Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich, wünsche Ihnen bzw. uns einen guten Morgen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige amtliche Mitteilungen zu machen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in
der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu Forderungen nach der
Fortsetzung der Steinkohlesubventionen für einen Sockelbergbau
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({0})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), Kai Gehring und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen
Fällen ({2})
- Drucksache 16/4148 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Diaspora - Potenziale von Migrantinnen und Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen
- Drucksache 16/4164 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({5})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 16/4172 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 16/4173 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 16/4174 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 16/4175 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 16/4176 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 16/4177 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 16/4178 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 16/4179 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 16/4180 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Protestaktionen der Gewerkschaften zur Heraufsetzung
des Rentenalters
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe
Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken
- Drucksache 16/4153 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und
einen kritischen Dialog
- Drucksache 16/4165 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({17})
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({18}),
Irmingard Schewe-Gerigk, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft vollenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Kauch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen
von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksachen 16/497, 16/565, 16/4057 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({19})
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung
einer Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte
Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte, ihre Tätigkeiten in den Bereichen nach Titel VI des
Vertrags über die Europäische Union auszuüben
KOM ({21}) 280 endg.; Ratsdok. 10774/05
- Drucksachen 16/150 Nr. 2.65, 16/… Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Josip Juratovic
Michael Link ({22})
Dr. Hakki Keskin
Omid Nouripour
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
({23})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({24}),
Rainder Steenblock, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU
stärken - Mandat der Grundrechteagentur sinnvoll
ausgestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning,
Michael Link ({25}), Christian Ahrendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht gebraucht
- Drucksachen 16/3617, 16/3621, 16/4195 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Florian Toncar
Volker Beck ({26})
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland,
Volker Beck ({27}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Datenschutz und Bürgerrecht bei der Einführung biometrischer Ausweise wahren
- Drucksache 16/4159 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({28})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Bekämpfung des Dopings im Sport
- Drucksache 16/4166 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({29})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann,
Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das neue Bild vom Alter - Vielfalt und Potenziale anerkennen
- Drucksache 16/4163 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({30})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU im
21. Jahrhundert
- Drucksache 16/4171 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung - Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen und ihre
Angehörigen
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 32 - Attraktivität des Soldatenberufes steigern - soll ohne Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. An der Stelle wird stattdessen der Punkt 24 - Turkmenistan - aufgerufen und sofort
abgestimmt. Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 26 schon nach dem Tagesordnungspunkt 16 und
der Tagesordnungspunkt 17 erst nach dem Tagesordnungspunkt 23 aufgerufen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das haben Sie alle sicherlich sorgfältig notiert. Für
Rückfragen stehen wir hier oben aber gern zur Verfügung.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 23. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Sportausschuss ({31}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Hans-Joachim
Otto ({32}), Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundgesetzes
({33})
- Drucksache 16/387 überwiesen:
Rechtsausschuss ({34})
Sportausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({35}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Ratspräsidentschaft für eine zukunftsfähige EU nutzen
- Drucksache 16/3327 überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({36})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie mit den vorgetragenen Vereinbarungen ein-
verstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2007 der Bundesregierung
Den Aufschwung für Reformen nutzen
- Drucksache 16/4170 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({37})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2006/07 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 16/3450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({38})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005
- Drucksache 16/2460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({39})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Anlagenband
zum Sechzehnten Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005
- Drucksache 16/2461 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({40})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Michael Glos.
({41})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Nun sagen es auch die Statistiker: 2006 war
ein sehr erfolgreiches Jahr. Wir hatten ein wirtschaftliches Wachstum von 2,5 Prozent. Wir haben damit die
Prognosen aller Pessimisten weit übertroffen. Selbst die
amtlichen Prognostiker haben dieses Wachstum nicht
vorausgesehen. Es war die höchste Wachstumsrate seit
dem Boomjahr 2000.
Ich komme jetzt zur Zukunft. Wir haben sehr gute
Aussichten, das Wachstum fortzusetzen. Vor allem eines
ist ganz besonders erfreulich: Die Arbeitslosigkeit ist
binnen Jahresfrist um 764 000 verringert worden.
({0})
Ich bedanke mich in allererster Linie beim deutschen
Mittelstand; denn die Arbeitsplätze, die neu und zusätzlich geschaffen worden sind, sind vor allem im Bereich
der kleinen und mittleren Unternehmungen entstanden.
Wir haben aber auch große Fortschritte erzielt, was
die Konsolidierung unseres öffentlichen Gemeinwesens
anbelangt. Die Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent,
die der Vertrag von Maastricht vorschreibt, ist nach fünf
Jahren nicht wieder verletzt worden, sondern mit
1,9 Prozent wesentlich unterschritten worden. Das ist ein
sehr akzeptables Ergebnis.
Deswegen haben wir ein sehr gutes Fundament, um
das robuste Wachstum fortzusetzen. Das ist das Verdienst selbstverständlich von vielen, von den Beschäftigten und den Tarifparteien, die in den letzten Jahren
Lohnzurückhaltung geübt haben - sonst wäre diese Position nicht zu erreichen gewesen -, aber auch von den
Unternehmungen, die sich entsprechend aufgestellt haben, die ihre Bilanzen bereinigt haben und die sich vor
allem dem internationalen Wettbewerb verstärkt gestellt
haben. Aber es ist natürlich auch ein Verdienst der neuen
Bundesregierung.
({1})
Unsere wirtschaftspolitische Strategie hat dem Land
wieder Zukunftsperspektiven gegeben und vor allen
Dingen Vertrauen zurückgebracht. Das Vertrauen ist in
der Wirtschaftspolitik ein ungeheuer wertvolles Gut.
Deswegen müssen wir auch den Weg der Reformen
weitergehen und insbesondere die Reformen jetzt zügig
umsetzen, die wir versprochen haben; ich komme noch
darauf. Den Optimismus, den ich teile, vertreten inzwischen Unternehmer, Investoren und zunehmend auch die
Verbraucher. Das ist ganz besonders wichtig. Die Stimmen der Skeptiker - da braucht man nur nachzulesen, was
allein in diesem Haus im Laufe des letzten Jahres alles gesagt worden ist -, die geglaubt haben, der Aufschwung
werde durch die Umsatzsteuererhöhung zunichtegemacht, sind weniger geworden. Ich habe überhaupt nichts
dagegen, dass man mahnt. Aber das ging teilweise weit
über Mahnungen hinaus. Es war der Versuch, den Aufschwung kaputtzureden.
An der positiven Tendenz ändern auch aktuelle Nachrichten über den Ifo-Geschäftsklimaindex und den Konsumklimaindex der GfK nichts. Die konjunkturelle
Grundtendenz bleibt aufwärtsgerichtet.
({2})
Eines macht sich immer deutlicher bemerkbar: Wenn
man keine Angst mehr um den Arbeitsplatz hat, dann
wird man wieder ausgabefreudiger. Ich bin überzeugt,
der private Konsum nimmt zu.
Auch für Investitionen sind die Voraussetzungen hervorragend. Die Kapazitätsauslastung ist inzwischen sehr
gut. Die Gewinne entwickeln sich kräftig, vor allem bei
exportorientierten Unternehmungen. Wir wissen, dass
man nur aus Gewinnen investieren kann. Deswegen sind
die Gewinne kein Selbstzweck. Außerdem haben wir
Konkurrenz um international anlagesuchendes Kapital.
Wir wollen, dass das Kapital nach Deutschland strömt
und nicht Deutschland ausweicht, wie das jahrelang der
Fall gewesen ist.
({3})
Das Wachstum ist bereits im letzten Jahr - das stimmt
zusätzlich optimistisch - zu drei Vierteln aus einer anziehenden Inlandsnachfrage entstanden. Dieser Trend setzt
sich fort, sodass wir nicht mehr so empfindlich sind,
wenn außenwirtschaftliche Entwicklungen nicht so eintreten sollten, wie wir es gegenwärtig prognostizieren.
Für 2007 haben deswegen alle Experten ihre Wachstumserwartungen hochgeschraubt. Sie bewegen sich
zwischen 1,3 und 2,1 Prozent. Wir von der Bundesregierung stellen uns auf die sichere Seite. Unsere Wachstumsprognose beträgt rund 1¾ Prozent, spitz gerechnet:
1,7. Ich bin optimistisch, dass man im nächsten Jahr wieder sagen kann: Wir haben die Zielmarke überschritten
und sind nicht daruntergeblieben.
({4})
Wir erwarten eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten um 300 000 im Jahr 2007. Das ganz besonders Erfreuliche daran ist: Dieses Wachstum der Beschäftigung
wird in allererster Linie im sozialversicherungspflichtigen Bereich stattfinden. Das ist auch für die Konsolidierung der Sozialkassen ganz wichtig. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt weiter um etwa
480 000 auf rund 4 Millionen zurückgehen. Hier besteht
die Chance, dass wir möglicherweise im Jahresdurchschnitt unter 4 Millionen bleiben. Aber ganz genau weiß
man das selbstverständlich immer erst, wenn das Jahr
herum ist.
Wir sind also auf einem guten Weg, keineswegs am
Ziel. Wir dürfen die Menschen nicht in der Illusion wiegen, dass alles prima und paletti sei und von selber so
weitergehe. Genau das ist nicht der Fall. Wir müssen das
Wachstum auch nutzen, um Reformen durchzuführen.
({5})
Wir müssen vor allen Dingen aufhören, den Menschen
Angst vor Reformen zu machen. Sie haben immer
Angst, für sie ändere sich etwas zum Negativen. Aber
wenn man spürt, es wächst und es geht voran, dann hat
man auch sehr viel mehr Vertrauen in Reformen. Wir leben in einer Welt, die sich, ob man will oder nicht, täglich wandelt. Wir müssen den Wandel positiv mitgestalten, damit wir Deutschen bleiben, was wir sind, nämlich
Welthandelsnation Nummer eins und die drittstärkste
Nation dieser Erde, was Industrieproduktion anbelangt.
({6})
An der Stelle möchte ich sagen: Ich freue mich, dass
ich der Präsident von vier europäischen Räten bin. Ich
habe inzwischen viel über europäische Politik dazugelernt und darüber, wie es auf europäischer Ebene zugeht.
Ich vertrete die Interessen Europas in der Welt mit großer Überzeugung. Aber innerhalb Europas vertrete ich
deutsche Interessen.
({7})
Ich sehe darin überhaupt keinen Widerspruch. Wenn der
deutsche Wachstumsmotor gut läuft, dann ist das gut für
Europa. Das passiert aber nicht im luftleeren Raum, sondern man muss immer wieder konkret sagen, wo unsere
deutschen Interessen liegen. Manchmal gibt es nämlich
konkurrierende Interessen.
Wir wollen die CO2-Emissionen - nach der Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft sind diese Emissionen
Ursache für die Erderwärmung, die uns immer mehr
Sorgen macht -, soweit uns das möglich ist, bekämpfen.
Aber wir müssen es in der Weise tun, dass die deutsche
Wirtschaft darunter nicht so leidet und dadurch die Beschäftigung in andere Teile der Welt abwandert, wo man
sehr viel weniger sorgfältig mit der Umwelt umgeht.
Auch das muss man immer wieder ganz deutlich herausstreichen und man muss alles tun, um die Menschen auf
diesem Weg mitzunehmen.
Ich möchte noch kurz auf den Bereich der Autos zu
sprechen kommen. Natürlich wollen wir, dass der
Schadstoffausstoß immer geringer wird. Dazu braucht es
neue Entwicklungen und Zeit. Wir können aber kein
Diktat der Kommission hinnehmen und wir können auch
nicht hinnehmen, dass man alles über einen Kamm
schert.
({8})
Ein anderes Beispiel, bei dem es um deutsche Interessen geht. Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der betreffenden Industrie machen sich berechtigte Sorgen, dass der EADS-Konzern, der das
europäische Gemeinschaftsflugzeug Airbus baut und der
breiter aufgestellt ist und nicht nur den zivilen Flugzeugbau umfasst, schwierige Zeiten durchläuft. Nun ergibt es
keinen Sinn - dieses Haus wird sich noch damit beschäftigen -, alle Fehler aufzuzählen, die in der Vergangenheit
passiert sind. Sicher sind darunter auch hausgemachte
Fehler: im Management und in einzelnen Unternehmensteilen. Wenn es nun um die Sanierung geht, müssen
wir natürlich darauf achten, dass dabei die Interessen der
deutschen Standorte gewahrt bleiben.
({9})
Dafür werde ich mich mit Nachdruck einsetzen, soweit unser öffentliches Gemeinwesen überhaupt darauf
Einfluss haben kann. Dieser Einfluss besteht weniger in
Subventionen und Hilfen, die direkt aus meinem Haushalt fließen. Wir wissen auch, dass der Verteidigungsminister wesentliche Teile seines Investivhaushaltes für
Aufträge an den EADS-Konzern verwendet. Wir müssen
natürlich darauf achten, dass unsere Interessen berücksichtigt werden, wenn es um Entscheidungen darüber
geht, wo in Zukunft die hochqualifizierten Arbeitsplätze
sein werden.
({10})
Ich möchte noch zu ein paar Details des Jahreswirtschaftsberichts kommen. Wir müssen natürlich schauen,
dass die Investitionsdynamik unserer Wirtschaft erhalten
bleibt. Dazu gehört, dass wir weiter Reformen durchführen. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir die Unternehmensteuerreform, die in das Verhalten der Wirtschaft
quasi schon eingepreist ist, zügig umsetzen. Man verlässt sich darauf, dass wir eine Unternehmensteuerreform durchführen und dass wir unsere Steuersätze wettbewerbsfähig machen.
Wir haben nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegen, das uns auferlegt, Veränderungen im
Erbschaftsteuerrecht vorzunehmen. Der Finanzminister wird in den nächsten Tagen sicher noch viel dazu sagen. Ich meine: Jetzt zeigt sich deutlich, wie nötig es gewesen ist, dass wir einen Gesetzentwurf eingebracht
haben, durch den die Unternehmensnachfolge erleichtert
wird. Angesichts der Tatsache, dass in Zukunft die bebauten Betriebsgrundstücke höher bewertet werden müssen, wäre der Betriebsübergang, was die Kapitalentnahme angeht, insbesondere bei mittleren und kleinen
Unternehmen noch sehr viel schwieriger. Deswegen
müssen wir schauen, dass wir diese Reform zügig abschließen und dass ein vernünftiges Ergebnis auf den
Tisch gelegt wird.
({11})
Wir wollen weiter modernisieren. Wir wollen Bürokratie abbauen. Dazu haben wir zwei Mittelstandsentlastungsgesetze eingebracht. Das eine steht schon im Bundesgesetzblatt; das andere befindet sich jetzt im
parlamentarischen Verfahren. Damit ist es noch nicht zu
Ende; wir werden weiter daran arbeiten. Wir drängen in
der Europäischen Union darauf, dass auch dort ein
Bürokratieabbau erfolgt. Das 25-Prozent-Ziel, das man
sich dort gesetzt hat, ist ein richtiges und konkretes Ziel;
es ist zu erreichen. Wir wollen die Unternehmungen
nicht ständig mit neuen Regulierungen knebeln, sondern
dem unternehmerischen Handeln Raum geben.
Wir wollen vor allen Dingen auch - dafür will ich
mich während der Ratspräsidentschaft ganz besonders
einsetzen -, dass die Zoll- und Zugangsschranken auf
den internationalen Märkten weiter gesenkt bzw. beseitigt werden. Wir möchten, dass die Doharunde der
WTO-Verhandlungen erneut an Dynamik gewinnt. Ich
bedanke mich bei Frau Bundeskanzlerin Merkel, dass sie
sich dafür beim amerikanischen Präsidenten ganz besonders eingesetzt hat. Ich halte das für künftiges Wachstum
in Deutschland, Europa und der Welt für unverzichtbar.
({12})
Wir wollen auch, dass die Wissensgesellschaft weiter
ausgebaut wird. Dafür sind in dieser Legislaturperiode
zusätzliche Haushaltsmittel bereitgestellt. Seitens meines Hauses wird gerade damit der mittelständischen
Wirtschaft sehr stark geholfen, Forschung und Innovationen zu fördern.
Wir müssen natürlich immer da modernisieren, wo es
notwendig ist, und in zukunftsgerichtete Technologien
investieren. Dabei kommt es zwangsläufig zu Veränderungen. Ich bin, obwohl es gestern Abend keine volle Einigung gegeben hat, immer noch optimistisch, dass es
uns gelingt, die Förderung der deutschen Steinkohle sozialverträglich und kalkulierbar für alle zurückzuführen
mit dem Ziel, sie zu beenden. Denn es gibt auf dem
Weltmarkt genügend Kohle. Sie ist dort sehr viel billiger
einzukaufen. Es ist besser, die Ressourcen, die dort gebunden werden, in zukunftsgerichtete Technologien zu
stecken.
({13})
Damit bin ich bei meinem letzten Thema: bei der
Energie. Die Preissteigerungsrate des letzten Jahres, die
mit 1,7 Prozent sehr maßvoll war, beruht zu 0,8 Prozent
auf gestiegenen Energiekosten. Daran hat natürlich der
hohe Öl- und Gaspreis einen wesentlichen Anteil, aber
auch die Tatsache, dass wir innerhalb des Energiemarktes in Deutschland noch nicht genügend Wettbewerb haben.
Es gibt jetzt hoffnungsfrohe Ansätze. Wir werden uns
in der Europäischen Union für mehr Wettbewerb einsetzen. Der gemeinsame europäische Energiemarkt ist so
wichtig, wie es einmal die Gemeinschaft für Kohle und
Stahl, die vor 50 Jahren am Anfang des Prozesses der
europäischen Vereinigung stand, war. Bis dahin werden
wir auch mit nationalen Maßnahmen dafür sorgen, dass
den Verbrauchern nicht übermäßig in die Tasche gegriffen wird.
({14})
In diesem Zusammenhang möchte ich all jene, die sagen,
das Ganze sei ein Handeln wider die Marktwirtschaft, an
Ludwig Erhard erinnern, der immer gesagt hat: Zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch, dass man eine entsprechende Kartellgesetzgebung hat, um Oligopolen auf
die Finger zu schauen.
({15})
- Vielen Dank. Ich nehme den Beifall gerne entgegen,
auch von der ganz linken Seite dieses Hauses.
({16})
Lassen Sie mich mit einem herzlichen Dank an diejenigen schließen, die dazu beigetragen haben, dass eine
Sorge, die uns bewegt hat und über die wir oft diskutiert
haben, etwas geringer geworden ist. An der Steigerung
der Zahl der angebotenen Lehr- und Ausbildungsplätze haben viele - auch in diesem Hause - mitgewirkt.
({17})
Es gibt hier wunderbare Beispiele. Mich freut ganz besonders - dies darf ich noch ausführen -: Diejenige
Handwerkskammer, die zumindest nach den mir vorliegenden Zahlen das Angebot am stärksten gesteigert hat,
war die Handwerkskammer von Unterfranken.
({18})
Das ist zufälligerweise meine Heimat. Ich bedanke mich
bei ihr stellvertretend für alle, die das fast genauso gut
gemacht haben.
Danke schön.
({19})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere
Handballer sind spitze, unsere Fußballer sind klasse, nur
die Kopfballer von der Regierung bleiben auf der Bank
sitzen. So wird man nicht Weltmeister.
({0})
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht mit den Worten „Den Aufschwung
für Reformen nutzen“ überschrieben. Damit haben Sie
völlig recht. Sie müssen die Zeit, in der sich die wirtschaftliche Lage verbessert, nutzen, um endlich notwendige Reformen anzupacken. Das Dach repariert man am
besten, wenn es draußen nicht heftig regnet. Aber Sie
müssen auch handeln. Mit dieser Aussage haben Sie
recht. Aber warum handelt die Bundesregierung nicht?
Wer hindert sie daran? Wir nicht. Die große Koalition ist
eher eine Achse der Reformunwilligen, die anstehenden
Reformen werden von ihr nicht angepackt.
({1})
Vor lauter Frühlingsgefühlen haben Sie in der Regierung offenbar zu früh die Badehosen angezogen. Draußen sind aber noch Regen und Wind. Wir stellen fest:
Das Wirtschaftswachstum schwächt sich gegenüber dem
Vorjahr ab, die Massenarbeitslosigkeit ist unverändert
hoch, und der Konsum ist gedämpft. Es geht nicht darum, Reformen nur um der Reform willen zu machen,
also Aktionismus zu betreiben. Das haben Sie uns bei
der Gesundheitsreform zur Genüge vorgeführt.
„Viel Lärm um nichts“ ist noch milde formuliert.
Shakespeare würde sich bei dem Vergleich wahrscheinlich im Grabe umdrehen. Nein, Sie haben viel Lärm um
nichts Gutes gemacht: um höhere Steuern, um noch
mehr Bürokratie, um höhere Kassenbeiträge und um weniger Wettbewerb. Es geht aber um sinnvolle Reformen,
die erfolgreiches Wirtschaften auf lange Sicht möglich
machen sollen. Da ist nicht alles Gold, was Sie uns als
glänzend verkaufen wollen. Sie können das im Hauptgutachten der Monopolkommission nachlesen. Deutsche
Unternehmen verlagern nach wie vor in beachtlichem
Umfang ihre Aktivitäten ins Ausland. Wir können und
wollen nicht mit Niedriglohnländern konkurrieren, aber
es muss doch Aufgabe der Politik sein, dafür zu sorgen,
dass die Unternehmen ihre Firmensitze nicht wegen zu
hoher Steuern oder starrer Arbeitsmärkte ins Ausland
verlagern. Wir brauchen andere Rahmenbedingungen.
({2})
Herr Glos, ich will Ihr Bemühen um den Bürokratieabbau nicht bestreiten. Die Bürokratiekosten unserer
Unternehmen werden auf 46 Milliarden Euro geschätzt.
Durch das Mittelstandsentlastungsgesetz haben Sie davon knapp 60 Millionen Euro gestrichen. Es ist nicht
verkehrt, statistische Erhebungen für Kleinunternehmen
auf drei Stichproben pro Jahr zu beschränken, die Gewinngrenzen für die Buchführungspflicht zu erhöhen
und Anfragen ans Gewerberegister zu vereinfachen. All
diese Maßnahmen sind richtig, aber sie reichen nicht. Sie
müssen umfassend Bürokratie abbauen und die Unternehmen entlasten.
({3})
Ich weise auf die Generalunternehmerhaftung hin. Ein
Generalunternehmer haftet für seine Subunternehmer,
wenn diese Sozialversicherungsbeiträge nicht abführen.
Ich weise auf die Bauabzugsteuer hin. 15 Prozent des
Rechnungsbetrags müssen, wenn keine bürokratische
Freistellungsgenehmigung vorliegt, an den Staat abgeführt werden. Die Motive von Grün-Rot, die Steuerhinterziehung abzuschwächen oder sogar zu unterbinden,
waren ehrenwert, herausgekommen ist dabei aber: großer
Aufwand und wenig Ergebnis. Deshalb sollten diese
Maßnahmen abgeschafft werden.
({4})
Das Auslaufen der Steinkohlesubvention in elf Jahren feiern Sie als großen Erfolg. Wer sich das Rauchen
abgewöhnen will und sich als Erstes hundert Stangen
Zigaretten kauft, hat den falschen Ansatz gewählt. Hier
sollten Sie mutiger und engagierter herangehen. Herr
Rüttgers versucht ja, noch ein wenig Schwung in die Sache zu bringen. Vielleicht schafft er es zusammen mit
der FDP in Nordrhein-Westfalen.
({5})
Mit Ihrem Dreiklang - sanieren, reformieren, investieren - sind Sie nicht weit gekommen. Den Haushalt
über Steuererhöhungen sanieren zu wollen, bleibt der
falsche Weg. Unser Konzept wäre, den Haushalt über
Ausgabenkürzungen, über echtes Sparen, in Ordnung zu
bringen, wie es jeder Private macht. Wenn er mehr ausgibt, als er einnimmt, streckt er sich nach der Decke. Sie
hingegen erhöhen einfach die Einnahmen, während die
Ausgaben relativ starr bleiben.
({6})
Auch zur Sicherung eines dauerhaften Wirtschaftswachstums haben wir ein anderes Konzept als SchwarzRot. Zu Recht wird herausgestellt, dass die Arbeitsproduktivität ansteigt. Das ist in Zeiten des Aufschwungs
aber immer so. Da die Auslastung der Kapazitäten beim
Aufschwung zunimmt, Sie also mit den gleichen Maschinen eine höhere Produktion erreichen, bedeutet das
eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. Wir müssen
dafür sorgen, dass das Arbeitsvolumen zunimmt, dass
wir mehr Beschäftigung haben. Die Unternehmen brauchen berechenbare Bedingungen. Dann werden die steigenden Umsätze auch von entsprechend steigenden Einstellungszahlen begleitet. Dafür müssen Sie die
Voraussetzungen schaffen.
({7})
Der Konsum ist durch die Mehrwertsteuererhöhung
gedämpft. Der positive Einmaleffekt, der von der Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr ausging,
greift nicht mehr. Der Ifo-Index und die Zahlen zum
Konsumklima verdeutlichen die gedämpfte Stimmung.
Die Zahlen kommen nicht von ungefähr. Man kann sie
nicht einfach verstecken. Sie zeigen an, dass Sie in diesem Jahr steuerpolitisch auf die Bremse getreten sind,
obwohl Sie eigentlich Gas geben müssten, zum Beispiel
bei der Unternehmensteuerreform. Davon ist aber nichts
erkennbar. Machen Sie Tempo, damit sich der Aufschwung verstetigt, langanhaltend ist und die Beschäftigung endlich umfassend steigt!
({8})
Zur Steuervereinfachung geschieht praktisch gar
nichts. Das ist eine Fata Morgana der Regierung. Die
steuerlich schwierige Situation ist einer der Kernpunkte,
warum viele Existenzgründer, kleine und mittlere Unternehmen sowie Mittelständler am Verzweifeln sind. Sie
machen das Steuerrecht noch komplizierter, anstatt es zu
vereinfachen. Es ist der Gipfel, dass man, wenn man
eine Auskunft dazu haben möchte, noch Geld dafür zahlen muss. Das halte ich für Zynismus.
({9})
Um zu mehr Beschäftigung, zu mehr Arbeit zu kommen, müssen die Gewerkschaften von ihrem Irrglauben,
dass man durch Arbeitszeitverkürzung Vollbeschäftigung erreichen könne, Abstand nehmen. Arbeitszeitverkürzungen, Altersteilzeit und Frühverrentungen waren
falsche Wege. Wir müssen das anders anpacken. Eine liberale Politik für mehr Wirtschaftswachstum würde den
Unternehmen nicht mehr Bürokratie aufladen, wie Sie es
mit dem Antidiskriminierungsgesetz tun. Auch wenn Sie
das Etikett „Wir wollen Bürokratie abbauen“ durch die
Gegend tragen, machen Sie genau das Gegenteil: Sie
machen es komplizierter.
({10})
Sie müssen das Risiko von Neueinstellungen durch
vernünftige Arbeitsmarktreformen mindern. Sie müssen
den Kündigungsschutz modernisieren, damit die kleinen
Unternehmen keine Angst haben, dass sie sich, wenn
sich die Wirtschaftslage verschlechtert, von neu eingestellten Mitarbeitern nicht mehr trennen können bzw. es
unverhältnismäßig teuer wäre. Betriebliche Bündnisse
für Arbeit sind zu ermöglichen. Die Union hat vor der
Wahl immer erklärt, dass das erforderlich ist. Jetzt ist davon nichts mehr zu merken.
Es ist ein Irrglaube, mit Mindestlöhnen Vollbeschäftigung erreichen zu können. Herr Müntefering, vielleicht
geht man nicht nach Krakau zum Friseur. Vielleicht geht
man aber seltener zum Friseur und lässt sich die Haare
dann kürzer schneiden. Auch so kann man auf Verteuerung und Verkomplizierung reagieren. Die Mehrwertsteuererhöhung ist bereits eine Konsumbremse. Fügen
Sie durch die Einführung des Mindestlohns nicht eine
weitere Beschäftigungsbremse hinzu! Der Mindestlohn
wird nur zu einem führen: Er wird die Schwarzarbeit fördern. Sie bauen eine Illusion auf.
({11})
Ein zu hoher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze; ein
zu niedriger Mindestlohn hat keinen Effekt. Es wäre reiner Zufall, wenn Sie die richtige Höhe beim Mindestlohn treffen würden.
Tarifautonomie braucht mehr Vielfalt. Wir brauchen
neue Elemente, wir müssen aus den Schützengräben heraus. Gewinnbeteiligung und Investivlohn können richtige Ansätze sein. Es muss aber Wahlfreiheit herrschen.
Man kann zum Beispiel nicht den Investivlohn einführen
wollen und dann sagen: Aber die Risiken werden verstaatlicht. Wenn ich einen Anteil an einem Unternehmen
besitze, trage ich ein Stück weit auch das Risiko mit.
Deshalb kann das nur freiwillig geschehen, nicht
zwangsweise. Gewinnbeteiligung oder konjunkturabhängige Elemente bei der Entlohnung wie Einmalzahlungen sind Wege, die eine Entschärfung von Tarifkonflikten bedeuten würden. Moderate Lohnerhöhungen
und mehr Beschäftigung sind besser als starke Lohnerhöhungen und das Verharren auf hoher Arbeitslosigkeit.
Sie sehen, es ist viel zu tun. Der Wirtschaftsminister
hat mit seinem Motto völlig Recht: den Aufschwung
nutzen für Reformen. Nur muss man es auch tun. Der
Wirtschaftsminister verdient Unterstützung in der Regierung. Man darf ihn mit seiner mahnenden Stimme nicht
allein stehen lassen. Deshalb sollten die Kopfballer der
Regierung aufstehen und den Wirtschaftsminister unterstützen. Er hat es verdient. Nur in Selbstlob und Selbstbeweihräucherung zu verharren, ist kein Weg hin zu
mehr Beschäftigung.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
aufrichtiges Mitleid mit dem Kollegen Brüderle. Gestern
Abend habe ich noch einmal seine Rede vom letzten Jahr
gelesen. Wenn die Prophezeiungen aus dieser Rede eingetroffen wären, dann hätten wir heute den Weltuntergang. Herr Brüderle, es ist einfach ärgerlich: Die Konjunktur ist Ihrem Pessimismus nicht gefolgt. Sie ist ihren
eigenen Weg gegangen. Diesen Weg haben der Wirtschaftsminister und die Koalitionsfraktionen vorgezeichnet.
({0})
Sie unken inzwischen sehr einsam in dem Glas, in dem
die Wetterfrösche sitzen. Sie sind eine ganz einsame
Unke. Bitte kommen Sie da heraus.
({1})
Die Institute kommen heraus; auch sie saßen ganz
weit unten in dem Glas. Sie beeilen sich jetzt und übertreffen sich gegenseitig. Der Sachverständigenrat
schleppt sich heraus. Auch die Presse kommt heraus.
Wenn Sie sich einmal anschauen, was dieser Koalition im letzten Jahr von all den sogenannten Fachleuten
prophezeit wurde und wie die Wirtschaft abgebildet
wurde, dann sehen Sie, dass genau das Gegenteil von
dem eingetreten ist, was dieser geballte Sachverstand
uns hat weismachen wollen. Also verlassen wir uns besser auf uns statt auf Ratgeber, die immer nur ihre ideologischen Vorstellungen durch ihre ökonometrischen Modelle rechtfertigen wollen.
({2})
Wir waren in der Wirtschaftspolitik erfolgreich. Wir
waren in der Finanzpolitik erfolgreich. Wir haben den
Haushalt 2006 mutig angepackt. Der Finanzminister ist
dafür belohnt worden. Ich sage noch einmal: Dieser
Aufschwung war kein Selbstläufer. Manche sagen, es
lag an der Weltwirtschaft, und manche sagen, es lag an
den Unternehmen.
({3})
Das Muster ist immer das gleiche: Geht es schlecht,
dann ist die Politik schuld, geht es gut, dann liegt es an
der Tüchtigkeit der Manager. Diese Aufteilung machen
wir nicht mit. Wir schauen genauer hin. Wer sich den
Aufschwung und seine Komponenten im Jahre 2006 ansieht, der erkennt, dass die Politik der Großen Koalition
einen enormen Anteil daran hat.
({4})
Ich nenne als Beispiel die energetische Gebäudesanierung. Der Haushaltsausschuss hat das Programm
noch einmal aufgestockt. 17 Milliarden Euro sind ausgegeben worden. Das entspricht Investitionen in Höhe von
27 Milliarden Euro. Allein das bedeutet ein Wachstum
um mehr als einen Prozentpunkt. Wenn man dann noch
die Außenwirtschaft mit 0,7 Prozent dazurechnet, dann
sieht man, dass es eine gute Wirtschaftspolitik war, die
den Aufschwung ermöglicht hat. Wir haben letztes Jahr
gesagt: Wir müssen den Kessel anheizen, damit die berühmten drei Schneebälle verdaut werden können. Siehe
da, die drei Schneebälle zum 1. Januar dieses Jahres
werden verdaut, weil der Kessel heiß ist. Bald können
Sie, Herr Brüderle, sogar darin baden, wenn Sie noch ein
bisschen warten.
({5})
Nicht nur für die energetische Gebäudesanierung
danke ich der KfW sehr, sondern auch für die EigenproLudwig Stiegler
gramme der KfW, die eine sehr große Nachfrage induziert haben. Wir haben das Handwerk gefördert. Das
Handwerk ist mit unserem Programm hausieren gegangen. Die Handwerker verzeichnen wieder Umsätze und
nehmen Einstellungen vor. Der Rückgang wurde gestoppt. Wir haben dem Handwerk eine Renaissance ermöglicht. Auch das war eine politische Entscheidung.
Da klatscht sogar Ernst Hinsken.
({6})
- Wenn es ums Handwerk geht, halten Niederbayern und
Oberpfälzer zusammen.
Ich erinnere an die Sonderabschreibung von Ausrüstungsinvestitionen. Dieses Programm haben wir während der Koalitionsverhandlungen mit dem Verband
Deutscher Maschinen- und Anlagenbau besprochen. Wir
haben die Wirkungen vorausgesagt, und siehe da: Die
Ausrüstungsinvestitionen sind im letzten Jahr deutlich
gestiegen, und sie werden auch in diesem Jahr steigen,
weil das Programm am Ende dieses Jahres ausläuft. Man
wird in diesem Jahr investieren und nach der Unternehmensteuerreform ernten können. Das hat 2006 Impulse
gegeben, und es wird auch 2007 Impulse geben.
Oder denken wir an die Infrastruktur, für die der
Haushaltsausschuss die Mittel erhöht hat. Der Bauminister hat die Städtebauförderung vorangetrieben. In Ost
wie in West ist im Stadtumbau einiges geschehen. Ich
danke unseren - das waren noch die rot-grünen Finanz- und Haushaltspolitikern, die die Gewerbesteuer
erhalten haben. Die Kommunen haben wieder Geld und
treten wieder als Investoren auf dem Markt auf. Auch
das ist eine späte politische Ernte.
({7})
Schließlich danke ich den Touristen, die gerade bei der
Fußballweltmeisterschaft eine Menge zum IncomingTourismus beigetragen und damit gezeigt haben, dass er
ein erheblicher Wachstumsträger ist.
Also: Es waren nicht die Helden der Wirtschaft. Da
gibt es sogar welche, die sich vom Aufschwung haben
überholen lassen. So muss das Handwerk beklagen, dass
keine Dämmstoffe mehr geliefert werden, weil die Produktion stockt. Es waren also nicht alle so helle und so
optimistisch. Manche waren eher in Brüderle’schem
Pessimismus verhangen. Das bremst zurzeit. Doch insgesamt hat die Wirtschaft zusammen mit der Politik in
2006 eine gute Entwicklung geschafft, auf die wir gemeinsam stolz sein können.
({8})
1,5 Prozentpunkte des Wachstums sind politisch induziert. Nun ist der Aufschwung selbsttragend. Die Inlandsnachfrage hat fast alle Branchen und Unternehmensgrößen erreicht. Der Außenbeitrag stimmt. Der
Arbeitsmarkt ist in Bewegung. Die Großen bauen zwar
ab, doch die Kleinen stellen ein. Also lasst uns - da
schließe ich mich dem Wirtschaftsminister an - den kleinen und mittleren Unternehmen danken und uns um ihre
Belange kümmern!
({9})
Die Erwerbstätigenquote hat sich das Jahr über kontinuierlich positiv entwickelt. Brüderle hat gestern gesagt:
Das war der milde Winter. Sie haben dabei übersehen,
dass wir inzwischen ein Saisonkurzarbeitergeld für die
ganzjährige Beschäftigung in der Bauwirtschaft haben.
Das wirkt. Ich danke unseren Sozialpolitikern, die das
vorbereitet haben, und ich danke auch denen in der
Union, die ihre Bedenken am Ende zurückgestellt haben,
dass wir dieses Saisonkurzarbeitergeld haben. Hoffentlich können wir es auf andere Branchen ausdehnen. Ich
danke vor allem dem Bundesarbeitsminister, dass er dieses Vorhaben so durchgezogen hat. Auch das trägt zur
Kontinuität der Beschäftigungsentwicklung bei.
({10})
Wir haben den Staatshaushalt unter Kontrolle gebracht. Was ist am Anfang des Jahres geunkt worden!
Alles falsch: Wir halten die Maastrichtgrenze ein, und
auch die Inflation ist trotz steigender Energiepreise unter
Kontrolle. Das muss man immer wieder betonen; da hatten wir schon andere Zeiten mit anderen Problemen.
Aber es gilt auch nach dem Schiller-Jahr:
Des Lebens ungemischte Freude
Ward keinem Irdischen zuteil.
Der Schatten folgt dem Licht, hat Walter Giller einmal
gesungen. Das Bruttoinlandsprodukt bzw. das Nationaleinkommen ist von der Entstehungsseite her okay. Es ist
von der Verwendungsseite her besser geworden: Der private Verbrauch ist gestiegen. Aber die Verteilungsseite
des Bruttoinlandsprodukts ist nach wie vor ein Problem,
das uns nicht ruhen lassen kann. Das Volkseinkommen
ist 2006 um 3,1 Prozent gestiegen; je Einwohner sogar
um 3,3 Prozent, weil die Bevölkerungszahl etwas gesunken ist. Aber die beiden Komponenten des Volkseinkommens haben sich sehr unterschiedlich entwickelt.
Das Arbeitnehmerentgelt mit 1 144 Milliarden Euro ist
nur um 1,3 Prozent gewachsen. Die Unternehmens- und
Vermögenseinkommen mit 584 Milliarden Euro sind um
6,9 Prozent gewachsen. Schaubild 21 im Jahreswirtschaftsbericht zeigt, wie die Schere an dieser Stelle auseinandergeht. Das kann uns nicht freuen, und das darf
uns auch nicht ruhen lassen.
({11})
Alarmierend ist die Lohnquote. Sie ist von 67,4 Prozent im Jahr 2005 auf 66,2 Prozent im Jahr 2006 heruntergegangen. Im Jahr 2000 waren es noch 72,2 Prozent.
Die Lohnquote ist also zu niedrig. Die Bruttolöhne sind
2006 nur schwach um 1,4 Prozent gestiegen, die Nettolöhne nur um 0,3 Prozent. Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst ist nur um 0,7 Prozent gestiegen. Beim
Nettoverdienst ist sogar ein Minus von 0,3 Prozent zu
verzeichnen. Allerdings wird sich die Lage 2007
bessern, weil die Sozialversicherungsbeiträge per Saldo
unter 40 Prozent sinken.
({12})
Aber auch diese Entwicklung darf uns nicht ruhen
lassen. Die Masseneinkommen stagnieren. Das hat auch
makroökonomische Folgen. In diesem Zusammenhang
sind folgende Zahlen sehr wichtig: Die monetären Sozialleistungen betrugen 2005 - für 2006 liegen die Zahlen noch nicht vollständig vor - 377,4 Milliarden Euro
gegenüber Nettolöhnen in Höhe von 601,4 Milliarden.
Dies entspricht einem Verhältnis von etwa 40 zu 60, und
das muss sich ändern. Das Volkseinkommen ist noch
nicht gerecht verteilt. Daran muss sich etwas ändern.
Wir brauchen mehr Beschäftigung und bessere Löhne.
Nur dann kommt es zu einem nachhaltigen Wachstum.
Das ist unsere Botschaft an die Tarifpartner.
({13})
Wir stellen aber fest, dass das Lohndumping zunimmt. Immer mehr Menschen müssen mit Blick auf ihren Lebensunterhalt ihr Einkommen zusätzlich aufstocken. Deshalb müssen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Jahr mindestens durch Einmalzahlungen an den besseren Unternehmensergebnissen
beteiligt werden. Es gibt durchaus Argumente dafür,
dass das Lohnniveau im internationalen Wettbewerb
nicht auf Dauer steigen kann. In einem guten Wirtschaftsjahr muss aber die Beute gerecht geteilt werden.
Die Arbeitnehmer können nicht von einem guten Unternehmensergebnis ausgeschlossen werden.
({14})
Wir müssen stärker gegen das Lohndumping vorgehen. Ich denke in diesem Zusammenhang an den lizenzierten Bereich der Post. Bei der Post selber sind über
38 000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Bei den Lizenznehmern sind zwar etwa 30 000 Arbeitsplätze entstanden, 60 Prozent sind aber prekäre Arbeitsverhältnisse.
({15})
- Das hat nicht der Gesetzgeber gemacht. Wir können
aber etwas tun. Wir haben ein Postgesetz, und die Lizenznehmer müssen die allgemeinen Arbeitsbedingungen beachten. Wir fordern die Bundesnetzagentur auf,
sich um die Löhne und Gehälter im lizenzierten Bereich
der Post zu kümmern. Wir wollten mit der Postreform
nicht erreichen, dass die Löhne sinken, sondern dass die
Leistungen verbessert werden.
({16})
Deshalb werden wir auch mit der Union weiter über das
Thema Mindestlohn reden.
Herr Brüderle, es geht nicht nur um den Friseur. Auch
den Flughafen München wird man nicht nach Krakau
oder irgendwo anders hin verlegen können. Deshalb
sehe ich nicht ein, dass die Leute oben in Glanz und
Glimmer spazieren gehen, während die, die den Flughafen sauberhalten, bei Franz Müntefering anklopfen müssen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. So
haben wir nicht gewettet.
({17})
Wenn ich die Kanzlerin richtig verstehe, dann wollen
wir keinen flächendeckenden Mindestlohn. Daraus höre
ich als alter Hermeneutiker, dass über nichtflächendeckende Branchenmindestlöhne diskutiert werden kann.
Es kann sein, dass ich mich irre,
({18})
aber mit einer gewissen hermeneutischen Kreativität
kann man das aus dieser Äußerung heraushören. Insofern sage ich mit Franz Beckenbauer: „Schaun mer
mal!“ Wenn der Franz schaut, dann kommt auch etwas
dabei heraus. Das gilt für beide Franze. Ich glaube, das
können wir schon miteinander angehen.
Meine Damen und Herren, ich habe nur noch einen
letzten Punkt, denn die Zeit läuft davon. Wir müssen uns
dieses Jahr auch darum kümmern, dass Finanzinvestoren kleine und mittlere Unternehmen nicht ausbeuten.
Ich habe wieder eine aktuelle Agenturmeldung auf dem
Tisch: M2 Capital will ein Oldenburger Unternehmen,
CeWe Color, um 37 Millionen Euro erleichtern. Es geht
nicht um Leistungen. Sie tarnen es hier nicht einmal als
Beratungsleistung. Nein, sie wollen Beute machen und
dem Unternehmen das Geld nehmen, das es bräuchte,
um sich von der analogen in die digitale Welt fortzuentwickeln. Solchen Entwicklungen müssen wir einen Riegel vorschieben, meine Damen und Herren! Das kann
nicht der Sinn der Wirtschaft sein.
({19})
Wir haben mit den Leitlinien 2007 einen guten Wegweiser. Der Staat erhält ein tragfähiges Fundament. Der
Wettbewerb und die Investitionsdynamik steigen, die
Wissensgesellschaft wird vorangebracht, die Wohlstandsgrundlagen werden damit nachhaltig gesichert,
und die Beschäftigungspotenziale werden für die unter
25-Jährigen und die über 50-Jährigen gehoben.
Herr Brüderle, lassen Sie sich für die Rede 2008 etwas einfallen. Irgendwann geht der Pessimismus nicht
mehr. Entscheiden Sie sich dann für Lob, Preis und
Dank. Das ist die richtige rhetorische Konzeption.
Herzlichen Dank.
({20})
Es ist doch ein schöner Beleg für die Solidarität der
Demokraten, dass die Vorbereitung von Reden jetzt
schon fraktionsübergreifend erfolgt.
({0})
- Eben drum.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat das zurückliegende Jahr als ein sehr erfolgreiches Jahr bezeichnet.
Wenn man sich bestimmte Zahlen ansieht, kann man zu
diesem Urteil kommen. Aber wenn man die Frage stellt,
für wen war das ein erfolgreiches Jahr, kommt man vielleicht zu einem ganz anderen Urteil.
Deshalb stelle ich zunächst einmal für meine Fraktion
fest, dass es positiv ist, dass die Wirtschaft wächst. Wir
haben immer gesagt, dass dies die Voraussetzung dafür
ist, um die Situation in Deutschland zu verbessern. Die
Wirtschaft wächst. Wer sich nun die Federn dafür an den
Hut stecken kann, darüber mag dann gerichtet werden,
aber zunächst ist dies positiv.
Positiv ist selbstverständlich auch, dass damit Haushaltskonsolidierungseffekte verbunden sind. Das ist im
Interesse einer langfristigen, stetigen Finanzpolitik notwendig. Auch an dieser Stelle ist von unserer Seite
nichts zu kritisieren.
Zustimmen werden wir Ihnen auch, Herr Bundeswirtschaftsminister - falls Sie mir einmal Ihr Ohr leihen, es
geht immerhin um Ihren Jahreswirtschaftsbericht -,
wenn Sie sagen, Sie wollten auf die Kartellgesetzgebung zurückgreifen, wenn sich monopolartige Märkte
bilden. Ich hatte an dieser Stelle bereits ausgeführt, dass
für diese Denkart nicht in erster Linie Ludwig Erhard herangezogen werden muss, sondern Walter Eucken, der
das sehr viel radikaler formuliert hat. Er sagte einmal: Es
geht nicht um die Kontrolle wirtschaftlicher Macht - das
ist die sozialdemokratische Position des Godesberger
Programms; lange her -, es geht um die Verhinderung
wirtschaftlicher Macht. Meine Damen und Herren, mit
dieser Position fände Eucken bei den meisten Parteien in
diesem Hohen Haus keinen Platz mehr.
Soweit zu den positiven Würdigungen des Jahreswirtschaftsberichtes. Nun komme ich zu dem, was ebenfalls
gesehen werden muss. Wenn die Wirtschaft wächst,
wenn der Wohlstand wächst, stellt sich nämlich die
Frage: Wo kommt das an? Und da ist das letzte Jahr eben
kein gutes Jahr gewesen. Was der Kollege Stiegler vorgetragen hat, waren gute Absichtserklärungen, die den
Kern des Problems nicht trafen. Das letzte Jahr und auch
Ihre Projektion für dieses Jahr sind im Grunde genommen, wenn man Leistungen und Verteilung des Einkommens ansieht, eine einzige bodenlose Unverschämtheit und Frechheit.
({0})
Sie haben im letzten Jahr den Zuwachs des Wirtschaftswachstums klar verteilt: Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sind um 6,9 Prozent
gewachsen, das Arbeitnehmerentgelt ist um 1,3 Prozent
gewachsen, und wenn Sie die Preissteigerung dazu in
Relation setzen, die mit 1,7 Prozent angegeben wird, ist
das eine einzige katastrophale Bilanz.
({1})
Alles, was Sie hier mit großem Getue an großen Erfolgen in der Wirtschaftspolitik vorlegen, geht an der
großen Mehrheit der Menschen vorbei. Die Dreistigkeit
ist darin begründet, dass das einfach so zur Kenntnis genommen wird, wenn auch - wie vorhin gehört - mit einigen Ausführungen, die aber keine Relevanz haben, weil
nichts unternommen wird, daran etwas zu verändern.
Ich lese Ihnen einmal Ihre eigenen Zahlen vor: Die
Arbeitnehmerentgelte sind 2005 um 0,7 Prozent zurückgegangen, während Unternehmens- und Vermögenseinkommen ein Plus von 6,2 Prozent aufweisen. Im
letzten Jahr wiesen die Arbeitnehmerentgelte ein Plus
von 1,3 Prozent auf, während die Unternehmens- und
Vermögenseinkommen um 6,9 Prozent stiegen. Nun sagen Sie: Unsere Absicht ist, das in diesem Jahr fortzusetzen. - Das ist der Skandal Ihrer Regierungspolitik.
({2})
- Herr Kollege Stiegler, Sie irren sich: Das ist keine Prognose, sondern eine Projektion, eine Absichtserklärung
der Bundesregierung. Sie geht davon aus, dass die Arbeitnehmerentgelte in diesem Jahr ein Plus von
1,4 Prozent und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ein Plus von 5,0 Prozent - das ist
wahrscheinlich noch niedrig angesetzt - aufweisen werden.
Das Fazit lautet: In diesem Lande lohnt sich Leistung
nicht.
({3})
Für qualifizierte Arbeit wird bestraft, während der leistungslose Besitz prämiiert und mit ständig steigenden
Einkommen belohnt wird. Das ist die Bilanz Ihrer Wirtschaftspolitik. Sie tun nichts, um daran irgendetwas zu
verändern. Vielmehr setzen Sie die Umverteilungspolitik der letzten Jahre fort. Vielleicht begreifen Sie das
nicht. Auf der einen Seite wollen Sie eine Unternehmensteuerreform durchführen nach dem Motto: Die Unternehmer haben noch nicht genug und müssen daher um
weitere 10 Milliarden Euro entlastet werden. Dadurch
wird die Verteilung noch ungleicher. Auf der anderen
Seite machen Sie sogenannte Reformen, die zu Sozialkürzungen führen. Das ist die ganze Ratio Ihrer Politik.
Die bisherige Umverteilungspolitik wird in diesem Haus
ohne Sinn und Verstand fortgesetzt.
({4})
Es ist immerhin gut, dass hier noch niemand Jubelarien gesungen hat, weil es nur noch 4,247 Millionen
Arbeitslose gibt. Es ist positiv, dass sich der Wirtschaftsminister - er ist noch immer in ein angenehmes Gespräch vertieft - dies verkniffen hat. Aber es reicht nicht,
dass ein Redner der SPD die schiefe Verteilung beklagt.
Vielmehr muss darüber nachgedacht werden, was diese
schiefe Verteilung verursacht. Das Problem ist, dass die
große Mehrheit der Menschen weiß: Wenn Sie das Wort
„Reform“ in den Mund nehmen, meinen Sie ausschließlich Sozialabbau. Die Menschen werden dadurch zunehmend verunsichert und fürchten sich vor Reformen.
({5})
Ich möchte Reformen nennen, die aus unserer Sicht
notwendig sind und nicht zu weiteren Sozialkürzungen
führen. Eine sinnvolle Reform wäre die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Es nutzt nichts, ständig
das Lohndumping zu beklagen, wenn man nichts unternimmt, um die brutale Ausbeutung, die mittlerweile in
Deutschland stattfindet, zu unterbinden.
({6})
Kürzlich ist durch die Presse gegangen, dass ein Hotel in
Hamburg eine Reinigungskraft für 1,92 Euro pro Stunde
beschäftigt hat. Das ist doch ein gesellschaftlicher Skandal.
({7})
Warum sitzt die Mehrheit dieses Hauses hier tatenlos herum und unternimmt nichts dagegen? Warum sind wir
nach wie vor so anmaßend, zu glauben, dass wir alles
besser wüssten als unsere europäischen Nachbarn?
Wenn in vielen europäischen Staaten das Lohndumping
durch Mindestlöhne bekämpft wird, wenn in unseren
Nachbarstaaten Belgien, den Niederlanden, Frankreich
und Großbritannien - ich könnte noch mehr Länder nennen - Mindestlöhne von 8 Euro pro Stunde gelten, dann
ist es höchste Zeit, entsprechende Reformen in Deutschland durchzuführen.
({8})
Ich komme zur Verteilungspolitik. Herr Kollege
Stiegler, Sie werden Ihr Händchen noch heben, wenn es
um die Zustimmung zur Unternehmensteuersenkung
geht. Nach all den vielen Milliardengeschenken, die in
den letzten Jahren gemacht wurden, frage ich Sie: Wo
bleiben denn die Arbeitnehmer? Sie haben doch Ihr
Händchen gehoben, als es um die Zustimmung zur
Mehrwertsteuererhöhung ging, die die Kaufkraft der
großen Mehrheit des Volkes schwächt. Ihre Ausführungen hier sind doch total unglaubwürdig. Wenn Sie die
ungerechte Verteilung beklagen, dann tun Sie doch endlich etwas!
({9})
Statt der Mehrwertsteuererhöhung wäre eine Reform
notwendig gewesen. Beispielsweise bräuchten wir in
Deutschland eine ähnliche Vermögensbesteuerung wie
in anderen großen Industriestaaten. Hätten wir eine Vermögensbesteuerung wie Frankreich oder die USA, dann
läge der Anteil des Aufkommens aus der Vermögensteuer am Bruttosozialprodukt bei über 3 Prozent. Das
entspräche einem Plus von 50 Milliarden Euro. Hätten
wir eine Vermögensbesteuerung wie Großbritannien,
dann hätten wir ein Plus von 70 Milliarden Euro. Allein
daran kann man erkennen, dass Ihre vielen Sozialabbauprogramme ein einziger Betrug waren. Sie sind doch die
Ursache dafür, dass sich die Verteilung in Deutschland
völlig falsch entwickelt hat.
({10})
Sie bieten der Bevölkerung nur Sprechblasen an. Beispielsweise hat Herr Rüttgers eine längere Bezugsdauer
beim Arbeitslosengeld I für Ältere gefordert. Dazu wird
gesagt: Das können wir eigentlich nicht bezahlen, allenfalls dann, wenn die Jüngeren weniger bekommen; das
macht 1,8 Milliarden Euro. Wie unglaubwürdig ist eine
solche Politik! Allein eine ordentliche Vermögensbesteuerung würde Sie spielend in die Lage versetzen, alle
sozialen Ferkeleien in den letzten Jahren zurückzunehmen. So einfach ist das, wenn man bereit ist, die Prozentrechnung anzuwenden.
({11})
Jetzt komme ich zur Lohnpolitik. Da zeigt sich eine
beispiellose Inkonsequenz. Der immer noch sehr
schwatzhafte Bundeswirtschaftsminister hat vor einiger
Zeit gesagt, er sei dafür, dass die Löhne steigen. Im Jahreswirtschaftsbericht steht jetzt das Gegenteil. Auch die
Kanzlerin hat einmal gesagt, sie sei dafür, dass die
Löhne steigen. Jetzt steht im Jahreswirtschaftsbericht
wieder das Gegenteil. Sie wollen nicht nur in Deutschland das Lohndumping fortsetzen, sondern Sie wollen
dieses sogar der Europäischen Union verordnen. Es steht
dort nämlich - richtig brav von dem neoliberalen Beamten in der Wirtschaftsabteilung aufgeschrieben; wahrscheinlich haben Sie das nicht gelesen, deswegen lese
ich es vor -:
Für die Tarifvertragsparteien in allen EU-Mitgliedstaaten gilt es, ihre Lohnpolitik so auszurichten,
dass sie vorrangig zur Stabilität des Preisniveaus
sowie zu mehr Beschäftigung beiträgt.
Das heißt also, wir müssen uns mehr zurückhalten, damit
mehr Beschäftigung aufgebaut wird. Das ist der Irrtum
des Neoliberalismus. Wenn alle europäischen Staaten ein
solches Lohndumping wie Deutschland betreiben würden, dann hätten wir eine noch viel schwächere Binnenkonjunktur, als wir sie ohnehin haben.
({12})
Ich fasse zusammen: Es wird auf Dauer nicht gelingen, einen sich selbst tragenden, nachhaltigen Aufschwung in Deutschland ohne eine starke Binnenkonjunktur zu erreichen. Es wird auf Dauer nicht gelingen,
die Verteilung in Deutschland zu ändern, wenn man
nicht entsprechende Gesetze auf den Weg bringt. Daher
sagen wir: Es ist positiv, dass die Wirtschaft wächst, es
ist aber ein Skandal, dass das Wachstum der Wirtschaft
nur einer Minderheit unseres Volkes zugutekommt.
({13})
Der Kollege Fritz Kuhn ist der nächste Redner für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion freut sich, wenn die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Wir haben gute Daten, und daran wollen
wir nicht herumkritteln. Dass die Dividende von Reformen der vergangenen Regierung von dieser Bundesregierung eingestrichen wird, nehmen wir als Schicksal
hin. Es kann auch einmal anders gehen. Dazu haben wir
ein gelassenes Verhältnis.
({0})
Dennoch waren in Ihren Ausführungen, Herr Glos,
Elemente von Schönrednerei, die ich nicht durchgehen
lassen will. Sie haben - im Kontrast zur Diskussion über
die Mehrwertsteuererhöhung des letzten Jahres - gesagt,
das sei gar nicht so schlimm und der Aufschwung habe
nur eine kleine Delle. Aber der Binnenmarkt bietet Anlass zur Sorge. Das Wachstum des Binnenmarkts wird
von 0,6 Prozent im vergangenen Jahr auf 0,3 Prozent in
diesem Jahr zurückgehen. Die Inflation ist höher als der
Einkommenszuwachs der normalen Beschäftigten. Das
heißt, dass dieser Aufschwung in erster Linie ein Exportund Investitionsgüteraufschwung ist, aber keiner des
Binnenmarktes ({1})
Herr Stiegler, Sie könnten sich auch einmal einen neuen
roten Pullover kaufen -,
({2})
ist ein klares Faktum. Darüber sollte man sich jedenfalls
als Wirtschaftsminister Sorgen machen.
Herr Glos, aus der heutigen Lage würde folgen - Herr
Brüderle hat das angesprochen -, dass man in der Phase
des Aufschwungs die notwendigen Reformen durchführt, die anstehen, weil Reformen leichter im Aufschwung als im Abschwung zu machen sind. Das haben
wir in den vergangenen Jahren gesehen. Daran müssen
sich der Jahreswirtschaftsbericht und die Politik, die Sie
gegenwärtig betreiben, messen lassen.
Übrigens, manche Ziele haben Sie nicht erreicht. Sie
haben nicht erreicht, die Lohnnebenkosten unter
40 Prozent zu drücken.
({3})
Herr Glos ist ein Rechenwitzbold. Er kommt auf die
Zahl von 39,7 Prozent, weil er den Beitrag für die Krankenversicherung in Höhe von 0,9 Prozent, der 2004 beschlossen wurde und den die Arbeitnehmer allein bezahlen, einfach herausgerechnet hat. Dann können Sie
gleich den Arbeitnehmeranteil herausrechnen; dann
kommen Sie auf 20,3 Prozent und haben einen Riesenerfolg erzielt. Ich glaube, das Parlament lässt sich nicht für
blöde verkaufen und nicht von Ihren Taschenspielertricks, Herr Glos, täuschen. Sie haben bislang das Ziel
verfehlt, unter 40 Prozent zu kommen, weil die Lohnnebenkosten wegen der Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung steigen. Das
ist niemandem verborgen geblieben.
({4})
Kommen wir jetzt zu den Reformen. Morgen reden
wir über die Gesundheitsreform, die nicht nur von meiner Fraktion, sondern auch von allen Sachverständigen
als Murks bezeichnet wird, weil sie keines der Probleme
unseres Gesundheitssystems wirklich löst. Sie bringt
nicht mehr Wettbewerb und nicht mehr Qualität, sondern
eine chronische Unterfinanzierung des Systems, die von
den Menschen entweder über Beiträge oder mit der kleinen Kopfpauschale zu bezahlen ist. Hier haben Sie den
Reformspielraum, der vorhanden ist, nicht genutzt.
Bei einem anderen Thema, nämlich der Arbeitsmarktpolitik, droht uns, dass der nächste Murks angefügt wird. Wenn Sie auf die Idee kommen, Mindestlöhne
mit einem flächendeckenden Kombilohnansatz zu kombinieren, dann verbinden Sie etwas, was nicht zusammenpasst, und erreichen mit viel Geld, dass im Arbeitsmarkt überhaupt nichts passiert. Wir wissen, dass wir
heute im Sozialgesetzbuch II und III genügend Modelle
und Einzelpunkte haben, mit denen man für Menschen,
die aufgrund spezifischer Probleme dauerarbeitslos sind,
so etwas wie einen Kombilohn generieren kann. Machen Sie das aber flächendeckend, dann haben Sie riesige Mitnahmeeffekte und werden mit dem Kombilohn
nichts erreichen.
Deswegen appellieren wir an Sie: Kommen Sie zu einer undogmatischen Betrachtungsweise dessen, was am
Arbeitsmarkt notwendig ist. Ich möchte drei Dinge nennen, die notwendig sind.
Erstens: gezielteres Fördern der Dauerarbeitslosen.
Da stehen wir immer noch auf der Bremse.
Zweitens: ein möglichst branchenspezifischer Mindestlohn für Problemgruppen am Arbeitsmarkt. Ich will
Ihnen eine Problemgruppe nennen, die für mich im Vordergrund steht - das kann man nach unterschiedlichen
Methoden beurteilen -: Die Zeitarbeit und Leiharbeit
ist eine Branche, die sich in unserer Wirtschaft zunehmend zu einem Lohndumpingbereich entwickelt. Zum
Teil werden normale Belegschaften entlassen, weil man
weiß, man bekommt stattdessen Zeitarbeiter mit geringeren Einkommen, die die gleiche Arbeit tun. Deswegen
ist das ein Bereich, in dem Sie den Mindestlohn einführen können, ohne dass er die Schwarzarbeit verstärkt und
ohne dass es irgendeinen wirtschaftlichen Schaden für
die Beschäftigung bringt.
({5})
Im dritten Bereich, Herr Glos, tun Sie gar nichts - und
Herr Müntefering auch nicht -: Das ist die effektive Bekämpfung der Schwarzarbeit. Wir müssen im unteren
Bereich die Lohnnebenkosten senken; denn wir haben
rechnerisch 5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätze in der
Schwarzarbeit. Diese befinden sich nicht wegen der hohen Löhne in der Schwarzarbeit, sondern weil in diesem
Bereich die hohen Lohnzusatzkosten besonders durchschlagen. Wenn eine Handwerkerstunde in Berlin
40 Euro kostet, die Sie netto verdient haben müssen, um
sie legal zu finanzieren, dann wissen Sie, warum wir mit
den derzeitigen Strukturen systematisch Erwerbsarbeitsplätze in die Schwarzarbeit drängen. An diesen Stellen,
Herr Glos, müssen Sie einsteigen.
Ich nenne hier noch den Punkt Unternehmensteuerreform. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum man
in der jetzigen Situation, auch international, die Unternehmensteuerreform - bei der es richtig ist, die Sätze zu
senken - so machen müsste, dass man die Unternehmen
um 8 Milliarden Euro netto entlastet.
({6})
Das nehmen die Unternehmen mit und sagen kurz Danke
schön, wenn sie bei Ihnen vorbeikommen; aber zusätzliche Investitionen können wir damit nicht generieren.
Dieses Geld würden wir dringend für Forschung, Bildung und Ausbildung in Deutschland brauchen. Da ziehen Sie es ab. Das wird sich in Zukunft meines Erachtens rächen.
({7})
Unsere These heißt: Sie nutzen die Chancen dieses
Aufschwungs für die notwendigen Reformen in
Deutschland nicht. Das hat einen systematischen Grund,
und zwar den, dass Sie bei jeder Strukturreform in dieser
Großen Koalition keine gemeinsame Richtung definieren. Vielmehr wollen die einen immer dieses und die anderen immer jenes; wenn es einigermaßen gut geht, dann
murksen sie das zusammen, und dabei kommt nichts
Halbes und nichts Ganzes heraus. Das sagen mir die
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und die
Genossinnen und Genossen sagen es im privaten Gespräch auch.
({8})
Es ist also klar, dass die Zusammenarbeit, die zwischen
ihnen stattfindet, hier vielleicht atmosphärisch nett sein
mag, aber eine Reformrichtung bringt sie der Bundesrepublik Deutschland nicht.
({9})
Herr Glos, Ihre Wirtschaftspolitik, die Sie in der Koalition verantworten, ist ordnungspolitisch diffus.
Manchmal finde ich übrigens, dass Sie als Wirtschaftsminister völlig den richtigen Punkt treffen, zum Beispiel
wenn es bei der Frage der Energieerzeuger darum geht,
den Betrieb der Netze und das Einspeisen in die Netze zu
trennen, wie es die EU ja vorgeschlagen hat. Da sind Sie
auf der richtigen Seite. Aber Sie können in dieser Regierung auf eines immer wetten: Einer zieht immer konsequent in die andere Richtung, in diesem Fall Herr
Steinmeier oder die SPD, weil sie an den großen Energieerzeugern sehr hängt.
Ordnungspolitische Klarheit erwächst daraus nicht.
Es wäre für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland wichtig und richtig, dass wieder
einmal jemand sagt: Wir wollen wirklichen Wettbewerb. Im Hinblick auf natürliche Monopole heißt dies
- das gilt übrigens auch für die Bahn -, Herr Glos, dass
es nicht gut ist, wenn einer über die Infrastruktur verfügt
und dadurch indirekt regeln kann, zu welchen Bedingungen die Wettbewerber diese Infrastruktur nutzen können.
Da wünsche ich Ihnen mehr ordnungspolitische Klarheit. Sie können es sich sparen, immer wieder Erhard,
Eucken oder wen auch immer zu zitieren, wenn Sie in
der Ordnungspolitik so schwanken, wie es diese Große
Koalition tut.
({10})
Beim Thema Innovation sind Sie völlig schwach,
Herr Glos. Die Autodiskussion, die Sie in den letzten
zwei Wochen veranstaltet haben, ist ein Beleg dafür. Das
will ich Ihnen ausführlich erläutern. Übrigens, die EU
hat nicht das gesagt, wovon Sie behauptet haben, sie
habe es gesagt.
({11})
Umweltkommissar Dimas hat gesagt: Wir wollen, dass
die Flotte der europäischen Pkw bis 2012 einen durchschnittlichen CO2-Ausstoß von 120 Gramm hat. Die
deutsche und die europäische Automobilindustrie haben
im Rahmen der freiwilligen Selbstverpflichtung im Hinblick auf 2008 und 2012 von 140 Gramm gesprochen.
Dimas hat weder gesagt, es müsse nationenscharf geschehen, noch gesagt, es müsse herstellerscharf geschehen. Das haben Sie mit der Vorstellung hypostasiert, wir
müssten einen vielleicht drohenden Angriff abwehren.
