesetzes zustimmen. Wenn wir
Menschen in Arbeit halten wollen, dann müssen sie sich
tatsächlich den notwendigen Gegebenheiten und den
technischen Anforderungen im Beruf weiterhin stellen
können. Dazu sind, wie gesagt, Weiterbildung und Zusatzausbildung notwendig.
({4})
Die Beschäftigung Älterer wird weiter gezielt unterstützt. Arbeitslose ab dem 50. Lebensjahr erhalten, sofern sie eine geringer bezahlte Beschäftigung aufnehmen, die Lohndifferenz für eine befristete Zeit zur Hälfte
ausgeglichen.
Das kann man mit dem Begriff „Entgeltsicherung“
benennen. Zusätzlich wird ihr Rentenbeitrag aufgestockt.
({5})
- Herr Kolb, da es richtig ist, dass dieses Angebot leider
nicht genutzt wird,
({6})
muss man fragen: Wem geben wir hier eine Chance?
({7})
Wir geben sowohl den älteren Kolleginnen und Kollegen
als auch den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eine
Chance. Wenn diese die nicht nutzen, können Sie dafür
nicht die Politik verantwortlich machen. Wir in der Politik müssen vielmehr dafür sorgen, dass dieses Thema am
Kochen gehalten wird und
({8})
es transparent gemacht wird, und wir müssen es kommunizieren.
({9})
Auch im nächsten Jahr brauchen Arbeitgeber, die Arbeitslose über 55 Jahre einstellen, keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu entrichten. Die Bundesagentur
begrüßt diese Maßnahme. Ich gestehe Ihnen zu, dass auch
dieses Angebot zurzeit nicht in dem Maße genutzt wird,
({10})
wie wir uns das vorstellen. Aber ich sage Ihnen: Aus den
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen wird erkennbar,
dass die Politik die Voraussetzungen dafür schafft, dass
Ältere nicht mehr aus dem Arbeitsleben ausgegliedert
werden müssen,
({11})
sondern es interessant ist, Ältere aufgrund ihrer Berufserfahrung, ihres Könnens und Wissens im Beruf zu halten oder wieder einzustellen.
Hier sind, Herr Kolb, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber am Zug. Sie müssen sich damit beschäftigen,
warum es in dieser Republik so ist, dass Tausende von
Ingenieuren gesucht werden und Tausende von Ingenieuren, die über immenses Wissen verfügen, von den
Betrieben entlassen worden sind, auf der Straße stehen
und sich arbeitslos gemeldet haben. Dies liegt weiß Gott
nicht an den Maßnahmen, die wir in Bezug auf den Arbeitsmarkt getroffen haben.
({12})
Herr Grotthaus, sind Sie denn bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb zuzulassen?
Nein, dem Herrn Kolb gestatte ich keine Zwischenfrage.
({0})
Denn ich habe gerade erlebt, wie er mit meinem Kollegen von der CDU/CSU umgegangen ist. Er wollte nämlich seine Zwischenfrage überhaupt nicht beantwortet
haben
({1})
und hat diese nur rhetorisch gestellt. Wir können uns
darauf einigen, dass Sie Ihre Zwischenfragen demnächst
so stellen, dass sie gezielt als Frage erkennbar sind und
nicht Ihre Redezeit verlängern.
({2})
Ich will den Vertretern der FDP auf den Weg geben,
dass ich in meinem 36-jährigen Berufsleben nie erlebt
habe, dass die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten
zu mehr Einstellungen in den Betrieben geführt hat.
({3})
Wer glaubt, dass man hier etwas dadurch erreicht, dass
man den Kündigungsschutz reduziert oder den Gesichtspunkt des Alters bei der Sozialauswahl herausnimmt, irrt
sich beträchtlich. Dies führt nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern nur zur Reduzierung von Arbeitnehmerrechten.
({4})
Gerade damit werden Arbeitnehmer, die älter sind, angreifbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Arbeitsschutz machen. Der Gesetzgeber hat das Arbeitszeitgesetz zum 1. Januar 2004
an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
angepasst. Bereitschaftsdienste werden seitdem arbeitsschutzrechtlich als Arbeitszeit bewertet. Sie sind in vollem Umfang in die Ermittlung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit einzubeziehen.
Wir wollten eine Übergangsfrist von nur zwei Jahren.
Wir haben uns jetzt im Rahmen der Koalitionsvereinbarung darauf geeinigt, dass diese Übergangsfrist um ein
Jahr verlängert wird. All denjenigen, die heute nach dem
Gesetzgeber rufen, würde ich empfehlen, sich dann,
wenn sie hier in diesem Hause die Tarifhoheit reklamieren, daran zu erinnern, dass sich der Gesetzgeber da, wo
es möglich ist, aus tarifhoheitlichen Rechten heraushalten oder sich dort zurückhalten sollte.
({5})
Deswegen sagen wir: Für 55 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist schon eine Lösung erzielt worden. Eine Lösung für die restlichen 45 Prozent
wird - so hoffen wir - im kommenden Jahr zumindest
angegangen werden.
Den Arbeitgebern gebe ich mit auf den Weg, dass es
tatsächlich möglich ist, kürzere Arbeitszeiten zu realisieren, Belastungen abzubauen und die Bedingungen für
eine Balance zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Zeitanforderungen zu verbessern. Da gibt es die
verschiedensten Möglichkeiten: über Gleitzeit, über Arbeitszeitkonten und über viele Dinge mehr. Hier ist die
Kreativität derjenigen gefragt, die die Situation in den
Betrieben, also die Situation vor Ort, kennen.
Wir sind der Auffassung, dass in diesem einen Jahr
eine Lösung gefunden werden kann. Aber ich sage hier
stellvertretend für meine Fraktion: Sollte es bis Ende
2006 nicht zu einer Lösung gekommen sein, werden wir
das Gesetz voll und ganz zur Geltung bringen. Ich bin
aber davon überzeugt, dass wir eine Lösung finden werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Daniel Bahr, FDPFraktion.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Minister Müntefering hat hier elf
Minuten gesprochen. Er hatte aber nicht einmal Zeit, ein
oder zwei Sätze zu dem Protest von Hunderten von Klinikärzten in Deutschland zu sagen.
({0})
Dabei wird hier die Übergangsfrist für die Umsetzung
der Arbeitszeitrichtlinie verlängert. Damit ignorieren Sie
als Arbeitsminister die Proteste der Klinikärzte, die gegen ihre unhaltbaren Arbeitsbedingungen protestieren.
Das dürfen Sie nicht ignorieren. Sie müssen sie endlich
ernst nehmen, sehr geehrter Herr Minister.
({1})
Ich habe großes Verständnis für den Frust der Ärzte.
Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich zusehends.
Immer weniger Medizinstudenten arbeiten später als
Arzt in Deutschland. Sie gehen in Unternehmen, Unternehmensberatungen oder ins Ausland. Ein Ärztemangel
wird künftig die Folge sein. Darunter werden dann auch
die Patienten zu leiden haben. Die große Koalition hat
die Proteste der Ärzte mit ihrer Entscheidung zur Fristverlängerung zusätzlich angeheizt.
Mir ist vollkommen klar, dass sich Kommunen und
Länder in einer schwierigen Haushaltssituation befinden;
das will ich überhaupt nicht leugnen. Dies erschwert natürlich die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie; ich
kenne die Probleme in den Ländern. Durch diese Fristverlängerung aber wird in die laufenden Tarifverhandlungen eingegriffen. Die Positionen werden deutlich zuungunsten der Klinikärzte verschoben. Herr Kollege
Grotthaus, damit mischen Sie sich in die Tarifautonomie
ein.
({2})
Die Bundesregierung will mit ihrem Vorschlag einer
Fristverlängerung einen europarechtswidrigen Zustand
für ein Jahr aufrechterhalten. Dieser Zustand wird ja
nicht europarechtskonform, indem Sie die Frist verlängern.
({3})
Das Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens - die
Kollegin von den Grünen hat darauf hingewiesen - ist
nicht auszuschließen. Das ist für die Bundesrepublik
Deutschland sicherlich nicht positiv.
Die Krankenhäuser hatten für die Umstellung immerhin zwei Jahre Zeit. Ein Drittel der Krankenhäuser
hat sich an die Gesetze und Erklärungen der Politik gehalten; sie hat sich auf die Politik verlassen und die europäischen Arbeitszeitanforderungen umgesetzt. Etwa weitere 20 Prozent setzen zurzeit entsprechende Modelle
um. Das heißt, etwa die Hälfte der Krankenhäuser in
Deutschland hätte die Arbeitszeitregelung einhalten
Daniel Bahr ({4})
können. Leider orientiert sich die große Koalition in ihrem Gesetz aber an denen, die noch nicht gehandelt haben. Das sind insbesondere Universitätskliniken und
Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft.
Der müde, weil überarbeitete Arzt ist eine Gefahr für
den Patienten. Untersuchungen haben ergeben, dass ein
nach 24 Stunden Arbeit übermüdeter Arzt eine Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit hat, als ob er 1 Promille Alkohol im Blut hätte. Damit dürfte und könnte er
nicht einmal Auto fahren. Ich würde mich ungern von einem Taxifahrer mit 1 Promille Alkohol im Blut fahren
lassen. Wir aber muten den Ärzten zu, unter solchen Bedingungen zu operieren.
({5})
Folge der Fristverlängerung durch die große Koalition wird ein ungleicher Zustand sein. Ab Januar wird es
in Deutschland zwei Sorten von Krankenhäusern geben:
Die einen Krankenhäuser haben die Arbeitszeitanforderungen rechtzeitig umgesetzt; Tarifverträge wurden entsprechend neu vereinbart und beinhalten die neue Arbeitszeitregelung. Der neue Tarifvertrag wirkt wie
geplant ab dem neuen Jahr. In den anderen Krankenhäusern aber gelten die alten Tarifverträge fort. Das führt zu
einer erheblichen Wettbewerbsverzerrung zwischen den
Krankenhäusern. Das können Sie nicht ignorieren. Damit unterstützen Sie die Krankenhäuser, die nicht gehandelt haben, und nicht die Krankenhäuser, die neue Regelungen vereinbart haben.
({6})
Ich frage mich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was
soll sich in diesem einen Jahr ändern? Was gedenkt die
Bundesregierung eigentlich zu tun, damit das kommende
Jahr nicht ungenutzt bleibt und wir in einem Jahr nicht
vor dem gleichen Problem stehen? Wer stellt eigentlich
sicher, dass die vielen Krankenhäuser, die bisher noch
nicht reagiert haben, die Arbeitszeitregelung dann umsetzen werden?
Den Krankenhäusern werden für die Umstellung
700 Millionen Euro bis zum Jahr 2009 zur Verfügung
gestellt. Wenn Sie die Frist verlängern und wollen, dass
die restlichen Krankenhäuser in diesem einen Jahr vorankommen, hätten Sie das mit der Entscheidung koppeln sollen, diese 700 Millionen Euro nicht bis zum Jahr
2009 auszuzahlen, sondern den Termin auf das Jahr
2006 vorzuziehen. Damit wäre ein Anreiz geschaffen,
die neuen Arbeitszeitregelungen so schnell wie möglich
umzusetzen. Das machen Sie nicht. Im Gegenteil, Sie
belasten die Krankenhäuser weiter; denn wegen
Hartz IV wird der Zuwachs nicht 0,83 Prozent betragen,
sondern 0,63 Prozent. Damit erschweren Sie den Krankenhäusern die Umstellung.
Sie orientieren sich an den Krankenhäusern, die die
Arbeitszeitregelung noch nicht umgesetzt haben. Sie
sollten aber eher die Krankenhäuser unterstützen, die
sich auf die Politik verlassen haben.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({7})
Zum Ende dieser Debatte hat das Wort der Abgeordnete Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Dr. Kolb, Sie haben Ihre Rede mit der Behauptung begonnen, heute sei ein schwarzer Tag für ältere Arbeitnehmer.
({0})
Sie werden verstehen, dass ich Ihre Kritik insofern nicht
nachvollziehen kann. Ich möchte zunächst einmal festhalten, dass der heutige Tag auf jeden Fall ein guter Tag
für die Kommunen in Deutschland ist,
({1})
weil die Kommunen endlich Rechtssicherheit haben: Es
ist klar, was sie an Ausgleichszahlungen für Hartz IV bekommen.
Herr Dr. Kolb, Sie haben vorhin hervorgehoben, dass
Sie seinerzeit die kommunale Option abgelehnt haben.
({2})
Das sei Ihnen unbenommen. Ich habe den Eindruck, dass
es in den Optionskommunen mittlerweile besser läuft als
in den Kommunen, die Arbeitsgemeinschaften gegründet haben.
({3})
Ich darf Sie bitten, das anhand von gesicherten Kenntnissen darüber zu bewerten, wie es tatsächlich gelaufen
ist.
Liebe Kollegen von der FDP, ich habe allerdings sehr
viel Verständnis dafür, dass Sie kritisieren, dass dieses
Gesetz in einem sehr schnellen Durchgang beraten worden ist. Auch wir haben in der letzten Legislaturperiode
durchaus immer wieder diese Kritik angebracht. Insofern ist Ihre Kritik nachvollziehbar. Ich halte die Eile
aber in diesem Fall für gerechtfertigt, weil wir dadurch
erreichen, dass die Kommunen noch vor Ende des Jahres
die Rechtssicherheit haben, die sie dringend brauchen.
Ich will auch zu dem zweiten Gesetzentwurf, den wir
heute beraten, etwas sagen. Es ist den Kommunen seinerzeit zugesichert worden, dass sie in ihrer Gesamtheit
in Deutschland als Folge von Hartz IV eine jährliche
Nettoentlastung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bekommen. Unter Berücksichtigung aller Be- und Entlastungen hat man sich darauf geeinigt, dass der Bund eine
von Jahr zu Jahr variierende Erstattungsleistung zahlt,
die insgesamt auf etwa 3,2 Milliarden Euro jährlich beziffert worden ist. Man hat sich dann darauf verständigt,
dass der Betrag im Jahre 2005 durch eine Erstattung in
Stefan Müller ({4})
Höhe von 29,1 Prozent der Unterkunftskosten nach dem
SGB II erbracht werden sollte.
Dennoch hat die vorherige Bundesregierung einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Entlastung von
29,1 Prozent auf null reduziert hätte. Seinerzeit sind unterschiedliche Berechnungsgrundlagen ins Feld geführt
worden. In einer Revisionsklausel war vereinbart, dass
es zu einer Überprüfung kommen soll. Natürlich muss
man sagen, Herr Bundesminister, dass die Be- und Entlastungen bei den Kommunen sehr unterschiedlich ausfallen dürften, dass es sicherlich auch gewisse Verwerfungen geben wird und dass es unter den Landkreisen
und Städten Gewinner und Verlierer geben wird. Ich
stimme Ihnen aber ausdrücklich zu, dass es natürlich
nicht sein darf, dass die Länder nunmehr das Geld bekommen, es aber nicht an die Kommunen weitergeben.
({5})
Wir alle wissen, wie es tatsächlich läuft. In den Ländern
gibt es Finanzminister, die immer wieder auch etwas für
sich behalten wollen. Das ist natürlich nicht zu akzeptieren. Deswegen muss sichergestellt sein, dass das Geld
tatsächlich ankommt.
Es wird auf weitere Revisionsverfahren verzichtet,
weil sich das seinerzeit beschlossene Revisionsverfahren
nicht bewährt hat. Gleichwohl müssen wir alle überlegen, wie wir künftig dieses Verfahren verändern. Wir
müssen uns ein anderes Instrument überlegen. Insbesondere müssen sicherlich die Berechnungsgrundlagen vor
dem Hintergrund verändert werden, dass es bei diesem
Verfahren Probleme gegeben hat.
Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung sich
in den Verhandlungen für die Festschreibung auf
29,1 Prozent in den Jahren 2005 und 2006 stark gemacht
hat, wie es der Freistaat Bayern gefordert hat. Insofern
bin ich für die Zustimmung aller Fraktionen sehr dankbar.
Ich komme auf mein Eingangsargument zurück. Es ist
wichtig, dass wir alle dieses Signal an die Kommunen
geben, dass es Rechtssicherheit gibt. Ich glaube, dass wir
mit den vorliegenden Gesetzentwürfen alles das auf den
Weg bringen, was wir im Koalitionsvertrag als dieses
Jahr noch zu erledigen fixiert haben. Insbesondere beweisen wir damit, dass das so schnell passiert, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung, aber auch der sie
tragenden Fraktionen.
({6})
Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch werden alle Maßnahmen der
aktiven Arbeitsförderung verlängert, die bislang befristet waren. Die Verlängerung ist notwendig, um die
Vermittlungschancen, insbesondere die der älteren Arbeitsuchenden, zu verbessern. Auch dazu ist schon viel
gesagt worden. Ich will das nicht alles wiederholen. Ich
glaube, dass es in diesem Hause Konsens ist, dass wir
gerade für diese Zielgruppe, die es auf dem Arbeitsmarkt
besonders schwer hat, wirklich etwas tun wollen. Darum
werden verschiedene Arbeitsmarktmaßnahmen für Ältere verlängert.
Sie werden im Übrigen auch deswegen verlängert,
weil noch keine gesicherten Erkenntnisse über die Wirkung einzelner Instrumente vorliegen. Es ist aber beabsichtigt, dass wir nach Abschluss der Wirkungsuntersuchungen die Ergebnisse bewerten und gegebenenfalls
Änderungen vornehmen. In einzelnen Studien wird dargelegt, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse zu diesem
Zeitpunkt noch nicht erfolgen kann. Vor allem geht es
darum, dass wir die aktive Arbeitsmarktpolitik bis zum
Jahr 2007 durch die Zusammenführung und Vereinfachung von Instrumenten neu ausrichten, insbesondere
um Beitrags- und Steuermittel so effizient wie möglich
einzusetzen.
Eines ist uns allen klar: Aktive Arbeitsmarktpolitik
allein wird nicht dafür sorgen, dass in diesem Land neue
Arbeitsplätze geschaffen werden.
({7})
Natürlich ist es erforderlich, dass wir in der Wirtschaftsund Finanzpolitik die Rahmenbedingungen so setzen,
dass neue Arbeitsplätze entstehen können.
({8})
Insbesondere müssen wir Anreize für mehr Investitionen
schaffen und helfen, damit sich wirtschaftliche Dynamik
in diesem Land entfalten kann.
({9})
An diesem Punkt habe ich eigentlich mit einem Zwischenruf von der FDP zum Thema Mehrwertsteuererhöhung gerechnet. Dazu will ich gerne etwas sagen, um
den Zwischenruf vorwegzunehmen.
({10})
Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass Sie sich
im negativen Teil Ihrer Redezeit befinden.
Ich komme gleich zum Schluss. - Es geht uns nicht
allein um eine isolierte Mehrwertsteuererhöhung, sondern vor allem um eine Senkung der Lohnnebenkosten.
({0})
Es gehört sehr viel mehr dazu, zum Beispiel Anreize, damit die Unternehmen mehr investieren, damit der Staat
mehr investieren kann, damit für Forschung und Entwicklung mehr Geld ausgegeben wird. Ich glaube, auf
diesem Gebiet hat der Koalitionsvertrag sehr viel mehr
zu bieten, als Sie bereit sind anzuerkennen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Kolb.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse mich sehr
kurz. Ein Eindruck, den der Kollege Müller in seinem
Redebeitrag erweckt hat, darf nicht stehen bleiben: Richtig ist, dass die FDP damals das Optionsgesetz abgelehnt
hat.
({0})
Falsch ist, dass wir das getan hätten, weil wir den Kommunen nicht das Recht, in diesem Bereich tätig zu werden, einräumen wollten.
({1})
Richtig ist: Wir haben abgelehnt, weil dies nur 69 Kommunen tun durften und wir eine flächendeckende Betreuung Langzeitarbeitsloser durch die Kommunen wollten.
({2})
- Die CDU/CSU wollte das damals auch. Das ist vollkommen richtig, Herr Kollege Weiß. - Wir haben damals einen weiter gehenden Vorschlag eingebracht, nämlich durch eine Grundgesetzänderung die Finanzierung
der Kommunen sicherzustellen. Die Erfahrungen mit der
gescheiterten Revisionsklausel zeigen, dass auch dieser
Ansatz der FDP richtig gewesen ist.
Das wollte ich nur klarstellen, damit hier nicht dauerhaft ein falscher Eindruck entsteht.
({3})
Herr Müller, bitte schön.
Herr Kollege Dr. Kolb, ich bin gerne bereit, anzuerkennen, dass wir seinerzeit auf dem gleichen Weg waren. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Sie, sobald
wir gesicherte Erkenntnisse darüber haben, dass das tatsächlich so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben, uns wohlwollend begleiten und unseren Vorschlägen zustimmen.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozial-
gesetzbuch und anderer Gesetze auf Drucksache 16/109.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/245, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/273? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der
Fraktion der Linken, bei Ablehnung durch die SPD-
Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion sowie einige Abgeord-
nete von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der
FDP-Fraktion und einiger Abgeordneter von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Ablehnung der gesamten Op-
position angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Noch Tagesordnungspunkt 8 a: Wir kommen jetzt zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Än-
derung des Arbeitszeitgesetzes auf Drucksache 16/219.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/245, den Gesetz-
entwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit ein-
stimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 b: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch;
Drucksachen 16/162 und 16/220. Hierzu liegen von den
Abgeordneten Ulrike Flach, Jürgen Koppelin, Otto
Fricke und Dr. Claudia Winterstein Erklärungen zur Ab-
stimmung vor.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/253,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist je-
weils nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen möchten, mögen bitte aufstehen. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent-
wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 6: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/241
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes
- Drucksache 16/88 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/252 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kauder
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Hans-Christian Ströbele
Hierzu liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der
FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
vor. Interfraktionell ist verabredet, dass die Aussprache
eine halbe Stunde dauert. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem
Kollegen Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hinter so spröden Begrifflichkeiten wie „Zollfahndungsneuregelungsgesetz“ oder „Gesetz zur Neuregelung der
präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt“ verbirgt sich - ich
meine, das wird von jedermann im Lande befürwortet die Aufgabe des Staates, vorbeugende Maßnahmen zu
treffen zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, zur Verhinderung des Exportes
von Bestandteilen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, zur Verhinderung von schweren Verstößen
gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und zur Verhinderung der Ausfuhr von Gütern bzw. Anlagen, mit denen
Produkte zur massenhaften Vernichtung von Menschenleben hergestellt werden können. Das ist im Übrigen
auch oft ein außenpolitisch heikles Thema. Ich erinnere
nur an die Diskussion, die wir vor einigen Jahren auch in
diesem Hause über die Giftgasfabrik in Rabta geführt
haben.
In diesem höchst sicherheitsrelevanten Bereich ist es
- ich denke, auch darüber herrscht breite Übereinstimmung - äußerst wichtig, bereits im Vorbereitungsstadium derartiger Straftaten Erkenntnisse zu gewinnen, um
sie bereits im Vorfeld zu verhindern. Um hierüber Erkenntnisse gewinnen zu können, ist die Möglichkeit der
Anordnung von Telefonüberwachungsmaßnahmen unerlässlich; Kriminalisten wissen, dass dadurch wesentliche
Erkenntnisse gewonnen werden können. Ich bin sicher,
dass die Menschen im Lande zustimmen werden, dass
der Staat alle notwendigen Vorkehrungen treffen muss,
({0})
um derartige schwerste Straftaten bereits im Frühstadium zu erkennen und zu vereiteln, Herr Kollege
Ströbele.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. März 2004 die Regelungen, die zu
dem Zweck, den ich eben zu beschreiben versucht habe,
1992 - ein Seitenblick zur FDP: 1992, also nicht zur Zeit
der rot-grünen Regierung, sondern als Sie regierten und
das betreffende Ressort führten ({1})
im Außenwirtschaftsgesetz niedergelegt worden sind,
wegen erheblicher Verstöße gegen die Grundsätze der
Normenbestimmtheit und der Normenklarheit für verfassungswidrig erklärt.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gleichzeitig darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bei einer Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung auch die im Urteil
vom 3. März 2004 niedergelegten Grundsätze zur Wohnraumüberwachung zu berücksichtigen habe. Das war der
Grund, weshalb wir fast vor genau einem Jahr, am
21. Dezember 2004, hier in diesem Hohen Hause die
Neuregelung des Gesetzes zur präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung mit den Möglichkeiten
für das Zollkriminalamt eingeführt haben. Wir haben damit mit Blick auf den verfassungswidrigen Zustand, den
wir vorgefunden haben, eine Neuregelung vorgenommen. Wir haben klare Eingriffsvoraussetzungen geschaffen: Nur bei schwersten Straftaten soll vorgegangen werden. Wir haben die Vorbereitungshandlung gesetzlich
eindeutig definiert und wir haben auch für Überwachungs- und Aufzeichnungsmaßnahmen bei Berufsgeheimnisträgern neue Verhältnismäßigkeitsgrundsätze
eingeführt.
({3})
Ferner haben wir Regelungen getroffen, unter welchen
Kautelen Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung an
andere Stellen weitergegeben werden dürfen bzw. welche zu löschen sind. Damit haben wir alles das berücksichtigt, was das Bundesverfassungsgericht bei der 92erRegelung angemahnt hatte.
Das alles haben wir seinerzeit unter erheblichem Zeitdruck geleistet: Wir hatten nur knapp ein Dreivierteljahr
Zeit, um diese Neuregelung zu treffen. Offen geblieben
war, ob über die Konkretisierung, Klarstellung und Verschärfung, wann eingegriffen werden kann, hinaus auch
zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen
Lebensgestaltung des Einzelnen weiter gehende Regelungen getroffen werden müssen. Wir haben das damals
bewusst offen gelassen, weil das Ganze nur Sinn macht,
wenn für den Gesamtbereich der Telefonüberwachung
- nicht nur hinsichtlich präventiver Maßnahmen durch
das Zollkriminalamt, sondern insbesondere im Bereich
von § 100 a der Strafprozessordnung, beim G-10-Gesetz
usw. - eine Neuregelung auf den Weg gebracht wird.
Dies haben wir in diesem Jahr nicht geschafft.
({4})
Aus diesem Grund schlagen wir Ihnen heute vor, das Gesetz, das wir damals bis zum 31. Dezember dieses Jahres
befristet haben, für einen Zeitraum von 18 Monaten zu
verlängern. Vielleicht sind wir auch schneller. Die Diskussion, die sicherlich gleich beginnen wird, wird sich
darum drehen, ob das vertretbar ist. Denn in der Sache
selber - davon gehe ich jetzt einmal aus - sind wir uns
alle einig, dass der Staat derartige Regelungen braucht,
um solche Taten verhindern zu können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass niemand von
uns das Entstehen einer Sicherheitslücke - diese würde
entstehen, wenn wir die neue Befristung heute nicht beschließen würden - verantworten kann.
({5})
Zumindest diejenigen können das nicht verantworten,
die in diesem Land politisch Verantwortung tragen.
Denn das würde ein großes sicherheitspolitisches Risiko
im Inland bedeuten und könnte auch außenpolitisch
- darauf habe ich bereits hingewiesen - zu erheblichen
Konflikten führen. Ich will auch angesichts der Debatte,
die wir gestern geführt haben, hierzu nicht meiner Fantasie freien Lauf lassen. Eine Regelungslücke kann niemand verantworten.
({6})
Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Begründung.
Ich bin aber überzeugt, dass die Fristverlängerung,
die wir hier vornehmen wollen, auch verfassungsrechtlich vertretbar ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu
diesem Thema vom 27. Juli dieses Jahres - es gab in der
Zwischenzeit eine weitere Entscheidung -, mit der wesentliche Bestimmungen zu präventiven Abhörmöglichkeiten des niedersächsischen Polizeigesetzes für verfassungswidrig erklärt worden sind, und zwar wiederum im
Wesentlichen wegen Verstößen gegen das Bestimmtheitsgebot und Ähnliches.
({7})
Das Gericht hat in seiner Entscheidung vom Juli 2005
ausdrücklich darauf hingewiesen - das ist zwischen den
Kollegen der Grünen und uns in der alten Koalition immer Streitpunkt gewesen; deswegen sind wir bei
§ 100 a StPO auch nicht zum Ende gekommen -, dass
die aufgestellten Grundsätze zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung im Bereich der
Wohnraumüberwachung - Art. 13 Grundgesetz - nicht
eins zu eins auf den Bereich der Telefonüberwachung
- Art. 10 Grundgesetz - übertragen werden können. Die
Eingriffstiefe ist eine andere. Das ist nicht zu vergleichen. So ist es zu lesen.
Andererseits weist das Gericht darauf hin - das will
ich nicht verkennen -, dass auch über Art. 10 Grundgesetz der Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich
privater Lebensgestaltung aus dem Kernbereich von
Art. 1 Grundgesetz sicherzustellen ist.
({8})
Das Gericht sagt hierzu wörtlich:
Bestehen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommunikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem
Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen
und muss unterbleiben.
({9})
- Sie müssen weiterlesen, wie Sie das im Studium gelernt haben, Herr Kollege Ströbele. Im nächsten Absatz
der Entscheidung führt das Gericht ausdrücklich aus:
Verfassungsrechtlich hinzunehmen ist dieses Risiko
allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsguts und einer durch konkrete Anhaltspunkte gekennzeichneten Lage, die auf einen
unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der
Straftat schließen lässt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe versucht,
die Änderungen, die wir vor einem Jahr ins Gesetz aufgenommen haben, zu skizzieren. Ich bin der Meinung,
dass wir damit diese Voraussetzungen erfüllt haben. Von
daher bin ich überzeugt, dass wir mit der Verlängerung
der Befristung verfassungsrechtlich keine Probleme bekommen werden. Deshalb werden wir das heute auch so
beschließen.
Ich weiß aber auch, dass wir den Bereich insgesamt
neu überarbeiten müssen; auf § 100 a StPO und andere
Regelungen hatte ich hingewiesen. Mit der gesamten
Überarbeitung werden wir Anfang nächsten Jahres in
diesem Hohen Hause beginnen. Dazu haben wir, wie Sie
wissen, Herr Ströbele, in der letzten Legislaturperiode
umfangreiche Vorarbeiten gemacht.
({10})
Wir fangen also nicht bei null an. Der Gesetzgeber ist
bereits tätig geworden. Wir sind damit nur nicht zum
Ende gekommen.
({11})
Von daher bin ich guten Mutes, dass wir nicht 18 Monate
brauchen werden, sondern dass wir, wenn wir alle gemeinsam zügig an die Arbeit gehen, die Arbeiten schneller leisten werden. Da wir trotzdem eine Befristung von
18 Monaten vorsehen, sind wir auf der sicheren Seite.
({12})
- Herr Ströbele, wenn Sie gute Vorschläge machen, dann
sind wir, wie Sie wissen, bereit, diese Vorschläge aufzunehmen.
({13})
Gehen wir also gemeinsam ab Mitte Januar an die Arbeit.
Schönen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild
Dyckmans, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute erstmals in der 16. Wahlperiode eine rechtspolitische Initiative der Bundesregierung. Ich hätte mir
sehr gewünscht, dass es sich dabei um eine Initiative
handelt, die geeignet ist, eine Neuausrichtung der neuen
Bundesregierung in der Innen- und Rechtspolitik erkennen zu lassen.
({0})
Leider ist aber das Gegenteil der Fall.
({1})
Mit dem Gesetzentwurf will die Bundesregierung die
Geltungsdauer eines verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetzes um weitere zwei Jahre verlängern; Herr
Stünker, Sie haben eigentlich sehr gut ausgeführt, dass
das verfassungsrechtlich bedenklich ist.
({2})
Das ist mit der FDP nicht zu machen.
({3})
Sie haben es ja schon dargelegt: Ende 2004 hat der
Deutsche Bundestag das Gesetz zur Neuregelung der
präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt verabschiedet. Das
Gesetz war notwendig geworden, weil das Bundesverfassungsgericht zuvor die Regelungen für die präventive
Telekommunikations- und Postüberwachung für den Außenwirtschaftsbereich durch das Zollkriminalamt für
verfassungswidrig erklärt hat. Der sodann von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf wurde den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes gerade
nicht gerecht. Deshalb hat die FDP-Fraktion dem Gesetzentwurf damals auch nicht zugestimmt.
({4})
Wir sind nämlich durchaus in der Lage, aus Fehlern, die
vielleicht einmal begangen wurden, zu lernen.
({5})
Die Bundesregierung hatte sich verpflichtet, innerhalb eines Jahres eine gesetzliche Neuregelung vorzulegen, in der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt werden sollten. Nun geht das Jahr
2005 zu Ende, ohne dass die Regierung ihre Hausaufgaben gemacht hat. Vielmehr soll die Geltungsdauer der
verfassungsrechtlich bedenklichen Regelung um weitere
zwei Jahre verlängert werden, wie es von der Regierung
hieß. Die Koalitionsfraktionen haben dazu zwei Änderungsanträge vorgelegt, in denen sie zuerst eine Befristung von einem Jahr und später eine Befristung von
18 Monaten vorschlagen.
({6})
Dieser Umstand zeigt doch schon, dass auch innerhalb
der Koalition Bedenken gegen den Entwurf der eigenen
Regierung bestehen. Dies ist ja auch verständlich; denn
in diesem Entwurf werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung erneut außer Acht gelassen.
({7})
Darüber hinaus werden in ihm auch die Grundsätze
missachtet, die das Gericht im Juli 2005 zur präventiven
Telefonüberwachung aufgestellt hat: Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung haben zu unterbleiben.
({8})
Meine Damen und Herren, Ende 2004 meinte die vorherige Bundesregierung noch, innerhalb eines Jahres einen entsprechenden Entwurf vorlegen zu können. Es ist
für mich in keiner Weise einzusehen, wieso es bei der
neuen Regierung nun nochmals anderthalb Jahre dauern
soll, einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vorzulegen.
({9})
Die Begründung der Koalition für eine Verlängerung um
anderthalb Jahre, man wolle die Erarbeitung eines umfangreichen Gesamtkonzeptes in der Telekommunikationsüberwachung abwarten, verheißt nichts Gutes.
({10})
Wir warten schon viel zu lange auf die Umsetzung der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema. Ich habe nicht die Hoffnung, dass die große
Koalition die Kraft aufbringen wird, die angekündigten
Reformen tatsächlich anzugehen.
({11})
Aus Sicht der FDP ist eine Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes um weitere anderthalb Jahre
unvertretbar und deshalb nicht zustimmungsfähig. Die
FDP-Fraktion hat daher einen Änderungsantrag eingebracht, wonach die Geltungsdauer des Gesetzes lediglich
bis zum 30. Juni 2006 befristet werden soll. Vor dem
Hintergrund der nun schon lange währenden Diskussion
muss diese Zeit ausreichen, um das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. Der Tatsache, dass wir überhaupt
eine Verlängerung in Erwägung ziehen, liegt die Einsicht
zugrunde, dass das Zollkriminalamt Eingriffsbefugnisse
für die Übergangszeit haben muss. Meine Damen und
Herren von der Linken, deswegen ist Ihr Entschließungsantrag, der eine Regelungslücke zur Folge hätte,
insbesondere mit Blick auf die internationale Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, auch abzulehnen.
({12})
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, Sie haben zwar versucht, die Vorgaben aus Karlsruhe in Ihren Änderungsantrag einfließen zu lassen,
({13})
dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die unterschiedlichen Eingriffsbefugnisse nicht ohne eine ausführliche Sachverständigenanhörung geregelt werden
können,
({14})
die unseres Erachtens im ersten Quartal 2006 stattfinden
muss
({15})
und die im Übrigen 2004 von allen gefordert wurde.
Die Bundesregierung zeigt mit dem Gesetzentwurf,
dass sie in der Rechtspolitik auf Kontinuität setzt. Kontinuität bedeutet hier leider Kontinuität bei dem weiteren
Abbau von Bürgerrechten.
({16})
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind so viele und so tiefe Eingriffe in so kurzer Zeit
in die Freiheit der Bürger wie unter der letzten Bundesregierung vorgenommen worden.
({17})
Das Bundesverfassungsgericht hat in letzter Zeit den Gesetzgeber oft daran erinnert, dass bei der Ausgestaltung
von Gesetzen das Grundgesetz wieder zum Maßstab des
Handelns werden muss.
({18})
Der Gesetzgeber sollte diese Mahnung ernst nehmen.
Einen parteiübergreifenden Konsens kann es erst dann
wieder geben, wenn die Bundesregierung zu einer
grundrechtsorientierten Rechtspolitik zurückfindet und
bereit ist, bei ihren Initiativen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit unter Berücksichtigung anerkannter Verfassungsgrundsätze herzustellen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zollfahndungsdienstgesetzes ist dafür ein misslungener
Anfang.
({19})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und
wünsche Ihnen weiterhin alles Gute.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Siegfried Kauder von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wird dem Gesetz zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes zustimmen.
({0})
Es wird eine Verlängerung der Gültigkeit des Gesetzes
um 18 Monate sein. Diese Zeit muss das Parlament nutzen, um Unebenheiten und verfassungsrechtliche Bedenken auszugleichen.
Nun werden in wenigen Minuten der Kollege
Neskovic und der Kollege Ströbele ans Rednerpult treten
und möglicherweise erklären, dass dieser Gesetzentwurf
zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes verfassungswidrig sei, dass auch ein temporärer Verfassungsbruch ein Verfassungsbruch sei und dass man deshalb
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen könne. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das ist juristisch nicht zu
Ende gedacht und politisch nicht vernünftig.
({1})
Was ist der Sinn dieser zugelassenen Post- und Telekommunikationsüberwachung? Das Gesetz soll schon
im Ansatz verhindern, dass mit Massenvernichtungswaffen aus Deutschland illegal Handel getrieben wird und
dass ganze Giftgasanlagen in Krisengebiete geliefert
werden. Das heißt, wir haben es mit einem hohen und
insbesondere hohen außenpolitischen Gut zu tun. Würde
in diesem Bereich ein Vakuum eintreten, hätten wir eiSiegfried Kauder ({2})
nen außenpolitischen Flurschaden, der nicht zu beheben
wäre.
({3})
Nun ist nicht zu verkennen, dass uns dazu zwei
Urteile des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. März
2004 vorliegen. Das eine befasste sich mit dem Thema
des Kernbereiches der persönlichen Lebensgestaltung,
den auch der Gesetzgeber nicht antasten darf. Das Urteil
bezog sich auf den großen Lauschangriff, besser gesagt:
die akustische Wohnraumüberwachung. Das andere Urteil vom gleichen Tag befasste sich mit dem Außenwirtschaftsgesetz. Darin stand zu dem Problem des Kernbereichs höchstpersönlicher Lebensgestaltung nichts.
Diese beiden Urteile waren für die Rechtswissenschaft Anlass, heftig darüber zu debattieren, ob das Urteil zum großen Lauschangriff auf das Außenwirtschaftsgesetz eins zu eins oder überhaupt anwendbar ist.