Doch von einem solchen Angriff war seitens der EU gar
nicht die Rede. Selbstverständlich muss man auf der EUEbene über das 120-Gramm-Ziel verhandeln und die
Frage stellen, welche Fahrzeugklasse welchen Beitrag
zur Erreichung dieses Ziels leisten kann. Es hätte einen
einfachen Weg gegeben. Klar ist doch: Diejenigen, die
heute sehr viel verbrauchen, müssten einen größeren
Beitrag leisten als diejenigen, die sehr wenig verbrauchen.
Die deutsche Autodiskussion hat eine gute Tradition. Herr Glos, 1984 wurde der Katalysator eingeführt.
({12})
Damals wurde wortwörtlich derselbe Mist gesagt, den
Sie jetzt erzählen. Damals hat es geheißen: 100 000 Arbeitsplätze gehen verloren, wenn beschlossen wird, dass
der Katalysator verpflichtend ist; denn die Japaner haben
einen günstigeren Katalysator. Man hat damals mit genau der gleichen Argumentation versucht, den technischen Fortschritt auszubremsen. Beim Dieselrußfilter
war es nicht viel anders.
Ich will auf Folgendes hinaus, Herr Glos: Wenn Sie
nach dem Versagen der freiwilligen Selbstverpflichtung
auf dem Gebiet der Innovationspolitik keine klare ordnungspolitische Vorgabe machen, dann schaden Sie der
deutschen Automobilindustrie, und zwar deswegen, weil
sie nicht gezwungen wird, die fortschrittliche Technik
herzustellen, die die Weltmärkte brauchen.
Schauen Sie doch nach Kalifornien! Schauen Sie
doch in die Länder, die Autos importieren! Sie alle spüren und sagen inzwischen: Nur die fortschrittlichste
Kraftfahrzeugtechnik mit den sparsamsten Motoren ist
noch exportfähig. Wenn Sie auf die Bremse treten, dann
machen Sie diesen Export kaputt. Natürlich kann man
auch mit einem anderen Reifendruck und Ähnlichem etwas erreichen; aber die Zukunft des Autolandes
Deutschland - das ist mittlerweile die Botschaft - kann
nur gewährleistet werden, wenn wir die unter ökologischen Gesichtspunkten besten Fahrzeuge auf den Markt
bringen. Dabei agieren Sie, Herr Verheugen und wie sie
alle heißen als Bremser der technischen Entwicklung.
Was Innovationen angeht, gilt für diese Bundesregierung: Fehlanzeige!
({13})
Sie haben zum Thema Korruptionsbekämpfung
nichts gesagt. Wenn wir die Korruptionsbekämpfung in
Deutschland nicht ernst nehmen, wenn wir keine andere
Kultur der Aufsicht über die großen deutschen Aktiengesellschaften bekommen, dann werden wir wirtschaftlichen Schaden erleiden. Die Themen „Wechsel vom
Vorstand in den Aufsichtsrat“, „Zahl der Aufsichtsratsmandate, die jemand haben darf“ und „Korruptionsregister“ gehören unbedingt auf die Tagesordnung, wenn wir
unsere Exportchancen und die Chance, dass deutsche
Unternehmen an den Börsen gut notiert sind, bewahren
wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Glos?
Ja, bitte, Herr Glos.
Herr Kuhn, es hat leider ein bisschen gedauert, bis ich
durchgedrungen bin.
Sie wissen über 1984 so gut Bescheid. Daher möchte
ich Sie fragen, ob Sie wissen, wer damals der zuständige
Minister war, der den Katalysator durchgesetzt hat, und
welcher Partei er angehörte.
Ich will auf etwas anderes hinaus, Herr Glos.
({0})
- Ja, ja. - Mit Ihrer Frage versuchen Sie, davon abzulenken.
Die deutsche Diskussion über das Auto findet immer
nach folgendem Motto statt: Bei technischen Veränderungen besteht die Gefahr, dass wir eine große Zahl von
Arbeitsplätzen verlieren. Das hat in den letzten
20 Jahren immer nach dem gleichen Mechanismus funktioniert, übrigens auch beim bleifreien Benzin.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen: Die
Diskussion, die wir heute führen, wurde fast wortgleich
bereits im Jahre 1984 geführt.
({1})
Ich hätte mir vom heutigen Wirtschaftsminister gewünscht, dass er die Bedeutung von Klimaschutz und
Klimapolitik verstanden hat und sagt: Leute, lasst uns
nicht über das Ob einer neuen Fahrzeugtechnik streiten,
sondern nur über das Wie.
({2})
Lasst uns in Brüssel Verhandlungen darüber führen, wie
man dieses Vorhaben am besten umsetzen kann. - Aber
Sie, Herr Glos, sind einen anderen Weg gegangen. Sie
haben sich an die „Bild“-Zeitung, die „Bild am Sonntag“
und andere Medien gewandt. Sie haben sich wahrscheinlich gedacht: Autofahrer gibt es ziemlich viele; also wiederhole ich die alte Leier und tue so, als könne man den
Fahrzeugfortschritt unterbinden.
({3})
Jetzt will ich meine Rede fortsetzen.
({4})
- Ja.
Herr Kollege Kuhn, sind Sie bereit, von mir die Antwort auf meine Frage entgegenzunehmen?
({0})
Ich meinte den damaligen Innenminister, der zugleich
auch Umweltminister war: Dr. Fritz Zimmermann von
der CSU.
Ich bin von dieser Information überwältigt und danke
Ihnen herzlich, Herr Glos.
({0})
Nun will ich ernsthaft auf das zu sprechen kommen,
was schiefläuft. Frau Merkel, ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie die Diskussion über die europäisch-amerikanische Freihandelszone bzw. über den Binnenmarkt
angefangen haben. Zunächst war von einer Freihandelszone die Rede. Dann haben Sie gemerkt, dass das in die
falsche Richtung geht. Diese Diskussion führt wirklich
in die Irre. Dass diese Debatte geführt wird, ist auch in
den USA nicht besonders gut angekommen.
Sie müssen Folgendes tun: dafür sorgen, dass im Rahmen der WTO endlich die Doharunde abgeschlossen
wird. Sie dürfen nicht sagen: Das machen wir vielleicht.
Sie müssen ein klares Bekenntnis abgeben, dass die viel
zu hohen Agrarsubventionen in Europa und in den
USA systematisch abgebaut werden müssen. Denn sie
sind das Haupthindernis, das dazu geführt hat, dass wir
in der Doharunde nicht weitergekommen sind. Herr
Glos, übrigens wäre es in ordnungs- bzw. wirtschaftspolitischer Hinsicht wichtig, auch darauf hinzuweisen, dass
es im Agrarsektor Unmengen von falschen Subventionen gibt. Dabei handelt es sich um Geld, das wir auch
zulasten der Entwicklung der armen Länder ausgeben.
Das sollten wir nicht tun.
({1})
Mein nächster Punkt ist ein Thema, das bei Ihnen,
Herr Glos, nie eine Rolle spielt. Deswegen will ich es
zum Schluss meiner Rede ansprechen. Bei einem internationalen Vergleich, was in den Ländern, die stärker
wachsen als wir, die Wachstumsmotoren sind, sagen Ihnen die Experten: Eine entscheidende Weichenstellung
für Wachstum ist, wie hoch in einem Land die Erwerbsarbeitsquote der Frauen ist. Hier stehen wir nach wie
vor schlecht da. In Deutschland beiträgt sie gegenwärtig
60 Prozent, in Norwegen und Dänemark allerdings
72 Prozent. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die
Frage, wie viele Frauen arbeiten, ein Wachstumstreiber
ist, und Sie müssen aus gesellschaftspolitischem und
steuerpolitischem Blickwinkel fragen, wo Hindernisse
bestehen.
In Deutschland gibt es zwei Hindernisse: erstens das
Ehegattensplitting, durch das die nicht arbeitenden
Frauen steuerlich zu stark begünstigt werden, sodass es
als Bremse wirkt, am Erwerbsarbeitsmarkt aufzutreten,
und zweitens die noch immer schlechte Kinderbetreuungssituation, vor allem für Kinder unter drei Jahren.
Hier müsste ein Wirtschaftsminister, der verstanden hat,
wodurch Wachstumsimpulse gesetzt werden können,
ebenso ansetzen wie bei den Investitionen. Nach meiner
Überzeugung haben Sie das nicht bzw. zu wenig getan.
({2})
Ich möchte zum Schluss kommen. Herr Glos, auf der
Optimismusschiene fahren wir gerne mit. Dennoch fordern wir Sie auf, im nächsten Jahr eine konsequente Reformpolitik zu betreiben, durch die die Situation der
Wirtschaft, der Beschäftigten und auch der Verbraucher,
des dritten Marktteilnehmers, verbessert wird. Sie müssen einschneidende Reformen auf den Weg bringen.
({3})
Dann würden Sie unserem Land etwas Gutes tun. Wir
werden Sie auf diesem Weg kritisch begleiten und unterstützen. Aber in die Suppe des Aufschwungs zu spucken,
ist nicht unser Ding.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jeder, der in diesem Haus und in Deutschland
auf einen fortgesetzten Aufschwung setzt, kann den
Bundeswirtschaftsminister nur beglückwünschen. Die
wirtschaftspolitische Strategie des vergangenen Jahres
zeigt Erfolge. Wer sich die erste Runde der Debatte
heute Morgen hier angehört hat, der konnte feststellen,
dass es bei aller Kritik keine schlüssige Alternative zur
Strategie der Bundesregierung gibt.
Der Erfolg hat offenkundig viele Väter; das haben wir
heute Morgen gehört. Ich möchte ausdrücklich bestätigen, dass auch ich das so sehe. Die Arbeitnehmer haben
sich in den vergangenen Jahren eingebracht, indem sie
sich zum Beispiel bei den Lohnforderungen zurückgenommen haben. Die Unternehmer entscheiden sich
wieder mutig für Investitionen in diesem Land und tragen damit zum Aufschwung bei. Aber auch die Politik
hat vor einem Jahr in Genshagen auf der Basis Sanieren,
Investieren, Reformieren einen Grundstein gelegt, womit sie wieder Vertrauen und Verlässlichkeit für die Arbeitnehmer und die Unternehmer in diesem Land geschaffen hat. Deshalb sind alle drei - Arbeitnehmer,
Unternehmer und Politik - für dieses Erfolgsergebnis
des Jahres 2006 verantwortlich.
({0})
Ich rate uns dringend dazu, dass wir diese Gemeinsamkeit weiterführen, wenn wir in Deutschland weiterhin Erfolg haben wollen, und uns nach dem ersten Jahr
jetzt nicht darüber streiten, wer den größten Anteil an
dem Erfolg hat, sondern darauf setzen, dass die Gemeinsamkeit erhalten bleibt, sodass wir an dieser Stelle auch
in der Zukunft gemeinsam Erfolg haben.
Die Zahlen sprechen für sich: 2,5 Prozent Wachstum
- wer das hier vor einem Jahr bei der Debatte angekündigt hätte, wäre mehr als belächelt worden - und ein
Rückgang der Arbeitslosenzahl um eine dreiviertel
Million binnen eines Jahres; wer das hier angekündigt
hätte, wäre ausgelacht worden. Dies haben wir erreicht.
Nach den realistischen Prognosen für das laufende Jahr
wird das Wachstum beibehalten und die Arbeitslosenzahl um eine halbe Million weiter zurückgehen. Diese
Fortschritte in unserem Land sollten wir nicht kleinreden. Ich glaube, einen wichtigen Anteil daran hat die
Große Koalition, indem sie einen Stimmungsumschwung geschaffen, neues Vertrauen geweckt und
durch eine klare wirtschaftspolitische Strategie Handlungsfähigkeit bewiesen hat.
({1})
Es gibt hier und da natürlich Berufskritiker - das haben wir heute Morgen auch gehört -, die grundsätzlich
für Kritik bezahlt werden. Das ist in Ordnung, das müssen wir akzeptieren. Ich glaube aber, wenn wir uns das
Verhalten der Wirtschaftssubjekte anschauen, derjenigen, die wirklich Wirtschaft betreiben, dann wird klar,
dass sie eine andere Sprache sprechen. Die Binnenkonjunktur ist zum zweiten Standbein des Aufschwungs
geworden. Wir müssen uns klarmachen, dass wir innerhalb von zwei Jahren über eine Million mehr Beschäftigte in Deutschland haben werden. Das bedeutet, dass
mehr Menschen Einkommen haben werden, das auch
wieder ausgegeben wird, was zum Binnenwachstum
weiter beitragen wird. Über die Mehrbeschäftigung
stärken wir die Binnenkonjunktur in Deutschland. Der
Ansatz, den wir verfolgen, ist also richtig.
Wenn wir uns den Ifo-Geschäftsklima-Index anschauen, dann stellen wir fest, dass sich die Geschäftserwartungen vier Monate hintereinander verbessert haben.
Auch das zeigt, dass das Vertrauen in die Politik geDr. Michael Meister
wachsen ist. Die Investitionsnachfrage ist ebenfalls gestiegen. Die Unternehmen investieren doch nur, wenn
sie wissen, dass sich das in Zukunft rentieren wird. Das
zeigt auch, dass Vertrauen in die Politik und in die Rahmenbedingungen vorhanden ist.
Wir brauchen jetzt keine Politik der ruhigen Hand,
sondern ein entschlossenes Umsetzen der Reformen, die
wir uns vorgenommen haben. Ich glaube, deshalb ist es
wichtig, dass wir uns jetzt nicht ausruhen; denn das Ausruhen nach dem Jahr 2000 hat dazu geführt, dass die Arbeitslosenzahl plötzlich massiv angestiegen ist, dass das
Wachstum abgerutscht ist und dass wir massive Probleme mit unseren Staatshaushalten bekamen. Deshalb
müssen wir eine andere Strategie fahren. Es ist mehrfach
gesagt worden - ich bestätige das aus Sicht der Union
auch -: bei Sonnenschein auf die Reformbaustelle. Herr
Brüderle, Sie müssen sich aber entscheiden. Sie haben
erst gesagt, dass man bei Sonnenschein auf die Baustelle
muss, und dann haben Sie gesagt, dass es noch regnet.
Nein, im Hinblick auf die Konjunktur scheint die Sonne
momentan. Deshalb gehen wir auf die Baustelle. Sie
können sich gerne weiter zu Hause vor dem Regen
schützen. Dagegen haben wir nichts.
({2})
Ich möchte hier ausdrücklich auch einmal darauf hinweisen: An erster Stelle darf nicht die Frage stehen, wie
wir den Mangel besser verteilen, sondern wir müssen
über die Frage reden, wie wir den Mangel am besten reduzieren. Hier unterscheiden wir uns von einigen in diesem Haus, die den Mangel gerecht verteilen wollen.
Nein, wir wollen dafür sorgen, dass die Mangelerscheinungen in unserem Lande verschwinden. Daran arbeiten
wir.
Der Kollege Stiegler hat darauf hingewiesen, dass wir
in 2006 eine Menge getan haben. Die verschiedenen
Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Konjunktur
angesprungen ist und gut läuft.
({3})
In diesem Bereich haben wir sehr viel auf den Weg gebracht, und es hat Wirkung gezeigt.
Was wir neben einem guten Lauf der Konjunktur in
unserem Land jetzt brauchen, ist eine vernünftige Strukturveränderung, damit das Ganze nachhaltig tragfähig
wird und das Potenzialwachstum in Deutschland steigt.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns jetzt zum Beispiel des
Arbeitsmarktes annehmen. Ich will an dieser Stelle die
Diskussion einmal vom Kopf auf die Füße stellen.
Es wird immer wieder behauptet, das Ganze sei zunächst einmal eine Einkommens- bzw. Lohnfrage. Für
mich hat erste Priorität nach wie vor die Frage: Wie viel
Beschäftigung haben wir im Land, und was können wir
dafür tun, dass wir zu mehr Beschäftigung kommen?
Wenn wir mehr Arbeit haben, haben wir mehr Wohlstand, und über mehr Wohlstand können wir auch mehr
soziale Sicherheit finanzieren. Es darf nicht umgekehrt
die Frage diskutiert werden: Wie greifen wir möglichst
stark in den Arbeitsmarkt ein, um ihn zu behindern und
damit in die Situation zu kommen, dass es weniger Arbeit, weniger Einkommen und damit weniger Wohlstand
gibt?
Also muss diese Debatte vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Es geht nicht darum, den Arbeitsmarkt zu
stören, sondern darum, ihn funktionsfähiger zu machen
und damit zu mehr Wohlstand der Menschen in Deutschland beizutragen.
({4})
Wenn wir über Strukturreformen reden, muss ich einmal festhalten: Wir haben in diesen Tagen eine Weichenstellung vorgenommen, die in ihrer Dimension nicht zu
übertreffen ist. Das ist die Einigung in der Koalition zur
Zukunft der deutschen Steinkohle.
({5})
An dieser Stelle ist eine Weichenstellung erfolgt, mit der
wir den größten Subventionsabbau in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland festlegen. Bei aller Kritik, die hieran schon wieder im Detail geäußert wird,
wäre es vernünftig, das erst einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Es gab viele Aktive in der Politik, die sich in wechselnden Regierungskonstellationen dieses Themas angenommen haben und nicht zum Ziel gekommen sind.
Jetzt ist eine Vereinbarung getroffen worden, die das zu
einem festen Datum zum Abschluss führen wird. Das ist
ein positives Signal für alle Beteiligten. Wir erreichen
Planungssicherheit für die Kumpel. Sie erhalten das Signal: Es kommt zu einem sozialverträglichen Ausstieg
aus der Steinkohlensubventionierung. - Wir erreichen
Verlässlichkeit für die öffentlichen Haushalte, indem wir
einen klaren Zeitplan und einen klaren Verlauf signalisieren. Wir erreichen Planungssicherheit für die betroffenen Regionen, indem wir ihnen sagen, wie der Strukturwandel gestaltet werden kann. Wir erreichen letztlich
auch Planungssicherheit für das betroffene Unternehmen, indem wir den Weg zum Börsengang eröffnen.
Hiermit schaffen wir langfristig klare Rahmenbedingungen. Das sollte einmal gewürdigt werden und nicht immer nur mit Detailkritik an der einen oder anderen Stelle
bedacht werden.
({6})
Als ich 1994 in den Deutschen Bundestag kam, hat
mich meine Fraktion zunächst einmal in den Ausschuss
für Post und Telekommunikation geschickt.
({7})
Ich habe deshalb damals aktiv an der sogenannten
Postreform teilnehmen dürfen und will, weil auch das
heute Morgen angesprochen worden ist, einfach einmal
feststellen: Nach nahezu 13 Jahren hat sich diese Reform
als Erfolgsgeschichte für unser Land erwiesen. Wir haben heute mehr Leistung, mehr Qualität, günstigere
Preise und bessere Dienstleistungen.
({8})
Deshalb müssen wir in der aktuellen Diskussion daran
festhalten, dass es darum geht, diese Erfolgsgeschichte
fortzuschreiben und sie nicht beim letzten Schritt zu stören. Deshalb werbe ich dafür, dass wir an diesem Erfolgsweg festhalten und so erreichen, dass wir national
eine gute Versorgung unserer Bevölkerung haben und international auch ein dominierender Spieler in diesem
Markt sind.
Sie haben heute Morgen das Stichwort Bürokratieabbau angesprochen. Uns im Deutschen Bundestag liegt
jetzt das erste Gesetz vor, in dem im Vorblatt genannt ist,
wie hoch die zusätzlichen Bürokratielasten sind bzw., in
diesem speziellen Gesetz, in welchem Maß ein Abbau an
Bürokratiekosten stattfindet. Das ist für uns als Mitglieder des Deutschen Bundestages ein qualitativer Sprung
nach vorne, weil wir über die Bürokratie nicht mehr nur
theoretisch debattieren: „Gibt es mehr oder weniger Bürokratie, macht man es besser oder schlechter?“, sondern
eine klare Ansage seitens der Bundesregierung haben,
was dieses zweite Mittelstandsentlastungsgesetz konkret
an Entlastung für die Unternehmen, aber auch für die öffentliche Verwaltung bringt.
Jetzt kann man natürlich sagen: Dieser Betrag ist bescheiden. - Ich bin mir mit dem Kollegen Stiegler, mit
der SPD-Fraktion und mit meiner Fraktion darüber einig, dass wir der Bundesregierung dabei helfen werden,
das Gesetz noch etwas anzureichern, sodass auch hierdurch schon mehr Bürokratieabbau stattfinden wird.
Der qualitative Sprung für uns alle an dieser Stelle ist
aber: Wir können messen. Wir sollten diese Möglichkeit
nutzen. Die EU hat gesagt: Wir wollen 25 Prozent Bürokratieabbau. - Wir in Deutschland sollten nicht unter
dieser Stange durchlaufen, sondern über diese Hürde
springen. Deshalb sollten wir uns vornehmen, das Ziel
„25 Prozent weniger Bürokratie in diesem Land“ zu erreichen.
({9})
Wenn wir dieses Ziel einmal erreicht haben werden,
wird es damit aber nicht getan sein. Ich werbe an dieser
Stelle um Nachhaltigkeit auch beim Bürokratieabbau.
Wir sollten wie folgt verfahren: Wir legen sozusagen einen Deckel darauf. Jeder, der in Zukunft ein neues Gesetz vorlegt, mit dem neue Bürokratie geschaffen wird,
muss an anderer Stelle Bürokratie abbauen, damit es
nicht bei einem Einmaleffekt bleibt, sondern in diesem
Land Bürokratiekosten dauerhaft begrenzt werden.
Wenn wir mit solchen Mechanismen und Strategien arbeiten, dann können wir auf die Sonntagsreden zu dem
Thema verzichten und endlich qualitativen Bürokratieabbau in Deutschland betreiben und so, ohne Geld in die
Hand zu nehmen, für Entlastung der öffentlichen Verwaltung und der Bürger sorgen, meine Damen und Herren.
({10})
Ich sage ausdrücklich: Auch das kann Politik nicht alleine leisten, sondern wir brauchen den Bürger. Denn
wenn wir Bürokratie abbauen sollen, muss der Bürger in
diesem Land bereit sein, selbst mehr Verantwortung zu
übernehmen, statt auf den Staat und die öffentliche Hand
zu schauen.
Auch an dieser Stelle flankieren wir. Ich nenne die
Debatte über das Gemeinnützigkeitsrecht, die wir momentan führen. Wir wollen für den Bürger in diesem
Land, der bereit ist, für seinen Staat, für die Gesellschaft
mehr zu tun, bessere Rahmenbedingungen schaffen. Wir
diskutieren momentan in der Koalition über steuerliche
Rahmenbedingungen. Ich glaube aber, wir dürfen nicht
beim Steuerrecht stehen bleiben. Wir müssen auch die
Bürokratie im Vereinsrecht hinterfragen und über das
Haftungsrecht für diejenigen sprechen, die ehrenamtlich
tätig sind. Wir müssen die Frage stellen, inwieweit wir
jemandem, der Verantwortung übernimmt, auch noch
haftungsrechtliche Bedingungen aufbürden, mit denen er
sich zusätzlich zu seinem Einsatz auseinandersetzen
muss. Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir für Bürgerengagement werben, den Bürgern auch Rahmenbedingungen geben, die ihnen dieses Engagement für unsere
Gesellschaft möglich machen, meine Damen und Herren.
({11})
Zum Abschluss: Sehr oft wird eingefordert, wir müssten bei der Unternehmensteuer etwas tun. Vor
18 Monaten gab es einen Jobgipfel, auf dem sich die
Fraktionsvorsitzenden mit dem damaligen Bundeskanzler verständigt haben. Aber wer sich jetzt einmal die
Eckpunkte der Unternehmensteuerreform, die seit
2. November vorliegen, anschaut und diese mit den Ergebnissen des Jobgipfels vergleicht, der sieht, dass zwar
auch wir die Sätze etwas gesenkt haben, dass diese Unternehmensteuerreform jetzt aber auch strukturelle Verbesserungen bringt. Ich glaube, da sind wir in den letzten
18 Monaten einen gewaltigen Schritt vorangekommen.
Es liegt jetzt an uns, diesen Fortschritt der strukturellen
Verbesserung in den nächsten fünf Monaten in der Gesetzgebung umzusetzen und ins Gesetzbuch zu bringen.
Dazu wollen wir einen Beitrag leisten, damit die Menschen sehen, dass sie sich darauf verlassen können, dass
die Reformen, über die gesprochen wird, auch umgesetzt
werden und dass ihnen damit auch klare Ansagen für die
Zukunft gegeben werden.
Vielen Dank, meine Damen und Herren, für die Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Martin Zeil für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ja erstaunlich, Herr Kollege Meister, dass jemand, der
gerade vor 16 Monaten von der Oppositionsbank in die
Regierungskoalition gewechselt ist, sich jetzt hier über
Berufskritiker erhebt.
({0})
Es ist genauso falsch, von Berufskritikern zu sprechen,
wie sich hier als Hofjubler zu betätigen, Herr Kollege
Meister.
({1})
Außerdem hat man bei Ihnen den Eindruck, auch bei
Ihren Reden, dass Ihnen der Ehrgeiz in der Wirtschaftspolitik abhandengekommen ist.
Sie loben eine Wachstumsprognose von 1,7 Prozent
als Riesenerfolg. Wenn ich das einmal mit den Daten anderer Länder in der Welt vergleiche, dann kann ich nur
sagen, dass ich mir hier auch bei Ihnen einen wesentlich
höheren Anspruch wünsche, meine Damen und Herren.
({2})
Es fehlt ja nicht am guten Willen. Das zeigen auch die
schönen Worte im Jahreswirtschaftsbericht. Aber die Realität wird doch mehr von den Protektionisten und den
Verfechtern einer Reformpause bestimmt. Gerade bei
Rot-Schwarz müsste der Wirtschaftsminister als Lordsiegelbewahrer der sozialen Marktwirtschaft seine
Stimme laut erheben. Doch diese Stimme ist aus unserer
Sicht oft zu zaghaft, zu widersprüchlich, verhallt ungehört und ist manchmal gar nicht zu hören.
({3})
Ich komme aus einem wunderbaren Land - Bayern -,
({4})
in dem der Mittelstand eine große Rolle spielt. Dort haben die Menschen ein feines Gespür für den Unterschied
zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es reicht eben
nicht, den Mittelstand in Reden zu loben, ihn dann aber
bei der Umsetzung von EU-Recht, der Abwehr von Bürokratielasten oder der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform im Stich zu lassen, meine Damen und
Herren.
({5})
Herr Kollege Meister, Sie haben das Thema Bürokratieabbau angesprochen. Ihre Ausführungen waren
interessant. Es wäre aber schön gewesen, wenn Sie dafür
gesorgt hätten, dass Ihre Vorstellungen in Bezug auf den
Normenkontrollrat, die Sie heute haben, damals bei der
Verabschiedung des Gesetzes umgesetzt worden wären.
Die Erfahrungen zeigen ja, dass der Normenkontrollrat
ein allzu stumpfes Schwert ist; dafür haben Sie gesorgt.
In der Presse war schon vom „kastrierten Hund“ die
Rede. Sie haben das quantitative Ziel einer Reduzierung
um 25 Prozent angesprochen. Wir haben damals entsprechende Regelungen vorgeschlagen, die Sie aber abgelehnt haben. Jetzt verstecken Sie sich hinter der EU. Auch das Gesetz zur Gesundheitsreform, das große Auswirkungen auf den Mittelstand hat, ist dem Normenkontrollrat nicht vorgelegt worden. Das ist ein großer Fehler.
Lassen Sie mich noch zu einigen Wettbewerbsfragen
Stellung nehmen. In Sachen Wettbewerb und Energiepolitik hat die Monopolkommission den Weg gewiesen. Es
war aber die EU-Kommission und nicht der Wirtschaftsminister, die kürzlich mit weitreichenden Vorschlägen an
die Öffentlichkeit getreten ist. Hier ist es ähnlich wie
beim Energiemix: Sie liegen in Fragen des Wettbewerbs
offenbar so weit auseinander, dass Deutschland, das zurzeit die Ratspräsidentschaft innehat, in dieser wichtigen
Zukunftsfrage völlig kraft- und konzeptionslos agiert.
({6})
Mit der von Ihnen und vorhin auch vom Minister
hochgelobten GWB-Novelle bäckt man kleine Semmeln, wie man bei uns in Bayern sagen würde. Sie konzentriert sich auf eine sektorspezifische Preiskontrolle
und auf die untaugliche Einbeziehung von Untereinstandspreisen. Mit Preiskontrollen allein schaffen Sie jedoch noch lange keinen Wettbewerb.
({7})
Auch auf anderen Gebieten feiern die Vorstellungen
der Protektionisten in Ihren Reihen fröhliche Urständ.
Herr Kollege Meister hat über die Postdienstleistungen
gesprochen. Der Jahreswirtschaftsbericht bekennt sich
zur vollständigen Öffnung. Aber in der Koalition wird
diese Öffnung wieder infrage gestellt. Es ist schon
schlimm genug, wenn eine Regierung auf diese Weise
demonstriert, dass sie nicht weiß, was sie will. Noch
schlimmer ist es aber, wenn durch dieses Verhalten Zukunftschancen gerade des Mittelstandes verspielt werden.
({8})
Der Bundeswirtschaftsminister hat auch die Automobilindustrie, eine Schlüsselindustrie unseres Landes, angesprochen. Das Schlimme ist, dass Sie hier jenseits von
Sachfragen keine einheitliche Meinung haben. Noch
schlimmer ist, dass Sie kein Konzept haben. Man erkennt überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen. Das
muss angesichts der Dringlichkeit dieses Themas wirklich beunruhigen.
({9})
Lassen Sie mich noch auf ein anderes Wettbewerbsthema zu sprechen kommen. Bei der Gesundheitsreform haben wir es schwarz auf weiß, dass die
Regierung, auch der Wirtschaftsminister, überhaupt
nicht erkannt hat, wo hier die Wettbewerbsprobleme liegen. Erst auf Hinweis des Wissenschaftlichen Beirats
wurde das Problem der Nichtanwendung der Gesetze
zum Schutze des Wettbewerbs überhaupt bekannt. Der
Beirat schreibt:
Ihr Ministerium hat die Zuständigkeit für das
GWB. Es verteidigt insoweit eine stolze Tradition.
Wir halten Ihr Einschreiten für unerlässlich.
Die Antwort ist entlarvend. Sie lässt sich so zusammenfassen: Leider haben wir geschlafen; jetzt können wir
nur noch eine Hilfsoperation machen. Aber das Ziel,
nämlich die Zuständigkeit der Kartellbehörden sicherzustellen, wird nicht erreicht. - Einen stärkeren Beweis dafür, dass diese stolze, gerade unter liberalen Wirtschaftsministern begründete Tradition Vergangenheit ist - das
ist wirklich ein Armutszeugnis -, kann es wohl nicht geben.
({10})
Otto Graf Lambsdorff, dessen 80. Geburtstag wir am
Montag gefeiert haben, hat den Zustand der Regierung
mit dem schönen Satz beschrieben: Das ist nicht Eintracht in Vielfalt, sondern Zwietracht in Einfalt.
({11})
Ein echter Aufbruch zu mehr Marktwirtschaft und
Wettbewerb steht noch aus.
({12})
Für die SPD spricht nun der Kollege Rainer Wend.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion heute Morgen gibt mir die Gelegenheit - diese
Notwendigkeit ergibt sich für mich daraus -, ein paar
Worte zum Thema Staatsverständnis auf den beiden unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums zu verlieren.
Herr Kollege Lafontaine, Sie haben in Ihrer Rede
eben sinngemäß gesagt - ich verdichte und verkürze -,
man müsse ja nur die Unternehmensteuern stärker erhöhen und die Vermögensteuer wieder erheben, dann
werde es in Sachen Gerechtigkeit und Wirtschaft in
Deutschland besser werden.
({0})
Darauf erwidere ich Ihnen Folgendes, Herr Kollege
Lafontaine: Wer in einer Welt, in der mit Niedrigstunternehmensteuern Konzernzentralen nach Irland bzw. Dublin gelockt werden, in der die Slowakei mit Niedrigstlöhnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihren
Grenzgebieten zu unseren Lasten nach vorne bringen
will, in der in Indien Callcenter mit qualifizierten und
preiswerten Kräften entstehen und uns die Arbeitsplätze
hier weggeholt werden, in der China Rohstoffe mit der
Folge gigantischer Preiserhöhungen aufkauft, in der es
um einen Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze geht, behauptet, man könne mal so einfach mit einer Vermögensteuer und höheren Unternehmensteuern
die Lage in Deutschland in Ordnung bringen, hat in der
Wirtschaftspolitik in den letzten 20 Jahren nichts dazugelernt und ist im Turm der 70er-Jahre geblieben.
({1})
Es ist ja noch schlimmer: Herr Lafontaine, Sie wollen
das zwar nicht; aber objektiv tragen solche Parolen dazu
bei, dass in unserem Land Demokratieverdrossenheit
und Demokratiefeindlichkeit wachsen,
({2})
weil Sie die Illusion erwecken, es gäbe hier für unseren
Staat und unsere Gesellschaft Handlungsmöglichkeiten.
Das sind Fehlinformationen. Sie sind aus kurzfristigen
Interessen populistisch, und Sie versagen bei der differenzierten Wirtschaftsdebatte in unserer Gesellschaft.
({3})
Kollege Wend, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lafontaine?
Das kann ich jetzt schlecht verweigern.
({0})
Herr Kollege Wend, ich kenne Ihre Position. Ich
weiß, dass Sie das, was Sie hier vorgetragen haben, auch
ernst meinen.
({0})
Das ist wahr.
Deshalb habe ich versucht, pädagogisch vorzugehen.
Ich hatte Ihnen vorgeschlagen, die Vermögensteuer so
wie beispielsweise in Frankreich, in den Vereinigten
Staaten oder in Großbritannien und die Mindestlohnregelung so wie in den meisten europäischen Staaten zu
gestalten. Auch diese Staaten sind auf dieser Welt; ich
nehme an, das ist Ihnen bekannt. Was ist Ihr Gegenargument, Herr Kollege Wend?
Herr Weltökonom, ich darf mich zunächst sehr herzlich für Ihre pädagogische Belehrung bedanken und
möchte Ihnen, ohne belehrend wirken zu wollen, sagen:
Demjenigen, der sich einzelne Punkte - ob im Lohnbereich oder bei der Steuer, also mal eben in Amerika die
Vermögensteuer - herausgreift, ohne zu berücksichtigen,
wie die Steuerlage bei Erträgen und anderen Dingen in
den Vereinigten Staaten ist, der Rosinenpickerei betreibt,
um sozusagen seine eigene Ideologie zu legitimieren,
werfe ich vor, Herr Lafontaine, dass er aus kurzfristigen
wahltaktischen Interessen heraus populistisch ist und
sich einer differenzierten Wirtschaftsdebatte in unserer
Gesellschaft verweigert.
({0})
Auch zur anderen Seite dieses Hauses ist in Sachen
Staatsverständnis etwas zu sagen. Ich berichte Ihnen einmal vom Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer in Bielefeld. Der Präsident dieser Industrie- und
Handelskammer hat die Wirtschaftsdaten wunderbar
geschildert und dargestellt, wie gut alles geworden sei
und dass die Situation im Hinblick auf die Wirtschaftsentwicklung und die Arbeitsplätze besser geworden sei.
Dann hat er gefragt: Wer hat das alles zu verantworten?
Daraufhin hat er geantwortet: Die Politik - er differenziert gar nicht mehr - hat damit gar nichts zu tun. Wir in
der Wirtschaft haben es geschafft, dass alles gut geworden ist.
Dazu hatte ich drei Überlegungen:
Als Erstes war ich ein bisschen demotiviert. Ich muss
meinen Kollegen und Freunden von der IG Metall die
Rente mit 67 erläutern, ich muss bei der Arbeiterwohlfahrt über die Arbeitsmarktreformen reden. Wozu mache
ich das alles? Denn dies ist ja anscheinend völlig unerheblich für die wirtschaftliche Entwicklung.
Als Zweites war ich darüber besorgt, wie es mit unserer Wirtschaft weitergeht. Denn das intellektuelle Niveau zu sagen: „Wenn es schlecht läuft, ist die Politik
schuld, und wenn es gut läuft, dann ist die Wirtschaft dafür verantwortlich“,
({1})
macht mir Sorgen dahin gehend, wie solche, die das sagen, die Wirtschaft unseres Landes weiterführen wollen.
({2})
Als Drittes war ich ein bisschen verärgert. Ich sage
mit großem Ernst: Die Demokratieverdrossenheit, die
damit auch von Teilen der Wirtschaft gefördert wird,
kann ich nicht für richtig halten. Das ist nicht in Ordnung. Jeder muss sich um seine eigenen Dinge kümmern. Die Politik muss ihre Aufgaben bewältigen, und
die Wirtschaft muss ihre Aufgaben bewältigen. Beide
sollten an die Arbeit gehen.
({3})
Lassen Sie mich etwas zum Thema Steinkohle sagen.
Ich halte den Kompromiss für vertretbar. Es ist ein
schwieriger Kompromiss; dennoch können wir ihm zustimmen. Wir haben uns darauf geeinigt, bis zum Jahr
2018 sozialverträglich aus dem Steinkohlenbergbau auszusteigen, im Jahr 2012 aber noch einmal darüber nachzudenken. Ich meine, alle sollten zu diesem Kompromiss
stehen. Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist:
Sagen Sie Ihrem Stoiber von Nordrhein-Westfalen, dass
es keinen Sinn macht, Verständigungen immer wieder
infrage zu stellen.
({4})
Eine Große Koalition lebt von Verlässlichkeit. Dazu gehört auch, getroffene Vereinbarungen umzusetzen.
Wir stehen trotz aller Schwierigkeiten, die wir mit
diesem Kompromiss haben, zu dem, was wir politisch
entschieden haben. Wir erwarten, dass auch CDU/CSU
zu diesem politischen Kompromiss stehen. Bitte erweisen Sie sich als verlässlicher Koalitionspartner! Nur
wenn wir bei solch schwierigen Verabredungen zusammenstehen, werden wir diese Koalition zum Erfolg führen können.
({5})
Ich habe bereits versucht, anhand einiger Schlagzeilen deutlich zu machen, dass wir in einer Welt leben, die
komplizierter geworden ist und keine einfachen Lösungen für ihre Probleme findet. Die Koalition hat sich die
Sanierung des Haushalts und die Reformierung der
sozialen Sicherungssysteme vorgenommen. Das sind
schwierige Aufgaben, die wir nicht als Selbstzweck angehen, sondern um den Investitionsstandort verlässlich
zu machen und an die neuen Verhältnisse anzupassen.
Wir wollen in Bildung und Forschung investieren, weil
in der Wissensgesellschaft die Zukunft liegt. Das sind
die richtigen Überschriften für unsere Politik.
Wir wissen, dass wir in dieser Koalition zu Kompromissen gezwungen sind. Wir stehen zu diesen Kompromissen, auch wenn sie uns manchmal schwerfallen. Diesen Weg wollen wir bis zum Ende der Legislaturperiode
gehen. Erste Erfolge sind sichtbar, und wir sind davon
überzeugt, dass weitere Erfolge in der Gesellschafts- und
Wirtschaftspolitik eintreten werden. Wir Sozialdemokraten erweisen uns als verlässlicher Koalitionspartner. Lassen Sie uns gemeinsam diese erfolgreiche Politik weiter
betreiben!
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
über den Zusammenhang von Jahreswirtschaftsbericht
und wirtschaftlicher Lage in Ostdeutschland reden.
Sie haben als Bundesregierung Ihren Bericht mit dem
Titel „Den Aufschwung für Reformen nutzen“ überschrieben. Dazu kann ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierung, nur sagen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird das als knallharte Drohung verstehen.
({0})
Ihr gefühlter und zum Teil auch gemessener Aufschwung kommt nicht an. Der Bundeswirtschaftsminister hat uns heute wieder einmal erklärt, dass die Leute
keine Angst mehr um ihren Arbeitsplatz haben. Darauf
muss ich erwidern: Sie haben den Deutschen Bundestag
mit dem wirklichen Leben verwechselt.
({1})
Ich kann auch verstehen, dass die Koalition ihre
Schwierigkeiten hat, wenn mein Kollege Oskar
Lafontaine hier einige Wahrheiten sagt. Dass die Bundeskanzlerin bei seiner Rede quasi eine improvisierte
Kabinettssitzung einberuft, um nicht zuhören zu müssen,
ist jedoch kein Zeichen von Stärke und Souveränität,
sondern von Schwäche im Umgang mit kritischen Argumenten.
({2})
In Ostdeutschland ist die Zufriedenheit der Bevölkerung - das ist zugegebenermaßen eine etwas vage
Kategorie, aber jeder wird sie täglich in sich abfragen innerhalb weniger Monate von 59 auf 39 Prozent gesun7808
ken. Angesichts dessen stellen wir erneut die Frage:
Müssen wir noch über den Osten reden? Und als Fraktion einer Partei, die sehr wohl bundesweite Politikangebote macht, die sich aber weiterhin für die Lebensinteressen der Ostdeutschen einsetzen wird, meinen wir: Ja.
({3})
Man kann eine Menge Fakten anführen. Einige
Schlaglichter machen das besonders deutlich. Gestern
Abend fand in Potsdam ein großes Treffen des Ostdeutschen Sparkassenverbandes statt. Hunderte sachkundiger Leute trafen sich dort. Ich habe mich nach Vertretern
der Bundesregierung umgeschaut - Fehlanzeige. Als
einziger Bundestagsabgeordneter hatte ich die Gelegenheit, das Hohe Haus zu vertreten. Ich bin zwar dankbar,
dass Sie mir das Feld überlassen haben;
({4})
ich halte Ihr Verhalten aber angesichts des Erfolges dieses Verbandes für ziemlich ignorant.
Weitere Fakten, die man zur Sprache bringen muss:
Die Arbeitslosigkeit ist im Osten Deutschlands doppelt
so hoch wie im Bundesdurchschnitt und hat sich inzwischen auf diesem Niveau verfestigt. Der Unterschied bei
der Rente beträgt 12 Prozent, bei Löhnen und Gehältern
20 Prozent. Selbst die Deutsche Bank stellt in ihrem
Gutachten fest - lassen Sie mich das zitieren -: Der
Lebensstandard in Ostdeutschland wird zwar weiter
zunehmen, aber der Abstand zum Westen wächst an. Diese Entwicklung wollen Sie fortführen. Wir sind aber
nicht bereit, das hinzunehmen.
({5})
In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht preisen Sie erneut
den Niedriglohn als eine Art Allheilmittel. Im Osten ist
der Niedriglohn kein Sonderfall, sondern der Regelfall.
Wir sagen Ihnen: Wir brauchen keine weiteren Niedriglohnexperimente. Die in diesem Land vorhandenen
Niedriglohnrealitäten sind schon schlimm genug.
({6})
Deshalb wird meine Fraktion die Forderungen der Gewerkschaften nach besseren Tarifabschlüssen und Mindestlöhnen unterstützen. Sie wird sie in diesem Arbeitskampf begleiten.
In Ihrem Bericht ist erneut sehr oft von Innovation
die Rede; das macht sich in solchen Berichten immer
gut. Sie haben eine Reihe von Regierungsprogrammen
aufgelegt; Stichworte: Genshagen, 6-Milliarden-Programm, 24-Milliarden-Programm. Inzwischen versteht
niemand mehr, wie dieses heillose Durcheinander von
Innovationsförderungen zusammenpassen soll. Sie kommunizieren jedes Instrument anders.
Ich darf darauf verweisen - das ist wiederum Fakt -,
dass nur 7 Prozent der Industrieforschung in den neuen
Bundesländern angesiedelt sind. Gleich zu welchem Unternehmen ich komme, allerorts beklagen die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer den Bildungszustand
in Deutschland. Gerade im Osten der Republik sieht man
die bildungspolitische Kleinstaaterei, die Sie mit Ihrer
Föderalismusreform beschlossen haben, sehr kritisch.
({7})
Sie werden nicht umhinkommen, über unsere Vorschläge zur öffentlich geförderten Beschäftigung, insbesondere für Langzeitarbeitslose, zu reden. Der CDUWirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, dem Bundesland, aus dem ich komme, hat das inzwischen verstanden. Er hat angefangen, Vorschläge der Linkspartei.PDS
umzusetzen. Er hat die sogenannte Bürgerarbeit als Modellprojekt eingeführt. Diesem Projekt stehen wir kritisch gegenüber. Es geht uns noch nicht weit genug, weil
es aus der Hartz-IV-Situation noch nicht wirklich
herausführt. Die Union in Sachsen-Anhalt ist nach jahrzehntelanger Verweigerung aber wenigstens bereit, diesen Vorschlägen ihre Zustimmung zu geben. Sie ist bereit, zuzugeben, dass sie hinzugelernt hat.
Wir reden ja auch über den Bericht des Sachverständigenrates. Ich will darauf verweisen, dass es im Osten
nur ein Institut gibt, das zu den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten zählt, das Institut für Wirtschaftsforschung Halle.
Herr Kollege, Sie denken an die Redezeit.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Im Sommer
dieses Jahres sollen diese Institute evaluiert werden. Danach soll entschieden werden, wie sie weiter gefördert
werden. Durch gezielte Indiskretionen wird dieses Institut nun infrage gestellt. Man kann zu diesem Institut eine
kritische Meinung haben - die habe auch ich -, es wäre
aber ein fataler Fehler, dieses Institut herauszunehmen.
({0})
Wir empfehlen Ihnen: Beachten Sie die Entwicklung
in den neuen Bundesländern! Auch für die Wirtschaft
gilt: Der Osten ist nicht das Gestern der Republik, sondern das Morgen.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Laurenz Meyer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die wirtschaftspolitischen Theorien, die hier zum
Teil vertreten werden, insbesondere von der Linken,
kann man sich nur wundern. Kollege Wend hat einiges
Richtige dazu gesagt. Ich will den Wirtschaftsverlauf
einmal aus unserer Sicht darstellen und sagen, weswegen wir große Chancen haben.
Laurenz Meyer ({0})
Wir haben einen Riesenzuwachs an Arbeitsplätzen
und haben damit den Trend umgekehrt. Ich sage ganz offen, Herr Wirtschaftsminister: Ich persönlich habe zu
Beginn des vergangenen Jahres den in der Finanzplanung unterstellten Ansatz eines Zuwachses von 200 000
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für sehr
riskant gehalten.
({1})
Von vorher Jahr für Jahr 400 000 minus auf 200 000
plus - das ist eine gewaltige Umkehr. Wir haben aber
nicht 200 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, sondern fast 350 000. Damit gibt es circa 800 000 Arbeitslose weniger. Meine Damen und Herren auch von der
Linken, Sie sollten das wahrnehmen. Dazu müssen Sie
den Kopf gebrauchen. Die Situation ist so.
({2})
Das eigentlich Wichtige an dieser Veränderung ist,
dass mehr Menschen Arbeit gefunden haben. Gott sei es
gelobt! Aber noch wichtiger ist, dass aufgrund dieser
Tatsache jetzt weniger Menschen in Deutschland Angst
haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das Angstsparen, dass jeder jeden noch verfügbaren Euro lieber
auf die Seite legt, weil er nicht weiß, was nächsten Monat ist, ist zurückgegangen; die verhältnismäßig sehr
hohe deutsche Sparquote ist gesunken. Im Inland wird
wieder mehr Geld ausgegeben. Das trägt den Aufschwung zusätzlich. Nicht nur die Kaufkraft durch zusätzliche Beschäftigung, sondern auch der Rückgang des
Angstsparens und der Verlust der Angst um den Arbeitsplatz sind die selbsttragenden Elemente, die jetzt zusätzlichen Schub geben. Deswegen können wir guter Hoffnung sein, dass sich der Arbeitsmarkt in diesem Jahr
noch stärker bewegt als im letzten Jahr.
({3})
Ich habe die Bitte an die SPD-Kollegen, noch einmal
nachzudenken und mit uns in Gesprächen zu überlegen,
was wir tun können, ohne etwas einzureißen. Unser Arbeitsmarkt hat leider Gottes ein gewisses Maß an Starrheit; das haben die Diskussionen in der Kommission unter Herrn Müntefering gezeigt. Es gibt zurzeit nur zwei
Ventile: das eine sind die 400-Euro-Jobs, das andere ist
die Zeitarbeit. Die Arbeitgeber flüchten in diese beiden
Bereiche. Daher gibt es hier einen starken Zuwachs, aber
zu wenige Einstellungen in den Betrieben selbst.
({4})
Wir sollten deshalb darüber nachdenken, wie wir - und
zwar mit sozialer Sicherheit für alle, die Arbeit haben einen Weg finden, der es ermöglicht, dass diejenigen, die
Arbeit suchen, schneller eingestellt werden.
({5})
Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass wir auf dem Arbeitsmarkt ein riesiges Potenzial, was offene Stellen angeht, zu verzeichnen haben. Die Zahlen belegen eine
großartige Veränderung: Es gibt 800 000 offene Stellen.
Das muss uns aber in unserem Engagement beflügeln, die
Vermittlungstätigkeit noch stärker anzukurbeln. 800 000
offene Stellen und noch 4 Millionen Arbeitslose - es
macht mich unruhig, dass diese Stellen nicht schneller
besetzt werden. Hier muss sich mehr tun.
Wir müssen konstatieren, dass wir inzwischen in verschiedenen Teilen Deutschlands einen Facharbeitermangel haben, der sehr unterschiedlich strukturiert ist.
Die Situationen in Ostdeutschland und Westdeutschland
unterscheiden sich hier etwas. Übrigens, noch einmal an
die Linke gesagt: Es sollte Ihnen zu denken geben, dass
die Länder, die am schlechtesten dastehen, die sind, in
denen Sie eine Zeit lang Verantwortung getragen haben.
Das müsste in Ihren Köpfen irgendwann einmal ankommen.
({6})
Wir müssen überlegen - das ist meine Bitte an die
Kollegen; hier wende ich mich insbesondere an Herrn
Stiegler und Herrn Wend -, ob wir nicht den Kombilohn
als zusätzlichen Ansatzpunkt brauchen. Vor dem Hintergrund der Bedürfnisse, die wir haben, wäre es denkbar,
Arbeitnehmern, die noch nicht die erforderliche Qualifikation für eine offene Facharbeiterstelle haben, während
der Qualifizierungsphase einen Kombilohn zu zahlen.
Dabei geht es nicht darum, die Unternehmen aus ihrer
Verantwortung für die Weiterbildung zu entlassen. Aber
wir müssen denen, die uns Sorgen machen, denen, die
nicht so qualifiziert sind, dass sie gleich auf dem Arbeitsmarkt unterkommen, besonders helfen.
In diesem Zusammenhang noch zwei Punkte: Wir haben nach Aussagen der Arbeitsagentur inzwischen
6 Millionen Vollzeitarbeitsplätze in der Schwarzarbeit.
Was heißt das? Das heißt für mich, es gibt genügend Arbeit in Deutschland, aber nicht genügend bezahlbare Arbeit.
({7})
Das heißt, wir müssen die Anreizsysteme so verändern,
dass zumindest ein Teil dieser Schwarzarbeit - wir reden
nie von der gesamten Schwarzarbeit - in legale, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt werden kann.
Es gibt einen ganz konkreten Vorschlag, über den wir
reden sollten; ich weiß, Herr Kuhn, dass Sie eigene, auch
diskussionswürdige Vorstellungen entwickelt haben. Wir
haben allein in den Privathaushalten in Deutschland über
4 Millionen Beschäftigungsverhältnisse, davon 120 000
gemeldete, also sozialversicherungspflichtige. Wir reden
von einem Verhältnis von 4 Millionen zu 120 000! Im
letzten Jahr haben wir bereits einen ersten Anreiz gesetzt, diese Beschäftigungsverhältnisse zu legalisieren,
indem wir eine Beschäftigung im Privathaushalt mit einer relativ geringen Summe absetzungsfähig gemacht
haben. Ich habe an alle Kollegen die Bitte, gemeinsam
darüber nachzudenken, wie wir es als Große Koalition in
dieser Legislaturperiode schaffen können, Privathaushalte wie Unternehmen zu behandeln, damit hier legale,
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen.
({8})
Laurenz Meyer ({9})
Zurzeit findet jemand, der arbeitslos wird und
Arbeitslosengeld I bekommt, schnell wieder Arbeit.
Sehr viel weniger Leute als früher erleben den Übergang
vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II. Das
kann jedoch nur der erste Schritt sein. Nach wie vor finden zu wenige, die Arbeitslosengeld II beziehen, wieder
einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Das
ist die Gruppe derer, der unsere Hauptsorge gelten muss,
wenn wir unsere Wertvorstellungen als Christdemokraten ernst nehmen. Bei der SPD sehe ich das vom Ansatz
her ähnlich. Wir müssen gerade für die weniger Qualifizierten, die keine Berufsausbildung oder keine abgeschlossene Schulausbildung haben, Möglichkeiten
schaffen. Das ist die Problemgruppe, die auch von einer
Verbesserung der konjunkturellen Entwicklung nicht automatisch ergriffen wird. Mit Mindestlöhnen, wie sie
diskutiert werden, eröffnen wir dieser Gruppe aber keine
Chancen.
({10})
Besser ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen - sei es
zunächst auch nur für einen Stundenlohn von 5 Euro - in
den Arbeitsmarkt kommen. Durch eine Kombination
von eigenem Einkommen und Sozialtransfers könnten
wir sicherstellen, dass die Menschen und ihre Familien
mit einem Mindesteinkommen ein existenzwürdiges Leben führen können. Das ist unsere Konzeption. Wir glauben, dass es besser ist, die Menschen zunächst in den Arbeitsmarkt zu bringen, als sie draußen stehen zu lassen.
Es macht keinen Sinn, wie Herr Lafontaine und andere
es tun, in erster Linie zuzusehen, dass die, die sich auf
dem Arbeitsmarkt befinden, möglichst viel haben. Vielmehr müssen möglichst viele selber Geld verdienen können, weil das eine Frage der Würde des einzelnen Menschen ist.
({11})
- Wenn ich so einen Blödsinn höre! Wenn es darum
ginge, dass die Würde des Menschen vom Einkommen
des Einzelnen abhängig ist, dann müsste Herr
Ackermann von der Deutschen Bank in Deutschland
derjenige mit der größten Würde sein. Was Sie da erzählen, ist doch grober Unfug.
({12})
Lassen Sie mich abschließend auf die Energiepolitik
zu sprechen kommen.
({13})
Wir müssen langsam aufpassen, Herr Wirtschaftsminister
- darüber haben wir gestern bereits im Wirtschaftsausschuss diskutiert -, dass die verschiedenen Instrumente,
die wir einsetzen - Anreizregulierung, Kartellrecht und
die Regelungen hinsichtlich der CO2-Emissionen; dabei
bin ich völlig anderer Meinung als Sie, Herr Zeil -, nicht
mit den Vorschlägen auf europäischer Ebene kollidieren
und dass wir nicht unseren Standort überfordern, indem
wir in Deutschland Standortrisiken vor dem Hintergrund
unseres spezifischen Produktionshintergrunds eingehen.
({14})
- Umso besser, wenn ich Sie nicht missverstanden habe.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass die
Diskrepanz zwischen den Meldungen des Umweltministers im Zusammenhang mit den CO2-Emissionen nach
Brüssel und den Forderungen Brüssels uns gegenüber einer Größenordnung von 40 Millionen Tonnen entspricht
und damit - sei es Zufall oder nicht - haargenau die
Menge an CO2-Emissionen ausmacht, die wir vermeiden
können, wenn wir den vorliegenden Anträgen entsprechend die Kernkraftwerke bis 2012 laufen lassen würden. Wir werden uns mit dieser Frage noch weiter beschäftigen müssen.
Noch eine letzte Bemerkung zur Kohle: Was gestern
in der Aktuellen Stunde die Kollegen der SPD zum Teil
vorgetragen haben, nämlich dass die endgültige Entscheidung erst 2012 falle, halte ich für falsch,
({15})
und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist der Bundestag
jederzeit mit einer entsprechenden Mehrheit in der Lage,
eine bereits getroffene Entscheidung wieder zu kippen,
wenn sich die Rahmenbedingungen völlig ändern. Viel
wichtiger ist aber zweitens - das hat das eingangs von
mir erwähnte Beispiel der Stilllegung der Zeche Sophia
Jacoba im Rheinland gezeigt -, dass wir einen langfristigen Termin brauchen, auf den sich alle Betroffenen einstellen können. Dann ändert sich die psychologische
Wahrnehmung vor Ort, und es wird auf das Neue hingearbeitet.
Herr Kollege Meyer!
Ich komme zum Schluss. - Dann wird auf das Neue
hingearbeitet, statt nur das Althergebrachte zu verteidigen.
({0})
Deshalb halte ich es für falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, als wenn nur der erste Schritt erfolgt wäre.
Wir haben es mit einer endgültigen Entscheidung zu tun,
die der Bundestag jederzeit bei fundamentaler Änderung
der Rahmendaten revidieren kann.
Auch alle anderen Argumente sind inzwischen weitgehend -
Herr Kollege, ich darf Sie an Ihr Versprechen erinnern.
Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. - Auch
alle anderen Argumente sind weitgehend erledigt, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD - spätestens
Laurenz Meyer ({0})
seitdem die RAG vor wenigen Wochen den größten
Bergbauzulieferer, den wir in der Bundesrepublik hatten,
an die amerikanische Konkurrenz verkauft und die Kokerei in Dortmund geschlossen hat.
Herr Kollege, das waren jetzt mindestens fünf
Schlusssätze. Ich muss Sie jetzt an Ihr Versprechen erinnern.
({0})
Sie haben Ihre Redezeit um zwei Minuten überzogen.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich darauf aufmerksam machen, Frau Präsidentin, und schließe damit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu einer
guten Koalition gehört, Herr Kollege Meyer, dass man
sich ausspricht und offen die Meinung sagt. Deshalb will
ich erstens zu Ihren letzten Bemerkungen feststellen:
Sorgen Sie bei Ihrem nordrhein-westfälischen Parteifreund Rüttgers dafür, dass endlich Planungssicherheit
für die Bergleute und die Kohle geschaffen werden
kann! Das wäre Ihre Aufgabe. Sie sollten hier keine Ablenkungsdiskussion führen. Herr Rüttgers ist derjenige,
der quer im Stall steht.
({0})
Zweitens. Zur Offenheit gehört auch, Kollege
Meister, dass man keine Legenden entstehen lässt. Sie
haben von der Gefahr der Politik der ruhigen Hand im
Jahr 2000 gesprochen. Im Jahr 2000 hatten wir ein Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent. Dann kamen der
Crash an den Börsen und Finanzmärkten im Frühjahr 2001 und die Unsicherheit durch Nine-Eleven. Das
hat uns wirtschaftspolitisch zurückgeworfen, nicht die
Politik der ruhigen Hand. Daran will ich in diesem Zusammenhang erinnern.
({1})
Der dritte Punkt ist - auch dabei bin ich für einen sehr
offenen und konstruktiven Umgang innerhalb der Koalition -, wie wir mit wichtigen Themen umgehen, zum
Beispiel mit der Erbschaftsteuer.
({2})
- Sie wollen sie abschaffen. Das ist klar. - Nachdem wir
einen Kompromiss geschmiedet hatten, kam jetzt ein Urteil, das sicher viele von uns so erwartet haben. Zu dem,
was Herr Glos gestern in der Pressekonferenz und heute
gesagt hat, möchte ich einen CDU-Finanzminister zitieren, den in seiner Kompetenz wohl unbestrittenen
Gerhard Stratthaus, der laut heutigem „Handelsblatt“ gesagt hat:
Es muss so schnell wie möglich Rechtssicherheit
mit neuen Bewertungsregeln geschaffen werden,
auf denen eine Verschonung von Betriebsvermögen
aufbauen kann.
Ich bin genau dieser Meinung.
({3})
Die SPD steht auch eindeutig zu der Vereinbarung der
Schonung des Betriebsübergangs. Daran hat sich nichts
geändert. Aber wir können eine Regelung nicht auf eine
verfassungswidrige Grundlage aufsetzen. Ich glaube, das
geht schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht, von anderen, politischen Gründen will ich gar nicht erst sprechen.
({4})
Darüber müssen wir uns in der Koalition und müssen
sich Bund und Länder - auch jenseits der Parteien - in
den nächsten Tagen und Wochen verständigen. Wir wissen ja, dass die Ländermehrheit im Herbst letzten Jahres
im Finanzausschuss des Bundesrates ein Votum abgegeben hat, das man im Weiteren berücksichtigen muss.
Noch eine Bemerkung zu einem meiner Vorredner:
Der Kollege Lafontaine hat in seiner Bilanz der Politik
der letzten Jahre, die er hier unter Verteilungsaspekten
angestellt hat, manche fundamentalen Daten gänzlich
ausgeklinkt, zum Bespiel den Umstand, dass die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland im letzten
Jahr so viele Steuern gezahlt haben wie noch nie. Wesentlich waren die - reaktivierte - Körperschaftsteuer
und die Gewerbesteuer mit einem Aufkommen von
38 Milliarden Euro. Es wurde schon erwähnt: Das versetzt die Kommunen in die Lage, über die Schuldentilgung hinaus verstärkt zu investieren. Warum wird das in
Ihrem Zerrbild nie erwähnt? Das gehört auch zu den Erfolgen unserer Politik, für die wir 2003 gestritten haben.
({5})
Warum fehlt denn in der Bilanz von Lafontaine und
anderen, dass durch unsere Steuersenkungen bei der Einkommensteuer in den letzten Jahren ein Arbeitnehmer,
verheiratet, zwei Kinder, unter Berücksichtigung des
Kindergeldes ein Jahreseinkommen von 37 600 Euro haben kann und trotzdem keine Steuern zahlen muss? Warum fehlt das denn in dieser Bilanz? Sie suchen sich
wirklich nur das zusammen, was Ihnen gerade so in den
Kram passt.
({6})
Wir können die Verantwortung der Gewerkschaften
für die Lohnfindung politisch nicht ersetzen und wollen
das auch nicht. Unser Beitrag muss es sein - das ist auch
in der Rede von Herrn Meyer hier angeklungen -, schon
in der Suchphase und beim Austausch von Meinungen
zu klären, was der Staat zur Rahmensetzung beitragen
kann. Ich finde es gar nicht schlimm, wenn man das hier
so offen diskutiert, wie Sie das haben anklingen lassen,
und bin ganz zuversichtlich, dass wir da, genauso wie in
anderen Fällen, zu guten Lösungen kommen werden.
Noch ein Wort zur Vermögensteuer - leider ist Oskar
Lafontaine nicht mehr im Saal -: Die Chance auf Wiedereinführung der Vermögensteuer hat bis zum
März 1999 bestanden, bis zu dem Zeitpunkt, als unsere
relative Bundesratsmehrheit durch die Wahlniederlage in
Hessen verloren gegangen ist. Der damalige SPD-Vorsitzende und Finanzminister, der die Vermögensteuer bis
März 1999 hätte durchsetzen können, hieß Oskar
Lafontaine. Der hat in dieser Frage - das kann ich als jemand, der als Ohren- und Augenzeuge in den Koalitionsgremien unmittelbar beteiligt war, sagen - kräftig
gewackelt. Andere in der SPD waren dagegen, das gehört auch mit zur historischen Wahrheit. Aber er hat
kräftig gewackelt. Lafontaine kann sich in dieser Frage
hier nicht hinstellen und die Backen aufblasen, er ist in
dieser Frage nicht glaubwürdig.
({7})
Ich freue mich darüber, dass offenbar zunehmend
Konsens darüber besteht, dass wir bei der Konsolidierung
der öffentlichen Haushalte nur über Wirtschaftswachstum vorankommen können. Das hat sich im letzten Jahr
gezeigt: Auf Bundesebene hatten wir Steuermehreinnahmen von fast 10 Milliarden Euro, die gänzlich in die Senkung der Nettokreditaufnahme gesteckt wurden. Auch
damit hat vor einem Jahr, wenn wir ehrlich sind, keiner
gerechnet. Weil diese Strategie, nicht nur die Binnenkonjunktur zu stimulieren, zum Beispiel über unser 25-Milliarden-Impulsprogramm, sondern auch konjunkturgerechte Konsolidierung zu betreiben, 2006 so erfolgreich
war - ich füge in Klammern hinzu: und im Bundesrat
nicht blockiert wurde -, sollten wir diesen Policy Mix
beibehalten. Wir wären schlecht beraten - ich sage das
nicht nur mit Blick auf die Bundesbank, sondern auch mit
Blick auf einige Stimmen aus der Koalition -, mit überzogenen einseitigen Sparanstrengungen zulasten der Binnennachfrage das, was wir erreicht haben, jetzt wieder zunichtezumachen. Ich bin hier sehr für Differenzierung.
Aber ich glaube, unsere Verantwortung besteht darin, zu
sehen, mit welchem Policy Mix wir unsere Ziele erreichen können. Den erfolgreichen Weg des Jahres 2006
- Wachstum, Beschäftigung und Konsolidierung - sollten wir 2007 und darüber hinaus fortsetzen. Das heißt für
mich, es muss alles vermieden werden, zum Beispiel Investitionen durch Kürzungen zu beschädigen. Der Staat
muss alles, was im Rahmen seiner Möglichkeiten ist - die
Wahrheit ist, dass das nicht allzu viel ist -, dafür tun, die
Weichen so zu stellen, dass wir unseren Beitrag zur weiteren Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung
leisten können.
Danke schön.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Garrelt Duin, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Poß hat gerade sehr ausdrücklich
darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen. Um in der Arbeitsmarktpolitik sowie der Haushalts- und Finanzpolitik erfolgreich zu
sein, brauchen wir eine nachhaltige Wirtschaftspolitik
und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Ich habe
schon in der Debatte während der Aktuellen Stunde in
der letzten Sitzungswoche, als es um ein ähnliches
Thema wie heute ging, gesagt, dass wir in Deutschland
eine Standortdebatte brauchen, in der nicht einseitig auf
vermeintliche Starrheiten des Arbeitsmarktes hingewiesen wird und die nicht auf Kosten und Steuern ausgerichtet ist, sondern in der die Bedingungen für einen
wirklichen Qualitätswettbewerb in den Mittelpunkt gestellt werden.
Innovation ist der Schlüssel zur wirtschaftlichen
Weiterentwicklung in einem Hochlohnland wie Deutschland, was wir weiterhin bleiben wollen. Innovationen
kommen aus den Universitäten, vielen mittelständischen
Betrieben, die unter anderem als Zulieferer tätig sind
und eigene Produkte für den Markt entwickeln, und der
Industrie. Viele qualifizierte Dienstleistungen hängen
unmittelbar von der Industrie ab. Zunehmend mehr
Industrieprodukte enthalten einen hohen Anteil an Wissen und Dienstleistungen. Europa und insbesondere
Deutschland brauchen deswegen auch in Zukunft eine
starke Industrie als Basis einer wissensintensiven und
wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Wir setzen dabei
nicht auf die Konservierung überholter Strukturen, sondern auf den Ausbau der qualitativen Vorsprünge.
({0})
Wir müssen die industrielle Struktur unserer Ökonomie
auf die knapper werdenden Ressourcen einstellen. Sie
haben recht: Das hat viel mit der Kohle zu tun. Wir müssen uns auf die Veränderungen in diesem Bereich einstellen. Das haben wir getan.
Es wird aber deutlich - darauf hat Herr Wend vorhin zu
Recht hingewiesen -, dass wir einen Dissens in der Frage
haben, was die Politik, der Staat dabei machen kann. Der
Staat kann und darf meines Erachtens Märkte nicht ersetzen und keine konkreten Produkte vorgeben. Aber er
kann als Pionier Leitmärkten entscheidende Impulse geben. Er muss industriepolitische Prioritäten setzen und
sich in Partnerschaft mit Wirtschaft und Wissenschaft auf
strategische Felder konzentrieren. Man kann drei Dinge
tun: die staatliche Nachfrage organisieren - auf diesem
Feld müssen wir noch stärker werden -, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen optimieren und - Herr
Kuhn, hier gebe ich Ihnen ausdrücklich recht - mit ambitionierten Grenzwerten in diesem Bereich, die rechtzeitig
angekündigt werden, um Planungssicherheit zu schaffen,
Innovationen auslösen.
Wir haben in den letzten Tagen eine öffentliche Diskussion über den Beitrag der europäischen und damit
nicht zuletzt der deutschen Automobilindustrie zum
Klimaschutz erlebt. Ich will als Mitglied der Gruppe
CARS 21, die in Europa einige Dinge vereinbart hat, in
Erinnerung rufen, dass die europäische Automobilindustrie im Jahr 1999 eine Selbstverpflichtung zum Klimaschutz abgegeben hat, wonach für das Jahr 2008 ein
durchschnittlicher CO2-Ausstoß von 140 Gramm pro
Kilometer für die gesamte europäische Fahrzeugflotte
erreicht werden soll. Danach wird bis zum Jahr 2012
- so die Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie - eine weitere Senkung auf 120 Gramm
Kohlendioxid pro Kilometer in Aussicht gestellt.
Die Koalitionsfraktionen haben sich bereits im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu diesen Abgasgrenzwerten
für CO2 bekannt. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass
wir, wenn die Autoindustrie in Europa ihre Selbstverpflichtung nicht einhält, auf europäischer Ebene selbstverständlich für eine entsprechende Gesetzgebung sorgen werden. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist völlig
klar, dass dieser Beitrag der europäischen Automobilindustrie zum Erreichen der europäischen Klimaschutzziele ebenso notwendig ist wie für die europäischen Verbraucher. Klar ist aber auch - auch das steht im
Koalitionsvertrag; Herr Zeil, Sie haben darauf Bezug genommen -, dass das Ziel von 120 Gramm CO2 nicht allein durch die Veränderung der Fahrzeugtechnik erreicht
werden kann, sondern anteilig auch durch eine erhöhte
Beimischung zum Beispiel von Biokraftstoffen. Diese
muss angerechnet werden. Außerdem muss klar sein,
dass alle Fahrzeuge in Europa zum Erreichen dieses
Ziels beitragen müssen, die großen, aber auch die mittleren und die kleinen. Es geht also um die Beteiligung aller Fahrzeugklassen. Es darf nicht sein, dass einige Unternehmen, weil sie kleine Fahrzeuge bauen, gar nichts
für das Klima zu tun brauchen, und alle anderen, vorzugsweise die deutsche Fahrzeugindustrie, die gesamte
Aufgabe schultern müssen.
({1})
Diese Haltung wird sowohl von Herrn Glos als auch von
Herrn Umweltminister Gabriel und im Übrigen auch von
Herrn Verheugen vertreten. Die Unterschiede, die manchmal in den Medien künstlich aufgebaut werden, entsprechen schlichtweg nicht der Realität. Es geht um eine differenzierte Herangehensweise.
({2})
Lassen Sie mich abschließend, da wir über Europa
und die Möglichkeiten des Einflusses sprechen, in der
Kürze der mir verbleibenden Zeit das Thema Airbus
aufgreifen, weil auch der Minister dieses angesprochen
hat. Ich glaube, wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können an Frankreich appellieren, dass die Franzosen den
staatlichen Einfluss, den sie auf industriepolitische Entscheidungen in ihrem Land nehmen, ein bisschen drosseln mögen, so wie wir das auch tun. Sie mögen sich
also auf ein defensives Verhalten einlassen. Wir können
auch an den Weihnachtsmann glauben.
({3})
Ich glaube, dass wir einen anderen Weg gehen müssen:
Mit der gleichen Klarheit, Härte und Intensität, wie das
in Frankreich gemacht wird, sollten wir, was Airbus angeht, im Sinne der Beschäftigten an den deutschen
Standorten agieren.
({4})
Was Herr Enders in diesen Tagen auf einem parlamentarischen Abend in Berlin gesagt hat, war dem nicht zuträglich und hat eher für Verwirrung und Unsicherheit
gesorgt als für Klarheit. Ich wünsche, dass Sie, Herr
Glos, und alle anderen erfolgreich sind im Sinne der Arbeitsplätze in unserem Land.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4170, 16/3450, 16/2460 und
16/2461 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gabriele Groneberg, Dr. Bärbel Kofler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche G8- und EU-Präsidentschaft neue Impulse für die Entwicklungspolitik
- Drucksache 16/4160 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwölfter Bericht zur Entwicklungspolitik der
Bundesregierung
- Drucksache 15/5815 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Harald Leibrecht,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Entwicklungszusammenarbeit mit Schwellenländern auf eine neue Grundlage stellen
- Drucksache 16/3839 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Reformen für eine gerechte Globalisierung Deutsche G8-Präsidentschaft für Klimaschutz
und nachhaltige Entwicklung nutzen
- Drucksache 16/4151 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die beiden Präsidentschaften, die EU-Präsidentschaft
und die G-8-Präsidentschaft, sind für Deutschland und
diese Bundesregierung eine einmalige und außergewöhnliche Chance, unsere globale Verantwortung deutlich zu dokumentieren und Schlussfolgerungen auch für
die praktische internationale Arbeit zu ziehen.
({0})
Dabei geht es vor allen Dingen auch darum, dass nachhaltige Entwicklung, sozialer Ausgleich, Bewahrung der
Umwelt, partnerschaftliche Verantwortung und die Umsetzung der Milleniumsentwicklungsziele verwirklicht
werden.
Insgesamt ist für beide Präsidentschaften Afrika das
verbindende - ich möchte sagen - Topthema dieser Präsidentschaften. Ich möchte an der Stelle dem Bundespräsidenten sehr herzlich danken, dass er Afrika mit seiner
„Partnerschaft für Afrika“ immer wieder auch auf die
Agenda Deutschlands setzt und damit die Verbundenheit
mit unserem Nachbarkontinent deutlich macht. Ich
danke ihm sehr für dieses Engagement.
({1})
Bei seiner letzten Reise stand das Thema der Zusammenarbeit der jungen Generation auf beiden Kontinenten
im Mittelpunkt. Zur Erinnerung: Fast die Hälfte aller
Menschen in Afrika ist unter 18 Jahre alt. Wir sollten
und wollen dazu beitragen, dass diesen Jugendlichen
Stimme und Zukunft gegeben wird.
({2})
Ich möchte zum Zweiten daran erinnern - auch den
Kollegen Tauss - ({3})
- Ja, guten Morgen! Nehmen Sie schon einmal Platz.
({4})
Das geht jetzt aber nicht von meiner Zeit ab, sondern
von seiner!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Konflikte, Hunger
und Aids sind nur eine Seite der Medaille. Afrika ist
auch ein Kontinent von positiven Botschaften. Afrika
entwickelt höhere Wachstumsraten und demokratischere Strukturen. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich
ein Lob sagen: Ich finde es hervorragend, dass die Afrikanische Union zum zweiten Mal dem sudanesischen
Präsidenten Bashir die AU-Präsidentschaft verweigert
hat und stattdessen den ghanaischen Präsidenten Kufuor
zum Präsidenten gewählt hat.
({5})
Glückwunsch, das ist eine weise Entscheidung.
Ein Afrikaziel unserer Doppelpräsidentschaft ist ein
Pakt für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, verbunden mit nachhaltigen Investitionen. Wir wollen zum
Beispiel mit der Weltbank dafür sorgen, dass es einen regionalen Mikrofinanzfonds gibt, der den armen Bevölkerungsgruppen in Afrika den Zugang zu Krediten und
damit zu neuen Lebenschancen ermöglicht. Wir wollen
die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die Europäische Union mit den afrikanischen, karibischen und
pazifischen Staaten abschließt, entwicklungsförderlich
gestalten. Es geht nicht an, dass die 50 ärmsten Länder
nur über ein halbes Prozent des Welthandels verfügen.
Das muss geändert werden; diese Länder müssen ihren
gerechten Anteil am Handel erhalten.
({6})
Wir unterstützen gute Regierungsführung und verweisen darauf, dass es einen Überprüfungsmechanismus
innerhalb der afrikanischen Länder gibt, den wir besonders unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung von Korruption unterstützen.
Nicht zuletzt wollen wir gerade während unserer G-8und EU-Ratspräsidentschaft dazu beitragen, HIV/Aids
zu bekämpfen. Es ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass mittlerweile im südlichen Afrika 70 Prozent aller Infizierten Frauen sind. Wir wollen, dass ein
Schwerpunkt bei der Bekämpfung von HIV/Aids bei den
Frauen gesetzt wird und dass Frauen und Kinder gerettet
werden. Das ist wichtig und das wollen wir zu einem
Schwerpunkt unserer Arbeit machen.
({7})
Ich möchte im Übrigen darauf hinweisen, dass es
nachher, zwei Tagesordnungspunkte weiter, noch eine
Debatte zur Genitalverstümmelung von Frauen gibt. Ich
will an dieser Stelle sagen: Unser Ministerium ist engagiert
im Kampf gegen diese widerwärtige Menschenrechtsverletzung an Frauen. Wir unterstützen die afrikanischen Staaten und vor allen Dingen die Nichtregierungsorganisationen im Kampf dagegen. Es ist zum Beispiel in Benin
gelungen, das Abschwören von der Genitalverstümmelung durch alle Gesellschaftsgruppen zu erreichen. Das
ist ein riesengroßer Fortschritt, den wir auch in anderen
Ländern erreichen wollen.
({8})
Wir wollen unsere Entwicklungspolitik an den folgenden Kriterien orientieren: Die Effektivität muss gesteigert werden. Wir wollen eine bessere Arbeitsteilung
zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Dazu werden wir ganz konkrete Vorschläge vorlegen und hoffentlich auch im Rat der Entwicklungsminister beschließen lassen. Selbstverständlich wollen wir
auch den Stufenplan zur Steigerung der Finanzmittel für
die Entwicklungszusammenarbeit umsetzen. Ich will
darauf hinweisen, dass beim Gipfel in Gleneagles alle
Staats- und Regierungschefs zugesagt haben, dass bis
zum Jahr 2010 die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit für Afrika verdoppelt werden sollen. Auch
dem sind wir verpflichtet, und das hat entsprechende
Konsequenzen, die wir mittragen müssen und auch wollen.
Klima und Energie. Wir wissen - nicht erst seit dem
Bericht von Nicholas Stern -, dass der Klimawandel besonders zulasten der ärmsten Entwicklungsländer und
der Länder in Afrika geht, die für die entsprechenden
Belastungen durch den CO2-Ausstoß in keiner Weise
verantwortlich sind. Eines unserer zentralen Ziele ist,
eine nachhaltige Energieversorgung, Energieeffizienz
sowie den sofortigen und konsequenten Ausbau erneuerbarer Energien - eine der zentralen Aufgaben gerade mit
Blick auf die afrikanischen Länder - voranzubringen.
({9})
Gleichzeitig wollen wir den Entwicklungsländern
helfen, mit dem Klimawandel fertig zu werden und ihre
Wälder zu erhalten. Unser Planet Erde hat keine Zukunft
ohne den Schutz unserer Lebensgrundlagen und ohne
den Schutz der Biodiversität. Das muss jedem klar sein,
auch uns selbst!
({10})
Wir wollen strategische Partnerschaften aufbauen;
wir tun dies schon jetzt. In diesem Kontext steht die Kooperation mit China. Wir können den Klimawandel nur
gemeinsam mit China eindämmen. Wenn wir erneuerbare Energien in China fördern, dann sind das - auch im
Hinblick auf unsere eigene Zukunft - gut angelegte Investitionen. Das muss immer wieder klargemacht werden.
Unabhängig davon gibt es aus afrikanischen Ländern
- dankenswerterweise - immer mehr Kritik am Vorgehen Chinas in Afrika. Die Zerstörung lokaler Industrieund Arbeitsmärkte wird zu Recht beklagt. Diese Kritik
unterstützen wir, und wir üben sie auch im Gespräch mit
der chinesischen Seite. Sie ist bitter notwendig.
({11})
Wir brauchen den Dialog mit der Zivilgesellschaft.
Deshalb bitte ich alle Anhänger der Zivilgesellschaft in
unserem Land, für die Heiligendamm ein Merkposten
ist, diese Ziele gemeinsam zu unterstützen. Sie wissen:
Auf dem Gipfel von Köln 1999 wurde die Entschuldung
der ärmsten Länder beschlossen. In Gleneagles gab es
einen weiteren Erlass der Schulden der ärmsten Länder.
Heiligendamm muss die Versprechen erfüllen und einen
Nachhaltigkeitspakt mit unserem Nachbarkontinent
Afrika schließen.
Ich komme zum Schluss. Amartya Sen hat zum
Thema „Auswirkungen der Globalisierung“ gesagt:
Wer der Globalisierung ihren Stachel nehmen will,
muss dafür sorgen, dass ihr gewaltiger Nutzen gerechter verteilt wird - nicht in dieser unausgewogenen und ungleichen Weise wie jetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist auch unsere Zukunftsfrage. Wir wollen ihre Beantwortung während unserer Präsidentschaften entschlossen angehen und einen
praktischen Beitrag zur Lösung der damit verbundenen
Probleme leisten.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
wirklich ein Jammer: Endlich einmal eine Kernzeitdebatte zur Entwicklungspolitik, endlich einmal die Gelegenheit, auch die Kollegen aus anderen Bereichen mit
diesem wichtigen Thema zu befassen, und nun das. Die
Bundesregierung legt uns hier einen Bericht vor, der
wirklich reichlich angestaubt ist: Er stammt aus dem
Mai 2005. Ich wiederhole: Mai 2005. Man sieht daran,
welche dynamische Entwicklung die Entwicklungspolitik unter der Kanzlerin Merkel offenbar genommen hat.
Frau Ministerin, herzlichen Glückwunsch! Sie haben es
geschafft, die rot-grüne Politik in diesem Bereich völlig
ungestört fortzusetzen. Auch das muss man erst einmal
schaffen.
({0})
Außerdem liegen Anträge der Koalition und der Grünen vor. Beide wurden ganz offenkundig aus dem Fundus zusammengeklaubt. Was darin steht, das sind wirklich lauter olle Kamellen. Das ist wirklich schade. Gut,
dass wenigstens unser Antrag tagesaktuell ist: Er befasst
sich wirklich mit dem von Ihnen angesprochenen Thema
der Schwellenländerpolitik.
({1})
Die Schwellenländer, insbesondere Indien und China,
haben sich doch wirtschaftlich weiß Gott rasant entwickelt. Sie sind inzwischen längst zu echten Wettbewerbern für die europäische und insbesondere für die deutsche Wirtschaft geworden. Mit ihrer enormen
Wirtschaftskraft haben sie teilweise mehr Einfluss auf
die Entwicklung in der Welt als mancher G-8-Staat.
Dennoch behandeln wir diese Länder nach wie vor so,
als habe sich dort in der Vergangenheit nichts getan.
({2})
Deshalb - dies stellen wir in unserem Antrag sehr
ausführlich dar -, Kollege Tauss, müssen wir unsere Politik gegenüber den Schwellenländern auf eine neue
Grundlage stellen.
({3})
Angesichts der in manchen dieser Länder angehäuften Devisenreserven wirken unsere Zahlungen trotz ihrer wirklich beträchtlichen Größenordnung geradezu
grotesk. Die Devisenreserven Chinas beispielsweise sind
- natürlich nur dem Betrag nach - größer als der Schuldenberg des Herrn Steinbrück; das will weiß Gott etwas
heißen.
({4})
Es ist aber nicht etwa so, dass der chinesische Finanzminister dem Herrn Steinbrück hilft. Nein, es ist genau
umgekehrt: Herr Steinbrück macht zulasten unserer Kinder und folgender Generationen Schulden, um Geld nach
China zu schaufeln. Für wie blöd müssen uns die Chinesen eigentlich halten, wenn wir sagen, dass wir eine solche Politik in die Zukunft perpetuieren wollen?
({5})
Die Inder, Brasilianer und Südafrikaner sagen sich:
Solange ihr uns Geld gebt, nehmen wir es dankend an;
nötig ist es allerdings nicht. - Gewiss, auch in diesen
Ländern gibt es Armut; das ist ganz klar. Aber sie benötigen nicht in erster Linie Geld; das haben sie. Was sie
brauchen, ist technische Hilfe. Dafür können sie bezahlen. Dazu sind sie auch bereit. Dieses Geld sollten wir
auch annehmen.
({6})
China beispielsweise ist inzwischen zu einem der
wichtigsten Geber in Afrika geworden. Aber China geht
anders vor als wir, die wir ethische Ziele verfolgen.
Nein, die Chinesen pumpen Geld nach Afrika und treten
dort generös in Spendierhosen auf. Gleichzeitig schicken
wir Geld nach China. China gewinnt in Afrika an Einfluss und sichert seine Rohstoffbasis, während wir dort
in zunehmendem Maße beides verlieren, weil wir unser
ohnehin nur gepumptes Geld nach China schicken, anstatt dort unsere Interessen zu vertreten.
({7})
Ich habe die Ministerin so verstanden, als müssten wir
mit unserer Entwicklungszusammenarbeit in China unser Klima verteidigen. - Dort meldet sich jemand zu einer Zwischenfrage, Frau Präsidentin. - Dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Wenn wir der chinesischen Politik in
Afrika, dem Raubbau, den China dort betreibt, und der
Rücksichtslosigkeit, mit der das Land vorgeht, in den
Arm fallen, tun wir mehr für das Weltklima als mit jedem Windpark, den wir in China aufbauen.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Koczy?
Aber selbstverständlich, insbesondere von der Kollegin Koczy.
Herr Kollege, vor Kurzem fand eine Veranstaltung
der GKKE, der katholischen und der evangelischen Kirche, zum Thema Armutsbekämpfung statt. Beide Kirchen haben dazu aufgefordert, den Blick darauf zu richten, dass in den vier Schwellenländern bzw. sogenannten
Ankerländern China, Indien, Brasilien und Südafrika die
Hälfte aller Armen weltweit lebt. Wie stehen Sie zu der
Aufforderung der Kirchen, dass die Armutsbekämpfung
in Ländern wie Indien und China auch in Zukunft von
deutscher Seite zu unterstützen ist?
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass wir hierzu einen Beitrag leisten.
({0})
Aber natürlich muss auch eine angemessene Eigenbeteiligung stattfinden. Es ist doch nicht einzusehen, dass die
chinesische Staatswirtschaft die halbe amerikanische
Wirtschaft aufkauft und wir in irgendwelchen staubigen
Regionen Chinas Armutsbekämpfung betreiben. Das
muss nicht sein.
({1})
- Weil ich diesen Zuruf gehört habe, sage ich: Das hat
nichts mit Stammtisch zu tun.
({2})
- Nein, das ist auch nicht Brüderle. Brüderle befasst sich
mit diesem Thema nicht mehr.
({3})
Dieses Thema haben wir in unserer Diskussion längst
geklärt. Für jedermann ist klar, dass wir uns nicht Geld
pumpen können, um Ländern wie China das Schuldenmachen zu ersparen und ihre eigenen Probleme zu lösen.
Aber wir dürfen die wirklich Bedürftigen, die sich nicht
selbst helfen können, nicht zugunsten einer solchen Politik vernachlässigen. Das wäre nicht fair.
({4})
Deshalb wollen wir diese Politik nicht fortsetzen. In
unserem Antrag fordern wir genau das, was auch die
meisten Kollegen von der Union, wie ich weiß, unterstützen - offenbar ist der Kollege Kampeter der Einzige,
der das offen aussprechen darf -: Schluss mit diesem
Unfug!
Wer hindert Sie eigentlich daran, hier eine Kurskorrektur vorzunehmen, die weiterhin nötige Hilfe an eine
Eigenbeteiligung zu binden und unsere Aufmerksamkeit
tatsächlich den wirklich Bedürftigen zuzuwenden? Stimmen Sie unserem Antrag zu, verwerfen Sie Ihre beiden
Patchwork-Anträge und werfen Sie den Bericht der Bundesregierung dorthin, wo er hingehört: ins Archiv des
Vergessens!
({5})
Wahrscheinlich wird die Bundesregierung in der Lage
sein, irgendwann einen neuen Bericht abzugeben, in dem
über das, was die Ministerin uns eben hier mitgeteilt hat,
Auskunft gegeben wird. Vielleicht können wir dann über
die Schlagworte hinaus, die sie hier aufgezählt hat, auch
etwas Substanzielles hören.
Was wollen Sie aus diesem Bericht aus dem
Jahr 2005 hier denn noch erörtern? Das sind zwei Jahre
alte olle Kamellen, die natürlich rot-grün durchwirkt
sind. Sie stammen ja aus dieser Zeit. Der Neuigkeitswert
besteht allenfalls darin, dass die Große Koalition unter
Beteiligung und Führung der Union diese rot-grüne Politik jetzt offenbar als ihre eigene zu verkaufen gedenkt.
Das kann doch wohl auch aus Ihrer Sicht nicht richtig
sein.
({6})
Um diesen Bericht angemessen zu würdigen, genügt
es eigentlich, den damaligen Oppositionsabgeordneten
Dr. Ruck zu zitieren. Er hat beispielsweise am
8. Mai 2003 hier zu dieser Politik ausgerufen: Sie, Frau
Ministerin, hüpfen von einem Elend oder Krisenherd
zum anderen, nach dem Motto: Ziel ist, was Publicity
schafft. Dem ist gerade in Bezug auf diesen Bericht
überhaupt nichts hinzuzufügen.
Nun aber zu dem Antrag der Koalition. Wie peinlich! Im Rubrum als Erster gleich wieder der Kollege
Dr. Ruck, der heute Koalitionsabgeordneter ist. Auch
dort ist inhaltlich alles wieder wie unter Rot-Grün gehabt. Dieser Bericht ist aktueller, als man auf den ersten
Blick glaubt, wenn man Ihren Bericht liest. Die Textbausteine wurden in den letzen Tagen allerdings ganz offenbar wieder überstürzt auf dem Wühltisch mit den vorhandenen Papieren zusammengestoppelt. Folgerichtig
gehen Sie mit Ihrem Antrag auch an den drängenden aktuellen Herausforderungen vorbei.
Während beispielsweise die Kanzlerin, die jetzt nicht
da ist, die Bedeutung der zivilen Komponente in Afghanistan immer wieder betont und während hier in Berlin
das internationale Koordinierungskomitee zum Wiederaufbau Afghanistans tagt, bekommen Sie es fertig, einen
Antrag zur Entwicklungspolitik vorzulegen, in dem das
Wort Afghanistan nicht einmal in einer Fußnote auftaucht. Das sollen neue Impulse für die Entwicklungspolitik sein? Schauen Sie einmal nach! Fehlanzeige! Keine
Impulse! Nirgendwo!
({7})
Man hat den Eindruck, dass Sie vielleicht zu lange auf
Impulse der Bundesregierung gewartet haben. Aber da
kam natürlich nichts. Deshalb haben Sie offenbar gestern noch schnell etwas zusammentragen lassen und nennen es nun Antrag. Nebenbei bemerkt: Eingang gestern
Nachmittag. Der erste Monat der Präsidentschaft war da
schon vorbei. Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Bei den Grünen war es ähnlich. Sie legten allerdings
immerhin schon gestern Vormittag Ihren Antrag vor:
eine gedrängte Zehnjahresliste aller Ihrer Anträge, die
Sie immer schon gestellt haben.
({8})
Die Absicht, die Sie haben und hatten, war aber schlicht
und einfach, das Thema nicht allein der FDP zu überlassen.
({9})
Deshalb haben Sie solche Papiere zusammengestellt.
So, wie Sie das hier betrieben haben, so lieblos, so zusammengestoppelt, so zusammenhanglos, kann man
weiß Gott nicht für Entwicklungspolitik werben. Nutzen
Sie die Chancen, die Sie jetzt haben, und kommen Sie
mit Inhalten rüber! Dann können wir in Zukunft in der
Entwicklungspolitik auch gemeinsam etwas bewirken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Königshaus, ich fand Sie heute sehr aufgeregt und hektisch, sogar ein bisschen überaufgeregt.
({0})
Deswegen sind Ihnen auch manche Dinge herausgeplatzt, die Sie normalerweise so nicht gesagt hätten. Das
nehmen wir Ihnen nicht übel.
({1})
Sie gestatten aber, dass ich genau das, was Sie angemahnt haben, auch tun möchte, nämlich den Zusammenhang zu dem herzustellen, über das wir heute diskutieren.
In der Tat: Durch die Globalisierung und das Ende
des Ost-West-Konflikts wurde die Welt verändert. Das
zwingt uns natürlich, auch die Weichen in der Entwicklungspolitik neu zu stellen. Das Ende des Ost-West-Konflikts war natürlich ein großer Segen - das ist akzeptiert -,
aber es hat gerade in Entwicklungs- und Transformationsländern dramatische Entwicklungen ausgelöst, die
neue Probleme bringen oder alte verschärfen. Wir sehen
auf der einen Seite Länder mit Tendenzen zu Staatszerfall, zu Bürgerkriegen, zu politischen Wirren, zu Stagnation und Perspektivlosigkeit und auf der anderen Seite,
nicht zuletzt durch die Erfolge der Entwicklungshilfe
und der Entwicklungszusammenarbeit auch Deutschlands, kleine und große Entwicklungsländer, die erstaunliche Fortschritte machen, die sogenannten Schwellenländer, die uns jetzt aber - so paradox das ist - neue
Probleme bereiten, etwa die Verschärfung des Wettbewerbs um Rohstoffe, Märkte und Energiequellen.
Besorgniserregend ist, dass die Kluft zwischen den
erfolgreichen Industrie- und Schwellenländern einerseits
und den erfolglosen Entwicklungsländern andererseits
sowie die Kluft innerhalb dieser Länder wächst. So gibt
es wirklich schreckliches Elend auf der einen Seite und
märchenhaften Reichtum auf der anderen Seite. Daraus
ergibt sich die Konsequenz, dass unsere Welt zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät.
Globalisierung heißt in diesem Zusammenhang, dass
wir als Deutsche und Europäer von den gewaltigen Umbrüchen auf diesen Kontinenten zunehmend unmittelbar
und hautnah betroffen sind und auch stärker darauf reagieren müssen. Wirtschaftliche und ökologische Risiken,
steigende Migration, wachsende soziale Spannungen bis
hin zu unmittelbarer Bedrohung unserer Sicherheit, alles
das erzwingt eine aktivere deutsche und europäische Politik auch gegenüber den Entwicklungsländern bis hin zu
Friedenseinsätzen der Bundeswehr.
({2})
Die Entwicklungspolitik nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein, und zu dieser Schlüsselrolle bekennen wir uns.
Sie muss nämlich helfen, politische und wirtschaftliche
Strukturen in den Entwicklungsländern zu verbessern.
Sie muss Entwicklungsperspektiven für die Menschen
eröffnen, Spannungen mildern und globale Gefahren
dort abwehren, wo sie entstehen. Das ist die Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik.
({3})
Vor diesem Hintergrund hat die internationale
Gemeinschaft auf guten Konferenzen eine ganze Reihe
von guten Beschlüssen gefasst. Zu nennen sind die Millenniumserklärung, Monterrey, die Afrikainitiativen der
G 8, der Johannisburggipfel, die Erklärung von Paris zur
Verbesserung der Effizienz. Das alles war gut und richtig. Das alles war mit ein Ergebnis einer engagierten
deutschen politischen Beteiligung. Aber von den Beschlüssen zur Umsetzung ist es noch ein weiter Weg.
Gerade auch deswegen ruhen viele Hoffnungen auf uns,
auf Deutschland, die wir heuer den G-8-Gipfel beherbergen und die EU-Ratspräsidentschaft innehaben.
Herr Königshaus, ich muss Ihnen übrigens eines sagen: Ihr plumper Trick, um die Koalitionspartner, die inzwischen in bewährter Weise zusammenarbeiten, auseinanderzudividieren - das kennen wir von Juso- und JUZeiten -, wird hier nicht helfen. Sie werden sich an uns
die Zähne ausbeißen.
({4})
- Ja.
Wahr ist - das können auch Sie nachlesen -: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Entwicklungspolitik das war auch schon Thema ihrer ersten Regierungserklärung; ich nenne in diesem Zusammenhang auch den gestrigen Unionskongress ({5})
stärker als alle ihre Vorgänger zu einem Fokus ihres Regierungshandelns gemacht. Das sieht man auch am Entwicklungshaushalt, der in den letzten zwei Jahren um
mehr als eine halbe Milliarde Euro gestiegen ist.
({6})
Weitere Steigerungen sind im Busch.
({7})
Daran haben auch Sie nichts zu mäkeln.
({8})
Gemeinsam haben wir erkämpft - daran sieht man,
dass die Entwicklungspolitik ein viel stärkeres Gewicht
erhalten hat -, dass ganz wichtige Themen unserer Tagesordnungen auch auf den Tagesordnungen der Ratspräsidentschaft und des G-8-Gipfels stehen. Es sind
zentrale Elemente und Aspekte unserer Entwicklungspolitik. Zum einen geht es um eine bessere Arbeitsteilung
und Koordinierung. Wir müssen in diesem Jahr einen
entscheidenden Schritt - dies ist doch auch Ihr Anliegen auf dem Weg zu einer transparenteren, effizienteren und
schlüssigeren Aufgaben- und Arbeitsteilung, vor allem
zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, vorankommen.
({9})
Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Wir möchten Sie, Frau Ministerin, zu den Fortschritten, die sich
abzeichnen, beglückwünschen, aber auch dazu ermutigen, diesen Kampf eisern fortzuführen. Unsere Rückendeckung haben Sie.
Ein Beispiel - wir kennen es alle - ist doch, dass viele
ärmere Entwicklungsländer mit schwachen Strukturen
schon allein dadurch plattgemacht werden, dass 40 oder
50 Geberdelegationen kommen und sie fragen, was sie
wollen. Da ist noch kein Spatenstich passiert, und die
Länder sind - durch unsere Hilfe - schon am Ende.
({10})
Das muss sich ändern.
Wichtig ist auch, dass bei den Handelsbeziehungen
zwischen Europa und den Entwicklungsländern Fortschritte erzielt werden. Das ist auch richtig gesagt worden. Dabei geht es nicht nur um Liberalisierung. Es geht
darum, dass man durch Liberalisierung Wachstumseffekte erzeugt, die natürlich auch den Armen in den Entwicklungsländern zugutekommen müssen.
({11})
- Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, kann ich Ihnen das ausführlich erläutern.
Richtig ist auch, dass Klima- und Energiefragen in
den Fokus rücken. Zu Recht ist der Stern-Report erwähnt worden. Er macht uns in dramatischer Weise klar,
dass wir uns auch auf diesem Gebiet stärker anstrengen
müssen. Das gilt ebenso für die Entwicklungs- und die
Schwellenländer.
Für uns ist auch der Dialog mit Afrika ganz wichtig.
Afrika wird im Fokus von G 8 und EU stehen. Aber entscheidend ist, dass wir nicht nur über Finanzen sprechen
und darüber, was wir für Afrika tun können, sondern
dass wir die Afrikaner auch fragen: Was ist mit eurer Regierungsführung? Was ist mit euren Vorschlägen? Was
sind eure Beiträge, um euren eigenen Kontinent besser
in den Griff zu bekommen?
({12})
Natürlich dürfen wir gerade in Bezug auf Afrika nicht
die Augen vor Fortschritten verschließen, vor Fortschritten bei Wachstumsraten, aber auch in Demokratiefragen.
Viele von uns waren in Ghana. Ghana ist ein gutes Beispiel, aber es gibt auch andere gute Beispiele. Nach wie
vor gilt das Wort des ehemaligen Weltbankvizepräsidenten Richard, der vor zwei Jahren im Ausschuss gesagt
hat: Die Armutsbekämpfung in Afrika kommt deswegen nicht voran, weil es in Afrika die meisten Länder mit
schlechter Regierungsführung gibt. - Ich glaube, dass
wir auch dieses Thema zur Sprache bringen müssen und
von den Afrikanern Lösungsvorschläge fordern müssen.
({13})
Das ist ein wichtiger Punkt; denn - auch das war Tenor
unseres gestrigen Kongresses - die entscheidende Frage
in der Entwicklungspolitik ist nicht so sehr das Geld,
sondern die Frage: Gibt es entwicklungsorientierte Regierungen und Eliten, gibt es Good Governance in diesen Ländern? Und gibt es auch bei uns Good Governance, zum Beispiel in Handelsfragen und anderen
Dingen?
({14})
Ich glaube, dass wir auch uns als Industrieländer gerade mit Blick auf Afrika fragen müssen, wie wir die
Wildwestmethoden bei der Ausbeutung von Rohstoffen
in Afrika abstellen wollen, wie wir den Afrikanern dazu
verhelfen können, dass sie den Reichtum, den sie im Boden haben, ordentlich und für ihre eigene Bevölkerung
gewinnbringend abbauen können. Da spielen natürlich
China und andere Schwellenländer - China ist ja nur der
böse Vorzeigeknabe - eine wichtige Rolle. Man muss
zwischen der berechtigten und der unberechtigten Kritik
an diesen Ländern unterscheiden. Unberechtigt ist, ihnen
vorzuwerfen, dass sie allmählich das machen, was wir
schon immer gemacht haben.
({15})
Berechtigt ist aber die Forderung, dass sie mit uns zusammen einen Verhaltenskodex entwickeln, der auch unseren entwicklungspolitischen Vorstellungen von Menschenwürde und Demokratie entspricht und nicht Good
Governance und Bad Governance durcheinanderbringt,
wie es bei den Chinesen der Fall ist. Das ist der Punkt.
({16})
Für mich - auch das möchte ich Ihnen sagen, Herr
Königshaus - ist es die falsche Strategie, angesichts des
Verhaltens der Chinesen beleidigt zu sein. Ich bin auch
nicht für eine offene politische Kriegserklärung. Ich bin
fest davon überzeugt - nach unserem gestrigen Kongress
umso mehr -, dass wir mit einer intensiveren Zusammenarbeit und auch einem offenen Dialog eine gute
Chance haben, Einfluss auf die Politik dieser Länder, sogar auf die Politik Chinas, zu nehmen.
Herr Königshaus, ich rate Ihnen, einmal eine nüchterne Analyse von dem zu erstellen, was wir bereits mit
Kreditfinanzierung und anderen Maßnahmen auf den
Weg gebracht haben.
Herr Kollege, darf ich Sie ebenfalls an Ihre Redezeit
erinnern?
Ich bedanke mich für den Hinweis, Frau Präsidentin.
Ich befinde mich bereits im Sinkflug.
({0})
Es muss aber ein schneller Sinkflug sein.
({0})
Jawohl. - Vor diesem Hintergrund wünsche ich unserer Kanzlerin und allen beteiligten Ministerinnen und
Ministern eine glückliche Hand und viel Erfolg beim
Bohren dicker Bretter. Denn eine solche Gelegenheit
kommt so schnell nicht wieder. Ich wünsche viel Erfolg
bei der EU-Ratspräsidentschaft und beim G-8-Gipfel.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die unsoziale Politik der Bundesregierung ist
unpopulär. Der Außenminister steht auf der Kippe. Da
kommt die aktuelle G-8-Präsidentschaft gerade recht,
um sich wenigstens auf internationalem Parkett als
Speerspitze der Armutsbekämpfung darzustellen.
({0})
Auf dem G-8-Gipfel vor zwei Jahren wurde den
18 höchstverschuldeten Ländern ein Teilerlass ihrer
Schulden versprochen. Geschehen ist aber so gut wie
nichts. Nach Angaben der Weltbank flossen 2004 über
333 Mil-liarden US-Dollar an Kreditrückzahlungen aus
dem Süden in den Norden. Das war mehr als viermal so
viel wie die kombinierte Entwicklungshilfe aller Industriestaaten zusammen.
Ich betone: Die eigentlichen Kredite sind längst zurückgezahlt worden. Doch die armen Länder stöhnen
weiter unter der Last der Zinsen. Bei Geld hört die
Freundschaft auf. Ich sage Ihnen: Auch von Heiligendamm ist nichts zu erwarten.
({1})
Die sogenannte Entschuldungsinitiative der G 8 ist nichts
als eine große Augenwischerei.
({2})
Das erklärt, warum Deutschland effektiv weniger als je
zuvor in die Entwicklungszusammenarbeit steckt.
Frau Merkel, ich muss heute in der Zeitung lesen,
dass Sie darüber nachdenken, auch noch Militäreinsätze
wie im Kongo aus dem Topf der Entwicklungshilfe zu
zahlen. Während das Geld für Gesundheit und Bildung
fehlt, erklären Sie dreist, Deutschland würde die Millenniumsziele erreichen. Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien reiht sich nahtlos in diese Beschönigungspolitik ein. Sie wollen uns tatsächlich weismachen, dass
die G 8 sich „zu einer wichtigen Institution des internationalen Entwicklungsdialogs entwickelt“ haben.
({3})
Wie dieser Dialog aussah, ist hinlänglich bekannt:
Die Staaten der G 8 dominieren die multilateralen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank. Sie haben diesen
Einfluss genutzt, um die armen Länder zu erpressen. Im
Zuge der sogenannten Strukturanpassungsprogramme
der 80er- und 90er-Jahre wurden afrikanische Staaten
gezwungen, öffentliche Unternehmen zu privatisieren.
Heute wird diese Politik unter dem zynischen Namen
Armutsreduzierung fortgesetzt. Doch arm bleibt arm.
Davon konnte ich mir in der letzten Woche aus Anlass
des Weltsozialforums in Kenia ein Bild machen. Mithilfe
der korrupten Regierungen Moi und nun auch Kibaki
konnte sich das internationale Kapital profitträchtige
Unternehmen wie die staatliche Fluglinie unter den
Nagel reißen. Die Kehrseite ist: Der Verkauf von staatlichen Betrieben hat in den letzten zehn Jahren 80 000 Arbeitsplätze gekostet. Die Armut nimmt zu; die Slums
wachsen. Die Aidsraten steigen rapide in die Höhe. In einem Elendsviertel von Nairobi leben 500 000 Kinder
zwischen sechs und 15 Jahren. Doch dort gibt es nur vier
Schulen. UN-Generalsekretär Ban hat gestern diesen
Slum besucht und seine Betroffenheit erklärt. Doch die
Menschen brauchen keine Worte, sondern Taten.
({4})
Außer Frage steht: Die deutsche Entwicklungshilfe
leistet in Kenia gute Arbeit. Doch leider wird die engagierte Arbeit der Entwicklungshelfer durch die aggressive Marktöffnungspolitik der G 8 völlig konterkariert.
Die Bundesregierung ist daran aktiv beteiligt. Derzeit
wird aus Mitteln deutscher Entwicklungszusammenarbeit die Wasserversorgung in Kenia aufgebaut, um sie
später an profitorientierte Unternehmen zu veräußern.
Wozu das geführt hat, kann man sich im Nachbarland
Tansania anschauen.
({5})
Die Regierungsparteien versprechen in ihrem Antrag
neue Impulse für die Entwicklungspolitik. Doch all das,
was sie uns vorsetzen, ist der gleiche alte neoliberale
Quark. Die Linke sagt Nein zu einer Politik, die nur den
Konzernen auf der Welt nutzt.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe den Eindruck, in dieser Debatte sagt jeder das,
was er schon immer einmal sagen wollte oder schon in
anderen Debatten gesagt hat.
({0})
Ich möchte mich jetzt stark auf die große Chance beziehen, die sich durch die Doppelpräsidentschaft in der
G 8 und der EU bietet. Deutschland könnte und müsste
neue Impulse setzen, und zwar nicht nur für die Entwicklungspolitik, auf die sich die Koalition in ihrem Antrag beschränkt, sondern auch für den Klimaschutz, die
internationale Abrüstung, einen neuen Ordnungsrahmen
und neue durchsetzungsfähige Spielregeln in der Globalisierung.
({1})
Doch leider ist die Bundesregierung dabei, diese
Chance zu vertun. In den Reden, die wir heute oder auch
zum Beispiel gestern von der Bundeskanzlerin auf dem
entwicklungspolitischen Kongress der CDU/CSU-Fraktion gehört haben, wurde zwar viel Richtiges gesagt.
({2})
- Das kann ich unterstreichen; da habe ich mich kaum an
irgendwelchen Äußerungen stoßen können. - Aber Entwicklungsrhetorik allein reicht nicht. Den schönen Worten müssen auch Taten folgen.
({3})
- Warten wir einmal den Haushalt ab. Sie vertrösten uns
schon seit Monaten.
({4})
Sie haben die Debatte im Sommer verzögert, als es um
die Einführung der Flugticket-Tax, um innovative Finanzierungsinstrumente ging. Da wurde immer wieder gesagt: Wir sind dabei; da ist etwas im Busche. - Wir haben nun lange darauf gewartet, dass der Vorhang
gelichtet und präsentiert wird,
({5})
welche innovativen Finanzierungsinstrumente, zum Beispiel die Tobin Tax, die Kerosinsteuer oder zumindest
die Flugticketabgabe, Deutschland einführt. Aber nichts
geschieht. Fehlanzeige! Entwicklungsrhetorik allein
reicht nicht aus.
({6})
Gewisse Themen, die weltweit eine große Rolle spielen, kamen heute überhaupt nicht vor. Im Koalitionsantrag werden die G 8 gelobt und deren Wohltaten gepriesen. Aber die international intensiv geführte Debatte
über die Legitimität der G 8, darüber, dass sie ihren
Horizont eigentlich überschritten hat, wird überhaupt
nicht aufgegriffen. Die in Heiligendamm versammelten
Staatschefs repräsentieren gerade einmal 13 Prozent der
Weltbevölkerung. Dieser Klub der Reichen maßt sich an,
über die Zukunft der Welt zu entscheiden. Ohne die stärkere Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer lässt sich mittlerweile keine der Zukunftsfragen befriedigend anpacken.
Wir brauchen sehr dringend ernsthafte Anstöße für
eine Debatte darüber, wie die G 8 transformiert werden
kann. Im Grunde genommen muss diese Debatte dahin
zielen, die Strukturen der Vereinten Nationen zu stärken.
({7})
Dazu gibt es interessante Vorschläge, die noch überhaupt
keine Rolle gespielt haben. Ein Panel, das noch Kofi
Annan eingesetzt hat, hat konkrete Vorschläge auf den
Tisch gelegt, wie der ECOSOC, der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der zugegebenermaßen
noch ein Schattendasein fristet, kräftig aufgewertet werden kann. Diese Governance-Debatte wollen wir führen.
Sie steht auch im Zentrum unseres Antrags.
Man kann es natürlich auch so wie die Linke machen,
die sagt: Die G 8 dürfte es eigentlich gar nicht geben.
({8})
Deswegen setzen wir uns mit den Inhalten des G-8-Treffens gar nicht auseinander und richten keine Forderungen an die G 8. - Wir gehen den Weg, dass wir diese Governance-Debatte führen und die Legitimation der G 8
infrage stellen, uns aber auch zur real existierenden G 8
verhalten und sie mit unseren inhaltlichen Forderungen
konfrontieren.
({9})
In diesem Zusammenhang ist die größte Herausforderung die Klimakatastrophe. Sie wird hauptsächlich von
den Industrienationen verursacht, und die Ärmsten der
Armen müssen sie ausbaden;
({10})
auch das kam gestern auf dem Kongress der CDU/CSUFraktion auf den Tisch. Wenn es uns nicht gelingt, die
Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen - auch das enthält große Risiken -, dann wird es in Afrika - darüber
haben gestern Wissenschaftler berichtet - Ernteausfälle
von 25 bis 40 Prozent geben. Das hat dramatische Auswirkungen auf die Zahl der Hungernden.
Alle G-8-Staaten, auch die USA, müssen sich zu verbindlichen CO2-Reduzierungszielen verpflichten. Wie
kann Deutschland jedoch Impulse geben und eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn es nicht einmal die Hausaufgaben im eigenen Land erledigt, wenn es sich eine
peinliche Diskussion mit der EU-Kommission leistet,
die Automobilindustrie in Schutz nimmt und keine verbindlichen Reduzierungsvorgaben macht?
({11})
Zum Thema Abrüstung. Die G-8-Staaten sind für die
weltweit höchsten Militärausgaben verantwortlich. Gibt
es Impulse für eine neue Runde der Abrüstungspolitik?
Fehlanzeige! Besonders beim gefährlichen Atomdeal
zwischen den USA und Indien könnte Deutschland einiges aufhalten. Aber dieser Themenbereich wird völlig
ausgeblendet.
Zum Thema Finanzmärkte. Hier haben die Risiken
- auch durch die Hedgefonds und Private Equity Fonds deutlich zugenommen. Die Forderung nach mehr Transparenz reicht hier nicht aus, vielmehr brauchen wir eine
Debatte über internationale Standards in der Finanzkontrolle.
Auch zum Thema Austrocknung der Steueroasen finden wir im Antrag der Koalition nichts. Hier müssen die
G 8 voranschreiten, sie müssen neue Impulse geben.
Dass das nicht geschieht, liegt vielleicht daran, dass
viele Nutznießer dieser Steueroasen in den G-8-Staaten
zu finden sind.
({12})
Nun zum Thema Entwicklungspolitik, das in der
heutigen Debatte von den meisten Rednern in den Vordergrund gestellt worden ist. Entwicklungsrhetorik reicht
nicht aus. Sie sprechen die notwendigen Reformen an;
dabei kann ich Sie unterstützen. Sie sind notwendig und
richtig. Wir brauchen bessere Regierungsführungen in
den Entwicklungsländern, wir müssen Reforminitiativen
wie die NEPAD-Initiative unterstützen. Darüber hinaus
brauchen wir Reformen bei den Instrumenten unserer
Entwicklungszusammenarbeit, und schließlich brauchen
wir Reformen bei den Strukturen des Welthandels.
Dass Sie die Reformdebatte so stark in den Vordergrund stellen, erhärtet den Verdacht, dass Sie auf der finanziellen Ebene nichts zu bieten haben. Sie wollen davon ablenken, dass wir das 0,7-Prozent-Ziel bei der
Entwicklungshilfe nicht erreichen werden. Darüber hinaus haben Sie keinen Plan zur Erreichung des Millenniumsziels vorgelegt. Das muss aufgearbeitet werden,
sonst steht Deutschland als Gastgeber mit leeren Händen
da.
Wir haben einen großen Forderungskatalog vorgelegt
und konkrete Vorschläge unterbreitet. Dazu gehören unter anderem die Einbeziehung des Tropenwaldschutzes
in das Kioto-plus-Abkommen, eine verschärfte Aufsicht
über die internationalen Finanzmärkte, aber auch neue
Anstöße in der internationalen Abrüstungspolitik und
neue Finanzierungsinstrumente in der Entwicklungspolitik. Unsere umfassenden Forderungen haben wir vorgelegt. Ich kann Ihnen nur raten: Greifen Sie diese Vorschläge auf!
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Riester, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das G-8-Treffen soll unter dem Motto „Wachstum und
Verantwortung“ stehen. Ich möchte den Begriff der Verantwortung auf uns beziehen und in den Mittelpunkt
meiner wenigen Minuten Redezeit stellen.
Kollege Hoppe, viele Ihrer angesprochenen Punkte
unterstütze ich. Über vieles müssen wir wirklich eine
Debatte führen. Ich begrüße es beispielsweise sehr, dass
unser Vizekanzler bei der Eröffnung der Diskussion mit
den EU-Arbeits- und Sozialministern die Frage der sozialen Verantwortung in Europa in den Vordergrund gestellt hat. Dort forderte er eine Besinnung der Europäischen Union auf ihre sozialen Werte. Um die Herzen der
Menschen für die EU zu gewinnen, sei es auch entscheidend - sagte er weiter -, dass „Europa in seiner sozialen
Dimension erkennbar ist“. Das ist ein wichtiger Punkt.
Genauso wie Sie bin ich der Auffassung: Es darf nicht
bei der Rhetorik bleiben.
Ich will einen kritischen Punkt ansprechen: Vor zehn
Jahren wurde die revidierte Europäische Sozialcharta
im Europarat beschlossen. 40 Länder haben zwischenzeitlich diese Sozialcharta gezeichnet. Nicht gezeichnet
haben sie Kroatien, Mazedonien, die Schweiz, Liechtenstein - so weit, so schlecht - und Deutschland.
({0})
Als Vertreter dieses Parlaments fällt mir langsam kein
Argument mehr ein, wenn ich von Vertretern des Europarates gefragt werde, warum wir die Sozialcharta nicht
einmal gezeichnet haben. Ich weiß es nicht.
({1})
Ich sage sehr deutlich: Wenn bis zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft keine Entscheidung darüber fällt, werde ich eine parlamentarische Anfrage an
die Regierung stellen. Auch das ist Verantwortung.
({2})
Ich habe mich außerordentlich über eine bemerkenswerte Rede gefreut, die unsere Bundeskanzlerin im November in Berlin zum Thema „Globalisierung fair gestalten“ gehalten hat. Sie hat gesagt, wie wichtig es ist,
dass man auf die WTO wirklich bauen kann - ich zitiere
sie -:
Die Welthandelsorganisation ist eine sehr mächtige
Organisation. Deshalb finde ich, dass man gerade
hier über ökologische und soziale Dinge sprechen
muss. Die Welthandelsorganisation kennt als eine
der wenigen multilateralen Organisationen richtige
Sanktionsmechanismen, sodass die Einhaltung der
Standards auch hinterher eingeklagt werden kann.
Ich war bei der Rede anwesend. Ich hatte überhaupt
nicht den Eindruck, dass das Entwicklungs- oder Handelsrhetorik ist. Sie erschien mir sehr glaubwürdig.
({3})
Trotzdem möchte ich auf Folgendes hinweisen: Vor
30 Jahren - jetzt greife ich noch weiter zurück - hat die
OECD Leitsätze beschlossen - wir haben dazugehört -,
nach denen multinationale Unternehmen an Menschenrechtsgesichtspunkten zu messen sind. Jedes Unterzeichnerland hat zu diesem Zweck eine nationale
Kontaktstelle eingerichtet. In Deutschland ist sie beim
Wirtschaftsministerium, im Bereich des Außenhandels,
angesiedelt. Diese Stelle hat einen Arbeitskreis eingerichtet, dem Vertreter von sieben Ministerien, der Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und der Nichtregierungsorganisationen angehören. Seit mehreren Jahren
hört man aus diesem Bereich die Klage - ich nehme an,
sie wird nicht nur mir gegenüber geäußert -, dass es
nicht nur schleppend vorangeht, sondern ein hohes Maß
an Intransparenz vorherrscht. Neun große Unternehmen
stehen im Moment unter dem Vorwurf, Menschenrechte
verletzt zu haben. Korruptionsvorwürfe sind ebenso im
Spiel wie der Vorwurf von groben Arbeitsrechtsverletzungen. Hier geht es nicht um ein paar Mittelständler,
sondern um große, namhafte Unternehmen.
An diesem Punkt komme ich zur Glaubwürdigkeit.
Ich bin der Meinung, dass unsere Arbeit transparent sein
muss und dass unsere Erklärungen von uns selbst in der
Praxis konsequent umgesetzt werden müssen. Nur dann
ist es glaubwürdig, wenn wir sagen, dass wir die Globalisierung sozial gestalten wollen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Überarbeitung der EU-Vergaberichtlinien hinweisen. Damit
werden wir demnächst konfrontiert sein. Die EU-Vergaberichtlinien sehen vor - und es wird Sie nicht überraschen, dass ich das für sehr gut halte -:
Die Auftraggeber können zusätzliche Bedingungen
für die Ausführung des Auftrags vorschreiben, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar
sind und in der Bekanntmachung … oder in den
Verdingungsunterlagen angegeben werden. Die Bedingungen für die Ausführung eines Auftrags können insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte betreffen.
Ich nehme an, dass wir das wollen. Zwischen der Entwicklungsministerin, dem Umweltminister und dem
Wirtschaftsminister gibt es aber eine heftige Auseinandersetzung, die ich kaum nachvollziehen kann. Ich kann
dem Wirtschaftsministerium nur raten, einen Blick in die
österreichischen oder in die französischen Ausschreibungsrichtlinien zu werfen, selbst wenn es ihm nicht um
soziale Aspekte geht. Diese Länder wissen, wie sie ihre
nationale Wirtschaft vor einem Unterbietungswettbewerb schützen, der mit unsoliden Methoden geführt
wird. Demnächst werden wir vor diesem Problem stehen.
({4})
Herr Kollege.
Das Signal ist angekommen. Ich kann meine Rede
auch beenden.
Das war ein Beitrag zu der Frage, wie die Rhetorik
mit der Praxis in Übereinstimmung gebracht werden
kann. Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten!
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Wieczorek-Zeul, Sie haben gesagt, Afrika sei das
Topthema der Entwicklungspolitik. Ich bringe Ihnen eine
Botschaft von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen aus
Afrika mit. Die zentrale Botschaft des Weltsozialforums,
das letzte Woche in Kenia, Nairobi, mit mehr als 50 000
Teilnehmern stattgefunden hat, lautet: Die Handelspolitik
der Europäischen Union bedroht die Existenzgrundlage
vieler Menschen in den Ländern Afrikas. Im Mittelpunkt
der Kritik dieser Gruppen stehen die Verhandlungen über
die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die sogenannten EPAs, die eine weitgehende Marktöffnung und
Zollsenkungen in den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten vorsehen, und zwar vor allem in sensiblen Bereichen wie öffentlicher Beschaffung, Investitions7824
schutz und Wettbewerb. Bereits jetzt können viele
Kleinbauern, Händler und vor allem Händlerinnen nicht
mehr mit den hochsubventionierten Billigprodukten aus
der EU auf ihren heimischen Märkten konkurrieren. In
ganz Westafrika zum Beispiel bekommt man weit und
breit nur europäisches Geflügel bzw. Hähnchenabfälle zu
kaufen. Das, was wir an der chinesischen Regierung kritisieren, betreiben wir bereits seit Jahren auf diesem Kontinent. Dies würde durch die EPAs massiv verschärft.
({0})
Deshalb gab es zum Abschluss des Weltsozialforums
eine große Demonstration, die mit den folgenden konkreten Forderungen zur Vertretung der Europäischen
Kommission zog: Stopp der aktuellen EPA-Verhandlungen! Wir brauchen ein neues Verhandlungsmandat, das
entwicklungspolitische statt handelspolitische Schwerpunkte setzt. Diese Verhandlungen müssen offen und
transparent geführt werden.
({1})
Ich fordere die Bundesregierung hiermit auf, sich im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft für einen Stopp der
aktuellen EPA-Verhandlungen einzusetzen. Das wäre in
meinen Augen der glaubwürdigste Beitrag zur Entwicklungspolitik. Dies ist in Ihrem Antrag allerdings überhaupt nicht zu finden.
({2})
Die Länder des Südens, unter anderem Afrikas, leiden
nach wie vor unter der enormen Schuldenlast. Mein
Kollege Hüseyin Aydin ist bereits darauf eingegangen.
Die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari
Maathai kritisierte auf dem Weltsozialforum: Wir haben
Entschuldung von den G-8-Staaten gefordert, bisher haben wir nur Mogelpackungen bekommen.
Deswegen fordern wir als Linksfraktion endlich umfassende und vor allem ernsthafte Entschuldungsinitiativen, die nicht an neoliberale Marktforderungen
geknüpft sind, sondern an Strategien zur Armutsbekämpfung. Wir haben viele Vorschläge gemacht, unter
anderem die Streichung illegitimer Schulden. Die haben
Sie abgelehnt.
({3})
Die G-8-Staaten - das stimmt, Herr Hoppe - repräsentieren gerade einmal 13 Prozent der Weltbevölkerung. Wir hinterfragen die demokratische Legitimation
dieser Treffen. Da haben Sie Recht.
({4})
Worin begründet sich eigentlich deren Legitimation?
Durch militärische und wirtschaftliche Macht.
({5})
Sie marginalisieren die Vereinten Nationen. Deshalb fordern auch wir eine Umverlagerung der globalen Herausforderungen, zum Beispiel Entwicklungs-, Energie-,
Ressourcen- und Abrüstungsfragen, zu den Vereinten
Nationen.
({6})
Ich muss sagen, Herr Hoppe: Sie waren sieben Jahre
lang an der Regierung beteiligt. Wir haben keinerlei Initiativen vonseiten der Grünen, vonseiten grüner Minister, die jetzt hier sitzen, bezüglich der Reform der G-8Staaten und einer Abkehr von dieser dominanten, exklusiven Politik erlebt.
({7})
Sie haben - wie alle anderen - an den G-8-Gipfeln teilgenommen.
Wir glauben, dass eine andere Entwicklungspolitik
möglich ist. Deshalb mobilisieren wir gemeinsam mit
vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen gegen den G-8Gipfel im Juni in Deutschland.
Danke.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Hübinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Ministerin!
„Die deutsche G-8- und EU-Präsidentschaft - neue Impulse für die Entwicklungspolitik“ - der Titel unseres
Antrages macht deutlich, welche Bedeutung wir der
deutschen G-8- und EU-Ratspräsidentschaft für die Entwicklungspolitik beimessen. Wir sehen in den Präsidentschaften die Möglichkeit, wichtige Impulse für die Entwicklungspolitik zu geben, die man mit Fug und Recht
als Querschnittsaufgabe bezeichnen kann.
Unsere Welt befindet sich in einem tiefgreifenden
Wandel. Es gibt Entwicklungsländer, die sich dynamisch
entwickeln und bemerkenswerte Wachstumspfade beschreiten. Andere Länder hingegen sind von Bürgerkrieg
und Staatszerfall bedroht. Wir als CDU/CSU-Fraktion
sehen uns aufgrund unserer abendländischen Kultur und
aufgrund unserer christlichen Werte verpflichtet, Elend
und Not zu lindern und die Menschen in den ärmsten
Ländern zu befähigen, ihre eigenen Potenziale und Kapazitäten zu nutzen.
({0})
Die Verabschiedung der Millenniumsziele hat eine
verstärkte Diskussion über die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel ausgelöst. Unser ehrgeiziges Ziel, bis
2015 die Armut zu halbieren, wird wesentlich davon abhängen, wie wir die Entwicklungszusammenarbeit in
Zukunft gestalten. Für die Erreichung der ODA-Quote
werden wir weiterhin kämpfen. Das beweist nicht zuletzt
die Erhöhung der im Haushalt bereitgestellten Mittel um
16 Prozent innerhalb von zwei Jahren - eine Erhöhung,
wie wir sie seit Jahren nicht hatten.
({1})
Mit gleicher Vehemenz müssen wir den Wirkungsgrad der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
überprüfen. In diesem Zusammenhang möchte ich drei
Bereiche ansprechen: Erstens. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die Verbesserung der Arbeitsteilung auf europäischer Ebene zu einem
Schwerpunkt erklärt hat.
({2})
Denn die bestehende Fragmentierung beeinträchtigt die
Wirksamkeit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit. Wir müssen uns untereinander besser absprechen
und zu einem pragmatischen Ansatz bei der Arbeits- und
Lastenteilung kommen. Die EU sollte nicht als 28. Geber auftreten.
({3})
Das europäische Vergabeverfahren muss im Interesse
der Entwicklungsländer entbürokratisiert und beschleunigt werden. Des Weiteren brauchen wir für multilaterale
Investitionen bessere Monitoring- und Evaluierungsinstrumente.
In der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist man schon einen Schritt weiter. Mithilfe der
EU-Battle-Groups ist die Fähigkeit der Mitgliedstaaten
der Europäischen Union zu rascher Krisenreaktion deutlich verbessert worden. Um nachhaltig zu wirken, müssen diese Einsätze von entwicklungspolitischen Maßnahmen, die über die Zeit des Militäreinsatzes
hinausgehen, begleitet werden. Denn erst die anschließende Entwicklungszusammenarbeit ermöglicht die weiterführende Stabilität und gibt den dort lebenden Menschen Zukunftsperspektiven.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird deutlich,
dass eine moderne Entwicklungszusammenarbeit nur
durch koordiniertes Miteinander funktioniert.
({5})
National wie auf europäischer Ebene ist eine ressortübergreifende Arbeit für den Erfolg von Entwicklungspolitik unerlässlich.
({6})
Zweitens. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Ländern in Afrika, der Karibik und
dem pazifischen Raum haben eine lange Tradition. Seit
dem Loméabkommen von 1975 ist die Globalisierung in
großen Schritten vorangegangen. Während der deutschen Ratspräsidentschaft wird es verschiedene Ministertreffen geben, um die 2008 in Kraft tretenden Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den oben
genannten Regionen und der EU erfolgreich zu beenden.
Erstmals werden handels- und entwicklungspolitische
Ansätze miteinander verknüpft, um dadurch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern
zu fördern. Denn die Abschottung der Märkte und die
bisher gewährten Handelspräferenzen haben nicht zu
den erhofften Entwicklungen in diesen Ländern geführt.
({7})
Vor dem Hintergrund des momentanen Stillstands der
Doharunde gewinnt der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten
umso mehr an Bedeutung. Es wäre ein deutliches Signal
an die Blockierer der Doharunde, wenn dennoch multilaterale Verträge im Interesse der Entwicklungsländer geschlossen werden könnten. Multilaterale Verträge sind
besser überprüfbar und haben eine höhere Verlässlichkeit für die Akteure. Das ist besonders im Hinblick auf
die Erhöhung von Investitionen der Privatwirtschaft in
Entwicklungsländern wichtig.
Drittens. Im Umgang mit Rohstoffen und Ressourcen
sind international gültige Standards heute unabdingbar.
Die 2003 ins Leben gerufene EITI-Initiative - eine Initiative, die sich für mehr Transparenz im Umgang mit
Rohstoffen einsetzt - versucht, die Korruption in Entwicklungsländern zu bekämpfen und Good Governance
zu stärken. Wir beobachten, dass gerade rohstoffreiche
Entwicklungsländer sehr korruptionsanfällig sind und so
trotz guter Ausgangsbedingungen Entwicklung fast unmöglich ist. Für den Aufbau funktionierender Strukturen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen, sind
Rechtstaatlichkeit und Demokratieverständnis Voraussetzungen. Das heißt auch, dass wir im Dialog mit unseren Partnerländern Missstände und Probleme offen ansprechen.
Die Folgen der Klimaveränderung sind eines der
größten Probleme, das uns alle berührt. Der Vorschlag
der Europäischen Kommission, den Energieverbrauch
bis 2020 um 30 Prozent zu reduzieren, zeigt, dass wir
unseren Beitrag leisten wollen. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass der Anteil der Europäischen Union an
den gesamten CO2-Emissionen 15 Prozent beträgt - das
heißt, 85 Prozent werden woanders emittiert -, brauchen
wir eine verstärkte globale Verantwortung.
({8})
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor großen Aufgaben. Die Rolle der Europäischen Union wird
in Zukunft auch davon abhängen, wie wir es schaffen,
die Herausforderungen in dieser Welt gemeinsam anzugehen. Gerade im Hinblick auf unseren Nachbarkontinent Afrika, auf dem der entwicklungspolitische
Schwerpunkt dieser Ratspräsidentschaft liegt, stehen wir
vor gewaltigen Anstrengungen. Nur, wenn wir diese
Aufgabe gemeinsam in der EU und partnerschaftlich mit
Afrika angehen, werden wir Erfolge erzielen.
Das afrikanische Sprichwort „Wenn du schnell vorwärtskommen willst, dann gehe alleine; wenn du weit
gehen willst, dann gehe zusammen“ sollten wir beherzigen.
({9})
Die Modernisierung der Entwicklungspolitik ist ein
wichtiger Weg, den wir gemeinsam mit unseren Partnern
gehen wollen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang dieser Debatte haben einige Redner die
Entwicklungszusammenarbeit der Koalition angegriffen.
Diese Angriffe waren aus meiner Sicht nicht nur polemisch, sondern gehen auch an der Sache vorbei. Denn
dass wir in der Koalition die rot-grüne Regierungspolitik
in diesem Bereich fortsetzen,
({0})
ist doch nicht zu kritisieren, Herr Königshaus. Das steht
schließlich in Kontinuität zu dem, was durch unsere Ministerin eingeleitet wurde.
({1})
- Darüber sollte man nicht lachen; das können Sie Fastnacht tun. Sie hätten etwas mehr nachdenken sollen. Wir
verstehen Entwicklungszusammenarbeit nämlich nicht
mehr nur als reine Projektarbeit, sondern wir setzen sie
gemeinsam mit der Union in der Erkenntnis fort, dass
wir einerseits Hilfe zur Selbsthilfe leisten und andererseits die notwendigen Rahmenbedingungen im Hinblick
auf den Welthandel schaffen müssen. Das betrifft auch
die Punkte, die Walter Riester genannt hat.
Das alles führen wir in einem modernen Verständnis
von Entwicklungszusammenarbeit weiter. Deswegen
schaufeln wir auch nicht einfach Geld nach China, wie
Sie behauptet haben. Vielmehr verfolgen wir dort auch
ein egoistisches Leitmotiv. Denn wenn wir dem Energiehunger dieser Nation, die zusammen mit Indien über
2 Milliarden Einwohner zählt - das ist ein Vielfaches der
Einwohnerzahlen von Europa und den USA -, in der
Form gerecht werden wollen, dass uns noch Luft zum
Atmen bleibt, dann ist die Luft für uns genauso wichtig
wie für die ärmsten Menschen in China und Indien. Deswegen werden wir diese Länder auch weiter motivieren,
auf saubere Energien zu setzen. Das ist ebenso in unserem Interesse wie im Interesse der Armen dort.
({2})
Herr Hoppe, Sie haben einige Male versucht, einen
ebenfalls wichtigen Teil unserer Politik zu kritisieren.
Dabei geht es um die Frage, wie wir die ODA-Quote so
steigern können, wie wir es vereinbart haben. Sie beklagen immer wieder, dass wir uns noch nicht auf eine
Flugticketabgabe festgelegt haben. Wichtig ist aber, dass
wir Geld zur Verfügung stellen.
({3})
Wir haben in den letzten beiden Haushalten je 300 Millionen Euro mehr für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben.
({4})
Das entspricht einem Plus von jeweils 8 Prozent pro
Haushaltsjahr. Daran zeigt sich, dass wir auf einem guten Pfad sind. Es ist verständlich, dass Sie sich damit erkennbar schwertun, weil das keinen Angriffspunkt für
Sie bietet.