Diese Frage wurde noch bis in den November 2005
hinein kontrovers und ergebnisoffen von den Rechtswissenschaftlern diskutiert. Aber wir können auch nicht verkennen, dass es eine weitere Entscheidung vom 27. Juli
2005 gibt, in dem das Verfassungsgericht das niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und
Ordnung - also ein Polizeigesetz - als verfassungswidrig
aufgehoben hat,
({4})
weil mehrere Vorgaben, die die Verfassung vorsieht,
nicht erfüllt waren. In diesem Urteil ist zum ersten Mal
expressis verbis formuliert, dass der Kernbereich der
persönlichen Lebensgestaltung auch bei der Post- und
Telekommunikationsüberwachung zu beachten ist.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung muss der
Gesetzgeber reagieren. Bedeutet dies nun - wie es Kollege Neskovic ausführen wird -, dass eine Verlängerung
der Gültigkeitsdauer des Gesetzes zur Neuregelung der
präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung verfassungswidrig wäre? Man kann sich schlicht
und ergreifend an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientieren, um zu erkennen, dass dies
nicht stimmt. Denn auch das Bundesverfassungsgericht
muss ein Gesetz, das nicht verfassungskonform ist, nicht
sofort für nichtig erklären. Es nimmt nämlich eine Vorprüfung vor, ob bei Nichtvorhandensein des als verfassungswidrig angesehenen Gesetzes die Verfassungslage
schlechter wäre als bei der Fortdauer des Gesetzes.
({5})
Es werden also verschiedene Rechtsgüter gegeneinander abgewogen. Ich kann nur wiederholen, dass es
hierbei um einen schweren außenpolitischen Schaden
geht. Deswegen kann man davon ausgehen, dass das
Bundesverfassungsgericht von der zweiten Lösung Gebrauch machen würde, nämlich statt das Gesetz für nichtig zu erklären allenfalls feststellen würde, dass es mit
der Verfassung nicht vereinbar wäre. In diesem Fall
muss man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 61. Band, Seite 319 f. kennen. Ich erlaube mir,
zu zitieren:
Im vorliegenden Fall ist es geboten, ausnahmsweise
im Interesse der Rechtssicherheit die weitere Anwendung der angegriffenen Norm bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum ... zuzulassen. Für die Neuregelung, die umfangreiche und
zeitraubende Vorarbeiten erfordert, muss dem Gesetzgeber ausreichend Zeit zur Verfügung stehen.
Das ist vom Bundesverfassungsgericht gut geregelt worden; denn die Richter wissen, dass wir eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht eins zu eins
umzusetzen haben, sondern einen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum brauchen.
({6})
Aber das ist unser Problem: Zu dem Zollfahndungsdienstgesetz liegt keine verfassungsgerichtliche Entscheidung vor.
({7})
Deswegen müssen wir den zeitlichen Rahmen festlegen, in dem wir die verlängerte Gültigkeitsdauer des Gesetzes ohne Korrekturen verfassungsrechtlich für vertretbar halten.
({8})
Man kann - wie die FDP - ein halbes Jahr durchaus
für ausreichend halten. Ich war der Meinung, ein Jahr sei
vertretbar. Jetzt diskutieren wir über ein Jahr und sechs
Monate. Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich in
solchen Fällen daran, was im parlamentarischen Tagesbetrieb umzusetzen ist. Die FDP weiß, dass ein halbes
Jahr deutlich zu kurz ist. Sie will lediglich Druck machen; das ist legitim.
Es nützt auch nichts, wenn uns die Grünen einen Änderungsantrag vorlegen, der etwas konfus zwischen der
Post- und Telekommunikationsüberwachung hin- und
herschleudert und nicht durchdacht, sondern mit heißer
Nadel gestrickt ist.
({9})
Wir müssen in Ruhe in den zuständigen Gremien darüber diskutieren. Dazu ist eine fundierte parlamentarische Beratung notwendig. Deswegen glaube ich, dass
18 Monate durchaus vertretbar sind.
({10})
Aber wir sollten uns auch an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, die uns im Fall einer Entscheidung gemacht würden, orientieren. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu stellen sein, ob in der
Übergangsfrist von 18 Monaten nicht begleitend Korrekturen vorgenommen werden sollten. Deswegen bitte
Siegfried Kauder ({11})
ich an die Herren Staatssekretäre gerichtet, bei den zuständigen Ministerien - dem Bundesjustiz- und Bundesfinanzministerium - kurzfristig die beiden folgenden
Fragen zu klären:
({12})
Erstens. Welche Bemühungen sind in den beiden Ministerien seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 2005 unternommen worden, um die
verfassungsgerichtlichen Vorgaben zum Schutz des unantastbaren Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung gesetzgeberisch umzusetzen?
Zweitens. Lässt sich für die nächsten 18 Monate vorübergehend durch Verwaltungsvorschriften ein Schutz
des unantastbaren Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung bei Vorschriften zur Post- und Telekommunikationsüberwachung des Zollfahndungsdienstgesetzes gewährleisten? Wir werden nämlich der Öffentlichkeit und
gegebenenfalls dem Bundesverfassungsgericht erklären
müssen, was wir getan haben, um dieses Gesetz möglichst schnell mit dem Grundgesetz kompatibel zu machen, so Bedenken bestehen.
({13})
Zum Schluss bitte ich die Bundesjustizministerin und
den Bundesfinanzminister, innerhalb von sechs Monaten
einen Zwischenbericht über den Stand des gesetzgeberischen Verfahrens zu geben, damit wir wissen, wie weit
die Bemühungen vorangeschritten sind.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Neskovic
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf ist - Herr
Kauder hat es vorweg genommen - abzulehnen. Hier
teile ich die Auffassung der FDP.
({0})
In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es wie üblich: Alternativen - keine. Richtigerweise hätte es heißen müssen: Alternativen - ein verfassungsgemäßes Gesetz.
({1})
Statt einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den bereits zitierten Entscheidungen vom 3. März 2004 und der Entscheidung vom 27. Juli 2005 gerecht wird, ignoriert die
Regierungskoalition das Bundesverfassungsgericht und
legt einen Gesetzentwurf vor, der darauf abzielt, die Geltungsdauer eines bereits bestehenden, verfassungswidrigen Gesetzes zu verlängern. Ich bringe in Erinnerung: In
der Tat hat das Bundesverfassungsgericht am 3. März
2004 zwei Entscheidungen getroffen, nämlich eine zum
großen Lauschangriff und zur akustischen Wohnraumüberwachung und eine andere, in der sich das Gericht
mit dem Außenwirtschaftsgesetz und den Befugnissen
des Zollkriminalamtes präventiver Art im Bereich der
Post- und Telekommunikationsüberwachung beschäftigte. In der letzten Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit
das Gesetz für verfassungswidrig erklärt.
Nun geht es genau um dieses Gesetz, und zwar um die
Verlängerung seiner Geltungsdauer. Bei der Neufassung
war es zwischen den Fraktionen streitig - das ist hier zutreffend wiedergegeben worden -, ob die Grundsätze,
die das Bundesverfassungsgericht zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung
entwickelt hat, auch in diesem Regelungszusammenhang zur Anwendung kommen mussten. Dieser Streit
musste nicht nur den halbwegs gebildeten Juristen, sondern auch den juristischen Laien überraschen.
({2})
- Es müsste genauso den juristischen Laien überraschen.
Ich versuche, das auch aus der Laienperspektive zu sehen.
({3})
Wenn es einen absolut geschützten Kernbereich privater
Lebensgestaltung gibt, warum sollte er nur den Bereich
der akustischen Wohnraumüberwachung und nicht auch
den Bereich der Post- und Telekommunikationsüberwachung umfassen? Anders ausgedrückt, für diejenigen,
die es nicht verstehen wollen: Für den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist es völlig unerheblich, in welcher Art und Weise der Eingriff erfolgt. Der
Kernbereich privater Lebensgestaltung ist umfassend
und nur dann absolut geschützt, wenn er seine Schutzfunktion gegen jede Form des Eingriffes entfaltet.
({4})
Selbst diejenigen, die sich, wie ich finde, solcher einfacher und nahe liegender Überlegungen durch Ignoranz
entziehen wollen, müssen sich dem Vorwurf aussetzen,
dann zumindest die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Außenwirtschaftsgesetz nicht richtig
gelesen zu haben. Am Ende der Entscheidung befinden
sich nämlich so genannte Segelanweisungen. Solche
Anweisungen sollen dem Adressaten - hier dem Gesetzgeber - helfen, mögliche Fehler, die bei erneuter Befassung mit der Materie entstehen, zu unterlassen. Sie sollen also schlicht verhindern, dass der Gesetzgeber in die
falsche Richtung segelt. „Der Gesetzgeber“, so heißt es
dort, wird bei der Neuregelung - nun kommt die entscheidende Passage - „auch die Grundsätze zu beachten
haben, die der Senat in seinem Urteil zum großen
Lauschangriff für die akustische Wohnraumüberwachung niedergelegt hat“. Herr Kauder, das ist der von Ihnen vermisste Bezug.
({5})
- Darüber haben wir schon im Ausschuss diskutiert. Ich
hatte gehofft, dass Sie es verstanden haben.
Im Klartext heißt dieser Hinweis: Was für Art. 13 GG
gilt, gilt auch für Art. 10 GG. So einfach ist das.
({6})
Wenn man sich nun aber nicht der Mühe unterziehen
will, die Entscheidung bis zu Ende zu lesen, dann hätte
man wenigstens die Presseerklärung lesen können. Dort
hätte man das schon im fünften Satz nachlesen können.
Nie war Segeln so leicht. Das sage ich als jemand, der
von der Küste kommt.
({7})
Damit aber nicht genug. Am 27. Juli dieses Jahres
- darauf ist auch hingewiesen worden - hat das Bundesverfassungsgericht klipp und klar gesagt, dass auch im
Gewährleistungsbereich des Art. 10 des Grundgesetzes
der Kernbereich privater Lebensgestaltung zu regeln ist.
Damit war alles klar, möchte man meinen. Aber dieses
Gesetzgebungsverfahren belehrt uns eines Besseren.
Trotz dieser eindeutigen Verfassungslage wollen Sie
heute mehrheitlich die Geltung eines Gesetzes verlängern, von dem Sie nach dem vorher Gesagten eigentlich
wissen müssten, dass es verfassungswidrig ist, und zwar
weil es die geforderten Schutzvorschriften zum Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht enthält.
({8})
Das ist unstreitig.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja, ich bin gleich zu Ende. ({0})
Eine Befristung der Geltungsdauer des Gesetzes auf anderthalb Jahre ändert daran nichts; denn befristeter Verfassungsbruch bleibt Verfassungsbruch.
({1})
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. Ich darf noch einmal darauf hinweisen: Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich bin auch am Schluss. - Deswegen wird die Linksfraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und Sie
sollten sich uns anschließen. Auf Gutgläubigkeit können
Sie sich spätestens nach diesem Redebeitrag nicht berufen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Christian
Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie haben hier die Gelegenheit, sich für eine Fristverlängerung um null Monate, für eine Fristverlängerung um sechs Monate, für eine Fristverlängerung um
ein Jahr oder für eine Fristverlängerung um anderthalb
Jahre zu entscheiden. Das sind viele Variationsmöglichkeiten.
({0})
Nun kann man denken: Das scheint relativ willkürlich zu
sein. Da nehmen wir doch ein Jahr und einigen uns in
der Mitte. - Es geht aber in der Tat um die Frage, ob wir
eine gesetzliche Regelung verlängern, die möglicherweise verfassungswidrig ist. Da wäre jeder Tag, den
dieses Gesetz, so wie es heute ausgestaltet ist, verfassungswidrig fortbesteht, ein Tag zu viel; denn wir Abgeordnete des Deutschen Bundestags dürfen kein Gesetz
verabschieden, bei dem wir billigend in Kauf nehmen,
dass es verfassungswidrig ist und dann weiter gilt.
({1})
Das Bündnis 90/Die Grünen hat einen Änderungsantrag vorgelegt, um zu zeigen, was wirklich konstruktive
Opposition ist. Wir wenden uns nicht einfach an die Regierung und fordern ein besseres Gesetz, sondern wir
machen uns die Mühe, selber einen Gesetzentwurf zu
formulieren.
({2})
Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt, der eindeutig akzeptiert - das ist hier mehrfach gesagt worden -,
dass wir nicht ohne gesetzliche Regelung weiterleben
wollen; denn auch wir wollen nicht, dass eine Giftgasfabrik irgendwohin in die Welt geliefert wird. Wir wollen
auch nicht, dass schwere Kriegswaffen irgendwohin geliefert werden.
({3})
Wir wollen auch nicht, dass etwa Teile in Staaten, die
diese möglicherweise zur Kriegswaffenproduktion missbrauchen, geliefert werden. Weil dieses Gesetz also erforderlich ist, um so etwas zu verhindern, sind wir dafür,
die Geltung dieses Gesetzes zu verlängern.
Wir wollen aber aus dieser Zwickmühle heraus. Wir
wollen nicht die Geltung eines möglicherweise verfassungswidrigen Gesetzes um ein Jahr verlängern, um
dann zu prüfen, ob sich die eine oder andere Regelung in
der Zwischenzeit als veränderungs- oder verbesserungsbedürftig erwiesen hat. Wir wollen vielmehr Regelungen
einbauen, die den verfassungsrechtlichen Bedenken
Rechnung tragen.
({4})
Herr Kollege Stünker, wir haben in der Tat lange darüber diskutiert, ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auf die Telefonüberwachung, auch auf die durch den Zoll, anwendbar
ist. Wir haben unterschiedliche Auffassungen vertreten.
Wir waren von Anfang an dafür, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auf die
Telefonüberwachung auszudehnen. Darüber konnten wir
uns nicht einigen und deshalb enthält das bisher geltende
Gesetz dazu keine Regelung.
Wir hatten uns aber vorgenommen, in diesem Jahr für
eine Klärung zu sorgen. Das ist aus Gründen, die weder
Sie noch wir zu vertreten haben, nicht geschafft worden.
Aber die Folgerung daraus kann nicht sein, dass man die
Geltungsdauer des bisher geltenden Gesetzes einfach
verlängert. Stimmen Sie vielmehr unserem Änderungsantrag zu! Wir kommen den Petita, die die FDP immer
wieder formuliert hat, voll entgegen, indem wir durch
eine eindeutige Formulierung den Kernbereich der privaten Lebensführung schützen. Danach dürfen zum
Beispiel keine Briefe durchgelesen werden, die diesen
Kernbereich betreffen. Wenn ein Brief den Kernbereich
der privaten Lebensführung betrifft, dann muss die Lektüre abgebrochen werden.
({5})
Wir schützen den Kernbereich privater Lebensführung auch beim Telefonieren. Wenn ein Richter feststellt, dass der Kernbereich der privaten Lebensführung
Gegenstand eines abgehörten Telefonats war, dann darf
der Inhalt nicht verwendet werden und die Aufnahme
muss sofort gelöscht werden. Die Erkenntnisse, die aus
dem Abhören dieses Telefonats gewonnen worden sind,
dürfen im Verfahren nicht eingesetzt werden; vielmehr
muss ein Verwertungsverbot greifen.
({6})
Wir haben eine weitere Regelung in unseren Änderungsantrag aufgenommen - auch da könnte man unterschiedlicher Meinung sein -, die darauf abzielt, dass damit
Schluss gemacht wird, dass die Berufsgeheimnisträger
in Deutschland nur mangelhaft geschützt sind. Wir wollen, dass Geistliche, Ärzte, Rechtsanwälte, Strafverteidiger, aber auch Journalisten in vollem Umfang geschützt
sind, wenn sie telefonieren und wenn sie Briefe schreiben. Deshalb sollen sie von jeglicher Überwachung ausgenommen werden.
Wir haben das in unserem Änderungsantrag wunderbar formuliert. Ich fordere alle Seiten daher auf: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Dann hätten wir
in Zukunft ein verfassungskonformes Gesetz und es
gäbe keine Regelungslücke. Niemand könnte Waffenfabriken oder Ähnliches ins Ausland transportieren, ohne
zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er nach einer Telefon- oder Briefüberwachung erwischt wird. So
ist unser Petitum. Geben Sie sich einen Ruck! Wir zeigen, wie konstruktive Oppositionsarbeit möglich ist.
Zeigen Sie, wie konstruktive Koalitionsarbeit und konstruktive Oppositionsarbeit zusammenfinden können!
({7})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes auf Drucksache 16/88. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/252, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir
zuerst abstimmen.
Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/271 zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/272? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit bei Enthaltung der FDP und einer
Enthaltung bei der Linken gegen die Stimmen der Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
meisten Abgeordneten der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in
der zweiten Lesung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/277. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Was ist
mit der Fraktion der Grünen?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({0})
Gilt bei der Fraktion der Grünen Enthaltung, so wie das
bei einigen Mitgliedern der Fall war, oder beteiligt sie
sich nicht an der Abstimmung?
({1})
- Wenn ich das Signal richtig deute, ist es „Enthaltung“.
({2})
- Dagegen? - Ich wiederhole die Abstimmung, damit es
sauber ist.
Es geht um den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist
der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der FDP und der Grünen mit Ausnahme
der Enthaltung einer Abgeordneten gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Verbraucherinformationsgesetzes
({3})
- Drucksache 16/199 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Bleser, Ursula Heinen, Gitta Connemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Waltraud Wolff ({5}), Ulrich Kelber, Volker Blumentritt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Lebensmittelskandalen effektiv entgegenwirken - Verbraucher umfassend informieren
- Drucksache 16/195 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Reinhard Loske von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
({7})
- Herr Kollege, einen Moment! Vielleicht könnten die
Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht
teilnehmen wollen, den Saal verlassen oder zumindest
die Gespräche so führen, dass man dem Redner zuhören
kann. - Ich bedanke mich.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir bringen heute unseren Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes ein. Uns geht es darum,
den Verbraucherinnen und Verbrauchern umfassende
Informationsrechte gegenüber der öffentlichen Hand
und gegenüber Unternehmen einzuräumen. Bei der
Regierungserklärung ist von der Bundeskanzlerin ein
hoher Ton angeschlagen worden. Es ging um „Mehr
Freiheit wagen“. Was wir mit diesem Gesetzentwurf
wollen, ist „Mehr Informationsfreiheit wagen“. Darum
geht es uns.
({0})
Hintergrund der Debatte, die wir heute führen, ist natürlich der Ekelfleisch- und Gammelfleischskandal. Es
muss klar sein, dass solche kriminellen Machenschaften
rücksichtslos aufgedeckt und streng geahndet werden.
Wer so etwas tut, kann definitiv nicht mit der Rücksicht
des Staates rechnen. Wer betrügt, umdeklariert, panscht
oder abzockt, muss mit harten Sanktionen rechnen. Vor
allem - das ist zentral - müssen in Zukunft Ross und
Reiter genannt werden.
({1})
Für uns ist die Schaffung von Informationsrechten
aber nicht erst seit der aktuellen Ekelfleischdebatte zentral. Heute unternehmen wir den dritten Versuch, den
Verbraucherinnen und Verbrauchern zu ihrem Recht zu
verhelfen. Wir haben 2002 das Verbraucherinformationsgesetz eingebracht. Es ist damals an unionsgeführten Ländern im Bundesrat gescheitert. 2004 haben wir
umfassende Verbraucherinformationsrechte im Rahmen
des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs eingebracht. Auch das ist im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss an Union und FDP gescheitert.
Gegen beide Gesetze hat übrigens auch der CSU-Abgeordnete Seehofer gestimmt. Ich hätte gar nicht darüber
geredet, ehrlich gesagt,
({2})
weil das Schnee von gestern ist, aber wenn jetzt Geschichtsklitterung betrieben wird, wenn so getan wird,
als beginne man erst jetzt mit dem Verbraucherschutz,
dann muss ich ganz klar sagen: Die Ursache dafür, dass
schwarze Schafe bis heute nicht beim Namen genannt
werden, hat ganz eindeutig einen Namen, und zwar
Union.
({3})
Zu unserem Gesetzentwurf. Wir wollen, dass öffentliche Stellen und Unternehmen gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern auskunftspflichtig sind. Es
kann nicht sein, dass öffentliche Stellen nach Lust und
Laune Auskunft erteilen oder verweigern können. Aber
falsch ist auch, was die große Koalition offenbar vorhat,
nämlich die Auskunftspflicht auf die öffentlichen Stellen zu beschränken. Es ist mindestens genauso wichtig,
den Unternehmen eine Informationspflicht aufzuerlegen.
Die Klügeren unter den Unternehmen erteilen bereits
Auskunft. Sie haben längst erkannt, dass eine moderne
Kommunikationskultur und Information der Verbraucher
die Chance bieten, die Kundenbindung zu erhöhen. Es
geht hier also nicht um eine Last, sondern um eine reale
wirtschaftliche Chance. Ich wünsche mir, dass auch die
große Koalition das endlich versteht.
Es gibt - das ist dem Antrag von der CDU/CSU und
der SPD zu entnehmen - einen Bürokratievorwurf gegenüber unserem Gesetzentwurf, der ungefähr so lautet:
Wenn man den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu
viel Informationsrechte einräumt, dann bombardieren sie
möglicherweise die Unternehmen mit Anfragen und legen sie lahm. Das ist natürlich völliger Humbug. Ich lese
Ihnen einmal § 10 unseres Gesetzentwurfes vor. Dort
heißt es:
Jeder hat Anspruch, dass Unternehmen die bei ihnen vorliegenden Verbraucherinformationen in einer der Größe des Unternehmens angemessenen Art
und Weise zugänglich machen …
Ihr Reden von Bürokratie oder überbordenden Anforderungen ist also nichts anderes als Ablenkung von der eigenen Tatenlosigkeit. Das muss man ganz klar sagen.
({4})
Es geht uns nicht nur um Verbraucherinformationsrechte bei Lebensmitteln, sondern auch um umfassende
Verbraucherinformationsrechte bei allen Produkten
und Dienstleistungen. Wir finden, dass die Verbraucher
auch ein Recht darauf haben, zu erfahren, ob in Kinderspielzeugen Weichmacher sind, ob Kosmetika mithilfe
von Tierversuchen oder Teppiche in Kinderarbeit hergestellt worden sind oder ob Pensionsfonds bei der Geldanlage auch ethische Kriterien berücksichtigen. Das sind
keine unmäßigen Forderungen; in anderen Ländern, beispielsweise im angelsächsischen Raum, wird das längst
praktiziert. Ich fordere Sie auf, diesem Beispiel zu folgen.
({5})
Ich habe schon meine Zweifel, dass die große Koalition dieses Thema ernst genug nimmt. Die Entscheidungen in der letzten Zeit sind sehr problematisch.
({6})
- Herr Goldmann, Sie sind nicht an der Regierung, kapieren Sie das endlich! Sie müssen nicht mehr die CDU/
CSU verteidigen, sondern Opposition machen. Lernen
Sie das endlich einmal!
({7})
Ich habe meine Zweifel, wenn ich sehe, dass Herr
Gabriel nach Brüssel fährt und dort aus der Chemikalienrichtlinie Verbraucherrechte herausstreicht. Das ist
schon sehr problematisch. Die Verbraucherverbände haben dazu das Notwendige gesagt. Zweifel habe ich auch,
wenn ich sehe, dass Herr Minister Seehofer gestern
neue, gentechnisch veränderte Organismen genehmigt
hat, bei denen ausgesprochen fragwürdig ist, welche Gesundheitsfolgen und Folgen bezüglich der genetischen
Vielfalt sie haben. Jetzt soll es ein Verbraucherinformationsgesetz geben, das die Unternehmen aus der Informationspflicht ausnimmt. Da kann ich nur sagen: Das
hat so viel mit Verbraucherschutz zu tun wie die Kuh mit
dem Sonntag, nämlich gar nichts. Das ist kein Verbraucherschutz.
({8})
Wir brauchen mehr Verbraucherschutz, mehr Informationsfreiheit, denn der mündige Verbraucher benötigt
Informationen, um gut entscheiden zu können; deshalb
dieses Gesetz. Lieber Kollege Goldmann, werfen Sie Ihr
Herz über die Hürde und stimmen Sie dem Gesetz zu;
denn es ist ein sehr gutes Gesetz!
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Loske, Sie sind in der Realität nicht angekommen. Ihre
Realität heißt: Zurück zur Illusion. Das zeigt sich auch
an dem von Ihnen eingebrachten Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes.
Der Bürger hat einen Anspruch auf Informationen.
Verbraucherinformation ist ein Bürgerrecht. Wir werden
ihm nachkommen. Der Verbraucherschutz ist eine wichtige Querschnittsaufgabe in der Politik geworden. Der
Ekelfleischskandal hat uns ganz aktuell die Notwendigkeit neuer Instrumente vor Augen geführt, die über den
bisherigen Katalog hinausgehen.
Minister Seehofer hat kurz und prägnant, aber auch
entschlossen mit einem Zehnpunktekatalog reagiert.
Ich möchte einige Punkte stichwortartig nennen.
Wir werden erstens das komplette Melde- und Kontrollsystem zwischen den Ländern und dem Bund, aber
auch auf europäischer Ebene auf den Prüfstand stellen
und mit neuen Ansätzen zu wesentlichen Verbesserungen beitragen.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: In einer globalisierten Welt, in der wir offene Märkte auch für Lebensmittel
propagieren - Stichwort WTO -, wird die Frage, wie wir
diese offenen Märkte für den Verbraucher nachvollziehbar kontrollieren und ihm Sicherheit geben, eine immer
höhere Bedeutung bekommen.
({0})
Wir werden zweitens als Reaktion auf diesen aktuellen Skandal den Gewerbezugang zukünftig verschärfen.
Das zielt auf diejenigen, die beispielsweise am Fleischmarkt, mit dem Laptop in Appartements zurückgezogen,
auf kriminelle Weise agieren und damit eine gesamte
Branche in Verruf bringen. Es geht darum, diese kriminellen Subjekte aus dem Markt zu drängen. Deshalb
werden wir die Regelungen hinsichtlich des Gewerbezugangs für Personen, die mit Lebensmitteln zu tun haben,
verschärfen.
Ein dritter Punkt ist die Rückverfolgbarkeit der
Produkte. Wir streben in einem bundesweiten Modellversuch eine bessere Vernetzung der Systeme der staatlichen Kontrolle auf kommunaler Ebene und Länderebene
mit der Bundesebene und eine Vernetzung der staatlichen Systeme mit den Eigenkontrollsystemen des Handels an. Wir freuen uns sehr, dass der Handel und die Industrie auf diese Initiativen eingestiegen sind. Denn
effektiven Schutz können wir am besten nicht gegen die
Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft und mit dem
Handel organisieren.
({1})
Herr Loske, wir gehen gegen die Missstände konkret
und entschlossen vor. Dazu gehört viertens ein neues
Verbraucherinformationsgesetz, das die Rechte des
Verbrauchers stärkt. Wir gehen dieses Thema an; wir
wollen mehr Transparenz und mehr Offenheit. Daran
sind Verbraucher und Wirtschaft gleichermaßen interessiert. Wir freuen uns, dass auch die Wirtschaft dies im eigenen Interesse so sieht und deshalb offen und transparent dem Verbraucher gegenübertritt und dieses Gesetz
unterstützt. Wir machen hier keinen Schnellschuss, sondern wir werden Ihnen zu Beginn des Jahres einen abgestimmten und durchdachten Vorschlag unterbreiten.
Unser Verbraucherinformationsgesetz hat zwei wesentliche Bestandteile.
Erstens die Namensnennung. Zukünftig müssen
schwarze Schafe - beispielsweise solche, die beim
Fleischskandal in Erscheinung getreten sind - genannt
werden.
({2})
Dies ist zwar bisher schon möglich. Aber wir werden
eine Ergänzung der bestehenden Rechtslage vornehmen.
Schwarze Schafe müssen zukünftig auch dann genannt
werden, wenn das Fleisch bereits auf den Markt gebracht
und verbraucht ist. Es ist ja geradezu ein Paradoxon,
dass diejenigen belohnt werden, die ihr Fleisch schnell
am Markt unterbringen. Hier bedarf es natürlich einer
Ergänzung. Wir erwarten uns von der Namensnennung
einen Druck auf die Wirtschaft, der zu einer Verbesserung der Eingangs- und Eigenkontrollen der Industrie
führt.
Zweitens. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz
schaffen wir einen Paradigmenwechsel. Die Verbraucher
erhalten zukünftig einen Rechtsanspruch auf Akteneinsicht und einen Rechtsanspruch auf Behördenauskunft. Das ist, wie gesagt, ein Paradigmenwechsel im
Vergleich zur aktuellen Rechtslage.
({3})
Die Grünen fordern darüber hinaus einen Anspruch
auf Auskunft gegenüber den Unternehmen. Man muss
sich das einmal vorstellen! Jeder Verbraucher soll ein
Auskunftsrecht gegenüber den Unternehmen haben.
Wir können so etwas realistischerweise national nicht
umsetzen.
({4})
Dazu müsste es einen europäischen Ansatz geben. Es
würde sich die Situation ergeben, dass große Handelsketten die Wahrung dieses Auskunftsrechts noch garantieren können. Aber die mittelständischen Betriebe würden in arge Bedrängnis gebracht werden.
Die Grünen fordern in ihrem Gesetzentwurf weiterhin
einen Anspruch auf Information - ich musste mir das
notieren, weil ich es nicht glauben konnte - über allgemeine Menschenrechtsanliegen, über Rechte von Kindern in der Produktion. Sie haben mit Ihren Forderungen
natürlich den Rahmen der Realität verlassen. Sie erheben Maximalforderungen und fallen in die Zeit von vor
sieben Jahren zurück, als Sie in der Opposition waren.
Sie machen damit Schlagzeilenpolitik. Das haben Sie
sehr schnell wieder gelernt. Sie waren sieben Jahre in
der Verantwortung. Frau Künast hat fünf Jahre in dem
zuständigen Ressort die Verantwortung getragen. Sie
hatte Zeit, die Verbraucherrechte zu stärken. Deswegen
sagt Herr Minister Seehofer sehr zu Recht: Das war
Symbolpolitik.
({5})
Sie haben kein Gesetz in das Gesetzgebungsblatt gebracht.
({6})
Wir werden das schaffen.
({7})
Wir haben im Bundesrat, wie Sie eben angedeutet haben, diese Pläne, die das Ziel „Zurück zur Illusion“ hatten, natürlich gestoppt. Wir gehen jetzt einen realistischen Ansatz.
({8})
Sie haben fünf Jahre diskutiert und wir werden im Januar
einen Gesetzentwurf vorlegen,
({9})
der in den zwei von mir genannten Punkten einen realistischen Ansatz und einen Quantensprung nach vorne in
der Stärkung der Verbraucherrechte mit sich bringt. Wir
werden diesen Ansatz in Abwägung der Interessen der
Wirtschaft und zur Stärkung der Verbraucher zusammen
mit den Bundesländern auf der Basis des Ergebnisses
des Vermittlungsausschusses einbringen. Alle sind dazu
eingeladen, zum Erfolg beizutragen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Clemens Bollen, herzlich willkommen an
deinem ersten wirklichen Arbeitstag heute hier im Plenum!
Heute las ich etwas sehr Schönes in einer großen
Handwerkszeitung. Ich las nämlich die Überschrift:
Beim Metzger gibt es kein Gammelfleisch. In Norddeutschland würde man sagen: im Fleischerfachgeschäft. In Bayern sagt man eher: Beim Metzger gibt es
kein Gammelfleisch.
({0})
Ich trage das deshalb vor, weil es mir sehr darum
geht, dass man in der Diskussion um dieses so genannte
Gammelfleisch ein bisschen differenzierter zu Werke
geht, dass man nicht generell von mafiösen Strukturen
spricht, sondern zwischen denjenigen unterscheidet, die
Böses bzw. Schlimmes getan haben, und denjenigen, die
sich in einem schwierigen Markt mit hoher Qualität nach
wie vor erfolgreich behaupten.
({1})
Ich meine, man sollte auch ein bisschen differenzieren, wenn es darum geht, wie viele Fehlgriffe und Auffälligkeiten bei Kontrollen festgestellt werden. Wissen
Sie, dass eine gesprungene Fliese eine Anmerkung bedeutet, dass das Fehlen von Papierhandtüchern kritisiert
wird? Wir müssen also schon etwas genauer hinschauen,
wenn wir die einzelnen Fälle fachlich betrachten. Ich
kann nur dazu appellieren, zu Fachlichkeit und Sachlichkeit bei diesem Thema zurückzukehren und von der
Hysterie, die in einigen Bereichen herrscht, wegzukommen.
({2})
Insgesamt würde ich es sehr begrüßen, wenn der Bereich der Lebensmittelverarbeitung und gerade die
Fleischbranche bei uns allen ein bisschen mehr und positiver ins Bewusstsein rücken würden. Da ich selbst in
diesem Bereich beruflich tätig war, kann ich sagen, dass
diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, unter der
Diskriminierung, die ihnen in weiten Teilen der Gesellschaft entgegengebracht wird, sehr leiden.
({3})
Es gibt immer noch Leute, die glauben, dass die Erziehung schlecht gelaufen ist, wenn ein junger Mann den
Fleischerberuf erlernen will. Ich denke, wenn wir insgesamt dafür sorgen, dass es mehr Anerkennung für den
Wert von guten Lebensmitteln gibt und der Fleischerberuf, der Bäckerberuf und die Hotel- und Gaststättenberufe, also die Lebensmittel verarbeitenden Berufe insgesamt, in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert
haben, dann machen wir uns auf den richtigen Weg.
Lassen Sie uns das etwas breiter anlegen! Lassen Sie
uns gemeinsam dafür sorgen, dass zum Beispiel Fächer
wie Ernährungslehre heute wieder in den Schulen und in
der Gesellschaft insgesamt einen höheren Stellenwert
bekommen.
({4})
- Herr Loske, das steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verbraucherinformationsgesetz. Denn derjenige, der kundig ist, braucht dieses Gesetz, das Sie hier
auf den Weg bringen wollen, nicht.
Es geht nämlich nicht darum, dass der Staat jedem
sagt, worüber er sich informieren soll.
({5})
Es geht vielmehr darum, dass wir dafür sorgen, dass der
Verbraucher überall dort, wo er sich aus eigener Kraft
nicht informieren kann, an die entsprechende Information kommt.
({6})
Deswegen sind wir für eine Deklaration - auch für eine
differenzierte - der Inhaltsstoffe; das ist überhaupt
keine Frage.
Aber wir sind entschieden dagegen, Herr Loske, dass
es so weitergeht wie bisher. Über Nacht - ich war damals im Vermittlungsausschuss dabei - sollte Ihr EntHans-Michael Goldmann
wurf eines Verbraucherinformationsgesetzes in das Futtermittel- und Lebensmittelgesetz hineinkommen.
({7})
So war es überhaupt nicht möglich, ihn differenziert zu
betrachten.
({8})
Einem Verbraucherinformationsgesetz, das dem Verbraucher die Chance gibt, sich zu informieren, und der
Wirtschaft, mit diesem Thema fair umzugehen, stehen
wir offen gegenüber. Wir werden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eine Anhörung verlangen. Dabei
werden wir eine außerordentlich konstruktive Rolle einnehmen. Da brauchen Sie sich überhaupt keine Gedanken zu machen.
Es ist keine Frage, dass Gammelfleisch auf dem
Markt nichts zu suchen hat; darüber brauchen wir uns
nicht zu streiten. Herr Staatssekretär, Sie haben hier das
Zehnpunkteprogramm von Herrn Seehofer genannt.
Generell wird damit die richtige Richtung verfolgt. Ich
bitte aber darum, hier noch einmal sehr genau hinzuschauen. Ich bin für ein Frühwarnsystem und für die
Rückverfolgbarkeit gerade im Bereich des Kategorie-3Materials. Ich bin für eine Verzahnung von staatlichen
und privaten Qualitätssicherungssystemen. Ich bin für
eine Informationspflicht und - das steht in unseren Pressemitteilungen und das mache ich auch in Gesprächen mit
der Fleischwirtschaft deutlich - für einen Ehrenkodex in
dieser Branche.
({9})
- Ja, noch einer. Ich will keinen Vergleich zum Altbundeskanzler ziehen, wie es der Kollege von der Linken
heute Morgen gemacht hat.
Ich glaube, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, diesen Bereich durch Gesetze so kontrollieren zu können, dass - ich will mich einmal so ausdrücken - Drecksäcke in diesem Markt keine Chance
haben. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass diejenigen, die qualitätsorientiert arbeiten, jene outen, die diesen Bereich kaputtmachen. Die wenigen schwarzen
Schafe müssen an den Pranger gestellt werden und durch
Berufsverbot aus dem Markt verschwinden. Durch ein
solch klares Vorgehen können wir dafür sorgen, dass die
Qualität des Marktes nach außen sichtbar gemacht wird.
Außerdem hängen an diesem Markt unendlich viele Arbeitsplätze in Deutschland, die wir gewahrt wissen wollen.
({10})
Wir setzen auf Fachlichkeit statt auf Populismus.
Nun zum Thema Namensnennung. Es ist ganz simpel: Die Namensnennung ist schon heute möglich, wenn
gesundheitliche Gefahr im Verzug ist. Jeder, der ein bisschen Ahnung hat, weiß, dass damals die Firma
Coppenrath & Wiese genannt worden ist. Lassen Sie uns
also keinen Popanz über Neues aufbauen! Lassen Sie
uns erst einmal die gegebenen Möglichkeiten nutzen!
Lassen Sie uns die Kontrollsysteme verbessern! Wirken
wir darauf hin, dass die Länder und die Kommunen die
Lebensmittelkontrollen verstärken und dass die Koordination zwischen den Behörden verbessert wird!
Herr Dr. Müller - ich würde auch den neuen Minister
ansprechen, wenn er hier wäre -, was Bayern in diesem
Punkt geleistet hat, war wirklich ein Paradebeispiel für
Fehlverhalten von Behörden und örtlichen Ministern.
Wer behauptet, dass die Staatsanwaltschaft keine Pflicht
zur Information und zur Bekämpfung solcher Missstände hat, der ist schlicht auf dem falschen Trip.
Wir sollten hier viel Gemeinsamkeit entwickeln, um
den Problemen zu begegnen. Wir sind bereit, ein vernünftiges Verbraucherinformationsgesetz qualifiziert zu
begleiten. Dann werden wir - dessen bin ich mir sicher zu einem guten Ergebnis kommen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß
von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Kleine Schweinerei gefällig?“, so lautete ein
Werbeslogan, der den Verbraucherinnen und Verbrauchern Appetit auf Schweinefleisch machen sollte. Die
große Schweinerei, die uns seit einigen Monaten beschäftigt, droht allerdings so manchem die Lust auf
Fleisch zu versauen.
Wenn nach dem Motto „Aus Alt mach Neu“ verdorbenes Fleisch umetikettiert und mit neuem Haltbarkeitsdatum versehen wird, wenn Schlachtabfälle wie Haut,
Haare und Innereien zu lebensmitteltauglichem Fleisch
umdeklariert werden, wenn schmierige, schimmelige
Wurst abgewaschen und mit Öl eingerieben wieder als
Frischwurst an der Ladentheke angeboten wird, dann ist
das nicht nur eklig, sondern im schlimmsten Fall gesundheitsgefährdend und in jedem Fall kriminell.
({0})
Als kriminelle Tat müssen solche Vorfälle mit aller Härte
geahndet werden.
({1})
Die These „Geiz gebiert Gammel“ ist da zu hören.
({2})
Das klingt nach einem Zweiklassenlebensmittelsortiment
und danach, dass diejenigen, die zum Billigangebot greifen, selber schuld seien. Aber es kann nicht sein, dass den
Verbraucherinnen und Verbrauchern die Verantwortung
für solche Machenschaften zugeschoben wird. Sie müssen davon ausgehen können, dass alle Lebensmittel
- egal zu welchem Preis sie angeboten werden - den gesetzlichen Standards entsprechen und weder gesundheitlich bedenklich noch ekelerregend sind.
({3})
Doch weniger das Kaufverhalten der Verbraucher als
vielmehr die hemmungslose Profitgier einzelner Anbieter schafft die Anreize für solchen Betrug. Da werden
Produkte zu Preisen angeboten, zu denen sie nicht erzeugt werden können. Da werden die Entsorgungskosten
für Abfälle gespart, indem die Abfälle zu Lebensmitteln
umdeklariert und verkauft werden. „Gammel ist geil“,
({4})
wenn er sich zweimal rechnet: durch Einsparung der
Entsorgungskosten und durch Profit beim Verkauf. - Ich
weiß nicht, was der liebe Gott damit zu tun hat, Herr
Kollege Goldmann.
Der Gammelfleischskandal zeigt auch: „Billig“ kann
etwas völlig anderes als „preiswert“ sein. Verdorbene
Lebensmittel sind ihren Preis nicht wert. Wir wollen den
aufgeklärten Verbraucher, der Zugang zu der Information hat, ob ein Produkt seinen Preis wert ist.
({5})
Um solche Skandale zu verhindern, brauchen wir ein
umfassendes, eigenständiges Verbraucherinformationsgesetz, das die Befugnis der Behörden zur Information
der Öffentlichkeit erweitert. Es reicht nicht aus, wenn
die Namen der in solche Skandale verwickelten Unternehmen nur dann genannt werden dürfen, wenn die Ware
noch in den Verzehr kommen könnte.
Wir brauchen ein Verbraucherinformationsgesetz, das
für Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit
schafft, an die bei den Behörden vorliegenden Informationen über Verstöße zu kommen. Denn das sorgt für
Vertrauen und Transparenz. Das versetzt Verbraucher
in die Lage, bewusste Kaufentscheidungen zu treffen
und sich vor zweifelhaften Angeboten zu schützen. Das
hat eine abschreckende Wirkung auf Verantwortungslose, die aus Profitgier die Standards unterlaufen; denn
solche Machenschaften können nur im Dunkeln gedeihen.
Ein solches Verbraucherinformationsgesetz liegt auch
im Interesse der Wirtschaft; denn es hilft den korrekt und
verantwortlich handelnden Unternehmen - und das ist
Gott sei Dank immer noch die große Mehrheit -, sich gegen eine kleine, kriminelle Minderheit durchzusetzen
und sie vom Markt zu drängen. Deshalb sollten auch die
bei der Wirtschaft selbst vorliegenden Informationen
den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugänglich gemacht werden, damit nicht eine ganze Branche ungerechtfertigt in Verdacht gerät und unter solchen Skandalen leiden muss.
({6})
Sehr geehrten Damen und Herren, andere Länder sind
in diesem Punkt schon weiter. In den USA zum Beispiel
veröffentlicht die FDA - das ist die Food and Drug Administration - solche Informationen mit Produkt- und
Firmennamen im Internet, also für jeden zugänglich.
Wir könnten ein Verbraucherinformationsgesetz
längst haben. Wer hier mit datenschutzrechtlichen
Bedenken argumentiert, muss sich die Ungleichbehandlung von Firmendaten und privaten Daten vorwerfen lassen. Wenn Händler zum Beispiel über Kundenkarten
umfangreiche Daten über ihre Abnehmer sammeln dürfen, warum sollen die Kunden dann kein Recht auf Information über Herkunft und Qualität der Produkte haben?
({7})
Herr Staatssekretär, das Verbraucherinformationsgesetz ist zwar nicht die Erfindung von Herrn Minister
Seehofer, aber wir sind froh darüber, dass Sie sich eine
gute Idee zu Eigen machen. Ich versichere Ihnen: Sie haben unsere volle Unterstützung.
({8})
Der Fleischskandal sorgt für Handlungsdruck. Ihr angekündigter und in den Medien breit diskutierter Maßnahmenkatalog hat eine hohe Erwartungshaltung in der
Bevölkerung erzeugt. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass den Ankündigungen auch Taten folgen. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf und unsere politische Glaubwürdigkeit verlangt es,
dass wir gemeinsam alle Möglichkeiten nutzen, um Verstöße zu verhindern und gewissenlosen Betrügern das
Handwerk zu legen.
Dazu gehört auch: Mehr Abschreckung durch harte
und konsequente Verfolgung von Verstößen gegen lebensmittelrechtliche und futtermittelrechtliche Bestimmungen. Solche Verstöße sind keine Kavaliersdelikte,
sondern kriminell. Kein Verkauf unter Einstandspreis;
denn wenn standardgemäße Produktion Verluste verursacht, werden seriöse Anbieter vom Markt verdrängt und
ihre Existenz wird gefährdet. Mehr Transparenz und
Rückverfolgbarkeit, auch bei Schlachtabfällen. Verbesserung bei den Kontrollen und eine bessere länderübergreifende Koordinierung.
Sehr geehrte Damen und Herren, im Ernährungsbereich darf es null Toleranz für Schlampereien und Betrug
geben. So wie die BSE-Krise werden wir auch diesen
Gammelfleischskandal nutzen, um für mehr Transparenz
und Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen. Mit dem Spruch „Der Kunde ist König“
wird in der Wirtschaft gern geworben. Auch in der Verbraucherpolitik wollen wir den Kunden, den Verbraucher, an oberster Stelle. Der Schutz der Verbraucher
muss Priorität haben, auch vor wirtschaftlichen Interessen.
Beim Verbraucherinformationsgesetz können wir gemeinsam zeigen, dass es uns damit Ernst ist. Ich bitte um
Zustimmung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Frau Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass
sich der Bundestag mal wieder mit dem Verbraucherinformationsgesetz beschäftigt. Als Fraktion Die Linke
begrüßen wir selbstverständlich alle Initiativen, die den
berechtigten Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern dienen. Das Verbraucherinformationsgesetz
gehört dazu.
Angesichts der hektischen Betriebsamkeit sei jedoch
daran erinnert, dass der Bundestag bereits 2002 und
2005 Gesetzesinitiativen beschlossen hat, die aber im
Bundesrat gescheitert sind. Für den Streit, wer wann wie
und warum wen blockiert hat, haben Menschen außerhalb dieses Parlaments wenig Verständnis. Sie sehen das
als ein Kapitel des kollektiven Versagens.
({0})
Der immer geringere Zeitabstand zwischen den Lebensmittelskandalen erzwingt nun den Neuanfang mit
neu gemischten politischen Karten. Das wird sehr spannend; denn bislang lagen die Positionen der neuen Koalitionäre bei diesem Thema weit auseinander, wie auch
dem Plenarprotokoll vom Juni 2005 zu entnehmen ist.
Dem angekündigten Gesetzentwurf der Koalition sehen wir daher mit Skepsis entgegen. Wir werden sehen,
welche Ideen aus dem rot-grünen Projekt überlebt haben. Die Einbeziehung der Erfahrung und des Sachverstands der Verbraucherschutzorganisationen in den Entscheidungsprozess halten wir für unverzichtbar.
({1})
Unsere Forderung ist ein verlässliches, leicht und
ohne finanzielle Hürden zugängliches, transparentes
Informationssystem. Das hätte sicherlich auch die gewollte disziplinierende Wirkung. Das ist aber nur ein
Teil der Lösung und kein Ersatz für wirkliche Präventionskonzepte. Dazu müssen die wirklichen Ursachen
dieser Skandale offen benannt werden: der ruinöse Wettbewerb kurzfristig gedachter Kapitalverwertungsinteressen. Wenn Entsorgung von Gammelfleisch über den
menschlichen Magen günstiger ist als über die Deponie,
dann kann in diesem System etwas nicht richtig sein.
({2})
Der Gesetzgeber hat einen klaren Handlungsauftrag
zur Sicherung der Interessen der Gesellschaft. Es muss
geprüft werden, ob nicht mit einigen Entscheidungen ein
Sektor der Halblegalität geschaffen wurde, in dem der
Weg zur Illegalität sehr kurz geworden ist.
Ein aufgabenorientiertes Informationssystem setzt
eine klare, eindeutige Definition voraus, welche Informationen verbraucherrelevant sind. Diffuse Datensammlungen können schnell zum Datenfriedhof werden. Es ist
sehr verwunderlich, dass es diesbezüglich noch kein
Handlungskonzept gibt; denn mit dem BVL und dem
BfR wurden nach dem BSE-Skandal zwei Bundesbehörden völlig neu geschaffen, die sich explizit mit Fragen
der Lebensmittelsicherheit beschäftigen sollen.
Aber auch in andere Richtungen müssen wir neu denken. Es ist doch gruselig, was heute so alles, mit und
ohne Kennzeichnung, in Lebensmittel eingemischt wird.
Die Allergiker wissen, wovon ich rede.
Sowohl bundesweit koordinierte hoheitliche als auch
unabhängige Eigenkontrollsysteme sind erforderlich
und sie müssen dringend vernetzt werden. Konsequente
Sanktions- und Handlungsregelungen machen die Kontrollen aber überhaupt erst sinnvoll. Die private Wirtschaft darf nicht aus der Verantwortung entlassen
werden. Aber mittlerweile gibt es auch solche Qualitätssicherungssysteme, die die von uns geforderten Transparenzkriterien vom Stall bis zur Theke erfüllen. Auch eine
entsprechende Zertifizierung kann die Kaufentscheidung
erleichtern, wenn sie verlässlich und transparent ist.
Über unsere beiden Regierungsbeteiligungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern werden wir im Bundesrat selbstverständlich vernünftige Vorlagen unterstützen. Hier kann man zu guten Lösungen kommen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Ursula Heinen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Machen wir uns doch nichts vor: Wenn man den
Gesetzentwurf liest, den die Grünen eingebracht haben,
dann denkt man, man lebt auf einem anderen Stern. Die
Realität wird komplett ausgeblendet, ökonomische Gegebenheiten werden ignoriert und die Unternehmen werden per se an den Pranger gestellt. Ich möchte Ihnen
gerne aus einer Pressemitteilung der Grünen vorlesen,
({0})
in der das abschließend deutlich wird.
({1})
Dort heißt es:
Wir bringen den Gesetzentwurf ein, um den Bürgern zu mehr Rechten zu verhelfen und ihre Abhängigkeit gegenüber Unternehmen … zu verringern.
({2})
Ich bin Volkswirtin und habe gelernt, dass Unternehmen ihre Produkte dann verkaufen können, wenn sie gut
und in Ordnung sind.
({3})
Das gilt für die große Mehrheit der Unternehmen in
Deutschland.
({4})
Es ist nicht so, dass die Unternehmen das Ziel haben, die
Menschen zu betrügen.
({5})
Die Unternehmen wollen ihre Produkte verkaufen. Das
schaffen sie aber nur, wenn sie sich vernünftig verhalten.
({6})
Der Versuch, den Sie jetzt unternehmen, ist nicht neu.
Schon im Jahr 2001 haben Sie diese Forderungen in einem Eckpunktepapier erhoben, konnten diese aber nicht
einmal in Ihrem eigenen rot-grünen Kabinett durchsetzen. Heute müssen wir sagen: Wir loben die Kollegen
von der SPD, die diese abstrusen Vorstellungen, wie Sie
sie niedergeschrieben haben und jetzt wieder verkünden,
gestoppt haben.
({7})
Herr Loske, diese Forderungen haben Sie in der
Folgezeit nicht mehr aufgestellt. Sie haben Recht, wenn
Sie sagen, dass wir schon mehrfach über das Verbraucherinformationsgesetz debattiert haben. Als Gerda
Hasselfeldt als stellvertretende Vorsitzende der CDU/
CSU-Fraktion für diesen Bereich zuständig war, haben
wir einen Antrag zu diesem Thema eingebracht; auch
damals haben wir darüber diskutiert. Aber Sie haben
Ihre Forderungen nicht mehr eingebracht. Auch im Rahmen der von Michael Goldmann zitierten Nacht-und-Nebel-Aktion haben Sie Ihre Forderungen nicht mehr erhoben, sondern Sie haben sich genau so geäußert, wie es
Staatssekretär Müller vorhin getan hat.
({8})
Sie hatten überhaupt keine anderen Ideen. Das, was Sie
hier machen, ist absolut scheinheilig, Herr Loske!
({9})
Sie wissen auch, warum das, was Sie hier tun, scheinheilig ist. Der Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ging viel zu
weit. Er ist in der Realität nicht umsetzbar.
({10})
Der Begriff „Verbraucherinformation“ - das ist schon
angesprochen worden - soll, wenn es nach Ihnen geht,
Belange des Tierschutzes, der Menschenrechte, Kinderarbeit etc. umfassen. Anstatt sich um die Verbesserung
der Situation im Lebensmittelbereich zu kümmern, überhöhen Sie das Thema Verbraucherinformation noch zusätzlich durch Ihre Ideologie.
({11})
Das ist nicht machbar. Der Anspruch auf Information,
den Sie fordern, ist überhaupt nicht durchsetzbar. Ich
lade Sie ganz herzlich ein - das können wir nächste Woche, noch vor Weihnachten, machen -, gemeinsam mit
mir in der Kölner Innenstadt die kleinen Metzgereibetriebe anzuschauen. Wir können auch eine kleine Milchgenossenschaft besuchen. Spätestens dann werden wir
wissen, ob sie in der Lage sind, Ihren wahnsinnigen Auskunftsansprüchen Rechnung zu tragen.
({12})
Ich kann Ihnen die Antwort auf diese Frage aber
schon jetzt geben. Wie soll das funktionieren? Das können sie nicht leisten.
({13})
Ihre etwas vage Formulierung hilft den Unternehmen
nicht. Wenn jemand von einem kleinen Metzgereibetrieb
ganz genaue Auskünfte haben möchte, funktioniert das
einfach nicht. Aber wir beide können gerne einen Termin dafür ausmachen und das nächste Woche einmal
ausprobieren.
({14})
Wenn wir uns damit befassen, Auskunftsansprüche
gegenüber Unternehmen einzuführen, können wir das
doch nicht in Deutschland im Alleingang machen. Wir
leben doch hier nicht auf einer Insel der Glückseligkeit!
Wir können uns es nicht leisten, immer wieder mit irgendetwas vorzupreschen. Wenn, müssen wir uns auf europäischer Ebene darüber unterhalten. Aber da frage ich
Sie von den Grünen, die Sie fünf Jahre lang die Ressortverantwortung dafür hatten: Haben Sie in diesen fünf
Jahren dazu irgendeine Initiative auf europäischer Ebene
gestartet?
({15})
Nein, kein einziges Mal haben Sie das Thema „bessere
Verbraucherinformation“ auf europäischer Ebene eingebracht.
({16})
Doch jetzt fordern Sie hier Gott weiß was!
Und um sozusagen das i-Tüpfelchen draufzusetzen,
fordern Sie einen Bundesbeauftragten für den Zugang
zu Verbraucherinformationen. Das ist noch das Allerbeste! Da bin ich ja der Kollegin von der Linken fast
dankbar, dass sie auf die ganzen Ämter und Behörden
aufmerksam gemacht hat, die es für diesen Bereich bereits gibt, beispielsweise das Bundesamt für Verbraucherschutz. Damit nicht genug: Auch jedes Bundesland
muss, wie in Ihrem Gesetzentwurf steht, einen eigenen
Beauftragten für den Zugang zu Verbraucherinformationen benennen. Haben Sie sich einmal mit den Bundesländern darüber unterhalten, wie viele Leute sie ohnehin abstellen müssen, wenn wir diesen Anspruch auf
Information einführen? Das wird alles gar nicht so einfach sein; das lässt sich nicht aus dem hohlen Bauch machen oder aus der Portokasse finanzieren. Anstatt hier einen zusätzlichen Beauftragten zu fordern, sollten Sie
sich ein Beispiel daran nehmen, wie wir von der CDU/
FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen gerade einen
Beitrag zum Bürokratieabbau leisten: indem wir das Beauftragtenunwesen deutlich zurückfahren.
({17})
Wir werden in der Tat eine bessere Regelung zur Verbraucherinformation schaffen. Aber - und das ist der
Unterschied - wir werden es durchdacht machen, in Absprache mit den betroffenen Verbänden, mit denen es
selbstverständlich eine Anhörung geben wird. Unsere
Regelung wird das Problem an der Wurzel packen und
den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit
geben, sich bei den Behörden - da gehört es hin! - vernünftig zu informieren über alle Fragen, die das Lebensmittel selbst betreffen, aber nicht auch noch über die
zahlreichen weltanschaulichen Fragen, die Ihnen vorschweben.
In diesem Sinne werbe ich für unseren Antrag, in dem
wir auch unsere Unterstützung für ein Verbraucherinformationsgesetz erklären. Ich denke, dass wir im neuen
Jahr vernünftige Beratungen darüber haben werden, und
freue mich auf die neuerliche Diskussion über ein vernünftiges, durchdachtes Verbraucherinformationsgesetz.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat nun die Kollegin Waltraud Wolff, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als vorhin meine Kollegin Elvira DrobinskiWeiß gesprochen hat, habe ich das Raunen bemerkt:
Man solle vielleicht lieber nicht über Ekelfleisch reden,
von schmierig und schimmlig, und besser verschweigen,
dass Haut und Haare beigemischt wurden. Aber das gehört dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn genau
das zeigt uns doch, dass ein umfassendes Verbraucherinformationsgesetz sowohl dringend notwendig
({0})
als auch überfällig ist. Herr Loske, ich will auch in Ihre
Richtung einmal sagen: Wir haben nicht vergessen, was
wir in sieben Jahren gemacht haben. Auch die neue Bundesregierung will diesen Weg weitergehen - es gibt
keine Geschichtsklitterung. Aber das, was Sie jetzt betreiben, ist auch nicht ganz lauter.
({1})
Und, wie gesagt: Das Gesetz ist seit Jahren in der Pipeline. Es kann nicht angehen, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher das Gefühl haben, dass sie fürs Falschparken sofort ein Knöllchen bekommen, während Menschen, die mit erheblicher krimineller Energie Abfälle
als Lebensmittel verhökern, ungeschoren davonkommen
sollen.
({2})
Das muss anders werden.
Ich bin Herrn Minister Seehofer für seine klaren
Worte und für sein konsequentes Vorgehen dankbar. Wir
unterstützen ausdrücklich den Maßnahmenkatalog der
Bundesregierung.
({3})
Wir alle, auch die Zuschauer oben auf der Tribüne, haben das Recht darauf, zu wissen, ob zwischen dem, was
drin ist, und dem, was drauf steht, Unterschiede bestehen;
({4})
denn es geht schließlich um unsere Gesundheit. Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht betrogen werden.
({5})
Meine Damen und Herren, die Fraktion der Grünen
hat auf die Schnelle einen Gesetzentwurf vorgelegt oder,
besser gesagt, aus der Schublade gezogen. Vom Ansatz
her ist er richtig. Sicherlich brauchen wir mehr und bessere Informationen für die Verbraucher, aber im Detail
offenbaren sich Schwächen; meine Kollegin Heinen hat
schon darauf hingewiesen. „Opposition macht frei“, dafür habe ich Verständnis.
({6})
Waltraud Wolff ({7})
Wenn aber die Gesetzentwürfe, die wir gemeinsam auf
den Weg gebracht haben, nicht mehr als Grundlage dienen, sondern Sie viel weiter zurückgehen,
({8})
dann ist das unlauter. Für die Menschen draußen im
Land, die genau wissen, dass solche Gesetze nicht beschlossen werden können, ist das Augenwischerei. Die
Wünsche des Katalogs, den Sie aufgestellt haben, sind
nicht zu erfüllen.
({9})
Wir brauchen ein praktikables Konzept, das zusammen
mit den Ländern zügig umgesetzt werden kann. Eine
weitere Bauchlandung mit einem Verbraucherinformationsgesetz können wir uns nicht leisten. Die Menschen
erwarten endlich einen Erfolg, nämlich ein Gesetz, das
ihrem Informationsanspruch gerecht wird.
({10})
Die Bundesregierung hat bereits Gespräche mit den
Ländern und der Fleischwirtschaft geführt und wird einen Entwurf vorlegen. Ich nehme an, Herr Staatssekretär, dass das in der nächsten Zeit geschehen wird. Das
Gesetz muss - das wissen wir alle; das ist in dieser Debatte ganz breit diskutiert worden - einen umfassenden
Informationsanspruch der Verbraucher gegenüber
den Behörden bieten.
({11})
Auf Nachfrage müssen Auskünfte erteilt und Ross und
Reiter genannt werden. Aber nicht nur das. Die Behörden müssen Informationen auch aktiv an die Öffentlichkeit weitergeben, sodass schwarze Schafe sich nicht
mehr verstecken können. Riesenschweinereien dürfen
nicht durch fehlende Information gedeckt werden. Das
wird in Zukunft anders.
({12})
Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns alle einig.
Wir haben in der Vergangenheit über den Weg zu
mehr Information und zu mehr Transparenz gestritten.
Wir haben verschiedene Gesetzentwürfe beraten. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten nun von
uns entschlossenes Handeln und Taten. Lassen Sie uns
an dieser Stelle weitermachen und nicht in der Vergangenheit grasen. Helfen Sie mit, dass wir ein vernünftiges
Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg bringen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade der
Fleischskandal macht wieder einmal mehr deutlich,
dass Markttransparenz nutzt, und zwar allen. Märkte, die
zusammenbrechen, bedeuten für die Verbraucher Vertrauensverlust, für die Unternehmer Image- und Finanzverlust und für die Beschäftigten Arbeitsplatzverlust.
Das will niemand.
({13})
Keiner meiner Vorredner ist auf die guten Beispiele
eingegangen. Ich möchte an die Firma Hipp erinnern. Einer ihrer Lieferanten von Putenfleisch für Kindernahrung hatte Selbstanzeige erstattet, als bemerkt wurde,
dass etwas nicht stimmte. Anschließend erfolgte ein
ganz transparentes Verfahren.
({14})
In der letzten Woche war ich in meinem Wahlkreis
unterwegs und habe die Zerbster Fleisch- und Wurstwarenfabrik besucht. Diesen Namen sage ich gerne. Dieses
Unternehmen hat nämlich keine Angst vor Transparenz,
hat keine Angst, Auskünfte zu erteilen. Denn diese
Firma wünscht sich, dass auf diesem Weg den Unholden
das Handwerk gelegt wird.
({15})
Korrekt arbeitende Unternehmen müssen sich schützen
können. Schwarze Schafe gehören an den Pranger; denn
sie schaden der gesamten Branche.
Natürlich brauchen wir auch mehr Aufklärung bei
den Verbrauchern und Verbraucherinnen und auch eine
verstärkte Bewusstseinsschulung. Das ist uns allen ja
klar.
({16})
Die Wertigkeit der Lebensmittel ist in Deutschland nicht
so, wie wir sie uns wünschen. Deutsche geben mit rund
15 Prozent ihres Einkommens nur die Hälfte von dem
für Essen und Trinken aus, was zum Beispiel Franzosen
und Italienern ihre Nahrungsmittel wert sind. Das zeigt
diesen Mangel an Bewusstsein, der bei uns vorherrscht.
Deshalb ist es wichtig, auch an diesen Punkten zu arbeiten.
Mein Fazit lautet:
Erstens. Ein Mehr an Informationen für die Verbraucher ist dringend erforderlich.
Zweitens. Gemeinsam mit der CDU/CSU werden wir
in naher Zukunft ein mit den Ländern abgestimmtes Verbraucherinformationsgesetz vorlegen, mit dem hoffentlich alle, auch die Wirtschaft, leben können.
Danke.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/199 und 16/195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und zur Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 16/39 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Arbeitgeberausgleich bei Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Fall von Krankheit und Mutterschaft ({1})
- Drucksache 16/46 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Gesundheit ({3})
- Drucksache 16/243 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Albach
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch dazu. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden
die Regelungen über die Umlageverfahren zum Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlungen und Mutterschaftsleistungen überarbeitet. Die
neuen Regelungen befinden sich künftig im eigenständigen Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung.
Wesentlicher Inhalt der Neuregelungen ist die Umsetzung einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Das
Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Anspruchsgrundlage für den Arbeitgeberzuschuss nach
dem Mutterschutzgesetz nicht mit dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes vereinbar ist. Der uns alle
bindende Art. 3 Abs. 2 im Grundgesetz lautet:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Wir werden dies mit dem neuen Gesetz tun.
({0})
Durch das bisherige Verfahren werden die Aufwendungen der Arbeitgeber bei Mutterschaft nur für Unternehmen mit weniger als 20 oder 30 Beschäftigten - je
nach Satzung der Krankenkasse - ausgeglichen. Selbstverständlich erhalten auch die bei mittleren und großen
Unternehmen beschäftigten Frauen beim schließlich sehr
erfreulichen Ereignis einer Mutterschaft Mutterschaftsgeld. Nach der augenblicklichen Gesetzeslage findet hier
aber kein Ausgleich statt.
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts
besteht daher die Gefahr, dass mittlere und große Unternehmen Frauen im so genannten gebärfähigen Alter - Pi
mal Daumen also fast alle Frauen bis 40 Jahre - bei der
Einstellung benachteiligen. Wer kennt aus der Praxis
nicht die zu Recht oder auch Unrecht geführten Diskussionen über den potenziellen Ausfall von Beschäftigten
und die damit verbundenen möglichen Kosten für den
Arbeitgeber?
Schauen wir uns die Statistik an. In so genannten
Kleinunternehmen bis 20 Beschäftigten arbeiten circa
9 Millionen Männer und Frauen. Mit kleineren Abweichungen in den alten bzw. neuen Bundesländern hält
sich unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten das Verhältnis zwischen Frauen und Männern so
ziemlich die Waage. Ganz anders sieht das Geschlechterverhältnis der Beschäftigten allerdings in den mittleren
und großen Unternehmen aus. Circa 25 Millionen Beschäftigte sind hier tätig, davon 15 Millionen Männer,
aber nur 10 Millionen Frauen. Frauen müssen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Dies ist nicht
nur verfassungsrechtlich geboten, sondern sowohl für
die einzelne Frau als auch für unsere Gesellschaft aus arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sicht zwingend.
({1})
Noch etwas anderes wurde vom Bundesverfassungsgericht herausgehoben. Diese 25 Millionen Beschäftigten sind nicht in das Ausgleichs- und Umlageverfahren
einbezogen. Zu deren Arbeitgebern gehören allerdings
nicht nur die so genannten produktionsorientierten Unternehmen, sondern auch Wohlfahrtsverbände und der
öffentliche Dienst. Der Arbeitgeber hatte mit diesen
mittleren und größeren Unternehmen wegen des so genannten Verwaltungsaufwandes keinerlei Rückerstattung
vereinbart. Aber diese vermeintlichen Praktikabilitätserwägungen rechtfertigen das Risiko einer faktischen Diskriminierung von Frauen keinesfalls, egal welche Branche, ob öffentlicher Dienst, Wohlfahrtsverband oder
Industrie.
({2})
Im Übrigen gleichen sich bei größeren Betrieben die
Höhe der Mutterschaftsleistungen und die Umlage langfristig aus. Ein Kostenargument zählt also nicht. Ausdrücklich hingewiesen wurde auf die Möglichkeit der
Ausweitung des Umlageverfahrens von Mutterschaftsleistungen, das so genannte U-2-Verfahren, auf alle Arbeitgeber, und zwar unabhängig von der Beschäftigungszahl. Hinzu kommt für uns, dass ein einheitliches
Umlageverfahren, das nicht nach der Unternehmensgröße unterscheidet, den Vorteil der Verbreiterung der
Beitragsbasis bietet.
Es gab Kritik. Die Arbeitgeber haben sich in der Vergangenheit immer wieder auch im Rahmen der Anhörungen zu diesem Gesetzentwurf grundsätzlich gegen
die Mutterschaftsleistungen gewandt und sich für eine
Finanzierung aus Steuermitteln ausgesprochen. Diese
Forderung ist nicht neu. Wir aber bleiben dabei, dass Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl - dazu gehört der Schutz von Müttern und Kindern
auf jeden Fall - entlassen werden.
Die mit den Mutterschaftsleistungen verbundenen
Kosten dürfen auch von Verfassungs wegen grundsätzlich zwischen den Kostenträgern Bund, Krankenkassen
und Arbeitgebern aufgeteilt werden. Das bedeutet: Alle
Arbeitgeber sind in das Umlageverfahren einzubeziehen.
So kommentierte auch das Bundesverfassungsgericht
gegenüber der Presse seinen Beschluss wie folgt:
Trotz des gestiegenen Anteils der Arbeitgeberleistungen überwiegen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung die öffentlichen Leistungen für den
Schutz von Mutter und Kind bei weitem die Belastungen der Arbeitgeber.
Der Staat ist verfassungsrechtlich also keineswegs verpflichtet, die Kosten des Mutterschutzes alleine zu tragen. Als Gesetzgeber nutzen wir daher bei der hier vorliegenden Umsetzung dieser sozialpolitischen Aufgabe
unseren weiten Gestaltungsspielraum.
Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf werden allerdings noch weitere Neuerungen erfolgen. Zusätzlich
zur Ausweitung des so genannten U-2-Verfahrens erfolgen Änderungen bei der Einbeziehung der Gruppe der
Angestellten in das Umlageverfahren zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Dieses so genannte U-1-Verfahren bezieht sich derzeitig nur auf die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Das Entgeltfortzahlungsgesetz hatte die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung von Arbeiterinnen und
Arbeitern sowie Angestellten bei der Entgeltfortzahlung
im Krankheitsfall bereits hergestellt. Es ist daher aus
Gleichbehandlungsgründen nur folgerichtig, auch die
Angestellten in den Ausgleich für die Entgeltfortzahlung
einzubeziehen.
({3})
In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird auch noch
ein dritter Bereich geregelt. In beide Umlageverfahren
- das Umlageverfahren für die Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall, „U1“, wie auch in das Umlageverfahren
für Mutterschaftsleistungen, „U2“ - werden nun auch
die Ersatz- und Betriebskrankenkassen einbezogen.
Die Umlageverfahren werden künftig von allen Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkassen durchgeführt. Denn die Beschränkung auf die
derzeit im Gesetz aufgeführten Kassenarten ist mit den
seit 1996 bestehenden Wahlrechten der Versicherten und
dem Kassenwettbewerb nicht mehr vereinbar. Diese Regelungen wurden auch seitens der Arbeitgeber begrüßt.
Das vorliegende Gesetzesvorhaben ist wichtig und
drängend. Zum einen wird sichergestellt, dass Mütter
auch ab dem 1. Januar 2006 den Zuschuss zum Mutterschaftsgeld in vollem Umfang von ihren Arbeitgebern
und Arbeitgeberinnen erhalten. Zum anderen wird die
durch das Bundesverfassungsgericht festgestellte Gefahr
einer Diskriminierung von Frauen bei der Einstellung in
mittleren und großen Unternehmen zumindest auf gesetzlicher Ebene beseitigt. Ich gehe davon aus, wir alle
werden das Unsrige tun, damit dies auch in der Praxis
verwirklicht wird.
Zum Dritten werden die Umlageverfahren, die derzeit
noch im Lohnfortzahlungsgesetz geregelt sind, an die
aktuellen Strukturen in der Sozialversicherung angeglichen. Deshalb begrüße ich es, dass diesem Gesetzentwurf hoffentlich einvernehmlich zugestimmt wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Herzlichen Glückwunsch! Ich wünsche Ihnen
weiterhin alles Gute.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Heinz Lanfermann,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November 2003 sind immerhin
zwei Jahre vergangen, bis das Gesundheitsministerium
in der Lage war, in einer recht überschaubaren Angelegenheit diesen kleinen Gesetzentwurf mit im Wesentlichen zwölf Paragraphen vorzulegen. So sind wir hart an
das Ende der Frist geraten, die das Verfassungsgericht
dem Parlament gesetzt hat, um die Aufwendungen neu
zu regeln, die bei einer Mutterschaft anfallen. Diese Eilbedürftigkeit ist auch einer der Gründe dafür, dass die
FDP auf eine mögliche Anhörung verzichtet hat und sich
auch - indem wir uns bei der Abstimmung enthalten
werden - dem In-Kraft-Treten der von der Regierung
vorgeschlagenen Lösung nicht in den Weg stellt.
Ich will auch gern bestätigen, dass diese Lösung ein
Weg ist, die Verfassungswidrigkeit des bisher geltenden
Gesetzes zu beseitigen. Wenn die Gefahr bestand, dass
Frauen von größeren Firmen bei der Einstellung diskriminiert werden, weil diese Firmen nicht der Umlagepflicht für die Mutterschaftsleistungen unterliegen, sondern das Risiko der zusätzlichen Leistungen bei
Schwangerschaft unmittelbar - allein und in voller Höhe tragen, dann kann diese Gefahr dadurch beseitigt werden, dass man auch diese Firmen in den Kreis der Umlagepflichtigen einbezieht. Im Sinne des Verfassungsgerichts und seiner Entscheidung ist damit die gestellte
Aufgabe erfüllt. Es handelt sich dann allerdings nur um
eine ausreichende, nicht aber um eine wirklich gute Lösung.
Betrachten wir erst einmal das Problem. Es besteht sicherlich zwischen uns allen Konsens darüber, dass wir
nicht nur wieder mehr Kinder in unserer Gesellschaft
wollen, sondern dass wir auch die Bedingungen dafür
schaffen bzw. verbessern müssen. Dabei gibt es gerade
auch für die Mütter - vor und nach der Geburt - und die
Familien viel zu tun. Es gilt aber, seitens der gesamten
Gesellschaft auch denen zu helfen, die durch die
Schwangerschaften indirekt belastet werden. Die Arbeitgeber - das gilt insbesondere für die kleinen Firmen haben neben finanziellen Aspekten schon durch den
Ausfall einer Mitarbeiterin und die damit verbundenen
organisatorischen Probleme bei weiteren Einstellungen
Belastungen zu tragen.
({0})
Das hat das Verfassungsgericht ausdrücklich bestätigt.
Mittlerweile ist der Arbeitgeberzuschuss auch zum
wesentlichen Bestandteil der Leistungen an die Mütter
geworden. Der Grundbetrag von 13 Euro ist konstant geblieben, der Arbeitgeberzuschuss aber mit den Löhnen
ständig gestiegen. Durchschnittlich beträgt der Zuschuss
mittlerweile 3 430 Euro pro Mutterschaft. Wir haben es
also mit einer ständig gestiegenen Last der Arbeitgeber
und damit auch mit einer Zunahme der Arbeitskosten
zu tun.
Sucht man nach einem Zusammenhang zwischen
Arbeitsverhältnis und Mutterschaft, der es rechtfertigen soll, den Hauptteil der Kosten der Mutterschaft den
Arbeitgebern aufzuerlegen, findet man eigentlich keinen
Anhaltspunkt, der wirklich überzeugt. So wird die Umlage nach der Lohnsumme aller im Betrieb beschäftigten
Arbeitnehmer berechnet. Das bedeutet, dass auch die Arbeitgeber mit der Umlage belastet werden, die ausschließlich männliche Arbeitnehmer beschäftigen, was
gerade kleinen Betrieben, in denen körperlich anstrengende Arbeitsleistungen erbracht werden, besondere
Probleme bereitet. Hinzu kommt, dass bisher nicht alle
Krankenkassen beteiligt sind, die Grenze der Teilnahmepflicht zwischen 20 und 30 Beschäftigten schwankt und
die Beitragshöhen erhebliche Unterschiede aufweisen.
Versucht man, die finanziellen Auswirkungen der
vorgeschlagenen Neuregelung zu erfassen, findet man
bei der Bundesregierung lediglich die Aussage:
Durch die Neuregelungen … werden Unternehmen
in unterschiedlichem Maße kostenseitig sowohl
entlastet als auch belastet.
Im Klartext heißt das: Man weiß es nicht genau und hat
keinen Überblick.
({1})
Das ist verwirrend, zeigt aber, dass man mit untauglichen Mitteln versucht, einen Ausgleich zwischen Gruppen von Arbeitgebern zu organisieren, der offensichtlich
noch nicht einmal innerhalb der Arbeitgeber zu gerechten Ergebnissen führt.
({2})
Bedenklich ist ebenfalls, dass die Einbeziehung der
öffentlichen Arbeitgeber in das Umlagesystem die öffentliche Hand zum Nachteil der Privatwirtschaft entlastet, und zwar ohne Ausgleich. Da die öffentlichen Arbeitgeber mehr Frauen beschäftigen, aber nach der
Gesamtzahl der Beschäftigten die Umlage zahlen, erhalten sie einen Vorteil, der von der Privatwirtschaft finanziert wird. Dabei sieht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Ausweitung vor. Zudem sind die
öffentlichen Arbeitgeber ohnehin an den Auftrag des
Grundgesetzes gebunden, Chancengleichheit zwischen
Männern und Frauen auch bei den Einstellungen zu gewährleisten.
Ich komme noch einmal darauf zurück: Der Zusammenhang zwischen Arbeitsverhältnis und finanziellen
Lasten durch Mutterschaft ist nicht ohne weiteres gegeben. Die Versuche, dennoch die Kosten den Arbeitgebern aufzuerlegen, führen auch nicht zu gerechten Ergebnissen. Dagegen widerspricht doch wohl niemand
der These, dass die Erleichterung von Mutterschaft, dass
der Mutterschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
ist. Dann kann man aber nur die richtige Konsequenz
ziehen, dass die Gesellschaft insgesamt die anfallenden
Kosten zu tragen hat. Deshalb ist die Steuerfinanzierung dieser Lasten die richtige Lösung. An dieser Lösung will die FDP als Zielvorstellung festhalten.
({3})
Wir verkennen dabei nicht, dass dieses Ziel - eine solche
Steuerfinanzierung dürfte etwa einen Betrag von
2 Milliarden Euro erfordern - nach sieben Jahren desaströser rot-grüner Haushaltspolitik eher weiter in die Ferne
gerückt ist.
({4})
Deswegen stellen wir jetzt noch keine entsprechenden
Anträge, was ja die Konsequenz bei einer Ablehnung
des Gesetzentwurfes wäre.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Peter Albach, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Mit meiner Wahl in den Deutschen
Bundestag hatte ich - da ich Jurist von Beruf bin - so
manches gedanklich verbunden, was das Gesetzgebungsverfahren betrifft, nicht jedoch den Umstand, in
meiner Jungfernrede zum Mutterschutz zu reden.
({0})
Ich bin meinen Vorrednern und Vorrednerinnen wirklich
dankbar, mir bei diesem spannenden Thema noch etwas
übrig gelassen zu haben, was durchaus zu einem
Erkenntnisgewinn in meinen Ausführungen gegenüber
dem Plenum beitragen könnte.
Ich muss eingangs meiner Betrachtungen zum vorliegenden Gesetzentwurf anerkennen, dass neun Minuten
Redezeit reichlich bemessen sind
({1})
- ich mache Ihnen natürlich gern ein paar Komplimente;
was bin ich heute höflich! - angesichts des Umstandes,
dass es kaum strittige Punkte im Verfahren und insbesondere im federführenden Ausschuss gab, die nicht hätten gelöst werden können, einmal abgesehen von dem
Vorschlag einer etwaigen Steuerfinanzierung des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld; das haben wir
hier wieder vernommen.