Herr Aydin, zur ODA-Quote gehört auch in einem gewissen Maße der Schuldenerlass. Sie haben in Ihrer
Rede gesagt, der Schuldenerlass habe nichts gebracht.
Das ist sehr zynisch. Sagen Sie das den über
15 Millionen Kindern in Afrika, die wegen des Schuldenerlasses jetzt eine Grundschule besuchen können!
Sagen Sie den Eltern, den Familien und den Menschen,
denen wir dort geholfen haben, dass Ihrer Meinung nach
der Schuldenerlass nichts gebracht hat!
({5})
Auch ich bin in den Elendsvierteln von Nairobi gewesen. Die Armut dort ist tatsächlich so, wie wir es uns in
Deutschland nicht vorstellen können: keine Straßen, eine
Abwasserrinne, wo es nach Kot und Urin riecht, kein
Trinkwasser. Die Menschen dort leben wirklich im tiefsten Elend. Das macht betroffen.
Aber man darf die Erfolge deutscher Entwicklungszusammenarbeit auch nicht kleinreden. Wir haben dort
Projekte, mit denen es zum Beispiel die KfW und die
GTZ 18 000 Frauen pro Jahr ermöglichen, dass sie ihre
Kinder für einen ganz geringen Betrag in einer Klinik
gebären können, egal ob sie einen Kaiserschnitt benötigen oder was auch immer. Wir machen dort Familienplanung. Wir haben durch den Global Fund für Aids dort
eine Krankenstation. Mir wurde gesagt, noch vor ein,
zwei Jahren gab es Sammelplätze, von wo man die Toten, jeden Tag zehn bis 15, einfach weggeschafft hat.
Das gibt es heute nicht mehr, auch dank deutscher Entwicklungszusammenarbeit.
({6})
Wir bauen auch soziale Sicherungssysteme im Gesundheitswesen bis in die Dörfer hinein auf.
Ich glaube, an der Stelle muss man auch unseren deutschen Entwicklungshelfern, sowohl den staatlichen als
auch denen der Nichtregierungsorganisationen, einmal
ein herzliches Dankeschön für ihr Engagement aussprechen.
({7})
Dann zum Punkt der Wasserversorgung, Herr
Aydin: Unser Entwicklungsverständnis ist ein anderes
als Ihres. Wir wollen nicht wie Sie immer nur Almosen
und Geld geben, sondern wir wollen, dass sich die Menschen selbst helfen können.
({8})
Deswegen investieren wir auch in Infrastrukturmaßnahmen. Dazu gehört auch, dass wir die Wasserversorgung
so aufbauen wollen, dass sich diese Systeme am Ende
selbst tragen können, natürlich sozial gestaffelt, sodass
sich auch die Ärmsten Wasser leisten können und die
Reichen mehr bezahlen. Wie ist es denn im Augenblick?
In vielen Bereichen gibt es gar keine Trinkwasserversorgung, sondern es kommen in vielen Vierteln private
Händler mit völlig überzogenen Preisen und liefern teures Trinkwasser in schlechter Qualität. Deswegen ist es
richtig, dass wir dort mit Krediten und finanzieller Zusammenarbeit dazu beitragen, dass eine sich selbst tragende Wasserversorgung aufgebaut wird.
Ihre Kritik daran, dass wir Kredite vergeben und nicht
nur Geld schenken, trifft auch nicht das Selbstverständnis der Menschen in den Entwicklungsländern. Denn sie
sind stolz. Deshalb werden wir auch weiter darauf achten, dass wir Kredite vergeben, die an Armutsbekämpfungsprogramme gebunden sind. Wir machen auch nicht
nur blinden Schuldenerlass. Die Entwicklungsländer
zahlen uns mit Stolz und erhobenem Haupt das Geld zurück. Das ist doch der richtige Weg. Herr Yunus hat nicht
umsonst den Friedensnobelpreis für die Vergabe von Mikrokrediten bekommen. Denn er verschenkt auch nicht
einfach das Geld an die Ärmsten, sondern er gibt ihnen
die Möglichkeit einer Starthilfe, damit sie sich selbst mit
kleinen Unternehmen in die Lage versetzen können ({9})
- Ja, eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu, weil
Ihre Redezeit überschritten ist.
Dann lassen Sie mich noch einen Abschlusssatz sagen. Es ist wichtig, dass wir den Menschen nicht die
Würde nehmen, denn die Menschen sind fleißig. Auch in
Nairobi konnte ich mich davon überzeugen, wie fleißig
die Ärmsten der Armen in den Slums sind, sie arbeiten,
sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit leben. Dazu
wollen wir sie in die Lage versetzen. Da ist ein Kredit
besser, als dauerhaft zu glauben, man könnte das Geld
verschenken. Denn die Menschen wollen ihr Leben mit
Würde selbst bestimmen. Dabei wollen wir ihnen helfen,
und deshalb werden wir diese Politik fortführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/4160, 15/5815, 16/3839 und
16/4151 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 e und
32 sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
34 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reduzierung und
Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren
- Drucksache 16/1337 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({1}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Verzicht auf den Verkauf und das Überlassen
von überschüssigem Wehrmaterial
- Drucksache 16/3350 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({3}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Stopp von staatlichen Bürgschaften für Rüstungsexporte
- Drucksache 16/3697 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Christel Happach-Kasan, HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gründung eines Deutschen Biomasseforschungszentrums vorantreiben
- Drucksache 16/3838 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Telekommunikationsmärkte in Entwicklungsländern liberalisieren - Die digitale Spaltung
überwinden
- Drucksache 16/4059 7828
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
32 Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Attraktivität des Soldatenberufes steigern
- Drucksache 16/2836 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({8}),
Kai Gehring und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Reform des Gesetzes über
die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen ({9})
- Drucksache 16/4148 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Diaspora - Potenziale von Migrantinnen und
Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen
- Drucksache 16/4164 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4059 - Tagesordnungspunkt 34 e - soll zusätzlich an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 q sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 i auf. Es handelt sich um die Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes
- Drucksache 16/2919 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({12})
- Drucksache 16/4193 Berichterstattung:
Abgeordnete Friedrich Merz
Klaus Uwe Benneter
Dr. Gesine Lötzsch
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4193, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Ich würde jetzt gern wissen, wie die Fraktion Die Linke stimmt.
({13})
Dann frage ich noch einmal: Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit demselben Ergebnis wie
in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Umweltverträglichkeit von Waschund Reinigungsmitteln ({14})
- Drucksache 16/3654 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
- Drucksache 16/4188 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Heinz Schmitt ({16})
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Drucksache 16/4188, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
und des Bundesministeriums für Arbeit und
Soziales
- Drucksache 16/3657 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17})
- Drucksache 16/4196 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/4196, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über
Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister
- Drucksache 16/3755 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
- Drucksache 16/4189 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Heinz Schmitt ({19})
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4189, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister
vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchführung der
Verordnung ({20}) Nr. 166/2006
- Drucksache 16/3756 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({21})
- Drucksache 16/4189 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Heinz Schmitt ({22})
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4189, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 35 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom
11. April 2006 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Durchführung des Übereinkommens vom 25. Februar
1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung
im grenzüberschreitenden Rahmen ({23})
- Drucksache 16/4011 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
- Drucksache 16/4190 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({25})
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf
Drucksache 16/4190, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen. Da es sich um ein Vertragsgesetz handelt, entfällt die dritte Lesung.
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({26}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen
Ratsdok. 13076/06
- Drucksachen 16/4105 Nr. 2.96, 16/4192 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Mechthild Dyckmans
Jerzy Montag
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({27})
Übersicht 5 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/4058 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
({28})
Sammelübersicht 162 zu Petitionen
- Drucksache 16/4067 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
- Drucksache 16/4068 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen
der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der
Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 164 zu Petitionen
- Drucksache 16/4069 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 164 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 165 zu Petitionen
- Drucksache 16/4070 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 165 ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/
CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 35 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 166 zu Petitionen
- Drucksache 16/4071 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 166 ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Linken
angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 167 zu Petitionen
- Drucksache 16/4072 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 167 ist bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke, im Übrigen mit den Stim-
men der restlichen Fraktionen angenommen.1)
Tagesordnungspunkt 35 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 168 zu Petitionen
- Drucksache 16/4073 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 169 zu Petitionen
- Drucksache 16/4074 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 169 ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/
CSU bei Gegenstimmen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 170 zu Petitionen
- Drucksache 16/4075 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 170 ist mit den Stim-
1) Analge 2
men der Regierungsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 16/4172 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 16/4173 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 16/4174 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 16/4175 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 174 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 16/4176 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 175 ist mit den Stimmen
der Fraktion Die Linke, der SPD, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 16/4177 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 176 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 16/4178 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 16/4179 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 178 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und der Linken
angenommen.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 16/4180 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Protestaktionen der Gewerkschaften zur Heraufsetzung des Rentenalters
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
({46})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Gewerkschaften wehren sich zurzeit gegen
die Rentenkürzungen, denen viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entgegensehen.
({0})
Ich möchte für die Fraktion Die Linke erklären, dass wir
diese betrieblichen Maßnahmen der deutschen Gewerkschaften nachhaltig unterstützen.
({1})
Wir sehen in diesen betrieblichen Maßnahmen politische Streiks. Wir sind der Auffassung, dass es notwendig
wäre, in Deutschland ebenso wie in den meisten anderen
europäischen Staaten und in vielen Ländern der Welt
auch die Möglichkeit des politischen Streiks zuzulassen,
({2})
damit die Bevölkerung die Möglichkeit hat, sich gegen
unsoziale Maßnahmen der Regierung und der Parlamentsmehrheit zur Wehr zu setzen.
({3})
Dass diese Maßnahme notwendig ist, zeigen erschütternde Befragungsergebnisse, die zum Jahreswechsel
veröffentlicht worden sind. Nach Meinungsbefragungen
sind 80 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, dass es
sowieso keinen Sinn mehr habe, zur Wahl zu gehen, weil
diejenigen, die sie in die Parlamente entsenden, sowieso
machten, was sie wollten, und die Interessen der Wähler
nicht mehr vertreten würden. Nach einer anderen Untersuchung sind 60 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, dass es in Deutschland ungerecht zugeht, während
60 Prozent der Parlamentarier der Auffassung sind, dass
es in Deutschland gerecht zugeht. Noch nie hat sich die
Volksvertretung so weit von dem Volk entfernt wie derzeit. Auch deshalb brauchen wir das demokratische Institut des politischen Streiks.
({4})
Meine Damen und Herren, selbst wenn Sie diesen Befragungen nicht glauben, dann sollten Sie selbstkritisch
mit sich zurate gehen und sich einmal die Frage stellen,
wer Sie eigentlich so erleuchtet hat, dass Sie in allen entscheidenden Fragen, über die in den letzten Jahren und
Monaten abgestimmt wurde, gegen die Mehrheit des
Volkes abstimmten.
Nehmen Sie beispielsweise die Rentenfrage: Sie stimmen mit großer Mehrheit gegen die Mehrheit des Volkes.
Nehmen Sie die Steuerfrage - Mehrwertsteuererhöhung -: Sie stimmen mit großer Mehrheit gegen die
Mehrheit des Volkes. Nehmen Sie die Gesundheitsreform: Sie stimmen mit großer Mehrheit gegen die Mehrheit des Volkes. Nehmen Sie die Kürzung vieler sozialer
Leistungen: Sie stimmen immer mit großer Mehrheit gegen die Mehrheit des Volkes. Auch bei den ausufernden
Auslandseinsätzen der Bundeswehr stimmen Sie gegen
die Mehrheit des Volkes. Meine Damen und Herren, Sie
sollten mit sich zurate gehen. Ein Parlament, das sich
Volksvertretung nennt, aber mit großer Mehrheit immer
gegen das Volk abstimmt, ist im Grunde genommen
keine Volksvertretung mehr.
({5})
Deshalb wird der Ruf nach direkter Demokratie laut,
({6})
nach der Möglichkeit, dass die Bevölkerung sich in
Volksabstimmungen zu einzelnen Fragen äußern kann,
weil die Bevölkerung - nach unserer Auffassung zu
Recht - der Meinung ist, dass sie selbst in bestimmten
Fragen genauso sachkundig entscheiden kann wie ihre
Volksvertreter. Deshalb brauchen wir direkte Formen der
Demokratie, damit nicht immer wieder gegen die Interessen des Volkes abgestimmt wird.
({7})
Dass dies hervorragende Effekte zeigen kann, haben
beispielsweise unsere französischen Nachbarn gezeigt.
Dort hat die Regierung entgegen dem mehrheitlichen
Willen der Bevölkerung den Kündigungsschutz für junge
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgeschafft. Die
Bevölkerung hat gesagt: Das wollen wir nicht hinnehmen.
Insbesondere junge Menschen haben gesagt: Das wollen
wir nicht hinnehmen. Sie kennen die sozialen Probleme
der Jugendlichen in Frankreich. Die Bevölkerung ging mit
den Gewerkschaften auf die Straße und hat die Regierung
gezwungen, dieses Gesetz zurückzunehmen. Wir wünschen uns solche Möglichkeiten auch für Deutschland.
({8})
Es ist schlicht und einfach eine Anmaßung, zu glauben,
all das, was die Bevölkerung in den Sachfragen für richtig
hält, sei falsch, sei nicht begründet und diejenigen, die
dies hier vertreten, seien Populisten, während diejenigen,
die gegen die Bevölkerung argumentieren und ihre Abstimmungen gegen die Interessen der Bevölkerung
durchführen, von Sachverstand usw. geprägt seien. Das
ist eine Form der Anmaßung. Ihr ständiger Vorwurf des
Populismus fällt letztendlich anklagend auf Sie selbst
zurück. Sie entscheiden immer gegen die Mehrheit der
Bevölkerung. Wir brauchen letztendlich wieder einmal
direkte Demokratie in Deutschland.
({9})
Gestatten Sie mir folgenden Hinweis: Auch der Umgang mit den Bergleuten zeigt wieder, dass es in der
Vergangenheit möglich war, Interessen der Bergleute
durchzusetzen; damals waren die Bergleute nämlich
noch stark genug. Ich erinnere an die großen Demonstrationen in Bonn. Es kam zu einem vernünftigen Kompromiss, aber letztendlich nur deshalb, weil die Bergleute
stark genug waren, ihre Interessen durchzusetzen. Jetzt
sind sie einem unwürdigen Hin und Her ausgesetzt. Ich
kann mir vorstellen, dass viele Bergleute ihr Vertrauen in
die parlamentarischen Institutionen verlieren.
Die zitierten Umfragen sind auf jeden Fall eindeutig.
Das Institut des politischen Streiks ist ein elementares
Institut jeder funktionierenden Demokratie.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Soziale Marktwirtschaft ist keine reine Staatsveranstaltung. Sie lebt von starken Interessenorganisationen. Sie
braucht starke und freie Gewerkschaften. Deswegen ist es
so bedauerlich, dass sich Teile der Gewerkschaftsbewegung mit ihren Aktionen in diesen Tagen aus dem seriösen
Teil der Debatte um die Zukunft unseres Rentensystems
verabschiedet haben. Ich wiederhole: Das ist das eigentlich Bedauerliche an dieser Debatte.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zitieren,
was Peter Struck dem IG-Metall-Vorsitzenden dieser
Tage ins Stammbuch geschrieben hat - wo der Kollege
Struck recht hat, hat er recht -:
Der oft wiederholte Vorwurf, die Erhöhung des
Rentenalters bedeute eine Rentenkürzung, ist angesichts einer im Durchschnitt weiter steigenden Rentenbezugsdauer haltlos. Tatsächlich sorgen gerade
unsere Maßnahmen dafür, dass die heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und
Rentner keine Einbußen fürchten müssen. Wer die
Augen vor der Realität und vor gesellschaftlichen
Entwicklungen verschließt, untergräbt langfristig
die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme.
Genau das, was der Kollege Peter Struck der Führung
dieser Gewerkschaft ins Stammbuch geschrieben hat, ist
Tatsache. Wir machen eine Politik, die auf die Nachhaltigkeit der Rentenversicherung abzielt und die deswegen
auch sozial gerecht ist.
({0})
Ich will deutlich sagen: So äußert sich in der Tat in
dieser Zeit nicht nur die Spitze einer Gewerkschaft. Wenn
ich mich über meinen Freund Klaus Brandner ärgere
- das kommt gelegentlich vor -, dann nehme ich mir
meine Heimatzeitung, um zu lesen, was die dortigen
Gewerkschaftsfunktionäre sagen. Dort kann ich folgende
Aussage des örtlichen IG-Metall-Bevollmächtigten lesen:
„Die einen arbeiten sich zu Tode, die anderen stehen vor
dem Arbeitsamt.“ Wenn ich das lese, weiß ich, was ich
an Klaus Brandner habe,
({1})
und bin froh, dass es im Gewerkschaftslager auch andere
Stimmen gibt.
Meine Damen und Herren, wie weit muss man von
der Realität entfernt sein, wenn man angesichts einer
gegenwärtigen durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von
17 Jahren, die bis zum Jahre 2030 auf 18 Jahre steigen
wird, behauptet, die Leute in Deutschland arbeiteten sich
zu Tode? Wie borniert und realitätsfern sind die Gewerkschaftsfunktionäre, die solch einen Blödsinn verbreiten?
({2})
Es gibt viele gute Gründe, warum wir Gewerkschaften
brauchen, und viele wichtige Ziele, für die sie sich engagieren können. Es gibt viele Themen, über die man
streitige Diskussionen führen kann, indem man Pro- und
Kontraargumente austauscht. Aber diese Auseinandersetzung, die Teile - ich betone: Teile - der deutschen
Gewerkschaftsbewegung führen, ist ein Kampf gegen
Adam Riese und gegen alle mathematischen Gesetze.
Diesen Kampf kann keine Gewerkschaft gewinnen.
({3})
Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer beträgt schon
heute 17 Jahre. Aber das ist nicht alles. Aufgrund der
steigenden Lebenserwartung und trotz der Maßnahmen,
die wir durchführen müssen, um die Rente zukunftsfähig
zu machen, wird sie weiter steigen. In den 60er-Jahren
betrug die Rentenbezugsdauer zehn Jahre, heute beträgt
sie mehr als 17 Jahre und bis zum Jahre 2030 wird sie
auf 18 Jahre steigen.
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt insgesamt wie
auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für Ältere
gibt uns recht: In einem Jahr haben wir die Zahl der
Arbeitslosen um 764 000 Personen reduziert. Wir sind
damit noch nicht am Ziel. Aber wir haben einen großen
Schritt getan, um bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit voranzukommen.
Wenn man sich die Arbeitslosenzahlen von Älteren
ansieht, stellt man fest: Bei den über 55-Jährigen ging
die Arbeitslosigkeit in einem Jahr um 12 Prozent und bei
den über 50-Jährigen um fast 13 Prozent zurück. Was
will man denn noch verlangen außer einem solch starken
Rückgang der Arbeitslosigkeit, den wir in nur einem
Jahr erreicht haben und den wir auch für die nächsten
Jahre anpeilen, und zwar bevor die behutsame Anhebung des Renteneintrittsalters überhaupt einsetzt? Die
Behauptungen, dass es keine lange Rentenbezugsdauer
gibt und dass auf dem Arbeitsmarkt für Ältere keine
Fortschritte erzielt worden sind, sind unsinnig. Das weisen wir entschieden zurück.
({4})
Abschließend möchte ich eines zu Herrn Lafontaine
und seiner falschen, aber immer wieder aufgestellten
Behauptung sagen, wir würden gegen die Interessen des
Volkes regieren.
({5})
Herr Lafontaine, dass Sie entscheiden, wer das Volk ist,
das kennen wir aus der Tradition der Partei, der Sie sich
angeschlossen haben. Sie von den Linken sind vor dem
Hintergrund Ihrer Geschichte die Allerletzten, die sich
freien Gewerkschaften an den Hals werfen sollten. Sie
sind die Letzten, die dafür eine politische Legitimation
haben.
({6})
Wir stehen für ein Land mit freien Gewerkschaften, nicht
Sie. Sie wurden von 8 Prozent der Menschen gewählt; das
ist wahr. Wir Demokraten haben daher anzuerkennen:
8 Prozent haben Sie gewählt, 92 Prozent haben andere
Parteien gewählt, nämlich die demokratischen Parteien,
die in diesem Hause verantwortungsvolle Politik machen.
({7})
Wir haben für die Politik, die wir machen, ein Mandat.
Wir machen sie im Interesse der Menschen, für eine zukunftsfähige Rentenversicherung und gegen Ihre Polemik und Ihren Widerstand.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn will ich für meine Fraktion klipp und klar
sagen: Die von den Gewerkschaften organisierten
Arbeitsniederlegungen in den Betrieben stellen einen
klaren Rechtsbruch dar.
({0})
- Sie sollten zuhören. - Aus guten Gründen, nämlich
aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der Weimarer
Republik, haben sich die Verfassungsväter dafür entschieden, politische Streiks im Grundgesetz zu verbieten.
Es ist den Gewerkschaften unbenommen, im Rahmen
des Demonstrationsrechts - allerdings außerhalb der
Betriebe und außerhalb der Arbeitszeit - gegen das Vorhaben der Koalition, das gesetzliche Renteneintrittsalter
anzuheben, mobilzumachen; das steht außer Frage. Aber
massenhafte Arbeitsniederlegungen und Protest während
der Arbeitszeit, was im Grunde eine Geiselnahme der
betroffenen Unternehmen ist, sind durch nichts zu rechtfertigen.
({1})
Die Gewerkschaften, die das selbst natürlich ganz anders
sehen, wären gut beraten, diese wichtige Grenzlinie
unseres Rechtsstaates nicht zu überschreiten.
({2})
Es ist nicht nur peinlich, sondern in höchstem Maße
bedenklich, dass beide Fraktionsvorsitzenden einer im
Deutschen Bundestag vertretenen Partei, nämlich der
Linken, diese Streiks nicht nur ausdrücklich gutheißen
und begrüßen,
({3})
sondern den politischen Streik darüber hinaus sogar für
legitim erklären.
({4})
- Der Beifall kommt von der falschen Seite.
({5})
Das wirft ein deutliches Licht auf das Rechtsverständnis
von Herrn Gysi und von Herrn Lafontaine. Herr Gysi
und Herr Lafontaine, Sie sollten sich dafür schämen.
({6})
Doch nun zur Sache. Zunächst einmal gibt es ein demografisches Problem in der Rentenversicherung - ob Herr
Peters von der IG Metall das wahrhaben will oder nicht.
Die Lebenserwartung steigt. Mit der Lebenserwartung
steigt auch die Rentenbezugsdauer. Das belastet die
Rentenversicherung und führt seit Jahren zu steigenden
Beiträgen. Davor kann man die Augen nicht verschließen.
Auf diesen Umstand muss der Gesetzgeber reagieren, es
ist aber die Frage, wie.
({7})
Eine Anhebung des starren Renteneintrittsalters von
65 Jahre auf 67 Jahre, wie von der Koalition geplant,
führt im Ergebnis zu einer geringen Entlastung von etwa
0,5 Beitragspunkten und wirft jede Menge neuer Fragen
auf, etwa die Frage, ob die vorgesehenen Ausnahmeregelungen - beispielsweise für besonders lang Versicherte - überhaupt verfassungskonform sind, weil sie
gegen das Äquivalenzprinzip verstoßen. Der Vorschlag
führt auch zu unterschiedlichen Belastungen einzelner
Jahrgänge. Besonders die Jahrgänge 1959 bis 1974 werden
über Gebühr belastet. Das ist nicht generationengerecht
und führt mit Sicherheit zu Klagen in Karlsruhe.
({8})
Hinzu kommt: Viele Menschen können oder wollen
derzeit überhaupt nicht bis zum 67. Lebensjahr arbeiten.
Aktuell sind nur noch 45 Prozent der über 55-Jährigen
und 28 Prozent der über 60-Jährigen erwerbstätig, also
in einem Arbeitsverhältnis. Das heißt, der Rentenzugang
aus einem Arbeitsverhältnis heraus bei Erreichen der
Regelaltersgrenze ist von der Regel zur Ausnahme
geworden. Vor diesem Hintergrund empfinden viele
Menschen die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters als verkappte Rentenkürzung. Insoweit stimme ich
Herrn Peters sogar zu.
({9})
Zustimmen könnte ich sogar auch seiner Forderung
nach einem flexiblen Ausstieg aus dem Arbeitsleben.
Damit hören die Gemeinsamkeiten dann aber auch
ausdrücklich auf; denn Herr Peters wünscht sich eine
Finanzierung seiner Vorschläge - normale Altersruhe
ohne Abschlag nach 40 Versicherungsjahren, erleichterter
Zugang zur Erwerbsunfähigkeitsrente, Erhalt der Altersteilzeit -, durch die der Beitragsdruck in der gesetzlichen
Rentenversicherung nicht nur nicht beseitigt, sondern
sogar noch verstärkt würde. Hier muss ich Herrn Peters
klipp und klar sagen: Flexibilität muss auch finanzierbar
sein, und das geht bei einem vorzeitigen Renteneintritt
nicht ohne Abschläge.
Die FDP-Fraktion hat diesbezüglich andere Vorstellungen, die wir in dieser Woche in der Fraktion auch
behandelt und beschlossen haben. Mit einem flexiblen
Rentenrecht wollen wir die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass ältere Menschen länger am Erwerbsleben
teilnehmen wollen und können. Die Versicherten sollen ab
dem 60. Lebensjahr den Zeitpunkt ihres Renteneintritts
- bei Grundsicherungsfreiheit - selbst bestimmen können.
Das ist der entscheidende Punkt: Wir brauchen einen
Paradigmenwechsel. Nicht mehr die möglichst frühe
Verrentung, sondern eine möglichst lange Teilhabe am
Erwerbsleben muss zum Leitbild werden. Das ist übrigens auch das, was sich die Menschen wünschen. Mehr
als zwei Drittel der Befragten sagen: Wir wollen selbst
entscheiden, wann wir in den Ruhestand eintreten.
Um dies zu ermöglichen und auch Entscheidungsfreiheit zu gewährleisten, bedarf es einer weiteren Änderung
im Rentenrecht: Die Zuverdienstgrenzen müssen fallen.
Mit der Aufhebung aller Zuverdienstgrenzen müssen
Anreize für die Arbeitnehmer geschaffen werden, auch
bei Rentenbezug weiter tätig zu sein.
({10})
Mit diesem Zuverdienst kann der eigene Lebensstandard verbessert werden. Durch die Verbeitragung der
Zuverdienste, die wir vorschlagen, werden zusätzliche
Einnahmen für die Sozialversicherung erzielt. Das, flankiert durch Änderungen im Arbeitsrecht - Verbesserung
der Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt für ältere
Arbeitnehmer, Beseitigung von Beschäftigungshindernissen -, wird dazu führen, dass eine Regelung geschaffen
werden kann, die den Interessen der Menschen entspricht.
Herr Kollege!
Mit Aktionen, wie den von der Linken hier vorgeschlagenen - die Forderung nach einem politischen
Streik -, wird für die Menschen in diesem Lande am
Ende nichts verbessert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dass es gut ist und sich seit 1949 auch
bewährt hat, dass die Bundesrepublik Deutschland eine
parlamentarische Demokratie und keine Umfragedemokratie ist.
({0})
Zu den einleitenden Bemerkungen zur heutigen Aktuellen Stunde. Wir haben nicht viel Inhaltliches zu dem
Thema gehört, das eigentlich besprochen werden soll,
nämlich auf eine der größten - und erfreulichsten - Herausforderungen der Gesellschaft zu antworten und zu
sagen, wie auf das längere Leben zu reagieren ist. Gewerkschaften sind immer Gestaltungs- und Gegenmacht
zugleich gewesen. Aber man kann nicht gegen das längere Leben, schon gar nicht gegen diese erfreuliche Entwicklung und nicht gegen die daraus resultierenden Folgen sein. Es geht dabei darum, die Folgen so
aufzunehmen, dass sie auch gestaltet werden können.
Die Gewerkschaften haben selbst zu dieser Entwicklung beigetragen, indem sie für humane Arbeitsbedingungen eingetreten sind. Medizinisch-technischer Fortschritt, gesündere Umwelt - all das hat dazu geführt,
dass wir uns heute über eine längere Lebenserwartung
freuen können. Verantwortliches Handeln bedeutet, jetzt
auch die richtigen Antworten darauf zu geben und die
sozialen Sicherungssysteme dabei stabil zu halten.
({1})
Dem darf man nicht ausweichen. Man muss vielleicht
auch Antworten geben, die im ersten Moment nicht gefallen. Aber man muss Antworten geben, die das für die
Menschen kalkulierbar machen, damit sie wissen, worauf sie sich einstellen müssen.
Fakt ist nun einmal - dem kann man nicht ausweichen die längere Lebenserwartung. Erfreulicherweise ist in
den letzten 40 Jahren im Schnitt bei den Männern ein
Plus von elf Jahren und bei den Frauen von zwölf Jahren
zu verzeichnen. Das hat zur Folge, dass die Rentenbezugsdauer sich von zehn Jahren auf 17 Jahre erhöht. Das
ist ein Plus von 70 Prozent. Da kann man nicht von einer
Rentenkürzung sprechen. Das geht nicht.
Das geht erst recht nicht, wenn man weiß, dass über
die längere Erarbeitung von Anwartschaftszeiten Rentenansprüche steigen. Das geht auch nicht, wenn man
sein Handeln darauf ausrichtet, eine positive Tarifentwicklung zu erreichen. Die trägt wieder zu Rentenerhöhungen bei. Da darf man also nicht von Rentenkürzungen sprechen.
({2})
Ich habe eine Vermutung, nämlich die, dass diejenigen, die von „Rentenkürzung“ sprechen, die hohe Arbeitslosigkeit in die Zukunft projizieren wollen,
({3})
sich also wie Kassandra verhalten, damit sie einen Nährboden für ihre Politik finden. Das geht nicht.
({4})
Dass die Dinge veränderbar sind, zeigt die Realität:
764 000 Arbeitslose weniger, 430 000 sozialversicherungspflichtige Jobs mehr. Man darf die Hände eben
nicht in den Schoß legen. Wir wollen noch besser werden, aber ein bisschen Optimismus darf bei dieser Entwicklung schon an den Tag gelegt werden.
Es geht an dieser Stelle auch darum zu sagen: Wie
werden die Kosten der älter werdenden Gesellschaft gerecht verteilt? Sie sollen nicht nur einer Generation angelastet werden, sondern auf die Beitragszahler sowie
die Rentnerinnen und Rentner verteilt werden. Was in
Solidarität erhalten werden soll, muss auch in Solidarität
getragen werden. Dann darf man auch nicht Ausflüchte
machen und fordern, es müssten noch mehr Steuern ins
System. 77,4 Milliarden Euro fließen aus dem Bundeshaushalt bereits in die Rentenversicherung. Daran wird
auch noch einmal die gesellschaftliche Aufgabe einer
guten und solidarischen Rentenversicherung ganz deutlich.
Man darf der Demografie nicht ausweichen. In den
60er-Jahren wurden von einer Frau in ihrem Leben im
Schnitt 2,4 Kinder geboren. Heute sind es nur noch
1,4 Kinder. Das heißt: Es kommen immer weniger Jüngere nach, was am Ende zur Folge hat, dass sich das heutige Verhältnis der Zahl derjenigen, die im erwerbsfähigen Alter sind, zu der Zahl derjenigen über 65 Jahre von
drei zu eins in den nächsten zehn oder 15 Jahren auf
zwei zu eins verändern wird.
({5})
Wir brauchen Wachstum, hohe Beschäftigungsraten und
Produktivität, wenn das gemeinsam geschultert werden
soll, wenn die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
gewährleisten sollen, dass die Rentnerinnen und Rentner
auch im Alter ein angemessenes Auskommen haben.
Das gilt es zu organisieren.
Es gibt einen weiteren ganz wichtigen Punkt in dieser
Debatte. Es geht auch um einen Sichtwechsel in der Gesellschaft. Es ist nicht in Ordnung, dass sich in Deutschland die Vorstellung breitgemacht hat, mit 50 Jahren gehöre man zum alten Eisen. Es geht darum, ein Stück weit
die soziale Wertigkeit des Menschen im Alter in
Deutschland auch in den Betrieben wiederherzustellen.
Es geht darum, das Alter wieder ernst zu nehmen und
schlichtweg zu registrieren, dass in Deutschland die Zahl
der über 65-Jährigen in den nächsten Jahren, ungefähr
bis zum Jahr 2030, um 6,4 Millionen zunehmen wird,
aber die Zahl derjenigen, die im beschäftigungsfähigen
Alter sind, sich um 5,4 Millionen reduzieren wird. Das
bedeutet, dass sich die Altersstruktur in den Betrieben
verändert. Das bedeutet für die Unternehmen auch, dass
sie sich dann, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen, wieder auf die Kompetenzen der Älteren besinnen
müssen sowie darauf, was Prozesswissen ist, was Erfahrungswissen ist und was Produktkenntnis ist. Wer wettbewerbsfähig bleiben will, der muss mit uns gemeinsam
daran arbeiten, dass die Beschäftigungsquote der Älteren
in den Betrieben wieder steigt.
({6})
Dann reden wir über gute Arbeit, über die Bedingungen der Arbeit, kurzum darüber, dass Arbeit nicht krank
machen darf. Wir müssen die Beschäftigungsfähigkeit
der Menschen in den Betrieben erhalten. Wir wissen,
wie die Bedingungen sind und wie schwierig das manchmal ist. Auch deswegen haben wir jetzt in die Konzeption mit hineingenommen, dass diejenigen, die 45 Jahre
einbezahlt haben, mit 65 Jahren abschlagsfrei gehen
können.
({7})
Auch deswegen haben wir in unsere Vorschläge mit hineingeschrieben, dass diejenigen, die 35 Pflichtbeitragsjahre haben, bis zum Jahre 2023 in der Erwerbsminderungsrente unter den gleichen Bedingungen behandelt
werden wie heute. Ab dem Jahr 2024 gilt das noch für
diejenigen, die 40 Beitragsjahre haben. Ich glaube, dass
das gute Entscheidungen gewesen sind.
Nicht gut ist die Beschäftigungsquote. Wir sind auch
hier nicht erfolglos gewesen: Im Jahr 2000 lag die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen bei 37,5 Prozent,
heute liegt sie bei 48,3 Prozent. Das geht also. Aber wir
wollen besser werden. Wir haben uns in Europa darauf
verständigt, dass wir bis zum Jahre 2010 eine Beschäftigungsquote von 50 Prozent erreichen wollen. Selbst
60 bis 70 Prozent wie in Schweden, Kanada, Finnland
und Norwegen sind keine Vision, sondern können Realität werden, wenn wir unsere ganze Kraft darauf konzentrieren.
Das machen wir, zum Beispiel mit der Initiative
„50 plus“. Das ist die andere Seite der Medaille: daran
zu arbeiten, dass durch Weiterbildung, Qualifizierung
und Lohnkostenzuschüsse auch die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer über 50 Jahre eine Chance haben und
dass die Unternehmen sie einstellen.
Die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ bringt Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen. Sie bringt all
diejenigen zusammen, die dieses Ziel unterstützen und
daran arbeiten wollen, es vernünftig zu gestalten. An
diesem Punkt gibt es Gemeinsamkeiten mit den Gewerkschaften: daran zu arbeiten, dass es nicht einen weiteren
Ausfall bei der sogenannten Bruttowertschöpfung in
Deutschland durch verloren gegangene Arbeitstage wegen Krankheit in Höhe von 66 Milliarden Euro gibt und
dass gesunde Arbeitsbedingungen geschaffen werden,
damit Arbeit nicht krank macht. Dieses Parlament hat in
der letzten und vorletzten Legislaturperiode im Betriebsverfassungsgesetz viele Möglichkeiten der Einflussnahme der Betriebsparteien geschaffen. Es hat von Weiterbildung und Qualifizierung bis hin zu den Fragen der
Gestaltung der Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Regelungen in die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsbereiche hineingeschrieben.
Ich wünschte mir, wir würden Transparente sehen, die
lauten: „Gegen Altersausgrenzung aus dem Betrieb - für
höhere Beschäftigungsquoten Älterer“, „Gegen Altersdiskriminierung bei Weiterbildung - für lebensbegleitende Qualifizierung“, „Arbeit darf Gesundheit nicht
zerstören“ und „Für den Erhalt der Beschäftigung und
der Leistungsfähigkeit“. Daran gemeinsam zu arbeiten,
das ist unsere Aufgabe, weil auch über diesen Weg eine
Verlässlichkeit für die ökonomische Entwicklung und
für die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland entsteht. Die 25 Milliarden Euro, die wir in unser Innovationsprogramm, unser Wachstumsprogramm investiert
haben, sind gut investiertes Geld. Hohe Beschäftigungsquoten für Alt und für Jung, Produktivität, ein gutes
Wirtschaftswachstum, Investitionen in Bildung und in
Forschung, das sind die besten Garanten für die Sicherung eines solidarisch finanzierten Alterssicherungssystems, wie wir es in unserer bewährten Rentenversicherung haben.
({8})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin
Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist das gute Recht der Gewerkschaften, die Interessen
der Beschäftigten auch politisch zu vertreten.
({0})
Das sage ich als Gewerkschaftsmitglied. Ich habe allerdings Zweifel, dass in diesem Falle die Interessen der
Beschäftigten wirklich gut vertreten werden. Es hilft
doch niemandem, wenn die Gewerkschaften den Menschen vorgaukeln, es könne alles so bleiben, wie es ist,
wenn sie behaupten, die Demografie sei nur ein Vorwand, es gehe lediglich um Rentenkürzungen. Ich finde
das perfide.
({1})
Haben die Gewerkschaftsvertreter wirklich noch nicht
mitbekommen, dass immer weniger Kinder geboren werden, dass 2030 8 Millionen weniger Erwerbstätige eine
wachsende Anzahl von Renten zu finanzieren haben?
({2})
- Sie brauchen nicht so zu schreien. - Ist es ihnen entgangen, dass die Menschen im Jahre 2030 durchschnittlich vier Jahre älter werden? Wissen sie nicht, dass die
Rentenlaufzeiten dann 20 Jahre betragen? Ich kann nicht
glauben, dass sie das nicht wissen.
Die Gewerkschaften behaupten, die längere Lebensarbeitszeit führe zu höherer Jugendarbeitslosigkeit. Richtig
ist: Länder, in denen mehr Ältere beschäftigt sind, haben
eine niedrigere Jugendarbeitslosigkeit. Sie behaupten, es
gebe nicht genügend Arbeitsplätze für ältere Beschäftigte. Richtig ist: Sie beschreiben die heutige Situation.
Es geht aber um die Situation in 22 Jahren.
({3})
Die heutige Arbeitsmarktsituation in das Jahre 2029 zu
übertragen, hieße, sie wollen keine Maßnahmen ergreifen und würden den Kopf in den Sand stecken.
({4})
Die Gewerkschaft sagt, es würden altersgerechte Arbeitsplätze fehlen. Diesem Argument kann ich zustimmen, wenn es um die heutige Realität geht. Nur: Sie haben aber gemeinsam mit den Arbeitgebern die
Frühverrentungspolitik propagiert; sie haben Fakten geschaffen. Damit sind wir beim Kern des Problems. Auf
dem Arbeitsmarkt herrscht noch immer der Jugendwahn.
50-Jährige gehören zum alten Eisen. Darum brauchen
wir eine neue Kultur der Altersarbeit.
({5})
Die Ursachen für das Fehlen einer solchen Kultur erfahren wir aus dem Mund des Betriebsratsvorsitzenden
von VW.
({6})
Er sagt in der „Frankfurter Rundschau“: „Wir haben
praktisch keine Erfahrung mit 60-Jährigen.“ Denn
90 Prozent der Leute gehen bereits mit 58 Jahren in Altersteilzeit. - Das werden wir uns künftig nicht mehr
leisten können.
({7})
Für uns Grüne ist die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt eine wesentliche Voraussetzung für die Rente
ab 67. Deshalb haben wir die Bundesregierung aufgefordert, ein Gesamtkonzept zur Integration älterer Beschäftigter vorzulegen und alle zwei Jahre über die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen zu berichten. Erhöht
sie sich nicht deutlich, müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden.
Herr Brauksiepe, Sie haben vorhin die Situation optimistisch dargestellt. Ich glaube, Schönfärberei ist im
Moment nicht angebracht.
({8})
Herr Thönnes sagte gerade, das Programm „50 plus“
wirke. Das Programm „50 plus“ ist schon etwas älter.
Die Realität sah da bisher ganz anders aus.
({9})
Wir sind in der Tat sehr weit von einer befriedigenden
Erwerbsintegration älterer Beschäftigter entfernt. Darum
brauchen wir endlich einen Mentalitätswechsel.
Die Frühverrentung hat uns in die Sackgasse geführt
und verhindert geradezu Erfahrungen bei der Beschäftigung von Älteren in den Betrieben. Dass es kaum wissenschaftliche Expertisen zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit Älterer gibt, ist doch ein Zeichen dafür,
dass in den Köpfen noch immer die Frühverrentungsideologie steckt. Das müssen wir beenden.
({10})
Strategien zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit bis zur
Rente sind vor allem bei Arbeitsplätzen von gering Qualifizierten erforderlich. Natürlich haben Gewerkschaftsvertreter recht, wenn sie darauf hinweisen, dass es nicht
möglich ist, am Fließband zu stehen und unter hohem
Leistungsdruck bis 67 im Akkord zu arbeiten. Ich frage:
Warum schließen die Gewerkschaften nicht mit den Arbeitgebern Vereinbarungen darüber ab, dass die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation verändert werden? Das wäre doch ein wichtiges Betätigungsfeld.
({11})
Die Realität zeigt: Solange es staatlich abgepolsterte
Altersteilzeitprogramme gibt, werden große Betriebe
keinen Anlass haben, sich ernsthaft mit altersgerechten
Arbeitsbedingungen auseinanderzusetzen. Solange es so
einfach ist, ganze Generationen aus dem Arbeitsprozess
auszugliedern, werden diese Arbeitgeber weiterhin auf
technische Rationalisierungen setzen. Fließbänder ohne
Beschäftigte gehören doch bereits heute zur weitverbreiteten Realität.
Ich fordere die Gewerkschaften auf: Verschließen Sie
nicht weiter die Augen vor der demografischen Entwicklung! Tragen Sie gemeinsam mit den Arbeitgebern Verantwortung!
({12})
Setzten Sie sich für bessere und altersgerechte Arbeitsbedingungen ein! Ich nenne in diesem Zusammenhang
nur: Weiterbildungsstrategien für lebenslanges Lernen,
betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention oder
auch die systematische Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nach dem Arbeitsschutzgesetz. Fordern
Sie von den Arbeitgebern Investitionen in die Köpfe ihrer Belegschaften, in die Köpfe der Jungen und in die
Köpfe der Alten! Damit wird im Übrigen die Leistungsfähigkeit der Unternehmen im globalen Wettbewerb
dauerhaft gestärkt.
Meine Damen und Herren von der Linken, ich glaube,
es ist Ihnen hier nicht gelungen, mit Ihrer Aktuellen
Stunde wirklich überzeugend darzulegen, warum das
Modell der Rente mit 67 nicht richtig ist.
({13})
Schauen Sie sich einmal Fernsehsendungen wie „Aufstand der Alten“ an. Da wird prognostiziert, was passieren wird, wenn wir heute nichts tun. Deshalb müssen wir
etwas unternehmen.
Vielen Dank.
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Gerald Weiß das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Schewe-Gerigk, Sie haben fast nur Vernünftiges gesagt, muss ich feststellen.
({0})
Allerdings lagen Sie an einer Stelle falsch: als Sie sagten, Dr. Brauksiepe betreibe Schönfärberei, als er die
- positive - Entwicklung der Beschäftigung lebensälterer Arbeitnehmer darstellte. Er hat schlicht die Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit genannt. Das zeigt: Auch
bei der Beschäftigung Lebensälterer geht es in der Bundesrepublik aufwärts, wie es insgesamt am Arbeitsmarkt
aufwärtsgeht.
({1})
Der grundlegende Sachverhalt ist so einfach, dass ihn
auch die IG Metall kennt. Jede Generation lebt fünf bis
sechs Jahre länger, hat also eine größere Lebenserwartung. Das bedeutet, dass sie länger Rente bezieht. Das ist
schön. Aber jede Generation in Deutschland ist auch ein
Drittel kleiner als die vorhergehende Generation. Das ist
unschön, weil der demografische Umbruch eine Anspannung für den Generationenvertrag bedeutet. Wenn wir
nicht an der richtigen Stelle eingreifen, wird sich das
Verhältnis der Erwerbstätigen zu den Rentenbeziehern
so verändern, dass dieses System, dieser Generationenvertrag, nicht mehr funktionieren kann. Wir dürfen die
Jüngeren nicht überfordern, und wir müssen den Älteren
eine angemessene Sicherung ihres Alters gewährleisten.
Das sind die beiden Ziele.
Das zu erreichen, dafür gibt es nicht viele Stellräder.
Ein Stellrad ist das Rentenniveau. Wir können das Rentenniveau nicht noch weiter senken, als es ohnehin geschehen und geplant ist. Wir müssen den Älteren einen
angemessenen Alterslohn für ihre Lebensleistung geben.
Wir können aber auch den Rentenversicherungsbeitrag
nicht weiter anheben. Er darf 20 und später 22 Prozent
nicht überschreiten, weil wir die Betriebe sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Aktiven, nicht
überfordern dürfen. Wir können auch die Bundeszuschüsse - es sind insgesamt 78 Milliarden Euro - nicht
weiter steigen lassen. Das ist schon jeder dritte Euro des
Haushalts.
Es bleibt nur ein Stellrad: Das ist die Lebensarbeitszeit. Wenn man fünf bis sechs Jahre länger lebt, ist es
ebenso gerecht wie angemessen und erforderlich, dass
man in diesen fünf bis sechs Jahren längeren Lebens
zwei Jahre länger arbeitet. Es ist eine schlichte Wahrheit:
Wir müssen länger arbeiten.
({2})
Das weiß auch die IG Metall. Es ist nicht populär,
dies den Menschen zu sagen. Dies ist schon gar nicht populistisch; aber es ist verantwortungsvoll. Wenn wir das
System der Rentenversicherung, den Generationenvertrag, nachhaltig sichern wollen, muss die künftige Rentnergeneration - es geht nicht um die jetzige - angemessen länger arbeiten, um vor allem die Jungen nicht zu
überfordern.
({3})
Wir müssen dafür sorgen, dass sie auch Arbeitschancen hat. Ich schließe mich all dem, was Franz Thönnes
gesagt hat, an: Es geschieht unter der Überschrift
„50 plus“ im Arbeitsschutz und wo auch immer einiges,
damit die Menschen länger arbeiten können.
Wir geben den Menschen Sicherheit. Die Anhebung
des Rentenalters erfolgt über eine lange Strecke. Das
Ganze beginnt 2012 - die Regierung hätte sich auch drücken und in dieser Legislaturperiode gar nichts machen
können - und hat eine Spanne bis 2029. Wir gehen in
kleinen Stufen vor, die für jeden kalkulierbar sind. Wir
sagen jedem, was das für ihn bedeutet. Es ist eine verantwortliche Politik, den Menschen Klarheit, Gewissheit,
Sicherheit und Kalkulierbarkeit in Bezug auf ihr eigenes
Leben zu geben.
({4})
Herr Lafontaine, die Leute, die das alles wissen und
politische Streiks veranstalten sowie illegitime Maßnahmen und widerrechtliche Aktionen gegen diese einfache
Wahrheit und einfache Notwendigkeit starten, versündigen sich in Wahrheit an diesem Volk. Sie führen dieses
Volk in die Irre. Sie machen den Leuten ein X für ein U
vor und verleiten sie auf eine Strecke, die ins Nichts
führt. Diejenigen, die so argumentieren, wie Sie es heute
getan haben, als Sie sagten, man brauche politische
Streiks, sind Leute vom Schlage derjenigen, die die Weimarer Republik zu Grabe getragen haben.
({5})
Diesen Weg beschreiten wir nicht, und diesem Weg widersprechen wir.
Herzlichen Dank.
({6})
Als Nächster spricht der Kollege Werner Dreibus für
die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich würde zunächst gern
ein paar Bemerkungen zum eigentlichen Gegenstand
dieser Debatte machen. Wir wollten nämlich nicht
- heute jedenfalls nicht - über das Für und Wider - wir
sind für das Wider - der Rente mit 67 debattieren, vielmehr wollen wir das, was in den letzten Tagen in unserem Land passiert ist, zum Gegenstand der Beratung im
Bundestag machen, weil es dort hingehört.
({0})
Dieses Thema beschäftigt offensichtlich viele Menschen. Möglicherweise bewegt es sie mehr als den einen
oder anderen meiner Vorrednerinnen und Vorredner. Bis
gestern Abend haben allein in der Metallindustrie mehr
als 250 000 Menschen zeitweise - bis zu zwei, drei Stunden - die Arbeit niedergelegt.
({1})
Das war eine nicht einfache Entscheidung für jeden einzelnen dieser mehr als 250 000 Menschen. Diese Menschen haben es sich nicht so einfach gemacht wie viele
von Ihnen hier. Sie haben sich sehr gut überlegt, ob sie
es für sich verantworten können, die Arbeit niederzulegen, um sich gegen das, was von Ihnen geplant wurde
und durchgezogen werden soll, zu wehren, indem sie demonstrieren und protestieren.
({2})
Diese Menschen haben eine sehr sorgfältige und gewissenhafte Entscheidung getroffen. Mehr als 250 000
Menschen haben diese Entscheidung für sich getroffen.
Ich würde Ihnen daher dringend empfehlen, sich ernsthafter und sorgfältiger mit diesen Ereignissen zu beschäftigen, als Sie es bis jetzt mit Ihren Zwischenrufen
tun.
({3})
250 000 und mehr machen von ihren demokratischen
Rechten Gebrauch. 250 000 Menschen zeigen Engagement für Sozialstaat und Demokratie.
({4})
250 000 Menschen sind ein lebendiger Gegenbeweis gegen Politikverdrossenheit.
({5})
250 000 Menschen zeigen in lobenswerter Weise ein
bürgerschaftliches Engagement - damit will ich einen
anderen Begriff einführen - durch ihre Aktivitäten.
({6})
- Ja, so einfach ist Ihre Welt; sie ist nicht schwarz-weiß,
sie ist nur schwarz.
({7})
Diese 250 000 und mehr hätten es, und zwar unabhängig von unseren sachlichen politischen Meinungsverschiedenheiten und dem Gegenstand ihrer Proteste,
zumindest verdient, dass wir ihnen für dieses Engagement - sie haben sich nicht hinter den Fernseher zurückgezogen, sondern öffentlich, während der Arbeitszeit Gesicht gezeigt
({8})
und sich engagiert - hier in diesem Haus unseren Respekt zollen.
({9})
Stattdessen wurde Hohn und Schmutz über sie ausgeschüttet, zumindest haben das einige von Ihnen gemacht.
({10})
Ich will einiges anführen: bedauerlich, unseriös, borniert, blödsinnig, unsinnig, klarer Rechtsbruch, Geiselnahme, sollten sich schämen, perfide, widerrechtlich,
versündigen sich am Volk usw.
({11})
Das waren einige Stichworte. Herr Brauksiepe, lesen Sie
sich Ihre Rede im Protokoll noch einmal durch! Ich finde
Ihre Wortwahl in keiner Weise dem angemessen, was die
Menschen mit ihrem Engagement zeigen.
({12})
Das war schlicht und ergreifend unanständig.
({13})
- Sie wissen doch, dass das, was Sie sagen, Unsinn ist.
Was schreien Sie da? Keiner der Menschen, die gestern
und vorgestern ihre Arbeit niedergelegt haben, bekommt
dafür einen Cent. Die Menschen opfern sogar Geld, um
politische Signale zu setzen.
({14})
Und was machen Sie hier?
Diese 250 000 Menschen - es werden in den nächsten
Tagen noch viel mehr werden - nehmen ihr demokratisches Recht in Anspruch, und zwar überall, im Norden,
im Süden, im Osten und im Westen.
({15})
Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen. Am
26. Januar 2007 fand in Leipzig auf dem Betriebsgelände von BMW eine Demonstration von Mitarbeitern
der dort angesiedelten Unternehmen statt. Sie haben dort
während der Arbeitszeit öffentlich demonstriert. Dass
das in Leipzig und bei BMW nicht ganz einfach ist,
weiß, wer sich in der Region ein bisschen auskennt.
Diese Menschen wissen sehr genau, was sie tun. Ich
habe bereits darauf hingewiesen, dass die Entscheidung,
zu demonstrieren, eine sehr gewissenhafte Entscheidung
ist.
Die Demonstranten haben eine Resolution verabschiedet und unsere Abgeordnete Barbara Höll gebeten,
diese Resolution der Bundesregierung zu überreichen.
Stellvertretend für diese 250 000 Menschen und die vielen anderen werde ich diese Resolution jetzt dem Herrn
Staatssekretär überreichen.
Ich bitte Sie alle, weniger in Sonntagsreden über Demokratieverdrossenheit zu reden, sondern sich ein bisschen mehr und ernsthafter mit dem bürgerschaftlichen
Engagement der Menschen zu beschäftigen, die in diesen Tagen gegen Ihre falsche Politik demonstrieren.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In den letzten Tagen haben Zehntausende Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit zeitweise
unterbrochen, um gegen die Rente mit 67 zu demonstrieren. Ich will gleich deutlich sagen: Wir kriminalisieren
die Menschen, die demonstriert haben, nicht. Sie haben
aus der Sorge heraus, dass ihre Lebens- und Altersbedingungen im Deutschen Bundestag nicht richtig gewichtet
werden könnten, gehandelt. Wir machen uns allerdings
Sorgen darüber, dass der Deutsche Bundestag selbst zu
einem Ort der Demonstration wird. Das nimmt der Debatte in dem einen oder anderen Fall die Ernsthaftigkeit.
Das will ich ganz deutlich sagen.
({0})
Ich glaube, es ist deutlich geworden, wo die Sorgen
der Menschen als Vorwand dienen, um eine Plattform zu
finden, von der aus man das Thema politischer Streik
nach vorne tragen kann.
({1})
Es geht aber nicht um den politischen Streik, sondern um
ein wichtiges sozialpolitisches Thema. Damit ist es uns
ernst. Dem stellen wir uns nicht hinter verschlossenen
Türen, sondern ich stelle mich diesem Thema in Betriebsversammlungen von Klein- und Großunternehmen,
in Gesprächen mit IG-Metallerinnen und IG-Metallern,
in Gesprächen mit Arbeitnehmerinnern und Arbeitnehmern sowie mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern auf sehr sachliche, argumentative Weise, auch wenn
das oft in einer angeheizten Atmosphäre stattfindet. Die
Demonstration aber zu nutzen, um das Thema politischer Streik nach vorne zu bringen, ist nicht nur fadenscheinig, sondern nimmt der Debatte auch ein Stück weit
die Ernsthaftigkeit.
({2})
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Wir haben Verständnis für die Menschen, die sagen, sie schaffen es nicht, bis 67 zu arbeiten, zum Beispiel, weil sie im
Dreischichtbetrieb am Band stehen. Viele von ihnen
können es sich nicht vorstellen, dass sie bis 67 am Band
arbeiten können.
Was sind denn die Forderungen? Die Menschen wollen Arbeitsplatzsicherheit. Sie wollen eine sichere Zukunft mit einer auskömmlichen Altersversorgung. Die
Menschen fürchten sich, den Belastungen nicht gewachsen zu sein. Wir lesen: Millionen Menschen haben keine
Arbeit, und die, die noch Arbeit haben, sollen länger arbeiten. Dieser Spruch klingt auf den ersten Blick eingängig und verständlich. Es soll suggeriert werden, dass die
Rente mit 67 morgen kommt. Sie kommt aber morgen
nicht; sie kommt auch übermorgen nicht. Sie kommt im
Jahr 2029. Natürlich fällt es schwer, sich heute vorzustellen, wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Jahr
2029 sein werden. Vor zwei Jahren hatten wir im Frühjahr 5,2 Millionen Arbeitslose. Zwei Jahre später, im
Jahr 2007, haben wir 4,2 Millionen Arbeitslose.
1 Million Arbeitslose weniger in zwei Jahren! Wer
hätte sich das vor zwei Jahren vorstellen können? Auch
das muss einmal gesagt werden.
({3})
Wir haben gute Aussichten. Laut der Prognosen aller
wirtschaftswissenschaftlichen Institute wird die durchschnittliche Arbeitslosenzahl in 2007 unter 4 Millionen
sinken. Wenn man sich noch nicht einmal Veränderungen für die nächsten ein bis zwei Jahre richtig vorstellen
konnte - diese haben nun stattgefunden -, wie kann man
sich dann erst Veränderungen vorstellen, die es in 2029
geben soll?
Wir haben die Aufgabe, verantwortungsvolle, nachhaltige und zukunftsorientierte Politik zu machen. Deshalb
müssen wir auf den Rat der Fachleute eingehen, die sagen: 2029 werden dem Arbeitsmarkt etwa 10 Millionen
Menschen weniger zur Verfügung stehen. Wir leben länger und müssen daher jetzt eine verantwortungsvolle,
vorausschauende Politik machen, damit wir die Lasten
der heutigen Generation nicht auf die folgenden Generationen übertragen.
Wir werden uns dem demografischen Wandel nicht
entgegensetzen können. Wir können diese Entwicklung
nicht aufhalten. Sie ist Fakt, und wir müssen schon jetzt
die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Das
heißt, wir müssen den Protest dahin lenken, wo er hingehört, nämlich in Richtung Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dazu haben wir Sozialdemokraten in der
Vergangenheit viel geleistet. Wir haben das Betriebsverfassungsgesetz reformiert und dadurch die Mitbestimmungsrechte zur Ausgestaltung menschengerechter Arbeitsbedingungen verbessert. Damit haben wir die
Voraussetzungen geschaffen, die Arbeitsbedingungen in
den Betrieben besser zu gestalten. Aber wie ernst nehmen die Arbeitgeber diese Verpflichtung? Wie wäre es,
wenn die Gewerkschaften die Arbeitgeber stärker auffordern würden, die Arbeitsbedingungen zu verändern,
zu verbessern, anzupassen? Wie wäre es, wenn die Betriebsräte stärker gefördert würden, sie fitter gemacht
würden, diese Ansprüche besser umsetzen zu können?
Hier gibt es Alternativen, die genutzt werden müssen.
Die Gewerkschaften - darum bitte ich - sollten diesen
Gestaltungsrahmen zukünftig stärker nutzen.
In der Vergangenheit haben die Arbeitgeber oft darauf
hingearbeitet, die Menschen auszupressen. Diese sind
häufig ausgebrannt; das wissen wir. Wenn wir nicht
mehr hinnehmen wollen, dass sie aus dem Erwerbsleben
hinausgedrängt und durch jüngere, leistungsfähigere
Menschen ersetzt werden, dann muss jetzt ein Umdenkungsprozess stattfinden.
({4})
Er ist immer dann dringend notwendig, wenn wir eine
Notwendigkeit der Produktivitätssteigerung erkennen.
Hierbei gibt es mehrere Alternativen. Sie ist besser erreichbar, wenn wir nicht auf Arbeitszeitverlängerung
und Arbeitsverdichtung, sondern auf nachhaltige Qualifizierung und auf mehr Weiterbildung setzen. Das
schafft Motivation. Eine humane Arbeitsgestaltung ist
aus unserer Sicht denkbar.
({5})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Wir sind für Planbarkeit
und Verlässlichkeit. Deshalb haben wir eine lange Vorlaufzeit. Wir haben einen Korridor von vier Jahren geschaffen, in dem die zukünftigen Übergangsbedingungen organisiert werden können.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Die Altersteilzeit bleibt im Rahmen der steuerlichen
Förderung erhalten. Das sollten wir gemeinsam nutzen,
damit wir einen echten Generationenvertrag, der auf Erfolg baut und belastbar ist, gestalten können.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Werte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Reform der sozialen Sicherungssysteme ist eines der
großen Anliegen der Großen Koalition. Sie ist dringend
notwendig, weil wir die sozialen Sicherungssysteme, die
wir alle schätzen und über viele Jahre und Jahrzehnte in
unserem Land erarbeitet haben, zukunftsfest gestalten
müssen. Dies bedeutet, dass angesichts der demografischen Entwicklung, die wir erleben - sie wurde heute
vielfältig dargelegt -, Neujustierungen vorgenommen
werden müssen.
Dazu zählen alle Reformen, zum Beispiel die Reform
des Gesundheitswesens, die wir morgen in diesem Hohen Haus abschließend beraten werden. Vor allen Dingen müssen wir unser Rentensystem zukunftsfest neu
ausrichten, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass die
Rente der Lohn für die langjährige Erwerbsarbeit und
die Beitragszahlungen ist, die der Einzelne erbracht hat.
Darüber hinaus muss auch darauf geachtet werden, dass
die Beitragszahler aufgrund der demografischen Entwicklung nicht über Gebühr belastet werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre im Jahre 2029 letztendlich zu sehen.
Natürlich gibt es Widerspruch, gibt es viel Kritik. Die
IG Metall und Verdi setzen sich jetzt an die Spitze derer,
die massivste Kritik vortragen. Jeder in Deutschland hat
das Recht, Kritik vorzutragen, und zwar in den verschiedensten Formen, natürlich auch in Form von Demonstrationen. Aber ich sage ganz offen: Diese politisch motivierten Streiks gehören nicht in die Betriebe!
({0})
Politisch motivierte Streiks in Betrieben sind dazu angetan, unsere bewährten staatlichen und demokratischen
Prinzipien über den Haufen zu werfen. Das ist es, was
die Linken in diesem Hause letztendlich wollen.
({1})
Vorhin hat der Kollege Dreibus davon gesprochen, an
diesen Demonstrationen hätten sich 250 000 Menschen
beteiligt.
({2})
Wie viele sind für diese Aktion der IG Metall wohl in
Zwangshaft genommen worden?
({3})
Denn wenn ein hoher Prozentsatz der Mitarbeiter nicht
mehr am Band steht, kann nicht mehr weitergearbeitet
werden, dann ist der Betrieb stillgelegt. Das kann nicht
im Sinne der Beschäftigten bei uns in Deutschland sein!
({4})
Ich glaube, dass diese Aktionen letztendlich nicht den
Menschen in unserem Land dienen. Die Unterstützung
von der linken Seite ist rein populistisch motiviert. Ihre
Partei steht in der Tradition von SED und PDS und des
sogenannten Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds, der
nur am Ersten Mai demonstrieren durfte, und lediglich
zur Huldigung der Herrscher in der ehemaligen DDR.
({5})
Da bin ich schon erstaunt, dass sich ausgerechnet Sie an
die Spitze derer stellen möchten, die für freie Meinungsäußerung bzw. das Recht, zu demonstrieren, eintreten.
Sie sind keine Vertretung für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
({6})
Der Kollege Lafontaine hat hier angeführt, dass es unbedingt des politischen Streiks bedarf, dass dieser politische Streik angeblich so erfolgreich ist.
({7})
Er hat dies begründet mit den Maßnahmen in Frankreich.
Aber man muss doch auch sehen, dass das Ergebnis dieser Streikmaßnahmen - die höchste Jugendarbeitslosigkeit in Europa - für die Jugendlichen in Frankreich erschütternd ist.
({8})
Deshalb ist es unredlich, wenn Ihre Partei in der Tradition von SED, PDS und Stasi heute versucht, sich als die
Beschützer von Freiheit und bürgerlichem Engagement
darzustellen. Dies ist den Bürgerinnen und Bürgern sicher bewusst. Denn gerade einmal 8 Prozent haben Sie
gewählt, 92 Prozent haben die anderen Parteien in
Deutschland unterstützt. Das sollte Ihnen Nachdenklichkeit gebieten.
Die Gewerkschaften kann ich nur auffordern, wieder
zu einer sinnvollen Beteiligung am demokratischen Diskussionsprozess zurückzukehren und nicht auf populistische Art und Weise letztendlich mit der Zukunft
Deutschlands zu spielen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort der Kollegin Silvia Schmidt für
die SPD-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Wie wir wissen, haben die Alterung und der Bevölkerungsrückgang Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme.
Die Folgen, die sich aus der Bevölkerungsentwicklung
für die Unternehmen ergeben, sind offensichtlich, und
sie sind von jedem verstanden worden. Wenn die Gesellschaft älter wird, dann kann die Belegschaft nicht jünger
werden.
Die Beschäftigungsquote bei uns ist zwar gestiegen;
in anderen Industrienationen wie den USA, Japan und
Schweden liegt sie aber bei über 60 Prozent. In Deutschland wird in hohem Maße menschliches Potenzial vergeben. Denn es sind die älteren Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die gehen müssen, obwohl sie hervorragende Arbeit leisten.
Statt die Kenntnis auch mancher leistungsgeminderter
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen weiterhin gewinnbringend einzusetzen, legen viele Arbeitgeber diesen wertvollen Mitarbeitern einen Rentenantrag vor oder
entlassen sie in die Arbeitslosigkeit. Davor haben die
Menschen Angst.
Daher sehen wir es als Aufgabe an, die Ausgliederung
älterer vermeintlich oder tatsächlich leistungsgeminderter Mitarbeiter aus den Betrieben zu verhindern. Wir
wollen Erwerbsfähigkeit statt Erwerbsunfähigkeit. Es
geht um Diversity und Inclusion, also um Vielfalt und
volle Eingliederung. Es geht nicht darum, Menschen zur
Arbeit zu verurteilen, sondern um Teilhabe; das heißt es
geht darum, Menschen in Arbeit zu bringen und auch zu
halten.
Es gibt durchaus positive Beispiele in der deutschen
Wirtschaft. Degussa zum Beispiel bietet betriebliche
Weiterbildung und ein Programm für lebenslanges Lernen an. Die Hamburger Hochbahn kümmert sich um ihre
älteren Mitarbeiter und bietet ihnen angemessene Arbeitsplätze an. Darüber hinaus hat sie gesundheitsfördernde Maßnahmen im Programm. Daimler-Chrysler
etabliert bereits weltweit Diversity Management, um
Vielfalt an Mitarbeitern mit Älteren, Jüngeren und Behinderten zu gewährleisten.
Mit solchen Maßnahmen trägt man auch dem demografischen Faktor Rechnung. Auch die Deutsche Telekom entwickelt bereits erfolgreich Strategien, um ältere
Mitarbeiter umfassend miteinzubeziehen. Diese Mitarbeiter fühlen sich in ihren Unternehmen ausgesprochen
wohl und möchten durchaus länger bleiben. Denn diese
Arbeit macht auch Spaß. Wenn man im Unternehmen
angenommen ist, dann macht die Arbeit Spaß.
Silvia Schmidt ({0})
Solche Möglichkeiten, die schon Unternehmen wie
Ford und Daimler-Chrysler erfolgversprechend vorantreiben, müssten auch von anderen Unternehmen in ihre
Strategie miteinbezogen werden. Es geht nicht darum,
Jüngere gegen Ältere auszuspielen, und es geht auch
nicht im Umkehrschluss um einen Zwangsausschluss
aus dem Arbeitsleben.