Wir sind durch das Bundesverfassungsgericht aufgefordert, zum 31. Dezember 2005 durch Gesetz zu regeln
({2})
- ja -, „dass sich Schutzvorschriften auf Arbeitnehmerinnen faktisch nicht mehr diskriminierend auswirken“,
auch unter Berücksichtigung des aufgestellten Leitsatzes, „dass der Art. 6 Abs. 4 GG keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates begründet, die Kosten des Mutterschutzes allein zu tragen“.
Die Diskriminierung der Arbeitnehmerinnen ergibt sich für den Ersten Senat des Verfassungsgerichtes
allein aus dem Umstand, dass nicht alle Arbeitgeber in
das Umlageverfahren, mit welchem durch das Lohnfortzahlungsgesetz bedingt die Aufwendungen der Arbeitgeber bei Mutterschaft ausgeglichen werden, einbezogen
sind. Plausibel, das ist das so genannte U-2-Verfahren.
Das hat zur Konsequenz, dass Frauen im gebärfähigen
Alter das Risiko - Sie hatten es schon erwähnt - einer
faktischen Diskriminierung in Kauf nehmen, da das
Ausgleichs- und Umlageverfahren gerade den Zweck
hat, die unterschiedliche Verteilung der Risiken bedingt
durch mögliche Mutterschaften auszugleichen und damit
Beschäftigungshemmnisse abzubauen. Leicht nachzuvollziehen. Dadurch aber, dass dieses Verfahren nicht
bei allen Arbeitgebern geltendes Recht ist, sieht das Gericht vorgenannte faktische Diskriminierungen. Der Arbeitgeber könnte bei der Einstellung finanzielle Erwägungen - durch mögliche Mutterschaften bedingt - zur
Grundlage seiner Entscheidungsfindung machen, ob
denn nun Frau oder Mann einzustellen sei.
Im Ausschuss waren wir uns einig, dass wir dies nicht
länger dulden werden und selbstverständlich die faktische Diskriminierung beendet wird.
({3})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dem durch
die Ausweitung der Umlageverpflichtung auf alle Arbeitgeber unabhängig von der Größe des Unternehmens
nach mehrheitlicher Auffassung der Mitglieder des Ausschusses für Gesundheit Rechnung. Es ist zudem Regelungsgegenstand des Gesetzes, in das so genannte U-1Verfahren - gemeint ist das Umlageverfahren zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - weiterhin betriebsgrößenbeschränkt künftig auch die Angestellten einzubeziehen, und in beide Verfahren - das wurde schon
erwähnt; ich wiederhole es, weil ich es mir so aufgeschrieben hatte - sollen auch Betriebs- und Ersatzkassen
einbezogen sein.
({4})
- Es gibt ja nichts Schlimmeres, als den Faden zu verlieren. Das ist ja peinlich.
({5})
Des Weiteren soll der diesbezügliche Gesetzentwurf
des Bundesrates für erledigt erklärt werden, da der Bundesrat bei einem im Wesentlichen ohnehin gleichen Regelungsinhalt keine Einwände gegen den Regierungsentwurf geltend machen wird.
Zudem bedarf das Grundstoffüberwachungsgesetz
- es gibt keinen sachlichen Zusammenhang, aber einen
zeitlichen - infolge zweier EU-Verordnungen zur Änderung des EU-Grundstoffrechts der Anpassung an nationales Recht. - Ich freue mich so richtig, dass ich Jurist
bin. - Zeitlich war die Anpassung zunächst nicht eher
möglich. Das Anliegen ist es, mittels dieser Gesetzesänderung bestehende Strafbarkeitslücken zu schließen. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt hier einstimmig die
Zustimmung zur Gesetzesänderung.
({6})
- Danke.
Während hinsichtlich des Grundstoffüberwachungsgesetzes kein weiterer Erörterungsbedarf bestand, so
wurde bezüglich des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld von mehreren Seiten darauf verwiesen,
dass eine steuerfinanzierte Lösung - das haben wir
heute wieder hier gehört - zur Finanzierung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe vorzuziehen wäre. Aus
diesem Grund deshalb zu unser aller Erkenntnisgewinn
noch einige weiterführende Bemerkungen, die man aber
auch schon im Volltext des Bundesverfassungsgerichtsurteils hätte nachlesen können.
Alle Befürworter der Steuerfinanzierung übersehen
- in diesem Fall wurde es einmal nicht übersehen -,
dass, unabhängig davon, dass zurzeit kein Steueraufkommen zur Verfügung steht - es soll erst durch die fleißige und sachorientierte Arbeit der Koalition zukünftig
verfügbar sein;
({7})
die Hoffnung, dass es dazu kommt, ist begründet;
schließlich arbeite ich mittlerweile mit -, die Arbeitgeber selbst ein gesellschaftlicher Bestandteil sind und
dass die Entlassung der Arbeitgeber aus dem gesamtgesellschaftlichen Interesse Mutterschutz insofern weder
heute noch in Zukunft möglich sein wird.
({8})
Des Weiteren wird gern übersehen - das halte ich für
eine erstaunliche Denkleistung des Bundesverfassungsgerichts; man sollte sich die Volltexte doch ab und zu
durchlesen -, dass es gerade arbeitsplatzbedingte Gefahren sind, vor welchen die im Arbeitsverhältnis stehende
Mutter und das Kind sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung zu schützen sind. Davon geht
ja keine Gefahr für das Finanzamt aus, nicht wahr?
({9})
Es besteht eine Verantwortungsbeziehung
({10})
- hören Sie sich das doch ruhig einmal an! - des Arbeitgebers zum Zwecke der Regelung, sodass das Verfassungsgericht folgerichtig formuliert:
Die Verpflichtung der Arbeitgeber, einen Zuschuss
zum Mutterschaftsgeld zu zahlen, ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels auch geeignet
und erforderlich.
Warum wollen wir denn immer schlauer sein als das
Bundesverfassungsgericht? Manches kann man sich
doch sparen. Dort hat man ein umfassendes Anhörungsverfahren zur Entscheidungsfindung durchgeführt.
Wie dem auch sei, wir beenden heute mit unserer Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung satte
elf bzw. 13 Jahre - das ist eine Frage der Betrachtungsweise - Prozessgeschichte, welche 1992 begann und
über eine Verfassungsbeschwerde nunmehr zur Gesetzesänderung führt.
Ihnen allen ein besinnliches Weihnachtsfest und ein
gutes Jahr 2006.
Danke.
({11})
Herr Kollege Albach, Sie erwähnten es bereits selbst:
Es war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir
gratulieren Ihnen dazu sehr herzlich, verbunden mit den
besten Wünschen!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Spieth,
Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
Herrn Albach steht ein zweiter Thüringer an diesem
Pult. Es wird möglicherweise nicht ganz so vergnüglich,
aber mit Sicherheit auch nicht brottrocken, das kann ich
versprechen.
Herr Albach, möglicherweise hat dieses Gesetz, wenn
es irgendwann einmal bewertet wird, einen Vater. Insofern kann ich Sie beruhigen: Ihre Jungfernrede war amüsant und erfreulich. Sie gehen mit Ihrem Beitrag zu diesem Gesetz vielleicht in die Annalen ein.
Wir beraten heute eine Gesetzesänderung im Bereich
des Mutterschaftsgeldes. Im Kern geht es dabei darum,
Nachteile, die Frauen hieraus auf dem Arbeitsmarkt entstehen können, zu beseitigen. Es ist schade, dass die
Bundesregierung in diesem Fall erst auf Initiative eines
Gerichts, nämlich des Bundesverfassungsgerichts, tätig
wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf stärkt das Sozialstaatsgebot der Verfassung. Er bejaht die ihm zugrunde
liegenden Prinzipien des staatlich organisierten solidarischen und sozialen Ausgleichs. Er schafft - ich sage ausdrücklich, dass ich da gegenteiliger Meinung als Sie bin,
Herr Lanfermann - geradezu die Voraussetzungen für
fairen Wettbewerb der Unternehmen untereinander. Er
fördert die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau.
In diesem Sinne folgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung damit erfreulicherweise einer vollkommen anderen Logik, als es das Regierungsprogramm erkennen
lässt. So weit, so gut.
Während Sie, meine Damen und Herren insbesondere
auf der rechten Seite dieses Saales, üblicherweise mehr
Eigenverantwortung und die Senkung der Lohnnebenkosten fordern und damit eigentlich meinen, dass die
Vermögenden und die Besserverdienenden weniger Beiträge zu unseren Sozialsystemen leisten sollen, werden
Sie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes geradezu dazu gezwungen, einer anderen Philosophie zu
folgen, der Philosophie des in der Verfassung verankerten Sozialstaatsgebotes. Das Bundesverfassungsgericht
fordert Sie auf, mehr Chancengleichheit herzustellen.
Es verlangt von Ihnen, dass Sie für mehr Solidarität sorgen und Unternehmen in ein soziales Ausgleichssystem
einbeziehen, anstatt sie, wie es heute der Zeitgeist ist,
von solchen Verpflichtungen zu befreien. Wenn Sie
- auch dies sage ich deutlich - nicht davon überzeugt
sind, wie das in Ihrem Koalitionsvertrag eher zum Ausdruck kommt, werden Sie hier vom Bundesverfassungsgericht überzeugt, das Richtige zu tun.
Ihre abwartende Haltung bei der Neufinanzierung der
gesetzlichen Krankenversicherung spricht nach unserer
Auffassung in diesem Zusammenhang eine andere Sprache. Erste Stimmen aus der großen Koalition deuten an:
Das bisher ausgesparte Projekt „Finanzreform der GKV“
wird im Ergebnis offenkundig auf eine Mischung von
Kopfpauschale und Bürgerversicherung hinauslaufen,
bei der zu befürchten ist, dass wesentliche sozialstaatliche Elemente unter die Räder kommen.
({0})
Wir befürchten, dass Sie damit erneut Folgendes realisieren werden: weniger Solidarität der Gesunden mit den
Kranken, weniger Solidarität der gut Verdienenden mit
den Geringverdienern und weniger sozialen Ausgleich
zwischen jungen und alten Menschen. Nicht umsonst hat
es auch beim Mutterschaftsgeld zwei Jahre gedauert, bis
die Regierung tätig wurde.
Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass gesetzliche Verbesserungen für die Menschen, wenn sie denn
heute mit diesem Gesetz beschlossen werden, die Folge
von Gerichtsurteilen und nicht das Ergebnis eigener politischer Überzeugungen sind. So war das - erinnern wir
uns! - bei der Anhebung des Kindergeldes zu Beginn der
ersten rot-grünen Koalition und so ist das, wie heute beschlossen, bei der Arbeitszeitrichtlinie.
Das Bundesverfassungsgericht macht aber auch mit
der ewigen Leier von der unzumutbaren Belastung deutscher Unternehmen Schluss. Wie selbstverständlich wird
angesichts des vorliegenden Gesetzentwurfs von Wirtschaftsverbänden erneut die Forderung nach Steuerfinanzierung von Sozialleistungen und natürlich auch
nach Abschaffung der paritätischen Finanzierung gestellt. Dem widersprechen wir.
Hinsichtlich des vorliegenden Gesetzentwurfs der
Bundesregierung begrüßen wir die Einführung eines einheitlichen Umlagesystems, welches nicht mehr nach Unternehmensgrößen sowie nach privaten und öffentlichen
Unternehmen unterscheidet. Die Menschen in Deutschland erwarten sichere und nachhaltige soziale und solidarische Sicherungssysteme. Dies gilt auch für die gesetzliche Krankenversicherung. Machen Sie bei der
Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Bürgerversicherung im Sinne des vorgelegten
Gesetzentwurfs weiter! Dann haben Sie uns auf Ihrer
Seite.
Schönen Dank.
({1})
Herr Kollege, bei Ihnen war das ebenfalls die erste
Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ihnen gilt unser
Glückwunsch und gelten unsere guten Wünsche für die
weitere Arbeit!
({0})
Ich erteile der Kollegin Birgitt Bender, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie bereits dargelegt, beseitigt der vorliegende Gesetzentwurf
eine Schieflage, die uns zunächst vom Bundesverfassungsgericht attestiert werden musste. Mit der alten Regelung bestand die Gefahr, dass Betriebe mit mehr als 20
oder 30 Beschäftigten bei der Einstellung Frauen benachteiligen.
Wir begrüßen diesen Gesetzentwurf. Es ist richtig,
dass jetzt alle Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen inklusive des öffentlichen Dienstes und der Wohlfahrtsverbände in das Ausgleichsverfahren zu den Mutterschaftsleistungen einbezogen werden. Dies ist ein Schritt, der
Arbeitgeber, die viele Frauen beschäftigen, entlastet und
Arbeitgeber, die mehr Männer beschäftigen, an den Ausgaben für die Mutterschutzleistungen beteiligt. Wie heißt
es doch so schön? Kinder haben nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Es ist gut, dass diese Erkenntnis beim
Punkt Mutterschaftsleistungen nun auch im Arbeitsleben
ankommt.
({0})
Es gäbe sicherlich auch darüber hinaus noch frauenpolitischen Handlungsbedarf im Arbeitsleben. Aber das
ist ein anderes Thema.
({1})
Die Vereinheitlichung der Regelungen sowohl beim
Ausgleichsverfahren Mutterschaftsleistungen als auch
beim Ausgleichsverfahren Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall war bereits überfällig. Es ist richtig, dass jetzt
historische Relikte wie die Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten durch die
Einbeziehung der Ersatz- und Betriebskrankenkassen
abgeschafft werden. Auch ist die Einbeziehung der Arbeitgeber aus dem Feld der freien Berufe stringent und
systematisch richtig.
Bei der Umlageentgeltfortzahlung im Krankheitsfall
gelten in Zukunft erstens klare Regelungen für die Wohlfahrtsverbände, zweitens einheitliche Erstattungssätze,
drittens eine einheitliche, nicht von der Satzung der jeweiligen Krankenkasse abhängige Grenze, bis zu der
sich die Unternehmen an dieser Umlage beteiligen, und
viertens die Einbeziehung aller Krankenkassen. Dies
baut - das ist ein wichtiger Gesichtspunkt - Bürokratie
in den Personalabteilungen ab. Es ist jetzt für Betriebe
mit bis zu 20 bzw. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
eindeutig geklärt, dass für alle Beschäftigten die Umlage
greift. Es hängt nicht mehr von der Krankenkasse eines
oder einer Beschäftigten ab, ob das Umlagesystem greift
oder nicht.
Diese Vereinheitlichung ermöglicht es den Krankenkassen, diese Aufgabe zukünftig an eine kassenübergreifende Stelle zu übertragen. Ich hoffe, dass diese Chance
von den gesetzlichen Krankenkassen genutzt wird und
sich hierdurch weitere Vereinfachungen für die Betriebe
ergeben. Wir werden die Entwicklung in den nächsten
Jahren beobachten und feststellen, ob der Bürokratieabbau tatsächlich eintritt.
Abschließend noch ein guter Ratschlag in Richtung
der Kollegen von der FDP: Herr Kollege Lanfermann,
wenn man im Wahlkampf Plakate klebt, auf denen groß
„Steuern runter“ steht, dann sollte man sich vielleicht
anschließend mit der Forderung nach zusätzlichen
Staatsausgaben eher zurückhalten.
Danke schön.
({2})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über den Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und zur Änderung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
weiterer Gesetze, Drucksache 16/39. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/243, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der FDPFraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache
16/46 über den Arbeitgeberausgleich bei Fortzahlung
des Arbeitsentgelts im Fall von Krankheit und Mutterschaft. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/243, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein modernes Berufsbeamtentum
- Drucksache 16/129 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben einen Antrag vorgelegt, weil gerade die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in dieser Legislaturperiode ein sehr wichtiger Punkt sein wird.
Der Deutsche Beamtenbund, Verdi und der Bundesminister des Innern haben sich auf ein Eckpunktepapier geeinigt, das für Verbände wirklich vorbildlich ist. Denjenigen, die immer über Beamte herziehen, sage ich:
Schauen Sie sich einmal an, was diese Organisation geleistet hat und welchen Reformwillen sie gezeigt hat!
Das ist wirklich vorbildlich für viele andere.
({0})
Es geht jetzt darum, dass wir den hier gezeigten Reformwillen nicht verspielen und dass die Politik ihn
nicht konterkariert. Ich erinnere Sie noch einmal daran,
was parallel zur Arbeit der Föderalismuskommission
passiert ist. Der damalige Bundesinnenminister Schily
hat mit dem Deutschen Beamtenbund und auch mit
Verdi verhandelt und ein Papier entwickelt. Obwohl er
als Verfassungsminister eigentlich für die Föderalismusreform zuständig war, hat er sich aus der Föderalismuskommission völlig ausgeklinkt. Dort wurde etwas völlig
anderes beschlossen. CDU/CSU und SPD haben sich gemeinsam auf Punkte geeinigt, die zu dem, was Schily
mit dem Beamtenbund ausgehandelt hat, völlig konträr
waren. So kann man kein Vertrauen schaffen; so kann
man keine Politik machen.
({1})
Wir von der FDP bekennen uns zu einem modernen
Beamtentum. Wir brauchen das Beamtentum. Wir bekennen uns allerdings auch dazu, dass es auf die Kernaufgaben konzentriert wird. Wir bekennen uns insbesondere dazu, dass der Leistungsgedanke im Beamtentum
gestärkt wird und dass wir noch mehr Leistungskomponenten einarbeiten. In unserem Antrag finden Sie exakt
beschrieben, wie so etwas gehen kann.
Wir können nicht immer weiter an dieser und jener
Stelle kürzen. Denn wir brauchen eine leistungsfähige
Verwaltung. Dazu brauchen wir qualifizierte Beamte.
Diese bekommen wir aber nicht, wenn wir immer mehr
kürzen. Wir bekommen sie nur dann, wenn wir jetzt ein
Zukunftskonzept entwickeln. Wir müssen sagen, in welchen Aufgabenbereichen Beamte gebraucht werden.
Ich fordere die große Koalition und den Bundesinnenminister auf, in dieser Richtung tätig zu werden. Nur
dann werden wir eine leistungsfähige Verwaltung haben,
die wir ganz dringend brauchen. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht. Unterstützen Sie uns
und gehen Sie diesen Weg mit uns!
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
öffentliche Dienst ist die tragende Säule des Rechtsstaats. So ist es auch in dem Antrag der FDP formuliert.
Dem kann man völlig zustimmen. Es ist richtig und
wichtig, dass auch der öffentliche Dienst auf die sich ändernden Rahmenbedingungen eingestellt wird. Deshalb
ist es eine Daueraufgabe, das öffentliche Dienstrecht an
der Lebenswirklichkeit zu messen.
Entscheidend ist dabei, dass diese Veränderungen
nicht nur um ihrer selbst willen gemacht werden. Mit
den Maßnahmen muss zum einen die Leistungsfähigkeit
der öffentlichen Verwaltung gestärkt werden und zum
anderen müssen wir den Beschäftigten einen Rahmen
geben, in dem sie sich bewegen können. Das muss das
Ziel sein.
Der Kollege Burgbacher hat rekurriert auf die gemeinsame Initiative des Deutschen Beamtenbundes und
von Verdi, die sehr lobenswert ist. Sie hat am Ende dazu
geführt, dass sich aus diesem Vorschlag neue Wege für
den öffentlichen Dienst ergeben haben und ein Strukturreformgesetz entwickelt worden ist. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde vorgelegt; er fiel allerdings
der Diskontinuität zum Opfer.
Wir dürfen aber einen zweiten Bereich nicht vergessen, nämlich den Bereich der öffentlichen Angestellten.
Denn auch dort ist etwas passiert, das durchaus eines Lobes wert ist. Der Bund und die Gemeinden haben gemeinsam mit den Tarifparteien und den Beschäftigten einen
neuen Tarifvertrag ausgehandelt, der den überkommenen,
alten BAT ablösen wird. In diesem Zusammenhang ist
auch die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben worden. Beide Gruppen sind zukünftig einem einheitlichen Entlohnungssystem unterworfen.
Auch hier hat sich also vieles bewegt.
Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD vereinbart, dass das Beamtenrecht auf der Basis der
Vorschläge der Föderalismuskommission und des
Strukturreformgesetzes entwickelt wird. Die Leistungsbezogenheit des Dienstrechtes und der flexible Personaleinsatz werden also fortentwickelt und es wird ein Besoldungsrecht geschaffen, in dem die individuelle
Leistung der Beamtinnen und Beamten besser erfasst
werden kann.
Entscheidend bei diesen Gestaltungsmöglichkeiten,
die wir zukünftig haben werden, ist etwas, was auch in
Ihrem Antrag steht, nämlich dass das Dienstrecht so gestaltet wird, dass dabei möglichst wenig Bürokratie entsteht. Wenn man viele neue Komponenten in ein solches
System einfügt, wird es nicht gelingen - das kann ich aus
meiner persönlichen Erfahrung heraus sagen -, dies mit
den bisherigen Bordmitteln umzusetzen. Das wird automatisch dazu führen, dass wir andere Leistungsbeurteilungssysteme brauchen werden. Das Ganze wird komplexer werden. Als Gesetzgeber muss es unsere Aufgabe
sein, einen solchen Rahmen zu schaffen, der es den Behörden, die ihn dann auszufüllen haben, ermöglicht, die
eigene Verwaltung möglichst bürokratiearm zu gestalten.
({0})
Dies wird eine große Herausforderung werden. Ich
persönlich bin gespannt, wie dies akzeptiert werden
wird. Wir haben ja schon Erfahrungen mit Leistungskomponenten gemacht. Nach geltendem Recht ist es
durchaus möglich, Leistungszulagen und Leistungsprämien zu gewähren. Wenn Sie sich allerdings den behördlichen Alltag bzw. die Praxis anschauen, dann werden
Sie feststellen, dass von diesen als Motivation gedachten
Leistungselementen nur sehr sparsam Gebrauch gemacht
wird. Auch ist die Akzeptanz innerhalb des Personalkörpers durchaus streitig.
Ich bin dennoch der Auffassung, dass wir im Bereich
der Beamtenbesoldung stärker zur leistungsbezogenen
Bezahlung übergehen sollten. Ich teile allerdings nicht
den Vorschlag der FDP, gleich mit einer 20-ProzentMarge zu beginnen.
Ich will noch zu zwei Ziffern, die in Ihrem Antrag
enthalten sind, etwas sagen. Sie haben zum Ersten in der
Ziffer 6 breit ausgeführt, wie Sie sich das Verfahren der
Leistungsbeurteilungen in Zukunft vorstellen. In Ziffer 6
steht sicherlich nichts Falsches. Ich bin nur der Auffassung, dass nicht das deutsche Parlament, der Deutsche
Bundestag, der Adressat ist, an den sich diese Forderung
richten muss. Wir können zwar den gesetzlichen Rahmen dafür liefern. Aber es sollte dabei bleiben, dass es
eine Trennung zwischen der Ressortverantwortlichkeit
des Ministers und dem gibt, was wir als Parlamentarier
zu verantworten haben. Es ist ganz eindeutig, dass die
Beantwortung der Frage, nach welchem System, mit
welchen Mitteln und nach welchen Verfahren dienstliche
Beurteilungen stattfinden, im ausschließlichen Bereich
der Exekutive liegt. Das ist zwar für den Deutschen Bundestag von Interesse; in diesem Bereich haben wir aber
keine Regelungsmacht.
Zum Zweiten will ich die Ziffer 7 ansprechen, in der
Sie Führungsinstrumente dargestellt haben. Da gilt im
Grunde das Gleiche: Das betrifft natürlich den Bereich
des Ministers. Er muss seinen Bereich so organisieren,
wie es für das Ministerium richtig ist.
Ich will hier allerdings ganz deutlich sagen - denn in
Ihrem Antrag entsteht der Eindruck, dass es in der öffentlichen Verwaltung noch keine modernen Führungsinstrumente gäbe -: Es gibt in vielen öffentlichen Verwaltungen moderne Führungsinstrumente und moderne
Führungsmethoden. Die müssen nicht mehr eingeführt
werden. Sie sind vielmehr in vielen Verwaltungen in der
Bundesrepublik Deutschland bereits tägliche Praxis.
Auch das sollte an dieser Stelle gesagt werden.
Ich will zum Schluss auf das kommen, was Herr Kollege Burgbacher angesprochen hat, nämlich die Frage,
wie es weitergeht. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart
- das habe ich schon dargestellt -, dass die Ergebnisse
der Föderalismuskommission umgesetzt werden. Es gab
gestern dazu ein Gespräch mit den Ministerpräsidenten.
Das heißt, Teile, die bisher in den Regelungsbereich des
Deutschen Bundestages fielen, werden an den Regelungsbereich der Länder zurückgehen. Es handelt sich
um das Besoldungs-, Versorgungs- und Laufbahnrecht.
Ich glaube, dass wir hier im deutschen Parlament sicherlich noch Gelegenheit haben werden, im Detail zu erörtern und zu debattieren, was auf die Länder übertragen
wird und was sinnvollerweise weiter Regelungsgegenstand der Bundesebene bleibt.
Im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf bin ich der
Auffassung, dass wir erst diese Diskussion führen und
abschließen sollten, bevor wir uns dann dem zuwenden,
was für uns als Bund im Hinblick auf unsere Bundesbeamten übrig geblieben ist, sodass wir also in der zeitlichen Abfolge zunächst die Ergebnisse der Föderalismuskommission umsetzen sollten und uns anschließend dem
Strukturreformgesetz und dem Papier „Neue Wege im
öffentlichen Dienst“ widmen sollten. Mein Vorschlag
wäre, so zu verfahren. Dann hätten sich Teile des Antrags inhaltlich erledigt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehe
ich zum Detail komme, möchte ich etwas Grundsätzliches sagen. Wir - damit meine ich die Linkspartei - haben mit dem deutschen Beamtenwesen schon immer ein
Problem gehabt. Beamte genießen bestimmte Privilegien. Im Gegenzug aber müssen sie auf Bürgerrechte
verzichten. Sie müssen brav sein. Courage ist verboten.
({0})
Ich finde, das ist altbacken, preußisch und auch nicht
modern.
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vergleich
wiederholen, den die Kolleginnen und Kollegen, die dieses spannende Thema bereits in den letzten zwei Legislaturperioden bearbeitet haben, schon kennen, der aber
unser Verhältnis zum Beamtentum immer noch ganz gut
beschreibt: Die Linkspartei.PDS ist gegen Prostitution.
Aber solange es Prostitution gibt, so lange werden wir
uns dafür einsetzen, dass die Prostituierten nicht sozial
benachteiligt und ausgebeutet werden.
({1})
Dasselbe Prinzip legen wir bei der Bundeswehr an, die
wir eigentlich auch abschaffen wollen, ebenso bei Beamtinnen und Beamten.
({2})
Ich finde, dass auch die Beamtinnen und Beamten ein
Recht auf Vertrauensschutz haben. Das heißt, dass die
Eckpunkte für eine Reform des Beamtenrechts, die Bundesinnenminister a. D. Schily mit dem Beamtenbund
und Verdi ausgehandelt hat, nicht mir nichts, dir nichts
Makulatur werden können. Insofern stimme ich der FDP
zu: Auch Beamtinnen und Beamte haben ein Recht auf
Vertrauensschutz. Sie sind nicht der Spielball der Nation.
({3})
Die FDP fordert weiter, nur noch dort Beamtinnen
und Beamte einzusetzen, wo es um die so genannten
Kernaufgaben des Staates geht, beispielsweise bei der
Polizei. Dies läuft darauf hinaus, das ausufernde Beamtenwesen zu begrenzen. Das finde ich - entsprechend
meiner Eingangsbemerkung - völlig richtig.
Nun sollen Beamtinnen und Beamte künftig mehr
nach ihrer Leistung bezahlt werden und weniger nach
ihrem Dienstalter. Das klingt gut, vorausgesetzt, es gibt
objektive Kriterien, nach denen die Leistung von Beamtinnen und Beamten gerecht bewertet werden kann. Gerecht heißt aber auch, dass bundesweit ein einheitliches
Dienstrecht gelten muss und nicht in jedem Bundesland
ein anderes. Letzteres würde nämlich ganz schnell zu
Beamten erster, zweiter und dritter Klasse führen, nicht
weil ihre Leistungen erst- oder drittklassig sind, sondern
weil wir arme und reiche Bundesländer haben. Ich finde,
auch für Beamtinnen und Beamte muss gelten: Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit!
({4})
Damit bin ich allerdings bei einer übergeordneten Debatte, der Föderalismusreform. Sie ist nötig und
schwierig. Sie ist nötig, weil die bestehenden Strukturen
und Kompetenzen schwer zu überschauen sind. Wenn
aber etwas schwer zu überschauen ist, dann ist es meist
auch wenig demokratisch. Sie ist schwierig, weil sich bei
der Föderalismusreform zwei Grundkonzepte gegenüberstehen: Die einen wollen einen Wettbewerbsföderalismus. Das klingt gut, ist aber schlecht, weil es zulasten
der kleinen und ärmeren Bundesländer gehen würde. Die
Linkspartei will einen solidarischen Föderalismus, was
im Übrigen dem Grundgesetz und dem Anspruch auf
gleiche Lebensverhältnisse entsprechen würde.
({5})
Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Kollegin Pau, ich bin schon erstaunt, welches Klischee Sie pflegen. Sie haben Ihren Redebeitrag
mit einem Verweis begonnen und sich gewissermaßen
selbst zitiert, indem Sie einen Vergleich gebracht haben,
den Sie schon in den letzten Wahlperioden angeführt haben. Vielleicht bietet Ihnen diese Debatte die Gelegenheit, Ihr Bild von engagierten, auch zivilcouragierten
Beamtinnen und Beamten im öffentlichen Dienst zu
überprüfen. Ich glaube, das wäre dringend geboten.
({0})
Aber dies steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Im
Mittelpunkt der Debatte steht der Aufschlag, den die
FDP-Fraktion mit ihrem Antrag „Für ein modernes Berufsbeamtentum“ gemacht hat. Eine Duplizität der Ereignisse: Vor knapp einem Jahr haben Sie hier einen vergleichbaren Aufschlag gewagt. Wohl wahr, wir beraten
nunmehr im Kontext der großen Koalition.
Es ist vorgetragen worden: Wir hatten den Entwurf eines Strukturreformgesetzes gewissermaßen ante portas.
({1})
- Ja, aber er hat uns noch nicht im geordneten parlamentarischen Verfahren beschäftigt. - Diskontinuität erfordert nun neue Aktivitäten.
Positiv möchte ich zunächst hervorheben, dass der
Antrag sich auf das Eckpunktepapier „Neue Wege im öffentlichen Dienst“ bezieht, das - da muss ich Ihnen widersprechen - von Herrn Schily wesentlich geprägt
wurde. Sie haben versucht, das so darzustellen, als hätte
Herr Schily seinen eigenen Reformimpuls konterkariert.
Das sehe ich anders.
({2})
- Auf die Föderalismusreform komme ich noch zu sprechen.
Der Antrag, der nunmehr vorliegt, unterscheidet sich
substanziell von dem seinerzeit eingebrachten Antrag,
und zwar durch die Behauptung, die Koalitionsvereinbarung beschreibe nichts Konkretes. Ich halte dem entgegen: Koalitionsvereinbarungen sind keine ausformulierten Gesetzentwürfe. Die Koalitionsvereinbarung ist,
gerade was den Bereich des öffentlichen Dienstes anbelangt, nach meiner Überzeugung hinreichend konkret. In
dem, was wir zur Modernisierung des öffentlichen
Dienstrechtes auflegen, müssen allerdings wichtige Eckpunkte der Verabredung zur Föderalismuskommission
mitbedacht werden.
In der Koalitionsvereinbarung ist verabredet, Art. 33
Abs. 5 des Grundgesetzes zu modifizieren und zu ergänzen: Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums sind nicht nur zu regeln, sondern auch fortzuentwickeln.
({3})
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir den schlichten
Hinweis, dass der damalige Bundesinnenminister, Otto
Schily, selber dies Anfang dieses Jahres in die Debatten
zur Föderalismuskommission eingebracht hat.
In Ihrem Antrag wird zumindest für mich nicht überzeugend deutlich, wie Sie zu dieser Verfassungsänderung stehen. Ihre Frage „Was heißt das eigentlich?“
möchte ich anhand eines konkreten Beispieles beleuchten. Sie behaupten, die hergebrachten Grundsätze des
Berufsbeamtentumes böten genügend Spielraum für eine
umfassende Fortentwicklung und Erneuerung des Beamtenrechtes. Aber diese Behauptung blendet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes aus. Danach
sind zum Beispiel Kinderzuschläge in der Besoldung
zwingend geboten. Solche familienstandsabhängigen
Leistungen sind wiederum Ausdruck des Unterhaltscharakters der Beamtenbesoldung und widersprechen
dem Kerngedanken, das Leistungsprinzip deutlich auszugestalten. Deshalb werden wir uns hier sehr intensiv
mit der Änderung von Art. 33 Abs. 5 im Kontext der
Verabredung zur Föderalismuskommission befassen
müssen.
Ich erwähnte, dass in der Koalitionsvereinbarung
ebenso fixiert ist, die Leistungsbezogenheit des Dienstrechtes und einen flexiblen Personaleinsatz herbeizuführen. Herr Kollege Göbel verwies darauf, dass das Eckpunktepapier dabei eine wichtige Orientierung bietet,
ebenso der Entwurf des Strukturreformgesetzes. Zugleich wurde aber in der Koalitionsvereinbarung ein Abwägungsgebot vereinbart, den damit verbundenen Verwaltungsaufwand kritisch zu würdigen, damit unnötige
Apparate vermieden werden.
Das, was die alte Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen beabsichtigte, wird man
mit Sicherheit nicht eins zu eins umsetzen können, weil
weitergehende Verabredungen, die über Art. 33 Abs. 5
hinausgehen, zu berücksichtigen sein werden. Insofern
teile ich Herrn Göbels Vorschlag einer Schrittfolge: Zunächst arbeiten wir die Verabredung im verfassungsrechtlichen Bereich ab, dann gehen wir in das konkrete
Gesetzgebungsverfahren.
({4})
Eine Anmerkung, mit der ich jeglichen Missverständnissen vorbeugen will: Auch für mich gilt das in der
Föderalismuskommission Vereinbarte. Gleichwohl
- Herr Göbel hat eine Andeutung gemacht; ich möchte
über diese Andeutung hinausgehen - nehme ich die Hinweise der Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein
und Mecklenburg-Vorpommern sehr ernst, die im Vorfeld der gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz - so
war es in der „FAZ“ zu lesen - ihre Einwände formuliert
haben. Sie waren offenkundig gar nicht davon begeistert,
die ihnen zugedachten Kompetenzen tatsächlich übertragen zu bekommen. Ich sage es mit meinen Worten:
Möglicherweise halten sie das, was ihnen angereicht
wird, eher für ein trojanisches Pferd. Sie sehen zusätzlichen Personalaufwand, eine Erschwernis insbesondere
für die finanzschwachen Bundesländer. Auch wenden
sie ein, dass sich die Spitzenkräfte natürlich bei den finanzstarken Bundesländern bewerben und dort ihre
Dienstherren suchen werden.
Nun haben die Ministerpräsidenten einen einstimmigen Beschluss gefasst, sich gewissermaßen zu dem in
dem Koalitionsvertrag Vereinbarten bekannt. Gleichwohl haben die Vertreter der beiden angesprochenen
Länder Fußnoten formuliert, die uns in der weiteren parlamentarischen Beratung des beamtenrechtlichen Teils
der Föderalismuskommission begleiten werden. Ich
glaube - Herr Göbel, auch das habe ich sehr wohl vernommen -, dass wir ganz schön aufpassen müssen, damit wir in diesem Gesetzgebungsprozess nicht das Kind
mit dem Bade ausschütten.
Lassen Sie mich abschließend zum Spannungsverhältnis zwischen der Modernisierung des öffentlichen
Dienstrechtes und dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand grundsätzlich anmerken: Auch wenn
- das ist Realität - zeitgleich über Beiträge des öffentlichen Dienstes zur Haushaltssanierung gesprochen werden muss, darf die Modernisierung des Beamtenrechts
kein verkappter Sanierungsbeitrag für den Bundeshaushalt sein. Die Modernisierung des Beamtenrechts zielt
darauf ab, dass das Äquivalent für berufliches Engagement leistungsbezogen ausgestaltet werden kann. Dies
wiederum setzt, über die verwandten Instrumente hinaus, voraus, dass nachvollziehbare Kriterien für eine
letztendlich als gerecht empfundene Beurteilung des Geleisteten zur Verfügung stehen. Damit gehen hohe Anforderungen an die Personalarbeit in den Verwaltungen
einher. Herr Göbel, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist. Wenn
es aber um das Phantom Verwaltungsaufwand geht,
muss man auch - gerade bei diesem ModernisierungsSiegmund Ehrmann
projekt - die gewissermaßen reformimmanenten, notwendigen Zusatzkosten betrachten.
Moderne Personalarbeit hat die Aufgabe, eine Führungskultur zu entwickeln, in der die Mitarbeiter- und
Beurteilungsgespräche nicht als lästige Pflicht, sondern
als grundlegendes Instrument der Personalentwicklung
betrachtet und praktiziert werden. In diesem Kontext
kommt der Auswahl und der Qualifizierung der Führungskräfte und des Führungskräftenachwuchses eine
Schlüsselrolle zu. Das sind - ich erwähnte es bereits zugegebenermaßen Kosten, die aber nach meiner Überzeugung letztendlich rentierlich sein werden; denn nur
durch eine so geprägte Verwaltungsstruktur wird die
Motivation der Beschäftigten und dadurch bedingt die
Qualität und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auf einen Stand gebracht, der Vergleiche nicht zu
scheuen braucht.
Zusammenfassend: Die große Koalition wird weiterhin den vereinbarten Modernisierungspfad mit Sorgfalt
beschreiten. Ich sehe dem Entwurf des Strukturreformgesetzes, aber auch dem Prozess der Umsetzung der Ergebnisse der Föderalismusreform mit großem Interesse
entgegen.
Die Ermahnung, die Machiavelli in seinem Werk
„Über die Reform des Staates Florenz“ hinterlassen hat,
sollte uns dabei leiten - das gilt nicht nur für dieses Gesetzgebungswerk -:
Wenn Reformen dauerhaft sein sollen, so müssen
sie langsam
- ich ergänze: und sorgfältig durchgeführt werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haltung der FDP in dieser Frage ist total widersprüchlich.
({0})
Ich muss sagen, ich habe weder Ihren Antrag noch Ihre
Rede nachvollziehen können. Sie haben zu Recht gesagt,
die große Koalition hat sich darauf verständigt, die Zuständigkeit für die Beamten weitestgehend auf die Länder zu übertragen. Dies kann sie aber nur mit Ihrer Zustimmung machen. Diesen zweiten Satz haben Sie
verschwiegen.
Ich habe mir die Sitzungsergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz sehr genau angeschaut. Ich habe mir
auch die Fußnoten angesehen. Sie kamen aus SchleswigHolstein und Mecklenburg-Vorpommern, sie kamen
nicht aus Niedersachsen oder einem der anderen Länder,
in denen Sie mitregieren. Übernehmen Sie bitte für das
Verhalten Ihrer Parteikollegen in den Ländern auch hier
im Bundestag die Mitverantwortung.
({1})
Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen
kommen. Ich glaube, dass wir im Interesse der Bediensteten tatsächlich eine intensive Debatte darüber führen
müssen, in welche Richtung es mit der Modernisierung
des öffentlichen Dienstes und insbesondere des Beamtenrechts gehen soll. Ich sehe keinen Modernisierungsschritt darin, einerseits zu sagen, dass man 17 Gesetze zu
Besoldung und Pensionen braucht - eines in jedem Bundesland und eines auf Bundesebene -, und andererseits
zu sagen, dass man den Inhalt eines Eckpunktepapiers
umsetzen will. Diejenigen, die die Debatte der vergangenen Jahre mitbekommen haben, wissen sehr genau, dass
mit dem Eckpunktepapier der Versuch unternommen
worden ist, die Übertragung von Kompetenzen auf die
Länder zu verhindern. Dazu sollten wir uns auch im Interesse derjenigen, über die wir sprechen, offen bekennen.
Was ich am Antrag der FDP, in dem es ja um Modernisierung geht, überhaupt nicht verstanden habe, ist, dass
Sie einerseits für die Übertragung von Kompetenzen auf
die Länder sind und somit 17 Gesetze zum Beamtenrecht bei Ihnen Modernisierung bedeuten, und dass Sie
andererseits strikt an der heutigen Formulierung des
Grundgesetzes festhalten wollen. Wir sagen ganz klar:
Mit dem engen Korsett des Art. 33 des Grundgesetzes
werden wir in diesem Bereich die notwendige Weiterentwicklung und Modernisierung nicht hinbekommen.
Als Grüne sage ich auch, dass sich in Zukunft erneut
die Statusfrage stellen wird. Ich will diesen Weg weiterhin im Dialog mit den Bediensteten und den Gewerkschaften gehen. Das heißt, wir müssen den Status weiterentwickeln und ihn europatauglich machen. Beamte
müssen zum Beispiel zwischen den verschiedenen Ebenen - Kommune, Land und Bund - wechseln und auf
Zeit in europäischen und internationalen Institutionen arbeiten können. Aufgrund der Hemmnisse beim Wechsel
zwischen Wirtschaft und Verwaltung werden wir eine
Weiterentwicklung des Status durchführen müssen. Das
Endziel, das wir anstreben - das haben wir immer
gesagt -, besteht darin, in kleinen Schritten den Weg hin
zu einem einheitlichen öffentlichen Dienstrecht zu gehen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der
mich richtig entsetzt hat: Sie stellen als positiv heraus,
dass es das Streikverbot gibt, und Sie nennen Personalräte ein bürokratisches Hindernis. Das ist schlicht gewerkschaftsfeindlich. Die Einführung von Leistungskomponenten, die wir ja wollen, können wir nur
erreichen, wenn wir die Mitbestimmungsrechte stärken,
anstatt sie als bürokratische Hindernisse zu bezeichnen.
Auch in diesem Punkt widersprechen wir Ihrem Antrag,
der die gewerkschaftsfeindliche Haltung der FDP zum
Ausdruck bringt, ganz eindeutig.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Frau Stokar muss ich nicht viel sagen, außer dass
sie vielleicht nicht bemerkt hat, dass unsere Vorschläge
nichts anderes als die rasche Umsetzung des Eckpunktepapiers bedeuten, das immerhin die Unterschrift
des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske trägt.
({0})
Indem wir unseren Antrag einbringen, wollen wir der
Koalition die Gelegenheit geben, in einigen Punkten
Klarheit zu schaffen. Die heutigen Beiträge der Redner
der Koalition haben diese Klarheit leider nicht gebracht.
Jetzt haben die beiden Redner von SPD und CDU/CSU
zur Übertragung von Kompetenzen auf die Länder eher
Zweifel formuliert. Wir werden uns überraschen lassen,
wie ihre endgültige Haltung sein wird. Mir zumindest ist
sie nicht klar geworden.
Allerdings haben Sie sich - das ist begrüßenswert für die Fortführung der von Herrn Schily gemeinsam mit
dem Deutschen Beamtenbund und Verdi ausgehandelten
Reform ausgesprochen. Wir sind der Meinung, dass
diese Reform auf jeden Fall umgesetzt werden muss;
denn wir wollen den guten öffentlichen Dienst, den wir
haben, modernisieren. Für den Bund besteht, egal wie
die Kompetenzen letztlich verteilt sind, auf jeden Fall
die Notwendigkeit, diese Reform durchzuführen.
({1})
Der eigentliche Grund für meine kurze Wortmeldung
ist, dass der Kollege Wolfgang Bosbach, Fraktionsvize
der CDU/CSU, in der Aussprache über die Regierungserklärung für weitere Unklarheit gesorgt hat. Es gibt
nämlich einen Widerspruch zwischen dem, was in der
Koalitionsvereinbarung angekündigt wurde - finanzielle
Einschnitte für die Beamten; insbesondere hat Herr
Schäuble ja von einer deutlichen Kürzung des Weihnachtsgeldes, auch für die Pensionäre, gesprochen -, und
den Ausführungen von Herrn Bosbach, der addiert hat,
welche Belastungen den Beamten in den letzten Jahren
zugemutet worden sind, und der daher für einen fairen
Umgang mit ihnen plädiert. Bitte nutzen Sie die heutige
Debatte dazu - noch sind es einige Tage bis
Weihnachten -, klarzustellen, was in diesem Punkt von
der Koalition denn zu erwarten ist.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/129 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung
- Drucksache 16/194 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Koalitionsfraktionen legen wie im Koalitionsvertrag vereinbart ein erstes Paket vor. Wir zeigen damit Handlungsfähigkeit und vor allen Dingen, dass wir es ernst
meinen mit dem, was wir im Koalitionsvertrag im Zusammenhang mit Gesundheitspolitik und Pflegepolitik
vereinbart haben. Ich glaube, dass dies überfällig ist,
dass wir reagieren mussten. Man muss sich nur einmal
die Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung anschauen.
({0})
In allen Bereichen haben wir deutliche Einsparungen.
Der einzige Bereich, der aus dem Rahmen fällt, sind die
Arzneimittelkosten. Hier hatten wir in den ersten drei
Quartalen ein Kostenplus von 19,1 Prozent. Hierfür
hatte die gemeinsame Selbstverwaltung von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der
gesetzlichen Krankenkassen ein Ausgabenplus von
8,1 Prozent angepeilt. Dieses Ziel haben sie deutlich verfehlt. Die Selbstverwaltung hat ihre Hausaufgaben hinsichtlich der Kontrolle also ganz klar nicht gemacht.
({1})
Deshalb ist es wichtig, dass der Gesetzgeber rasch und
entschieden handelt.
Heute behandeln wir ein Sparpaket in erster Lesung,
mit dem wir genau diesen Druck aus dem System nehmen wollen. Denn wir brauchen Beitragsstabilität und
wir brauchen verlässliche Rahmenbedingungen, um uns
- wie es im Koalitionsvertrag nachzulesen ist - im
Jahr 2006 in aller Ruhe auf eine große Finanzreform zu
verständigen.
Nun mussten wir heute lesen, dass einige AOKs die
Beitragssätze dennoch anheben wollen. Ich fordere von
dieser Stelle die Landesregierungen - bei denen die Aufsicht liegt - ganz deutlich auf, sich die Berechnungen
näher anzuschauen und ihre Aufsichtsfunktion hier ein
Stück weit wahrzunehmen.
({2})
Denn es kann nicht sein, dass uns eine andere Zahl gemeldet wird als diejenige, die praktisch Grundlage der
Beschlüsse ist.
({3})
Nur eine Zahl kann stimmen!
Wenn beispielsweise die AOK Hessen dem Schätzerkreis ein Plus von 90 Millionen Euro meldet, gleichzeitig aber eine Beitragssatzanhebung fordert, dann haben
doch die Versicherten - und um diese geht es doch - einen Anspruch darauf, zu wissen, worauf diese zurückzuführen ist. Uns hat man immer gesagt, man braucht ein
Arzneimittelpaket; dies würde von den Kassen begrüßt
und es würde zur Beitragsstabilität beitragen. Ich denke,
der Gesetzgeber ist hier deutlich in Vorleistung getreten,
er hat Wort gehalten. Ich erwarte das Gleiche jetzt auch
von der Kassenseite.
({4})
Denn nur so kommen wir miteinander weiter.
Was sind die Bestandteile des Pakets, das die Koalitionsfraktionen hier vorgelegt haben?
Erstens. Wir machen Schluss mit der unsäglichen Praxis der Naturalrabatte. Man konnte in einem großen
Wochenmagazin lesen, wie diese Praxis aussieht. Es ist
nicht in Ordnung, dass Geschäfte zulasten der gesetzlichen Kassen und zulasten der Beitragszahler gemacht
wurden. Die Verkäuferin trägt mit ihren Beiträgen quasi
dazu bei, dass ein Zusatzgeschäft gemacht wird - das
war so nie vorgesehen -, indem demjenigen, der zehn
Schachteln eines Medikaments bestellt, zwei Schachteln
umsonst gewährt werden und dass diese zulasten der
GKV abgerechnet werden. Diese Praxis stellen wir mit
den Maßnahmen dieses Paketes ab. Das ist überfällig.
Die Versicherten haben einen Anspruch auf Wahrheit
und Klarheit. Es gibt eine klare Regelung, es gibt klare
Strukturen. Diese gilt es einzuhalten.
({5})
Das Ganze wird von einem Preisstopp und der Absenkung der Preise bei Generika flankiert. Wir sind der Auffassung, dass wir auch in diesem Bereich Wirtschaftlichkeitspotenziale erschließen müssen.
Zweitens. Im Rahmen der Festbeträge wird künftig
strikter danach unterschieden, welche Produkte eine Innovation darstellen und welche Produkte diesen Kriterien nicht entsprechen.
({6})
Auch bei den Festbeträgen haben wir Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben. Es war überfällig, dass wir stärker differenzieren, wo es um echte Innovationen für die
Patientinnen und Patienten geht und wo es darum geht,
Zusatzkosten einzusparen.
Drittens. Wir möchten - auch dieser Aspekt in diesem
Sparpaket ist mir sehr wichtig -, dass die Ärzte mehr
Verantwortung übernehmen und dass sie auf unserer
Seite stehen. Ich finde es etwas befremdlich, wenn wir
Äußerungen lesen müssen, dieses Paket sei ein „Geiz ist
geil“-Paket. Es wäre besser, wenn diejenigen Ärztevertreter, die so etwas sagen, erst einmal genauer hinsehen
würden.
({7})
Bislang war es so, dass diejenigen, die sich um ihre
Patientinnen und Patienten gekümmert haben, die sich
gut verhalten haben und Medikamente sparsam und wirtschaftlich verordnet haben, damit sie Raum haben, um
den Patienten, die es brauchen, wirklich Innovationen
zukommen zu lassen, im System nicht ausreichend gewürdigt und belohnt wurden. Damit machen wir Schluss.
Wir möchten, dass klar und wirtschaftlich verschrieben
wird. Wir möchten die individuelle Verantwortung der
Ärzte stärken.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass im
Rahmen dieses Paketes das erste Mal die Praxissoftware zertifiziert wird. Es war nicht in Ordnung - auch
das wurde aufgedeckt -, dass Pharmafirmen die Software subventionieren, damit ihre Produkte als Produkte
der ersten Wahl ausgewiesen werden, auch wenn sie es
vom therapeutischen Nutzen her gar nicht sind.
Das hier vorliegende Paket erfüllt meiner Meinung
nach drei Kriterien: Wir erhöhen zum Ersten die Transparenz im System; wir heben zum Zweiten die Effizienzreserven; wir gehen zum Dritten sparsamer und wirtschaftlicher mit den Beiträgen der Versicherten um. Ich
glaube, das ist ein mutiger und wichtiger Schritt nach
vorne. Die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker werden
bei ihren Beratungen mit Sicherheit noch zusätzlich den
einen oder anderen Aspekt aufspüren. Wir aber haben
Wort gehalten, so wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch
gar nicht lange her, dass das GMG beschlossen worden
ist. Gerade einmal zweieinhalb Jahre liegt das zurück.
Ich habe den Eindruck, dass Sie, Frau Staatssekretärin,
Daniel Bahr ({0})
von Ihren eigenen vollmundigen Versprechungen eingeholt worden sind.
({1})
Was haben wir nicht alles gehört, was das GMG erreichen sollte! Wir müssten im Durchschnitt längst bei einem Beitragssatz von 13,0 Prozent sein, wenn man den
Sonderbeitrag einmal unberücksichtigt lässt. Im Durchschnitt liegt er aber bei 14,0 Prozent.
Sie haben das GMG damals mit der gleichen Argumentation und Begründung eingebracht wie dieses Gesetz. Sie wollen die Wirtschaftlichkeitsreserven im
System heben. Wenn das so einfach wäre, dann hätten
Sie das doch schon längst tun können.
({2})
Aufgrund der Vorschläge, die Sie damals im GMG gemacht haben, gab es doch schon viele Stellschrauben,
zum Beispiel die Festbeträge und andere. Von daher bin
ich sehr skeptisch, ob die Wirtschaftlichkeitsreserven,
von denen Sie sprechen, mit diesem erneuten Arzneimittelsparpaket realisiert werden.
Gerade heute haben die AOK Hessen und die
AOK Schleswig-Holstein angekündigt, ihre Beiträge zu
erhöhen. Noch in der letzten Woche haben Sie geschimpft, als Allgemeine Ortskrankenkassen angekündigt haben, sie überlegten, die Beiträge zu erhöhen. Sie
haben gesagt, es kann doch nicht angehen, dass schon
die Überlegungen in den Medien so dargestellt werden,
als ob die Beiträge erhöht werden. Heute haben die Allgemeinen Ortskrankenkassen in Hessen und in Schleswig-Holstein entschieden, dass sie die Beiträge erhöhen.
Sie reagieren erneut mit einem Ausweichmanöver, indem Sie jetzt die Aufsichtsbehörden einschalten.
({3})
Nehmen Sie doch endlich einmal die reale Situation
wahr, dass die beitragspflichtigen Einnahmen im nächsten Jahr nicht steigen, sondern möglicherweise sogar zurückgehen werden und dass die Leistungsausgaben um
voraussichtlich 3 Prozent steigen werden. Das hat auch
seine Gründe. Das ist nämlich unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Zahl chronisch kranker Menschen steigt und dass therapeutische Verbesserungen zumindest in den Anfangsjahren im Regelfall eher teurer
sind.
Eine weitere Ursache ist das Wegbrechen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Davor
warnt der Sachverständigenrat. Man erkennt an Ihren
Annahmen, dass Sie das bisher nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Hinzu kommt, dass allen Beteuerungen
zum Trotz immer wieder die Lasten aus anderen sozialen
Sicherungsbereichen in die gesetzliche Krankenversicherung verschoben werden, wie das unlängst erst wieder durch Hartz IV geschehen ist.
Ja, durch die Entscheidung der großen Koalition wird
das mit dem Wegfall des Bundeszuschusses zu den versicherungsfremden Leistungen und der Anhebung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozent sogar noch weiter betrieben. Hier wird die gesetzliche Krankenversicherung
weiter belastet. Deswegen kann ich verstehen, dass die
Krankenkassen unsicher sind und Sorgen haben, dass
das zu Belastungen und damit zu Beitragserhöhungen
führt.
({4})
Die Großkoalitionäre müssen jetzt für ihre Entscheidung aus dem Jahre 2003 haften, keine grundlegende
Reform des Systems geschultert zu haben. Sie haben
versucht, sich mit Kostendämpfungsmaßnahmen über
die Runden zu retten. Im Arzneimittelbereich hat das
zwar zum Beispiel dazu geführt, dass im Jahr 2004 wegen der Vorzieheffekte in 2003 und der Anhebung des
Herstellerrabattes von sechs auf 16 Prozent künstliche
Einsparungen erzielt werden konnten. Das hat jedoch im
Jahr 2005 - das war absehbar - zu einer ebenso künstlich
aufgeblähten Steigerung der Arzneimittelausgaben
von voraussichtlich 14 Prozent geführt, die sich zu einem Teil auch durch eine Zunahme der Befreiung von
der Zuzahlung erklärt. Etwa 8 Prozent dieser Steigerung
sind dabei aufgrund des GMG übrigens erwartet worden.
Es ist ja nicht so, dass die Steigerung der Arzneimittelausgaben, die wir in diesem Jahr erleben, nicht schon im
Jahre 2003 einkalkuliert worden ist. Also muss man sich
über die Steigerung der Steigerungsrate unterhalten, die
Sie ursprünglich einkalkuliert haben. Dann sieht das zumindest schon etwas anders aus.
Diese in weiten Teilen selbst geschaffene Steigerungsrate nimmt man nun zum Anlass, den heute schon
durch eine ungeheure Vielzahl von unterschiedlichsten
Instrumenten überregulierten Arzneimittelbereich noch
einmal mit zusätzlichen Kostendämpfungsversuchen zu
drangsalieren.
({5})
Eines der schönsten Instrumente ist übrigens die Möglichkeit für die gesetzlichen Krankenkassen, über die in
einem mühsamen und aufwendigen Verfahren einheitlich und gemeinsam durch die Spitzenverbände der
Krankenkassen nach Vorarbeit durch den Gemeinsamen
Bundesausschuss ermittelten Festbeträge hinausgehen
zu dürfen, wenn nachgewiesen wird, dass diese Mehrausgaben durch Rabatte desselben Herstellers wieder
eingespielt werden können.
({6})
Verworrener, bürokratischer und aufwendiger geht es
wirklich kaum noch.
({7})
Wer eine solche Flexibilisierung schaffen will, der muss
sich von der Vorstellung einheitlicher und gemeinsamer
Festbeträge lösen und diese durch kassenindividuelle
Festzuschüsse ersetzen.
({8})
In der Presseerklärung des Bundesgesundheitsministeriums zum Arzneimittelgesetz vom 2. Dezember 2005
heißt es:
Daniel Bahr ({9})
Die gesetzliche Krankenversicherung stünde finanziell noch erheblich besser da, wenn die Ausgabenzuwächse im Arzneimittelbereich im Rahmen der
von der Selbstverwaltung vereinbarten Steigerungsrate geblieben wären. Das Versagen der Selbstverwaltung
- Sie haben es eben wiederholt bei der Steuerung der Arzneimittelausgaben erfordert deshalb weiteres Handeln des Gesetzgebers, …
Ich erwarte Rationierungen aufgrund des Gesetzes.
Wenn das bedeuten soll, dass die Ministerin diese zukünftig mitverantworten will, dann ist das anscheinend
nur zu begrüßen. Zumindest wird so argumentiert.
Es wird zukünftig noch weitere Festbeträge geben
und ihre Höhe wird nach unten korrigiert, aber nicht
etwa durch diejenigen, die das Geschäft seit Jahren betreiben, nämlich durch die Selbstverwaltung, sondern
erstmals durch den Gesetzgeber. Die Regelung wird
dazu führen, dass mehr Patienten deutlich mehr für ihre
Arzneimittel bezahlen müssen. Die Pharmaunternehmen werden ihre Preise nicht zwangsläufig auf die Festbeträge absenken. Das kann man wollen, dann soll man
das aber auch deutlich sagen. Eine mit Ausnahme der
Selbstbeteiligung voll finanzierte Arzneimittelversorgung gibt es nur noch für das Notwendigste. Das ist aber
nicht immer das Beste. Wenn selbst die Krankenkassen
die Kostenübernahme bestimmter Medikamente durch
die Neuregelung nicht mehr in voller Höhe gewährleistet
sehen - die BKK hat darauf hingewiesen -, dann sollte
uns zumindest nachdenklich stimmen, dass das selbst die
Krankenkassen tun.
Die Bundeskanzlerin hat vor der Wahl verkündet, den
Pharmastandort Deutschland stärken zu wollen. In ihrer
Regierungserklärung hat sie dies erneut bekräftigt. Davon findet sich in dem vorgelegten Entwurf allerdings
nicht viel wieder. Ein zweijähriges Preismoratorium,
Preisabschläge für Generika, die ganz nebenbei eigentlich den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt beleben, die eben schon angesprochene Absenkung der Festbeträge, eine Bonus-Malus-Regelung für Ärzte bei
Überschreiten so genannter Tagestherapiekosten, die
dazu führen werden, dass sich die Ärzte mehr um den
Preis als um die Qualität ihrer Therapie sorgen müssen,
all das ist wohl eher nicht geeignet, die Zielsetzung der
Kanzlerin zu befördern.
Da hilft auch der Versuch nicht sonderlich weiter, innovationsfreundlicher als bisher zu definieren, was unter
einem neuartigen Arzneimittel zu verstehen ist. Die
jetzt im Gesetz verankerte Definition ist nämlich gar
nicht weit von dem entfernt, was der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Verfahrensordnung bereits festgelegt hat.
({10})
Die Bundesministerin scheint eine Strategie wie auf
dem Basar zu verfolgen, nämlich immer weit über das
Ziel hinauszupreschen. Die CDU/CSU scheint sich darin
zu erschöpfen, das Schlimmste zu verhindern. Damit
kommen wir im Gesundheitswesen nicht weiter. Ich bin
auf die Anhörung zu diesem Gesetz gespannt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Bahr. An dieser Stelle zu
behaupten, das GMG, das GKV-Modernisierungsgesetz,
habe nicht gewirkt, ist nicht richtig.
({0})
Sie wissen genauso gut wie wir alle: Zum damaligen
Zeitpunkt bestand die Gefahr, dass die Beiträge über
15 Prozent steigen. Gleichzeitig hatten wir die Tatsache
zu verkraften, dass die Krankenkassen über 8 Milliarden Euro Schulden aufwiesen. Heute sind die meisten Kassen von ihrer Schuldenlast herunter. Die Beitragssätze sind gesunken. Zu behaupten, das GMG habe
nicht gewirkt, ist einfach nicht richtig.
({1})
Nach dem, was in der Koalitionsvereinbarung zum
Arzneimittelbereich stand, haben wir uns an zwei Zielen
orientiert. Erstens. Wir wollen die Rahmenbedingungen
für innovative Arzneimittel verbessern und damit auch
den Pharmastandort Deutschland stärken.
Zweitens. Einsparungen sollen durch Ausschöpfen
von Wirtschaftlichkeitsreserven bei Arzneimittelverordnungen erzielt werden. Um beide Ziele gleichermaßen
zu erreichen, müssen die vorgesehenen gesetzlichen
Maßnahmen in sich ausgewogen sein. Wir haben versucht, das zu erreichen.
Wir haben folgende Maßnahmen beschlossen, die zu
einer Verbesserung in Bezug auf innovative Arzneimittel führen. Gerade auch an die FDP gerichtet sage ich:
Das Gesetz stellt klar, dass jede Arzneimittelinnovation,
die aus wissenschaftlicher Sicht den Therapieerfolg für
die Patienten verbessert, grundsätzlich immer von der
Festbetragsregelung freizustellen ist. Dies ist auch dann
möglich, wenn sich die therapeutische Verbesserung auf
einzelne Patientengruppen und Indikationsbereiche beschränkt.
({2})
Künftig wird eine therapeutische Verbesserung nicht
nur dann anerkannt - wie es jetzt im Gesetz steht -,
wenn schwere Nebenwirkungen vermieden werden, sondern bereits dann, wenn es zu einer therapierelevanten
Verringerung der Nebenwirkungen kommt.
Drittens. Es wird klargestellt, dass eine therapeutische
Verbesserung auch bei Arzneimitteln zu berücksichtigen
ist, die nicht neuartig sind, sondern eine bereits eingeführte patentfreie Substanzklasse modifizieren.
Ein weiterer Punkt. Die Anforderungen an den Nachweis einer Innovation über klinische Studien werden auf
ein zumutbares Maß beschränkt. Auch wird die Transparenz der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses verbessert. Die Entscheidungsgründe müssen
künftig den Arzneimittelherstellern vorab mitgeteilt werden.
Ein anderer Punkt. Das Festbetragsverfahren wird
durch Abkürzung des Entscheidungsweges wesentlich
beschleunigt. Auch das bringt den Beteiligten mehr Planungssicherheit. Das Festbetragssystem wird zudem
flexibler. Arzneimittelhersteller, die zum Beispiel ihre
Preise nicht auf das Festbetragsniveau absenken wollen
- ich darf nur an die Wirkung in anderen europäischen
Ländern erinnern -, können künftig mit den Krankenkassen Rabattverträge abschließen. Dadurch bleiben
diese Arzneimittel am Markt wettbewerbsfähig. Gleichzeitig profitieren davon auch die Versicherten jener Kassen, die solche Verträge abschließen.
Wenn ein Arzneimittel innovativ ist - das heißt, eine
bessere therapeutische Wirkung hat oder weniger Nebenwirkungen verursacht -, dann soll es von der Festbetragsregelung ausgenommen werden. Die jetzt beschlossenen Regelungen werden dies weit besser sicherstellen
als das bisher geltende Recht. Diese Klarstellungen bedeuten eine eindeutige Verbesserung für die Hersteller
innovativer Arzneimittel. Wir machen damit deutlich,
dass wir die Arzneimittelforschung in Deutschland stärken wollen.
({3})
Unsere zweite Zielvorgabe war die Ausschöpfung
vorhandener Wirtschaftlichkeitsreserven. Ich glaube,
das ist uns einigermaßen moderat und in einer für alle
Beteiligten akzeptablen Art und Weise gelungen. Wir
werden die Festbeträge in den Gruppen 2 und 3 auf das
untere Preisdrittel absenken. Gleichzeitig wollen wir
aber sicherstellen, dass die Auswahl an Arzneimitteln,
die innerhalb dieser Gruppen zur Verfügung stehen, gewährleistet ist. Deshalb schreiben wir vor, dass innerhalb
des Festbetrages mindestens ein Fünftel aller Verordnungen und ein Fünftel aller Packungen einer Arzneimittelgruppe verfügbar bleiben. Dies trägt dazu bei, Versorgungsmängel zu vermeiden.
Außerdem stellen wir sicher, dass bei größeren Arzneimittelgruppen wenigstens zwei Wirkstoffe innerhalb
des Festbetrages vorhanden sind. Dies ist eine Maßnahme im Sinne der Arzneimittelsicherheit. Denn wenn
es bei einem Wirkstoff zu Unverträglichkeiten kommen
sollte, hat der Arzt die Möglichkeit, die Therapie auf ein
anderes Arzneimittel umzustellen.
Beide Entscheidungen dämpfen zwar das Potenzial
der Einsparmöglichkeiten, aber sie sind im Sinne der Patientenversorgung und der Arzneimittelsicherheit aus
unserer Sicht unverzichtbar. Wir halten diesen Schritt für
richtig, auch wenn wir damit nur einen Mittelweg beschritten haben. Die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung ist uns das aber wert.
({4})
Eine weitere Maßnahme ist das Preismoratorium
für Arzneimittel zur Begrenzung des Ausgabenzuwachses. Auch hierbei haben wir einen Kompromiss gefunden. Wir können die Industrie nur für ihre eigenen Preise
verantwortlich machen. Deshalb ist es richtig, das Preismoratorium auf den Herstellerabgabepreis und nicht auf
den Apothekenverkaufspreis zu beziehen. Dadurch werden die Arzneimittelhersteller nicht zu einem Kostenausgleich für eventuelle Steigerungen von Zuschlägen für
Apotheker und Großhändler herangezogen.
({5})
Ein weiteres Problem gab es im Zusammenhang mit
der Mehrwertsteuererhöhung. Es wäre sicherlich nicht
sachgerecht - darin sind wir uns zumindest unter den
Gesundheitspolitikern in diesem Hause einig -, den Arzneimittelherstellern vorzuschreiben, zum Ausgleich einer Steuererhöhung ihre Preise zu senken, zumal dies in
keinem anderen Wirtschaftszweig der Fall ist. Ich
glaube, die Politiker hätten sich schwer getan, dies nach
außen zu rechtfertigen.
Wir Gesundheitspolitiker stimmen darin überein, dass
das Problem auf andere Weise gelöst werden muss. Ich
verhehle nicht, dass die Gesundheitspolitiker es vorziehen würden, wenn auch die Arzneimittel dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen würden.
({6})
Als letzten Punkt möchte ich die Stärkung der individuellen Verantwortung der Ärzte für Arzneimittelverordnungen ansprechen. Diese Regelung beinhaltet
einen Malus für überdurchschnittliche Arzneimittelverordnungen auf der Basis von Tagestherapiekosten. Diese
Bezugsgröße ist neu. Sie stellt für den einzelnen Arzt
eine Erleichterung dar; denn bei bestimmten Arzneimittelgruppen kann er die Ausgaben künftig wesentlich besser steuern. Als weiteren Beitrag zum Abbau der Bürokratie kommt ihm zugute, dass der Arzt nicht mehr
routinemäßig doppelt für sein Verordnungsverhalten geprüft werden soll, weil wir diese Maßnahmen aus der
Überprüfung herausnehmen.
Die Regelung beinhaltet darüber hinaus auch einen
Bonus. Bei einem individuellen Bonus könnte es leicht
heißen, der Arzt spare an den Arzneimitteln, um sich höWolfgang Zöller
here Einnahmen zu verschaffen. Deshalb haben wir uns
auf eine andere Lösung geeinigt, die ich auch für richtig
halte, nämlich den so genannten kollektiven Bonus. Damit kann zum Beispiel die einzelne KV sicherstellen,
dass der Bonus den Ärzten zugute kommt, die das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten.
Damit wird eine grundsätzliche Haltung belohnt,
nicht jedoch eine Minderversorgung von Patienten im
Einzelfall. Ich glaube, dass dies ein sinnvoller Weg ist.
({7})
Angesichts der letzten drei Sekunden meiner Redezeit
möchte ich noch feststellen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist, glaube ich, ein Beleg dafür, dass wir - das kann
ich zumindest für die letzten Verhandlungen sagen - sehr
konstruktiv zusammengearbeitet und gemeinsam einen
Weg gefunden haben, um die Kosten in diesem Bereich
einigermaßen in den Griff zu bekommen.
({8})
- Richtig, und das nach nur drei Wochen!
Wir sind gespannt, welche Argumente die Gegenseite
in der Anhörung anführen wird.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Spieth von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere im Arzneimittelbereich sind - darauf wurde schon
hingewiesen - stark gestiegen. Die Bundesregierung
veranschlagt den Zuwachs im laufenden Kalenderjahr
auf etwa 16 Prozent bzw. rund 3,5 Milliarden Euro. Dies
dürfte eher konservativ geschätzt sein. Zum 1. Januar
2005 wurde das bis dahin geltende Preismoratorium
durch die Bundesregierung aufgehoben. Warnungen insbesondere aus dem Kreis der gesetzlichen Krankenkassen vor einem solchen Schritt wurden geflissentlich ignoriert. Gemeinsam warnten die Spitzenverbände der
Krankenkassen vor einem Jahr vor der Absenkung des
Rabatts für Arzneimittel, für die es keinen Festbetrag
gibt, und vor dem Wegfall des Preismoratoriums, da dies
unweigerlich eine Steigerung der Arzneimittelausgaben
nach sich zöge. Die damals prognostizierten negativen
Auswirkungen für die Beitragsentwicklung und die Beitragszahler waren also benannt. Nun sind sie eingetreten.
Die Kurzatmigkeit dieser Politik verursacht einen
ständigen Korrektur- und Gesetzgebungsbedarf. Nach
unserer Auffassung ist das Problem, dass ständig zu kurz
gesprungen wird. Der Gesetzentwurf in seiner ursprünglichen Fassung musste auf Druck der CDU/CSU zurückgezogen werden. Wesentliche Vorschläge wurden eingedampft. Gewährt wird nun im Rahmen der Vereinbarung
der großen Koalition - hört, hört! - nur noch ein zweijähriges Preismoratorium. Völlig zurückziehen mussten
Sie, Frau Schmidt, Ihren Vorschlag - darauf wurde
schon hingewiesen -, die Mehrwertsteuererhöhung auf
die Pharmahersteller abzuwälzen. Die geplante Mehrwertsteuererhöhung wird im Arzneimittelbereich dazu
führen - das soll an dieser Stelle deutlich unterstrichen
werden -, dass zusätzliche Belastungen voraussichtlich
in einer Größenordnung von 800 Millionen Euro auf die
Patienten abgewälzt werden. Wir halten das für einen
Skandal. Wir fordern Sie auf, meine Damen und Herren
von der SPD, Ihr Wahlversprechen einzuhalten und auf
eine Mehrwertsteuererhöhung komplett zu verzichten.
({0})
Verbrauchsteuererhöhungen treffen nämlich immer und
zuerst die kleinen Leute und in diesem Fall in besonderer
Weise die Kranken.
Ihr Gesetz vermag nach unserer Überzeugung das eigentliche Problem wiederum nicht zu lösen. Anstatt endlich die dringend notwendige Positivliste einzuführen
und damit den Problemen stärker auf den Grund zu gehen, bleiben Sie wieder einmal an der Oberfläche. Die
von Ihnen vorgeschlagenen Einsparungen werden voraussichtlich durch die geplante Mehrwertsteuererhöhung
aufgefressen. Was bedeutet das im Endeffekt? Wer wird
für die weiter steigenden Arzneimittelkosten aufkommen? Wir fragen außerdem: Trifft es zu, dass es sich die
angeblich Not leidende Pharmaindustrie leisten kann,
mehr Geld für Werbung und Vermarktung auszugeben
als für die Forschung?
({1})
Warum müssen die Versicherten mit den ständig steigenden Arzneimittelausgaben Heerscharen an Pharmavertretern finanzieren? Ein Unsinn allererster Güte! Wäre es
nicht sinnvoller gewesen, ein Gesetz zu machen, das die
Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben hätte - hierzu gab
es viele Vorschläge - und unter anderem zu einer Verbesserung der Qualität und der Versorgung und nicht zu
einer Steigerung der Profite geführt hätte?
Es ist davon auszugehen, dass die Arzneimittelhersteller Ihren Vorschlag dazu benutzen werden, bis zum
In-Kraft-Treten der vorgesehenen Maßnahmen noch einmal schnell Kasse zu machen. Ihr Gesetz wird - davon
bin ich sehr überzeugt - vor allem Hausärzte und chronisch Kranke treffen. Die vorgesehene Bonus-MalusRegelung und die Einführung von Tagestherapiekosten
werden nach meiner Meinung bürokratische Monster
produzieren und zudem das Arzt-Patienten-Verhältnis
schwer belasten.
({2})
Wir fordern Sie deshalb auf: Legen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück in Ihren Giftschrank und realisieren Sie
endlich die Positivliste, mit der Sie wirksam und intelligent die Wirtschaftlichkeitsreserven dort heben können,
wo sie vorhanden sind! Bitten Sie diejenigen zur Kasse,
die mit Scheininnovationen Milliarden verdienen, und
nicht diejenigen, die auf eine wirksame, qualitativ
hochwertige und preiswerte Medikamentenversorgung
angewiesen sind.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Birgitt Bender
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser
Gesetzentwurf hat eine klare Botschaft und die heißt:
Lobbyismus lohnt sich.
({0})
Schon der erste Arbeitsentwurf aus dem Ministerium
war nicht geeignet, die Arzneimittelausgaben dauerhaft
in den Griff zu bekommen. Denn Maßnahmen wie ein
zweijähriger Preisstopp für alle rezeptpflichtigen Medikamente oder eine einmalige Preissenkung für Generika
wirken gewiss, aber nur kurzfristig. An der langfristigen
Ausgabenentwicklung ändern derartige Kostendämpfungsmaßnahmen gar nichts. Schon dieser Entwurf
krankte daran, dass er sich nicht an die Ursachen der
übermäßigen Ausgabensteigerungen im Arzneimittelbereich herantraute. Die liegen nun einmal darin, dass in
Deutschland jedes zugelassene Arzneimittel, soweit es
rezeptpflichtig ist, umstandslos von den Krankenkassen
erstattet werden muss. Das ist geradezu eine Einladung
an die Pharmahersteller, teure Scheininnovationen auf
den Markt zu werfen, bei denen die Ausgaben für das
Marketing weit über den Entwicklungskosten liegen.
({1})
Diesen Fehlanreiz behebt man nur, wenn man neue
Arzneimittel konsequent auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis gegenüber den bereits eingeführten Medikamenten
überprüft und erst dann erstattungsfähig macht, wenn sie
diese Prüfung bestehen. Damit würden tatsächlich innovative Hersteller belohnt. Eine derartige Regelung aber,
so erinnern wir uns, hat die Union schon in der Gesundheitsreform erfolgreich verhindert und dementsprechend
hat sich Frau Schmidt auch nicht getraut, dieses in ihren
Arbeitsentwurf hineinzuschreiben.
({2})
Nun bleiben diese Defizite und Leerstellen im Koalitionsentwurf bestehen. Darüber hinaus hat man ihn, Herr
Kollege Zöller, auch noch verschlimmbessert; denn jetzt
sind Sie dabei, das Festbetragssystem, auf das wir uns
einmal gemeinsam geeinigt hatten, vollends gegen die
Wand zu fahren. Erst vor wenigen Wochen hat das Bundessozialgericht wie vor ihm schon das Bundesverfassungsgericht und auch der EuGH das Festbetragssystem
bestätigt. Diese Rechtssicherheit, die wir dadurch gewonnen hatten, wird in dem Gesetzentwurf wieder infrage gestellt.
({3})
Denn auf Betreiben der Union, Herr Kollege - Ihre
Kollegin Widmann-Mauz lobt sich noch dafür, den forschenden Arzneimittelherstellern entgegengekommen zu
sein -, strotzt der Entwurf vor Definitionen, was denn
nun echte Innovationen und Scheininnovationen bei
Arzneimitteln sein sollen. Durch diesen Wust von vielfach unbestimmten Rechtsbegriffen wird die Abgrenzung aber nicht einfacher, sondern schwieriger.
({4})
Weiteren Gerichtsverfahren werden Tür und Tor geöffnet. Damit werden Teile der Pharmaindustrie ihrem erklärten Ziel, das Festbetragssystem endlich zu schleifen,
erheblich näher kommen.
Vor diesem Hintergrund sind die im Finanztableau
des Gesetzentwurfs ausgewiesenen 800 Millionen Euro,
die durch eine, wie Sie sagen, Neujustierung des Festbetragssystems erwirtschaftet werden sollen, ein frommer
Wunsch. Belastbar sind einzig die 500 Millionen Euro
an Einsparungen, die für die Krankenkassen durch die
Preissenkung bei Generika entstehen sollen.