Ich denke, Franz Müntefering hat es treffend bemerkt:
Der Mix der Generationen in der Belegschaft ist das
beste Erfolgsrezept für ein Unternehmen. Es kommt auf
Vielfalt und vollständige Eingliederung an. Dabei gehen,
wie gesagt, die großen Weltkonzerne voran, vor allem in
den USA.
Wir haben in Deutschland bereits die besten Möglichkeiten geschaffen. Ich erinnere nur an das im Sozialgesetzbuch IX geregelte Betriebliche Eingliederungsmanagement und an das Betriebsverfassungsgesetz. Im
Betriebsverfassungsgesetz zum Beispiel geht es um altersgerechte Arbeitsplatzgestaltung. Es ist aber erschreckend, dass viele Mitarbeiter in den Unternehmen das
Betriebliche Eingliederungsmanagement, Servicestellen
und Integrationsämter nicht kennen und ihren Rechtsanspruch nicht wahrnehmen. Das ist doch der wahre
Grund, warum Menschen verunsichert sind.
Es gibt doch auch heute schon ausreichend Möglichkeiten, in der Arbeitswelt zu verbleiben. Sie werden aber
nicht genutzt. Dafür gehe ich gerne demonstrieren, um
zu zeigen, welche Möglichkeiten es gibt.
Außerdem haben wir - auch das ist, glaube ich, schon
angesprochen worden - endlich die Reha zur Pflichtleistung gemacht. Wir haben auch die betriebliche Gesundheitsförderung zur Pflichtleistung der Kassen gemacht.
Auch für die Prävention wurde einiges getan. Das alles
sind Möglichkeiten, um die Menschen länger in Arbeit
zu halten.
({1})
Es geht der Bundesregierung nicht darum, Menschen
an den Arbeitsplatz festzubinden. Es muss unser aller
Anliegen sein, darum zu kämpfen, dass die Menschen
am Arbeitsmarkt teilhaben. Dann ist auch die Rente mit
67 für alle kein Problem - ganz im Gegenteil.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Dr. Michael Fuchs für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Lafontaine, dass ich Ihnen heute zweimal zuhören
muss, ist schon eine echte Zumutung. Zweimal hier diesen Populismus zu erleben, das grenzt für mich schon
fast an Körperverletzung. Was Sie uns hier zumuten, ist
ziemlich unerhört.
({0})
Ich kann Ihnen dazu eins sagen: Als ich letzte Woche
das große Vergnügen hatte, mit Herrn Peters und den
Kollegen Stiegler und Kolb bei einer gemeinsamen
Podiumsdiskussion zu sein, da habe ich zum ersten Mal
gedacht und zu mir gesagt: Wenn du einmal im Deutschen Bundestag zu diesem Thema reden musst, dann
zitierst du Karl Marx. Das fällt mir zwar ein bisschen
schwer, und gerade bei mir ist das vielleicht auch ein bisschen ungewohnt, aber Karl Marx hat einmal gesagt:
„Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“
({1})
Dieses Bewusstsein von Herrn Peters zum Thema Rente
mit 67 zu erleben, das war schon bemerkenswert. Ich
darf ihn zitieren: Ein demografisches Problem gibt es in
Deutschland nicht. Das ist nur ein vorgeschobenes Argument.
Meine Damen und Herren, wer so etwas behauptet,
auf welchem Stern lebt der bitte! Was hat der für ein Bewusstsein? - Wahrscheinlich überhaupt keins.
({2})
Ich empfinde es als schlicht unverschämt, so etwas zu
behaupten und die Alterung der Gesellschaft nicht wahrnehmen zu wollen. Egal welche Professoren Sie nehmen, ob das Börsch-Supan, Höhn, Radermacher oder der
Amerikaner Vaupel ist, jeder hat das Problem erkannt.
Anscheinend ist das aber an der IG Metall und natürlich
auch an der sie tragenden Linken vorbeigegangen.
({3})
Das sind vernebelte Köpfe, die so etwas behaupten, um
es auf den Punkt zu bringen.
Ich habe auch Herrn Peters ins Gesicht gesagt, dass
die Aktionen der IG Metall nicht nur politischer Streik
sind, der in diesem Land Gott sei Dank nicht rechtmäßig
ist, sondern dass es unanständig ist, was Sie machen.
Um noch ein Wort hinzuzufügen, Herr Dreibus: Ich
empfinde es als unanständig, dass Sie die Kollegen von
der SPD an den Pranger stellen wollen; dass Sie Plakate
drucken lassen, wo die Kollegen dann 500 Zeilen zugesagt bekommen, in denen sie sich wehren bzw. Begründungen abgeben dürfen. Dass Sie diese Plakate dann in
den Betrieben verteilen, das empfinde ich als unanständig. Wenn Sie das nicht kapieren, tun Sie mir Leid.
({4})
So kann man mit Kollegen nicht umgehen. Ich denke
schon, dass das nicht in Ordnung ist. Das, was die IG
Metall in den Wahlkreisen aufzieht, das sollten wir uns
nicht gefallen lassen. So können wir im Deutschen BunDr. Michael Fuchs
destag nicht miteinander umgehen. Es wäre gut, wenn
auch Sie das kapieren könnten.
({5})
Diese landesweiten Proteste haben nichts mit Protesten in den Betrieben zu tun, sie sind pur politisch motiviert. Es wird purer Druck auf die Abgeordneten ausgeübt. Das lassen wir uns nicht gefallen. Gott sei Dank ist
der Deutsche Bundestag selbstbewusst genug, diese Gesetze so umzusetzen.
Es wird auch völlig unterschlagen, dass niemand bis
67 arbeiten muss, wenn er schon 45 Jahre gearbeitet hat.
({6})
Dieses ist in der Argumentation überhaupt nicht vorhanden.
Meine Damen und Herren, wir wollen doch bitte festhalten: Es gibt genügend Leute - wir haben in Deutschland die ältesten Studenten in der ganzen Welt; wir haben auch die jüngsten Rentner; Gott sei Dank sind es
noch zwei getrennte Gruppen -, die eine Lebensarbeitszeit haben, die vielleicht bei 28 oder weniger Jahren
liegt. Dass das nicht funktionieren kann, wenn die Lebenserwartung praktisch alle zehn Jahre um ein Jahr
steigt, muss doch eigentlich jedem einleuchten.
Als 1957 die Rentengesetze gemacht wurden, lag die
Lebenserwartung bei Männern bei 66 Jahren. Das entsprach im Prinzip einer Rentenbezugszeit von einem einzigen Jahr. Bei Frauen lag sie bei 71 Jahren. Heute ist sie
praktisch um zehn Jahre gestiegen. Das müssen wir doch
zur Kenntnis nehmen.
Es ist ein bisschen ungerecht, dass die Frauen eine so
wesentlich höhere Lebenserwartung haben als wir Männer. Das sollte man in diesem Zusammenhang auch einmal erwähnen dürfen.
({7})
- Wir machen kein Gesetz dazu, Herr Kollege Brandner.
Wir brauchen eine Vorbereitung der Arbeitswelt auf
längeres Arbeiten. Das heißt, dass wir keine Gesetze
mehr machen dürfen, die in Richtung Verkürzung der
Lebensarbeitszeit gehen. Frühverrentungsmaßnahmen
werden wir uns also in Zukunft nicht mehr leisten können. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer permanent weitergebildet werden, damit sie der längeren Lebensarbeitszeit
gewachsen sind; das gehört einfach dazu. Das sollten wir
in diesem Zusammenhang offen sagen. Hier wäre das
richtige Betätigungsfeld für vernünftig arbeitende Gewerkschaften.
Ich finde, es ist traurig, dass wir eine solche Debatte
führen müssen.
({8})
Wahrscheinlich haben wir von den Populisten der Linken nichts anderes zu erwarten. Wir werden uns leider
weiter mit so etwas herumschlagen müssen. Aber wir
tun es ja gerne.
({9})
Jetzt spricht Gregor Amann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von
der Linksfraktion, diese Aktuelle Stunde beantragt haben, will ich mich aufgrund meiner beschränkten Redezeit nicht sehr lange mit Ihnen befassen. Ihre politische
Taktik ist zu plump und durchschaubar. Sie malen Horrorszenarien und wollen die Menschen in Furcht und
Schrecken versetzen, genauso wie die Schlangenölverkäufer auf den mittelalterlichen Jahrmärkten. Wenn die
Menschen in Angst und Panik sind, verkaufen Sie ihnen
Ihr Schlangenöl, Ihr vermeintliches Wundermittel, das
alle Krankheiten heilen und Probleme lösen soll, das
aber in Wirklichkeit nur aus Hühnerfett und Spucke zusammengerührt ist.
({0})
Die Wahrheit ist: Der Verkauf dieses Schlangenöls hilft
nur Ihnen. Sie sind die politischen Schlangenölverkäufer
von heute.
({1})
Sehr ernst nehmen wir Sozialdemokraten dagegen die
Gewerkschaften. Sie sind eine unersetzliche Stütze unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Ohne starke Arbeitnehmervertreter und Betriebsräte sowie ohne den gemeinsamen Kampf von Sozialdemokraten und
Gewerkschaften hätten wir heute wahrscheinlich noch
Arbeitsbedingungen, wie sie einst Marx und Engels beschrieben haben und wie sie im Übrigen heute noch in
manchen Ländern existieren. Ohne starke Gewerkschaften hätten wir heute wahrscheinlich keine Mitbestimmung in Deutschland, einer der Erfolgsfaktoren unseres
Wirtschaftssystems. Ohne starke Gewerkschaften sowie
den gemeinsamen Kampf von Sozialdemokraten und
Gewerkschaften wäre Deutschland wahrscheinlich nicht
so wohlhabend, wie es heute ist. Deswegen betrübt es
mich nicht nur, sondern macht mich auch nachdenklich,
wenn Zehntausende Gewerkschafter auf die Straße gehen und an Arbeitsniederlegungen gegen eine Politik
teilnehmen, die wir Sozialdemokraten mitinitiiert haben,
für die wir mitverantwortlich sind. Wie gesagt, ich
nehme diese Proteste sehr ernst.
Die Argumente für die Rente mit 67 sind bekannt
- sie wurden mehrfach genannt -: längere Rentenbezugsdauer und Rückgang der Geburtenrate. Weil wir zukünftigen Generationen keine unzumutbaren Beitragssätze und Steuerlasten aufbürden wollen, ist es richtig
und notwendig, das Renteneintrittsalter langfristig auf
67 anzuheben. Die Gewerkschaftsproteste sind deshalb
paradoxerweise ein Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften. Denn die Gewerkschaften sind heute in einer
schwierigen Lage: Auf der einen Seite schwächt der
Globalisierungsdruck ihre Kampfkraft. Auf der anderen
Seite führen gerade ihre historischen Erfolge dazu, dass
viele Menschen die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Mitgliedschaft nicht mehr erkennen, weil sie glauben, die mühsam erkämpften Erfolge seien selbstverständlich, und vergessen, dass Solidarität immer wieder
neu gelebt werden muss. In dieser schwierigen Lage der
Gewerkschaften konnten einige Gewerkschaftsführer
- ich sage bewusst nicht: alle - der Versuchung des
Populismus nicht widerstehen. Sie benutzen den Unmut
über die Rente mit 67 - dass er vorhanden ist, gebe ich
zu; ich sage selbstkritisch, dass wir vielleicht nicht genügend Zeit darauf verwendet haben, es zu erläutern -, um
Kampfeskraft und Stärke vorzutäuschen. Aber die Gewerkschaften kämpfen hier an der falschen Front.
Wir brauchen starke Gewerkschaften für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, damit Menschen mit 55
nicht kaputt sind. Wir brauchen starke Gewerkschaften
für Fort- und Weiterbildung für Junge und Alte in und
mit den Unternehmen. Wir brauchen starke Gewerkschaften für den Mentalitätswandel in der Gesellschaft,
damit nicht nur Kraft und Schnelligkeit der Jungen, sondern auch die Erfahrung und die Weisheit der Älteren
Anerkennung und Verwendung finden. Und wir brauchen Gewerkschaften für gute Tarifabschlüsse. Ich will
diejenen, die immer von Rentenkürzung reden, daran erinnern, dass das Rentenniveau unmittelbar an die Lohnhöhe gekoppelt ist. Wer hohe Renten möchte, muss für
hohe Lohnabschlüsse sorgen. Bei all diesen Kämpfen
finden die Gewerkschaften die SPD auf ihrer Seite.
Lasst uns den Menschen nicht Angst einjagen, sondern stellen wir uns den Herausforderungen unserer Zeit,
so wie unsere Väter und Mütter sich erfolgreich den Herausforderungen ihrer Zeit gestellt haben.
({2})
Zum Abschluss der Aktuellen Stunde gebe ich das
Wort dem Kollegen Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Lafontaine, Herr Kollege Dreibus,
das, was Sie hier betrieben haben, war aus meiner Sicht
ein absolut untauglicher Versuch zu verschleiern, dass
Sie auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen
in unserem Lande keine, aber auch gar keine Antwort
haben.
({0})
Lafontaine kommt in der Aktuellen Stunde zum Thema
„Protestaktionen der Gewerkschaften zur Heraufsetzung
des Rentenalters“ daher und erzählt uns etwas über die
Möglichkeiten des politischen Streiks.
({1})
Herr Dreibus kommt daher und erzählt uns etwas von einem außerordentlichen bürgerschaftlichen Engagement.
({2})
Zu dem Hintergrund, warum die Kolleginnen und Kollegen motiviert worden sind, auf die Straße zu gehen, und
dazu, wie man diese Probleme diskutieren und lösen
kann, haben weder Lafontaine noch Dreibus einen einzigen Satz gesagt.
({3})
Die Linksfraktion macht das, was sie schon bei anderen
Themen immer wieder gemacht hat: Sie nutzt nicht nur
die Ängste der Menschen, sondern sie schürt die Ängste
der Menschen aus purem Populismus, aus parteipolitischem Interesse.
({4})
Herr Lafontaine, man kann den Kolleginnen und Kollegen - auch ich bin selbstverständlich Gewerkschaftsmitglied - die richtigen Fragen stellen: Wie verhält es
sich denn mit der Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Warum lassen wir alle
- ich sage: alle - zu, dass Menschen durch die Arbeit kaputt gemacht werden? Wieso lassen wir das zu? Wir
haben den Gewerkschaften viele Möglichkeiten
eingeräumt, zuletzt mit der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Was machen wir denn mit diesen
Möglichkeiten in den Betrieben, um die Kolleginnen
und Kollegen davor zu schützen, dass sie von der Arbeit
kaputt gemacht werden?
({5})
Wo weisen wir Verantwortung zu? Genau diesen Weg
müssen wir beschreiten. Wir stellen zumindest die richtigen Fragen. Ob die Antworten richtig sind, werden wir
am Ende sehen.
Ich glaube, die Rente mit 67 ist eine Antwort; denn es
gibt zurzeit nur drei Stellschrauben: Beiträge, Steuerzuschuss oder Rentenhöhe.
({6})
- Sie reden wieder über gesellschaftliche Umverteilung.
Die müssen Sie zunächst einmal möglich machen. So
einfach ist dieses Spiel nicht. Wir sind kein isolierter
Markt, sondern wir bewegen uns auf einem internationalen, globalisierten Markt.
({7})
Das ist nicht so einfach, wie Sie es darstellen. Aber der
Weltökonom Lafontaine müsste eigentlich auch Ihnen,
Herr Dreibus, erklären können, dass es so einfach nicht
ist.
({8})
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass nur drei Stellschrauben zur Verfügung stehen, dann ist es vor dem
Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft und weniger nachrückender junger Menschen die beste Lösung
- auch im Sinne der Betroffenen -, das Renteneintrittsalter moderat und planbar anzuheben, damit die Renten
nicht dauerhaft gekürzt werden müssen und die nachfolgenden Generationen nicht überfordert werden.
Sie sind immer noch die Antworten auf Fragen schuldig geblieben, die in vorherigen Debatten zur Rente
mit 67 gestellt worden sind. Ich habe Ihnen das Beispiel
genannt. Jemand, der im letzten Jahr geboren wurde, hat
eine gute Chance, deutlich über 90 zu werden. Die ersten
20 Jahre ist er in Schule, Ausbildung oder Qualifizierung.
Und dann sagen Sie, man solle sie frühestmöglich in
Rente gehen lassen - mit 60, mit 63, mit 65. In der Zwischenzeit müssen immer weniger Menschen das verdienen, was andere dann - wohlverdient - konsumieren.
Die Rechnung wird schlichtweg nicht aufgehen. Es kann
nicht sein, dass die Hälfte des Lebens nichts erwirtschaftet, sondern nur etwas konsumiert wird - auch wenn es
berechtigt ist -, während auf der anderen Seite die Menschen, die es erwirtschaften, immer weniger werden.
({9})
Die Rechnung geht schlichtweg nicht auf.
({10})
Sie liefern überhaupt keine Antworten auf die Fragen,
die Herausforderungen gesellschaftlicher Art sind. Sie
stellen sich populistisch hin, nehmen Protest auf, schüren die Ängste der Menschen und liefern definitiv - auch
heute wieder - keine Antwort. Sie sind eindeutig entlarvt: Sie haben versucht, davon abzulenken, dass Sie zu
der Frage der Demografie überhaupt keine Antwort haben.
({11})
Sie stellen sich in die Reihe derer, die die demografische
Entwicklung der Gesellschaft sogar leugnen - was für
eine Ironie.
Meine Damen und Herren, die Frage der Rente mit 67
ist in der Sozialdemokratie nicht unstrittig, ohne jeden
Zweifel. Ich denke, wir haben in den Verhandlungen
gute, tragbare Ergebnisse erzielt, was die Frage der Erwerbsminderung und was die Frage des flexiblen Zugangs angeht. Wenn Sie noch einmal genau hingeschaut
hätten - aber Sie interessiert ja der Inhalt des Gesetzes
überhaupt nicht, das ist mir schon völlig klar
geworden -, dann hätten Sie auch die Vorbehaltsklausel
gesehen, die im Gesetzentwurf steht. Danach ist nämlich
völlig klar, dass, wenn die Beschäftigungssituation für
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht deutlich besser wird, im Jahre 2010 entschieden werden
muss - da haben wir uns mit dem Gesetzentwurf selbst
in die Pflicht genommen -, ob die Rente mit 67 überhaupt machbar ist. Aber das interessiert Sie überhaupt
nicht. Sie ignorieren auch diesen Bestandteil des Gesetzentwurfs, wie übrigens - leider Gottes - auch die Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften.
Ich nenne noch einen Punkt, der mir sehr wichtig ist.
Wir werden eine ausführliche Debatte über flexible Zugänge in die Altersrente brauchen. Ich halte die Altersteilzeit nach wie vor für eine der zentralen Möglichkeiten, flexibel und sozial verträglich in die Altersrente zu
gehen. Wir sollten uns, nachdem wir das Verfahren abgeschlossen haben, im Rahmen der Koalition noch einmal zusammensetzen und das Thema Altersteilzeit vernünftig miteinander diskutieren, um zu schauen, ob wir
nicht vernünftige, richtige Lösungen für die Betriebe,
aber vor allen Dingen auch für die beschäftigten Menschen erreichen können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({12})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({0}), Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen
- Drucksache 16/3542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Dr. Karl Addicks, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen
ächten und bekämpfen
- Drucksache 16/3842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Monika Knoche, Petra
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Weibliche Genitalverstümmelung verhindern Menschenrechte durchsetzen
-Drucksache 16/4152 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die
Grünen.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zehn Jahren hatte die grüne Bundestagsfraktion das
Thema weibliche Genitalverstümmelung erstmals mit einer großen Anhörung auf die politische Agenda gesetzt.
Damals haben wir ein gesellschaftliches Tabu gebrochen. Aus unserem kurz darauf folgenden Antrag wollte
die Bundestagsverwaltung den Ausdruck Genitalverstümmelung ausdrücklich herausstreichen; sie hielt ihn
für unzumutbar. Wir haben uns dann doch durchgesetzt.
Heute ist nicht nur die Bundestagsverwaltung ein großes
Stück weiter.
Damals wurde uns von der „taz“ die Einmischung in
fremde Kulturen vorgeworfen; sie sprach von „westeuropäischer Überheblichkeit“. Dabei hatten 1995 auf der
Weltfrauenkonferenz in Peking afrikanische Frauen
selbst gefordert, Genitalverstümmelung als ein gesundheitspolitisches Problem und als eine Menschenrechtsverletzung anzuprangern. Im Gegensatz zu vielen europäischen Wohlmeinenden wussten sie nämlich, dass die
profane Begründung für diese grausame Praxis nichts
anderes ist als männlicher Kontrollanspruch über die
weibliche Sexualität.
({0})
Ich denke, darin ist sich der gesamte Bundestag heute
einig: Die Zeiten, in denen Menschenrechtsverletzungen
an Frauen als Ausdruck einer bestimmten Kultur oder
Religion von unserer Gesellschaft, ja auch von vielen in
diesem Hause für hinnehmbar gehalten wurden, sind ein
für alle Mal vorbei.
({1})
Übrigens hat auch eine angesehene islamische Instanz, der Großmufti von al-Azhar, weibliche Genitalverstümmelung kürzlich zu einem strafbaren Verbrechen
erklärt, das gegen die höchsten Werte des Islam verstößt.
So viel zur Religion.
({2})
Aber manche im Bundestag machen es sich immer
noch sehr bequem: Sie prangern die Menschenrechtsverletzungen an Frauen zwar an, tun aber wenig, um diesen
auch tatsächlich zu helfen. Jahrelang haben sich Union
und zunächst auch Teile der SPD geweigert, die weibliche Genitalverstümmelung als eigenständigen Asylgrund anzuerkennen. Erst in den Verhandlungen über
das Zuwanderungsgesetz konnten wir Grüne uns endlich
durchsetzen. Vorher wurden zahlreiche Mädchen und
Frauen - Menschenrechtsverletzung hin oder her - wieder dorthin zurückgeschickt, wo ihnen die grausame Praxis drohte, die immerhin für jede zehnte Frau den Tod
bedeutet, für die anderen meist lebenslange Qualen. Sie
wissen, weltweit sind circa 130 Millionen Frauen an ihren Genitalien verstümmelt; täglich kommen 6 000 bis
8 000 neue hinzu.
Genitalverstümmelung ist inzwischen aber auch zu
einem deutschen Problem geworden: Schätzungen zufolge leben bei uns 30 000 Mädchen und Frauen, die davon betroffen oder bedroht sind. Viele Eltern, die durch
Migration und Flucht nach Europa gekommen sind, werfen den Glauben daran, dass diese grausame Praxis für
ihre Töchter biologisch oder sozial notwendig ist, hier
einfach nicht über Bord. Die Mädchen werden zum
Zweck der Verstümmelung häufig ins Ausland verbracht. Wir wissen, dass solche Verstümmelungen aber
auch in Deutschland vorgenommen werden, teilweise
unter Beteiligung medizinischen Personals, und das
müssen wir verhindern.
({3})
Dazu müssen wir weitere konsequente Maßnahmen
ergreifen. Andere europäische Staaten haben es uns bereits vorgemacht, und die Vereinten Nationen empfehlen
es auch: Wir wollen, dass die weibliche Genitalverstümmelung explizit in das Strafgesetzbuch aufgenommen
wird, und zwar als Tatbestand der schweren Körperverletzung; denn um eine solche handelt es sich bei dieser
grausamen Praxis.
Oftmals sind die Eltern zugleich auch die Täter.
Kommt es tatsächlich zu einer Ausweisung der Eltern,
muss natürlich sichergestellt werden, dass das Opfer
selbst nicht ausreisen muss. Selbstverständlich reicht ein
ausdrückliches Verbot nicht aus. Wir müssen flächendeckend darüber informieren. Aber auch die Betroffenen
müssen wissen, welch schwere seelische und körperliche
Schäden sie ihren Töchtern zufügen. Ganz wichtig dafür
ist die Schulung gerade ihrer potenziellen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Das sind zunächst Ärztinnen und Ärzte, zu denen die Mädchen und Frauen in
die Sprechstunde kommen. Das Thema Genitalverstümmelung muss daher Eingang in die medizinische Ausund Fortbildung finden. Ärzte müssen wissen, dass sie
ihre Approbation verlieren können, wenn sie eine solche
Verstümmelung vornehmen,
({4})
selbst dann, wenn die Patientin einwilligt. Das ist nämlich unwirksam.
Die neuen Empfehlungen der Bundesärztekammer
begrüßen wir ausdrücklich als eine gute Grundlageninformation. Ich finde aber, sie sollten noch einmal daraufhin evaluiert werden, ob sie nicht noch detailliertere Informationen enthalten müssten.
Fortbildung und Sensibilisierung brauchen aber
auch Strafverfolgungsbehörden, Polizei und Justiz, Lehrer und Lehrerinnen, Sozialarbeiter und viele andere, um
die strafrechtliche Verfolgung zu verbessern und Hinweise auf eine möglicherweise drohende Genitalverstümmelung frühzeitig zu erkennen.
Auf internationaler Ebene muss die Bundesregierung
sicherstellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelung in großem Maße stattfindet - ich nenne das Land
Mali -, weder durch deutsche Behörden noch durch die
EU als sogenannte sichere Herkunftsländer eingestuft
werden.
({5})
Natürlich muss sie sich auch für entsprechende Projekte
in der Entwicklungszusammenarbeit einsetzen. Frau
Ministerin Wieczorek-Zeul hat heute Morgen schon gesagt, dass sie das machen will. Das finde ich sehr gut.
Auch der Einsatz für Bildung und wirtschaftliche
Unabhängigkeit von Frauen ist zugleich ein Einsatz
für die Bekämpfung von Gewalt und von Menschenrechtsverletzungen gegen sie. Ich freue mich, dass die
beiden anderen Oppositionsfraktionen auf unsere Initiative hin ebenfalls Anträge eingebracht haben, auch wenn
die Linke kaum substanzielle Forderungen aufstellt und
die FDP vor allem eine Reihe von Prüfaufträgen vergibt.
Ich sage ausdrücklich: Wir finden den Antrag der FDP,
zu überprüfen, ob hier nicht das Weltrechtsprinzip gelten kann, richtig.
Schade ist, dass sich die Bundesregierung bisher noch
gar nicht geäußert hat, was sie tun möchte, um den
Schutz der Frauen und Mädchen zu verbessern. Bei diesem Thema sollten wir alle zusammenarbeiten: Regierung und Opposition, Bund und Länder. Wir Grüne sind
auf jeden Fall zu einem gemeinsamen Vorgehen bereit.
Lassen Sie uns möglichst bald darüber reden, welche
Maßnahmen wir gemeinsam ergreifen können, um den
Frauen zu helfen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile Michaela Noll für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Es muss aufhören, endlich aufhören.“ Diese Worte
stammen nicht von mir, sondern von Waris Dirie, der
UNO-Sonderbotschafterin, die den Kampf gegen Genitalverstümmelung schon vor einigen Jahren aufnahm.
„Es muss aufhören, endlich aufhören.“ Das ist eine Aufforderung an uns. Hier sind wir als Politiker gefordert.
Heute sprechen wir über die verschiedenen Anträge
der Oppositionsfraktionen, in denen es um diese traurige
und abscheuliche Form der Menschenrechtsverletzung
geht. Das, was Frau Kollegin Schewe-Gerigk sagte, ist
richtig: Es gibt mittlerweile 150 Millionen Opfer der
Verstümmelung. Ich denke, die Dunkelziffer ist noch
viel höher. Um sich die Dimension, um die es geht, vorstellen zu können: 150 Millionen Betroffene, das entspricht der kompletten Bevölkerung Frankreichs und
Deutschlands. Es sind nicht nur Frauen betroffen, sondern auch Mädchen in der Pubertät und mittlerweile sogar Säuglinge im Alter von sechs bis sieben Tagen.
15 Prozent der Mädchen sterben sofort, 20 Prozent sterben kurze Zeit später an den Folgen der Genitalverstümmelung. Diese Art der Verstümmelung ist durch nichts
zu rechtfertigen, weder durch kulturelle noch durch religiöse Gründe. Es gibt keine Religion, die sie vorschreibt.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, jetzt muss ich Sie persönlich ansprechen: Auf der einen Seite haben Sie gesagt, dass Sie mit uns gemeinsam etwas auf den Weg
bringen wollen. Wir waren schon einmal so weit: Im
Jahre 1998 haben wir im Deutschen Bundestag über alle
Fraktionsgrenzen hinweg einen gemeinsamen Antrag erarbeitet. In der 14. Legislaturperiode haben wir einen
Antrag eingebracht, den Sie leider abgelehnt haben. In
der 15. Legislaturperiode haben wir erneut einen Antrag
eingebracht, den Sie auf die lange Bank geschoben haben. Reichen Sie uns doch bitte einmal auf faire Art und
Weise die Hand. Bei diesem Thema sollte die Parteipolitik wirklich nicht zu Streit führen.
({0})
Wir sollten uns fragen: Was hilft tatsächlich? Auf internationaler Ebene ist bereits eine Menge geschehen.
Die Bundesregierung ist sehr aktiv. Wir haben eine konsequente Informationspolitik verfolgt. Trotzdem muss
man sagen: Es ist noch nicht so gut, als dass man nicht
noch etwas verbessern könnte.
Sie haben recht: Mittlerweile gibt es deutliche Hinweise darauf, dass diese Taten auch in Deutschland geschehen. Hierzulande gibt es circa 30 000 Opfer. Richtig
ist: Die Ärzte haben meiner Meinung nach eine Schlüsselrolle, weil sie diejenigen sind, die im direkten Kontakt
zu den Frauen stehen.
Im Jahre 2005 hat der Berufsverband der Frauenärzte
zusammen mit UNICEF und Terre des Femmes eine
Umfrage durchgeführt. 500 Ärzte haben sich daran be7850
teiligt. 43 Prozent von ihnen haben berichtet, dass sie
Frauen mit solchen Verstümmelungen bereits behandelt
haben. Viele von ihnen haben gesagt, dass sie sich überfordert fühlen. Es ist wichtig, dass wir die Ärzte informieren und sensibilisieren. Ich bin der Bundesärztekammer dankbar, dass sie reagiert und eine Empfehlung
veröffentlicht hat, die wir nun in allen Gremien bekannt
machen müssen.
Nun komme ich zum Antrag der FDP, die Folgen der
Einführung einer Meldepflicht zu prüfen. Einerseits
sage ich als Juristin: Es könnte sein, dass wir mit verfassungsrechtlichen Bedenken rechnen müssen, Stichwort:
Berufsausübungsfreiheit. Andererseits müssen wir uns
fragen: Ist die Einführung einer Meldepflicht zielführend? Können wir den Frauen dadurch tatsächlich helfen? Vielleicht tauchen die Frauen, wenn eine Meldepflicht existiert, eher unter, und es passiert das, was
Waris Dirie in ihrem Buch „Schmerzenskinder“ schreibt:
Heute weiß ich, dass Genitalverstümmelung auch
in jedem europäischen Land stattfindet. Wer es sich
leisten kann, bringt seine Töchter in Nobelkliniken
oder zum Privatarzt. Wer weniger Geld hat, lässt
den grausamen Job im Hinterhof erledigen oder
schickt die Kinder in den Ferien nach Afrika, damit
Oma sich darum kümmert.
Wir wollen nicht, dass die Frauen zu schlecht ausgebildeten Personen gehen oder in ihre Herkunftsländer
gebracht werden. Listen von Verstümmlern werden in
dieser Community mittlerweile unter der Hand weitergegeben; so ist es zumindest in Frankreich. Daher müssen
wir uns fragen: Ist die Einführung einer Meldepflicht
wirklich ein gangbarer Weg?
Ich glaube, dass Gesetze allein nicht überzeugend
sind. In vielen afrikanischen Ländern ist die Genitalverstümmelung bereits unter Strafe gestellt. Die Verbesserung der sozialen Lage und der Bildung der Frauen ist
wichtig. Aber wir müssen auch die Männer in den Blick
nehmen. Denn die Männer sind diejenigen, die in diesen
Ländern die Gesetze erlassen. Die Männer sind die religiösen Führer, die auf Einhaltung der Tradition beharren.
Die Männer sind diejenigen, die eine nicht verstümmelte
Frau als Braut ablehnen, weil sie als unrein oder als Hure
gilt.
Gestern hatte ich Gelegenheit, mit einem afrikanischen Mann zu sprechen. Er bestätigte mir: In den Dörfern predigen die religiösen Führer nach wie vor, dass
ein Geschlechtsakt mit einer unverstümmelten Frau eine
potenzielle Gefährdung für jeden Mann darstellt und
dass die Kinder bei der Geburt versterben, wenn die Frau
vorher nicht verstümmelt war. - Solange mit diesen
Ängsten gearbeitet wird, werden wir auch international
wenig bewegen.
Ich bin natürlich froh, dass in Kairo mittlerweile diese
Sitzung stattgefunden hat. Es kann sein, dass das, was
die islamischen Gelehrten gesagt haben, eine Signalwirkung hat. Diese Botschaft muss aber erst einmal in
28 Ländern auch verbreitet werden. Erst dann haben wir
wirklich einen Anfang gemacht. Wir müssen die Menschen vor Ort aber auch in die Lage versetzen, Traditionen und Normen kritisch zu analysieren und zu hinterfragen. Solange in den Dörfern Prediger aufstehen und
das, was sie sagen, mangels Bildung unkritisch geglaubt
wird, weil man es nicht besser weiß, können wir meiner
Meinung nach auf internationaler Ebene zwar alles versuchen, aber wir werden scheitern.
Manchmal hat es geholfen - kleine Projekte sprechen
da für sich -, Männern vor Ort einfach einen Film über
Genitalverstümmelung zu zeigen. Sie kehrten daraufhin
von der Praxis ab, und in ihrer Dorfgemeinschaft wurde
dieses grausame Ritual einfach nicht mehr praktiziert.
Ich glaube, solche Projekte sind zielführend. Gesetze alleine werden nicht reichen.
Ich bitte noch einmal alle Kolleginnen und Kollegen,
die hier sitzen: Lassen Sie uns keinen parteipolitischen
Streit führen. Es geht um die Sache. Diese Frauen brauchen die Solidarität aller Menschen.
({1})
Wir müssen nur schauen, welchen Weg wir gehen. Er
muss tatsächlich zielführend sein.
Ich schließe jetzt mit meinem Eingangssatz: Es muss
aufhören, endlich aufhören. Helfen Sie bitte alle mit!
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Laut
WHO leben weit über 100 Millionen Frauen weltweit,
deren Genitalien verstümmelt wurden. In Deutschland
leben circa 30 000 von Genitalverstümmlung betroffene
oder bedrohte Frauen, so die Bundesregierung in ihrer
Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom
Mai 2006. Die Genitalverstümmelung von Frauen und
Mädchen ist also ein Tatbestand, der auch uns in
Deutschland betrifft. Die Dunkelziffer ist hoch.
Die Verstümmelung der weiblichen Genitalien wird
seit der Vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking im
Jahre 1995 weltweit als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung geächtet. Frauen werden körperlich
schwer verletzt, ihre Gesundheit wird dauerhaft geschädigt und ein menschenwürdiges Leben ist oftmals kaum
mehr möglich. Häufig sterben die Frauen an den Folgen
dieser Tortur.
Das zentrale Problem ist nach meiner Einschätzung
aber die frühe und sich lebenslang auswirkende Traumatisierung von Mädchen und Frauen, die von Generation zu Generation weitergereicht wird und den Frauen
ein selbstbestimmtes Leben unmöglich macht. Die genitale Verstümmelung stellt einen besonders drastischen
menschenrechtswidrigen Auswuchs von Gewalt gegen
Frauen dar.
({0})
Der Deutsche Bundestag hat sich immer wieder mit
diesem Thema beschäftigt. Es ist dringend nötig, der
Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Prävention
abzuverlangen. Neben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit müssen wir auch Fragen der Prävention
im Inland und auf europäischer Ebene beantworten. Die
Aufklärung aller, die mit betroffenen oder bedrohten
Frauen und Mädchen in Kontakt kommen können, ist
geboten. Mitarbeiter von Beratungsstellen für Migrantinnen, Ärzte, Hebammen, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Polizeibeamte und Mitarbeiter der Jugendbehörden, Strafrichter und Familienrichter, kurz, alle, die
mit der Problematik in Berührung kommen, müssen Informationen über den sensiblen Umgang mit betroffenen
Frauen und mit diesem Thema erhalten.
Die Bundesärztekammer hat Richtlinien verabschiedet, mit denen die gravierenden gesundheitlichen
und psychischen Folgen drastisch beschrieben werden,
jegliche Beteiligung von Ärzten berufsrechtlich untersagt wird und psychosoziale Beratungsstellen, die kompetent in diesem Konfliktfeld beraten können, gefordert
werden. Vorbildlich ist die Öffentlichkeitsarbeit von
Nichtregierungsorganisationen, wie Plan International,
Terre des Femmes und Intact zusammen mit der GTZ,
um nur einige zu nennen.
In Fachkreisen wird die ausdrückliche Strafbarkeit
gefordert, weil man sich davon eine größere Handhabbarkeit und generalpräventive Wirkung verspricht. Die
FDP-Fraktion hält eine solche explizite Strafbarkeit
durch Aufnahme in den § 226 StGB eher für symbolisch
als für sachlich gerechtfertigt, da eine Strafbarkeitslücke
für im Inland begangene Genitalverstümmelungen nicht
besteht. Darüber hinaus bestimmt § 228 StGB, dass die
Tat selbst bei Einwilligung des Opfers rechtswidrig
bleibt. Auch wenn die Tat in Deutschland vorbereitet
und anschließend im Ausland durchgeführt wird, ist eine
Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht möglich. Die
Vorbereitungshandlung bestimmt den Tatort, sodass
nach § 9 Abs. 1 StGB eine Inlandstat vorliegt.
Gleichwohl ist wegen der gravierenden Menschenrechtsverletzung, die die Genitalverstümmelung darstellt, durchaus zu überlegen, ob es geboten ist, sie in das
Weltrechtsprinzip aufzunehmen. Das würde bedeuten,
dass ein nationales Gericht für das Strafverfahren gegen
eine Person zuständig ist, die eines schwerwiegenden internationalen Verbrechens beschuldigt wird. § 6 StGB
zählt dazu unter anderem den Menschenhandel. Hier
kann man durchaus von einer Gleichwertigkeit des Unrechts sprechen.
Zu überlegen ist auch, ob die Genitalverstümmelung
im Straftatenkatalog des § 5 StGB zu berücksichtigen
ist, der diejenigen Taten enthält, bei denen das deutsche
Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts, also auch
für Taten, die im Ausland begangen werden, gilt.
Die rechtssystematisch richtige Einfügung muss
Thema einer Anhörung in den zuständigen Parlamentsausschüssen sein. Die FDP-Fraktion wird eine solche
Anhörung beantragen.
Wir sind uns dessen bewusst, dass ein langer, vielleicht auch schwieriger Weg, mit vielen Abstimmungsnotwendigkeiten nicht zuletzt auf internationaler Ebene,
vor uns liegt. Allein, die Auffassung der Bundesregierung, ein erhöhter Schutz vor Genitalverstümmelung sei
durch die Aufnahme in das Weltrechtsprinzip nicht zu
erwarten, kann als Grund für die Ablehnung nicht ausreichen.
Ich hoffe, dass alle im Bundestag vertretenen Fraktionen den Handlungsbedarf erkennen und dass wir uns gemeinsam aufmachen, um vielfältige Aktivitäten zur Bekämpfung und Ächtung der Genitalverstümmelung zu
beschließen und die Bundesregierung in die Pflicht zu
nehmen.
({1})
Jetzt spricht Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahlen, die heute hier schon mehrfach genannt worden sind, sind schrecklich. Etwa 150 Millionen Frauen
sind weltweit von Genitalverstümmelung betroffen. Jeden Tag müssen etwa 6 000 Mädchen diese Qual erleiden.
Ich möchte nicht über die schrecklichen Einzelheiten
dieser in weiten Teilen Afrikas gebräuchlichen qualvollen Riten sprechen. Insbesondere seit der Lektüre des
Buches „Wüstenblume“ von Waris Dirie steigen vor mir
aber immer wieder die Bilder der kleinen Mädchen auf,
die, festgehalten und geknebelt, eine schreckliche, ihr
ganzes weiteres Frauenleben bestimmende Prozedur
über sich ergehen lassen müssen, weil es eben so Sitte ist
und zum Frausein dazugehört. Bildung und Wissen spielen bestimmt eine große Rolle; denn die Eltern tun das
sicherlich nicht aus Grausamkeit; sie wollen das Beste
für ihr Kind; sie wollen, dass es in der Gesellschaft des
Heimatlandes seinen Platz findet.
Viele Mädchen wie die Schwester und die Cousinen
der Autorin von „Wüstenblume“ überleben die Entfernung ihrer äußeren Geschlechtsorgane nicht. Aber auch
Geburten können für beschnittene Frauen zu einem Lebensrisiko und jeder Geschlechtsverkehr kann zu einer
Vergewaltigung werden.
Alle Fraktionen dieses Hauses beschäftigen sich seit
vielen Jahren mit dem Phänomen; das ist schon angesprochen worden. Ich kann mich daran erinnern, dass
wir 1998 gemeinsam einer Entschließung zugestimmt
haben. Seit wir - Sie, Frau Schewe-Gerigk, und ich - im
Parlament sind, ist dies ein Thema, das im Endeffekt immer einvernehmlich behandelt worden ist. Ich darf auch
an die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion aus
der 14. Legislaturperiode erinnern. Damals wie heute
beschäftigen wir uns aus frauen-, menschenrechts- und
Angelika Graf ({0})
entwicklungspolitischer Sicht mit diesem Thema und
fragen uns: Wie können wir dazu beitragen, dass diese
steinzeitliche Methode der Ausübung von Macht über
Frauen von der Erde verschwindet?
Den Part der Entwicklungspolitik wird meine Kollegin Riemann-Hanewinckel und die frauenpolitischen
Aspekte die Kollegin Gradistanac darstellen.
Ich möchte mich mit der Situation in Deutschland
befassen. Die Arbeitsgruppe „Menschenrechte und Humanitäre Hilfe“ der SPD-Bundestagsfraktion hat diese
Woche die Gelegenheit gehabt, mit Frau Dr. Goesmann
von der Bundesärztekammer darüber zu sprechen.
Schätzungen zufolge leben - auch diese Zahl ist schon
genannt worden - etwa 30 000 Frauen und Mädchen aus
den entsprechenden Herkunftsländern in Deutschland,
die entweder bereits beschnitten oder von einer derartigen Verstümmelung bedroht sind. Gynäkologen, Hausärzte, aber auch Psychologen, die sich mit einer solchen
Beschneidung konfrontiert sehen, stehen oft hilflos vor
dieser Situation. Oft ist es eine Notfallversorgung, sei es
nun, weil eine Geburt bevorsteht, weil starke gesundheitliche Beschwerden akut behandelt werden müssen oder
weil sich bei einem Mädchen, welches verstümmelt aus
den Ferien im Herkunftsland zurückkehrt, eine entsprechende Komplikation einstellt. Wir müssen, zusammen
mit der Ärztekammer und den NGOs, die in diesem Bereich arbeiten, wie Terres des Femmes, dafür sorgen,
dass das Thema aus dem Tabubereich herausgeholt wird
und Einzug in die Aus- und Weiterbildung der Ärzte
findet.
({1})
Darauf hat bereits 1996 der 99. Deutsche Ärztetag hingewiesen.
Die im April 2006 von der Gesundheitsministerin und
der Ärztekammer vorgestellten „Empfehlungen zum
Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung“, die ständig weiterentwickelt werden - das
ist also nichts Statisches -, bieten jedenfalls eine gute
Grundlage für solche Diskussionen. Auch wenn es zurzeit noch keinen Fall einer Verurteilung wegen Durchführung einer solchen Verstümmelung gibt, muss, auch
wegen der hartnäckigen Gerüchte, dass es selbstverständlich in Deutschland in den entsprechenden Communities solche Prozesse geben könnte, darauf hingewiesen werden, dass es sich nach unserem geltenden
Strafgesetzbuch hierbei meist um eine schwere oder gefährliche Körperverletzung handelt.
Mit dem Strafrechtsparagrafen ist es jedoch sicherlich
nicht getan. Die Zahlen sagen uns, wir müssen in
Deutschland die Genitalverstümmelung noch stärker
thematisieren und von Genitalverstümmelung bedrohte
Mädchen und ihre Eltern erreichen. Wir müssen die
möglichen Ansprechpartner vor Ort für das Problem sensibilisieren, damit diese eine mögliche Gefährdung erkennen bzw. bei bereits erfolgter Genitalverstümmelung
Hilfe leisten können. Dazu gehört die Vermittlung von
Wissen über diese Tradition und auch über deren Strafbarkeit bei Ärzten, Sozialarbeitern, Lehrern, Polizisten
und Ausländerbehörden. Hier sind vor allen Dingen die
Länder gefragt, das Thema stärker in das Bewusstsein zu
bringen, zum Beispiel bei Aus- und Fortbildungen der
Lehrer und der Polizei. Nicht zu vergessen die Mitarbeiter der Jugendämter: Sie können ein Mädchen schützen,
indem sie den Eltern, wie 2005 im Fall einer mit einem
Deutschen verheirateten Ghanaerin geschehen, das Recht
der Aufenthaltsbestimmung für das Kind entziehen. Für
ihre Fortbildung sind die örtlichen Träger der Jugendhilfe, also die Kommunen, zuständig.
Die Ziele des Programms „Frühe Hilfen für Eltern
und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ der Bundesregierung, nämlich Risiken für Kinder frühzeitig zu
entdecken und die Erziehungskompetenz der Eltern
zu stärken, müssen auch beim Thema Genitalverstümmelung verfolgt werden.
({2})
Wir wollen davon bedrohte Mädchen rechtzeitig erreichen. Müttern und Vätern, die aus Regionen kommen,
wo die Genitalverstümmelung gängige Praxis ist, müssen wir einfühlsam und sensibel klarmachen, dass eine
Beschneidung der Töchter eben keine ehrenwerte Fortführung der Tradition, sondern mit lebenslangen Qualen
für die Töchter verbunden und bei uns in Deutschland
definitiv verboten ist.
Den beschnittenen Frauen müssen wir gleichzeitig
unsere Hilfe anbieten und deutlich machen, dass sie
nicht verachtet werden wegen ihrer Beschneidung. Wir
müssen sie gewinnen zum Kampf gegen Genitalverstümmelung. Das ist ein ganz wichtiges Ziel. Man wird
diesen Kampf nur mit ihnen gewinnen und nicht gegen
sie.
Wir sollten Anstrengungen unternehmen, einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen, weil wir bei diesem Thema nicht weit auseinanderliegen. Ich sehe dafür
relativ große und gute Chancen und werde alles unterstützen, was zu einem gemeinsamen Antrag führen
könnte.
({3})
Jetzt hat die Kollegin Kirsten Tackmann für Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Fatuma aus Äthiopien ist sieben
Jahre alt. Zu ihrem Geburtstag versprachen ihr die Eltern
ein großes Fest. Weil Du dann zur Frau wirst, sagten sie.
Sie verschwiegen aber: Dieser Tag ist das Ende der
Kindheit und der Beginn lebenslanger Qualen, seelisch
und körperlich.
Was mit dem Begriff Beschneidung harmlos nach einem kleinen operativen Eingriff klingt, ist für die Mädchen schlimmste Folter. Es geht um die Entfernung der
Klitoris und der Schamlippen sowie um die fast vollständige Verschließung der Vagina ohne Betäubung und steDr. Kirsten Tackmann
rile Instrumente. Es sind nicht nur die unvorstellbaren
Schmerzen und die Lebensgefahr durch Verbluten und
Infektionen infolge der Verstümmelung selbst. Es bleiben Probleme beim Urinieren, Schmerzen bei der Menstruation, Angst vor Geschlechtsverkehr und Angst vor
dem Gebären. Es geht also um lebenslange körperliche
und seelische Verstümmelung.
Wir dürfen nicht nur über Einzelschicksale reden. Es
geht weltweit - das ist heute schon mehrfach gesagt worden; man kann es nicht oft genug wiederholen - um bis
zu 150 Millionen Frauen, die betroffen sind - Tendenz
eher steigend. In manchen Ländern Afrikas und Asiens
werden 70 bis 99 Prozent der Mädchen so grausam zugerichtet. Jedes Jahr werden weitere 3 Millionen Frauen
Opfer dieser barbarischen Form sexueller Gewalt.
Wir sollten aber nicht vergessen: Es sind gesellschaftliche Bedingungen, unter denen die weibliche
Genitalverstümmelung stattfindet, die Tradition oder Religion genannt werden. Diese Gewalttat geht vom Umfeld der betroffenen Mädchen aus und wird von diesem
sanktioniert. Genitalverstümmelung steht also im direkten Zusammenhang mit Unwissenheit, Armut und dem
sozialen Status der Frauen. Das hat bereits vor zehn Jahren die damalige Sonderberichterstatterin der Vereinten
Nationen zum Thema „Traditionelle Praktiken, die die
Gesundheit von Frauen und Kindern beeinträchtigen“
festgestellt. Die gesellschaftlichen Bedingungen sind es
also, die verändert werden müssen.
Weibliche Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen,
für das es keine Rechtfertigung geben darf; auch das ist
schon gesagt worden. Das zu erreichen, ist ein beschwerlicher Weg, aber einen anderen gibt es nicht. Dazu wird
unter anderem deutlich mehr Geld zur Unterstützung des
Kampfes vor Ort gebraucht, auch von der Bundesrepublik. Wir fordern daher eine Verdreifachung des entsprechenden Budgets. Über die Bedeutung dieser Projekte ist
hier schon gesprochen worden.
Auch in Europa - das ist schon erwähnt worden müssen wir uns mit Genitalverstümmelungen auseinandersetzen. Circa 30 000 Mädchen und Frauen sind davon
bedroht oder wurden bereits dadurch verletzt. Selbst in
Deutschland werden vermutlich Genitalverstümmelungen vorgenommen. Über die Beteiligung von hier niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten wissen wir viel zu
wenig. Über die Rolle dieser Gruppe sind schon Ausführungen gemacht worden, denen ich mich gerne anschließen möchte.
Erfreulicherweise wächst der Widerstand weltweit, er
wird auch immer wirkungsvoller. Auf die Konferenz in
Kairo ist bereits hingewiesen worden. Von höchsten
Rechtsgelehrten und Religionsführern aus islamisch geprägten Staaten Afrikas ist dort festgestellt worden, dass
man den Koran zur Begründung von Genitalverstümmelungen nicht heranziehen kann. Einstimmig wurde von
der Konferenz bestätigt, dass die weibliche Genitalverstümmelung mit dem Islam unvereinbar ist. Auf dieser
Grundlage ist es nun endlich möglich, gegen diese religiösen Rechtfertigungsversuche vorzugehen.
In zwei Dingen sind wir uns fraktionsübergreifend
vermutlich einig:
Erstens. Weibliche Genitalverstümmelung ist eine
schwere Menschenrechtsverletzung, die Frauen dauerhaft der sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie verletzt das Recht auf
körperliche Unversehrtheit in schwerster Form.
Zweitens. Gegen Genitalverstümmelungen und ihre
Folgen müssen wir dringend etwas tun, und zwar wirkungsvoll. Erforderlich ist eine Ursachenbekämpfung:
eine umfassende Beratung und Aufklärung auch in
Deutschland, die Verbesserung der sozialen Situation
bzw. des sozialen Status der bedrohten Frauen und Mädchen in ihrem Umfeld sowie effektive Maßnahmen zur
gezielten Unterstützung von Frauen und Mädchen im
Asylprozess. Dieser Punkt hat heute bislang noch keine
Rolle gespielt.
Letzteres ist ein sehr schwerwiegendes Problem. Die
Pro-Asyl-Studie vom Dezember 2006 zur Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
hat zum Beispiel bei Antragstellerinnen aus Eritrea festgestellt, dass bei Opfern sexueller Gewalt keine sensible
Aufklärung des Sachverhaltes erfolgte. Vielmehr wurde
im Bescheid der Tatbestand sogar bagatellisiert. Sonderbeauftragte des Bundesamts, die sich mit der geschlechtsspezifischen Verfolgung beschäftigen, wurden in vielen
Fällen nicht hinzugezogen.
Wir fordern daher insbesondere für Asylbewerberinnen aus Ländern, von denen die Genitalverstümmelungspraxis bekannt ist, erstens besonders sensible Anhörungen
durch entsprechend qualifizierte weibliche Mitarbeiterinnen des Asylbundesamtes, inklusive weiblicher Sprachmittlerinnen. Nach Aussagen der Bundesregierung sind
es immerhin 30 Länder, von denen eine Genitalverstümmelungspraxis bekannt ist.
Wir fordern zweitens im Rahmen des Asylverfahrens
eine unabhängige Beratung vor der Erstanhörung zum
Beispiel durch kompetente Beratungsstellen oder Rechtsanwältinnen.
({0})
Wir fordern drittens, dass das Vorbringen des Fluchtgrundes „Genitalverstümmelung“ im Verlaufe eines
Asylverfahrens nicht als gesteigertes oder verspätetes
Vorbringen bewertet wird. Häufig verschweigen nämlich
Frauen, gerade schwer traumatisierte Frauen, bei der
Erstanhörung aus Scham eine Genitalverstümmelung.
Erst nach einiger Zeit sowie psychologischer Betreuung
und Beratung sind sie in der Lage, über Genitalverstümmelung zu reden. Das muss im Verfahren berücksichtigt
werden und darf nicht noch zum Nachteil ausgelegt werden.
({1})
Viertens dürfen Länder mit bekannter Genitalverstümmelungspraxis nicht als sogenannte sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Die deutsche EU-Ratspräsi7854
dentschaft kann für eine Initiative zur Harmonisierung
des europäischen Rechtsrahmens genutzt werden.
Es besteht folgendes Problem: Nach einem Bericht
von Pro Asyl hat das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge zum Beispiel den Asylantrag einer Minderjährigen aus Guinea mit der Begründung, sie habe eine
inländische Fluchtalternative, abgelehnt. Allerdings
hatte die Betroffene in der Anhörung bereits berichtet,
dass sie bei dem Versuch, sich in der Hauptstadt niederzulassen, von ihrer Familie aufgespürt wurde und deswegen auch von dort wieder flüchten musste.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle zehn Sekunden
wird weltweit ein Mädchen an seinen Genitalien verstümmelt, während meiner Rede also 42. Lassen Sie uns
gemeinsam einen Weg finden, diese unmenschlichen
Praktiken endlich zu beenden und ihre Folgen zu mindern.
Danke schön.
({2})
Jetzt hat Sibylle Pfeiffer das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte Ihnen zunächst sagen, dass ich dankbar bin,
dass wir das Thema der Genitalverstümmelung um diese
hervorragende und wirklich exponierte Zeit hier bei uns
im Bundestag debattieren können.
({0})
Ich bin versucht, mein Konzept völlig wegzulegen;
denn ich möchte jetzt nicht einfach all das wiederholen,
was schon gesagt worden ist. Eines möchte ich aber zu
Beginn meiner Rede doch sagen - ich versuche jetzt, nur
auf wenige Punkte meines Konzeptes einzugehen -: Das
Problem der Genitalverstümmelung muss dort gelöst
werden, wo es verursacht wird. Als Entwicklungspolitikerin kann ich das eine oder andere Wort dazu sagen und
auf einige Länder und Verwicklungen hinweisen, die
sich in diesem Zusammenhang feststellen lassen.
Einige Länder haben die Menschenrechtscharta unterschrieben; etliche sind im Menschenrechtsrat vertreten.
Viele Länder in Afrika haben Gesetze erlassen. Aber Papier ist geduldig; das wissen wir.
Ich hoffe, dass das Papier, das im November von den
islamischen Gelehrten verabschiedet worden ist, nicht
genauso geduldig ist. Es kommt einer Fatwa gleich; das
heißt, es ist ein Gesetz. Aber wie gesagt: Gesetze hin,
Gesetze her; Papier ist geduldig.
Wie kontrollieren wir das? Was kontrollieren wir eigentlich? Wo kontrollieren wir? Wen kontrollieren wir
wann und wie? Wir sollten uns einmal überlegen, was in
den Staaten passiert, in denen es Beschneidungen gibt.
Dies geschieht - wir haben es schon gehört - in
28 Ländern Afrikas. Aber Beschneidungen gibt es auch
in asiatischen Ländern und neuerdings in Europa - und
das ist das Dramatischste an dem Ganzen.
Frauen werden entstellt, werden verstümmelt. Verstümmelung ist meiner Meinung nach nichts anderes als
eine Menschenrechtsverletzung. Auch Frauen sind
Menschen.
Deshalb müssen wir zusehen, wie wir an die Menschen herankommen, die das tun. Michaela Noll hat
schon gesagt: Wir müssen an die Männer heran. - Ja, wir
müssen an die Männer heran. Männer sind diejenigen,
die die Gesetze erlassen, die auf deren Ausführung achten. Trotzdem sind es immer wieder Frauen, die die Ausführungen vornehmen. Aber können allein Frauen - vor
allen Dingen diejenigen vor Ort - dieses Problem lösen?
Ich glaube das nicht. Ich glaube, die Frauen vor Ort haben diese Kraft noch nicht.
Nur, wie kommen wir als Entwicklungspolitiker an
die Männer heran? Wissen sie überhaupt, was da passiert? Wissen denn die Männer, was dieses Ritual in sich
birgt, was diesen Mädchen und jungen Frauen angetan
wird, oder muss man ihnen das erst einmal verdeutlichen? Muss man sie fragen: Hast du schon einmal nachgedacht, was das bedeutet? Schließlich warst du noch
nie dabei. - Frauen nehmen die Eingriffe vor; bisher war
noch kein Mann dabei.
Es gibt Filme darüber. Wer von Ihnen einmal einen
solchen Film gesehen hat, der kann die Bilder nicht so
schnell abschütteln. Ich sage Ihnen: Die Bilder sind
fürchterlich. Können wir solche Filme zeigen? Können
wir die Männer integrieren? Können wir die Männer
dazu bewegen, sich solche Filme anzusehen? Dann würden sie erfahren, was die Frauen durchleben müssen, mit
denen sie ein glückliches und erfülltes Leben führen
wollen. Ich frage: Geht das? Können wir vielleicht durch
die Hintertür kommen? Wir alle wissen, dass gesellschaftliche Veränderungen nur über Frauen stattfinden.
Wenn wir aber an die Frauen nicht herankommen - wir
Entwicklungspolitiker dürfen uns mit den Frauen nicht
auseinandersetzen -, haben wir ein Problem.
Waris Dirie ist hier schon genannt worden. Der einzige Weg, den wir als Entwicklungspolitiker gehen können, ist, Verbündete zu suchen. Wir müssen uns Frauen
vor Ort suchen, die davon berichten, was ihnen passiert
ist. Wir brauchen Frauen, die mutig genug sind, in die
Welt zu gehen und zu berichten, was ihnen passiert ist.
Schließlich geht es um mehr als 130 Millionen Mädchen
und Frauen. Wir wollen die Frauen unterstützen, die helfen wollen und sich öffentlich dazu bekennen, damit ihre
Töchter und Enkelinnen diese Verstümmelung nicht erleben müssen. Wir europäischen Entwicklungspolitiker
kommen nicht an die Menschen heran, denen wir eigentlich helfen wollen. Deshalb müssen wir sehr viel vor Ort
arbeiten; wir müssen die Frauen stärken und ihnen neues
Selbstbewusstsein geben.
Ein wichtiger Schritt ist, dass wir mit dieser Thematik
an die Öffentlichkeit gehen, dass der Deutsche Bundestag zu dieser Uhrzeit über dieses Thema diskutiert. Solche Möglichkeiten müssen wir öfter nutzen. Dieses
Thema darf kein Nischenthema sein; es muss in die Öffentlichkeit. Dann haben wir auch die Öffentlichkeit hinter uns. In den Entwicklungsländern Afrikas und Asiens
ist die Situation nicht anders; darüber sind wir uns alle
einig. Wir müssen unsere Unterstützung ausbauen und
unser Anliegen laut hinausposaunen.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Dr. Karl Addicks hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Gäste auf den Tribünen! Wir sprechen
heute über ein sehr ernstes und schwieriges Thema. Es
geht um die Sitten und Gebräuche anderer Völker. Es
gibt Sitten und Gebräuche anderer Völker, die wir nicht
ignorieren oder einfach hinnehmen können. Hier und
heute geht es um die Genitalverstümmelung von Frauen,
vorwiegend in Afrika, aber auch in Asien. Diese Verstümmelungen müssen sofort aufhören; es dürfte sie eigentlich schon längst nicht mehr geben. Wenn wir wollen, dass diese Verstümmelungen bald aufhören, dann
müssen wir noch sehr viel mehr dagegen tun. Menschenrechte werden hier auf schlimmste Weise mit den Füßen
getreten.
Es hat auf diesem Globus schon einige schlimme Gebräuche gegeben. Ich erinnere an die Fußverkrüppelung
in China oder an Zehenamputationen in Japan. Auch in
Europa hat es schlimme Unsitten gegeben; auch wir sind
nicht ganz frei davon gewesen. Immer waren Frauen die
Opfer. Eine ganz schlimme Praktik existiert noch: Die
Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen
wird heute, im 21. Jahrhundert, immer noch praktiziert.
Das ist unfassbar. Dieses grausame Ritual ist und bleibt
ein verbrecherischer Eingriff in die Selbstbestimmung
von Frauen und Mädchen und in das Menschenrecht auf
körperliche Unversehrtheit.
({0})
Dort, wo Menschenrechte verletzt werden, wird die
Entwicklung ganzer Gesellschaften verletzt. Deshalb
sage ich hier wie meine Kollegin Pfeiffer, dass sich die
Entwicklungspolitik viel mehr einmischen muss. Sie
muss ihre Einflussmöglichkeiten stärker wahrnehmen.
Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu tun: Auf die Regierungen in den Ländern muss Einfluss genommen
werden; religiöse Autoritäten müssen gefragt werden;
die Menschen müssen aufgeklärt werden; sie müssen
Bildung erhalten.
Genitalverstümmelung ist ein Frevel an der Schöpfung.
Das ist Körperverletzung, häufig mit Todesfolge. Ich
kann Ihnen die schrecklichen Bilder nicht ersparen - ich
sage das an die Adresse unserer Gäste auf den Tribünen -:
Die Mädchen werden gepackt, zum Block gezerrt und
von vielen Händen fixiert. Mit einer Glasscherbe oder
einer Rasierklinge wird ihnen ein Teil ihres Genitales
entfernt - es tut mir leid, aber das muss auch in diesem
Hohen Hause einmal so drastisch gesagt werden; denn
so ist es nun einmal -; das blutet sehr stark. Es ist eine
Schinderei ohnegleichen. Diejenigen, denen das angetan
wird, sind physisch und psychisch für ihr ganzes Leben
gezeichnet. Viele sterben sofort an dem starken Blutverlust, manche später an den Infektionen, die Folge dieser
unsäglichen Prozedur sind. Die meisten leiden ihr Leben
lang an Beschwerden psychischer und physiologischer
Art. Sie haben Beschwerden bei der Menstruation, beim
Wasserlassen, vor allem bei den Geburten; ganz zu
schweigen von der sexuellen Invalidisierung. - Wir müssen diese Dinge hier und heute an die Öffentlichkeit
bringen, vor allem in den Ländern, in denen die Genitalverstümmelung nach wie vor praktiziert wird. Deshalb
befasst sich der Deutsche Bundestag heute zu Recht wieder einmal mit diesem Thema.
Genitalverstümmelungen geschehen aber nicht nur in
Afrika, sondern zum Teil auch hier, bei uns. Wir wollen
uns nicht erheben, wir wollen diesem Treiben aber auch
nicht länger zusehen. Sonst machen wir uns schuldig an
den Mädchen und jungen Frauen, denen diese Gewalt
angetan wird.
Es ist dem Wirken zahlreicher Nichtregierungsorganisationen zu verdanken, dass diesem Thema mehr und
mehr öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im
Kampf gegen diese grausame Unsitte sind erste Erfolge
sichtbar.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Noch ein, zwei Sätze, bitte. - Viele der ehemaligen
Beschneiderinnen kämpfen bereits auf unserer Seite.
Einen wichtigen und mutigen Beitrag hat Rüdiger Nehberg
geleistet, der mit seinen heimlichen Filmaufnahmen die
muslimischen Gelehrten überzeugt hat, dass das aufhören
muss. Ich danke Rüdiger Nehberg und allen anderen, die
sich eingesetzt haben, für ihr Engagement.
({0})
Den Beschneiderinnen rufe ich an dieser Stelle zu: Legen
Sie endlich Ihre Rasierklingen weg und lassen Sie die
Körper der Kinder so, wie die Schöpfung sie gemacht
hat: intakt!
Danke.
({1})
Das war eine ziemlich optimale Ausnutzung von drei
Minuten Redezeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Das Wort hat die Kollegin Christel RiemannHanewinckel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen des Deutschen Bundestages!
Traditionen, Religionen, Kulturen und Hoffnungen
haben Frauen in vielen Ländern der Erde dazu gebracht,
Angehörige ihres eigenen Geschlechtes leiden zu lassen,
ihnen Schmerzen zuzufügen, Vertrauen zu zerstören,
Frauen und Mädchen nicht wiedergutzumachenden
Schaden zuzufügen und Frauen ein Leben lang die
Bürde der Scham aufzuerlegen.
Männlich dominierte Gesellschaften nehmen Verstümmelungen oder gar den Tod ihrer Frauen in Kauf. Gleiche
Rechte für Frauen und Männer sind für sie nicht vorstellbar, weil sie offenbar Angst davor haben. Es sind im
wahrsten Sinne des Wortes „Hintermänner“, die für
Leid, Krankheit und Tod von Frauen und Mädchen
verantwortlich sind; denn hinter jeder Genitalverstümmelung stehen Befürchtungen und Ängste von Männern,
wenn es um die Selbstbestimmung der Frau geht.
Was ist bisher getan worden, um den Machtmissbrauch
der Männer zu „beschneiden“, zu ächten und unter Strafe
zu stellen? Wie werden den Frauen, und zwar den Opfern
und den Täterinnen, andere Wege eröffnet? Ich gehe in
der Geschichte um fast 30 Jahre zurück. Im Jahr 1979
wurde die Genitalverstümmelung von Frauen im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau, kurz CEDAW genannt, erstmals benannt und
geächtet; die Nationen dieser Welt wurden zu ihrer
Bekämpfung aufgerufen.