Aber durch die Anhebung der Mehrwertsteuer im
übernächsten Jahr, die Sie ja planen, werden die Arzneimittelausgaben um 900 Millionen Euro steigen. Das nun
vorgelegte so genannte Sparpaket ist also allenfalls dazu
geeignet, die von der Koalition selber veranlassten
Mehrausgaben gerade einmal auszugleichen. Da kann
ich Ihnen nur sagen: Darüber hinaus werden nicht einmal kurz- und mittelfristig bedeutsame Einsparungen
entstehen - von langfristigen Entlastungen ganz zu
schweigen. Das heißt, Sie sind miteinander zu kurz gesprungen und - unter Lobbydruck - auch noch in die falsche Richtung, meine Damen und Herren von der Koalition. Dies ist kein guter Start in der Gesundheitspolitik.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Marlies Volkmer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Arzneimittelausgaben sind im Jahr 2005 gegenüber dem
Jahr 2004 um 16 Prozent gestiegen. Das ist wirklich eine
inakzeptable Größe. Man kann in Rechnung stellen, dass
das Jahr 2004 ein besonderes Jahr war: Es gab Vorzieheffekte aus dem Jahr 2003 und der Herstellerrabatt
wurde 2004 von 6 auf 16 Prozent erhöht; 2005 wurde er
wieder gesenkt. Diese beiden Faktoren führten aber lediglich zu Kostensteigerungen von weniger als
30 Prozent. Das heißt, 70 Prozent der Kostensteigerungen können nicht durch diese Faktoren begründet werden und sie sind zum großen Teil auch medizinisch nicht
begründet.
Die Kostensteigerungen sind überwiegend durch die
Scheininnovationen bedingt. Gemeint sind damit neue
Medikamente, Medikamente, die in der Regel teuer sind,
und Medikamente, die durch Heerscharen von Pharmareferenten, die durch die Praxen ziehen, gut vermarktet
werden. Diese Medikamente sind zwar teurer, haben
aber keine bessere Wirkung. An diese Scheininnovationen müssen wir heran.
({0})
- Frau Bender, wir machen das ja.
Die Verordnung von Arzneimitteln ist natürlich auch
ein Ergebnis der Vereinbarung der Selbstverwaltung
von Ärzten und Krankenkassen. Man muss eben auch
feststellen: Die Selbstverwaltung ist ihrer Verantwortung
hier nicht gerecht geworden. Weil die Selbstverwaltung
ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist, muss
der Gesetzgeber hier eingreifen. Das tun wir.
Ich kann heute nicht auf alle Regelungen des Gesetzentwurfs eingehen. Ich möchte mich auf die Aspekte beschränken, von denen ich denke, dass sie in der Diskussion im Ausschuss noch wichtig sein werden. Eine
zentrale Maßnahme ist das Einfrieren der Arzneimittelpreise für zwei Jahre. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 ist nicht von den Herstellern zu tragen,
wie wir es ursprünglich gewollt haben. Das heißt, dass
das Damoklesschwert Mehrwertsteuererhöhung über
den Kassen und damit den Beitragszahlern schwebt.
Deshalb sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass
für Arzneimittel, wie in fast allen anderen europäischen
Ländern, der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt.
({1})
Umfassende Änderungen sind im Festbetragsbereich
vorgesehen. Hintergrund der Regelungen ist, dass die
bereits erwähnten Scheininnovationen allen bisherigen
Maßnahmen zum Trotz immer noch erheblich teurer
sind als therapeutisch gleichwertige Generika. Deshalb
sollen die Festbeträge generell ins untere Preisdrittel abgesenkt werden.
({2})
Wenn es nicht dazu kommen sollte, dass die Hersteller ihre Preise auf das Festbetragsniveau absenken, was
in der Vergangenheit bereits vorgekommen ist - wir alle
erinnern uns an den Fall Sortis -, erhalten die Krankenkassen die Möglichkeit, für ihre Versicherten Rabattverträge abzuschließen. Durch diese sollen die Mehrkosten
gegenfinanziert werden. Wenn derartige Verträge tatsächlich abgeschlossen werden, ist dies natürlich im Interesse der einzelnen Patienten, die anderenfalls die Differenz zwischen Festbetrag und Arzneimittelpreis tragen
müssten. Was diese Maßnahme aber für den Arzneimittelmarkt und die Versichertengemeinschaft bedeutet, ist
derzeit noch schwer abzuschätzen.
Festbetragsregelungen sind eine überaus komplexe
Materie. Ich möchte an dieser Stelle dafür werben, dass
wir uns intensiv mit den Auswirkungen der neuen Regelung befassen, vor allem mit den Auswirkungen auf die
Versorgung der Patientinnen und Patienten und auf das
Instrument, das wir in der letzten Gesundheitsreform
mühevoll gesetzlich verankert haben, nämlich die Nutzenbewertung der Arzneimittel durch das Institut für
Qualität und Wirtschaftlichkeit, dessen Bedeutung nach
meiner Auffassung zukünftig noch gestärkt werden
muss.
({3})
Unbedingt verhindern wollen wir, dass das Geld, das
durch das Verbot von Naturalrabatten eingespart wird,
sozusagen in den Bilanzen der Industrie und des Großhandels versickert. Deswegen wird bei Generika ein Abschlag auf den Herstellerabgabepreis in Höhe von
10 Prozent erfolgen. Ich plädiere an dieser Stelle ausdrücklich dafür, bei der jetzt vorgesehenen Regelung zu
bleiben und keine Ausnahme für den Bereich der nicht
verschreibungspflichtigen Arzneimittel zu machen, wie
dies gelegentlich gefordert wird. Dieser Rabatt ist eine
der wichtigsten finanzwirksamen Regelungen, da sich
hier die Unwägbarkeiten in engen Grenzen halten.
Auch die Ärzte müssen einen Teil zu den Einsparungen beitragen;
({4})
denn die Ausgabenzuwächse erklären sich vor allem
durch das Verordnungsverhalten der Ärzte, die zu oft die
erwähnten Scheininnovationen verordnen, statt auf bewährte preisgünstigere Therapien zurückzugreifen. Wir
stärken hier die individuelle Verantwortung des Arztes
für seine Verordnungen. Unser Weg ist ein gesetzlich
verankertes Bonus-Malus-System. Es ist damit Schluss
mit dem Wischiwaschi, bei dem man den verantwortlich
verordnenden Arzt nicht von dem unwirtschaftlich verordnenden Arzt trennen kann.
Wenn wir über diese Bonus-Malus-Regelung diskutieren, müssen wir eines sicherstellen - das ist mir als
Ärztin wichtig -: Ärzte dürfen nicht in einen Konflikt
getrieben werden und Patienten notwendige Arzneimittel aus wirtschaftlichen Erwägungen vorenthalten.
({5})
Ich halte das „Geiz ist geil“-Argument vom Präsidenten der Bundesärztekammer für völlig daneben, weil es
Patienten und Ärzte verunsichert. Vielmehr müssen die
Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass eine Versorgung nach den Prinzipien „notwendig“, „zweckmäßig“ und „wirtschaftlich“ erfolgt. Hier haben alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen Beitrag zu leisten, die
Ärztekammer allemal. Das gilt für alle Regelungen, wie
wir sie in diesem Gesetz vorgesehen haben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Wolf Bauer von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Als letzter Redner hat man natürlich immer ein
Problem: Man will keine Wiederholungen vortragen.
({0})
Ich möchte mich daher bemühen, noch ein paar andere
Akzente zu setzen.
Mehrmals ist auf die Kostensteigerungen hingewiesen worden. Es führt nun einmal kein Weg daran vorbei:
Es musste jetzt gehandelt werden, und zwar schnell.
({1})
Da sollte man uns von der Koalition auch einmal dafür
loben, dass wir in so kurzer Zeit diesen Gesetzentwurf
auf die Beine gestellt haben.
({2})
Das eine oder andere wird sicherlich nicht ideal sein
- das ist ganz klar -, aber ich sage noch einmal: Wichtig
war, jetzt zu handeln und schnell zu handeln.
({3})
Ganz klar muss sein, dass wir mit diesem AVWG unsere Arbeit noch nicht erledigt haben. Wir werden mit
Sicherheit darangehen müssen - jetzt ist etwas Zeit zur
Verfügung -, eine vernünftige und gute Strukturreform
in unserem Gesundheitswesen auf die Beine zu stellen.
Aber es muss eine echte Strukturreform sein, die uns solche Gesetze, wie wir sie jetzt haben, in Zukunft erspart.
Ich höre von der rechten Seite den einen oder anderen
Einwurf. Es ist nun einmal so, wie es ist. Wir müssen
jetzt handeln.
({4})
Ich muss die Kritik natürlich hinnehmen. Zu den zehn
Kostendämpfungsgesetzen in 25 Jahren tun wir jetzt
noch eines dazu; das ist klar. Trotzdem - ich sage es
noch einmal -: Es führt kein Weg daran vorbei. Wir
müssen vor allem sorgfältig darauf achten, dass alles,
was wir jetzt beschließen, kompatibel mit dem ist, was
wir möglicherweise in Zukunft in einer Strukturreform
festhalten wollen.
Über die einzelnen Punkte ist bereits viel gesagt worden, auch über die Festbeträge und über das Preismoratorium. Ich möchte nur noch auf eines hinweisen: Vergleicht man den Einfluss der Festbeträge auf die
Preisentwicklung bei Arzneimitteln mit dem Einfluss eines Preismoratoriums, so ist unschwer zu erkennen, dass
die Effektivität der Festbeträge ungleich größer ist.
({5})
Insofern ist es richtig, dass wir dieses Instrument hier angegangen haben.
Es wird sicherlich noch das eine oder andere zu verbessern sein. In Bezug auf die Festbeträge möchte ich
Ihnen aber nur eines sagen, Frau Bender: Sie werden nie
eine saubere Definition von Innovation hinbekommen.
({6})
Ich glaube, das wird eine wissenschaftliche Aufgabe
sein, die keiner lösen kann, da immer wieder etwas anderes darunter zu verstehen ist. Wenn jetzt mit diesem Gesetz zum ersten Mal der Aspekt der Verbesserung der
Lebensqualität eingeführt wird, dann sollten wir alle
das doch begrüßen und nicht sofort wieder davon reden,
dass das ein schwammiger Begriff sei, den man letztendlich nicht greifen könne.
({7})
Ich weiß natürlich, dass das schwierig ist.
In diesem Zusammenhang ist auch positiv hervorzuheben, dass es uns bisher immer wieder gelungen ist, für
alle GKV-Versicherten eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sicherzustellen.
({8})
Die Versicherten durften an den Innovationen partizipieren; wir sollten durchaus einmal erwähnen, dass das vernünftig ist.
Die einzelnen Ausführungen zu den Schritten, die wir
vorgenommen haben, sind im AVWG niedergelegt.
Art. 2 des Gesetzentwurfes beinhaltet die Änderung des
Heilmittelwerbegesetzes. Da habe ich persönlich Probleme; denn so, wie sich das Heilmittelwerbegesetz
jetzt darstellt, ist es für mich ein bürokratisches Monster,
das fast nicht mehr zu überschauen ist. Gerade an den
§ 7 müssen wir einmal ernsthaft herangehen, ihn neu
konzipieren und ihn vor allem so formulieren, dass endlich nicht mehr nur wenige Spezialisten verstehen, was
darin steht, und dass nicht jeder, der Gesetze befolgen
soll, eine juristische Interpretation braucht, um dies tun
zu können.
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist, ob
es gesetzessystematisch richtig ist, das Nichtgewähren
von Rabatten - gegen das ich gar nicht sprechen will - in
ein Heilmittelwerbegesetz hineinzuschreiben. Das müssten wir uns noch einmal überlegen; denn die Intention
des Heilmittelwerbegesetzes ist ja, die Gesundheit des
Einzelnen und die Gesundheit der Gesamtheit zu schützen. Ob man das mit dem Verbot von Rabatten erreicht,
ziehe ich zumindest kräftig in Zweifel. Insofern müssen
wir an dieses Thema einmal herangehen.
Ich habe ja vorhin von Kompatibilität gesprochen:
Wenn wir sagen, dass Rabatte Einfluss auf die Gesundheit des Einzelnen und auf die Gesundheit des gesamten
Volkes haben, dann müssten wir zum Beispiel auch den
Versandhandel, den wir erst unlängst erlaubt haben, wieder verbieten. Aus dem Ausland ist der Versandhandel
erlaubt; wenn die Arzneimittel aus dem Ausland hereinkommen, gelten insofern wieder andere Bedingungen.
Auch dies passt also nicht ganz zusammen. Man muss
jetzt aber nicht den Versandhandel wieder verbieten. Ich
glaube nur, dass wir einmal ernsthaft an dieses Thema
herangehen müssen.
Ich wünsche mir natürlich auch, dass wir zu mehr
Harmonisierung kommen. Es geht mit Sicherheit nicht,
dass wir wieder Ungleichheit zwischen deutschen Leistungsanbietern und Anbietern aus anderen EU-Staaten
schaffen. Manche sprechen heutzutage ja schon von einer Inländerdiskriminierung. Ich glaube, hier müssen wir
ein bisschen aufpassen und noch etwas gegensteuern.
Herr Kollege Bauer, bedenken Sie bitte die Zeit.
Ich möchte gerade noch den letzten Satz sagen. - Ich
weise noch einmal darauf hin, dass wir jetzt den richtigen Schritt getan haben und dass weitere Schritte folgen
müssen. Ich bin optimistisch, dass wir mit dieser Koalition auch weitere Probleme lösen können.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/194 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Statt Ausbildungspakt - Für eine umlagefinanzierte berufliche Erstausbildung
- Drucksache 16/122 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die duale Berufsausbildung in Deutschland
kontinuierlich verbessern
- Drucksache 16/235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({3}), Krista Sager, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berufsausbildung umfassend sichern
- Drucksache 16/198 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Cornelia
Hirsch von der Fraktion Die Linke das Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eine Sache als Erstes klarstellen: Mit
unserem Antrag wollen wir keinesfalls anzweifeln, dass
die formalen Zusagen des Ausbildungspaktes eingehalten wurden. Wir kennen die Zahlen wahrscheinlich genauso gut wie Sie. Es ist richtig, dass jedes Jahr rund
30 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Das
war sogar etwas mehr als die vereinbarten 25 000 Einstiegsqualifizierungen.
({0})
Dies ist für uns allerdings kein Grund, Ihnen zum
Ausbildungspakt zu gratulieren.
({1})
Denn es ist doch vollkommen unentscheidend, ob formale Paktvereinbarungen eingehalten wurden. Entscheidend ist für uns die Frage, ob der Ausbildungspakt ein
taugliches Mittel und Instrument ist, um die Perspektiven der Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern. Genau an dieser Stelle ist die Bilanz verheerend.
({2})
Der grundsätzliche Fehler liegt aus unserer Sicht
schon darin, dass mit dem Pakt keine zusätzlichen Ausbildungsplätze geschaffen werden, sondern dass lediglich versucht wird, die Ausbildungsplätze, die im gleichen Zeitraum wegfallen, zu kompensieren. Nicht
einmal dieses Ziel wird vollständig erreicht. So gab es in
den letzten Jahren 10 Prozent weniger Ausbildungsstellen. Die Quote der betrieblichen Ausbildung ist in diesem Jahr mit 23,4 Prozent auf einem neuen Tiefststand.
Konkret bedeutet das für die ausbildungsplatzsuchenden
Jugendlichen, dass es mehr Bewerberinnen und Bewerber und gleichzeitig weniger Ausbildungsangebote gibt.
Das ist wahrlich keine Erfolgsgeschichte.
({3})
Die Leidtragenden in dieser Situation sind die Jugendlichen. Wir finden es zynisch, wenn in der Presse
und in den Medien immer wieder auf die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit hingewiesen und behauptet wird, die Ausbildungslücke habe sich durch den
Ausbildungspakt verringert. Aus unserer Sicht ist das
Schönrechnerei. Denn ein Großteil der Jugendlichen
wird aus dieser Statistik schon vorher herausgerechnet.
Sie befinden sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen,
nehmen an Einstiegsqualifizierungen teil oder - das ist
aus unserer Sicht ein sehr wichtiger Punkt, über den wir
diskutieren sollten - fangen ohne Berufsausbildung direkt an zu arbeiten. All diese Jugendlichen, die natürlich
auch einen Bedarf an Ausbildungsplätzen haben, tauchen dann in der Statistik gar nicht mehr auf. Wir fordern Sie deshalb dazu auf, die Ausbildungsmisere
endlich einzugestehen und zuzugeben, dass der Ausbildungspakt kein sinnvolles Mittel ist, um die Ausbildungsmisere zu beheben.
({4})
Die Alternative zu diesem unverbindlichen und wirkungslosen Ausbildungspakt haben die Kolleginnen und
Kollegen von der rot-grünen Bundesregierung im letzten
Jahr bereits selbst vorgeschlagen. Es wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, der die Forderung nach der Einführung einer Umlagefinanzierung in der beruflichen Erstausbildung enthielt. Als es allerdings Kritik gab, wurde
dieser aus unserer Sicht sehr sinnvolle Entwurf gleich
wieder auf Eis gelegt.
({5})
Die Begründung, eine Umlagefinanzierung faktisch einzuführen, hat damals der Kollege Jörg Tauss formuliert.
Er hat gesagt: Ausbildung ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung der Wirtschaft, sondern Pflicht.
({6})
Dem stimmen wir ausdrücklich zu.
Wir setzen uns nun dafür ein, das Gesetz erneut einzubringen, zu diskutieren und sicherzustellen, dass es
auch wirklich zur Einführung einer Umlagefinanzierung
kommt. In dem Koalitionsvertrag - das wurde schon angesprochen - wird die Möglichkeit angedeutet, branchenbezogene Umlagefinanzierungen einzuführen, was
durchaus ein erster Ansatzpunkt sein kann.
({7})
Wir freuen uns auch, dass von den Grünen und ebenfalls von der FDP Anträge zu diesem Thema eingebracht
wurden. Gerade dem Antrag der Grünen stimmen wir
natürlich zu. Dort heißt es nämlich, dass man sich nicht
nur auf den Ausbildungsbereich beschränken darf, sondern dass grundlegende Bildungsreformen auch in anderen Bildungssystemen notwendig sind. Wir freuen uns
darauf, gemeinsam über die Herausforderung der Europäisierung oder über Forderungen der GEW nach einer
Stärkung von vollschulischen Lehrstellen zu diskutieren.
Das alles sind Punkte, die in der Diskussion sind und die
aufzugreifen wichtig ist.
({8})
Bei diesen Maßnahmen ist für uns allerdings klar:
Nicht auf Grundlage eines wirkungslosen Ausbildungspaktes! Nicht, wenn nicht endlich die Ausbildungsmisere offen gelegt wird! Und nicht, wenn mit solchen
Diskussionen lediglich versucht wird, von der Notwendigkeit einer Umlagefinanzierung abzulenken oder diese
immer weiter hinauszuzögern!
Vielen Dank.
({9})
Frau Kollegin Hirsch, ich gratuliere Ihnen im Namen
des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehrte Kollegin Hirsch, Sie sagen, der Ausbildungspakt
habe sich nicht gelohnt, weil er formal nur
30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Jahr geschaffen habe.
({0})
Dazu stelle ich fest: Es sind immerhin
60 000 Ausbildungsplätze, durch die junge Menschen
heute eine Perspektive bekommen. Das ist mehr als eine
Formalie. Das ist ein Erfolg des Ausbildungspaktes.
({1})
Sie zeigen mit Ihrem Antrag: Es geht Ihnen nicht um
Lösungen. Es geht immer noch um Ideologie, um einen
gewissen Konflikt. Statt Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Gruppen, der Tarifpartner und der Politik
fordern Sie eine staatlich organisierte Umlagefinanzierung. Sie bekämpfen den Ausbildungspakt und wollen
ein Umlagegesetz. Die Wirklichkeit ist: Es gibt einen
Ausbildungspakt - er ist erfolgreich ({2})
und es gibt seit über 30 Jahren tarifliche Formen der
Umlagefinanzierung, beispielsweise in der Bauwirtschaft und im Gartenbau. Das muss also kein Widerspruch sein.
({3})
Hier haben die Tarifpartner ihren Spielraum genutzt. Wir
Gewerkschafter und Tarifexperten wissen, was das bedeutet.
({4})
Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut.
({5})
Doch „Autonomie“ kommt aus dem Griechischen und
bedeutet übertragen: nach eigenen Gesetzen lebend.
Also: Gesetzgeber, halte dich raus!
({6})
Natürlich wird eine solche Tarifforderung mit anderen
Forderungen verrechnet. Doch wenn sie den Gewerkschaften wichtig ist, dann müssen sie den entsprechenden Preis dafür zahlen. Der Staat ist nicht das Dienstmädchen der Gewerkschaften und auch nicht der
Arbeitgeberverbände.
Eine staatlich organisierte Umlagefinanzierung würde
ein staatliches Inkassowesen, eine staatliche Mittelverwaltung, eine staatliche Mittelvergabe, eine staatliche
Mittelkontrolle und am Ende die Verstaatlichung der Berufsausbildung bedeuten.
({7})
Dies ist ein bürokratischer Moloch, der sich selbst verwaltet und zentralistisch Mangelwirtschaft betreibt.
({8})
- Wir müssen uns annähern; aber wir sind auf einem guten Weg.
({9})
Es ist besser, die Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifparteien zu nutzen. Da gibt es, Kollege Rossmann, eine
Fülle an kreativen Vorstellungen.
({10})
Es ist gut, dass wir in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben, beide Tarifpartner - auch die Gewerkschaften - an der Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes zu beteiligen.
({11})
Der Antrag der Linken zeigt: Sie trauen den Gewerkschaften weder tariflich noch politisch im Ausbildungspakt etwas zu. Das zuständige Gremium hat noch nicht
einmal getagt und schon wollen Sie den Pakt abschaffen.
Wir brauchen nicht eine, wir brauchen viele Maßnahmen. Trotz tariflicher Umlage sind die Ausbildungsplätze in der Bauwirtschaft von etwa 100 000 auf 38 000
eingebrochen.
({12})
- Es gibt zwar eine höhere Ausbildungsquote. Die gilt
jedoch generell für das Handwerk.
Betriebe brauchen Zukunft, sie brauchen Aufträge.
Wer in den nächsten drei Monaten keine Aufträge hat,
kann sich nicht drei Jahre lang an einen Menschen binden. Ich-AGs und die kleine Handwerksnovelle haben
dem Handwerk stark zugesetzt. 40 000 betriebliche Insolvenzen im Jahr führen zu einem Verlust von
400 000 Arbeits- und Ausbildungsplätzen.
({13})
Dass der Ausbildungspakt vor diesem Hintergrund immer noch funktioniert, ist ein Vorteil und zeigt, dass er
erfolgreich ist.
Was wir brauchen, ist ein besserer wirtschaftlicher
Rahmen. Erste Akzente werden in der Koalitionsvereinbarung gesetzt. Kennzeichen der großen Koalition ist:
Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Wir werden erstens den
Ausbildungspakt Ende des Jahres nach Beendigung der
Nachvermittlung überprüfen. Er benötigt mehr Dynamik. Wir werden zweitens mit den Tarifpartnern über tarifliche und betriebliche Bündnisse für mehr Ausbildungsplätze sprechen. Wir werden drittens im nächsten
Jahr überprüfen, wie die Umsetzung der Berufsbildungsreform, die in diesem Jahr in Kraft getreten ist, beschleunigt werden kann.
Die drei vorliegenden Anträge sind Schnellschüsse.
In ihnen wird das gefordert, was Sie schon immer gefordert haben. Wir wollen neu denken und gründlich arbeiten.
({14})
Ministerin Schavan hat alle Beteiligten des Ausbildungspaktes für den 30. Januar zu einem Gespräch eingeladen. Die Union wird anschließend, wie ich hoffe,
gemeinsam mit der SPD einen soliden Antrag einbringen,
({15})
gemäß dem Grundsatz: Sorgfalt vor Schnelligkeit.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von
der FDP-Fraktion.
({0})
So ist es.
({0})
- Das ist aber nett, Herr Tauss.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die duale Berufsausbildung ist ein Markenzeichen Deutschlands. Ich muss unserer
Trained in Germany hat immer noch einen hervorragenden Ruf.
({0})
Für die FDP-Fraktion gibt es hier kein Hin und Her,
sondern die klare Aussage, dass wir zum dualen Berufsausbildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland
stehen.
({1})
Diese Berufsausbildung muss gestärkt und kontinuierlich verbessert werden. Aber auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Die FDP will, dass Berufsschüler
mehr Zeit im Betrieb verbringen. Wir wollen die Europäisierung aktiv nutzen, Ausbildungshindernisse für die
Betriebe abbauen. Vor allem aber wollen wir die Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen verbessern.
({2})
Wir wollen nicht die Unternehmer bestrafen, die geeignete Lehrstellenbewerber suchen, aber nicht finden.
({3})
Der von der Linken eingebrachte Vorschlag einer Ausbildungsplatzabgabe ist total daneben.
({4})
Er berücksichtigt in keiner Weise die regionalen Märkte.
Beschäftigungsintensive Betriebe des Mittelstands werden besonders bestraft. Die duale Ausbildung wird
schleichend verstaatlicht. Felix Rauner, einer der führenden und anerkannten Berufsbildungsexperten, bringt es
auf den Punkt: Sie belohnt und bestraft die Falschen. Sie
verstärkt die Arbeitslosigkeit und verschärft die Krise
der Berufsbildung. - Das sind klare Worte. Klare Konsequenz: Das bürokratische Monster Lehrstellensteuer gibt
es mit uns nicht.
({5})
Grundfalsch allerdings wäre es, die duale Ausbildung
durch mehr vollzeitschulische Ausbildung zu schwächen. Gerade das Kennenlernen betrieblicher Strukturen
und die praktische Arbeit als solche bewirken doch den
pädagogischen Erfolg des dualen Systems.
({6})
Das duale System ist der Bildungsexportschlager der
Bundesrepublik Deutschland. Wir gehören mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn andere Staaten die duale
Ausbildung von uns übernehmen und wir sie in Deutschland aushöhlen und aufweichen, wo immer es geht.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen einen klaren Plan.
Erstens: Modernisierung. Wir wollen neue Berufsbilder schneller einführen. Wir brauchen eine Ausweitung
der Stufenausbildung und die Modularisierung für alle
Berufsbilder muss konsequent verfolgt werden. Modernisieren heißt aber auch, dass wir vor der beruflichen
Bildung ansetzen müssen. Der Umstand, dass 80 000 Jugendliche ohne Hauptschulabschluss sind, weitere
120 000 ohne ausreichende Ausbildungsbefähigung und
es zudem eine Bugwelle von Altbewerbern von nochmals 120 000 gibt, macht deutlich, dass wir unser Bildungssystem weiterentwickeln müssen. Diese jungen
Menschen brauchen eine zweite Chance.
({8})
Zweitens: Wir müssen flexibler werden, und zwar
- ich weiß, dass gleich ein Aufschrei kommt - bei der
Ausbildungsvergütung. Freie Vereinbarungen zwischen Betrieben und Azubis müssen möglich sein. Wenn
in manchen Regionen Deutschlands 50 Prozent der Betriebe einer Branche nicht tariflich gebunden sind und
wir dort zugleich einen dramatischen Lehrstellenmangel
haben, dann sind 50 Euro weniger im Geldbeutel besser
- das sage ich ganz klar -, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen.
({9})
Drittens: Öffnung. Wir müssen schnellstens dafür sorgen, dass Hochschulen für Absolventen der beruflichen
Ausbildung geöffnet werden.
({10})
Außerdem müssen wir unsere berufliche Ausbildung für
den europäischen Qualifikationsrahmen öffnen, aber
nicht so, dass unsere Ausbildung im europäischen Vergleich abgestuft wird, sondern so, dass unsere gute berufliche Bildung in Europa volle Anerkennung erhält.
({11})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir dürfen nicht
unentwegt Schule zum Experimentierfeld machen. Die
Grundrichtung muss klar sein, und diese heißt: duale
Ausbildung. Diese müssen wir weiterentwickeln. Diese
müssen wir praxisnäher gestalten, und das Ganze möglichst unbürokratisch.
Wenn die Bundesregierung bei der beruflichen Bildung diesen Weg verfolgt, dann hat sie uns an ihrer
Seite. Zeigen Sie Mut! Herr Staatssekretär, gerade in der
Bildung gilt: Wagen Sie mehr Freiheit!
Vielen Dank.
({12})
Herr Kollege Meinhardt, auch Ihnen gratuliere ich
sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Als nächster Redner hat nun der Kollege Willi Brase
von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, dass die
Zahlen - wie sich das Ausbildungsjahr Ende September
dargestellt hat - von mir nicht wiederholt werden müssen. Bei der Betrachtung sollten wir aber nie vergessen,
dass die „fünfte Zeit“ - nämlich die Monate der Nachvermittlung - manches Positive auch im Sinne von zusätzlichen betrieblichen Ausbildungsplätzen auf den
Weg gebracht hat. Wir konnten die Lücke um 40 Prozent
verkleinern. Das ist ein besseres Ergebnis. Es ist nicht
gut genug, aber es ist ein guter Anfang und ein guter
Weg.
({0})
Lassen Sie mich, weil der Ausbildungspakt angesprochen wurde, auf die Einstiegsqualifizierung eingehen.
Ich will nicht verhehlen, dass wir als SPD-Fraktion sie
sehr kritisch gesehen haben. Aber die unabhängige Untersuchung der GIB hat zutage gebracht, dass der gewünschte Klebeeffekt offensichtlich funktioniert hat.
Über 61 Prozent der befragten Jugendlichen mit Einstiegsqualifizierung haben eine Ausbildung erhalten.
({1})
Das Schöne dabei ist, dass von diesen Teilnehmern
71 Prozent keinen oder einen niedrigen Schulabschluss
bzw. einen schwierigen Migrationshintergrund besaßen
und besitzen. Offensichtlich ist es der bessere Weg, benachteiligte junge Leute, die bestimmte Probleme haben,
nicht in schulische Maßnahmen oder Maßnahmen der
Bundesagentur zu schicken, sondern im betrieblichen
Rahmen sozusagen an die Realität heranzuführen. Das
haben wir seinerzeit gewollt. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen.
({2})
Ich bin mir sicher, dass dabei das EQJ-Programm eine
Brücke sein kann. Wir haben es im Rahmen der Reform
des Berufsbildungsgesetzes diskutiert:
Wir wünschen uns, dass dieses EQJ sich in den nächsten Jahren weiter zu einer Berufsausbildungsvorbereitung im Betrieb entwickelt, weil dort der Hintergrund
genau richtig ist, und dass irgendwann die Unternehmen
dies begreifen. Das war ja ein Teil der Reform des Berufsbildungsgesetzes.
({3})
- Das sowieso.
Trotzdem wollen wir nicht vergessen: 10 Prozent aller
Jugendlichen in Deutschland verlassen Jahr für Jahr die
Schule ohne einen Schulabschluss. Jeder fünfte Schulabbrecher ist nicht deutscher Herkunft. Angesichts der demographischen Entwicklung bin ich der Auffassung,
dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist, diese jungen
Leute nicht zu vergessen.
({4})
Auf der anderen Seite werden - das können Sie in den
Untersuchungen von BIBB und IAB feststellen - Fachkräfte, Fachkräfte mit qualifizierten Tätigkeiten und
Fachkräfte mit Führungsaufgaben, die Bereiche sein, in
denen ein Aufwuchs von Arbeitsplätzen stattfindet. Nur
noch 8 bis 10 Prozent der Arbeitsplätze werden für Anund Ungelernte zur Verfügung stehen. Wenn das so ist,
dann muss es unsere Aufgabe sein, alle Jugendlichen
mitzunehmen und allen eine qualifizierte Ausbildung zu
gönnen. Dazu gehört auch eine Qualifizierung beim Einstieg.
({5})
Ich will nicht verhehlen, dass es auf der anderen Seite
ausbildungsfähige Betriebe gibt, die noch nicht ausbilden. Diese müssen wir für die Schaffung von Ausbildungsplätzen gewinnen. Wir haben im Koalitionsvertrag
explizit vereinbart, dass kein Jugendlicher unter 25 Jahren länger als drei Monate arbeitslos sein soll. Aus der
Praxis wissen wir, dass das eine gewaltige Aufgabe für
die Argen, die optierten Kommunen und ein Stück weit
auch für die Bundesagentur für Arbeit ist. Wenn uns das
gelingt, tun wir etwas sehr Gutes für die jungen Menschen. Ich bin sicher, dass die Bundesregierung alle ihr
zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen wird,
um dies auf den Weg zu bringen. Deshalb erinnern wir
ganz bewusst an die gesellschaftliche Verantwortung der
Wirtschaft.
({6})
Es ist richtig, dass Frau Schavan darauf hingewiesen
hat, dass der Ausbildungspakt überarbeitet bzw. weiterentwickelt werden muss. Wir begrüßen ausdrücklich,
dass die Gewerkschaften und der DGB einbezogen werden. Für mich heißt das, dass diejenigen, die jetzt dem
Pakt angehören, ihre Bedingungen nicht einfach fortschreiben können.
({7})
Das bedeutet, dass wir auch die Vorschläge, die aus den
Gewerkschaften kommen, daraufhin prüfen müssen, ob
sie zu mehr Ausbildungsplätzen führen. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung die Möglichkeit offen gelassen haben, zum
Beispiel die branchenbezogene Umlagefinanzierung zur
Steigerung von Ausbildungsplatzangeboten gemeinsam
mit den Partnern zu diskutieren.
({8})
Kollege Schummer, in diesem Zusammenhang ist nicht
nur der Bereich der Bauwirtschaft zu nennen; es könnten
auch noch andere erwähnt werden.
In der Debatte über das Berufsausbildungssicherungsgesetz haben wir auch darüber diskutiert, dass es in Zukunft immer wichtiger wird, den Fachkräftenachwuchs
in den Facharbeiterbranchen zu sichern. Branchenbezogene und ähnliche sektorale Konzepte können hierbei
durchaus von großer Bedeutung sein.
({9})
Nun höre ich immer wieder, dass die Zeit im Betrieb
sinnvoller ist als die Zeit in der Berufsschule. Was ist eigentlich Berufsfähigkeit? Was ist das Berufsprinzip?
Das Berufsprinzip besagt doch, dass sich die Ausbildung an den Arbeits- und Geschäftsprozessen im realen
Leben, in den Unternehmen, in den Betrieben und bei
den Dienstleistern, orientiert. Das, was die jungen Menschen dort auf der Grundlage von Ausbildungsplänen erfahren, wird im Berufskolleg theoretisch untermauert,
verarbeitet und weiterentwickelt. Dieses Berufsprinzip
kann man durch eine zu starke Modularisierung möglicherweise kaputtmachen. Dann würden wir den hoch
qualifizierten Fachkräftenachwuchs verlieren,
({10})
weil dieser Nachwuchs Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Handlungskompetenz entwickeln muss. Das
braucht seine Zeit. Wir haben seit Jahrzehnten - die erste
Reform stammt aus dem Jahre 1969, die letzte haben wir
in diesem Jahr gemeinsam auf den Weg gebracht - eine
geordnete Berufsausbildung in unserem Lande. Ich halte
das für richtig und bin deshalb gegen eine Modularisierung an dieser Stelle.
({11})
Im Berufsbildungsgesetz haben wir die Regelung der
vollzeitschulischen Ausbildung mit dem Rechtsanspruch
auf Abschlussprüfung bei den Kammern vorgesehen.
Diese ist in § 43 Abs. 2 geregelt. Wir sollten in diesem
Zusammenhang nicht vergessen, dass es hierzu einen gemeinsamen Beschluss des Bundesrates gab. Die Länder
haben uns aufgefordert, dies zu prüfen. Wir haben uns
damit sehr schwer getan, weil wir der Meinung waren,
dass es nicht ohne Teilhabe der Mitglieder im Landesausschuss für Berufsbildung auf den Weg gebracht werden kann. Interessant ist nur, dass bis heute keine Landesregierung diesen Weg eingeschlagen hat.
Insofern glaube ich, dass wir auch dieses Instrument
im Laufe der nächsten Jahre überprüfen werden. Ich
glaube, es war und ist für uns selbstverständlich, die
Wirkung der Reform des Berufsbildungsgesetzes in dieser Legislaturperiode zu überprüfen. An dieser Stelle ist
der Antrag der Linken nach meiner Auffassung nicht
notwendig.
Im Zusammenhang der Weiterentwicklung der beruflichen Bildung kommen wir unweigerlich zum europäischen Bildungsraum, Stichworte: europäischer Qualifizierungsrahmen und Leistungspunktesystem ECVET. Wir
sollten in den nächsten Monaten sehr genau aufpassen.
Ich plädiere dafür, dass wir uns Zeit für die Bewertung
dessen, was von der Kommission derzeit vorgeschlagen
hat, nehmen. Die Sozialpartner, Gewerkschaften wie Arbeitgeber, geben ihre Stellungnahmen bis zum 31. Dezember dieses Jahres ab. Sie sind hochinteressant. Ich
plädiere dafür, dass wir uns auch für deren Bewertung
Zeit nehmen. Wenn es zu dem europäischen Qualifizierungsrahmen kommt, sollten wir eine ausreichende Probezeit einplanen. Ich möchte nicht, dass wir über ein
europäisches Leistungspunktesystem und eine starke
Modularisierung eine Zerstückelung und einen Abbau
des Prinzips der Berufsfähigkeit in der Erstausbildung
bekommen und damit sozusagen durch die Hintertür,
über den Prozess der Harmonisierung, unser duales Berufsausbildungssystem kaputtmachen.
({12})
Das sollten wir nicht machen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich glaube, dass
die quantitative Entwicklung von großer Bedeutung ist,
die qualitative aber ebenso. Zum Beispiel haben wir mit
der Reform den Berufsbildungsausschüssen bei den
Kammern vor Ort wie auch denen auf Landesebene aufgegeben, Qualitätsansprüche, Qualitätsnormen und Qualitätsanforderungen für die Ausbildung zu entwickeln.
Das halte ich für richtig. Meiner Meinung nach geht es
darum, denen Freiheit zu geben, die in der Lage sind, an
den entscheidenden Stellen etwas auf den Weg zu bringen. Deshalb war es richtig, dass wir das gemacht haben.
({13})
Meine letzte Bemerkung betrifft die alte Leier von der
hohen Ausbildungsvergütung. Hier verweise ich auf
die entsprechenden Untersuchungen des BIBB, in denen
eindeutig zum Ausdruck kam, dass die Ausbildungsvergütungen nicht etwa zu hoch sind, sondern - im Gegenteil - nur in geringem Maße gestiegen sind.
({14})
Wenn Sie sich ansehen, in welchen Bereichen die meisten Ausbildungsplätze vorhanden sind, stellen Sie fest,
dass die Vergütungen nicht gerade hoch sind. Das
Durchschnittsalter der Auszubildenden ist höher und sie
müssen teilweise selbstständig leben. Ich sage Ihnen
klipp und klar: Das, was Sie wollen - die Abschaffung
der tarifpolitischen Auseinandersetzungen bzw. der tarifpolitischen Normen -, ist mit uns nicht zu machen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen heute, am Ende des Jahres 2005, ganz nüchtern feststellen, dass wieder nicht genügend Lehrstellen bereitgestellt wurden, dass nicht alle jungen Leute einen
Ausbildungsplatz gefunden haben und dass sich in diesem Jahr die Zahl der betrieblichen Ausbildungsstellen
sogar verringert hat. Auch aus diesem Grund muss man
leider feststellen, dass der Ausbildungspakt noch kein
Pakt des Erfolges ist.
({0})
Dabei darf es allerdings nicht bleiben. Es ist nicht nur
für die Teilhabe junger Menschen an der Gesellschaft
wichtig, sondern es ist auch eine ökonomische Frage,
dass unsere Berufsausbildung gut ist und alle Jugendlichen eine gute Berufsausbildung bekommen. Gerade
deshalb müsste es auch im Interesse der Wirtschaft sein,
wenn sie ihr Engagement verstärken würde, um neue,
zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen.
({1})
Union und SPD haben dieses Problem in ihrem Koalitionsvertrag zwar angesprochen. Aber es ist völlig unklar, wann und mit welchen konkreten Maßnahmen Sie
gegen die Lehrstellenmisere vorgehen wollen. Denn der
allgemeine Hinweis darauf, dass man noch eine Reform
des Berufsbildungsgesetzes durchführen und den Jugendlichen eine zweite Chance geben will, reicht aus
meiner Sicht nicht aus.
({2})
Dabei hat sich die neue Ministerin ausdrücklich - man
könnte auch sagen: notgedrungen - zu einer Berufs- und
Weiterbildungsministerin erklärt. Jetzt erwarten nicht
nur wir, sondern auch die Jugendlichen ganz konkrete
Schritte.
({3})
Von der FDP erreicht uns wieder ihr typischer Reflex,
dass die Ausbildungsvergütungen gesenkt werden müssten. Als ob 50 Euro weniger im Monat zu mehr Ausbildungsplätzen führen würden!
({4})
Die diesbezügliche Untersuchung wurde bereits angesprochen. Die Unternehmen haben bei der Schaffung
von Ausbildungsplätzen ganz andere Probleme. Ganz
besonders haarsträubend ist die Forderung Ihres Antrags, die Anerkennung der Abschlüsse vollschulischer
Ausbildungsgänge zurückzunehmen. Diese Möglichkeit
wurde gerade deshalb geschaffen, weil es in unserem dualen System nicht genügend Ausbildungsplätze gibt.
({5})
Die Bundesregierung muss die Anerkennung dieser Abschlüsse jetzt durchsetzen. Hier hat die Bundesregierung
eine Bringschuld.
({6})
- Ja, die auch. Aber da die Bundesministerin immer sagt,
dass sie künftig auf Bundesebene keine Zuschauerin sein
will, soll sie sich bitte einmischen.
({7})
Nun erklärt die PDS
({8})
die Umlage zum allein selig machenden Instrument. Für
meine Fraktion kann ich sagen: Sie ist ein Instrument.
Gerade weil wir in unserer Partei und Fraktion eine
lange Diskussion darüber geführt haben, kann ich Ihnen
aber auch sagen: Eine Umlage auf Bundesebene kann
sehr viele, auch bürokratische Tücken haben.
({9})
Deswegen haben wir uns auf das Moratorium und den
Ausbildungspakt eingelassen. Es gäbe auch andere Instrumente, die man prüfen könnte. Aber ich sage ganz
ausdrücklich: Der Pakt muss jetzt erfüllt werden. Jetzt ist
nicht die Zeit, sich zurückzulehnen. Vielmehr müssen
die Partner ihre Anstrengungen bis zum kommenden
Jahr auf jeden Fall verstärken,
({10})
zum Beispiel indem sich der Bund in Zusammenarbeit
mit den Ländern dafür einsetzt, dass die Kooperation der
Ausbildungsträger - der Schulen, der Betriebe und der
Arbeitsagentur - verbessert wird. Hier sieht die Zwischenbilanz des Paktes düster aus. Im Pakt ist die Verbesserung der Berufsreife vereinbart; diese lässt auf sich
warten. Die Überprüfung der Einstiegsqualifizierung ist
ebenfalls notwendig, und zwar nicht, weil nicht genügend Jugendliche über dieses Programm in eine Ausbildung kommen, sondern weil wir Hinweise haben, dass
die Hürden nach wie vor zu hoch sind, und weil das EQJ
nicht auf die Ausbildungszeit angerechnet wird.
({11})
Das muss überprüft werden; wir erwarten von Ihnen,
dass Sie hier tätig werden.
Frau Kollegin Hinz, bedenken Sie die Zeit!
Ich komme zum Schluss.
Meine Damen und Herren, der Ausbildungspakt gründet sich auf ein Moratorium. Wir wollen, dass die Bundesregierung bis zum Jahr 2006 ihre Anstrengungen mit
den Partnern verdoppelt und bis zum Beginn des
Jahres 2007 einen Bericht vorlegt, aus dem hervorgeht,
mit welchen neuen Instrumenten dann weitergearbeitet
werden muss. Das kann dann auch das Instrument einer
Umlage sein. Wir haben auf jeden Fall alle Anstrengungen zu unternehmen. Wir können es uns nicht leisten,
eine ganze Generation zu verlieren. Hier sollten wir alle
zusammenstehen und alle Partner, vor allen Dingen die
im dualen System, sollten ihrer Verpflichtung nachkommen.
Danke schön.
({0})
Frau Kollegin Hinz, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Alexander Dobrindt von der CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, wenn sich
der Deutsche Bundestag regelmäßig mit der Ausbildungssituation in Deutschland befasst. Das ist wichtig
für die Menschen - besonders für die Jugendlichen natürlich - und es ist wichtig, dass alle sehen, dass die Politik der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, den jungen
Menschen Ausbildungsplätze zu verschaffen, große Aufmerksamkeit widmet.
({0})
Es ist aber schlecht, wenn man feststellen muss, dass in
der Debatte keine wirklichen Fortschritte gemacht werden, sondern immer wieder die alten ideologischen Kamellen herausgeholt werden - ohne die reale Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
- Es gibt hervorragende Ausnahmen; gar keine Frage.
({2})
Im Antrag der Linken steht, dass es mit den Vereinbarungen zum Ausbildungspakt nicht gelungen ist, die
Wirtschaft hinreichend in die Verantwortung für die
Ausbildung zu nehmen und die Perspektiven für Jugendliche zu verbessern usw. Meine Damen und Herren von
der Linken, was Sie da schreiben, ist nicht nur falsch.
Vielmehr würdigen Sie damit auch die Leistung all derer
herab, die oftmals trotz schwieriger wirtschaftlicher
Lage ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in hohem
Maße nachkommen und zusätzliche Ausbildungsplätze
für die jungen Menschen zur Verfügung stellen, ihnen
eine Lehrstelle verschaffen.
({3})
Sie würdigen diejenigen herab, die wir in diesem Land
in besonderem Maße brauchen: die Mittelständler, die
Verantwortung übernehmen und sich engagieren, vor allem für die jungen Menschen in diesem Lande.
({4})
Die Ausbildungsplatzsituation hat sich gegenüber
dem Vorjahr verbessert: Die rechnerische Lücke zwischen den unbesetzten Ausbildungsplätzen und den noch
nicht vermittelten Bewerbern ist nochmals gesunken, sodass man davon ausgehen kann, dass zumindest bis Anfang nächsten Jahres jedem Bewerber eine Lehrstelle oder
eine Einstiegsqualifizierung angeboten werden kann. Das
ist das Ergebnis einer freiwilligen Kraftanstrengung von
Tausenden von Betrieben, die ihrer Verantwortung nachkommen - und dies ganz ohne staatliche Zwangsregulierung mittels einer Ausbildungsplatzabgabe.
({5})
Deswegen sind alle beteiligten Gruppen heute eigentlich der Überzeugung, dass der Ausbildungspakt funktioniert, nur die Linken und Teile der Gewerkschaften
nicht. Es wird Ihnen, meine Damen und Herren, aber
nicht gelingen - das sei an dieser Stelle gesagt -, die Anstrengungen, die viele gemeinsam unternommen haben,
hier schlecht zu reden. Für mich steht fest: Die Zukunft
der jungen Menschen muss im Vordergrund stehen. Deswegen setze ich auf Freiheit und nicht auf Zwangsverpflichtung.
({6})
Selbstverständlich müssen wir noch weitere Anstrengungen unternehmen; das ist überhaupt keine Frage. Die
derzeitige Situation darf man aber nicht unabhängig von
den Rahmenbedingungen betrachten. Zu den Rahmenbedingungen gehören zwei Dinge: zum einen ein modernes
Berufsbildungsgesetz und zum anderen eine Mittelstandsoffensive, die Signale für einen Aufschwung setzt.
Zum ersten Punkt. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes haben wir gemeinsam beschlossen.
({7})
Es beginnt, seine Wirkung zu entfalten.
Wir haben die Verbundausbildung gestärkt. Immer weniger Betriebe können angesichts der zunehmenden Spezialisierung alleine ein komplettes Berufsbild in der Ausbildung abdecken. Gemeinsam mit anderen Betrieben ist
das möglich. Es ergeben sich neue Synergieeffekte.
({8})
Wir haben die Stufenausbildung beschlossen. Natürlich bedarf sie etwas Zeit. Aber darin liegt die riesengroße Chance, dass theorieschwächere Jugendliche einen attraktiven Ausbildungsplatz vermittelt bekommen,
der dann in einen Arbeitsplatz mündet und nicht beim
Arbeitsamt, wie bei denjenigen, die eine vollzeitschulische Ausbildung gemacht haben. Das richte ich an diejenigen, die meinen, man könnte das Problem einfach mit
einer vollzeitschulischen Ausbildung beheben.
({9})
In das Berufsbildungsgesetz haben wir eine ganz
wichtige Formulierung aufgenommen. In dem Entschließungsantrag zu diesem Gesetz wird zum ersten Mal von
betrieblichen Bündnissen für Ausbildung gesprochen.
Die betrieblichen Bündnisse für Ausbildung müssen ausgebaut werden. Wir fordern, dass diese Chance offensiv
genutzt wird und zukünftig vor Ort in den Betrieben flexiblere Regelungen bei Arbeitszeit und natürlich bei
Vergütung, auch abweichend von tariflichen Vereinbarungen, wenn es nicht anders geht, gelten. Vor Ort kann
vieles geregelt werden, wenn sich alle Partner einig sind.
Das ist wichtig. Darin steckt auch eine große Chance für
mehr Ausbildung von jungen Menschen.
Zum zweiten Punkt, den ich angesprochen habe. Wir
müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für
den Mittelstand verbessern. Hier sind wir auf einem guten Weg. Gemeinsam haben wir im Koalitionsvertrag
vieles dazu vereinbart: Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten, Abbau der Bürokratie, deutliche Förderung von Forschung und Technologie.
Wir brauchen einen Maßnahmenmix, um die Ausbildungsplatzsituation in Zukunft zu verbessern. Dieser
Maßnahmenmix muss kreiert werden. Definitiv nicht
dazu gehört eine Ausbildungsplatzabgabe, wie von den
Linken gefordert.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/122, 16/235 und 16/198 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler,
Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zwangsverheiratung bekämpfen - Opfer
schützen
- Drucksache 16/61 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder Mensch hat das Recht, seinen Ehepartner selbst zu
bestimmen. So sieht es die UN-Menschenrechtskonvention vor.
({0})
Doch dieses Recht wird Tag für Tag nicht eingehalten.
Über 200 Frauen wenden sich jährlich allein in Berlin an
Beratungsstellen für zwangsverheiratete Frauen. In einer
Befragung im Auftrag der Bundesregierung äußerten
10 Prozent der Migrantinnen, zur Ehe gezwungen worden zu sein. Das wollen wir ändern.
({1})
Nun hat auch die Union damit begonnen, sich für die
spezifischen Interessen von Migrantinnen zu interessieren, allerdings häufig aus dem Grund, um die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert zu erklären. Wir Grünen sehen das anders. Wir wollen eine multikulturelle
Gesellschaft und wollen die Vielfalt der Kulturen.
({2})
Wo allerdings Menschenrechte verletzt werden, da endet
für uns jegliche kulturelle Toleranz.
({3})
Die grüne Bundestagsfraktion hat als erste Fraktion
Zwangsverheiratung und Gewalt im Namen der Ehre in
Deutschland thematisiert. Wir stehen für den Schutz von
Frauen vor Gewalt und Zwang.
({4})
In den vergangenen Jahren haben wir zusammen mit der
rot-grünen Regierung viel erreicht. Ich nenne nur das eigenständige Aufenthaltsrecht für verheiratete Migrantinnen und das ausdrückliche Verbot von Zwangsverheiratung im Strafgesetzbuch. Weitere Schritte sind aber
dringend nötig. Den „Aktionsplan Zwangsverheiratung
bekämpfen“ können Sie, verehrte Regierungskoalition,
jetzt gemeinsam mit den Bundesländern umsetzen.
Hinter mangelnden Mehrheiten im Bundesrat können
Sie sich jetzt nicht mehr verstecken.
({5})
Es wäre aber reine Symbolpolitik, jetzt nur das Strafrecht zu ändern. Das würde den Frauen nicht helfen. Darum wollen wir das seit 2005 bestehende Strafrecht erst
einmal evaluieren, statt es jetzt blind und sofort zu ändern. Was die Opfer von Zwangsverheiratung nämlich
wirklich brauchen, ist ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Nur so können sie sich einer Zwangsehe entziehen, ohne Angst vor einer Ausweisung zu haben.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der
CDU/CSU, nutzen Sie jetzt doch Ihre Mehrheiten und
vergessen Sie einmal Ihre Missbrauchsunterstellung gegenüber den Migrantinnen.
({7})
Konkret fordern wir, dass Frauen, die glaubhaft machen können, dass sie in Deutschland zwangsverheiratet
wurden, sofort ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Für die Frauen, die aus Deutschland zur Verheiratung in andere Länder verbracht werden, fordern wir,
dass ihr Aufenthaltsrecht nicht nach sechs Monaten erlischt, sondern dass sie die Möglichkeit haben, auch später als nach sechs Monaten nach Deutschland zurückzukehren. Diese Chance ist ihnen bisher verwehrt.
({8})
Die Flucht vor einer Zwangsehe gleicht heute in
Deutschland oftmals eher einem Hindernislauf. Darum
brauchen wir niedrigschwellige Beratungs- und
Schutzprogramme. Ohne bürokratischen Aufwand
müssen Betroffene Unterkunft, Papiere, Datenschutz
und Leistungen nach dem Jugendhilferecht erhalten. Wir
brauchen auch dringend verlässliches Datenmaterial;
denn ohne dieses können wir das tatsächliche Ausmaß
von Zwangsverheiratungen nicht sehen. Nicht zuletzt ist
das beste Instrument natürlich die Prävention. Hier sind
vor allem wieder die Länder am Zuge. Nachziehende
Ehegattinnen dürfen nicht länger ihrem Schicksal in ihrer neuen Familie überlassen werden. Indem wir Integrationsansprüche an sie stellen, stärken wir sie auch in ihrer eigenen Familie.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
das ist wesentlich sinnvoller, als den Frauen das Nachzugsrecht erst mit 21 Jahren zu gewähren. Das liegt auch
ganz knapp neben der Verfassung.
({10})
- Das ist ja die reinste Begeisterung hier am späten
Abend.
Besondere Aufmerksamkeit müssen wir aber auch
dem männlichen Geschlecht zukommen lassen. Die Erziehung zur Übernahme patriarchaler Rollenmuster und
männlicher Gewalt geschieht ja bereits früh in der Familie. Schule, Jungenarbeit, aber auch die MigrantInnencommunities müssen alles daran setzen, diese Situation
zu verändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Zwangsverheiratung ist keine Ehrensache, sondern sie ist eine Menschenrechtsverletzung. Lassen Sie uns in diesem Hause
gemeinsam darangehen, dies zu beenden. Ich freue mich
auf die Beratung und ich weiß von der einen oder anderen Kollegin und auch von Kollegen, dass sie unserem
Antrag inhaltlich zustimmen könnten. Vielleicht führen
wir ein Berichterstattungsgespräch durch und vielleicht
können wir in einem halben Jahr tatsächlich etwas für
die Frauen und auch für einige Männer tun.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Schewe-Gerigk, bevor ich auf Ihren Vortrag
eingehe, möchte ich erst einmal kurz eine kleine Geschichte erzählen. Sie hat sich vor zehn Jahren zugetragen.
Es war auch kurz vor Weihnachten und eine Marokkanerin lebte in meiner Familie. Wir freuten uns auf das
Weihnachtsfest, wie wahrscheinlich auch manche von
Ihnen, und wir freuten uns auf ein paar friedliche Tage in
der Familie. Das Mädchen hieß Latifa. Zu der Zeit
wurde Latifa aber immer introvertierter und verschlossener. Ich habe sie gefragt: Freust du dich eigentlich nicht,
dass du über Weihnachten nach Hause zu deiner Familie
fährst? - Sie sagte nichts. Kurz vor dem Abreisetermin
nach Marokko fing sie an zu weinen und sagte: Wenn ich
nach Hause komme, werde ich verheiratet. Meine Familie hat bereits alles arrangiert. - Damals habe ich zum
ersten Mal selbst gehört, mitbekommen und mitgefühlt,
was es für ein junges Mädchen bedeutet, zwangsverheiratet zu werden.
Latifa war verzweifelt und sagte: Ich kann ihn nicht
heiraten, ich hatte einen deutschen Freund und bin keine
Jungfrau mehr. Daraufhin habe ich mit meinem Selbstverständnis von Familie gesagt: Dann erkläre das doch
deiner Familie. Ich selber habe auch einen Migrationshintergrund. Ihre Antwort war: Nein, ich habe Angst um
mein Leben. - Diese Worte habe ich nicht vergessen.
Deswegen freue ich mich, dass ich zu diesem Thema
heute sprechen kann.
Es ist mir natürlich klar, dass wir relativ begrenzte
Möglichkeiten haben, um unmittelbar Einfluss auf die
Familienstruktur in einem Bergdorf in Marokko zu nehMichaela Noll
men. Manche Täter versuchen noch ihr Handeln mit dem
Argument zu rechtfertigen: Andere Länder, andere Sitten. Aber wir dürfen es hier nicht zulassen, dass das
Schicksal, das ich Ihnen gerade geschildert habe, auf
deutschem Boden passiert, und zwar mitten unter uns, in
Familien, die seit Generationen hier in Deutschland leben.
({0})
Viele von Ihnen haben von ähnlichen Schicksalen gehört, ob über die Medien oder die Presse. Das jüngste
Beispiel war der tragische Tod einer jungen Frau hier in
Berlin. Die Folgen von Zwangsverheiratung soll man ruhig einmal drastisch darstellen. Die jungen Frauen müssen meist die Schulausbildung abbrechen, sie werden
häufig sexuell ausgebeutet und sind meistens von ihren
Ehemännern finanziell abhängig. Sie haben kein eigenes
Leben. Tausende von diesen jungen Muslimas leben in
Deutschland unter dem Zwang des Patriarchats, zum
Teil in der Wohnung eingesperrt, hilflos gegen männliche Gewalt, bis hin zum Ehrenmord.
Allein in meinem Wahlkreis waren es im letzten Jahr
acht Frauen, die aus einer extrem isolierten Lebensform
ins Frauenhaus geflüchtet sind. Jede Dritte sagt: Ich bin
zwangsverheiratet worden. Diese Frauen haben keine
Chance auf Integration. Sie verschwinden in einer Parallelwelt. All dies ist eindeutig gegen unser Grundgesetz,
und zwar gegen Art. 3 - Gleichheitsgebot - und gegen
Art. 6, der die Eheschließungsfreiheit gewährleistet.
({1})
Unser Grundgesetz gilt für alle: für Männer und für
Frauen, ungeachtet der Herkunft und ungeachtet der Religion. Ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben ist ein grundlegender und zentraler Wert unserer Gesellschaft. Doch von diesen Rechten können diese Opfer
wirklich nur träumen. Deshalb müssen wir jetzt handeln.
Das werden wir auch tun.
Jetzt zu Ihrem Antrag. Aus frauen- und gesellschaftspolitischer Sicht ist das Ziel dieses Antrages, Opfer von
Zwangsheirat noch stärker zu schützen, zu begrüßen.
({2})
Wir können doch nicht nur von Einzelschicksalen sprechen; denn die Medien zeigen ja, dass die Dunkelziffer
viel höher ist. Viele Frauen trauen sich nicht, sich aus
diesen Zwängen zu befreien und die Tat anzuzeigen,
weil sie wissen, dass dies zu Racheakten in ihrer Familie
führen wird.
Konkrete Daten - da gebe ich Ihnen Recht - fehlen.
Deswegen halten wir eine bundesweite Studie zum
Thema Zwangsheirat für sinnvoll. Auch die Forderung,
die Antragsfrist zur Aufhebung der Ehe zu verlängern
und die Prävention zu verstärken, tragen wir mit. Aber
all das - Entschuldigung - ist nicht ganz neu. Das war
im Bundesratsentwurf bereits enthalten, Bundestagsdrucksache 15/5951. Sie ist zum Nachlesen sehr geeignet. Darüber hinaus stellt auch die Einführung eines niederschwelligen Schutzprogramms für Opfer einen
wichtigen Aspekt dar. Aber das ist Aufgabe der Länder
und der Kommunen.
Insofern kann ich nur sagen: Einige Punkte in Ihrem
Antrag gehen in die richtige Richtung. Aber die von Ihnen angedachten ausländerrechtlichen Änderungen gehen in vielen Punkten zu weit und sind auch in vielen
Punkten leider nicht praktikabel.
({3})
- Ich möchte jetzt auf diesen Vorschlag nicht im Detail
eingehen, weil dafür meine Redezeit zu kurz ist. Da dies
heute die erste Lesung ist, biete ich Ihnen an, darüber in
den weiteren Beratungen zu diskutieren.
Noch ein Wort zu Ihnen, Frau Schewe-Gerigk. Sie haben uns eben ein bisschen angegriffen. Schauen Sie einmal in unseren Koalitionsvertrag.
({4})
Auf den Seiten 119 und 120 steht genau, was wir hier erreichen wollen, und wir wollen einiges.
({5})
Das werde ich Ihnen kurz erklären.
Erstens. Es geht uns nicht nur um eine reine Strafrechtsverschärfung. Natürlich wollen wir einen neuen
Straftatbestand zur Zwangsheirat.
({6})
Wir wollen ihn ganz einfach deshalb einführen, weil damit mehr Rechtsklarheit geschaffen wird. Die gleiche
Situation haben wir beim Stalking.
Zweitens. Wir wollen die Prävention verstärken.
Auch wir wollen Betreuungs- und Beratungsangebote
verbessern. Aber wir haben einen anderen Ansatz. Wir
wollen das Selbstbewusstsein der Jungen und der Mädchen stärken.
({7})
Zunächst zum Straftatbestand. Es ist zwar richtig,
dass die Zwangsheirat unter den Nötigungsparagraphen
fällt. Aber wenn Sie sich mit Menschen aus der Praxis
unterhalten, dann sehen Sie ganz genau, dass eine solche
Bestrafung ausgesprochen selten Anwendung findet.
Deswegen sagen wir: Ein eigener Straftatbestand setzt
einfach ein deutlicheres politisches Signal. Deutschland
wird Zwangsverheiratung nicht dulden.
({8})
Der Entwurf, der im Sommer im Bundesrat verabschiedet wurde, enthält zum Beispiel zivilrechtliche Regelungen.
Manche Dinge sind nicht zu Ende gedacht. Warum reichen Frauen so selten den Antrag zur Aufhebung der Ehe
ein? Der Grund ist, dass sie dann vor dem finanziellen
Ruin stehen. Sie bekommen nämlich keinen Unterhalt.
Der Bundesratsentwurf zielte genau darauf ab, die Rechtstellung im Unterhaltsrecht und im Erbrecht zu verbessern; denn es darf nicht sein, dass der Täter hinterher das
Opfer beerbt. Die gesetzliche Erbfolge wird so ausgehebelt. All das enthält dieser Entwurf.
({9})
- Jetzt bin ich dran.
Außerdem ist eine Höchststrafe von zehn Jahren vorgesehen und schon der Versuch der Zwangsverheiratung
ist strafbar. Deswegen halte ich es für richtig, beim Strafrecht anzusetzen.
In einem gebe ich Ihnen Recht: Wir dürfen auch die
Täter nicht vergessen, und zwar die Brüder, Väter, Ehemänner und bedauerlicherweise auch die Mütter. Im Fall
des Ehrenmordes in Berlin waren es die Brüder des Opfers. Den Schlagzeilen war zu entnehmen, dass muslimische Oberschüler diesen Ehrenmord gefeiert haben. Dieselben Schüler hatten zuvor ein Mädchen gemobbt, weil
es nicht entsprechend gekleidet war. Das heißt, wir müssen bei den Jungen ansetzen. Denn die Akzeptanz, die
bei den Jungen in Migrantenfamilien anscheinend vorhanden ist, können wir auf Dauer nicht akzeptieren. Deswegen setzen wir gezielt auf Präventionsarbeit. Auch
hierbei sind die Schulen gefragt. Denn die Opfer sind
meistens minderjährig und schulpflichtig. Insofern können wir versuchen, unsere Präventionsarbeit in die Schulen zu transportieren. Ob die Lehrpläne dafür geeignet
sind, müssen wir dahingestellt sein lassen. Denkbar sind
zum Beispiel Schulungen von Vertrauenslehrern.
Dass die Täter nicht als „Zwangsverheirater“ geboren, sondern dazu erzogen werden, ist ebenfalls klar.
Was hat das zur Folge? Wir müssen versuchen, die Väter
und Mütter mit ins Boot zu holen. Denn nur bei den jungen Mädchen anzusetzen, greift meiner Meinung nach
viel zu kurz.
({10})
Auch die islamischen Organisationen sind gefordert.
Denn sie haben Zugang zu den Eltern und können diese
aufklären. Nur so erreichen wir ein Umdenken.
({11})
Außerdem müssen die Frauen über ihre Rechte aufgeklärt werden. Die mangelnden Deutschkenntnisse haben zur Folge, dass sie sich nicht über ihre Rechte informieren können.
Was Ihre Kritik an den Beschlüssen der Innenministerkonferenz angeht, weise ich darauf hin, dass eine verfassungsrechtliche Prüfung erfolgen wird. Aber Sie greifen sich immer nur die Rosinen heraus, wie es Ihnen
passt. Wichtig ist, dass bei der Einreise Deutschkenntnisse vorhanden sein müssen. Nur dann können sich die
Frauen vor Ort verständigen. Deswegen meine ich, dass
wir die Diskussion erst einmal abwarten sollten.
({12})
Wenn sie sich nicht verständigen können, brauchen diese
Frauen auch Beratung in türkischer und arabischer Sprache.
({13})
Wir wollen selbstbewusste Mädchen und Jungen, die
ihr Leben selbst bestimmen. Sie sollen selbst entscheiden dürfen, wie sie leben und wen sie lieben.
({14})
Jeder Fall von Zwangsverheiratung ist ein Fall zu viel.
Alle diese Opfer leiden. Bis zu 80 Prozent wurden vorher misshandelt oder missbraucht. Unser Maßnahmenpaket wird einiges ändern. Es wäre schön, wenn Sie uns
in dem Punkt folgen könnten.
Nun möchte ich noch einmal kurz auf Latifa zurückkommen. Sie hatte in ihrer Situation zwei Möglichkeiten, nämlich entweder einen Arzt zu finden - es gibt in
Deutschland Ärzte, die bestimmte Eingriffe wieder rückgängig machen - oder mit ihrer Familie zu brechen. Sie
hat sich für Letzteres entschieden und ist nicht mehr
nach Marokko zurückgekehrt. So weit darf es in
Deutschland nicht mehr kommen. Diese moderne Form
der Sklaverei muss ein Ende haben.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte kurz auf Ihre Rede eingehen, Frau Kollegin Noll.
Sie haben eindrucksvoll geschildert, wie Sie gerade um
Weihnachten eine hochproblematische Situation miterlebt haben. Ich meine das nicht zynisch, sondern sage es
ganz bewusst sehr nachdenklich: Weihnachten ist eine
Zeit, in der Scheidungsanwälte und Familienrechtsexperten viel zu tun haben.
Wir sprechen heute nicht zum ersten Mal über das
Thema Zwangsverheiratung. Schon in der Debatte vor
einem Jahr über den Antrag der FDP zum Thema „Kulturelle Vielfalt - universelle Werte. Neue Wege zu einer
rationalen Integrationspolitik“ wurde das Thema
Zwangsheirat von uns aufgegriffen und als Menschenrechtsverletzung nach Art. 6 Grundgesetz, Art. 16 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 12
der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten klassifiziert.
Die Zwangsheirat verletzt die Menschenwürde. Diese
ist ein zentraler Grundwert, deren Verletzung aus vorSibylle Laurischk
geblich religiösen oder kulturellen Gründen nicht toleriert werden kann.
({0})
Im Dezember 2004 war uns auch der Dialog mit Repräsentanten muslimischer Gruppen ein wichtiges Anliegen, um in die so genannten Communities der Migranten
hineinwirken zu können. Diesen Antrag haben Sie,
meine Damen und Herren von den Grünen, damals als
Mitglieder der Bundesregierung abgelehnt.
({1})
In einer weiteren Debatte des Bundestages am
10. März 2005 anlässlich des Internationalen Frauentages wurde das Thema Zwangsverheiratung erneut diskutiert. Wir hätten es tatsächlich sehr begrüßt, wenn seitens
der Grünen - damals in der Bundesregierung - eine Aktion aufgegriffen worden wäre, wie sie seitens des Landes Baden-Württemberg bereits angestoßen worden war.
Tatsächlich hat aber in der Debatte vom 10. März 2005
die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Beck, eingeräumt, dass es in der Politik immer wieder vorkomme, dass man zu lange brauche, um
zunächst verborgene gesellschaftliche Entwicklungen zu
entdecken.
({2})
Wenn nun die Grünen aufenthaltsrechtliche und zivilrechtliche Änderungen fordern, um die Situation der von
Zwangsheirat Betroffenen zu stärken, dann kann ich dies
nur begrüßen. Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass mit
§ 240 Abs. 4 StGB seit Februar 2005 die Zwangsheirat
als besonders schwerer Fall der Nötigung strafbar ist.
Die Anwendung dieses Paragraphen in den einzelnen
Bundesländern muss aber evaluiert werden. Es wäre sicherlich sehr hilfreich, zu erfassen, inwieweit dieser
neue Straftatbestand tatsächlich angewendet wird.
({3})
Ich möchte ergänzen: Die Ausdehnung der Strafbarkeit
scheint mir persönlich nicht der vorrangige Weg zu sein;
denn die flankierenden Maßnahmen - an diesen fehlt
es - sind, denke ich, wichtiger, um den bestehenden
Straftatbestand umzusetzen.
({4})
Richtigerweise muss man davon ausgehen, dass nur
bei bestehenden sachgerechten flankierenden Maßnahmen die einzelne Frau, die in der Regel das eigentliche
Opfer einer Zwangsverheiratung ist, tatsächlich den Weg
zu Polizei und Staatsanwaltschaft findet. Die begründete
Angst vor gewalttätigen Familienmitgliedern wird häufig dazu führen, dass sie ihr Schicksal weiter trägt und
keine Strafanzeige erstattet. Deshalb sind auch flankierende Maßnahmen unabdingbar, wie die Sicherstellung
der Finanzierung eines ausreichenden Netzes von Frauenhäusern und psychologischer Beratung der häufig
traumatisierten Opfer.
Eine Verbesserung des Aufenthaltsstatus ist ebenso
sinnvoll, darf allerdings nicht dazu führen - hier bin ich
hinsichtlich der Vorschläge der Grünen vorsichtig -,
dass die Behauptung einer Zwangsverheiratung automatisch zu einer Änderung der aufenthaltsrechtlichen Modalitäten führt. Dabei ist daran zu denken, dass im Antrag der Grünen vorrangig von Migrantinnen die Rede
ist. Es dürfte aber bei einer entsprechenden Änderung
der aufenthaltsrechtlichen Gesetzgebung kaum möglich
sein, ausschließlich für Frauen eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, wie
wir in dieser Frage eine angemessene Änderung - sie ist
möglicherweise notwendig - vornehmen, ohne das Kind
mit dem Bade auszuschütten.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass schon
im Sommer 2005 auf Betreiben des baden-württembergischen Justizministers Goll Zwangsverheiratung zum
Thema einer Bundesratsinitiative gemacht wurde. Leider
konnte dies wegen der vorgezogenen Bundestagswahl
nicht weiter behandelt werden.
Ich möchte noch auf einen anderen Gesichtspunkt
hinweisen, nämlich die familiäre Gewalt in unserer Gesellschaft insgesamt. Im Jahr 2000 wurde § 1631 Abs. 2
des BGB dahin gehend geändert, dass Kinder ein Recht
auf gewaltfreie Erziehung haben und dass körperliche
Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen nicht zulässig sind. Hier muss
im Grunde verstärkt angesetzt werden, um familiäre Entwicklungen, die in Druck zur Zwangsverheiratung münden, zu vermeiden. Auch die deutsche Gesellschaft muss
sich mit Fragen der familiären Gewalt auseinander setzen. Dies ist nicht ausschließlich ein Problem der so genannten Communities von Migranten und Migrantinnen.
Beim Thema „familiäre Gewalt“ geht es um eine breite
Problematik in unserer Gesellschaft. Um eine zunehmende Entwicklung von Parallelgesellschaften zu vermeiden, müssen die Vermeidung und der Abbau von familiärer Gewalt schon im Kindesalter eine vorrangige
Zielsetzung zur Prävention besonderer Gewaltformen
wie der Zwangsheirat sein. Kinder sind schon in Kindergarten und Schule entsprechend zu informieren und zu
erziehen.
Um die von der Bundesregierung zu ergreifenden
Maßnahmen - hoffentlich in Zusammenarbeit mit der
Integrationsbeauftragten - inhaltlich begleiten und bewerten zu können, wird die FDP-Fraktion im Rahmen
der Ausschussarbeit eine Anhörung beantragen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich gehe davon aus, dass die Zwangsehe nicht länger
ein Tabuthema in Deutschland bleibt, sondern durch eine
entschlossene Anwendung des bestehenden Strafrechts
- bei gleichzeitiger Entwicklung notwendiger flankierender Maßnahmen - auch im Kreis der Betroffenen zunehmend als eine die Menschenwürde verneinende
Straftat verstanden wird.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die türkische Zeitung „Hürriyet“ widmete einer
Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel
„Präventionsstrategien zur Zwangsverheiratung“ am
4. November dieses Jahres einen kurzen Artikel.
Ich habe mich darüber ziemlich geärgert; denn durch
eine Auswahl einiger Sätze aus meinem Referat, das ich
dort gehalten habe, hat diese Zeitung den Eindruck vermittelt, ich hätte die Unerträglichkeit von Zwangsverheiratungen selbst relativiert. Dabei hatte ich lediglich mit
Blick auf konkrete Erlebnisse, die ich genauso wie Frau
Noll als junge Frau hatte, aus meinem Freundeskreis
Beispiele für mit meinen Vorstellungen von Partnerfindung ebenfalls nicht vereinbare vermittelte Ehen gegeben. Ärgerlich an dem besagten „Hürriyet“-Artikel war
neben dieser gezielten Fehlinterpretation auch die Tatsache, dass mit keinem Wort erwähnt wurde, dass wir
bei der Novellierung des Sexualstrafrechts im
Februar 2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als
besonders schweren Fall der Nötigung ins Strafgesetzbuch aufgenommen haben. Dieser Paragraph ist eine
ausdrückliche Warnung an die Akteure, die Tochter oder
den Sohn gegen den eigenen Willen zu verheiraten bzw.
ihn oder sie eine Ehe schließen zu lassen, in die der
künftige Partner gezwungen wird.
({0})
Für mich und die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Es
gibt keine wie auch immer geartete Rechtfertigung der
Zwangsverheiratungen. Das haben wir hier schon mehrfach diskutiert. Auch in der Türkei ist die Zwangsverheiratung übrigens verboten. Frau Laurischk hat schon den
Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention
und den Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angesprochen. Diese klaren Botschaften
aufzunehmen, hätte ich von einer Zeitung, die immerhin
von der Mehrzahl der türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland gelesen wird und die eine Verpflichtung hat, bei der Integration dieser Menschen mitzuhelfen, eigentlich erhofft und erwartet.
({1})
Am meisten leiden unter der Zwangsverheiratung
junge Frauen, weil sie in einem traditionell männlich dominierten Umfeld die Schwächeren und Verletzbareren
sind, denen mit einer Zwangsehe auch alle persönlichen
Rechte genommen werden. Ich werde deshalb im Weiteren vorwiegend auf die Situation der jungen Frauen eingehen. Im Hinterkopf sollten wir aber auch die Situation
von jungen Männern haben, insbesondere von schwulen
jungen Männern, die, weil Homosexualität in islamisch
geprägten Ländern als krank und kriminell angesehen
wird, ebenfalls unter Anwendung von Zwang und Druck
verheiratet werden.
({2})
Tatsache ist, dass wir in Anbetracht der offensichtlichen
Häufung von Fällen in Deutschland dringend prüfen
müssen, wie die Zwangsverheiratung bekämpft werden
kann, bei der ja oft archaisch, grausam und ohne Rücksicht auf die Menschenwürde die Ehe auch mit Gewalt
vollzogen wird.
Eine wichtige Säule der Bekämpfung der Zwangsverheiratung ist zweifellos - da gebe ich Frau Noll Recht das Strafrecht. Ich habe gerade schon auf den
§ 240 StGB - besonders schwere Nötigung -, der schon
mehrfach angesprochen worden ist, mit einem Strafrahmen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren hingewiesen. Wir müssen hier ernsthaft prüfen, ob die Regelung
im § 240 ausreicht. Eine Evaluation in den nächsten Wochen und Monaten wäre da sehr hilfreich. Ich persönlich
tendiere allerdings gefühlsmäßig trotz der Gefahr einer
symbolischen Gesetzgebung zu einem eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung.
({3})
Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf eine
Entschließung der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates vom 20. Juni 2005, welche unterstreicht, dass sich auch Personen strafbar machen, die
freiwillig an der Zwangsverheiratung beteiligt waren,
zum Beispiel der Ehemann oder diejenigen, die zum
Beispiel als Familienangehörige Beihilfe zum Zustandekommen einer Zwangsverheiratung leisten.
Familienrechtlich ist schon heute eine unter Zwang
geschlossene Ehe ungültig. Ein Standesbeamter muss
seine Mitwirkung an einer Eheschließung verweigern,
wenn deutlich wird, dass ein Ehepartner durch Drohung
oder Druck zur Eheschließung gezwungen wird. Vielleicht wäre hier allerdings manchmal ein Einzelgespräch
mit jedem der künftigen Ehepartner eine Rettung für die
Betroffenen. Gleiches müsste meiner Ansicht nach für
Konsularbeamte gelten, die - auch das ist eine Anregung
des Europarates - bei der Übertragung im Ausland geschlossener Ehen die Ehegatten befragen sollten. Bei
den Regelungen zur Aufhebung einer Ehe müsste man
über eine eventuelle Verlängerung der Aufhebungsfrist
nachdenken. Aber auch das ist wie viele andere Dinge
einer entsprechenden Anhörung, die wir vielleicht
durchführen sollten, vorbehalten.
({4})
Neben dem Strafrecht und dem Zivilrecht gibt es - da
sind wir, Frau Noll, ein bisschen auseinander - auch auAngelika Graf ({5})
fenthaltsrechtlich und ausländerrechtlich je nach Situation einen unterschiedlichen Handlungsbedarf.
({6})
Da gibt es - Fall A - die so genannten Importbräute.