Die Tabuisierung dieses großen Gewaltverbrechens
wurde durch CEDAW endlich aufgebrochen. Alle Länder,
die dem Übereinkommen beigetreten sind, müssen nun
in Regierungsberichten darlegen, was sie in ihrem Land
zur Bekämpfung dieser Menschenrechtsverletzungen
tun. In der Folge ist die Ächtung und Bekämpfung der
Genitalverstümmelung in eine Reihe von internationalen
Übereinkommen, Protokollen und Erklärungen aufgenommen worden. Ich nenne nur einige, die deutlich
machen, wie umfassend die Ächtung ist: die UN-Kinderrechtskonvention, die Aktionsplattform der 4.Weltfrauenkonferenz in Peking, die Millenniumserklärung der
Vereinten Nationen im Jahr 2000 und die Millenniumsentwicklungsziele; in den Zielen drei bis fünf wird darauf
eingegangen. Deutschland hat sich zum Beispiel in
Peking, aber auch in den Nachfolgekonferenzen in New
York bei Peking + 5, im CEDAW-Ausschuss und vor allen Dingen in der Frauenrechtskommission der Vereinten
Nationen immer aufs Neue für Vereinbarungen eingesetzt,
in denen wirksame Maßnahmen zur Aufklärung und zur
Bekämpfung weiblicher Genitalverstümmelung gefordert
werden.
Besonders wichtig ist dabei - dies wird vor allen Dingen
im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen immer
wieder genannt - das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen. Dazu gehört der Zugang der Frauen zu Bildung, zu Gesundheitsvorsorge und zu wirtschaftlichen
Ressourcen. All das sind Entwicklungen, die in männerdominierten Gesellschaften Angst verursachen, weil die
Sorge besteht, dass die Frauen die gleichen Rechte
bekommen könnten wie die Männer; denn es führt in der
Folge - das ist beabsichtigt - zur Eigenständigkeit der
Frauen und zur Gleichberechtigung. Zur Geschlechtergerechtigkeit gehört - das haben wir in Peking erstmals
sehr deutlich festgestellt -, dass Menschenrechte unteilbar
sind und damit für Frauen und Männer gleichermaßen
gelten. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die
sexuelle Selbstbestimmung der Frauen zu den Menschenrechten gehört.
({0})
Genitalverstümmelung zu benennen, zu ächten und
damit zu enttabuisieren, sie bei den Weltkonferenzen der
Vereinten Nationen als Menschenrechtsverletzung zu benennen, sie in bilateralen Verhandlungen immer wieder
zu thematisieren und in die Millenniumsentwicklungsziele einzuarbeiten, ist die eine Seite. Die andere Seite ist
das konkrete Handeln. Ich will ein paar Punkte der
Entwicklungszusammenarbeit anführen, die genannt
werden müssen, weil Deutschland an dieser Stelle nicht
nur in den Verhandlungen aktiv ist, sondern auch konkret
handelt und vieles für die betroffenen Frauen und die
Gesellschaften vor Ort tut.
Deutschland unterstützt seit 2001 über das entwicklungspolitische Ministerium die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen in Afrika mit 500 000 Euro. Für
das GTZ-Projekt „Förderung von Initiativen zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung“ - manche
von Ihnen kennen es vielleicht; aber es ist noch zu wenig
bekannt, deshalb müssen wir hier darüber reden -, das
von 1999 bis 2007, also über acht Jahre, läuft, werden
vom BMZ insgesamt 5,8 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt. Das Auswärtige Amt unterstützt außerdem von
2001 bis 2005 einzelne Maßnahmen von Nichtregierungsorganisationen mit 176 000 Euro.
Eine besondere Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands spielen die sogenannten nationalen
Roadmaps. Das sind die Vereinbarungen, die auf Basis
der allgemein formulierten Millenniumsentwicklungsziele für die einzelnen Nationen aufgestellt werden. In
ihnen werden die Inhalte der Ziele konkretisiert. Dabei
geht es um das, was vor Ort passiert. Deutschland befindet
sich hier nicht nur in bilateraler Zusammenarbeit mit
vielen Ländern durch Gespräche; wir unterstützen auch.
Im Rahmen des überregionalen Projektes der GTZ
werden Regierungen sowie nationale Organisationen
beraten, um Strategien und Programme vor Ort gegen
die weibliche Genitalverstümmelung zu entwickeln.
Hier geht es nicht vorrangig um die strafrechtliche Verfolgung, sondern darum, vor Ort etwas zu entwickeln,
durch das den betroffenen Frauen, und zwar sowohl den
Täterinnen als auch den Opfern, andere Möglichkeiten
für ihr Leben eröffnet werden. Geändert werden können
die Einstellung und das Verhalten der Menschen durch
den Dialog mit den unterschiedlichen Zielgruppen,
durch Aufklärung über die Folgen von Genitalverstümmelung und vor allen Dingen durch die Vermittlung des
Begriffs der Menschenrechte. Darüber hinaus muss man
den Beschneiderinnen alternative Erwerbsmöglichkeiten
auftun; ansonsten wird diese Praxis weiter bestehen.
Letztendlich hilft die wirtschaftliche Eigenständigkeit
von Frauen in der Breite, dass Frauen eigenständig werden können.
Besonders wichtig und interessant finde ich den Ansatz,
den Mädchen, Müttern und Familien Alternativen zu
diesem Initiationsritus aufzuzeigen. Auch wir in
Deutschland kennen verschiedene Initiationsrituale, allerdings nicht so etwas wie Genitalverstümmelung. Auch
durch eine Neuentwicklung von Ritualen wird man an
dieser Stelle neue Wege gehen können.
Das sind nur einige kleine Beispiele, die deutlich
machen, dass engagierte Entwicklungspolitik etwas
bewirken kann.
Ich nenne am Schluss noch ein Beispiel: Die Regierung von Benin hat 2005 offiziell das Ende dieser grausamen Praxis verkündet. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Wir alle können in unseren Wahlkreisen dafür sorgen,
dass über diese schwere Menschenrechtsverletzung geredet wird. Wie wir gehört haben, ist inzwischen auch
Deutschland betroffen. Der 6. Februar ist der Internationale Tag gegen Genitalverstümmelung. Vielleicht fällt
der einen oder dem anderen im Wahlkreis etwas ein,
Kommen Sie jetzt bitte zum Ende!
- wie die Problematik bekannt gemacht werden kann
bzw. wie mit Organisationen vor Ort darüber geredet
werden kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt hat Ursula Heinen für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das Wichtigste an dieser Debatte ist, dass wir dieses Thema ins
Bewusstsein holen, wie es alle Rednerinnen getan haben.
Ich möchte mich aber auch bei Herrn Dr. Addicks für die
klaren Worte bedanken, die er hier im Plenum gefunden
hat,
({0})
um auch denjenigen, die sich nicht so intensiv damit
befasst haben, deutlich zu machen, worum es hier geht.
Wir haben die Zahlen gehört: Weltweit gibt es zwischen
130 und 150 Millionen genitalverstümmelte Mädchen
und Frauen. Nach Hochrechnungen leben auch in
Deutschland circa 30 000 beschnittene Frauen. Statistiken
darüber gibt es nicht; weil sich dies im Dunklen abspielt.
Es gab eine Umfrage bei Frauenärzten - meine Kollegin
Michaela Noll hat das bereits erwähnt -, deren Rücklauf
traurigerweise sehr gering ausfiel. Nur 500 Frauenärzte
haben sich an dieser Umfrage beteiligt; das sind
vergleichsweise wenige. Von diesen 500 Ärzten haben
jedoch 43 Prozent schon einmal eine genitalverstümmelte
Frau betreut. Ein Drittel der Ärzte hat einer genitalverstümmelten Frau sogar schon einmal bei der Geburt
eines Kindes, was gerade für diese Frauen eine ausgesprochen schmerzhafte Angelegenheit ist, geholfen. Weil auch die Ärzte so wenig darüber wissen, ist es entscheidend, dass wir uns mit diesem Thema befassen.
Dass 90 Prozent der Ärzte mehr Informationen gewünscht
haben, hat zu den bereits erwähnten Empfehlungen der
Bundesärztekammer geführt.
Über eine Meldepflicht von Ärztinnen und Ärzten,
wie sie die FDP in ihrem Antrag als Prüfaufgabe formuliert hat, kann man durchaus nachdenken. Meine Kollegin
Michaela Noll hat allerdings schon die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass die jungen Mädchen, um die es geht
- Sie sprechen ja ausdrücklich „von einer drohenden Genitalverstümmelung“ -, dann vielleicht nicht mehr zum
Arzt gehen. Das sind Punkte, die wir sorgfältig bedenken
müssen. Ich denke aber, dass wir uns sicherlich entsprechend offen zeigen können.
Der Antrag der Grünen beschäftigt sich hauptsächlich
mit dem bestehenden rechtlichen Rahmen. Auch der
Antrag der FDP nimmt darauf Bezug. Das Strafgesetzbuch bietet uns in der Tat genug Möglichkeiten, die Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung zu
bestrafen. Das ist sicherlich unstrittig.
({1})
Die einzelnen Paragrafen werden jedem Tatbestand
gerecht. Derjenige, der die Genitalverstümmelung vornimmt, kann belangt werden. Auch die Eltern, die ihre
Kinder für einen solchen Eingriff ins Ausland schaffen,
können belangt werden. Der BGH ist sogar so weit gegangen, das elterliche Sorgerecht bei Gefahr von Genitalverstümmelung einzuschränken. Insofern ist der erforderliche Rechtsrahmen in Deutschland vorhanden.
Ich bezweifele, dass es uns weiterbringen würde,
wenn die Genitalverstümmelung explizit in § 226 des
Strafgesetzbuchs aufgenommen würde. Meine Kollegin
Annette Widmann-Mauz hat in ihrem Antrag in der letzten Legislaturperiode ausdrücklich festgehalten, dass es
weniger um die Frage einer Strafnorm im Gesetzbuch als
um die Strafverfolgung geht.
({2})
Letzteres ist unser Hauptproblem. An diesem Punkt
müssen wir ansetzen, um diejenigen zu erwischen, die
die Genitalverstümmelung durchführen.
Nichtsdestotrotz sollten wir meines Erachtens auch in
diesem Punkt prüfen, inwieweit wir Änderungen vornehmen können. Deshalb wird der Antrag auch an andere Ausschüsse - sicherlich auch an den Rechtssausschuss - überwiesen. Dort wird man sich mit der Frage
auseinandersetzen müssen, ob Änderungen Sinn machen.
Ein weiterer Punkt, der bereits angesprochen wurde,
ist die Aufnahme der Genitalverstümmelung in das internationale Recht. Auch das sollten wir prüfen.
({3})
Der Sprecher unserer Fraktion, Johannes Singhammer,
hat bereits festgestellt, dass wir alles unternehmen, was
dem Ziel dient, die Genitalverstümmelung nachhaltig zu
bekämpfen und die Verantwortlichen zu erwischen. Ich
denke aber, dass die Diskussionen in dieser Frage in die
richtige Richtung führen müssen.
({4})
Ein weiterer Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft
die Frage des sicheren Herkunftslandes, die Frau
Tackmann angesprochen hat. Ich habe mich eben noch
kurz mit einigen Innenpolitikern verständigt: Auch die
drohende Genitalverstümmelung bedeutet eine Verletzung der Menschenrechte und ist damit ein Tatbestand,
der die Verhinderung von Abschiebung, Ausweisung etc.
rechtfertigt. Insofern gibt es im Aufenthaltsrecht bereits
einen Schutz für die betroffenen Frauen. Auch das müssen wir berücksichtigen.
Nach meiner Erinnerung hat es in der letzten Legislaturperiode lange Diskussionen gegeben, die wir inzwischen zu einem guten und vernünftigen Ende geführt haben. Ich denke, dass wir - meine Vorrednerin hat schon
darauf hingewiesen - den 6. Februar wie vorgesehen
zum Anlass nehmen sollten, über dieses Thema öffentlich - sei es in Artikeln oder in unseren Wahlkreisen - zu
debattieren, um seinen Hintergrund deutlich zu machen.
Wenn wir die Möglichkeit haben, dem einen oder anderen Mädchen die brutale Tortur zu ersparen, dann sollten
wir sie nutzen.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich nun das Wort der
Frau Kollegin Schewe-Gerigk.
Frau Kollegin Noll, Sie haben mich persönlich angesprochen und auf zwei Anträge der CDU/CSU-Fraktion
aus der letzten und vorletzten Legislaturperiode hingewiesen. Sie haben dabei den Eindruck vermittelt, als hätten wir uns - weil wir Ihrem Antrag nicht zugestimmt
haben - bewusst gegen die Bekämpfung der Genitalverstümmelung ausgesprochen.
Ich habe das in der Zwischenzeit überprüfen lassen.
Es geht zum einen um einen Antrag, der sich auf Frauen
in den Krisenregionen Subsahara-Afrikas bezog und in
dem Sie sehr viele Forderungen formuliert haben, die
wir so nicht teilen konnten. Deshalb haben wir Ihren Antrag abgelehnt und einen eigenen Antrag vorgelegt.
Bei Ihrem zweiten Antrag aus dem Jahr 2001 ist es
umso schlimmer; darin ging es ausdrücklich um die Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen. In diesem
Antrag haben Sie festgestellt, dass es nicht notwendig
sei, einen eigenständigen Asylanspruch zu formulieren,
weil schon nach geltendem Recht die geschlechtsspezifische Verfolgung vom Asylgrundrecht erfasst sei. Das
war nicht der Fall. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, wie zäh die Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz waren und wie intensiv gerade meine Fraktion dafür gekämpft hat. Wenn das, was Sie in Ihrem
Antrag festgestellt haben, schon der Fall gewesen wäre,
dann hätte man dieses Instrument sicherlich nicht gebraucht.
Ich möchte nicht, dass hier der Eindruck entsteht,
dass die Grünen gegen etwas stimmen, nur weil es von
der falschen Fraktion kommt. Ihre Anträge waren für
uns nicht weitgehend genug. Wir mussten hier klarstellen, dass das auch im Zuwanderungsgesetz mit aufgenommen wird.
Ich erinnere noch einmal an die peinliche Situation im
Wahlkampf, als Ministerpräsident Stoiber bei Sabine
Christiansen herumgestottert hat, dass nun alle Frauen
dieser Welt nach Deutschland kommen würden, wenn
dieses Gesetz Wirklichkeit würde.
({0})
Frau Kollegin, wollen Sie antworten?
Frau Kollegin, so wollte ich das auch nicht verstanden
wissen. Es ging einfach darum, dass Sie so getan haben,
als seien Sie diejenigen gewesen, die das sozusagen exklusiv behandelten.
Wir haben immer gesagt: Unser Ziel war es, eine gemeinsame Beschlussempfehlung zu erarbeiten, mit der
wir gemeinsam eine Initiative planen. Das haben wir geschafft, und dahin ging mein deutlicher Hinweis. Ich
finde es einfach falsch, dann zu sagen, wir sind diejenigen, die am meisten transportiert haben. Außerdem waren Sie es, die zu der Zeit an der Regierung waren. Sie
hätten ja noch mehr anschieben können. Unser Antrag
war nur ein Anstoß, um deutlich zu machen: Wir wollen
mehr gegen Genitalverstümmelung tun.
Der zweite Antrag, den Sie angesprochen haben - er
wurde gar nicht näher debattiert -, enthielt nur einen einzigen Passus, in dem es gezielt um Genitalverstümmelung ging.
Es ging nicht darum, Ihre Arbeit infrage zu stellen.
Ich wollte lediglich betonen, dass unser Angebot immer
lautete: Dieses Thema können wir unabhängig von Parteipolitik behandeln; da geht es um die Sache, nämlich
die betroffenen Frauen.
Danke schön.
({0})
Nun hat die Kollegin Renate Gradistanac das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute über
drei Anträge diskutieren, den Antrag der Grünen, den
der FDP und den der Linken. In der Problembeschreibung und im Forderungskatalog unterscheiden sie sich
meiner Meinung nach nicht grundsätzlich. Darum
könnte ich mir auch gut vorstellen, dass wir uns darauf
verständigen, miteinander einen interfraktionellen Antrag zu verabschieden.
Ich meine, die Einführung eines eigenen Straftatbestandes kann geprüft werden. Gefordert wurde dies übrigens auch bei der Berliner Konferenz, die unter anderem vom Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung im Dezember 2006
organisiert wurde. Mit einer speziellen Gesetzgebung
könnte Klarheit und Nachdruck in der öffentlichen Debatte geschaffen werden. Aber - das klang heute schon
mehrfach an - Änderungen im Strafrecht allein reichen
nicht aus, um Frauen und Mädchen zu schützen. Es müssen weitere Schritte hinzukommen, auch darin sind wir
uns einig.
Lassen Sie mich einen Blick zurück werfen - da ich
die Letzte auf der Rednerliste bin, kann ich das ein bisschen zusammenfassen -: Am 17. Juni 1998 hat der
Deutsche Bundestag die Genitalverstümmelung von
Mädchen und Frauen als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung verurteilt. Sie - so stand es damals in
der Vorlage - ist durch kulturelle oder religiöse Traditionen nicht zu rechtfertigen. Alle Fraktionen, um auch das
einfach noch einmal herauszuheben, waren sich einig,
dass die Beschneidung ein Verstoß gegen das Grundgesetz und eine Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit ist.
Wenige Wochen davor, am 1. April 1998, trat das
6. Gesetz zur Reform des Strafrechts in Kraft. Die Vorschriften, nach denen Genitalverstümmelung als Körperverletzung oder Misshandlung Schutzbefohlener bestraft
wird, wurden verschärft. Im Jahr 1999 dann - jetzt wird
es spannend, weil Sie gesagt haben, wir hätten nichts Bewegendes getan - hat die rot-grüne Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen vorgelegt. In diesem Plan sind explizit Maßnahmen zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung benannt.
Mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes
- das war schon eine riesige Herausforderung - am
1. Januar 2005 wurden die Frauenrechte gestärkt. Seitdem wird nicht nur Schutz vor Übergriffen nichtstaatlicher Täter gewährt, sondern auch geschlechtsspezifische
Verfolgung anerkannt. Damit erhalten Frauen bei einer
drohenden Verstümmelung Abschiebeschutz nach der
Genfer Flüchtlingskommission. Für diese Legislaturperiode steht die Fortschreibung des Aktionsplanes zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen an, so steht es in
unserem Koalitionsvertrag.
Wir begrüßen, dass die Bundesärztekammer eine
Empfehlung für Ärztinnen und Ärzte herausgegeben hat;
denn diesen mangelt es oft an Erfahrungen mit beschnittenen Patientinnen. In Kairo hat zudem eine Konferenz
stattgefunden, auf der sich die Islamgelehrten darauf
verständigt haben, die Beschneidung bzw. die Verstümmelung von Frauen zu ächten. Wenn wir das heute mehrmals betonen, dann - so hoffe ich - hat das eine Wellenwirkung.
In der Vorbereitung auf die heutige Rede habe ich mir
die Aktionspläne von Großbritannien und Norwegen
zur Bekämpfung der weiblichen Genitalverstümmelung
angeschaut. Das Kernstück des norwegischen Aktionsplans besteht aus Maßnahmen, die vier Ziele umfassen:
erstens die Verhinderung der Genitalverstümmelung von
Mädchen, die im Land - in diesem Fall in Norwegen leben; zweitens die Hilfe für Mädchen und Frauen, die
bereits verstümmelt bzw. beschnitten sind; drittens die
Kooperation und Koordination mit Einzelpersonen und
Organisationen, wobei statt eines konfrontativen ein kooperativer Ansatz verfolgt wird - das ist neu und nach
meiner Meinung ganz im Sinne der Betroffenen -; und
viertens das Engagement auf internationaler Ebene. Es
ist überlegenswert, diesen Weg zu gehen; denn ich
meine, dass er beispielhaft ist.
In wenigen Tagen - viele wissen wahrscheinlich gar
nicht, dass der heutige Termin deshalb geschickt gewählt
ist - ist der fünfte internationale Tag „Null Toleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung“. Die UNSonderbotschafterin Waris Dirie hat gestern in München
eine Unterrichtsmappe von Terre des Femmes vorgestellt. Ich glaube, alle unterstützen dieses Engagement an
Schulen. Ich schließe mich ausdrücklich dem Appell von
Waris Dirie an: „Information und Bildung sind die
stärksten Waffen im Kampf gegen dieses frauenverachtende Ritual. Wenn es uns gelingt, unsere Grenzen im
Kopf zu überwinden, können wir alles erreichen“, auch
einen gemeinsamen Antrag, den wir dann verabschieden.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/3542, 16/3842 und 16/4152 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
20. Oktober 2005 über den Schutz und die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
- Drucksache 16/3711 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 16/4144 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Steffen Reiche ({1})
Dr. Lukrezia Jochimsen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen
Vielfalt schnell ratifizieren
- Drucksachen 16/457, 16/4144 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Steffen Reiche ({3})
Dr. Lukrezia Jochimsen
c) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 14. November 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung
der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und
Übereignung von Kulturgut
- Drucksache 16/1372 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ausführung des UNESCOÜbereinkommens vom 14. November 1970
über Maßnahmen zum Verbot und zur
Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr,
Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut
({4})
- Drucksache 16/1371 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({5})
- Drucksache 16/4145 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Steffen Reiche ({6})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über den
Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Zu dem Entwurf
eines Ausführungsgesetzes zum Kulturgutübereinkommen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Film aus Deutschland hat in diesem Jahr die
Chance, Oscarpreisträger zu werden. „Das Leben der
Anderen“ ist dafür nominiert. Das ist eine riesengroße
Anerkennung für die Filmschaffenden und den Film in
Deutschland insgesamt sowie ein persönlicher Erfolg für
Florian Henckel von Donnersmarck. Heute erfahre ich:
Er ist plötzlich abgesetzt worden.
({0})
Das heißt, das müsste ich mitteilen, wenn ohne Einschränkung allein die WTO-Regeln gelten würden, wenn
das GATS-Abkommen ausschließlich die Richtung vorgäbe. Denn was heute noch öffentlich gefördert wird,
wäre dann nicht mehr statthaft. Das gilt auch für diesen
Oscar-verdächtigen, mehrfach staatlich gestützten Film.
Unsere kulturelle Welt wäre völlig auf den Kopf gestellt. Damit dies nicht geschieht, werden wir von der
Union heute einer Konvention zustimmen, die zum einen die Vielfalt der Kulturen auf unserer Erde gewährleistet und zum anderen staatliche Kulturförderung legalisiert. Wer diesem Abkommen zustimmt, der stimmt für
ein Recht jedes Mitgliedstaates auf eine eigenständige
Kulturpolitik. Wer dagegen ist, öffnet das Tor zu einer
auch im Kulturbereich unaufhaltsamen, uneingeschränkten Liberalisierung.
({1})
Die Kultur würde eine Ware werden. Das wollen wir
nicht.
({2})
Die Mechanismen des GATS würden die Kulturschaffenden voll treffen. Der Markt allein entscheidet,
nur kommerzielle Kategorien gelten dann. Die öffentliche Kulturförderung wäre aufgehoben. Das Abkommen,
das noch keine völkerrechtlich verbindliche Rechtskraft
hat, verhindert, dass die Kulturförderung von Bund,
Ländern und Gemeinden bei uns unter das Fallbeil
kommt, aber auch, dass der öffentlich-rechtliche RundWolfgang Börnsen ({3})
funk in eine Existenzkrise gerät. Genauer gesagt: ARD
und ZDF kämen ohne diese Konvention unter die Räder;
denn ihre Art der Gebührenfinanzierung entspräche
nicht den GATS-Grundsätzen. Das wollen wir nicht!
Auch die Theaterlandschaft in Deutschland wäre dann
diesem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt: die Opern, Orchester, das Tanztheater. Sie würden der Meistbegünstigungsklausel des GATS-Abkommens unterliegen. Inländische Anbieter dürften gegenüber ausländischen nicht
bevorzugt werden, das heißt, keine öffentliche Förderung
erhalten. Die öffentliche Unterstützung nationaler Kulturanbieter von Film und Theater wäre im Zweifel unzulässig. Eine Klage privater Theater gegen diese Wettbewerbsungleichheit hätte Erfolg und brächte damit unsere
gesamte Kulturförderung ins Wanken. Staatliche Förderung würde als unzulässiger Protektionismus gelten, weil
sie den Markt verzerrt. Im extremsten Fall könnte das
dazu führen, dass nicht mehr die Qualität und Tradition
eine Rolle auf der kulturellen Bühne spielen, sondern nur
noch die günstigen Preise. Kultur wird zum Fast Food.
Nicht mit uns!
Um die Bedeutung der heutigen Beschlussfassung
noch einmal zu unterstreichen, möchte ich ganz ohne
Dramatik darauf hinweisen: Käme es nicht zur Konvention, hätten wir München ohne das Deutsche Museum,
Bayreuth ohne Wagner, Berlin ohne Museumsinsel, Weimar ohne Klassik,
({4})
dafür überall Dallas, Denver und Donald Duck. Das wollen wir, Herr Otto, nicht.
({5})
Was für die Bühne gilt, trifft auch für die Kunst- und
Filmförderung zu. Auch die Übernahme des Arbeitgeberanteils bei der Künstlersozialversicherung durch den
Staat würde als unzulässiger Eingriff in den Markt bewertet, und das wäre nicht mehr erlaubt. Damit wäre
auch einer der größten Fortschritte der letzten Jahrzehnte
für die Sicherung des Lebensstandards von Künstlerinnen und Künstlern extrem gefährdet. Auch das lehnen
wir ab. Deshalb spricht sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einstimmig und mit Nachdruck für das Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt aus. Deshalb begrüßen
wir auch, wie sicher alle Fraktionen, das Tempo, mit dem
die Bundesregierung unter Federführung von Staatsminister Bernd Neumann dieses Anliegen voranbringt.
({6})
Denn schließlich will dieses Abkommen nicht mehr und
nicht weniger als die Garantie der nationalen kulturellen
Eigenständigkeit und Identität. Der Staatsminister - das
darf ich wegen eines Zurufs sagen - ist erkrankt.
({7})
Er wäre sicher gerne dabei gewesen. Ich wünsche ihm
von hier aus gute Genesung.
({8})
Antriebsfeder für die Entwicklung der Konvention
war die Furcht der Weltgemeinschaft der 148 UNESCOStaaten vor einer Homogenisierung dieses Planeten:
durch unbegrenzten Handel, durch die alles sprachlich
gleichmachende Internetkultur, durch die zunehmende
Globalisierung und durch die technologische Entwicklung. Die Sicherstellung der Pluralität der Kulturen ist
eine der wesentlichsten Voraussetzungen für ein zivilisatorisches Wachstum.
({9})
Ohne Vielfalt, ohne Wettbewerb, ohne Alternativen
würde die Menschheit verarmen.
({10})
Eine alleinige Fixierung auf die materielle Entwicklung
auch und gerade in den Ländern der Dritten Welt wird
mit Recht als Rückschritt in der Menschheitsentwicklung gesehen. Als ehemaliger Entwicklungshelfer weiß
ich, wovon ich spreche.
Kultur ist mehr als die Summe der schönen Künste.
Kultur umfasst Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen.
Kultur ist die Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften, die eine Gesellschaft kennzeichnen, so die
UNESCO.
Das Abkommen, über das wir heute beschließen, will
mehr als nur eine Garantie der Anerkennung der Vielfalt
der Kulturen. Es öffnet das Tor für einen Paradigmenwechsel, auch und ganz besonders in der Entwicklungszusammenarbeit auf unserer Erde. Wachstum ja, aber
nicht um den Preis der Aufgabe von Identität.
({11})
Dieses Dokument zur kulturellen Vielfalt schafft eine
neue Balance zum Welthandelsabkommen. Dabei soll
nicht der grenzüberschreitende freie Handel torpediert
werden. Nein, es wird nur Respekt eingefordert, dass
Kulturaktivitäten, Güter und Dienstleistungen gleichzeitig auch ideelle Werte beinhalten und nicht allein auf ihren materiellen Grundbestand reduziert werden dürfen.
Wenn wir zulassen, dass der kulturelle Weltmarkt von
fünf oder sechs Global Players dominiert wird, werden
wir in kürzester Zeit die kulturelle Vielfalt auf unserer
Erde vermissen. Nein, kein Hollywood für jedermann!
Gerade wir Europäer tragen von unserem Grundverständnis her eine besondere Verantwortung für die Bewahrung der Kultur kleinerer, entwicklungsschwächerer
Länder.
({12})
Gerade für diese Länder hat die Zielsetzung der Anerkennung der staatlichen kulturellen Souveränität durch
die UNESCO-Konvention eine herausragende Bedeutung.
Die hier gemeinte Eigenständigkeit geht davon aus,
dass Menschen nicht nur Angehörige von Ländern sind.
Sie sind zunächst Mitglieder von Kulturen und Religio7862
Wolfgang Börnsen ({13})
nen. In den 190 UN-Staaten gibt es davon Tausende mit
unterschiedlichen Traditionen und oft gegensätzlichen
Ausrichtungen. Sie sind nicht selten - auch das muss
man kritisch sagen - Ausgangspunkt von Spannungen,
Kriegen und Dauerkonflikten.
Die Garantie ihrer Eigenständigkeit, die Souveränität
ihrer Kulturen, dass sie weder bedroht noch in ihrer
Existenz gefährdet werden, schafft erst die Freiheit zum
Dialog. Eine Nivellierung der Kulturenvielfalt, ihre Homogenisierung, ist nicht der Weg zum Frieden.
({14})
Das UNESCO-Abkommen macht das Recht, im eigenen Land Kulturpolitik nach eigenen Traditionen und
Zielen zu betreiben, so wie wir es in unserem föderalen
System mit Erfolg praktizieren, völkerrechtlich verbindlich. Vielfalt und Qualität kennzeichnen den Kulturstandort Deutschland. So soll es auch bleiben. Den besonderen
Wert der Kultur unterstreichen die Länder der Bundesrepublik in ihren Verfassungen. Deswegen wäre es meiner
persönlichen Meinung nach konsequent, wenn auch der
Bund in seinem Grundgesetz die Kultur als Staatsziel
berücksichtigen würde.
({15})
- Das hat lange gedauert, Herr Otto. - Durch ein solches
Bekenntnis bestätigt man doch gleichzeitig den nationalen Rang, den man der Kultur einräumt, und stärkt damit
seine Legitimation für internationale Vereinbarungen, so
zum Beispiel auch für die heute zur Rede stehende
UNESCO-Konvention. Dieses Abkommen ist ein erster
bedeutender Schritt zur Sicherung und Achtung der Kulturen weltweit.
Doch unser Kontinent - reich an Kulturgeschichte
freud- und leidvoller Erfahrung - sollte baldmöglichst
einen zweiten Schritt gehen und zu einer Europäischen
Kulturcharta kommen. Unsere kulturelle Vielfalt als
Kernbestand unseres europäischen Selbstverständnisses
müssen wir sichern. Damit verdeutlichen wir auch den
Vorrang der Kultur und ihrer identitätsstiftenden Wirkung.
Das gemeinsame kulturelle Erbe Europa gilt es zu revitalisieren; denn noch nehmen Europas Bürger die Europäische Union in erster Linie als Wirtschaftsgemeinschaft wahr. Das reicht als Bindung nicht aus. Europa
muss sich zunehmend als eine Kultur- und Wertegemeinschaft verstehen. Die Kultur muss Motor, muss Lokomotive der europäischen Einigung werden.
Die kulturelle Vielfalt ist der eigentliche Schatz Europas. Dieses Fundament gilt es zu sichern. Sie ist der
Grundstein für eine gemeinsame europäische Identität.
Sie erst verhilft unserem Kontinent zu Bindung untereinander, zu Gemeinschaft miteinander, zu Selbstbewusstsein und Stärke.
({16})
Gerade das benötigen wir im weltweiten Wettbewerb.
Die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt und
dazu die Europäische Kulturcharta - jetzt und hier, damit
kulturelle Eigenständigkeit und Vielfalt in unserem
Land, in Europa und weltweit garantiert bleiben!
Danke schön.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Waitz für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute abschließend über zwei
UNESCO-Konventionen, die dem Ursprung nach zwar
zusammengehören, inhaltlich aber nichts miteinander zu
tun haben. Daher werde ich mich zuerst zur
UNESCO-Konvention von 1970 äußern und anschließend etwas zur Konvention zum Schutz der kulturellen
Vielfalt sagen, auf die der Kollege Börnsen in seinem
Vortrag den Schwerpunkt gelegt hat.
Ich möchte mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren, was
der kultur- und medienpolitische Sprecher der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, Kollege Börnsen, über das
Gesetzgebungsverfahren zur Ausführung des UNESCOÜbereinkommens von 1970 im letzten Jahr gesagt hat:
Eine Umsetzung muss allerdings mit Augenmaß erfolgen. Eine bürokratische Mehrbelastung für den
Kunstmarkt ist nicht hinnehmbar!
- Dieser Satz endet mit einem Ausrufezeichen. Die Konvention muss ähnlich wie EU-Vorlagen
1 : 1 umgesetzt werden. Sie sollte nicht über die
Mindestvorschriften hinausgehen. Bei einer Überinterpretation der Konvention besteht die Gefahr,
dass Deutschland noch weiter an den Rand des internationalen Kunstmarktes gedrängt wird.
({0})
Die FDP kann jedes einzelne Wort dieser Aussage unterschreiben.
({1})
Allerdings ist nichts von dem, was die Union und Herr
Börnsen vor einem Jahr angekündigt haben, in die Tat
umgesetzt worden.
({2})
Statt die Konvention eins zu eins umzusetzen, ist die
Bundesregierung mehrfach darüber hinausgegangen. In
Musterschülermanier hat der Kulturstaatsminister ein
Ausführungsgesetz vorgelegt, das über das Ziel hinausschießt und vor allem die Bürokratie verstärkt, anstatt
Kulturgüter wirksam zu schützen.
({3})
Es ist ein Irrglaube, dass mit diesem Ausführungsgesetz auch nur eine Raubgrabung im Irak oder anderswo
verhindert werden kann. Die Folge dieses Gesetzes wird
stattdessen Bürokratismus für den Kunsthandel, für das
Kunstsammeln und für den Kulturgüteraustausch sein.
({4})
- Herr Grindel!
Wir hatten die Hoffnung, dass wenigstens die politischen Kräfte innerhalb des Parlaments erkennen, dass
hier des Guten zu viel getan wurde, und dass der Eifer
der Regierung in den parlamentarischen Beratungen
noch korrigiert wird. Doch leider haben die Berichterstatter von Union und SPD nicht einmal ein Komma im
Gesetzentwurf geändert, ohne vorher beim BKM der Regierung um Erlaubnis zu bitten.
Ich möchte hier eines deutlich sagen: Die FDP ist für
den Kulturgüterschutz und gegen Raubgrabungen. Wir
teilen Ihre Ziele. Wir halten die Umsetzung aber für ungeeignet, in manchen Aspekten sogar für kontraproduktiv. Ich möchte Ihnen anhand von Beispielen erläutern,
warum wir gegen das Ausführungs- und das Ratifizierungsgesetz der UNESCO-Konvention stimmen werden.
Die UNESCO-Konvention von 1970 sieht vor, dass der
Betreiber eines Kunst- oder Antiquitätenhandels oder eines Auktionshauses bei Erwerb und Veräußerung von
Kulturgut Aufzeichnungen zur Identität des Veräußerers
zu machen hat.
({5})
- Ich komme darauf noch zu sprechen.
Während alle anderen Staaten - ich betone: alle - der
Konvention folgen und lediglich die Aufzeichnung der
Identität des Veräußerers festschreiben, fordert die Koalition von CDU/CSU und SPD zusätzlich die Aufzeichnung der Identität des Einlieferers, des Erwerbers und
des Auftraggebers, also die Identität von vier Personen
statt die von einer, wie von der Konvention gefordert.
Das ist wohl kaum eine Eins-zu-eins-Umsetzung.
Dieser Bürokratismus wird jedoch, wenn er nur von
einem der 110 Unterzeichnerstaaten eingeführt wird,
nicht dazu führen, dass illegale Geschäfte aufgedeckt
oder verhindert werden. Das Ergebnis wird schlicht und
einfach sein, dass Kunsttransfers nicht mehr in Deutschland abgewickelt werden.
({6})
Herr Börnsen hat noch vor einem Jahr sehr richtig erkannt: Deutschland wird noch weiter an den Rand des
internationalen Kunstmarktes gedrängt.
({7})
In einem weiteren Punkt geht das Ausführungsgesetz
über den Text der Konvention hinaus. Denn es wird eine
Beweislastumkehr eingeführt, die nicht nur der gesetzlichen Eigentumsvermutung des BGB entgegensteht,
sondern auch den rechtmäßigen Eigentümer eines
Kunstwerkes unter Verdacht stellt. Nach dem Motto
„Schuldig, bis die Unschuld bewiesen werden kann“
muss der Besitzer eines Kunstwerkes darlegen, dass er
rechtmäßig Eigentum am Kunstwerk erworben hat.
Doch wer hebt allen Ernstes Rechnungsbelege mehrere
Jahrzehnte lang auf und vererbt diese auch noch an die
nächste Generation?
({8})
Ich bedaure, dass die Koalition trotz intensiver Diskussionen in weiteren Punkten keine Änderungen am
Regierungsentwurf vorgenommen hat. Zum einen halten
wir die von den Münzhändlern und Münzsammlern vorgetragenen Bedenken für gewichtig. Wie anders ließe
sich erklären, dass beispielsweise Dänemark Münzen
generell aus dem Geltungsbereich der UNESCO-Konvention herausgenommen hat? Diese sind nicht nur in
Dänemark, sondern auch in Deutschland durch die bestehenden Gesetze ausreichend geschützt.
Zum anderen fehlt eine Regelung zur Sicherung des
freien Geleits für Kulturgüter. Ein Beispiel für eine
durch die Regelungen des freien Geleits ermöglichte
Ausstellung ist die im Jahr 2003 in Berlin und Bonn gezeigte Ausstellung „Schätze der Himmelssöhne“. Das
Eigentum an den bedeutenden Exponaten, unter anderem aus dem Nationalen Palastmuseum von Taipeh,
wurde und wird von der Volksrepublik China beansprucht. Diese Kunstschätze wurden von Taiwan nur
deshalb ausgeliehen, weil deren Rückgabe auf der
Grundlage des Kulturgutsicherungsgesetzes von der
Bundesrepublik rechtsverbindlich zugesagt werden
konnte.
Nach der Ratifizierung des UNESCO-Abkommens
von 1970 ist nicht auszuschließen, dass eine solche völkerrechtlich verbindliche Rückgabezusage zukünftig mit
Rückgabeansprüchen von Vertragsstaaten dieser Konvention kollidiert.
({9})
Dass allein diese Rechtsuntersicherheit ausreicht, um zukünftige Ausstellungsvorhaben zu verhindern, wird sowohl von den Beamten des Kulturstaatsministers als
auch von der Regierungskoalition verkannt.
Durch die Abgabe eines einfachen völkerrechtlichen
Vorbehalts, dass das freie Geleit von Forderungen auf
der Grundlage dieses UNESCO-Übereinkommens unberührt bleibt, wäre diese Rechtsunsicherheit beseitigt. Von
der Möglichkeit, bei der Ratifizierung der UNESCOKonvention Vorbehalte einzulegen, haben insgesamt
15 Staaten, darunter die USA, Frankreich, Dänemark,
Schweden und Großbritannien, Gebrauch gemacht. Weder der Kulturstaatsminister noch die Regierungskoalition haben überzeugend darlegen können, warum
Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch
machen sollte.
Abschließend komme ich zum UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Niemand ist gegen die Ziele,
die in dieser Konvention formuliert sind. Wir brauchen
wirksame Instrumente, die dazu beitragen, dass kulturelle Waren und Dienstleistungen nicht nur als Wirtschaftsgüter, sondern auch als Kulturgüter betrachtet
und auch so behandelt werden. Herr Börnsen, Sie haben
das sehr ausführlich dargestellt. Aber mit Kulturförderung und Kulturschutz muss sich jedes Land selbst befassen. Hierbei geht es im Prinzip darum, Protektionismus zu gewährleisten bzw. zu ermöglichen, und es geht
um die Quotierung und den Schutz einer ganz bestimmten Kultur vor einer möglicherweise übermächtigen kulturellen Bedrohung. Sie haben das in meinen Augen zum
Teil zu einfach dargestellt.
Welche Auswirkungen diese Konvention hat, kann
heute niemand sagen. Insofern wäre nach unserer Vorstellung eine sorgsame Prüfung im Rahmen einer Gesetzesfolgenabschätzung erforderlich gewesen. Darauf und
auf eine ausführliche Diskussion über die Folgen dieser
Konvention hat die Bundesregierung zugunsten einer
ohne Not übereilt vollzogenen Ratifizierung leider verzichtet. Die wünschenswerte kulturelle Vielfalt könnte
infolge der Ratifizierung dieser Konvention leicht zu einem Antidiskriminierungsgesetz werden, das dazu führt,
dass vor lauter Gleichberechtigung und Solidarität die
Freiheit der individuellen künstlerischen Ausdrucksformen behindert wird. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist
auch wirklich gut.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Steffen Reiche für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kulturfreunde! Wir alle haben Kultur. Vor allem:
Wir leben von Kultur. Deshalb ist es so wichtig, dass wir
mit unserem heutigen Beschluss zwei weiteren der sieben schon jetzt gültigen globalen Kulturkonventionen
beitreten, indem wir sie ratifizieren. Vier der sieben gültigen UNESCO-Konventionen werden damit nach dem
Beschluss des Bundesrates auch in Deutschland anerkannt. Dann sind sie auch hier gültig.
Kultur gehört wie die Umwelt zu den Grundlagen unseres Lebens.
({0})
Unsere Werte und unsere Identität sind ohne Kultur nicht
denkbar. So wie unsere Umwelt unser Leben materiell
ermöglicht, so tut dies unsere Kultur ideell. Sie ist wie
die Umwelt das, was wir nicht selber herstellen können
und deshalb besonders schützen müssen. Beide, Kultur
und Umwelt, müssen in Zeiten der Globalisierung auch
global geschützt werden.
Seit 1954 gibt es nun schon insgesamt sieben
UNESCO-Konventionen zum Schutz der Kultur. Sieben
ist eine heilige Zahl und zeigt Vollständigkeit, Geschlossenheit und Integrität. Dass nun vier von sieben dieser
Übereinkommen in Deutschland gelten, ist eine gute,
aber keine zufriedenstellende Bilanz. „Die Welt ist
flach“, hat Thomas L. Friedman entdeckt. Die Globalisierung hat zu einer Einebnung der Welt geführt. Wirtschaftliche Güter, Produkte und Dienstleistungen werden weltweit produziert und gehandelt, als wäre unser
runder Globus flach.
Dabei darf es aber nicht zu einer Einebnung der Kulturen kommen. Bei der Einebnung der Welt dürfen der
Bestand der Kulturen, ihre Vielfalt und Verschiedenartigkeit nicht gleich mit eingeebnet werden; denn sonst
kommt es unwiederbringlich zum Verlust von Kulturen
und Kulturgütern. Das ist dann auch der Anlass zum
Kampf der Kulturen. Wenn andere Völker sich bei der
globalen Einebnung auf einer flachen Welt um ihre Kultur und ihre Kulturgüter betrogen fühlen, dann kämpfen
sie: zuerst um ihre Kultur und dann auch gegen andere.
Denn mit ihrer Kultur würde nicht nur ihre Kultur verloren gehen, sondern zugleich auch ihre Identität, ihre
Werte und ihre Lebensgrundlagen.
Die UNESCO ist die höchste von fünf Ebenen der
Kulturpolitik, der Politik zum Schutz der Kulturen. Ich
bitte, dass das in Zukunft deutlicher bemerkt und berücksichtigt wird: Mittlerweile gibt es fünf Ebenen, auf
denen Kulturpolitik betrieben wird, nämlich die lokale,
kommunale Ebene, die regionale Ebene, die nationale
Ebene, die kontinentale Ebene, also Europa, und die globale Ebene, also die UNESCO.
Heute ratifizieren wir die nach der Haager Konvention von 1954 älteste UNESCO-Konvention, nämlich
das „Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und
zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und
Übereignung von Kulturgut“ aus dem Jahre 1970. Zugleich, also im Doppelpack, ratifizieren wir die siebente
UNESCO-Konvention, also die letzte und jüngste von
2005, die „Konvention zum Schutz und zur Förderung
der kulturellen Vielfalt“.
Leider bleiben damit aber eben drei von sieben Konventionen auch heute noch in Deutschland nicht bindendes, nicht umgesetztes Völkerrecht; denn gültig sind
diese drei von Deutschland noch nicht ratifizierten Konventionen schon längst, weil über 30 Staaten jede von ihnen ratifiziert hat. International gültig, von Deutschland
aber noch nicht ratifiziert, sind die vierte Konvention
von 1995, die Unidroit-Konvention, die fünfte Konvention, die „Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter
Wasser“, und die sechste Konvention, die „Konvention
zum Schutz des immateriellen Kulturerbes“.
Keine der fünf Fraktionen im Parlament darf sich
heute brüsten; denn alle haben in den 37 Jahren seit 1970
regiert oder mitregiert - die PDS 19 Jahre, die SPD
18 Jahre, die CDU/CSU 17 Jahre, die Grünen sieben
Jahre und die FDP am längsten, nämlich 28 Jahre ({1})
Steffen Reiche ({2})
und es nicht geschafft, diese Konventionen zu ratifizieren. Nun endlich schaffen wir es in der ersten großen
Koalition seit 1970.
({3})
Auch für scheinbar so kleine Dinge braucht man also
große Koalitionen.
({4})
Was gut für die Kultur der Welt ist, muss auch gut
sein für Deutschland, und zwar nicht nur deshalb, weil
Deutschland ein schöner und wichtiger Teil der Welt,
Kulturnation und Impulsgeber für andere Kulturen ist,
sondern auch, weil wir mit der großartigen globalen
Sammlungs- und Museumskultur des 19. Jahrhunderts
auch einer der wichtigsten Impulsgeber für den globalen Schutz der Kulturen waren. Der Geist ist nicht zu
sich selbst zurückgekehrt, wie Hegel prophezeite. Alles,
was er hervorbrachte, wurde ab da aber gesammelt und
gezeigt als Zeugnis des einen Weltgeistes.
Etwas anderes wird heute zugleich belegt und bewiesen. Wo manche noch darüber streiten, ob der Bund eine
kulturelle Aufgabe und somit auch Kulturhoheit hat,
beweisen wir heute gleich dreifach: Der Bund hat eine
solche Kulturaufgabe und Kulturhoheit, die er zum
Schutz der Kultur anwendet. Die Europäische Union, die
die UNESCO-Konventionen zur kulturellen Vielfalt mit
erarbeitet hat, hat sie. Die UNO, die Staatengemeinschaft, hat sie ebenfalls; das haben wir zum Glück längst
erkannt.
So wie wir das Klima nur global und gemeinsam
schützen können, so können wir auch die Kultur nur global und gemeinsam schützen. So wie es das Weltklima
gibt, das aus vielen einzelnen lokalen und regionalen
Wettern besteht, so gibt es auch die Weltkultur, die aus
vielen einzelnen lokalen, regionalen und nationalen Kulturen besteht. Für Außerirdische wäre diese Weltkultur
anders erkennbar und wahrnehmbar als für uns.
({5})
Aber da es diese Außerirdischen, diese ETs, nicht gibt,
sind wir als Weltbürger gut beraten, unsere Weltkultur
in ihrer Vielfalt selbst besser zu erkennen und zu schützen.
({6})
Diese Aufgabe kann uns keiner abnehmen. Unser
Welterbe an Kulturen und Kulturgütern ist keine nachwachsende Ressource. Es ist einmalig. Das viele Zerstörte aus Jahrtausenden Kulturgeschichte ist unwiederbringlich verloren. Deshalb müssen wir das bisher noch
Erhaltene für uns und künftig Lebende besser schützen.
Deshalb muss Deutschland, auch und gerade weil es ein
so reiches und an Kulturerbe reiches Land ist, vorbildlich sein. Jedes Land, auch Sachsen, jede Stadt, auch
Dresden,
({7})
muss sich an die völkerrechtlich bindenden Verträge halten.
({8})
Unsere Debatte heute zeigt: Neben den Kommunen
und Regionen, die hier Verantwortung wahrnehmen,
sind die Nationen, die EU und die UNO zu gleich wichtigen Akteuren für die Kultur in der Welt geworden. Ich
freue mich darüber, dass wir heute die Kulturschutzkonvention ratifizieren. Meine Lieblingssendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das ab heute durch die
UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt gegen alle
EU-Dienstleistungsrichtlinien und WTO/GATS-Angriffe
auf Dauer, einklagbar und endgültig geschützt ist, der
„Kulturweltspiegel“, hat neulich davor gewarnt, dass
Deutschland zu einer Drehscheibe des illegalen Kulturgüterhandels werden könnte.
({9})
Wir müssen uns vor Augen halten: Nach dem illegalen
Drogenhandel und nach dem illegalen Waffenhandel ist
der illegale Kulturhandel der drittgrößte Markt.
({10})
Wenn es da Sumpf gegeben hat, auch in Deutschland, ist
er jetzt trockengelegt.
({11})
Kulturgüter sind keine normalen Waren. Es gibt einen
Unterschied zwischen dem Klauen eines Radios und
dem Klauen der Himmelsscheibe von Nebra. Die rund
3 600 Jahre alte Scheibe ist die weltälteste Darstellung
des Kosmos. Ihr Verkäufer gab an, sie sei 1999 von
Schatzsuchern mit einem Metalldetektor gefunden worden. Tatsächlich war sie aber bei dem Trubel der deutschen Wiedervereinigung gestohlen worden und dann
auf dem Schwarzmarkt mit einer Preisvorstellung von
10 Millionen Euro angeboten worden. Dieser archäologische Fund ist Eigentum des Landes Sachsen-Anhalt
und wurde nach einer verdeckten Aktion der Schweizer
Polizei nach Deutschland zurückgebracht.
Deshalb bin ich dankbar dafür, dass der Ausschuss
meiner Bitte gefolgt ist und wir dem Beauftragten der
Bundesregierung gemeinsam einen Brief geschrieben
haben des Inhalts, mit der nächsten Änderung des BGB
solle auch der § 948 so geändert werden, dass das
Schatzregal künftig in allen Bundesländern gilt.
({12})
Diese Konvention entfaltet ihre Wirkung nun auch in
Deutschland. Die Ratifikation ist ein Beitrag Deutschlands zum internationalen Weltkulturerbe, denn wir
schützen mit dem Gesetz nicht nur unser eigenes Erbe
vor anderen Staaten, sondern respektieren zugleich das
kulturelle Erbe anderer Staaten.
Nach der Ratifizierung dieser beiden Konventionen
ist vor der Ratifizierung der nächsten drei Konventionen.
Weder die FDP, die trotz 28 Jahren Regierungsmitver7866
Steffen Reiche ({13})
antwortung seit 1970 auch heute nicht ratifizieren will,
weil sie wenig Schutz geben will,
({14})
weil sie sich von den Kulturgüterlobbyisten hat verführen lassen, noch jemand anders darf uns daran hindern,
erst die Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes von 2003 und dann das Übereinkommen von
2001 zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser zu ratifizieren.
Vier Schritte sind wir gegangen, drei müssen wir noch
gehen, um beim Weltkulturerbe nicht nur anerkanntes,
sondern auch anerkennendes UNESCO-Mitglied zu
sein. Seien Sie mit uns auf dem Weg! Das würde mich
freuen; ich würde es herzlich begrüßen.
Vielen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Dr. Lukrezia
Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir feiern heute eine Art Festakt für die Kultur. Das ist auch gut
so und obendrein überfällig. Fast auf den Tag genau vor
einem Jahr, am 25. Januar 2006, hat meine Fraktion den
Antrag gestellt, das UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt schnell zu ratifizieren. Ich erinnere mich
noch gut an die 37. Sitzung am 1. Juni vergangenen Jahres, als die gleichen Themen wie heute, die beiden
UNESCO-Konventionen, auf der Tagesordnung standen,
allerdings spätabends und mitten in der Nacht. Damals
habe ich als einzige Rednerin zu diesem Thema zu begründen versucht, warum wir als Linksfraktion die Ratifizierung der UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt für so dringlich und notwendig erachten.
Es geht um grundsätzliche Fragen: Ist kulturelle Vielfalt ein bestimmendes Merkmal der Menschheit? Ist sie
eine Hauptantriebskraft für die nachhaltige Entwicklung
von Gemeinschaften, Völkern und Nationen? Ist sie unabdingbar für Frieden und Sicherheit auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene? Ist sie Teil der Verwirklichung von Menschenrechten und Grundfreiheiten?
148 Staaten, darunter 25 europäische, sagen Ja. Sie vertreten die Überzeugung, dass Kultur mehr ist als nur
Ware, dass kulturelles Schaffen mehr ist als eine Dienstleistung und dass wir alle ein Recht auf eigene und vielfältige Kultur haben.
({0})
Eigene und vielfältige Kultur, damit ist im Grunde der
Begriff der Leitkultur neu definiert - schade, dass der
Kollege Lammert nicht anwesend ist -: Eigenart und
Vielfalt in jeder einzelnen Gesellschaft, respektiert von
allen anderen Gesellschaften, das ist ein Begriff, mit
dem wir eine Kulturdiskussion gut im Inneren führen
und uns ebenfalls offen nach außen wenden können.
({1})
Das sagt sich leicht; aber - machen wir uns nichts
vor - einfach zu verwirklichen ist es nicht. Denn wer
sich für das Recht auf eigene Kultur einsetzt, gerät
zwangsläufig in Konflikt mit der globalen Kommerzialisierung, die nur Waren, Dienstleistungen und ihre Verwertung kennt, aber keine Werte an sich. Der Kollege
Börnsen hat das zu Beginn dieser Debatte, wie ich finde,
sehr eindrucksvoll vorgetragen.
({2})
Insofern ist der beeindruckende weltweite Einsatz für die
kulturelle Vielfalt, dem wir uns nun heute durch die Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens anschließen,
auch Teil des globalen Kampfes gegen die Kommerzialisierung aller Dinge und Werte, auch der Kultur.
({3})
Da diese Kommerzialisierung ein rasantes Tempo
vorlegt, muss die Gegenbewegung ebenso dynamisch
sein, um das Gleichgewicht zwischen Handelsfreiheit
und Kultur zu erhalten. Dafür gibt es gute Ansätze. So
hat die Arbeitsgruppe der Assemblée nationale und des
Deutschen Bundestages zum Thema „Kulturelle Vielfalt
in Europa“ bereits wichtige Impulse für die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen in Deutschland und
Frankreich, aber auch der gesamten EU erarbeitet. „Unterschiedliche Wege, gleiche Ziele“ heißt ein Motto. Es
ist ein Signal für das Zusammengehen zweier Staaten in
Europa mit Öffnungsperspektiven für andere.
Wir können also bewegen und wir können gegensteuern, wenn wir uns mit all denen zusammentun, die auf
ihre eigenständige und vielfältige Kultur setzen. Das
Staatsziel Kultur gehört dazu und die Völkerrechtsbindung beim Weltkulturerbe gleichermaßen.
({4})
Insofern wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf der
Regierung zustimmen.
({5})
Nun zum UNESCO-Übereinkommen von 1970. Auch
diesem Gesetzentwurf der Regierung werden wir zustimmen; dem Ausführungsgesetz dazu allerdings nicht. Wir
haben intensiv und permanent daran gearbeitet, dass es
zu einer überfraktionellen Zustimmung zu diesem Ausführungsgesetz kommt. Es war uns klar, dass nach
36 Jahren Nichtstun in Sachen Kulturgutschutz in diesem
Land gewissermaßen ein undurchsichtiges, wildwüchsiges Rechtsterrain existiert, welches schwierig zu bearbeiten ist.
({6})
Aus Respekt vor der umfangreichen und schwierigen
Arbeit, die alle Fraktionen geleistet haben, wäre ein gemeinsames Ergebnis sehr zu begrüßen gewesen. Unsere
Sorge galt dabei vor allem dem Schutz archäologischer
Kulturgüter. Sie sind noch viel stärker als andere Kulturgüter gefährdet, wie die Raubgrabungen im Irak, in
Süditalien und selbst hierzulande, Beispiel Nebra, zeigen.
Uns erscheinen die vorgesehen Regelungen zum
Schutz dieser Kulturgüter nicht ausreichend. Deshalb hat
meine Fraktion eine Evaluierung der Auswirkungen des
Gesetzes vorgeschlagen. Nach Ablauf von drei Jahren
soll ein Bericht über seine Auswirkungen, insbesondere
mit Blick auf die archäologischen Kulturgüter, vorgelegt
werden, um gegebenenfalls Nachbesserungen vorzunehmen. Dieser Bericht soll von einer unabhängigen Kommission erstellt werden, die vom Staatsminister für Kultur einberufen wird.
Aber selbst dieser Vorschlag wurde von den Koalitionsfraktionen abgelehnt. Sie schlagen im neuen Gesetz
lediglich vor, dass ein Bericht erstellt wird. Uns geht es
aber nicht um einen allgemeinen Bericht, sondern um
eine zeitnahe Evaluierung der Auswirkungen dieses Gesetzes mit gleichzeitiger Verpflichtung, gegebenenfalls
neue Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber zu
entwickeln.
Die Linksfraktion bringt diesen Vorschlag nun in einem eigenen Entschließungsantrag ein. Ich kann Sie nur
bitten, sich diesem Antrag anzuschließen. Eine mehrheitliche Zustimmung böte die Möglichkeit, das Ausführungsgesetz in einem entscheidenden Punkt dann doch
noch zu verbessern. Von dieser Notwendigkeit sind im
Übrigen nicht nur wir überzeugt. Darauf haben mehrere
Sachverständige in der öffentlichen Anhörung hingewiesen.
Meine Bitte ist also: Setzen Sie sich einmal darüber
hinweg, dass ein guter Antrag, nur weil er von der
Linksfraktion kommt, abgelehnt werden muss.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Uschi Eid für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute zwei UNESCO-Übereinkommen zur internationalen Kulturpolitik abschließend, zum
Teil nach sehr intensiver Beratung.
Zum einen ist es die UNESCO-Konvention von 1970
zum Kulturgüterschutz. Es ist ein bedeutsames Abkommen, dessen Ratifizierung durch Deutschland wirklich
überfällig ist. Die Plünderung von Grabungsstätten im
Irak, die Sprengung von Buddha-Statuen in Afghanistan
haben uns das Problem drastisch vor Augen geführt. Es
geht um die Bewahrung des kulturellen Erbes vor unwiederbringlichem Verlust. Uns alle hat der illegale Kunsthandel, insbesondere mit Hehlerware aus Ausgrabungsstätten, aufgeschreckt. Es steht außer Frage: Nur durch
international abgestimmte Maßnahmen kann dieser illegale Handel unterbunden werden.
Seit 37 Jahren liegt diese Konvention vor. In der letzten Legislaturperiode war es die rot-grüne Mehrheit, die
endlich die Beratung dieser Konvention auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir haben den Entschluss der jetzigen Bundesregierung, dem Abkommen beizutreten, von
Anfang an begrüßt. Wir hatten ein großes Interesse daran, ein praktikables, aber auch wirksames Ausführungsgesetzt mit auf den Weg zu bringen.
Ein Hauptproblem, das uns von Anfang an begleitet
hat, war ja, wie man zwischen den Interessen der beteiligten redlichen Akteure - Wissenschaft, Handel und
Museen - und den notwendigen Regelungen für einen
wirksamen Schutz von Kulturgütern einen Kompromiss
finden kann, der das übergeordnete Ziel nicht unterläuft
und auch gegenüber den anderen Vertragsstaaten keinen
Zweifel daran lässt, dass man die Verpflichtung zum
Schutz ihres Kulturerbes ernst nimmt.
Es war meiner Fraktion ein echtes Anliegen, dieses
Abkommen heute gemeinsam, das heißt, getragen von
allen Parteien, zu verabschieden. Fast wäre es auch gelungen. Meine Fraktion war zu weitgehenden Zugeständnissen bereit. Leider hat die Koalition dies in letzter
Minute vereitelt.
Ich möchte deshalb nochmals zwei Forderungen von
uns hervorheben, die leider im Kulturausschuss abgelehnt wurden:
Erstens. Wir beantragten die Verlängerung der Frist
für die Nacherfassung von archäologischen Bodenfunden und deren nachträgliche Klassifizierung und Eintragung in die Liste schützenswerter Kulturgüter durch die
Herkunftsländer von einem Jahr auf zwei Jahre. Vor allem für Entwicklungs- und Schwellenländer, die keine
hinreichenden Informations- nur oder schwach ausgebildete Wissenschaftsstrukturen haben, ist eine Einjahresfrist zu knapp. Zugleich sind diese aber in der Mehrzahl
von Raubgrabungen und dem illegalen Handel mit antiken Gegenständen betroffen. Im Gegensatz zur Koalition
sind wir der Auffassung, dass dem gutgläubigen Erwerber und Besitzer sowie dem Kunsthandel eine Zweijahresfrist unter Abwägung aller Rechtssicherheitsargumente zumutbar gewesen wäre.
({0})
Zweitens. Wirksamer Kulturgüterschutz braucht
Transparenz. Dazu gehört eine Aufzeichnungs- und
Informationspflicht. Diese sollte so präzise und praktikabel wie möglich gestaltet werden, um die Wege, die
Kulturgüter nehmen, auch wirklich nachvollziehbar zu
machen, und zwar über einen angemessenen Zeitraum.
Deshalb haben wir gefordert, die Fristen der Aufbewahrung von Herkunfts- und Verbleibnachweisen von
zehn auf 30 Jahre auszudehnen - auch deswegen, weil
Ansprüche auf die Rückgabe von Kulturgütern laut Gesetzentwurf nach 30 Jahren erlöschen. Dass diese Forderung mit Verweis auf eine zu große Belastung des Kunsthandels abgelehnt wurde, bedauere ich; denn selbst in
Ländern, die für ihre liberale Kunsthandelspraxis bekannt sind, gelten 30 Jahre, so etwa in der Schweiz.
Ich bedauere es außerordentlich, dem Gesetzentwurf
in der jetzigen Form auch nach dem langen und intensiven Beratungsverlauf nicht zustimmen zu können. Da
wir diese Konvention aber für eine der wichtigsten Konventionen im Hinblick auf die Einhaltung eines internationalen Kulturgüterschutzes halten, werden wir dem
Ratifizierungsgesetz zustimmen.
Die zweite Konvention, um die es heute geht, ist die
UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt. Meine
Fraktion begrüßt, dass Deutschland diesem Übereinkommen in Kürze beitreten wird; mit dem von uns vorgelegten Entschließungsantrag bekräftigen wir dies.
({1})
Wir begrüßen die in der Konvention festgelegten
Grundprinzipien: das gemeinsame Erbe der Menschheit zum Nutzen aller zu achten und zu erhalten, die Kultur als strategisches Element in die Entwicklungspolitik
zu integrieren, dass die kulturelle Vielfalt durch den
freien Austausch von Ideen gestärkt und durch grenzüberschreitende Interaktionen bereichert wird und dem
Doppelcharakter kultureller Güter, Aktivitäten und
Dienstleistungen zum einen als Handelsware, zum anderen aber ganz besonders als Träger von kultureller Sinngebung Rechnung getragen wird.
Meine Bedenken hinsichtlich des möglichen Missbrauchs dieser Konvention zur Abschottung der eigenen
Bevölkerung gegenüber fremden kulturellen Einflüssen,
für protektionistische Maßnahmen oder das Schüren ethnischer Unterschiede für machtpolitische Zwecke unter
dem Deckmantel der Förderung kultureller Vielfalt habe
ich bereits bei der Beratung im Juni 2006 zu Protokoll
gegeben. Diese Problemdimensionen des Abkommens
müssen wir mit bedenken und verantwortungsvoll mit
der Umsetzung dieser Konvention umgehen.
({2})
Deshalb fordern wir Grüne die Bundesregierung in
unserem Entschließungsantrag auf, sich darum zu bemühen, Mitglied in der Konferenz der Vertragsparteien zu
werden und eine Mitgliedschaft im zwischenstaatlichen
Ausschuss anzustreben, um entsprechenden Einfluss auf
die Umsetzung der Konvention zu nehmen. Sie sehen:
Egal wer diese Regierung stellt, ich habe in dieser Hinsicht in die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland großes Vertrauen.
({3})
Die Europäische Gemeinschaft hat bei den Verhandlungen über die Konvention mit einer Stimme für die
Mitgliedstaaten gesprochen. Deutschland kommt in seiner Ratspräsidentschaft die Aufgabe zu, unter den EUMitgliedstaaten eine gemeinsame Position in Bezug auf
die Arbeitsagenda und die Umsetzungsschritte der Konvention herbeizuführen und diese in die Vorbereitung der
Vertragsstaatenkonferenz einzubringen. Auch die Einbindung der Zivilgesellschaft ist in der Konvention festgeschrieben. Kulturnutzer, Kulturverbände und Kulturindustrie sind am Umsetzungsprozess breit zu beteiligen.
Dies sicherzustellen, muss Aufgabe der deutschen Regierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft sein.
({4})
Ich komme zum Schluss. Kulturelle Vielfalt ist ein
hohes Gut, aber sie ist kein Selbstzweck. Eine Vielfalt
um der Vielfalt willen, eine Vielfalt, die sich nicht aufeinander zu beziehen weiß, wird allen guten Intentionen
der UNESCO-Konvention zuwiderlaufen. Kulturelle
Vielfalt muss der kulturellen Freiheit dienen. Hier stehen
die demokratisch verfassten Staaten, hier steht Deutschland in der besonderen Pflicht, und die Bundesregierung
muss diese Verantwortung mit all ihren politischen Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen.
({5})
Nun hat die Kollegin Professor Monika Grütters für
die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es schon in der ersten Rederunde gemerkt: Am meisten umstritten ist und bleibt in einigen Teilen das
UNESCO-Abkommen zum Kulturgüterschutz. Deshalb
möchte ich darauf eingehen. Ich finde, was lange währt,
wird endlich gut. Das ist immerhin ein schönes deutsches Sprichwort.
Ich bin erleichtert und froh, dass wir heute nach fast
37 Jahren endlich zur Verabschiedung eines Gesetzes
kommen, mit dem Deutschland wieder in die Gemeinschaft der Staaten aufgenommen wird, die sich weltweit
darauf verständigt haben, Kulturgüter vor der unerlaubten Ausfuhr aus dem Stammland, vor der unerlaubten
Einfuhr in andere Länder und vor dem Handel als möglicher Hehlerware zu schützen.
({0})
So weit Deutschland beim Beitritt zum UNESCOKulturgüterschutzabkommen hinterherhinkt, so flott ist
es beim Beitritt zum UNESCO-Abkommen zur kulturellen Vielfalt. Es ist ermutigend, dass wir Versäumnisse
auf der einen Seite auf der anderen schnell wieder wettmachen können.
Frau Jochimsen, dass der Staatsminister für Kultur
und Medien die Umsetzung der UNESCO-Konvention
zum Kulturgüterschutz in deutsches Recht auf die
Agenda seiner ersten 100 Tage im Amt gesetzt hat - das
ist übrigens auch Teil unserer Koalitionsvereinbarung -,
mag Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Sie mit Ihrem
Antrag nicht die Ersten waren.
({1})
Wir sind in dieser Angelegenheit vorgeprescht.