Sie sind - das muss man selbstkritisch sagen - ein Indiz
dafür, dass unsere Integrationsbemühungen bei manchen
jungen Männern im Migrantenmilieu und bei ihren Familien eben nicht erfolgreich waren. Unsicher und ohne
unsere Regeln des Zusammenlebens zu akzeptieren, holen sie sich eine Frau aus der Heimat, die in das traditionelle Familienbild passt. Eine solche „Importbraut“ kann
im Normalfall nicht Deutsch und ist jeder Einschüchterung, jedem Zwang, jeder Gewalt hilflos ausgesetzt. Das
wird sich meines Erachtens auch nicht ändern, wenn
man das Zuzugsalter erhöht, wie es die Innenministerkonferenz gefordert hat.
({7})
Ich glaube, dies bringt uns auch in Konflikte mit Art. 6
des Grundgesetzes, und zwar ganz abgesehen davon,
dass der gewünschte Effekt, wie gesagt, nicht eintreten
wird.
({8})
Viel wichtiger wäre hier - das ist ein Appell an die
Bundesländer und Kommunen -, mit einer aufsuchenden, nicht diskriminierenden Beratung Zugang zu den
Betroffenen zu suchen, um sie aus ihrer Isolation herauszuholen, sie dazu zu animieren, die Sprache zu lernen
und ihnen Hilfe anzubieten. Dazu gehört auch der Hinweis, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht für Ehepartner schon nach geltendem Recht in Härtefällen nicht
mit der üblichen zweijährigen Wartezeit verbunden ist.
Hier sollten wir allerdings über klarere Regelungen für
Opfer von Zwangsverheiratungen reden.
Ich komme nun zu Fall B: Immer mehr junge Frauen
mit ausländischer Staatsangehörigkeit werden aus
Deutschland in ihr Herkunftsland verbracht, um dort unter Zwang verheiratet zu werden. Ich hatte in meinem
Wahlkreis selber einen solchen Fall. Die Erfahrung, die
ich gemacht habe, ist, dass die Angelegenheit selbst
dann im Sande verläuft, wenn man sich einsetzt. Die
deutschen Botschaften oder Konsulate haben wenige
Möglichkeiten, Einfluss auf die offensichtlich lasche
strafrechtliche Verfolgung dieses Delikts in den betreffenden Ländern zu nehmen. Hier muss man, zum Beispiel im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Druck auf die jeweiligen Regierungen ausüben,
damit sich da etwas tut.
({9})
Andererseits müssen wir in Deutschland der Tatsache
ins Auge sehen, dass diese „Exportbräute“ mit der Verschleppung nach einem halben Jahr auch ihren gesicherten Aufenthaltstitel in Deutschland verlieren, selbst
wenn sie seit ihrer Geburt in Deutschland gelebt haben
und hier gut integriert waren. Oft wird ihnen auch der
Pass abgenommen. Wir müssen uns also überlegen, wie
wir mit diesem Phänomen umgehen.
({10})
Man sollte zum Beispiel über § 51 Abs. 1 und § 37 des
Aufenthaltsgesetzes diskutieren.
Grundsätzlich scheint es mir notwendig zu sein, die
Situation der Opfer stärker in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Da gebe ich all meinen Vorrednerinnen Recht. Der Antrag der Grünen hat diesbezüglich ja
einiges, was wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam diskutiert haben, aufgenommen.
Zu einem guten Opferschutz gehören Beratungsangebote und anonyme Schutzeinrichtungen. Hier sind die
Länder und Kommunen genauso wie bei der Bildung der
Betroffenen in der Pflicht. Das A und O ist aber eine
breite und aufklärende Informationspolitik,
({11})
die alle Multiplikatoren aus Sozialarbeit, Bildungseinrichtungen, Polizei und Justiz einschließt. Die Informationspolitik muss ebenso - damit komme ich zurück auf
diesen ärgerlichen Artikel in „Hürriyet“ - die Migrantenszene einbeziehen.
Für vorbildlich halte ich auch einen auf Türkisch erschienenen Flyer des Bezirksamts Kreuzberg, der mir
heute auf den Tisch kam. Er enthält eine Liste der Beratungs- und Zufluchtseinrichtungen in Berlin und spricht
den jungen Frauen Mut zu, sich gegen Zwangsverheiratungen zur Wehr zu setzen. Er beginnt mit dem Satz:
Sag Nein zur Zwangsverheiratung! Niemand darf
Dich gegen Deinen Willen verheiraten, nicht in der
Türkei, nicht in Albanien, nicht im Libanon, nicht
in Asien, nicht in Afrika und auch nicht in Deutschland. Nirgendwo.
Daran sollten wir uns halten. Daran sollten wir arbeiten.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dagdelen, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Es herrscht Einigkeit bei dem Thema
Zwangsheirat. Zwangsheirat ist ein Verstoß gegen das
Menschenrecht auf die freie Wahl des Ehepartners und
greift grundlegend in die körperliche und seelische Integrität der Betroffenen ein. Eine freiheitliche Rechtsordnung kann das nicht akzeptieren.
({0})
Es ist allerdings ein großer Unterschied, ob man wieder
nach Strafrechtsverschärfung ruft oder ob man über Traditionen, die in einer freiheitlichen Gesellschaft unangebracht sind, einen öffentlichen Diskurs führt mit dem
Ziel, dass die Akteure Einsicht gewinnen und ihr Verhalten freiwillig ändern.
Der Koalitionsvertrag sieht vor, Zwangsverheiratungen als eigenen Straftatbestand einzuführen. Auch der
uns vorliegende Antrag der Grünen geht mit der Forderung nach Prüfung weiter gehender strafrechtlicher Maßnahmen in eine ähnliche Richtung.
({1})
Die geführte Debatte mit dem Fokus auf das Strafrecht
birgt die Gefahr, eine Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren und ihr pauschal kulturelle Rückständigkeit zu
unterstellen. Es ist vielmehr eine gesellschaftliche
Debatte notwendig, die nicht dazu führen darf, die hier
lebenden Menschen, die kulturellen Minderheiten, insbesondere Muslime, zu stigmatisieren.
({2})
Zwangsheirat geschieht immer in patriarchalischen Gesellschaftsverhältnissen bzw. Geschlechterverhältnissen
und autoritären Familienstrukturen, die kulturell übergreifend sind.
Ich habe leider den Eindruck gewonnen, dass es in der
Debatte nicht primär darum geht, die Situation der Betroffenen wirklich zu verbessern.
({3})
Wenn dem so wäre, hätten die Verfasser des Koalitionsvertrags und auch die rot-grüne Regierung in den letzten
sieben Jahren statt auf eine Strafrechtsverschärfung auf
eine aufenthaltsrechtliche Verbesserung gesetzt. Sie hätten finanzielle Mittel zur Aufklärung und Prävention
vorgesehen und den Willen zum Ausdruck gebracht, die
Zusammenarbeit mit Frauen- und Migrantenorganisationen zu suchen. Davon ist kaum ein Wort zu lesen.
({4})
- Abwarten!
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bietet dagegen eine Reihe von positiven und auch konkreten Forderungen, die wir an dieser Stelle wirklich ausdrücklich
unterstützen. Längst überfällig ist nämlich die Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen für
Migranten.
({5})
Es geht zum Beispiel darum, die Rückkehroption für
diejenigen zu verlängern, die zwangsweise ins Ausland
verheiratet werden. Zwangsverheirateten Ehepartnern in
Deutschland muss ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
gewährt werden - unabhängig von der Dauer der Ehe.
Wir müssen ebenso einen Schwerpunkt auf Prävention legen. Das heißt, es gilt, in einen Dialog mit den Eltern zu kommen, sie davon zu überzeugen, sich für die
Interessen und die Freiheit ihrer Kinder einzusetzen.
({6})
Wir müssen Migranten und ihre Organisationen gewinnen, um mit ihrer Unterstützung diese wichtige Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsrecht besonders
von Frauen zu führen - jenseits kultureller Stigmatisierungen.
Zwangsverheiratungen müssen verhindert werden.
Dies kann uns nur gelingen, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Betroffenen Schutz und eine echte
Perspektive auf ein gleichberechtigtes, freies und unabhängiges Leben bieten, damit sie sich aus dieser
Zwangslage befreien können.
({7})
Wir als Fraktion Die Linke fordern die Bundesregierung deshalb auf, in Zusammenarbeit mit Frauen- und
Migrantenorganisationen sowie Beratungsstellen einen
Aktionsplan zur Bekämpfung von Zwangsverheiratung zu erarbeiten. Im Vorfeld dazu sollten die beteiligten Ausschüsse eine Anhörung durchführen.
Inwieweit die Regierung auch Verbesserungen der
aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen vorsieht, wird
letztlich Gradmesser dafür sein, Frau Noll und Frau
Graf, wie ernst es der großen Koalition mit ihrem Anliegen wirklich ist.
Ich bedanke mich.
({8})
Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich, wünsche
Ihnen persönlich und für Ihre Arbeit in diesem Hohen
Hause alles Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/61 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Sibylle Laurischk, Sabine LeutheusserVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gegen eine europaweit verpflichtende Vorratsdatenspeicherung
- Drucksache 16/128 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck ({2}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Freiheit des Telefonverkehrs vor Zwangsspeicherungen
- Drucksache 16/237 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat beginnen: Wir bekräftigen unsere bereits bei Novellierung des
Telekommunikationsgesetzes zum Ausdruck gekommene Ablehnung einer Mindestspeicherungsfrist für
Verkehrsdaten und fordern die Bundesregierung auf, einen etwaigen Beschluss in den Gremien der Europäischen Union, der eine solche Verpflichtung für Unternehmen in Deutschland vorsähe, nicht mitzutragen.
Meine Damen und Herren, das ist kein Beschluss von
ein paar von dem einen oder anderen vielleicht als
durchgeknallt eingeschätzten Datenschützern. Das ist
auch kein Beschluss des FDP-Kreisverbandes Düsseldorf. Das ist der Beschluss des Deutschen Bundestages,
kein Jahr alt. Wir haben das am 22. Dezember 2004 beschlossen und diskutieren heute darüber, was daraus in
Brüssel leider geworden ist.
({0})
Was ist denn das Ergebnis? Nach der Abstimmung im
Europäischen Parlament in dieser Woche werden in Zukunft 450 Millionen Bürger anlassunabhängig beim
Telefonieren - sei es mit dem Handy oder über das Festnetz - und auch bei jeder Bewegung im Internet überwacht.
({1})
So stelle ich mir einen Rechtsstaat, der auch den Bürgerrechten verpflichtet ist, nicht vor.
({2})
Die Telekommunikationsanbieter werden verpflichtet, alle diese Daten für mindestens ein halbes Jahr zu
speichern - es können aber auch 24 Monate oder länger
sein; mal schauen, was passiert. Damit Sie nur einmal
verstehen, was das für eine Masse an Daten ist: Das
sind 639 000 gebrannte CDs jeden Tag. Das sind im Jahr
233 Millionen Datenträger. Wenn Sie diese nebeneinander aufstellen, dann ergäbe das eine Breite von
116 Kilometern. Glauben Sie im Ernst, dass das effektiv
sein kann?
({3})
- Das ist aber beschlossen worden. ({4})
Das sind nur die Mindestzahlen. Das ist im Übrigen auch
etwas, was mit Datensparsamkeit nach dem Bundesdatenschutzgesetz wirklich nichts mehr zu tun hat.
Es geht aber nicht nur um die Frage der Masse, sondern auch um die Frage der Kosten. Diese Richtlinie
wird dem Wirtschaftsstandort Deutschland erheblich
schaden. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf
150 Millionen Euro. Diese Kosten müssen nach dem erklärten Willen der Bundesregierung von den Unternehmen gezahlt werden.
Der Bundesinnenminister sagt dazu sogar, das seien
staatsbürgerliche Pflichten. Meine Damen und Herren,
ich wundere mich wirklich, was aus einem ehemaligen
Bundesvorsitzenden einer wirtschaftsnahen Partei geworden ist, wenn er sich so verhält.
({5})
Ich habe mir staatsbürgerliche Pflichten ehrlich gesagt
immer etwas anders vorgestellt; aber er wird mir das
vielleicht im Einzelnen erklären können.
Frau Ministerin Zypries hat die Richtlinie sogar mit
den Worten begrüßt, dass sie den deutschen Interessen
zugute komme. Ich habe nicht verstanden, was das mit
unserem Beschluss zu tun hat, der ja zumindest für die
erste Zeit ihrer Verhandlungen noch gegolten hat. Ich bin
gespannt, wie die Bundesregierung diese Richtlinie jetzt
umsetzen wird und ob sie tatsächlich bei der Mindestdauer bleibt.
({6})
- Ich habe hier schon vieles erlebt. Die Überlegung, dass
man bei der einen oder anderen EU-Richtlinie draufsattelt, kennen Sie von Rot-Grün nun wirklich gut genug.
({7})
Heute Nachmittag haben wir über das Zollfahndungsdienstgesetz und auch über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur präventiven Telefonüberwachung gesprochen. Hier haben wir jetzt eine präventive
Datensammlung für alle unsere Bürger. Das halten wir
Liberale nicht für richtig und für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
({8})
Das bedeutet aus unserer Sicht einen schwerwiegenden
Eingriff in Grundrechte insbesondere absolut rechtstreuer Bürger. Auch das dürfen Sie nicht vergessen.
Mit diesem Vorgehen setzen Sie den Begriff der Verhältnismäßigkeit wirklich außer Kraft; denn wer kann eigentlich noch beurteilen, was verhältnismäßig ist: sechs
Monate, zwölf Monate, fünf Jahre, zehn Jahre? Das kann
leider keiner von uns mehr beurteilen. Es hätte Methoden gegeben, die weniger einschneidend gewesen wären.
Das ist offensichtlich überhaupt nicht diskutiert worden.
Auch diese Kritik richte ich an die Bundesregierung.
Ein weiterer Punkt, der für uns wichtig ist: Wie wollen Sie eigentlich noch die Pressefreiheit garantieren,
wenn Sie das umsetzen? Denn natürlich sind Mandantenschutz und Informantenschutz dann überhaupt nicht
mehr gegeben. Auch da sind wir gespannt. In der Vergangenheit ist die rot-grüne Bundesregierung ein bisschen lax mit diesem Thema umgegangen. Wir wollen
einmal schauen, was hier passiert.
Wir sind leider eines Besseren belehrt worden.
({9})
- Ich diskutiere heute mit Ihnen. - Ich dachte nämlich,
dass es in Deutschland so ist, dass jemand, der im Internet surft, ein Recht auf Privatheit hat. Ich stelle aber fest:
Privatheit wird ein Luxus. Sie haben in Brüssel zu dieser
Kontinuität in der Rechtspolitik beigetragen. Kontinuität
heißt hier aber leider Abbau von Bürgerrechten.
({10})
Noch nie in der Geschichte hat es in so kurzer Zeit einen
solch starken Abbau von Bürgerrechten gegeben.
({11})
Wir Liberale wollen Sie daran erinnern, dass das
Grundgesetz Maßstab des Handelns des Parlaments ist.
Daran sollten Sie sich alle halten. Es geht um ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit unter Berücksichtigung anerkannter Verfassungsgrundsätze. Es tut
mir Leid, wenn ich Sie daran erinnern muss. Ich befinde
mich dabei in guter Gesellschaft mit dem Bundesverfassungsgericht.
Ihr Beitrag in Brüssel, aber auch Ihre Koalitionsvereinbarung, in der das Wort Bürgerrechte nicht ein einziges Mal vorkommt,
({12})
lassen uns nichts Gutes ahnen.
({13})
Frau Kollegin, ich muss Sie ermahnen, auf die Redezeit zu achten.
Frau Präsidentin, meine letzte Bemerkung. „Mehr
Freiheit wagen!“, das würden wir uns in diesem Bereich
insbesondere von der großen Koalition wünschen.
({0})
Wir sind gespannt, ob Sie den Mut dazu haben.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär der
Justiz, Alfred Hartenbach.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Was ein Glück, dass es Frau Piltz und die
FDP gibt. Ansonsten würde es in Deutschland in Sachen
Rechtsstaatlichkeit sofort duster.
({0})
Die Bundesregierung hat den Beschluss des Bundestages ernst genommen und sie nimmt auch ihre Verpflichtung für Bürgerrechte ernst. Sie hat in Brüssel in
Sachen Vorratsdatenspeicherung lange, intensiv und
durchaus erfolgreich verhandelt.
({1})
Wir haben einen Kompromiss erreicht, mit dem wir
zufrieden sein können.
({2})
- Sie auch, Herr Ströbele.
({3})
Es ist uns gelungen, die Vorratsdatenspeicherung auf das
zu reduzieren, was wirklich zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität erforderlich und angemessen ist.
Übrigens hat auch das Europäische Parlament mit
Ausnahme der Grünen, der Liberalen und anderer
({4})
- immerhin die beiden großen Volksparteien - gestern
mit großer Mehrheit diesem Kompromiss zugestimmt,
sodass die Richtlinie jetzt verabschiedet werden kann.
Man sollte sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass
Entwürfe der Kommission und einer Gruppe von vier
Mitgliedstaaten auf dem Tisch lagen, die erheblich weiter gegangen wären als das jetzige Ergebnis.
({5})
Was haben wir erreicht? Die Mindestspeicherfrist
wird nach der Richtlinie sechs Monate betragen und
nicht zwölf oder 24 Monate, wie es in den Entwürfen
stand und wie Sie es, Frau Piltz, als Menetekel eben an
die Wand gemalt haben. Erfolglose Anrufversuche müssen nicht gespeichert werden, es sei denn, es geschieht
bereits. Das war eines unserer wichtigsten Anliegen.
Denn die Speicherung dieser Daten wäre einerseits für
die TK-Unternehmen sehr teuer geworden und andererseits gibt es in der Tat keinen Bedarf für die Speicherung
dieser Flut von Daten.
Ebenfalls nicht gespeichert werden müssen Standortdaten am Ende von Mobilfunkverbindungen. Auch
das war gefordert worden. Ich denke, auch hier haben
wir ein großes Stück Rechtsstaatlichkeit erreicht, indem
nicht durch das Anlegen von engmaschigen Bewegungsprofilen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird.
Beim Internet wird schließlich lediglich gespeichert,
dass sich der Nutzer online befindet. Es werden ebenfalls
Daten zur Internettelefonie und bezüglich der E-MailDienste gespeichert. Inhalte, wie immer behauptet wird,
also auch Informationen, welche Websites benutzt werden, werden nicht gespeichert.
Der kritische Beschluss des Bundestages vom Januar,
nicht vom Dezember, hat uns bei den Verhandlungen in
Brüssel den Rücken gestärkt.
({6})
- Wir waren dankbar dafür; das weiß der Herr Tauss
auch. - Wir haben diesen Beschluss zur Grundlage unserer Verhandlungsposition gemacht und uns dafür auf europäischer Ebene sehr viel Kritik anhören müssen.
({7})
- Von dir, lieber Jörg, auch eine Menge Kritik. - Von den
Initiatoren der Vorratsdatenspeicherung haben wir verlangt, dass der Umfang der Speicherpflicht überdacht
und der Bedarf für die Speicherung der einzelnen Daten
rechtstatsächlich belegt wird.
Das ist auch geschehen. Wir brauchen Verbindungsdaten zur Aufklärung von schwersten Straftaten und zur
Aufdeckung von organisierten Täterstrukturen.
({8})
Bei bestimmten Delikten - denken Sie etwa an den Internethandel mit Kinderpornographie, verehrter Herr
Ströbele - bieten die Verbindungsdaten oftmals sogar
den einzigen weiterführenden Ermittlungsansatz. Dass
dieser Bedarf besteht, wird wohl auch die FDP-Fraktion
nicht bestreiten. Wir haben erst vor gut einem Jahr die
Geltungsdauer der §§ 100 g und 100 h Strafprozessordnung, die den Zugriff auf ebendiese Daten erlauben, verlängert, und zwar mit den Stimmen aller Fraktionen,
auch mit denen der FDP. Oder haben wir heute eine völlig neue FDP?
Wenn umfangreiche Ermittlungen durchzuführen
sind, lässt sich oft nicht sofort erkennen, welche Verbindungsdaten benötigt werden. Nach einem Terroranschlag
kann es eine Weile dauern, bis man weiß, auf welche
Personen sich die Ermittlungen konzentrieren müssen
und auf welche Verbindungsdaten es ankommt. Das ist
ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit, weil die Unternehmen die Verbindungsdaten üblicherweise nach kurzer
Frist - in aller Regel nach drei Monaten - nicht mehr für
ihre Kundenrechnungen benötigen und die Daten löschen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Verbindungsdaten auch noch nach diesen drei Monaten gebraucht werden. Schon deshalb sollen die TKUnternehmen in Zukunft bestimmte Datenarten noch
weitere drei Monate vorhalten, insgesamt also mindestens sechs Monate.
Natürlich ist diese Speicherpflicht ein Eingriff in die
Grundrechte nicht nur der Nutzer, sondern auch der
TK-Unternehmen. Das will auch niemand wegreden.
Nur, daraus folgt nicht, dass eine solche Regelung per se
gegen die Verfassung verstoßen würde,
({9})
wie das die FDP in ihrem Antrag zu suggerieren versucht. Daraus folgt nur, dass eine entsprechende Regelung vernünftigen Gemeinwohlbelangen dienen muss
und dabei die Grenzen der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind. Beides ist hier gewährleistet.
Eine Totalverweigerung in Brüssel, so wie es die Antragsteller offenbar wollen, ist und war kontraproduktiv.
Wer von vornherein blockiert, wird auch nicht in Kompromissverhandlungen einbezogen und hat deshalb
keine Chance, die auf dem Tisch liegenden Entwürfe
mitzugestalten und zu verbessern. Bei einer Blockadehaltung wären wir von der Mehrheit der anderen Mitglieder überstimmt worden, ohne dass es zuvor Zugeständnisse in unsere Richtung gegeben hätte, so wie wir
sie jetzt in vollem Umfang erreicht haben. Vermutlich
hätte uns dann die FDP wieder vorgehalten, dass wir
nicht vernünftig verhandelt hätten.
Lassen Sie mich abschließend eines sagen - Frau Präsidentin, das ist mein letzter Satz; Sie brauchen nicht
streng zu schauen -: Natürlich haben wir diesem Kompromiss unter Parlamentsvorbehalt zugestimmt. Ich darf
schon jetzt versichern, dass wir zunächst einmal das Parlament in weiteren Beratungen mit dieser Richtlinie befassen werden und dass wir dann bei der Umsetzung der
Richtlinie alle rechtsstaatlichen Gesichtspunkte so beachten, wie Sie das in einem Rechtsstaat erwarten dürfen.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Jan Korte, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist für mich als Neuling der Linken besonders
bemerkenswert, dass die große Koalition offensichtlich
ausgerechnet die FDP, mit der ich ideologisch relativ
wenig zu tun hatte,
({0})
und die Linksfraktion in Sachen Demokratie zusammenschweißt. Denn - dies ist im Antrag der FDP richtig formuliert - der vorliegende Vorschlag einer Richtlinie ist
ein weiterer staatlicher Angriff auf die Privatsphäre und
bedeutet einen weiteren Abbau von Bürgerrechten. Jeder, der ein Telefon benutzt, eine E-Mail schreibt, eine
SMS verschickt oder ins Internet geht, steht künftig de
facto unter Generalverdacht. Das ist entgegen der Meinung der Kanzlerin weniger, nicht mehr Freiheit. Deswegen lehnen wir dies ab.
({1})
Einen Eingriff solchen Ausmaßes in das Fernmeldegeheimnis und in die Privatsphäre hat es noch nicht gegeben. Es wurde schon angedeutet, dass auch die Pressefreiheit dadurch beeinträchtigt wird, da niemand mehr
einen Quellen- und Informantenschutz gewährleisten
kann, außer man trifft sich auf einer dunklen Brücke im
Nebel, sofern diese nicht bereits videoüberwacht wird.
({2})
Es ist falsch, dass diese Eingriffe unter dem Deckmäntelchen der Terrorbekämpfung erfolgen sollen; denn den
Beweis der Nützlichkeit wie auch den Nachweis des
konkreten Sinns und Zwecks der Vorratsdatenspeicherung ist die Bundesregierung und sind auch Sie, Herr
Staatssekretär, uns schuldig geblieben.
({3})
Darüber hinaus ist die Maßnahme ein bürokratischer
Moloch und droht zu einem Milliardengrab zu werden.
Merkwürdig ist - damit komme ich auf meine Eingangsbemerkung zurück -, dass sich ausgerechnet die
Linke und die FDP zusammenfinden müssen, um gegen
diesen weiteren Schritt zum Überwachungsstaat zu opponieren. - Ich habe heute nach kurzer Zeit festgestellt,
dass ich umso mehr Recht haben muss, wenn Herr Tauss
dazwischen ruft.
({4})
Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schließen:
Wer wie ich stets den aufgeblähten Überwachungsapparat der DDR kritisiert hat, kann nicht für die Vorratsdatenspeicherung sein. Die Linke immerhin hat aus der
Geschichte gelernt. Es ist schade, dass dies bei der großen Koalition offensichtlich nicht der Fall ist. Mit den
Bürgerrechten geht es weiter bergab. Rot-Grün hat schon
die entsprechende Vorarbeit geleistet. Ich erinnere nur an
die Otto-Pakete. Jetzt geht es mit verschärftem Tempo
weiter. Rechtsstaatlich aber wird es mit Sicherheit nicht
dunkel; dafür wäre die FDP ein zu kleines Licht. Jetzt ist
die Linke wieder im Bundestag. Deswegen wird es eher
hell werden.
Schönen Dank.
({5})
Herr Kollege Korte, auch Sie haben heute Ihre erste
Rede in diesem Hohen Hause gehalten. Herzlichen
Glückwunsch und für Sie persönlich und für Ihre Arbeit
hier alles Gute!
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Martina
Krogmann, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Anstatt hier apokalyptische Szenarien zu entwerfen, wie es der Kollege von der Linken und die Kollegin von der FDP getan haben, möchte ich empfehlen,
angesichts dieses wichtigen Themas wieder zu einer Versachlichung zurückzukommen.
({0})
Bei dem Thema der Vorratsdatenspeicherung ist es
wichtig - das hat Frau Piltz richtigerweise gesagt -, die
Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden, man
kann auch sagen: zwischen den berechtigten Interessen
der Bürger und der Strafverfolgungsbehörden nach Sicherheit, den gesellschaftlichen Interessen und natürlich
auch den Interessen der Telekommunikationsunternehmen nach Gewinn und Wirtschaftlichkeit. Dabei kommt
es ganz entscheidend auf die Verhältnismäßigkeit der
Maßnahmen an. Es ist völlig richtig: Keiner in diesem
Hohen Hause will wahllos Datenberge anhäufen. Es geht
auch nicht darum, die Unternehmen zu entlasten oder
gar, wie Ihr Vorwurf lautete, über Gebühr zu belasten.
Um welche Daten geht es hier? Das, Frau Kollegin
Piltz, habe ich in Ihrem Antrag ein bisschen vermisst.
Man muss natürlich die Daten, um die es geht, exakt aufführen, weil sonst in der Bevölkerung Ängste geschürt
werden, was wir nicht wollen und was aus meiner Sicht
auch verantwortungslos wäre. Es geht um Verkehrsdaten, die Rückschlüsse auf Nutzer, Ort und Kommunikationsstrukturen zulassen, also darauf, wer zu welchem
Zeitpunkt mit wem telefoniert bzw. kommuniziert. Diesen Daten kommt bei der Ermittlung, Feststellung und
Verfolgung von Straftaten eine ganz entscheidende Bedeutung zu, zum einen wegen der neuen und in immer
stärkerem Maße genutzten Möglichkeiten der modernen
Kommunikation und zum anderen, weil sich gerade der
Telekommunikationsmarkt immer rasanter fortentwickelt und immer neue Geschäftsmodelle angeboten
werden. Stichworte sind hier die Internettelefonie und
die immer häufiger werdenden Pauschaltarife, also
Flatrates, nicht nur im Festnetz, sondern auch im Mobilfunk.
Bei diesen Geschäftsmodellen besteht für Unternehmen überhaupt keine Veranlassung mehr, die Verkehrsdaten, die ich vorhin angesprochen habe, für die Abrechnung zu speichern. Sie brauchen die Daten einfach nicht
mehr, weil die Kunden eben eine Pauschale zahlen, egal
wie oft und wie lange sie telefonieren. Angesichts der
heutigen Rechtslage in Deutschland hätten die Behörden
überhaupt keinen Zugriff auf diese Daten mehr, weil es
sie nicht mehr gibt. Insofern ist die Einführung von Mindestspeicherpflichten bezüglich bestimmter Daten bei
Beachtung der Prinzipien der Verhältnismäßigkeit ein
berechtigtes Anliegen.
({1})
Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich dafür auf
EU-Ebene erfolgreich eingesetzt hat. Dafür mein Dank,
Herr Staatssekretär Hartenbach.
({2})
Es ist richtig, sich in Europa auf einen Korridor zu einigen. Denn in Europa haben wir ein ganzes Sammelsurium unterschiedlichster nationaler Vorschriften und
technischer Regelungen. Gerade der Bereich Telefonie/
Internet macht nicht an staatlichen Grenzen halt. Wenn
es uns um die Verfolgung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht, dann müssen wir international, vor allem europaweit, konsequent vorgehen. Der
Flickenteppich an unterschiedlichen Modellen, den wir
in Europa haben, erschwert dies. Deshalb brauchen wir
gesetzlich festgelegte Mindestspeicherfristen in diesem
Korridor.
({3})
Wichtig ist mir, dass wir nach dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit vorgehen. Für uns in der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion gelten eindeutige Prinzipien:
Es muss klar definiert sein, zu welchem Zweck die Daten vorgehalten werden müssen, nämlich zur Ermittlung,
Feststellung und Verfolgung bestimmter Straftaten. Es
dürfen keinesfalls alle anfallenden Daten auf Vorrat gespeichert werden - diesen Eindruck erwecken Sie von
der FDP leider in Ihrem Antrag -, sondern nur ganz bestimmte Datentypen. Niemand will jeden Mausklick
oder den gesamten Internettraffic aufzeichnen.
({4})
Dies wäre unverhältnismäßig. Das würde einfach nur
Datenberge anhäufen. Das wollen wir nicht.
({5})
Um zur Versachlichung der Debatte beizutragen: Es
geht keinesfalls um die Aufzeichnung der Inhalte der
Kommunikation, sondern sowohl bei der Sprachtelefonie als auch beim E-Mail-Verkehr nur um die Verkehrsdaten.
Bei der Verhältnismäßigkeit spielt die Speicherfrist
eine große Rolle. Sie - die Linke weniger, weil sie in der
vergangenen Legislaturperiode nicht im Parlament dabei
war - werden sich an die Gespräche über das Telekommunikationsgesetz und die vielen Monate intensiver Diskussion auf EU-Ebene erinnern. Teilweise wurden Speicherfristen von 24 Monaten, sogar von 32 Monaten
({6})
- 36 Monaten! - gefordert. Dies geht eindeutig zu weit
und lässt sich schon deshalb nicht rechtfertigen, weil der
überwiegende Teil der Anfragen der Strafverfolgungsbehörden sich auf Daten bezieht, die nicht älter als sechs
Monate sind. Deshalb ist aus meiner Sicht alles, was darüber hinausgeht, unverhältnismäßig. Dies wollen wir
nicht.
({7})
Die Verhandlungen der Bundesregierung, gestärkt
durch den Antrag, den wir im Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode interfraktionell verabschiedet
haben, haben zu einem pragmatischen Entwurf geführt,
der eine Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen „Freiheit“ und „Sicherheit“ sowie den Interessen
der Telekommunikationsunternehmen herstellt, die wir
im Lissabon-Prozess in einem vereinigten Europa natürlich nicht über Gebühr national einseitig belasten dürfen.
Darüber hinaus konnte bei der Umsetzung in nationales Recht hinsichtlich der Dauer der Vorratsdatenspeicherung ein flexibler Zeitkorridor vereinbart werden.
Nationalstaatliche, individuelle Lösungen sind wichtig,
weil einige Länder in diesem Bereich unterschiedliche
Traditionen und Bedürfnisse haben. Ich begrüße es, dass
die Bundesregierung in der Richtlinienentscheidung
klare Akzente setzen konnte: so wenig Vorratsdatenspeicherung wie möglich, aber eben auch so viel wie notwendig, um die Sicherheit zu gewährleisten.
({8})
Für uns sind insbesondere folgende Punkte, die verankert werden konnten, wichtig: Erfolglose Anrufversuche
und die Standortdaten am Ende einer Mobilfunkverbindung sind in die Speicherungsverpflichtungen nicht
einbezogen, weil deren Erfassung nach den uns vorliegenden Stellungnahmen der Telekommunikationsunternehmen für die Unternehmen Kosten in Millionenhöhe
bedeutet hätte, ohne dass sie einen zusätzlichen Sicherheitsgewinn mit sich gebracht hätte.
({9})
- Ein Riesenerfolg. Ich bin dankbar, dass dies auch die
Kollegen von der FDP so werten.
({10})
Der Herr Staatssekretär hat schon angesprochen, dass
die Standortdaten bei Mobilfunkverbindungen nur für
den Beginn der Verbindung, nicht für ihr Ende gespeichert werden. Das war für unsere Fraktion ein ganz
wichtiger Punkt in den Verhandlungen. Im Internet dürfen lediglich die Einwahldaten, IP-Adressen und Verkehrsdaten zu E-Mails und Internettelefonie gespeichert
werden, ausdrücklich nicht Mausklicks und der gesamte
Internettraffic, weil dies unverhältnismäßig gewesen
wäre. So wird ein angemessenes Verhältnis zwischen
den sicherheitspolitischen Belangen, den gesellschaftlichen und den Unternehmensinteressen gewahrt.
Ich kann die Behauptung in dem Antrag der FDP, das
Kommunikationsverhalten der europäischen Bevölkerung werde lückenlos erfasst, vor dem Hintergrund dessen, was sich jetzt auf europäischer Ebene bewegt hat,
absolut nicht verstehen. Ich finde es grob fahrlässig,
wenn man auf diesem Wege versucht, bei den Bürgern
Ängste zu schüren. Sie stellen den Sinn der Vorratsdatenspeicherung ganz grundsätzlich infrage.
Frau Kollegin, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie
Ihre Redezeit bereits überzogen haben?
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Die FDP
begründet dies mit den Umgehungsmöglichkeiten, die
man im Internet hat. Natürlich kann sich jeder irgendwo
in ein Internetcafe setzen und versuchen, dies so anonym
wie möglich zu tun. Wer aber davon ausgeht, dass man
im Internet sowieso versuchen kann, anonym zu bleiben,
der erklärt das Internet zum rechtsfreien Raum im
21. Jahrhundert und kapituliert vor den Straftaten im Internet. Wir lassen das nicht zu. In diesem Sinne werden
wir das, was auf EU-Ebene erreicht worden ist, unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere und verurteile, dass sich die Bundesregierung in
ihren Verhandlungen nicht an das eindeutige Votum des
Bundestages gehalten hat. Dieses Votum haben wir nicht
nur einmal als fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag abgegeben, sondern auch im Rahmen des Telekommunikationsgesetzes und bei der Zurückweisung der
Forderung des Bundesrats.
Ich finde, das ist schon ein ziemlich merkwürdiger
Vorgang. Andere EU-Staaten haben sich in dieser Frage
anders verhalten. Sie haben eindeutig erklärt, sie könnten dem Kompromissvorschlag nicht zustimmen, weil
ihre Parlamente Vorbehalte angemeldet hätten. Wenn
uns die jetzige Bundesregierung auffordert
({0})
- ich habe sehr genau zugehört -, erst einmal dieser EURichtlinie, die gegen diesen Beschluss verstößt, zuzustimmen, um als Bundestag dann bei der Umsetzung der
Richtlinie beteiligt zu werden, dann habe ich dafür wenig Verständnis.
({1})
Ich möchte die Argumente gar nicht wiederholen; auf
die bürgerrechtlichen Gründe ist schon eingegangen
worden. In Zukunft werden wir die Kommunikationsdaten von 400 Millionen EU-Bürgern langfristig speichern. Der Vorstandsvorsitzende des Verbands der deutschen Internetwirtschaft hat zum Verhalten der großen
Koalition in Deutschland gesagt: Mit der Begründung,
Terroristen zu jagen, speichert man jetzt nutzlose Daten
auf Kosten der Industrie. - Auch der Dachverband der
europäischen Internetwirtschaft bringt ein sehr interessantes Argument an: Dadurch wird der globale Wettbewerb völlig verzerrt. Die Maßnahmen, die in Europa
offensichtlich für die Terrorismusbekämpfung erforderlich sind, belasten die gesamte europäische Internetwirtschaft in hohem Maße und schädigen ihre Wettbewerbsfähigkeit. Aus diesem Grunde sage ich Ihnen:
Solche Regelungen wären in den USA, wo es bekanntermaßen die größten Internetprovider gibt, nicht möglich.
Noch kurz dazu, welche Regelungen zur Terrorismusbekämpfung es in Amerika gibt: Die US-Behörden haben in begründeten Verdachtsfällen - also in Einzelfällen die Möglichkeit, die Provider zu bitten, bestimmte Kundendaten zu speichern. Dann haben sie 90 Tage Zeit, um
Beweise zu sammeln und per Gerichtsbeschluss die Herausgabe der Daten über eine bestimmte Person zu erwirken. Das sind die Regelungen, die in den USA, selbst
im Zuge der Terrorismusbekämpfung, gelten.
Diese bürgerrechtsfreundlichen Regelungen wurden
in den USA möglich, weil die dortige Regierung auf die
erheblichen Nachteile für die Wirtschaft reagiert hat.
Ich führe dieses Argument an, weil die große Koalition
auch angetreten ist, um die Bürokratie abzubauen und
die Wirtschaft zu entlasten. Aber die Vertreter der deutschen Telekommunikationswirtschaft - das belegt eine
ganze Reihe von Zitaten, die mir vorliegen - sind über
Ihr Verhalten entsetzt.
Lassen Sie mich zum Schluss - ich habe nur vier Minuten Redezeit - deutlich sagen: Die Regierung kann
den Unternehmen, wenn es um die Frage der Entschädigung geht, nun wahrlich nicht das Sammeln von Dateien
für die Polizei auferlegen. Das ist nicht deren staatsbürgerliche Pflicht, sondern bringt nur Ihre wirtschaftsfeindliche Haltung zum Ausdruck.
Ihr „Kompromiss“ - das sagen alle Bürgerrechtsorganisationen und alle Datenschützer - stellt einen massiven
Eingriff in die freie Telekommunikation dar. Rot-Grün
hat einmal von einer freien Informationsgesellschaft geredet. Sie haben es allerdings geschafft, die überwachte
Informationsgesellschaft auf den Weg zu bringen. Mit
Sicherheit hat das Ganze nichts zu tun, sondern es ist in
hohem Maße bürgerrechtsfeindlich und wirtschaftsfeindlich.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Dr. Peter Danckert, SPD-Fraktion, hat
seine Rede zu Protokoll gegeben. Deshalb schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/128 und 16/237 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 16/237 - Zusatzpunkt 14 - soll
abweichend von der Tagesordnung zur Federführung an
den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Dezember 2005,
9 Uhr ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einen schönen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.