({2})
Für eine Kulturnation wie Deutschland ist es von herausragender Bedeutung, sich einer solchen internationalen Vereinbarung zum Kulturgüterschutz nicht länger zu
verschließen, Herr Otto. Alles andere wäre - das war es
auch fast 37 Jahre lang - unwürdig.
({3})
Immerhin haben 109 Staaten, darunter Kunsthandelszentren wie Großbritannien und die USA, längst ihr Commitment erklärt. Bald kann auch die große Kunsthandelsnation Deutschland wieder aufrecht und selbstbewusst
auftreten.
({4})
Dass es in Deutschland mehr als 36 Jahre gedauert
hat, liegt einerseits an der komplizierten Rechtsprechung
hierzulande und andererseits natürlich an den unterschiedlichen Interessen der Betroffenen. Die Archäologen fordern detaillierte Aufzeichnungspflichten und
Aufbewahrungspflichten von 30 Jahren - dem haben Sie
sich angeschlossen, Frau Eid -, während die Vertreter
des Kunsthandels - das ist FDP-Linie - zusätzliche Dokumentationspflichten gänzlich ablehnen.
({5})
- Sage ich ja. Sie lehnen sie wegen der größeren Bürokratie ab. - Numismatiker dagegen wollen massenhaft
produzierte Kulturgüter wie Briefmarken, Bücher, Grafiken, Medaillen oder Münzen gänzlich aus dem Geltungsbereich des Gesetzes ausschließen. Dass das nicht
harmonisch zusammengefügt werden kann, ist evident.
Es ist aber beachtlich, dass wir es geschafft haben, zu einem, wie ich meine, guten Ende der Diskussion zu kommen.
({6})
Immerhin haben wir jetzt festgelegt, wie die Definition „geschütztes Kulturgut“ aussehen soll. Wir haben
ferner festgelegt, wie sich die daraus ergebenden Listen
geschützter Kulturgüter aussehen müssen. Wir haben
Aufzeichnungsregelungen gestaltet, die nicht über das
vorhandene Maß hinausgehen. Wir haben Wertgrenzen,
die lange umstritten waren, festgelegt und sind zu einem
Kompromiss gekommen. In diesem Punkt haben wir
noch einmal nachgegeben. Schließlich haben wir auch
festgelegt, welche Fristen für die Nacherfassung wichtig
sind und wie lange ein Staat das Recht haben soll, einmal ins Ausland verbrachte Kulturgüter zurückzuverlangen.
Der Weg war steinig, weil es bei der Umsetzung in
deutsches Recht um heikle politische und juristische Fragen ging.
({7})
Herr Otto, um zu einem Ergebnis zu kommen, haben
wir im Kulturausschuss - das war am Anfang nicht
selbstverständlich - intensiv diskutiert. Wir haben keine
kleine, sondern eine große Anhörung durchgeführt. Als
Abgeordnete, die noch nicht so lange im Bundestag ist,
finde ich es beachtlich, dass wir in fünf Berichterstattergesprächen versucht haben, einen Allparteienkompromiss zu erarbeiten. Uns wäre diese Einigung wichtig gewesen, weil es nicht um ein Detail, sondern um
Deutschlands Selbstverständnis in der internationalen
Gemeinschaft geht. Es tut mir leid, dass am Ende kein
Allparteienkompromiss zustande gekommen ist; aber
immerhin haben wir heute eine Mehrheit.
Die Grünen werden dem Ratifizierungsgesetz - Frau
Eid hat es schon gesagt - nach langen, zähen Verhandlungen zustimmen und sich bei der Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Koalition enthalten. Ich finde,
das ist eine konstruktive und sehr faire Einstellung zu
diesem Anliegen.
({8})
Wir haben versucht, Ihre Anregungen aufzugreifen,
wenn das auch nicht in allen Punkten möglich war.
Frau Jochimsen, die Linke hat mit ihrer Empfehlung,
das Gesetz nach drei Jahren zu evaluieren - ich gestehe,
dass das nicht auf unsere Initiative zurückgeht -, im Kulturausschuss eine entsprechende Entschließung bewirkt.
Auch das finde ich nicht selbstverständlich. Deshalb
finde ich es schade, dass Sie am Ende nicht mehr zustimmen konnten. Wir anderen haben der Entschließung auf
Ihre Anregung hin zugestimmt.
Nur die FDP - das möchte ich hier deutlich betonen ({9})
hat auf der Zielgeraden, nach vielen Berichterstattergesprächen, endlich klargemacht - ich glaube, das war von
Anfang an so -, dass sie nicht mitmachen will.
({10})
Als die FDP zum Beispiel mit ihrer Forderung nach einer Wertgrenze von 3 000 bis 5 000 Euro kam, war ganz
offensichtlich, dass die FDP bei ihrer Klientelpolitik
bleibt und sich damit eindeutig gegen den internationalen Kulturgüterschutz stellt.
({11})
Das ist schade, auch wenn es eine Mehrheit für dieses
Gesetz ohne Sie gibt. Herr Waitz, Sie müssen sich aber
schon fragen lassen, was Ihnen wichtiger ist: Ihre nicht
gerade große Wählerschaft oder der Schutz nationalen
Kulturgutes und die Mitgliedschaft Deutschlands in einer internationalen Gemeinschaft?
Unser Ziel bei der Ausfertigung dieses Gesetzes
konnte es nach 36 Jahren nicht sein, unterschiedliche
Gegensätze weiterhin zu kultivieren. Sie sind ja allgemein bekannt. Wir wollten einen gangbaren Weg beschreiten, der die Kulturnation Deutschland wieder in
den Staatenverbund aufnimmt, der sich internationalen
Standards des Kulturgüterschutzes verpflichtet fühlt.
Das scheint Ihr Ziel nicht zu sein. Da Ihre Forderungen
zuletzt regelrecht radikal aussahen, drängt sich mir der
Verdacht auf, dass Sie das von Anfang an nicht wollten.
Das Kulturgüterschutzanliegen ist meines Erachtens
dennoch so bedeutsam, dass es den Versuch eines parteiübergreifenden Ansatzes rechtfertigt.
Künftig wird es einen öffentlich-rechtlichen Rückgabeanspruch zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und den UNESCO-Vertragsstaaten für national wertvolles Kulturgut geben. Zweitens gibt es Einfuhrregelungen, die die Verbringung solcher Gegenstände nach
Deutschland verhindern sollen, die kulturelles Erbe eines anderen Vertragsstaates sind und deren Ausfuhr dort
verboten ist. Herr Waitz, drittens sind die im Gesetz enthaltenen Aufzeichnungspflichten für gewerbliche
Kunsthändler und Versteigerer so gestaltet, dass sie mit
bereits vorhandenen Aufzeichnungspflichten im Steuerund Handelsrecht korrespondieren.
({12})
Ich meine, dass dieses Gesetz dem guten Ruf der
Kunsthandelsbranche, der Sie sich angeblich so verpflichtet fühlen, nur dienen kann. Das sollten Sie Ihren
Freunden mitteilen.
({13})
Deshalb sind übermäßige Belastungen, wie Herr
Börnsen es gleich zu Anfang gesagt hat, auch nicht zu
befürchten.
Mit der Ratifizierung des Kulturgüterschutzabkommens haben wir ein wichtiges kulturpolitisches Vorhaben unseres Koalitionsvertrages umgesetzt. Beide Gesetzentwürfe zu den UNESCO-Konventionen, der zur
kulturellen Vielfalt und der zum Kulturgüterschutz, bedeuten einen deutlichen Fortschritt für den Kulturgüterschutz in unserem Land. Ich finde, darauf können wir
stolz sein.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Otto.
({0})
Verehrte Frau Kollegin Grütters, Sie und viele Ihrer
Vorredner erwecken hier den Eindruck, als ob wir uns
ohne dieses von Ihnen heute zur Abstimmung gestellte
Gesetz in einem rechtlosen Zustand, geradezu in einem
Hehlerland befänden. Das ist gigantischer Unsinn.
({0})
- Dieser Eindruck zieht sich hier durch. Wir seien in einem rechtlosen Zustand, das ganze Land sei mit Hehlerware überschwemmt, wir seien nicht im internationalen
Geleitzug.
Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Wir haben fast 37 Jahre lang darüber diskutiert, und alle Fraktionen dieses Hauses waren aus guten Gründen ein wenig zurückhaltend. Denn damit wird der Kunsthandel
insgesamt behindert.
Ich will vor allen Dingen auf eines hinweisen: Es gab
über all die Jahre das europäische Kulturgutübereinkommen, das äußerst wirksam ist. Wir hatten ein deutsches
Kulturgutschutzgesetz, das durchaus wirksam war. Wir
waren in keinem rechtlosen Zustand.
Meine nächste Bemerkung: Wir sind weit über das hinausgegangen, was in anderen Ländern der internationalen Gemeinschaft gilt. Kollege Waitz hat darauf hingewiesen. Kein Land dieser Erde, kein einziges von den
140 Ländern, die das Übereinkommen ratifiziert haben,
verlangt eine Registrierpflicht über den Veräußerer hinaus. Das ist eine riesige bürokratische Maschine, die
überhaupt nichts zur Erkenntnis beiträgt. Ich weiß nicht,
was man damit erreichen will.
Die Beweislastumkehr wird dazu führen, dass Privatleute in einigen Jahren Probleme bekommen. Wer
kann denn all die Belege aufbewahren? Wenn Sie etwas
erben, müssen Sie in 20 oder 30 Jahren beweisen, dass
dieses Kunstwerk schon zu dem Zeitpunkt in Deutschland war und nicht erst später nach Deutschland gekommen ist. Das kann im privaten Bereich niemand. Das ist
eine Übererfüllung und wird im UNESCO-Übereinkommen nicht gefordert.
Eine letzte Bemerkung zu den Wertgrenzen. Verehrte Frau Kollegin Grütters, machen Sie sich doch bitte
einmal die Mühe und schauen sich einmal an, welche
Wertgrenzen unsere europäischen Partnerländer eingeführt haben. Die Wertgrenze in Großbritannien liegt bei
20 000 Euro. In vielen Ländern liegt die Wertgrenze bei
10 000 Euro. Wenn wir die Wertgrenze von 1 000 auf
3 000 Euro anheben wollen, erheben Sie den pauschalen
Vorwurf der Klientelpolitik. Wir wollen den Kunsthandel nicht strangulieren. Wir wollen nicht, dass Kunsthandel in andere Länder ausweicht. Deswegen finde ich es
nicht korrekt, dass Sie uns hier unlautere Motive vorwerfen.
Ich akzeptiere, dass Sie mit diesem Gesetz etwas Gutes erreichen wollen,
Herr Kollege, Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.
- letzte Bemerkung -, ich akzeptiere aber nicht, dass
der FDP unlautere Motive vorgeworfen werden. Ich
möchte den Kunsthandel in Deutschland vor dem pauschalen Vorwurf, der hierbei mitschwingt, in Schutz nehmen.
({0})
Frau Grütters zur Erwiderung, bitte.
Herr Kollege Otto, ich finde es wichtig, dass wir Polemik in der Diskussion über ein solch heikles Gesetz
vermeiden. Sie hat in den Medien stattgefunden und uns
alle eher belastet. Ich finde es daher unnötig, dass Sie sie
noch einmal so deutlich haben aufleben lassen. Von unserer Seite gab es dies in den Reden jetzt jedenfalls
nicht.
Zu Ihren konkreten Anmerkungen. Der Kunsthandel
wird in den anderen 109 Staaten nicht behindert. Er wird
hier selbstverständlich genauso wenig behindert werden.
Ehrlich gesagt, jeder Kunsthändler zeichnet natürlich
heute schon auf, was er an wen wo verkauft.
({0})
Das ist eine Selbstverständlichkeit für jedes seriöse Mitglied dieses Berufsstandes und für die Branche.
Herr Otto, es muss Anliegen der Kulturnation
Deutschland sein, dieses Abkommen zu ratifizieren. Es
geht nicht darum, dass es fast 37 Jahre lang anders möglich war. Es geht um unser Selbstverständnis und darum,
ob wir dieser Staatengemeinschaft angehören wollen.
Die komplizierte deutsche Rechtslage ist der Grund dafür, dass wir den Gesetzentwurf nur mühsam hinbekommen haben und es so lange gedauert hat. Aber sich weiter auf die allbekannten, nicht versöhnlichen Gegensätze
zu berufen, ist kein Fortschritt.
({1})
Die Belege für bedeutende Erbstücke bewahre ich
auf. Die wird man mir natürlich auch vererben. Alles andere lässt sich im Wege der Provenienzforschung im
Zweifelsfalle - nur um den geht es - nachvollziehen.
Zu dem Letzten, den Wertgrenzen, kann ich Ihnen nur
sagen: Wir hätten das Gesetz am liebsten ganz ohne verabschiedet. Das wäre auch gegangen.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Monika Griefahn für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir entscheiden heute über die Ergebnisse zweier Prozesse, die
unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite
geht es um das UNESCO-Übereinkommen von 1970.
Vor allem mit uns selbst - die Interessen innerhalb der
Bundesrepublik Deutschland waren, das muss man deutlich sagen, sehr verschieden - haben wir mehr als
36 Jahre ringen müssen, um zu einer Umsetzung dieser
Konvention zu kommen. Heute nun steht diese an; darüber bin ich sehr froh.
Auf der anderen Seite steht die UNESCO-Konvention
zum Schutz der kulturellen Vielfalt. Da war die Situation
ganz anders: Die Bundesrepublik Deutschland hat entscheidend zur Entstehung dieser Konvention beigetragen, die bereits 2005 in der Generalversammlung der
UNESCO verabschiedet worden ist. Ich bin sehr froh
darüber, dass wir zu ihrer Entstehung einen positiven
Beitrag leisten konnten.
Wir haben beide Verfahren zu einem Ergebnis gebracht, das sich sehen lassen kann. Das Schöne dabei ist,
dass die Ratifizierung dieser beiden Abkommen durch
die Bundesrepublik auch noch in die deutsche EU-Ratspräsidentschaft fällt. Wir zeigen damit nicht nur, welchen großen Stellenwert die Kultur im Zusammenhang
mit Europa besitzt, sondern wir unterstreichen auch,
welche eigene kulturpolitische Verantwortung wir innerhalb der Europäischen Union zu übernehmen bereit sind.
Auch das ist ein Signal.
({0})
Zu den inhaltlichen Punkten des UNESCO-Kulturgüterschutzabkommens haben Steffen Reiche und Frau
Grütters genug gesagt. Deswegen will ich jetzt mehr auf
die Konvention zur kulturellen Vielfalt eingehen. Die
Unterzeichnerstaaten sollen mit dieser Konvention in die
Lage versetzt werden, sich - jeder einzeln, aber auch gemeinsam - wirkungsvoll für eine möglichst bunte Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu engagieren und
diese zu bewahren. Das bezieht sich auf vieles: auf Literatur, Musik, Schauspiel, Malerei, Architektur, Kunsthandwerk, Film, Video, Rundfunk, Neue Medien, aber
auch auf Sprache und kulturelle Überlieferung - auch
das ein ganz wichtiger Punkt, der meist ein wenig zu
kurz kommt. Zusammen mit vielen anderen Aspekten
gehört das zu unserem kulturellen Erbe, aber auch zu
dem kulturellen Erbe von vielen, die in Nationalstaaten
mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen leben.
Es geht dabei nicht darum, die verschiedenen Kulturelemente zu einem großen Ganzen zu verschmelzen, sondern wir wollen die Vielfalt schützen. Das ist eine Frage
von Melting Pot versus Salad Bowl, um das Neudeutsch
zu sagen,
({1})
also Schmelztiegel gegenüber Salatschüssel, bei der die
einzelnen Blätter zu sehen sind; eben kein Labskaus, wie
wir in Hamburg sagen würden.
Mit der vorliegenden UNESCO-Konvention sollen
den Mitgliedstaaten die zum Schutz der Vielfalt notwendigen Instrumente an die Hand gegeben werden. Das
macht ihre große Bedeutung aus. Die Mitgliedstaaten
werden sich über den hohen Rang der Kultur klar werden, diese vertreten und gegenüber anderen Interessen
abwägen müssen. Zum Beispiel werden Kulturgüter
bei internationalen Wirtschaftsabkommen häufig wie
Wirtschaftsgüter behandelt, was ihrem kulturellen Charakter gefährlich entgegensteht. Wir glauben, dass Kultur eine Sonderrolle haben muss. Ansonsten unterliegt
sie sehr schnell Liberalisierungsbestrebungen, und nur
das wirtschaftlich Stärkste, der Mainstream, setzt sich
durch. Wir sehen das in den USA häufig: Wenn Sie in
dem sehr reichen Silicon Valley wohnen, müssen Sie
200 Kilometer fahren, nach San Francisco, wenn Sie in
die Oper wollen. Sonst gibt es weit und breit keine. Dagegen gibt es bei uns auch im ländlichen Raum durchaus
kulturelle Leuchttürme. Ich glaube, das ist etwas ganz
Wichtiges, was wir erhalten sollten.
({2})
Wir Sozialdemokraten haben immer für die Einsicht
gekämpft, dass Kultur Lebensmittel ist, und zwar ein
möglichst vielfältiges Lebensmittel. Beim Essen will
man doch auch nicht jeden Tag Kartoffeln mit Rührei
auf der Speisekarte stehen haben. In der Konvention ist
deshalb das Ziel formuliert, dass die Staaten weiterhin
eine eigenständige Kulturpolitik verfolgen können.
Das muss gerade in Zeiten globalisierter Kultur gewährleistet sein, damit wir keinen kulturellen Einheitsbrei bekommen. Sonst gäbe es irgendwann nur noch Britney
Spears. Eine tolle Gruppe wie Natural Seven aus den
USA, die ich kürzlich gesehen habe, hätte dann vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, hier aufzutreten.
Auch die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird von Liberalisierungsbefürwortern immer
wieder infrage gestellt. Das haben wir im Zusammenhang mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie erlebt, als verlangt wurde, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk
dem Markt überlassen werden müsse. Wir glauben, dass
dieser Rundfunk ein wichtiger Teil der demokratischen
Ordnung ist und dass er auch einen kulturellen Auftrag
hat und deshalb nicht als reines Wirtschaftsgut behandelt
werden darf.
({3})
Die Konvention hat zwar in einem solchen Fall keine
bindende Wirkung, aber gerade bei der Dienstleistungsrichtlinie hat sich gezeigt, wie wichtig sie ist. Denn inzwischen enthält diese Richtlinie einen Verweis auf die
Konvention. Das heißt, dass auch die Anliegen der Konvention in der Dienstleistungsrichtlinie berücksichtigt
werden müssen. Dazu gehört auch die Sicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Darin sehe ich auch Chancen für andere internationale Abkommen, zum Beispiel innerhalb der WTO das
GATS-Abkommen, das den grenzüberschreitenden Handel mit immateriellen Wirtschaftsgütern regelt. Dazu gehören auch Bildung oder Medien, die in dem Abkommen als Wirtschaftsgut betrachtet werden und der freien
Marktwirtschaft unterliegen sollen. Wenn wir es schaffen, dass die Konvention zur kulturellen Vielfalt in diesem Bereich Wirkung entfaltet, dann wird eine Abwägung zugunsten des Schutzes und der Förderung von
Medien und Bildung auf nationaler Ebene möglich, statt
sie als reines Wirtschaftsgut zu betrachten.
Richtig ist - wie Frau Eid festgestellt hat -, dass der
Ausdruck der kulturellen Vielfalt nicht als Entschuldigung dafür genutzt werden darf, Maßnahmen gegen
Grundrechte wie die Pressefreiheit oder die Gleichberechtigung von Frauen als Teil der kulturellen Identität
darzustellen. Es gibt Länder, die es als Teil ihrer kulturellen Identität bezeichnen, Frauen zu unterdrücken oder
auf Pressefreiheit zu verzichten.
({4})
Wir haben klargemacht, dass das ein wichtiger Punkt ist.
Es ist kein Element von Kultur, wenn Grundrechte betroffen sind.
Neben Frankreich, Kanada und Brasilien war Deutschland die treibende Kraft bei der Erarbeitung der Konvention. In der bundesweiten Koalition für kulturelle Vielfalt
haben wir bereits im Vorfeld der Entwicklung der Konvention mit allen Beteiligten - vom Deutschen Kulturrat
über die Bibliotheken und Universitäten bis hin zu den
Kommunen und Ländern wurden alle Gruppen, die daran
interessiert waren, einbezogen - zusammengearbeitet.
Damit haben wir das, was Uschi Eid eingefordert hat,
schon erfüllt: die Beteiligung der gesellschaftlichen
Gruppen. Das, was im Antrag der Grünen gefordert
wird, haben wir bereits im Vorfeld gemacht. Andere Länder beginnen erst jetzt damit.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich der Deutschen UNESCO-Kommission danken, die mithilfe des
BKM und des Auswärtigen Amtes den Prozess angestoßen und begleitet hat. Wir haben eine breite Debatte führen und dadurch den Prozess sehr schnell in Gang setzen
können. Insofern können wir den Prozess nach der Ratifizierung sehr schnell fortsetzen, weil schon alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt sind. Ich glaube, das ist
ein sehr wichtiger Punkt.
Für die anstehende Umsetzung der Konvention haben
wir angefangen, Bündnispartner zu suchen. Frau
Jochimsen hat die gemeinsame Arbeitsgruppe des Deutschen Bundestages und der Assemblée Nationale bereits
erwähnt. Dabei haben wir konkret darauf geachtet, welche Elemente in Europa einen konkreten Anschub brauchen, wo wir Initiativen ergreifen müssen - sei es im Urheberrecht, beim Film oder der Förderung von Musik -,
um die Vielfalt zu gewährleisten, welche Rahmenbedingungen für die Vielfalt wir mit Blick auf Europa berücksichtigen müssen und welche Vorschläge wir machen
müssen.
Wegen der bevorstehenden Wahlen in Frankreich haben wir ein Zwischenergebnis erstellt. Dieser Bericht
wird den beiden Präsidien des Bundestages und der Assemblée Nationale am 14. Februar vorgestellt. Die Arbeit war sehr gut und intensiv. Wir haben beschlossen,
sie weiterzuführen und andere europäische Länder in
den Prozess einzubeziehen. Wir haben bereits Kontakt
zu den Italienern aufgenommen und werden noch weitere Länder ansprechen. Denn ich glaube, es ist wichtig,
dass wir dabei alle an einem Strang ziehen. Ich finde, das
ist eine tolle europäische Perspektive, die uns weltweit
weiterbringen kann, weil wir dann mit einer Stimme
sprechen, aber dabei die Vielfalt in Europa erhalten. Das
sollte uns wichtig sein.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und
die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen,
Drucksache 16/3711. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4144, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/4213. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 6 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/4144
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt
schnell ratifizieren“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
auf Drucksache 16/457 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu
dem Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und
zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und
Übereignung von Kulturgut, Drucksache 16/1372. Der
Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4145, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der FDP-Fraktion angenommen.
({1})
Wir bleiben noch beim Tagesordnungspunkt 6 c. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ausführungsgesetz zum
Kulturgutübereinkommen, Drucksache 16/1371. Der
Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter Buchstabe b Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4145, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Unter Buchstabe b Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/4145 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4212. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Versicherungsvertragsrechts
- Drucksache 16/3945 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({3})
- Darf ich bitten, dass diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen, den Saal verlassen und die Gespräche außerhalb fortführen. Das gilt insbesondere für
die engagierten Kulturpolitiker. - Ich danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache zur Reform des Versicherungsvertragsrechts und erteile das Wort der Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass es in
Deutschland 430 Millionen Versicherungsverträge gibt.
Für alle Menschen, die einen Versicherungsvertrag abgeschlossen haben oder dies in Zukunft tun werden, soll
der 1. Januar 2008 zu einem guten Tag werden.
({0})
Das ist nämlich der Tag, an dem das reformierte Versicherungsvertragsgesetz, über dessen Entwurf wir heute
beraten, in Kraft treten soll. Dieses Gesetz wird für mehr
Verbraucherschutz sorgen und Versicherte insbesondere
bei Lebensversicherungen deutlich besserstellen.
Das geltende Recht stammt aus dem Jahre 1908 und
trägt den Belangen der Versicherten heute zu wenig
Rechnung. Wir meinen, dass der gerechte Interessenausgleich zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherten nachjustiert werden muss. Besonders wichtig
sind Verbesserungen für die Kunden von Lebensversicherungen. Sie alle wissen, dass diese im Zuge der dritten Säule der Rentenversicherung eine ganz neue Bedeutung bekommen haben. Wir werden künftig den
Anspruch des Versicherungsnehmers auf Überschussbeteiligung an die Versicherung als Regelfall im Gesetz
festschreiben. Wir legen zudem fest, dass die Versicherten an den stillen Reserven einer Versicherung beteiligt
werden müssen. Das soll auch für die Restlaufzeit der
Verträge gelten, die bei Inkrafttreten des Gesetzes schon
bestehen.
Eine weitere Verbesserung betrifft die Rückkaufswerte von Lebensversicherungen. Wir haben bisher im
Falle einer vorzeitigen Kündigung immer auf den unklaren Begriff des Zeitwertes einer Lebensversicherung abgestellt. Das hat zu Rechtsunsicherheiten und Entscheidungen der höchsten deutschen Gerichte geführt.
Künftig wird deshalb der Rückkaufswert anhand des Deckungskapitals der Versicherung berechnet. Das ist eine
klare Regelung. Sie wird dazu führen, dass die Versicherten bei vorzeitiger Kündigung ihres Vertrages mehr
Geld bekommen.
Mehr Geld bekommen werden sie auch in den Fällen
des sogenannten Frühstornos. Wenn man heutzutage einen Vertrag abschließt und ihn bereits nach einem Jahr
wieder verkaufen muss, dann werden die Abschlussgebühr der Versicherung und die Provision für den Versicherungsmakler in voller Höhe in den ersten Jahren auf
die Prämien umgelegt, sodass man nichts zurückbekommt. Ich möchte folgendes Beispiel n ennen: Ein
30-Jähriger, der eine Kapitallebensversicherung mit
35 Jahren Laufzeit abschließt, 1 000 Euro Jahresbeitrag
zahlt und im zweiten Jahr kündigt, geht bislang in aller
Regel leer aus, das heißt, die 1 000 Euro sind weg. Das
wollen wir ändern. Künftig müssen die Abschlusskosten
des Vertrages einschließlich der Provision auf fünf Jahre
verteilt werden. Das bedeutet konkret: Wer 1 000 Euro
gezahlt hat und im zweiten Jahr kündigt, bekommt künftig 560 Euro zurück. Das ist eine deutliche Verbesserung.
Neben diesen Verbesserungen wollen wir den Verbraucherschutz im Versicherungsrecht insgesamt stärken. Dazu drei Beispiele, die zeigen, was das konkret bedeutet:
Erstens. Es soll mehr Informationen für die Verbraucher geben. Wir wollen eine bessere Beratung, und wir
schaffen das Policenmodell ab. Bisher kommt ein Vertrag zustande, wenn die Versicherung den Versicherungsschein, also die Police, übersendet. Häufig bekommt der Versicherungsnehmer erst dann alle
Vertragsbedingungen. Das wollen wir ändern. Künftig
muss schon vorher über die Details informiert werden.
Erst dann wird unterschrieben. Mit anderen Worten: Wir
gleichen das Verfahren beim Versicherungsabschluss
dem Verfahren an, das auch sonst in Deutschland beim
Rechtsverkehr gilt.
Zweitens. Wir wollen mehr Transparenz bei den Kosten. Bei einer Lebensversicherung und bei den Krankenversicherungen müssen in Zukunft vor dem Vertragsabschluss die Abschlusskosten und die Vertriebskosten,
also die Verwaltungskosten, die anfallen, offengelegt
werden. Dadurch wiederum bekommen die Verbraucher
mehr Klarheit über das, was sie am Ende herausbekommen bzw. was alles im Laufe einer 35-jährigen Versicherungszeit für die Verwaltung der Versicherungsunternehmen verschwindet.
Drittens. Wir wollen mehr Fairness bei Verstößen des
Versicherten gegen Vertragspflichten. Galt bisher das
Alles-oder-nichts-Prinzip, entweder Vollversicherung
oder gar nichts, so soll es künftig eine Abwägung geben,
wie schwer das Verschulden des Versicherungsnehmers
in dem Einzelfall wirklich ist. Ein Beispiel: Wenn man
aus dem Haus geht, ein Fenster gekippt lässt und dann
eingebrochen wird, dann hat man nach bisheriger
Rechtslage grob fahrlässig gehandelt und bekommt keinen Pfennig. Wenn man so etwas künftig macht, dann
soll geprüft werden, welchen Anteil das Verschulden
ausmacht, und nur um diesen Anteil kann die Versicherung die Leistungen dann kürzen.
Wir haben mit diesem Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt
zur Beratung vorliegt, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinen Entscheidungen zum Versicherungsvertragsrecht berücksichtigt. Wir haben schon vorher, im Jahr 2000, eine Expertenkommission eingesetzt
und einen Entwurf zum Versicherungsvertragsrecht erarbeiten lassen. Da waren Wissenschaftler, Rechtsanwälte,
Vertreter der Versicherungswirtschaft und die Verbraucherverbände beteiligt. Angesichts dieser breiten und
auch langandauernden Vorbereitungen seit dem
Jahr 2000 - jetzt haben wir das Jahr 2007 - kann man
sagen, dass die Vorarbeiten ausgezeichnet waren und
dass der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, ein solider Gesetzentwurf ist, der bereits im Vorfeld auf breite Zustimmung gestoßen ist, wenn auch nicht bei allen Versicherungsunternehmen. Der Bundesrat hat nur ganz wenige
Änderungsvorschläge gemacht, was für die Akzeptanz
spricht.
Wir verbinden mit diesem Gesetzentwurf die Modernisierung des Rechts mit mehr Schutz für die Verbraucher und mit mehr Gerechtigkeit beim Interessenausgleich. Ich hoffe, dass der Gesetzentwurf auch hier im
Hause eine breite Zustimmung findet.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Ministerin hat es gesagt: Sechseinhalb
Jahre wurde an der Reform des Versicherungsvertragsrechts bereits gearbeitet, und heute beraten wir den Gesetzentwurf hier in erster Lesung. Eines ist meiner Meinung nach unstreitig: Umfassende Änderungen des
Gesetzes, das aus dem Jahr 1908 stammt, sind angebracht. Das Gesetz muss den heutigen Rahmenbedingungen und Gerechtigkeitsvorstellungen angepasst werden. Deshalb steht die FDP vom Grundsatz her den
Zielen der Reform positiv gegenüber.
({0})
Bei der Reform hat der Gesetzgeber verschiedene
Vorgaben zu beachten. Zum einen gibt es mehrere EURichtlinien, die uns entsprechende Vorgaben machen.
Deutschland ist bereits einem Vertragsverletzungsverfahren ausgesetzt. Sowohl die geltenden deutschen
Rechtsvorschriften über vorvertragliche Pflichten der
Versicherungsunternehmen als auch die Regelungen
über das Recht auf Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag entsprechen nach Ansicht der EU-Kommission nicht dem Europarecht. Hier ist dringend dafür
Sorge zu tragen, dass die deutschen Regelungen richtlinienkonform gefasst werden.
Neben den EU-Vorgaben sind auch Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs aus den letzten Jahren zu beachten; die Frau
Ministerin hat schon darauf hingewiesen. Das betrifft
zum einen die Frage der Überschussbeteiligung bei kapitalgebundenen Lebensversicherungen. Es fehlen nach
den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
vom 26. Juli 2005 hinreichende rechtliche Vorkehrungen
dafür, dass bei den Berechnungen des bei Vertragsende
zu zahlenden Schlussüberschusses die Vermögenswerte,
die aus den Prämien der Versicherer erwirtschaftet wurden, angemessen berücksichtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber Zeit bis Ende 2007
gegeben.
Der Weg zu einer verfassungsfesten und dennoch
wirtschaftlich tragfähigen Regelung der Überschussbeteiligung ist schwierig. Nach dem Gesetzentwurf soll
künftig die Hälfte der Bewertungsreserven nach Beendigung des Vertrages ausgezahlt werden. Die neue Regelung ist ein Schritt in die richtige Richtung. In den Beratungen werden wir aber meines Erachtens noch zu
diskutieren haben, ob wir auch festverzinsliche Wertpapiere mit unter die jetzige Regelung fallen lassen.
({1})
Lassen Sie mich zum anderen auch die Neuregelung
des Rückkaufswertes ansprechen. Hier muss das Urteil
des Bundesgerichtshofs aus dem Oktober 2005 beachtet
werden. Der Bundesgerichtshof hat mangelnde Transparenz bei der Berechnung der Rückkaufswerte, der Abschlusskosten und des Stornoabzugs moniert. Darin
liege für die Versicherungsnehmer eine unangemessene
Benachteiligung.
In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte besonders zu berücksichtigen und bedürfen einer Diskussion.
Ausländische Versicherer sehen in den Regelungen der
garantierten Rückkaufswerte Verstöße gegen das geltende EU-Recht. Insbesondere Lebensversicherer aus
dem angelsächsischen Raum bieten am Markt nämlich
Lebensversicherungen in einer Konzeption an, die es ihnen nicht ermöglicht, garantierte Rückkaufswerte auszuweisen. Damit könnte diese Regelung zu einer Einschränkung des Wettbewerbs und der Produktvielfalt
führen und somit mit dem EU-Recht nicht vereinbar
sein.
Der Bundesregierung ist dieses Problem offensichtlich bisher entgangen; denn sie hat vor zehn Tagen auf
eine entsprechende schriftliche Frage von mir geantwortet, dies müsse man erst einmal prüfen.
({2})
Auch hier bietet sich also ausreichender Diskussionsstoff für eine Anhörung im Rechtsausschuss, die meine
Fraktion beantragen wird.
({3})
Es gibt aber noch einen anderen Kritikpunkt bei der
Regelung der Mindestrückkaufswerte, nämlich die Anwendung dieser Regelung auf Altverträge. Der Bundesrat lehnt in seiner Stellungnahme eine Rückwirkung auf
Altverträge ausdrücklich ab. In ihrer Gegenäußerung
verweist die Bundesregierung auf eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts, wonach die Übergangsregelung die Interessen der Versicherungsnehmer bei einem
Frühstorno von Altverträgen hinreichend berücksichtigen müsse. Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung zugesagt, die jetzt vorgeschlagene Regelung er7876
neut hinsichtlich verfassungsrechtlicher Fragen zu
prüfen. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Problem auch
in den parlamentarischen Beratungen vertieft diskutieren
werden.
Eine weitere grundlegende Änderung im Versicherungsvertragsgesetz wird in den Beratungen natürlich
auch ausführlich zu diskutieren sein, nämlich die vorgeschlagene Abschaffung des Policenmodells. Nach Ansicht der EU-Kommission entspricht das Policenmodell
nicht den EU-Vorgaben. Hier ist - ich erwähnte es schon ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig. Bei den
Beratungen zu diesem Thema werden wir die Auswirkungen einer Abschaffung des Policenmodells auf die
Versicherungswirtschaft und die damit verbundenen
praktischen Schwierigkeiten in die Prüfung einzubeziehen haben. Auch müssen wir Übergangs- und Umsetzungsfristen in den Blick nehmen, gerade im Hinblick
darauf, dass es hier, wie die Frau Ministerin sagte, um
etwa 430 Millionen Verträge geht.
Lassen Sie mich als letzten Punkt noch kurz die geplante teilweise Abschaffung des Alles-oder-nichtsPrinzips erwähnen; die Frau Ministerin hat auch das
schon angesprochen. Die grob fahrlässige Verletzung
von Anzeige- und Obliegenheitspflichten des Versicherungsnehmers soll künftig entsprechend der Schwere
seines Verschuldens nur zu einer Kürzung, nicht zu einem vollständigen Verlust des Anspruchs führen. Dies
entspricht meines Erachtens dem heutigen Gerechtigkeitsempfinden. Praktische Schwierigkeiten bei der Bewertung des Grades des Verschuldens sollten sich im
Rahmen halten.
Es wird also ein wichtiges Ziel der parlamentarischen
Beratungen sein, das Gesetz so zu fassen, dass es einen
sinnvollen Beitrag zum Verbraucherschutz darstellt. Die
geplanten Regelungen müssen nicht nur daraufhin überprüft werden, ob sie für den einzelnen Versicherungsnehmer Vorteile bringen. Belastungen und Mehrkosten
für die Versichertengemeinschaft und auch für die Versicherungsunternehmen müssen genauso überprüft und
beurteilt werden. Insoweit freue ich mich auf die Beratungen im Rechtsausschuss.
({4})
Nächster Redner ist nun der Kollege Marco
Wanderwitz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns
heute in erster Lesung mit dem Gesetz zur Reform des
Versicherungsvertragsgesetzes, des VVG. Ich meine,
diese Reform ist ein zentrales Thema der Rechts- und
Verbraucherpolitik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Das Versicherungsvertragsgesetz ist - das
wurde von meinen beiden Vorrednerinnen schon erwähnt - fast 100 Jahre alt. An sich ist es ein schöner
Umstand, dass es so lange Bestand gehabt hat. Das zeigt,
dass unsere Zivilrechtsordnung von hoher Qualität und
Stetigkeit ist.
Rechtssicherheit ist - darauf sollte man bei jeder sich
bietenden Gelegenheit hinweisen - ein hohes Gut und
für Deutschland auch ein Standortfaktor. Dennoch bedarf das VVG nunmehr dringend einer grundlegenden
Überarbeitung. Nicht zuletzt die bereits angesprochenen
Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2005 zeigen dies.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns, geprägt vom
Leitbild eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Verbrauchers, den wir stärken wollen, zu einer Neujustierung des Interessenausgleichs zwischen Versicherern und Versicherten bekannt. Transparenz ist dabei
eine notwendige Voraussetzung.
Der Gesetzentwurf Ihres Hauses, sehr geehrte Frau
Ministerin, hat viele Anregungen der Beteiligten bereits
aufgenommen und ist eine gute Grundlage für unser parlamentarisches Verfahren, an dessen Beginn wir stehen.
Ich denke, es war richtig, komplett neu anzusetzen und
keine Änderungen des bestehenden Gesetzes vorzunehmen. Auch die schon erwähnte vorangegangene Arbeit
der Expertenkommission möchte ich noch einmal ausdrücklich loben.
Hervorzuheben ist auch die große praktische Bedeutung dieser Reform. Allein im Bereich der Lebensversicherungen, also in einem Teilbereich der Versicherungswirtschaft, gibt es zurzeit rund 95 Millionen
Bestandsverträge. Täglich werden in Deutschland Tausende neuer Lebensversicherungsverträge angebahnt
oder abgeschlossen. Der Versicherungsplatz und Versicherungsmarkt Deutschland ist von großer Bedeutung,
auch für unsere Volkswirtschaft.
Ich möchte mich heute zu Beginn des parlamentarischen Verfahrens, das wir nach Möglichkeit vor der parlamentarischen Sommerpause abschließen sollten, auf
einige grundsätzliche Ausführungen zum Inhalt sowie
auf das Aufzeigen der wesentlichen Felder, in Bezug auf
die ich noch Gesprächsbedarf sehe, beschränken. Zuerst
möchte ich Lob und Zustimmung zu ausgewählten
Punkten - Frau Ministerin, Sie haben sie teilweise schon
näher erläutert - äußern.
Das neue allgemeine Widerrufsrecht für alle Versicherungsverträge, unabhängig vom Vertriebsweg und
ohne die Notwendigkeit einer Begründung, schafft mehr
Rechtssicherheit und mehr Rechtsklarheit. Auch der
Wegfall der Klagefrist des Versicherungsnehmers für
den Fall der Ablehnung einer Leistung durch den Versicherer stärkt die Versicherten und ist ein sinnvoller Verzicht auf eine von den allgemeinen Verjährungsregelungen abweichende Sonderregelung.
({0})
Die gesetzliche Verankerung des Anspruches auf
Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung als
Regelfall und die Beteiligung an den sogenannten stillen
Reserven ist dem Grunde nach begrüßenswert, ebenso
wie - das wurde angesprochen - die Berechnung der
Rückkaufswerte bei vorzeitiger Vertragsauflösung nach
dem Deckungskapital der Versicherung. Ich glaube, im
Detail müssen wir hier allerdings noch nachjustieren.
Frau Kollegin Dyckmans hat schon einen Punkt angesprochen, der auch auf meiner Agenda steht. Wir liegen
da recht dicht beieinander. Die Verteilung der Abschluss- und Vertriebskosten auf fünf Jahre im Frühstornofall sowie deren Transparentmachung sind ebenfalls
positiv zu erwähnen.
({1})
Ich möchte aber auch die wichtigsten mir noch problematisch erscheinenden Bereiche, bei denen ich teilweise noch erheblichen Gesprächsbedarf sehe - das will
ich nicht verhehlen -, ansprechen.
Zunächst zum Inkrafttreten. Ich halte eine angemessene Übergangsfrist für nötig.
({2})
Nachdem das Gesetz durch Abdruck im Gesetzblatt in
Kraft getreten ist, sind eine Reihe von Verordnungen und
Ausführungsbestimmungen nötig. Erst wenn diese vorhanden sind, ist es der Versicherungswirtschaft möglich,
sich auf den neuen Zustand einzustellen. In der Folge
muss eine Menge Papier gedruckt werden. Mitarbeiter
und Vertreter müssen geschult werden.
Problematisch erscheint mir eine Rückwirkung auf
Bestandsverträge. Zum einen wurden diese auf einer gesetzlich regulierten, vertraglichen Geschäftsgrundlage
abgeschlossen. Wenn man hier rückwirkend eingreifen
würde, wäre dies ein schwerwiegender Eingriff, der einer guten Rechtfertigung bedürfte. Zum anderen handelt
es sich um eine schiere Unzahl von Verträgen, auf jeweils unterschiedlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen bzw. Tarifmodellen beruhend. Der Aufwand
und die damit verbundenen Kosten, die letztlich bei den
Versicherten ankommen, erscheinen mir nicht verhältnismäßig.
Die geplante Abschaffung des sogenannten Policenmodells sehe ich ebenfalls kritisch. Obgleich mir bewusst ist, dass es seitens der Europäischen Union Bedenken gegen das bestehende deutsche Recht gibt, halte ich
das Modell für ausgereift und im Grunde für gut.
({3})
Dem Zugewinn unter Verbraucherschutzaspekten steht
insbesondere ein Mehr an Kosten gegenüber, was dazu
führt, dass die Renditen geschmälert und die Beiträge erhöht werden. Zudem würde in Addition mit den schon
genannten weitergehenden Widerrufsrechten ein Zustand erreicht, der den Versicherungsunternehmen nur
schwer zumutbar zu sein scheint.
Auch von der geplanten Abschaffung des sogenannten Alles-oder-nichts-Prinzips bin ich noch nicht überzeugt. Die Besserstellung von Versicherungsnehmern,
die Anzeige- und Obliegenheitspflichten, also einen Vertrag, verletzen, geht zulasten der Renditen bzw. des Beitragsniveaus der Versicherungsnehmer, die vollumfänglich vertragstreu sind. Das entspricht nicht meinem
Verständnis von Verbraucherschutz.
Zum Abschluss möchte ich auf die vorzeitige Kündigung von Lebensversicherungsverträgen zurückkommen. Wir sollten, wie ich meine, eine Möglichkeit finden, die Versicherungsnehmer besser als bisher auf die
verschiedenen Möglichkeiten, die es abgesehen von einer Kündigung gibt, hinzuweisen und sie besser zu informieren. Das Stichwort in diesem Zusammenhang lautet „Zweitmarkt“.
({4})
All das konnte nur ein erster Ausschnitt sein. Wir haben im parlamentarischen Verfahren noch viel vor. Frau
Kollegin Dyckmans, ich kann Ihnen versichern, dass zu
diesem Thema eine Anhörung stattfinden wird. Die Koalitionsfraktionen verfügen über das notwendige Quorum, um dafür zu sorgen.
({5})
Ich freue mich auf die Beratungen.
({6})
Die Kollegin Dağdelen hat ihre Rede zu Protokoll ge-
geben, sodass der nächste Redner der Kollege Jerzy
Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
ist.1)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das in
Deutschland heute geltende Gesetz über den Versicherungsvertrag beginnt mit folgenden Worten:
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser,
König von Preußen, verordnen im Namen des
Reichs …
Das war im Jahre 1908. Im Jahre 1910 ist dieses Gesetz
in Kraft getreten.
({0})
Inzwischen mussten die Deutschen zwei Weltkriege er-
leiden, 13 Jahre lang hat in Deutschland die Weimarer
Republik existiert, und es kam zur Nazidiktatur. Auch in
den mehr als 50 Jahren des demokratischen Deutsch-
lands ist dieses Gesetz nicht den Notwendigkeiten der
modernen Welt und den neuen Risiken, die versichert
sein wollen, angepasst worden.
Dementsprechend schweigt das Versicherungsgesetz
zum Problem der Berufsunfähigkeit. Dafür ist die Hagel-
Versicherung umfassend geregelt. Es gibt keine Rege-
lungen über den vorläufigen Deckungsschutz, was auch
nicht verwundert, weil es im Jahre 1908 in Deutschland
nicht sehr viele Autos gab. Aber heute brauchen Millio-
nen von Menschen die Zusage einer vorläufigen
1) Anlage 4
Deckung. Dafür gibt es allerdings keine gesetzlichen Regelungen.
Das geltende Recht verpflichtet die Versicherungsgesellschaften weder zu einer Beratung und Information
vor einem Versicherungsabschluss noch zur laufenden
Information im Rahmen langjähriger Versicherungsverträge. Aber es ermöglicht ein sogenanntes Policenmodell, das in der Praxis seit Jahren dazu führt, dass die
Versicherten die Katze im Sack kaufen müssen. Denn
die Bedingungen, die für ihre Rechte und Pflichten und
für ihre Belastungen auf Jahre bzw. Jahrzehnte hinaus
von großer Bedeutung sind, erhalten sie erst, nachdem
sie ihren Wunsch geäußert haben, einen Vertrag abzuschließen - dies ist das Angebot zum Abschluss eines
Versicherungsvertrages -, und zwar zusammen mit der
Versicherungspolice, bei vielen Versicherungen sogar
erst dann, wenn der Vertrag zustande gekommen ist.
Über Jahrzehnte hinweg musste die Justiz durch Auslegung und freihändige Rechtschöpfung auf Veränderungen reagieren, die sich aus den neuen Risiken, gegen die
die Menschen sich versichern wollen und wofür die Versicherer eine Absicherung gegen Prämienzahlung anbieten, ergeben. Gesetzliche Änderungen gab es bisher nur
punktuell. Oft wurden sie durch entsprechende Vorgaben
der Europäischen Union angestoßen.
In rot-grüner Verantwortung hat das Bundesjustizministerium das Problem erstmals 2000 angepackt und eine
Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts berufen. Es hat leider vier Jahre gedauert, bis im
April 2004 ein Kommissionsbericht vorgelegen hat.
Noch einmal zwei Jahre später liegt jetzt der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts auf dem Tisch.
Wir Grünen begrüßen den Gesetzentwurf und die allermeisten Regelungen, die darin vorgeschlagen werden.
Ich will sie nicht im Einzelnen noch einmal aufführen;
sie alle sind von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern
genannt worden. Es wird jetzt Beratungen und Informationen geben. Ein Policenmodell wird es nicht mehr geben. Herr Kollege Wanderwitz, wir werden uns auch
vom Prinzip „Alles oder nichts“ verabschieden, das eben
doch zulasten des Einzelnen geht, weil die Reaktion der
Versicherung auf ein Fehlverhalten nicht adäquat und
abgestuft ist. Das ist ungerecht. In der Pflichtversicherung wird es auch hinsichtlich des Selbstbehalts einen
umfassenden Direktanspruch geben, und auch bei der
Lebensversicherung verzeichnen wir entscheidende Verbesserungen.
Von allen Seiten gibt es Kritik und Lob. Anders
könnte es auch gar nicht sein. Frau Kollegin Dyckmans,
wir werden uns in den parlamentarischen Beratungen
nicht nur auf Antrag Ihrer sehr honorigen Fraktion,
({1})
sondern auch auf übereinstimmenden Wunsch des ganzen Hauses sehr ausführlich mit den Problemen beschäftigen.
Zum Schluss will ich an einen Punkt erinnern, der in
diesem Gesetz bisher keinen Niederschlag gefunden hat.
In Art. 3 des Grundgesetzes heißt es:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Diese Aufforderung an den Staat hat in dem Gesetzentwurf keinen Niederschlag gefunden. Das wollen wir
Grüne ändern.
Danke schön.
({2})
Nun hat der Kollege Dirk Manzewski für die Fraktion
der SPD das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
hier schon gesagt worden: Das geltende Versicherungsvertragsgesetz stammt im Wesentlichen aus dem
Jahre 1908 und wird - ich glaube, darin sind wir uns einig - insbesondere den Erfordernissen eines modernen
Verbraucherschutzes längst nicht mehr gerecht. Ich teile
daher die Auffassung der Bundesregierung, dass punktuelle Änderungen oder Ergänzungen nicht mehr ausreichend sind, sondern dass wir eine Gesamtreform brauchen.
Lassen Sie mich meine Rede aufgrund der nur wenigen Zeit, die ich hier habe, auf einige wesentliche Neuerungen beschränken. Kollege Wanderwitz, ich halte es
für wichtig und richtig, dass die Versicherer die Versicherungsnehmer vor Abschluss des Vertrages nunmehr
nicht nur besser beraten und informieren müssen, sondern dass sie die Beratung jetzt auch zu dokumentieren
haben. Ich finde das gut, weil damit der Verbraucherschutz erheblich gestärkt wird;
({0})
denn zum einen wird dem Verbraucher dadurch besser
Gelegenheit gegeben, sich bereits vor Abschluss eines
Vertrages noch genauer mit den Einzelheiten des Vertrages auseinanderzusetzen, und zum anderen - das ist ja
auch nicht unwichtig - wird ihm im Streitfall die Beweisführung erleichtert. Ich finde, das ist sehr gut.
({1})
Neu ist, dass der Versicherungsnehmer grundsätzlich
nur ihm bekannte Umstände anzeigen muss, nach denen
der Versicherer zuvor in Textform gefragt hat.
Das Risiko einer Fehleinschätzung in der Frage, ob
ein bestimmter Umstand für das Versicherungsverhältnis
wichtig gewesen ist oder nicht, liegt damit nicht mehr
beim Versicherungsnehmer. Ich glaube nicht, dass es
hierdurch zu ungerechten Ergebnissen kommen wird.
Selbst wenn die Versicherung nachlässig gewesen ist,
wird die Rechtsprechung in Extremfällen meiner AuffasDirk Manzewski
sung nach schon Mittel und Wege finden, um zu einem
gerechten Ergebnis zu kommen.
({2})
Anders als bisher soll der Geschädigte nun, wie wir
das aus der Kraftfahrzeugversicherung kennen, bei allen
Pflichtversicherungen einen Direktanspruch gegen den
Versicherer bekommen. Damit erhält der Geschädigte
einen verhandlungs- und zahlungsbereiten sowie weitgehend insolvenzsicheren Schuldner. Wir werden allerdings
im Detail noch zu überprüfen haben, Frau Ministerin,
inwieweit sich das gegebenenfalls auf die Gesamtheit
der Versicherungsverträge negativ auswirken könnte.
Soweit der Versicherungsnehmer bislang gezwungen
war, seinen Anspruch auf die Versicherungsleistung
binnen sechs Monaten geltend zu machen, soll diese im
Grunde genommen einseitige Verkürzung der Verjährungsfrist zulasten der Versicherungsnehmer - meiner
Auffassung nach völlig zu Recht - wegfallen.
Künftig sollen zudem alle Versicherungsverträge, also
nicht nur, wie bislang, die Fernabsatzverträge, unabhängig
vom Vertriebsweg und ohne Angabe von Gründen widerrufen werden können.
Da es nach der Reform kaum einen Vertrag geben
dürfte, bei dem der Kunde vor Vertragsschluss derart über
diesen informiert wird, sollten wir zumindest andiskutieren, ob wir da nicht vielleicht ein bisschen über das Ziel
hinausschießen. Aber ich bin da nicht festgelegt.
Leichte Probleme habe ich mit der Aufgabe des sogenannten Alles-oder-nichts-Prinzips. Bislang ist es so - das
ist schon angesprochen worden -, dass der Versicherungsnehmer keinen Anspruch aus einem Versicherungsvertrag
hat, wenn er den Versicherungsfall vorsätzlich oder
zumindest grob fahrlässig verursacht hat. Bei grob fahrlässigen Verstößen sieht der Entwurf ein abgestuftes
Modell vor, nach dem die Leistung je nach Schwere des
Verschuldens lediglich gekürzt werden kann. Wir sollten
uns aber darüber im Klaren sein, dass wir der Rechtsprechung damit erhebliche Probleme bereiten, und ausgiebig diskutieren, ob wir dies tatsächlich wollen. Dabei
sollte uns natürlich bewusst sein, dass wir die Auswirkungen zu überprüfen haben, deren Kosten dann gegebenenfalls auf die Gesamtheit der Versicherten umgelegt werden.
Ich persönlich gehe davon aus, dass Versicherungen
dadurch möglicherweise teurer werden würden.
Änderungen - die Ministerin hat es angesprochen - soll
es auch bei den so bedeutenden Lebensversicherungen
geben. Für den Versicherungsnehmer wird es in diesem
Zusammenhang sicherlich vorteilhaft sein, mittels einer
Modellrechnung vorab darüber informiert zu werden,
welche Leistungen ihn realistischerweise erwarten, wobei
natürlich allen klar ist: Es kann sich hierbei nur um eine
fundierte Prognose und nicht um eine Leistungszusage
handeln.
Nicht zuletzt aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - auch das ist von den Kollegen
schon angesprochen worden - soll der Versicherungsnehmer zukünftig richtigerweise an den stillen Reserven
der Versicherung angemessen beteiligt werden. Wir werden
allerdings darüber reden müssen, ob die angedachte
Höhe nicht möglicherweise etwas überzogen ist.
Der Rückkaufswert der Lebensversicherung soll
künftig nicht mehr nach dem Zeitwert, sondern - das
finde ich sehr gut - nach dem Deckungskapital der Versicherung berechnet werden. Der Rückkaufswert wird
sich hierdurch mit Sicherheit besser bestimmen lassen.
Damit er in den ersten Jahren etwas höher ausfällt - auch
das ist von der Ministerin gesagt worden -, werden die
Abschlusskosten der Lebensversicherung auf die ersten
fünf Jahre verteilt. Dies ist ein wesentlicher Vorteil für den
Versicherungsnehmer, da die gezahlten Prämien bislang
gleich mit den Abschlusskosten verrechnet worden sind
und dementsprechend der Rückkaufswert anfangs bis
auf null minimiert wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe jetzt die eine
oder andere allerdings nur leichte Kritik geäußert oder
angemahnt, dass wir uns noch über die eine oder andere
Sache unterhalten müssen. Ansonsten, Frau Ministerin: Es
handelt sich um ein großes und umfängliches Werk. Ich
muss Ihnen ein Lob dafür aussprechen. Ich finde, es ist
sehr gelungen, auch wenn über die eine oder andere
Frage sicherlich noch zu reden sein wird. Großer Respekt
also vor Ihrem Haus!
Bei allen positiven Aspekten werden wir bei den anstehenden Diskussionen natürlich auch im Auge zu behalten
haben, dass der Versicherungsstandort Deutschland
weiterhin attraktiv bleibt. Insofern bin ich auf die in den
nächsten Wochen anstehenden intensiven Beratungen
sehr gespannt. - Frau Kollegin Dyckmans, der Termin
für die Anhörung wird übrigens der 24. April sein, wie
von der Koalition schon vorausgedacht.
({3})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Klaus-Peter
Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir begrüßen die Novellierung des Versicherungsvertragsrechts. Dieses Recht soll nun unter Berücksichtigung der
bisherigen Rechtsprechung und der Vertragspraxis zeitgemäß und übersichtlich gestaltet werden.
Das Gesetz wird nicht nur zukünftige Versicherungsverträge betreffen, sondern auch die bereits genannten
etwa 430 Millionen Versicherungsverträge, davon etwa
95 Millionen Lebensversicherungsverträge. Inhaltlich
geht es hier um einen fairen Ausgleich zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherten bzw. Verbrauchern.
Gott sei Dank hat die Vorlage 333 Seiten, sodass wir
genügend Diskussionsstoff haben und uns über die
verschiedenen Themen unterhalten können.
Ich möchte einige Themen ansprechen, die bereits von
den Kollegen hier angesprochen worden sind, aber das
Ganze einmal aus Sicht des Finanzausschusses beleuchten.
Dauerthema ist selbstverständlich auch bei diesem
Gesetz die Beteiligung der Versicherungsnehmer an
den Überschüssen bzw. an den stillen Reserven. Ich
finde es ganz hervorragend, dass auch hier als Regelfall
festgelegt wird, dass man an Immobilien, Aktien und
festverzinslichen Wertpapieren entsprechend beteiligt
werden soll. Praxis ist allerdings schon heute, dass etwa
90 Prozent aller Überschüsse ohnehin den Versicherten
zugewiesen werden; es gibt sogar Unternehmen, die auf
100 Prozent kommen.
Nun gibt es ein Problem: Der Gesetzentwurf will
sämtliche Bewertungsreserven jährlich neu ermitteln und
jedem einzelnen Lebensversicherungsvertrag innerhalb
von zwei Jahren rechnerisch zu 50 Prozent zuordnen.
Das hat selbstverständlich auch bei einer vorzeitigen
Kündigung Vorteile. Das hört sich gut an; ich möchte
aber auf die Probleme hinweisen.
Hier ist bereits gesagt worden, dass festverzinsliche
Wertpapiere, sogenannte Rentenpapiere, ein Problem
darstellen könnten. 80 Prozent aller Anlagen bei Versicherungsgesellschaften sind festverzinsliche Papiere, die
zum großen Teil an der Börse gehandelt werden. Wenn
die Zinsen von 4 Prozent auf 3 Prozent sinken, dann steigen
die Kurse, weil niemand sein 4-prozentiges Papier zu
100 Prozent verkaufen würde; denn dann würde er am
Markt nur 3 Prozent bekommen. Dadurch bildet sich eine
stille Reserve. Genau diese Reserve soll dem einzelnen
Vertrag zugewiesen werden.
Darin liegt vielleicht noch nicht das Problem. Ein
Problem gibt es erst dann, wenn der Zins von 4 auf
5 Prozent steigt; denn dann fallen die Kurse, und es gibt
keine Reserve, sondern stille Lasten. Nun ist die Frage:
Wer trägt diese stillen Lasten? Wo soll der Ausgleich
herkommen? Wenn die kurzzeitigen Reserven eben nicht
mehr zum Ausgleich zur Verfügung stehen, dann ist die
Frage: Kann der Garantiezins noch gehalten werden?
Hier ist auch ein Problem für die Altersvorsorge des
Einzelnen. Wenn hier Unsicherheiten entstehen, sinkt beispielsweise die Vorsorgebereitschaft in der Bevölkerung
deutlich, gerade in den Bereichen, wo der Gesetzgeber
besonders fördern will, nämlich bei der Riester-Rente, bei
der betrieblichen Altersversorgung und bei der sogenannten Basisrente oder Rürup-Rente. Denn hier gibt es überall lebenslange Garantien. Diese lebenslangen Garantien
müssen kapitalmäßig unterlegt sein. Eine Gefährdung
oder Verteuerung dieser Garantien in Lebensversicherungsverträgen darf nicht die Folge dieses Versicherungsvertragsgesetzes sein.
Auch bei einer vorzeitigen Kündigung der Lebensversicherung muss ein fairer Ausgleich zwischen den
Ansprüchen der Versichertengemeinschaft und dem
Anspruch auf einen angemessenen Rückkaufswert bei
Ausscheiden eines Versicherungsnehmers möglich sein.
In der Anfangsphase wird es wahrscheinlich in Zukunft
weniger Probleme geben, da, wie bereits gesagt worden ist,
die Abschlusskosten auf fünf Jahre verteilt werden und,
wie bei der Riester-Rente, eine deutliche Verbesserung
eintreten wird. Bedenklich sind meines Erachtens aber
die Überlegungen, die neuen Rückkaufswertregelungen
auf alle bestehenden Lebensversicherungsverträge auszudehnen. Das wäre ein nachträglicher Eingriff in die
bestehende Kalkulation dieser Verträge. Gerade wir seitens
des Finanzausschusses legen großen Wert darauf, dass
die Versicherungswirtschaft eine langfristige Kapitalanlagepolitik betreibt. Wir verlangen dies ganz einfach
aus Gründen der Stabilität des deutschen Finanzmarktes.
Ich erwähne an dieser Stelle die bitteren Erfahrungen,
die wir vor drei oder vier Jahren mit Versicherungsgesellschaften gemacht haben, als die Aktienkurse
dramatisch fielen und sogar eine Lebensversicherungsgesellschaft Insolvenz anmelden musste.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen. Wir haben mit
der Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie vor
kurzem deutlich die Qualität und die Ansprüche an die
Vermittler erhöht. Besonders sind - der Kollege
Manzewski hat das ebenfalls getan - die Dokumentationspflichten zu erwähnen. Ich glaube, das ist der wichtigste
Punkt für den Versicherungsnehmer, für den Verbraucher.
Wir haben heute die sinnvolle Regelung, dass ein Verbraucher innerhalb von 14 Tagen bzw. von 30 Tagen bei
Lebensversicherungen nach Überlassung der allgemeinen
Versicherungsbedingungen und der maßgeblichen Verbraucherinformationen von seinem Widerspruchs- bzw.
Widerrufsrecht Gebrauch machen kann. Diese Unterlagen
müssen jetzt vor Unterzeichnung eines Versicherungsvertrages vorliegen.
Bitte stellen Sie sich einmal die neue Praxis vor. Ein
sogenannter Mehrfachagent, der beispielsweise mit zehn
oder 15 Gesellschaften zusammenarbeitet, muss für alle
Verträge die maßgeblichen Versicherungsbedingungen
mit sich führen. Es gibt Hunderttausende von unabhängigen Versicherungsmaklern, die teilweise mit bis zu 50
oder 100 Gesellschaften zusammenarbeiten. Auch diese
müssen vor jedem Vertragsabschluss all diese Unterlagen
mit sich führen. Herr Montag, es ist ein Irrtum, zu glauben,
dass dadurch der Verbraucherschutz erhöht wird. Das
kann nicht sein.
Mit der Versicherungsvermittlerrichtlinie haben wir
mit der Dokumentationspflicht und der Erhöhung der
Beratungsqualität einen Weg gefunden, dieses Problem zu
lösen. Wir sollten auch einen Weg finden, dass die gesamte
Vermittlerbranche nicht mit einer überbordenden Bürokratie überzogen wird. Wir sollten uns an den Realitäten
orientieren und gleichzeitig den Verbraucherschutz im
Auge behalten.
({0})
Selbstverständlich müssen die allgemeinen Versicherungsbedingungen zur Verfügung gestellt werden. Das ist
zwingend vorgegeben. Egal ob vor oder nach Vertragsabschluss: Man braucht juristischen Beistand, um diese
zu verstehen.
Wir sind seitens der Union für einen wirksamen Verbraucherschutz. Wir werben für Transparenz und hohe
Beratungsqualität. Wir brauchen natürlich eine Modernisierung der Vertragsbeziehungen zwischen Versicherungsnehmern und Versicherungsunternehmen. Ich glaube, in
dem Gesetz wurden sehr viele gute Ansätze gefunden.
Wir sollten aber auch - da appelliere ich an Sie - die
Marktpartner nicht überfordern und mit unnötiger Bürokratie belasten, die dann zu Ausweichreaktionen führen
und letztendlich den gesamten deutschen Finanzmarkt
belasten. Ich freue mich auf die Beratung.
Vielen Dank.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3945 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Christoph Waitz,
Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Hauptstadtkulturfinanzierung des Bundes in
einem Staatsvertrag regeln
- Drucksache 16/3667 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Haushaltsausschuss
Hierzu ist zwischen den Fraktionen verabredet, eine
halbe Stunde zu debattieren, wobei die FDP sechs Minuten
erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist es so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich noch mit Freude an den 22. Oktober
2003, als eine sehr geschätzte Kollegin bei einer Pressekonferenz in der Staatsoper Unter den Linden kluge
Worte sprach. Sie sprach davon, dass nur durch eine
Übernahme der Staatsoper in die Obhut des Bundes ein
langes Siechtum der drei Frankfurter Opern ({0})
- Entschuldigung -, der drei Berliner Opern verhindert
werden könne. Diese Kollegin heißt Angela Merkel. Sie
wurde damals unterstützt unter anderem von Hans-Dietrich
Genscher, Wolfgang Gerhardt und Peter Gauweiler. Anlass
war ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von Union
und FDP, der die Errichtung einer Bundesstiftung
„Staatsoper Unter den Linden“ forderte. Damals hieß die
gemeinsame Forderung - ich zitiere aus dem Antrag -:
Offensichtlich aber kann eine sinnvolle Zukunft für
dieses bedeutende kulturpolitische Instrument Staatsoper nur in der Abkoppelung von der gegenwärtigen
Trägerschaft durch das Land Berlin liegen, das damit
schon jetzt überfordert ist.
Was in Oppositionszeiten richtig ist, kann doch in Regierungszeiten nicht ganz falsch sein.
({1})
Heute, drei Jahre später, sind wir in der Frage der
Staatsoper und der Hauptstadtkulturförderung insgesamt nicht einen Schritt weitergekommen. Wie bereits
damals allen Beteiligten klar war - oder sagen wir: zumindest hätte klar sein müssen -, siechen die drei Opern
in dem erbarmungslosen Sparmodell der Opernstiftung
weiter finanziell vor sich hin. Die Zukunft der Opernstiftung - dies wurde auch Michael Schindhelm klar, der die
Flucht ergriff - ist nicht das, was man gemeinhin unter
Zukunft versteht. Die Opernstiftung war von vornherein
eine gigantische Selbsttäuschung, gegründet auf einem
sumpfigen Boden, und zwar schon deshalb, weil die
Übernahme der Kosten für die Sanierung der Staatsoper
in Höhe von mindestens 130 Millionen Euro völlig ausgeklammert worden war.
({2})
Die Frage der Staatsoper ist aber nur ein Symptom einer viel umfassenderen Frage: Wofür und nach welchen
Kriterien trägt eigentlich der Bund bei der Kulturförderung in der Bundeshauptstadt Berlin Verantwortung?
({3})
Wir hätten viele der Probleme, mit denen wir uns immer
noch beschäftigen müssen, nicht, wenn es bereits 2003
eine umfassende parlamentarische Diskussion und Verständigung gegeben hätte. Heute rächt es sich, dass der
Ende 2003 mit heißer Nadel gestrickte Hauptstadtkulturvertrag in Hinterzimmern an den Parlamenten von Berlin
und Bund vorbeigemogelt wurde.
({4})
Aber es gibt Hoffnung. Ich bin zuversichtlich, dass
die Hauptstadtkulturdebatte im Jahre 2007 anders verlaufen wird; denn der heutige Kulturstaatsminister Bernd
Neumann
({5})
- ein guter Mann; auch von dieser Stelle beste Genesungswünsche - zählte 2003 zu den Initiatoren eines gemeinsamen Antrages von Union und FDP,
({6})
dessen zentrale Forderung lautet - Herr Börnsen, bitte
hören Sie jetzt zu! -, dass der Hauptstadtkulturvertrag
als eine „für das Verhältnis des Gesamtstaates zu seiner
Hauptstadt wesentliche Entscheidung in Form eines
Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Berlin“ geschlossen werde und auch
die Parlamente daran zu beteiligen seien.
({7})
Hans-Joachim Otto ({8})
Lieber Herr Börnsen, was in Oppositionszeiten richtig
war, braucht doch in Regierungszeiten nicht ganz falsch
zu sein.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube - und
hiermit komme ich zum Ende -, dass es in den Reihen
des Deutschen Bundestages - ich will das betonen - eine
große Sympathie und ein großes Verständnis für das kulturpolitische Engagement des Bundes in Berlin gibt.
Uns allen ist doch klar, dass Berlin als Hauptstadt in besonderer Weise eine Bühne zur Präsentation Deutschlands in der Welt ist. Aber ich weiß - jeder Kollege wird
dies, wenn er ehrlich ist, bestätigen können -, dass die
Hauptstadtkulturförderung nur dann in den Wahlkreisen
zu vermitteln ist, wenn sie nach überzeugenden Kriterien
und in einem transparenten Verfahren erfolgt. Der Bund
muss daher das Heft des Handelns jetzt selbst in die
Hand nehmen und in einem grundlegenden öffentlichen
und parlamentarischen Diskussionsprozess klären, was
Hauptstadtkultur ist und was nicht.
({10})
Die ohnedies anstehenden Beratungen darüber, wie
die Hauptstadtklausel des neuen Grundgesetzartikels 22
Abs. 1 ausgefüllt werden kann, bieten einen willkommenen Anlass, auch den Hauptstadtkulturvertrag grundlegend neu zu verhandeln. Dabei ist - das sage ich schon
einmal vorsichtig - auch die Übernahme der Staatsoper
in die Obhut des Bundes denkbar. Angesichts der Tatsache allerdings, dass bereits jetzt mehr Bundesgeld in die
Berliner Kultur fließt, als die Berliner selbst dafür bereitstellen, kann eine Übernahme der Staatsoper nur dann
erfolgen, wenn der Bund im Gegenzug bisher von ihm
finanzierte, aber nicht zwingend in seinen Kompetenzbereich fallende andere Institutionen in die Obhut des
Landes Berlin zurückgibt. Ich will hier keine Beispiele
nennen; aber warum die Berliner Festspiele - um nur einen Punkt aufzugreifen - in der Obhut des Bundes sind,
konnte mir noch niemand erklären.
Wie auch immer geartete Beteiligungsvarianten - das
sage ich schon jetzt; denn ich vermute, dass ähnliche
Dinge vorgeschlagen werden - würden der Systematik,
der Transparenz und der Klärung von Verantwortlichkeiten zuwiderlaufen und das Siechen der Opernstiftung nur
verlängern. Die Hauptstadtkulturförderung braucht klare
Verhältnisse und klare Zuständigkeiten. Sie braucht einen politisch legitimierten und von den Parlamenten verabschiedeten Staatsvertrag. Ich bitte deshalb um wohlwollende Beratung in den zuständigen Ausschüssen.
Vielen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Dorothee Bär.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen
heute zu einem Antrag der FDP-Fraktion, der sich explizit mit Berliner Opernhäusern und nicht mit Frankfurter
Opernhäusern beschäftigt, Herr Kollege Otto.
({0})
- Wunderbar!
Herr Otto, sprechen wir deutlich aus, was Sie hier fordern: Sie wollen, dass der Bund die Staatsoper übernimmt und dafür andere Einrichtungen abgibt. Mit Ihrem Antrag schaden Sie Berlin mehr, als Sie der Stadt
helfen können.
({1})
- Auf Frau Merkel komme ich nachher noch zu sprechen. Das wird Ihnen aber nicht gefallen.
({2})
Bei einer grundsätzlichen Neuverhandlung des Hauptstadtkulturvertrages stünde dessen gesamte Finanzierung auf dem Prüfstand. Dann würden Einrichtungen wie
der durch den Bund geförderte Hamburger Bahnhof
eventuell an das Land Berlin zurückgehen. Eine Übernahme der Staatsoper Unter den Linden ist seit der Verabschiedung des Hauptstadtkulturvertrages endgültig
vom Tisch. Ich finde es sehr schofelig von Ihnen, Frau
Merkel in diesem Zusammenhang zu zitieren. Sie hat die
Aussage, die Sie vorhin zitiert haben, vor Gründung der
Opernstiftung gemacht. Im Wahlkampf hat sie ganz explizit gesagt: Stiftungen nimmt man nicht einfach so zurück. Wenn Sie Frau Merkel zitieren, dann sollten Sie sie
vollständig zitieren.
({3})
Der Erhalt der drei Opernhäuser in Berlin durch das
Land war die Bedingung für eine Übernahme der Akademie der Künste und der Stiftung Deutsche Kinemathek
durch den Bund. Darüber hinaus fällt die Finanzierung
eines Repertoiretheaters nicht in die Kompetenz des
Bundes. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle an Sie,
den bestehenden Hauptstadtkulturvertrag zu akzeptieren
und auf dieser Grundlage von der Berliner Landesregierung endlich die Leistungen einzufordern, die das Land
Berlin zu erbringen hat.
Die Bundesregierung lässt Berlin mit der Sanierung
der Staatsoper nicht im Stich. Der Bund hat freiwillig
und aus eigenem Antrieb - das ist Bernd Neumann und
der Bundeskanzlerin mit zu verdanken - einen Zuschuss
zur Sanierung der Staatsoper in Höhe von 50 Millionen
Euro beschlossen und veranschlagt.
({4})
Der Verein der Freunde und Förderer der Staatsoper
Unter den Linden, dessen Ehrenvorsitzender HansDietrich Genscher ist, hat 30 Millionen Euro für die Gebäudesanierung zugesagt. Beide warten nur noch darauf,
dass auch Herr Wowereit seinen Teil der Abmachung erfüllt und ebenfalls 50 Millionen Euro im Land Berlin investiert. Aber nicht einmal dazu scheint er bereit zu sein.
({5})
Die FDP will bundesgeförderte Kultureinrichtungen
in die finanzielle Verantwortung des Landes Berlin zurückgeben. So soll die Übernahme der Staatsoper Unter
den Linden durch den Bund finanziert werden. Herr
Otto, wieso soll die Bundesregierung anderen Einrichtungen effektive finanzielle Zuwendungen streichen,
wenn der Berliner Senat seinen Teil der Abmachung
nicht einhält? Herr Otto, Ihr Ehrenvorsitzender jedenfalls hat keine Probleme mit dem Hauptstadtkulturvertrag.
({6})
Hans-Dietrich Genscher ist nicht nur Ehrenvorsitzender
Ihrer Partei, er hat auch den Ehrenvorsitz des Vereins der
Freunde und Förderer der Staatsoper Unter den Linden übernommen.
Sie sehen, dass die Sanierung der Staatsoper auf den
Weg gebracht ist. Der Bund hat seine Leistungen in Bezug auf die Staatsoper zugesagt. Wir warten jetzt nur
noch auf den rot-roten Senat. Sehr ernst scheint es dem
Berliner Senat mit der Kulturförderung allerdings nicht
zu sein.
({7})
Nur 1,8 Prozent des Berliner Haushalts fließen in den
kulturellen Bereich, Herr Kollege Schulz. Angesichts
der enormen Bedeutung der Kultur für Berlin muss da
auch Raum für die drei bestehenden Opernhäuser sein.
Man müsste nur wollen.
Es besteht kein Zweifel: Berlin genießt einen kulturellen Sonderstatus, der den Bund mit in die Verantwortung zieht. Die Stadt ist ein Symbol der Erinnerung an
die jahrzehntelange Spaltung der Welt in Freiheit und
Unfreiheit. Die Pflege dieses kulturellen Sonderstatus ist
eine große Herausforderung, der man sich verantwortungsvoll annehmen muss. Der Bund hat sich dieser Verantwortung mit dem Hauptstadtkulturvertrag gestellt.
Der Bund fördert die Kultur der Bundeshauptstadt jährlich mit mehr als 420 Millionen Euro. Der Stadt Berlin
ist ihre Kultur hingegen nur 350 Millionen Euro wert.
Die Kultur in der Hauptstadt wird somit zu über
50 Prozent durch Bundesmittel finanziert. Der Berliner
Senat ist bei keinem anderen Ressort geiziger als bei der
Kultur. Gleichzeitig wird der Regierende Bürgermeister,
Klaus Wowereit, nicht müde, seinen Blick in die Berliner Kassen mit dem Slogan „Wir sind arm, aber sexy“ zu
kommentieren.
({8})
Die jüngste Degradierung der Kultur auf ein Staatssekretärsamt durch Herrn Wowereit entlarvt ihn als einen Verräter Berlins als Kulturhauptstadt der Bundesrepublik.
({9})
- Wer schreit, hat Unrecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dieses Verhalten zeigt auch, wie wenig der Regierende Bürgermeister sein oft zitiertes eigenes Bonmot
verstanden hat. Hat sich denn Herr Wowereit je gefragt,
warum Berlin zwar nicht reich, aber immerhin sexy ist?
Die Kultur macht Berlin sexy, Herr Wowereit. Die Kultur macht die Anziehungskraft unserer Hauptstadt aus.
Die Kultur lockt die zahlreichen Touristen in die Stadt,
die dann die Abendkassen der Theater, Kinos und
Opernhäuser füllen. Deshalb kann uns allen die Kultur
nicht genug wert sein, gerade Ihnen - ich hoffe, er hört
zu und schämt sich -, Herr Wowereit.
({10})
Der Bund und das Land Berlin müssen daher eine
Antwort auf die Frage der finanziellen Verantwortung
finden. Besonders das Land Berlin - ich freue mich darüber, dass so viele Berliner Kollegen anwesend sind darf sich nicht aus seiner Verantwortung stehlen.
({11})
Allein der Sonderstatus entbindet die Berliner Landesregierung nicht von ihrer politischen Verantwortung, die
sie der Stadt, den Bürgern und nicht zuletzt dem Bund
schuldet.
({12})
Deshalb, lieber Herr Kollege Wowereit vor dem Fernsehbildschirm da draußen,
({13})
fragen Sie sich nicht nur, was der Bund für Sie tun kann,
fragen Sie auch, was Sie für den Bund tun können und
müssen!
({14})
Deshalb fordere ich Sie auf: Unterlassen Sie Ihre unerschöpflichen Forderungen an den Bund! Es ist die gemeinsame Pflicht des Landes Berlin und des Bundes,
zum Erhalt und zur Förderung der Kultur beizutragen.
Zu diesem Zweck brauchen wir eine transparente und
strukturierte Finanzierung.
({15})
Die Verantwortlichkeiten müssen klar geregelt werden, auch um der stetig wachsenden Anspruchshaltung
des Landes Berlin Einhalt zu gebieten. Deswegen ist der
Hauptstadtkulturvertrag das richtige Mittel. Die Entscheidungen, die darin getroffen wurden, binden beide
Seiten, Berlin und den Bund. Nun ist es lediglich notwendig, dass Berlin seine Aufgaben erfüllt. Dann steht
einer Sanierung der Staatsoper nichts mehr im Wege. Es
geht uns allen darum, Herr Otto, dass dieses einmalige
Haus erhalten bleiben kann.
({16})
Lassen Sie uns nicht länger darum herumreden, sondern gemeinsam handeln. Alle sollten einen Beitrag
dazu leisten, dass Berlin in Zukunft nicht nur sexy ist,
sondern auch wieder reich werden kann. Wir alle sollten
unsere Berliner Kollegen darin unterstützen, dass wesentlich mehr für die Kultur getan wird und dass alle drei
Opernhäuser erhalten bleiben.
Vielen Dank.
({17})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch für die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht
hat bekanntlich am 19. Oktober des vergangenen Jahres
die Auffassung vertreten, dass Berlin für Wissenschaft
und Kultur immer noch zu viel Geld ausgebe. Diese
Aussage konnte bei vielen Menschen nur Kopfschütteln
hervorrufen. Denn jeder weiß, dass die Zukunft Berlins
nur gesichert werden kann, wenn die Stärken der Stadt
- Wissenschaft und Kultur - weiter gefördert werden.
Das haben leider weder die Verfassungsrichter noch die
FDP noch meine Vorrednerin verstanden. Das ist sehr
bedauerlich.
({0})
Im vorliegenden Antrag der Liberalen wird verlangt,
dass der Bund Institutionen, die er bereits von Berlin
übernommen hat, an Berlin zurückgibt und dafür die
Staatsoper von Berlin übernimmt. Die FDP, die angeblich alles immer unbürokratischer machen will, möchte
gern die ganze Kulturförderung in Berlin umstrukturieren. Sie möchte Zuständigkeiten ändern und Verwirrung stiften mit dem Ziel, dass sich inhaltlich nichts,
aber auch gar nichts ändert. Auf diese Weise hält man
die Bürokratie in ständiger Aufregung, ohne dass etwas
für die Kulturlandschaft oder die Künstler getan wird.
({1})
Meine Damen und Herren von der FDP, es würde
mich gar nicht wundern, wenn der nächste Antrag von
Ihrer Fraktion von der Bundesregierung fordert, die Finanzierung der ersten Geige in der Staatsoper zu übernehmen unter der Bedingung, dass Berlin die Finanzierung der Posaunen und Hörner übernimmt. Ein solch
unsinniges Zuständigkeitskarussell werden wir nicht mit
in Gang setzen. Das lehnen wir ab.
({2})
Die Antragsteller fordern unter anderem, den Hauptstadtkulturfonds vom Bund auf Berlin zurückzuverlagern, und erwarten von Berlin eine Garantie, diese Einrichtungen weiter zu fördern. Das ist natürlich - das
wissen Sie selbst - ein nicht auflösbarer Widerspruch.
Sie können nicht einerseits das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bejubeln, von Berlin den Abbau weiterer
Schulden verlangen, und gleichzeitig von Berlin verlangen, mehr Geld für Kultur auszugeben. Wie soll das zusammengehen? Der alte Adam Riese hätte damit seine
Schwierigkeiten!
({3})
- Wohnungen verkaufen ist eine schlechte Idee. Deshalb
haben wir uns in der rot-roten Koalition in Berlin geeinigt, keinen kommunalen Wohnungsbestand zu verkaufen; das kann ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit
sagen.
({4})
Wir Berlinerinnen und Berliner wollen die Opernstiftung zum Erfolg führen und damit die drei Opern und
das Staatsballett erhalten. Klaus Wowereit hat doch
recht, wenn er vom Bund die Übernahme der Staatsoper
fordert. Denn wenn wir nur ein bisschen an die Geschichte denken, müssen wir doch feststellen: Es war offenkundig ein Fehler im sogenannten Einigungsvertrag,
die ehemals preußische und in der DDR ebenfalls vom
Staat finanzierte Staatsoper auf das Land Berlin zu übertragen. Dieser Fehler sollte korrigiert werden!
({5})
Die Sanierung der Staatsoper darf nicht länger aufgeschoben werden, wir brauchen für den Haushalt 2008
eine gesicherte Finanzierung.
Die FDP fordert in ihrem Antrag, die Hauptstadtkulturfinanzierung durch einen Staatsvertrag zu regeln. Ich
will daran erinnern, dass es in der Berlinklausel im
Grundgesetz heißt - ich zitiere -:
Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist
Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der
Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere
wird durch Bundesgesetz geregelt.
Ich denke, das sollten wir machen - und keinen neuen
Staatsvertrag. Den Unterschied zwischen Bundesgesetz
und Staatsvertrag können Sie ja einmal in Ihrer Fraktion
diskutieren.
Wir als Linke werden diesen Antrag ablehnen, weil er
eben nicht auf die Stärkung der Kultur in Berlin gerichtet
ist. Ihre Absicht ist vielmehr, die Kulturlandschaft Berlins zu destabilisieren. Denn es ist doch wohl kein Zufall, dass ausgerechnet der Landesvorsitzende der FDP
Berlin, der Bundestagsabgeordnete Löning, und auch der
zweite Berliner FDP-Abgeordnete diesen Antrag nicht
unterschrieben haben - weil sie erkannt haben, dass er
kontraproduktiv ist.
({6})
Wir als Linke werden in Abstimmung mit den Berliner
Künstlern und Berliner Kulturpolitikern einen Antrag in
den Bundestag einbringen, der es dem Bund ermöglicht,
seine Aufgabe, die Repräsentation des Gesamtstaates in
der Hauptstadt, tatsächlich zu erfüllen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der FDP-Antrag ist Anlass,
wieder einmal über Hauptstadtkultur zu diskutieren, ist
Anlass, uns des - bei allem Streit im Detail - doch breiten überparteilichen Konsenses zu versichern, der im
Bundestag bei diesem Thema immer gegolten hat; dabei
soll es bleiben.
Wie andere Hauptstädte muss sich auch die deutsche
Hauptstadt wesentlich über ihre Kultur definieren. Der
Blick auf andere europäische Metropolen zeigt, dass sie
ihre Bedeutung, ihre Ausstrahlung aus der historisch gewachsenen Vitalität und Lebendigkeit ihres kulturellen
Lebens gewinnen. Neben ihrer Funktion als politisches
Dienstleistungszentrum sind sie Forum der Kultur des
ganzen Landes - auch und gerade weil Kultur in den
Globalisierungsprozessen, in der globalisierten Welt in
besonderem Maße ein Faktor von Identifikation, von Beheimatung geworden ist. Dies muss auch für Berlin gelten. Das begründet fundamental die Verantwortung des
Gesamtstaates für die Kultur in Berlin.
({0})
Nun kennt das föderale Deutschland - ich weiß es keine Kulturhauptstadt wie etwa Paris es ist. Berlin
kann keine kulturelle Definitionsmacht, kann kein Monopol beanspruchen, gewiss. Aber kulturelle Impulse,
Signale können von der Hauptstadtkultur in die Länder,
in die Regionen, in die Städte Deutschlands ausgehen.
Hier kann deutsche Kultur sich in besonders wahrnehmbarer Weise der Welt zeigen. In Berlin können und sollen
sich die regionale kulturelle Vielfalt und der kulturelle
Reichtum Deutschlands zeigen. Wenn Berlin, wie wir
alle immer wieder sagen, der Ort der Repräsentation des
Gesamtstaates ist - wie es jetzt in Art. 22 des Grundgesetzes heißt -, dann ist die hauptstädtische Kultur auch
und ganz wesentlich eine Angelegenheit der Länder.
Sie sollten deshalb Kulturförderung in und für Berlin
nicht misstrauisch betrachten und beinahe als Bedrohung
empfinden, sondern als Chance: Berlin als kulturelles
Schaufenster des deutschen Föderalismus, des demokratischen und sozialen Bundesstaates. Darum geht es.
({1})
Das begründet die gemeinsame kulturpolitische Verantwortung der Stadt Berlin, der deutschen Länder und
des Bundes für die hauptstädtische Kultur. Die Stiftung
Preußischer Kulturbesitz mit ihrem Schwerpunkt Berlin
ist übrigens ein Beispiel des gelingenden kooperativen
Föderalismus im Bereich der Kultur, wobei gewiss der
Bund die finanzielle Hauptlast trägt.
Der Hauptstadtkulturvertrag schließlich ist ein besonders wichtiges Instrument der Kulturförderung Berlins durch den Bund. Der ab 1. Januar 2004 in Kraft gesetzte Vertrag ist unbefristet gültig.
Trotzdem, liebe Kollegen von der FDP, halte ich es
für angemessen - insofern stimmen wir der Intention Ihres Antrags zu -, über alle Fragen der Bundeskulturförderung für Berlin zu diskutieren und so viel Transparenz
wie möglich zu schaffen. Aber es ist, denke ich, ohnehin
unsere ständige Aufgabe als Kulturpolitiker, darüber zu
diskutieren und Transparenz herzustellen.
({2})
Das verlangt auch die neue Berlinklausel in Art. 22 des
Grundgesetzes, auf die Sie in Ihrem Antrag zu Recht
hinweisen.
Im Gespräch zwischen Bundestag, Bundesregierung
und dem Land Berlin muss geklärt werden, was in einem
Bundesgesetz, von dem in Art. 22 des Grundgesetzes die
Rede ist, unter Bundesaufgaben verstanden und was
- neben den berühmten Sicherheitsfragen, über die gelegentlich auch gestritten wird - überhaupt geregelt werden
kann und muss. Es muss geklärt werden, was vertraglich
- in einem Staatsvertrag oder in einem verlängerten oder
neuen Hauptstadtkulturvertrag - geregelt werden kann
und muss und was etwa nur in das jeweilige Jahreshaushaltsgesetz gehört. Darüber müssen wir uns verständigen.
So klar ist das nicht. Das ist längst noch nicht ausgemacht.
Diese Grundfragen müssen wir klären. Um diese
grundsätzliche Klärung zu erreichen, müssen wichtige
Einzelfragen geklärt werden, die die Verantwortung des
Bundes in Berlin sehr stark betreffen. Ich nenne nur einige: Das ist erstens die Frage nach der Zukunft der NSGedenkstätten in Berlin. Berlin hat in besonderer Weise
die geschichtliche Last der NS-Vergangenheit an Gedenkstätten als Aufgabe zu tragen. Die Frage, was aus
der Idee der Stiftung für diese Gedenkstätten wird, ist
bisher unbeantwortet geblieben. Die rot-grüne Bundesregierung hat diese Idee vorgetragen. Wir müssen damit
weiterkommen.
({3})
Die zweite Frage, die wir zu klären haben, betrifft die
Zukunft der Gedenkstätten für die SED-Diktatur in
Berlin in Hohenschönhausen und in der Normannenstraße. Diese Aufgabe hat nicht nur Berlin allein zu tragen und zu verantworten; der Bund muss sich beteiligen.
({4})
Die dritte Frage betrifft die Zukunft der Erinnerung an
die Mauer speziell in Berlin.
Alle drei Aufgaben sind wichtig. Es sind inhaltliche,
erinnerungspolitische und finanzielle Aufgaben auch in
der Verantwortung des Bundes.
Ich komme zu einem weiteren Thema, der Zukunft
des Humboldt-Forums, jenem faszinierenden Projekt,
die Kulturen der Welt in der Mitte der deutschen Hauptstadt zu präsentieren. Ich freue mich sehr, dass nach einer
Phase des Stillstands oder auch Stillschweigens wieder
Bewegung in die Sache kommt, wenn ich den zuständigen Minister Tiefensee richtig verstanden habe. Ich sage
etwas pathetisch: Es wäre eine kulturpolitische Großtat,
die einer Großen Koalition würdig ist, wenn wir dieses
Projekt auf den Weg bringen würden.
({5})
All das sind Aufgaben, bei deren Lösung der Bund
besondere Verantwortung trägt. Erst dann kommt das
Thema, das gegenwärtig öffentlich diskutiert wird und
das offensichtlich Motiv des FDP-Antrags gewesen ist:
die Zukunft der Berliner Opern, insbesondere der
Staatsoper.
({6})
Die Situation ist kompliziert wie einfach zugleich: Berlin verträgt drei Opern auf höchstem Niveau.
({7})
Das Land Berlin kann sie auf dem bisherigen Niveau
nicht alleine finanzieren. Deutschland muss ein Interesse
daran haben, dass wenigstens eines der Opernhäuser auf
allerhöchstem künstlerischem Niveau agiert.
In der Fußballersprache, die wir uns angewöhnt haben, heißt das, dass sie in der Weltliga oder in der Champions League spielt. Das kann die Staatsoper sein, muss
sie aber nicht.
({8})
Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es durchaus unterschiedliche und unterschiedlich diskutable Wege:
Erstens. Der Bund übernimmt eine dem Anteil der
Staatsoper in etwa entsprechende anteilige Finanzierung
der Opernstiftung, deren Möglichkeiten noch lange nicht
ausgereizt sind. Das ist die eine Möglichkeit.
Die Zweite: Die Staatsoper wird Teil der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Dagegen gibt es allerhand Einwände, aber es ist eine der Möglichkeiten.
Die Dritte: Der Bund übernimmt in einer eigenen
Rechtskonstruktion, etwa einer Bundesstiftung, die
Staatsoper unmittelbar, was manche als einen Sündenfall
gegenüber unserem Kulturföderalismus empfinden würden. Das haben wir sonst so nicht, dass der Gesamtstaat
ein Repertoiretheater übernimmt. Aber was nicht ist,
kann ja werden. Ich halte das nicht für ausgeschlossen.
Das ist eine der Möglichkeiten.
Über diese verschiedenen Möglichkeiten - vielleicht
gibt es auch noch andere Lösungen - ist zu diskutieren.
In jedem Fall bleibt auch Berlin in kulturpolitischer und
finanzieller Verantwortung, mindestens für das Niveau
und die auskömmliche Finanzierung der beiden anderen
Opern wie auch für die anderen national bedeutsamen
Kulturinstitutionen.
Der Vorwurf, der hier erhoben wurde und immer mitklingt, dass Berlin zu wenig für Kultur ausgebe, stimmt
ja nicht.
({9})
Ich habe mir das noch einmal genau angesehen. Mit
Sachsen zusammen gibt Berlin pro Einwohner das
meiste für Kultur aus.
({10})
Man kann sich mehr wünschen, aber Sie kennen die finanzielle Lage Berlins und das Verfassungsgerichtsurteil.
Berlin entzieht sich auch nicht seiner finanziellen
Verantwortung für die Sanierung der Staatsoper - wie
behauptet -, sondern ich bin sicher, Berlin steht zu seiner
Verpflichtung für die mindestens 50 Millionen Euro für
die Sanierung der Staatsoper.
({11})
- Wollen wir wetten? Nein, ich bin ganz sicher.
Berlin darf sich auch seiner Verantwortung im Zusammenhang mit dem Humboldt-Forum nicht entziehen.
Das sage ich auch ausdrücklich.
({12})
Zum Schluss: Dass der Bund fast die Hälfte seines
Kulturetats für Berlin verwendet,
({13})
dass damit etwa die Hälfte der Kulturfinanzierung der
Hauptstadt vom Bund getragen wird, ist gut begründet
und vernünftig und zugleich für mich als Berliner Abgeordneter ein Anlass, ein Grund, ein kräftiges Dankeschön zu sagen.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Stoff
zum Diskutieren, über Aufgaben, über Probleme - ich
sage es etwas pathetisch -, die uns das Glück der deutschen Einheit beschert hat. Gut so!
({15})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Wolfgang Wieland.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte
mich als Innenpolitiker gefreut, hier einmal nicht einer
Debatte über Terror und Folter, sondern über die schönen Dinge des Lebens beizuwohnen. Stattdessen erlebe
ich hier die Sprecherin der CDU, Frau Bär, und ihren
Koalitionspartner, der von Karneval redet und richtig
wütend wird.
Deshalb schließe ich mich zunächst einmal dem an,
was der Kollege Thierse hier gesagt hat und was auch
angesichts der Lamoryanz des Landes Berlin - das muss
man doch einmal sagen - gesagt werden muss. Nach dieser Verfassungsgerichtsentscheidung wurde unisono
gesagt: Jetzt lässt uns der Bund im Stich, jetzt stehen wir
wieder ganz allein mit dem Rücken zur Wand.
({0})
Festzuhalten ist: 425 Millionen Euro gehen im Jahr für
Kulturförderung vom Bund nach Berlin.
({1})
Das ist eine Menge Moos.
({2})
Und da kann man auch vom Senat in Berlin einmal
Dankbarkeit erwarten, wie Sie, Kollege Thierse, das hier
geäußert haben,
({3})
und nicht immer diese Haltung: Hey Bund, ich brauch
mehr Geld!, von der durchgehend hier die Rede ist.
Lieber Kollege Otto, an Ihrer Initiative ist ja richtig,
dass wir eine Systematisierungsdebatte darüber führen
müssen, was ist nationale Kultur, was hat internationale
Ausstrahlung und was ist so etwas wie kommunale kulturelle Grundversorgung.
({4})
Wir müssen sie in Berlin führen, wir müssen sie aber
auch über Berlin hinaus führen. Was ist beispielsweise
mit Weimar? Den Kollegen Thierse würde ich fragen:
Gibt es denn nur in Berlin Gedenkstätten, die an die Opfer der NS-Zeit, an das DDR-Regime erinnern? - Nein,
es gibt sie bundesweit.
({5})
- Ja, heute reden wir darüber. Aber diese Debatte muss
natürlich auch für das ganze Land geführt werden. Nur
dann vermeiden wir, dass die Menschen immer sagen:
Alles geht nach Berlin, ihr wollt alles für Berlin haben.
Deswegen bitte ich, diese Debatte breiter zu führen.
({6})
Lieber Kollege Otto, Sie haben gesagt: Wir, die FDP,
wollen die Berliner Staatsoper Unter den Linden retten.
Kosten darf es aber nichts. Das muss beim Hauptstadtkulturfonds, bei den Berliner Festspielen oder wo auch
immer eingespart werden. - Das ist Ausdruck des alten
Denkens: Auf der einen Seite ist die Hochkultur, die
weiterhin gefördert werden soll. Auf der anderen Seite
ist die Kiezkultur mit ihren Projekten, mit der die Berliner
- weil das sowieso etwas schmuddelig ist - alleine klarkommen sollen. Völlig unverständlich wird es, wenn
man weiß, dass die FDP im Berliner Abgeordnetenhaus
einen fast gleichlautenden Antrag zur Staatsoper Unter
den Linden eingebracht hat, in dem aber Ausführungen
zur Kostenneutralität fehlen. So weit wollten Sie offenbar
nicht gehen. Wer so mit zwei Zungen spricht, Kollege
Otto, der macht sich von Anfang an unglaubwürdig.
({7})
Klaus Wowereit, sozusagen der regierende Kultursenator, hat sich einfach hingestellt und gesagt: Berlin gibt
keinen Anteil zur Finanzierung der Staatsoper. Wir können
sie auch schließen. - Das lassen wir ihm nicht durchgehen; denn das ist kein akzeptabler Standpunkt. Es
muss bei der Aufteilung bleiben: 50 Millionen Euro vom
Bund, 50 Millionen Euro vom Land Berlin und 30 Millionen Euro nicht aus dem Portemonnaie von Herrn Genscher,
sondern von den Mäzenen, die sich zusammengeschlossen
haben. Das Gleiche gilt für das Humboldt-Forum.
({8})
Man muss sagen, was man will, und darf nicht ständig
motzen und die Bundesregierung gegen sich aufbringen.
Wenn man etwas will, muss man ein entsprechendes
Verhalten an den Tag legen. Auch dies richte ich an die
Adresse von Klaus Wowereit.
({9})
Abschließend: Berlin war bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs die größte Industriestadt Europas. Davon ist
wenig bis nichts übrig geblieben. Was gerettet werden
konnte, ist die fantastische Kulturlandschaft. Das brauche
ich Ihnen, den Anwesenden, nicht zu sagen. Ich hoffe,
Sie sagen es Ihren Kolleginnen und Kollegen sowie
Besuchergruppen und anderen, was man alles in Berlin
kulturell erleben kann.
({10})
Nun besteht glücklicherweise die Chance - darauf hat
Wolfgang Thierse bereits hingewiesen -, mit der Museumsinsel, dem Humboldt-Forum und sanierter Staatsoper das
zu vollenden, was als strahlender Leuchtturm einer europäischen Kulturmetropole wirken könnte. Vertun wir
diese Chance nicht, sondern nutzen wir sie!
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b
sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
9 a Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannHenrich Krummacher, Ilse Aigner, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Swen Schulz ({0}), Jörg Tauss, René
Röspel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Geistes- und Sozialwissenschaften stärken
- Drucksache 16/4161 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
9 b Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Cornelia Hirsch, Volker Schneider ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Perspektiven für die Geistes- und Sozialwissenschaften verbessern
- Drucksache 16/4154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
stärken
- Drucksache 16/4153 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Jo Krummacher für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wissen, das ist die Zukunftsressource schlechthin. Wissen wird durch Wissenschaft erschaffen - dieser Konnex
zwischen Sprache und Inhalt besteht nicht zufällig -, die
ihrerseits wiederum auf der richtigen Wissenschaftspolitik
aufbaut. Das ist der allgemeine Konsens, auf dem wir
aufbauen können. Wissenschaftspolitik braucht Balance.
({0})
Der Bereich der Natur- und Technikwissenschaften
hat Fahrt aufgenommen. Die jüngste Hightechstrategie
ist ein hervorragendes Beispiel. Entsprechend erhalten
die Geistes- und Sozialwissenschaften nun ebenfalls eine
zentrale Stellung. Beides ist notwendig, ergänzt einander
und garantiert die Balance. Das Motto der Hightechstrategie lautet: Ideen zünden. Mit Blick auf die Geistes- und
Sozialwissenschaften würde ich dem gern - Sie gestatten
das dem Theologen - das Luther-Wort voranstellen: Lasset
die Geister aufeinander krachen, auf dass die Wahrheit
aufblitzt.
({1})
Die Geistes- und Sozialwissenschaften liefern uns das
entscheidende Instrumentarium, um uns selbst in der
Welt überhaupt erst erkennen und einordnen zu können.
Gerade bei den Geisteswissenschaften - der Philosophie,
der Theologie, den Sprach- und Geschichtswissenschaften
bis hin zu den sogenannten Orchideenfächern - ist
Deutschland im internationalen Vergleich sehr leistungsfähig und hoch anerkannt.
({2})
Man könnte sagen: Auch hier ist Deutschland Exportweltmeister. Geisteswissenschaften sind in der Lage,
höchst wertvolle und konkrete Erkenntnisse über geistige,
soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen,
Strukturen und Prozesse zu liefern. Gleichzeitig sind sie,
um bewusst literarisch zu werden, auch ein nie endender
Quell der Freude. Sich das konkrete Wirken der Geisteswissenschaften vor Augen zu führen, schärft den Blick
für deren Wert. Die Idee des friedlichen Zusammenlebens
der europäischen Nationen ist eine Idee von Geisteswissenschaftlern, die Politik und Gesellschaft inspiriert
haben. Eine der herausragenden Leistungen der Geisteswissenschaften ist die Aufarbeitung der NS-Diktatur.
Die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit wiederum ist
ein konkreter aktueller Prozess, der ohne die Geisteswissenschaften kaum gelingen könnte.
({3})
Möchten Sie die Zwischenfrage der Kollegin Hinz
zulassen?
Ja, Kollegin Hinz, bitte schön.
Herr Kollege, erstaunt es angesichts der Tatsache, dass
Sie die Geisteswissenschaften heute Abend so herausheben und die Bundesministerin das Jahr der Geisteswissenschaften ausgerufen hat,
({0})
nicht auch Sie, dass vom Ressort nicht einmal ein Parlamentarischer Staatssekretär anwesend ist, um diese
wichtige Debatte zu verfolgen und um deutlich zu machen,
wie bedeutend die Sozial- und Geisteswissenschaften in
unserem Land sind?
({1})
Frau Hinz, ich danke Ihnen für die Frage. Sowohl die
Ministerin als auch die Staatssekretäre sind wegen der
Geisteswissenschaften unterwegs. Wir haben uns verabredet, arbeitsteilig vorzugehen.
({0})
- Da kommt er.
({1})
- Er ist da.
({2})
Die Geisteswissenschaften stellen so etwas wie einen
Generalschlüssel dar, um Zugang zu elementaren Problemlösungen zu erlangen. Umso mehr freut es mich, dass mit
dem hier vorliegenden gemeinsamen Antrag von Union
und SPD nicht nur die Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften verdeutlicht, sondern auch die bestehenden Herausforderungen skizziert sowie - basierend auf
den Untersuchungen des Wissenschaftsrates und anderer
Organisationen und Einrichtungen - konkrete Lösungsund Weiterentwicklungsansätze beschrieben werden.
Das Ziel ist, die geistes- und sozialwissenschaftliche
Infrastruktur zu stärken, die richtigen förderpolitischen
Maßnahmen zu ergreifen und das öffentliche Bewusstsein sowie die öffentliche Wahrnehmung für die große
Bedeutung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu
sensibilisieren.
({3})
Noch erfreulicher ist, dass wir gemeinsam mit der
Bundesregierung bereits die Weichen gestellt haben. Das
Jahr der Geisteswissenschaften ist eingeleitet und bietet
ein großes öffentliches Forum zur Präsentation geistesund sozialwissenschaftlicher Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig eröffnet das Jahr der Geisteswissenschaften auch
konkrete und neue Förderinstrumente. Dazu gehört die
Steigerung der Ausgaben für Geistes- und Sozialwissenschaften im Haushalt 2007, und dazu gehört die
Förderinitiative „Freiraum für geisteswissenschaftliche
Forschung“ mit ihrem Kernelement, den internationalen
Forschungskollegs. Ein bis zwei herausragende Forscherpersönlichkeiten können bis zu zehn weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einladen und so eine
höchst effektive Forschungseinheit bilden. Dazu gehört
auch die europäische Ebene. Nicht zuletzt auf deutsche
Initiative hin wurden im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm erstmals geisteswissenschaftliche Themen
explizit ausgeschrieben. Für die Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften stehen nun insgesamt 623 Millionen Euro bereit.
In den Förderrichtlinien des Bundesministeriums
„Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog“
wurden beim Förderschwerpunkt „Europa - Kulturelle
und soziale Bestimmungen Europas und des Europäischen“
aufgrund des großen Zuspruchs aus der Wissenschaft
Nachwuchsgruppen aufgebaut, um jüngere deutsche
Geisteswissenschaftler auf die europäische Zusammenarbeit vorzubereiten. Dies unterstreicht: Es ist wichtig,
dass die Geisteswissenschaften ihren Blick auch nach
Europa richten. Es zeigt aber auch, dass die Bundesregierung einen zuverlässigen Beitrag zur Stärkung der
Geistes- und Sozialwissenschaften leistet. Auch persönlich
weiß ich das Anliegen und die Bedeutung der Geistes- und
Sozialwissenschaften bei Dr. Annette Schavan in guten,
sachkundigen und verlässlichen Händen.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Manfred Rommel,
der hochgeschätzte und langjährige Oberbürgermeister
meines Wahlkreises Stuttgart, hat einmal scherzhaft gedichtet:
Oh Mensch, Du sollst - mag es Dir glücken rückwärts schauend vorwärts blicken!
Manfred Rommel weist darauf hin, dass dies anatomisch kaum möglich ist. Aber im übertragenen Sinn ist
genau das nicht nur sehr wohl möglich, sondern auch
notwendig. Die Geisteswissenschaften sind der Schlüssel,
um mit den Nachwirkungen der Vergangenheit umzugehen,
die Probleme der Gegenwart zu beheben und uns damit
auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im großen Prozess
der Evolution hat die Natur Wesen entstehen lassen
- nämlich uns Menschen -, die so ausgestattet sind, dass
sie nicht nur ihre Naturbestimmung erfüllen, sondern
wissen wollen. Dieses „wissen wollen“ ist geradezu ein
Teil der menschlichen Naturbestimmung. Der Heidelberger
Philosoph Hans-Georg Gadamer hat stets darauf hingewiesen, dass es die Vorgegebenheit der menschlichen
Natur in ihrer Fragelust und in ihrer Wissensfähigkeit
ist, die der modernen Wissenschaftsgesinnung - auch der
Naturwissenschaftsgesinnung - ebenso zugrunde liegt
wie den religiösen Vorstellungen, den Rechtsordnungen,
den Sittenordnungen, den Wirtschaftsformen und sogar
den Friedensordnungen, die die Menschen entwickelt
haben.
Der vorliegende gemeinsame Antrag von Union und
SPD verdeutlicht die fundamentale Bedeutung der Geistesund Sozialwissenschaften. Basierend auf den Empfehlungen des Wissenschaftsrats markiert er den forschungspolitischen Weg, das Denken in Deutschland in seiner
geisteswissenschaftlichen Urform stark und wach zu halten.
Durch die bereits eingeleiteten Maßnahmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter Dr. Annette
Schavan sind wir auf dem allerbesten Weg, den Forschungsstandort Deutschland insgesamt zu stärken.
Gerade die technologisierte Informationsgesellschaft
braucht Wissende und Wertende - Menschen mit Leidenschaft fürs Denken. Darum bitte ich um eine breite
Zustimmung.
Danke.
({5})
Als Nächster hat Patrick Meinhardt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wir erlebten in der vergangenen Woche
eine würdige Auftaktveranstaltung für das Wissenschaftsjahr 2007. Das Motto „Die Geisteswissenschaften. ABC
der Menschheit“ ist gut gewählt. Oder um es mit
Wilhelm Busch zu sagen:
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh’;
Nicht allein in Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
…
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören.
({0})
Das Jahr der Geisteswissenschaften, Kollege Tauss,
soll auch ein Zeichen gegen den Zeitgeist setzen. Der
Werbebotschaft „Geiz ist geil“ einer nicht ganz unbekannten Firmengruppe setzen wir mit diesem Jahr den
Slogan „Geist ist geil“ entgegen.
Geisteswissenschaften einerseits und Natur- und Ingenieurwissenschaften andererseits sind zwei Seiten einund derselben Medaille. In einer Welt, in der mit dem
Maß vermeintlich profitschaffender Naturwissenschaften gemessen wird, hören wir oft, dass die Geisteswissenschaften keinen gleichwertigen Beitrag leisten. Genau dieser von Grund auf falschen Ansicht soll dieses
Wissenschaftsjahr entgegentreten.
({1})
Die Geisteswissenschaften waren und sind für jedes
funktionierende Gemeinwesen unabdingbar. Von Thales
über Pythagoras bis zu Kant interessieren sich auch die
Mathematik und die Naturwissenschaften für die Geisteswissenschaften. „Natur braucht Geist“ titelte gestern
sehr richtig die „Rheinische Post“.
({2})
Zum Menschen, also zur Humanität, gehört eben die
nutzenfreie Wissbegier. Nutzlos sind Neugierde und
Wissbegier im Zeitalter der Globalisierung, der Ökonomisierung und der Wissensgesellschaft ganz sicher nicht.
Das Zeitalter der Globalisierung verlangt nicht weniger,
sondern mehr an Geisteswissenschaft.
({3})
Erlauben Sie mir, einen Aspekt der philologischen
Dimension solch einer humanistischen Bildung herauszugreifen. Die 740 000 Latein- und 15 000 Altgriechischschüler in Deutschland - ihre Zahl nimmt wieder
stetig zu - lehren uns eines: Weder Latein noch Altgriechisch sind tote Sprachen. Das Gegenteil ist der Fall:
Wer Latein und Altgriechisch kann, setzt sich mit Fragen der Geisteshaltung, der Ethik, der Philosophie und
damit auch der Lebensführung intensiver auseinander.
({4})
Latein und Altgriechisch schulen den Geist, schärfen
den Verstand und sensibilisieren für den bewussten Umgang mit den kulturellen Traditionen. Deshalb sollten
wir das Jahr 2007 als Jahr der Geisteswissenschaften
auch aktiv dafür nutzen, für die humanistische Bildung
und das Erlernen von Latein und Altgriechisch zu werben.
({5})
Viele Naturwissenschaftler sind deswegen so gute
Forscher, weil sie eine humanistische Bildung genossen
haben. Das Jahr der Geisteswissenschaften muss deswegen ein Jahr der humanistischen Bildung sein.
({6})
Die Literaturwissenschaften beginnen in der Regel
mit einer Art geistiger Wahrnehmung, nämlich mit der
Fähigkeit, selbst komplexe Texte zu lesen. Vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse frage ich mich: Was haben wir falsch gemacht, dass so viele junge Menschen in
Deutschland hierzu heutzutage nicht in der Lage sind?
Umso mehr muss die Vermittlung von Sprachkompetenz
im Zentrum des Wissenschaftsjahres stehen. Das Jahr
der Geisteswissenschaften muss deswegen auch ein Jahr
der frühkindlichen Bildung sein.
Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der kulturellen
Infrastruktur eines Landes. Dank ihrer Museen, Theater, Musik und Vortragskultur blühen in Deutschland,
dem Land der Dichter und Denker, eine Reihe von Metropolen auf, was ohne die Kulturwissenschaften so sicherlich nicht denkbar wäre. Nicht grundlos hat die Stadt
Dresden nach dem Fall der Mauer eine Renaissance erlebt und sich zum Zentrum der Wirtschaft und der Wissenschaften in Sachsen und auch in Deutschland entwickelt.
Es geht in diesem Jahr um Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, der wir Liberale uns besonders
verpflichtet fühlen. Es geht in diesem Jahr um Freiheit
und Verantwortung in unserer Gesellschaft, die sich konkret erweisen muss. Außerdem geht es in diesem Jahr
um Freiheit und Verantwortung im Leben eines jeden
Einzelnen von uns. Das Jahr der Geisteswissenschaften
ist deswegen sicherlich auch ein Jahr der Freiheit.
({7})
Konkrete Vorschläge zur Sicherung und zum Ausbau
der Geistes-, Sozial- und eben auch der Kulturwissenschaften hat die FDP-Fraktion vorgelegt. Der Antrag der
Koalitionsfraktionen zeigt uns Liberalen, dass wir in der
Ziel- und in der Wegbeschreibung nicht weit auseinanderliegen.
({8})
Ein Jahr der Geisteswissenschaften kann nicht
schwarz, rot, grün oder gelb sein. Deswegen halten wir
als FDP es für sinnvoll, hier und heute über unsere Anträge zu debattieren; aber wir halten es nicht für sinnvoll,
mit unterschiedlichen Anträgen das Jahr der Geisteswissenschaften zu eröffnen. Ein gutes Zeichen des richtigen
Geistes ist es jetzt, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren.
Vielen Dank.
({9})
Swen Schulz spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Geistes- und Sozialwissenschaften befinden
sich seit einiger Zeit in einer Art Legitimationskrise; jedenfalls wird viel darüber berichtet. Wenn man die Menschen heute fragt, wozu wir eigentlich Forschung benötigen, dann wird die große Mehrheit sicherlich Themen
wie die Bekämpfung von Krankheiten oder technologische Errungenschaften nennen, durch die das Leben erleichtert wird und Arbeitsplätze geschaffen werden.
Wenn man selbstkritisch den Umgang der Politik mit
dieser Frage betrachtet, fällt auf: Immer wieder begründen wir zusätzliche Ausgaben für die Wissenschaft mit
ihrer ökonomischen Bedeutung. Dann sprechen wir
von der Bio- und Nanotechnologie, von Medizin, Gentechnik usw.
({0})
Lieber Herr Tauss, Finanz- und Wissenschaftsminister
der Länder kommen auf die Idee, die angeblich lukrativen Wissenschaften fördern zu wollen, da sie bestimmt
bald zu Wachstum und Arbeitsplätzen in ihrer Region
beitragen. Das alles ist gut und richtig. Wer das aber zulasten der Geistes- und Sozialwissenschaften macht und
die Universitäten auf ingenieurs- und naturwissenschaftliche Wirtschaftswachstumsagenturen reduziert, der begeht einen schweren Fehler.
({1})
Tatsächlich sind auch die Geistes- und Sozialwissenschaften von großer ökonomischer Bedeutung. Ganze
Wirtschaftszweige leben vom Input dieser Disziplinen.
Das gilt zum Beispiel für den riesigen Medienbereich.
Unternehmen stellen Künstler, Kulturwissenschaftler,
Germanisten und Sinologen ein, um ihr Geschäft voranzutreiben. Auch eine Technologiefirma benötigt mehr
als nur eine Erfindung. Sie muss gesellschaftliche Zusammenhänge beachten und braucht die Bereiche Design, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung.
({2})
Für die Ausbildung der dafür kompetenten Leute benötigt man die Geistes- und Sozialwissenschaften. Ohne
sie kann man ganz tolle Patente entwickeln, anmelden
und sie sich zu Hause an die Wand hängen. Aber das war
dann auch alles; denn daraus entsteht kein Geschäft.
Swen Schulz ({3})
Doch bei den Geistes- und Sozialwissenschaften geht
es um mehr. Es geht vor allem darum, gesellschaftliche
Innovationen zu schaffen. Welche Technologien benötigen wir? Wie setzen wir sie ein? Welche Chancen und
welche Risiken bestehen? Das sind die zentralen Fragen.
Für die Lösung großer gesellschaftlicher Probleme benötigen wir mehr als Technologien.
Damit nicht der Eindruck entsteht, als würde in dieser
Frage immer pro domo gesprochen, will ich den Biochemiker Ernst-Ludwig Winnacker zitieren, der gefragt
wurde, ob die Wissenschaft zur Lösung der Menschheitsprobleme beitragen kann und, wenn ja, wo und wie.
Er antwortete mit Bezug auf die demografische Entwicklung: Die entscheidende Frage ist doch, wie wir die Lebensqualität im Alter sichern und verbessern können.
Das ist zunächst ein medizinisches Problem. Aber das ist
längst noch nicht alles. Altern bedeutet zum Glück ja
nicht nur Krankheit. Wir müssen neue Formen des Zusammenlebens suchen und finden, räumlich und sozial.
Hier sind die Soziologen und die Philosophen gefragt,
aber genauso die Architekten und die Städteplaner. Hier
entsteht ein neues Thema für die Wissenschaft als Ganzes, das gerade erst von uns entdeckt wird.
({4})
Ich finde, das hört sich nicht nach einer Krise, sondern
vielmehr nach einem Aufbruch zu neuen Ufern an. Hier
im Bundestag sollten wir den dafür notwendigen Rückenwind organisieren.
({5})
Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind also nützlich. Doch wir müssen aufpassen, welche Begründung
wir für die Förderung der Wissenschaft anführen. Es darf
nicht ausschließlich um ihren offensichtlichen Nutzen
gehen. Denn dann laufen wir Gefahr, die Förderung von
gesellschaftlichen Schwankungen abhängig zu machen.
Wenn sich der erhoffte Erfolg nicht schnell einstellt, verliert man die Geduld. Schnell ist ein anderes Thema en
vogue. So kann eine wissenschaftsfremde Kurzatmigkeit
entstehen.
Ein anderes Beispiel ist die Bildungsforschung. Bis
zur PISA-Studie hat sich kaum ein Mensch dafür interessiert. Heute können wir alle nicht genug von Langzeitstudien und exzellenten Bildungsforschern bekommen.
Das hat allerdings Jahrzehnte wissenschaftlicher Arbeit
zur Voraussetzung. Ganz ähnlich ist es auch der Islamwissenschaft ergangen. Welche Wissenschaft läuft wohl
gegenwärtig unbeachtet nebenher, hat aber künftig eine
größere Bedeutung, als wir es uns heute vorstellen können? Wir wissen es nicht.
Wir müssen auch beachten, dass Innovationen nicht
nach politischem Plan laufen. Wissenschaft ist keine
Maschine, die man mit Geld gut ölen kann und aus der
dann hinten Technologie, Arbeitsplätze oder Frieden und
Freiheit herauskommen. Wissenschaft, die sich frei entwickelt, bringt häufig einen unerwarteten Nutzen. Es
gibt zum Beispiel das Prinzip Kolumbus: Er wollte
eine Route nach Indien finden und ist dabei gescheitert.
Aber er hat Amerika entdeckt. Das ist immerhin ja auch
eine nicht unerhebliche Entdeckung. Wir müssen der
Wissenschaft Freiraum lassen. Bei aller notwendigen politischen Steuerung muss es Nischen geben, in denen die
Wissenschaft unabhängig arbeiten kann. Das ist für die
geistige Kraft einer Gesellschaft unerlässlich.
({6})
Damit jetzt keine Missverständnisse entstehen: Ich
rede hier nicht einer hoffnungslosen Wissenschaftsromantik das Wort. Auch die Geistes- und Sozialwissenschaften brauchen Entwicklung und neue Impulse. Sie
müssen sich rechtfertigen und Qualität nachweisen. Die
Gesellschaft hat das Recht, zu erfahren, was mit ihrem
Geld geschieht, und die Politik hat die Pflicht, im öffentlichen Interesse Schwerpunkte zu setzen. Doch Wissenschaft - das müssen wir dabei sehen - ist kein Investment, das nach einer bestimmten Frist einen messbaren
Nutzen bringt. Eine reine Nutzenorientierung, die Ökonomisierung, darf die Wissenschaft nicht beherrschen.
({7})
Julian Nida-Rümelin hat jüngst deutlich gemacht,
dass er die spezifische Kultur der europäischen Geisteswissenschaften durch einige aktuelle Entwicklungen gefährdet sieht. Ich denke, wir müssen das ernst nehmen.
Für die Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Situation an den Hochschulen von besonderer Bedeutung.
Schließlich werden sie in erster Linie dort betrieben. Darum sind Ideen für einen Wettbewerb zugunsten exzellenter Lehre, wie sie in letzter Zeit entstehen, natürlich
von großem Interesse.
({8})
Wir müssen dabei aber beachten, dass wir Leuchttürme
der Forschung auswählen können. Es darf nicht sein,
dass es nur wenige Spitzenunis für die Lehre gibt.
Vielleicht sollten wir hinsichtlich der Lehre weniger
über einen Exzellenzwettbewerb und mehr über Evaluation nachdenken. Wir müssen wissen, wo und wie Lehre
mit welcher Qualität gemacht wird. Dann benötigen wir
ein Förderprogramm für die Lehre, etwa für die Bewältigung der Herausforderung der Umstellung auf Bachelor
und Master, auf das alle Hochschulen zugreifen können.
Dort lassen sich zum Beispiel durch die Veröffentlichung der Evaluationsergebnisse auch Wettbewerbselemente einbauen, um eine Dynamik in den Prozess zu bekommen. Es geht aber bitte nicht, einfach nur ein paar
Projekte auszuwählen und extra Geld für sie bereitzustellen. Das greift zu kurz.
({9})
Wir werden noch Gelegenheit haben, näher über die
vielen wichtigen Einzelaspekte in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu sprechen - der Kollege Krummacher
hat bereits einiges dazu erwähnt -: über das Jahr der Geisteswissenschaften, das hier schon eine Rolle gespielt hat,
Swen Schulz ({10})
die Förderprogramme des Bundes, die aufgestockt werden, die Arbeit von Stiftungen, das Akademienprogramm, die Verbesserung der Förderung durch die EU,
über die sehr gute Initiative für Forschungskollegs, über
die Zukunft der geisteswissenschaftlichen Zentren, die
mir besonders am Herzen liegen, und über die Zukunft
der kleinen Fächer, die einen besonderen Schutz benötigen.
Lieber Herr Meinhardt, der Antrag der Koalition ist
ein Gesprächsangebot. FDP und Linke haben in ihren
Anträgen Anregungen formuliert. Ich bin mir sicher,
dass unser früherer Koalitionspartner Bündnis 90/
Die Grünen nicht nachstehen wird.
Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften geht es
unter anderem ja um Kultur. Vielleicht können wir an
dieser Stelle die politische Kultur ein wenig pflegen und
im produktiven Streit die Geistes- und Sozialwissenschaften gemeinsam stärken. Das würde mich freuen.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Jan Korte hat das Wort für die Linke.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich schließe mich gerne dem produktiven
Diskurs hier an und finde es richtig, dass ein solcher Antrag, in dem doch einige Dinge zur Situation der Geistesund Sozialwissenschaften präzise benannt worden sind,
von Ihnen vorgelegt wurde.
({0})
Auf Seite 3 des Antrags der Koalitionsfraktionen
heißt es - ich zitiere -:
Allerdings birgt die Verschärfung des Wettbewerbs
um öffentliche Mittel die Gefahr, dass die Geistesund Sozialwissenschaften gegenüber den als expansiv erlebten Natur- und Ingenieurswissenschaften
benachteiligt werden. Eine Ausrichtung der Förderung alleine an Drittmittelquoten wird den Geistesund Sozialwissenschaften nicht gerecht.
Das ist zwar durchaus richtig, aber leider ist das nicht
ganz die Wahrheit, sondern Sie treffen haarscharf an ihr
vorbei. So richtig diese Analyse in dem Punkt ansatzweise ist: Das Grundproblem - Kollege Schulz, Sie haben es angesprochen - ist die Ökonomisierung des
Bildungssystems. Gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die an den Universitäten eine große
Rolle spielen, wirkt sich diese Ökonomisierung von
Lehre und Forschung verheerend aus.
Ebenso fehlt ein Verweis auf die Studienbedingungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften an den
deutschen Hochschulen. Ein konkretes Beispiel. Es ist
wenig förderlich und dient nicht dem Erkenntnisgewinn,
wenn man zum Beispiel an der Uni Hannover ein soziologisches Seminar veranstaltet, einen Lektürekurs zu
„Das Kapital“ von Karl Marx, drei Bände - man muss
sich ein wenig konzentrieren, aber wenn man es vernünftig macht, kann man den größtmöglichen Erkenntnisgewinn erzielen -, an dem 80 Personen teilnehmen.
Das ist aber die Realität an den Hochschulen. Das ist eigentlich der Kern des Problems.
({1})
In dem Antrag der FDP ist zu wenig davon die Rede
- das ist nicht ganz überraschend -, dass man sich darüber verständigen muss, was denn die Rolle von Geistes- und Sozialwissenschaften in einer Gesellschaft ist.
Dabei - das ist zum Teil schon richtig angesprochen
worden - kann es nicht um Verwertungskriterien im ökonomischen Sinne gehen, sondern es muss darum gehen,
Kritik üben zu lernen; das ist ein Wert an sich. Die Kritik
als solche ist sozusagen der Kern von Geistes- und Sozialwissenschaften.
In dem Antrag kommt leider auch nicht vor, dass es
wichtig ist, Analysen greifbar zu machen, Kritik sichtbar
zu machen, und zwar als Voraussetzung dafür, die Gesellschaft zu verändern. Das ist aus unserer Sicht eine
originäre Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften.
Deswegen haben wir als linke Fraktion ebenfalls einen Antrag eingebracht. Uns geht es darum, dass diese
Fragen langfristig und systematisch diskutiert werden.
Dazu soll nach unserer Vorstellung ein Diskussionsforum unter dem Titel „Perspektiven der Geistes-, Kulturund Sozialwissenschaften“ eingerichtet werden.
Außerdem ist es dringend erforderlich, sich noch einmal genau anzuschauen, was eigentlich der Bolognaprozess für die Geistes- und Sozialwissenschaften bedeutet.
Dabei geht es im Kern - es ist natürlich auch eine Ausgestaltungsfrage - um Verschulung, um Verschulung von
Lehre und Studium. Das Hineinpressen in einen Bachelor- und Masterstudiengang ist gerade bei den Geistesund Sozialwissenschaften der Erkenntnis - das ist ganz
klar - nicht förderlich. Das ist nicht verschulbar. Damit
müssen wir uns auseinandersetzen.
({2})
Ich glaube, dass wir einige Schritte gemeinsam gehen
können. Es ist ganz wichtig, die Funktion von Geistesund Sozialwissenschaften in der Gesellschaft noch einmal zu diskutieren und zu analysieren und sich jeglichen
Bestrebungen in Richtung ökonomischer Verwertbarkeit
von Lehre und Forschung entgegenzustellen.
Wir brauchen gerade für die Studentinnen und Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften mehr
Muße und Zeit; das ist die Mutter der Geistes- und Sozialwissenschaften. Längere Zeit in der Bibliothek sitzen
zu können und zu versuchen, mit anderen das zu diskutieren, was man gerade gelesen hat, ist der Kern von
Geistes- und Sozialwissenschaften. Dafür müssen wir
die Bedingungen ändern. Zum Beispiel darf es keine
Studiengebühren für ein Langzeitstudium geben.
Eine letzte Bemerkung will ich noch machen. Gerade
die Studentinnen und Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften sind diejenigen, die politisch aktiv sind.
({3})
Es sind diejenigen, die sich in politischen Interessenvertretungen engagieren. Sie werden aufgrund dieser Studienbedingungen davon abgehalten.
Ich hoffe, dass wir in einen Diskurs eintreten können.
Wir sind dazu bereit. Es gibt einen alten Lehrsatz, und
der ist wahr: Der Geist steht links.
({4})
Jetzt spricht Krista Sager für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Jahr
der Geisteswissenschaften und die Empfehlungen des
Wissenschaftsrates schaffen gute Voraussetzungen dafür,
deutlich zu machen, dass die Geisteswissenschaften in
Deutschland auch international ein hohes Ansehen genießen.
({0})
Sie sind keineswegs nachrangig, sie sind überhaupt nicht
irgendwie defizitär; im Gegenteil: Sie sind unverzichtbar. Ich gebe allen recht, die gesagt haben: Der Bedarf an
geistes- und sozialwissenschaftlichen Orientierungsleistungen wird noch höher werden.
({1})
Die Geisteswissenschaften haben allen Grund, sich
vor dem Hintergrund dieser Feststellungen erhobenen
Hauptes nicht nur in der wissenschaftlichen Community,
sondern auch in der Gesellschaft zu präsentieren. Dass
die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von der Bundesregierung zügig umgesetzt werden, lässt sich für die
Geisteswissenschaften auf der Habenseite verbuchen.
Aber man wird den Eindruck nicht los, dass sich hinter
diesem Feuerwerk der Sympathiebekundungen für die
Geisteswissenschaften eine große Portion schlechten
Gewissens gegenüber den Stiefkindern der Wissenschaftspolitik verbirgt.
({2})
- Schauen Sie sich die Länder an! ({3})
Ich denke, dieses schlechte Gewissen besteht durchaus
zu Recht.
({4})
Herr Professor Lepenies hat bei der Eröffnung des
Jahres der Geisteswissenschaften sehr eindrucksvoll erklärt, dass sich selbst technische Universitäten in China
höchst lebendige geisteswissenschaftliche Fachbereiche
leisten. In Deutschland geht die Entwicklung längst in
eine andere Richtung.
({5})
Da, wo in Deutschland geklotzt und nicht gekleckert
wird - bei Hightech, Bio- und Gentechnik und jetzt auch
bei der Sicherheitsforschung -, kann im Ernst nicht
wirklich die Rede von der vielbeschworenen interdisziplinären Einbeziehung der Geisteswissenschaften und
Partnerschaft mit diesen sein.
({6})
- Ja, auf dem Papier, aber nicht in der Realität.
({7})
So positiv die Autonomie der Hochschulen auch ist
- ich bin ausdrücklich dafür -: In Deutschland scheint
man der Meinung zu sein, Profilbildung sei, wenn alle
das Gleiche machen. Wie soll eigentlich Profil entstehen, wenn alle der Meinung sind, die angeblich nützlichen Fächer werden gepflegt und die angeblich weniger
nützlichen geisteswissenschaftlichen Fächer werden gerupft?
({8})
Ich glaube, dass in Bezug auf dieses Jahr der Geisteswissenschaften der Prüfstein, ob das nicht nur ein Jahr
des schlechten Gewissens wird, tatsächlich ist, ob es gelingt, verbindliche Vereinbarungen mit den Ländern zu
treffen und konkrete Anreize für den Erhalt der sogenannten kleinen Fächer zu schaffen. Daran wird sich
vieles messen lassen.
({9})
Da erwarte ich in der Tat auch von der Bundesministerin, dass sie dafür sorgt, dass der Ruf nach dem Erhalt
der kleinen Fächer nicht einfach im föderalen Nirwana
verhallt. Da muss wirklich Butter bei die Fische!
In einer Sache gebe ich meinen Kollegen recht: Wir
brauchen einen viel stärkeren Blick auf die Lehre gerade
in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wenn der
größte Teil der jungen Leute, die wir von den Universitäten ins Berufsleben entlassen, geistes- und sozialwissenschaftliche Studien absolvieren, dann kann es nicht sein,
dass nur über die Leistungsfähigkeit in der Forschung
gesprochen wird und die Lehre immer weiter aus dem
Blick gerät. Deswegen hat Herr Schulz vollkommen
recht: Wir brauchen auch einen Qualitätswettbewerb
für gute Lehre.
({10})
Das muss nicht bedeuten, dass eine einzelne Uni ein
Hütchen aufbekommt, sondern man muss wirklich
schauen, wo in Deutschland systematisch und strukturell
etwas für gute Lehre getan wird, und das muss dann
auch honoriert werden. Sonst bekommt die Lehre nicht
den Stellenwert, den sie braucht und den sie verdient hat.
({11})
Wir sollten im Ausschuss gemeinsam darüber beraten, was Bund und Länder dazu beitragen können, dass
das Jahr der Geisteswissenschaften nicht nur ein Jahr der
freundlichen Reden bleibt.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 16/4153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4161 und 16/4154 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. - Damit sind Sie
offensichtlich einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Dauergenehmigungen für Militärflüge aufheben
- Drucksachen 16/857, 16/3831 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Hierfür ist eine halbe Stunde Debattenzeit vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Niels Annen für
die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die zuständigen Ausschüsse haben den hier vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der einbringenden Fraktion einhellig abgelehnt. Ich glaube, aus gutem Grund. Denn liest man diesen Antrag genau - man muss sich schon ein wenig näher damit beschäftigen -, dann kann man zwei Ebenen
herausfiltrieren, um die es möglicherweise gehen
könnte.
Die eine Ebene ist, dass das gültige NATO-Truppenstatut verändert werden soll. Es soll von einer generellen Genehmigung von Überflügen der Alliierten zu einer
Einzelfallprüfung übergegangen werden. Da fragt man
sich natürlich - wir haben in diesem Hause schon viele
Debatten über Bürokratieabbau gehabt -, ob damit die
Errichtung einer neuen Behörde beabsichtigt ist. Aber
Spaß beiseite. Die andere Ebene bezieht sich auf die anhaltende Debatte um die sogenannten CIA-Geheimflüge
in Deutschland.
Für uns als gleichberechtigtes und vollwertiges Mitglied der NATO ist es doch im Sinne der Effektivität und
der Verlässlichkeit im Bündnis eine absurde Vorstellung,
an dieser Stelle das NATO-Truppenstatut verändern zu
wollen oder gar aufzukündigen. Denn dadurch würde ein
Misstrauen innerhalb des Bündnisses zum Ausdruck
kommen, was uns bei den bevorstehenden durchaus
schwierigen Debatten nicht helfen würde und die Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben nicht leichter
machen würde.
({0})
- Ich komme noch darauf zurück.
Was die Frage der Gefangenentransporte betrifft, so
haben der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
in Person des Außenministers und der Kanzlerin sich in
diesem Hause sehr ernsthaft dazu geäußert. Es gibt einen
Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages,
dessen Einsetzung - dies geschah im Hinblick auf die offenen Fragen, die Sie zu Recht ansprechen - beispielsweise vom Europäischen Parlament ausdrücklich gelobt
wurde. Gleichzeitig waren diese Transporte mehrfach
Gegenstand von Gesprächen der Kanzlerin und des Außenministers mit der amerikanischen Außenministerin
und der amerikanischen Administration. Dabei hat die
deutsche Seite immer wieder betont, dass der internationale Terrorismus in der Tat entschlossen bekämpft werden muss, dies aber im Hinblick auf die Wahl der Mittel
kein Persilschein bedeutet.
({1})
Alle Maßnahmen - dieser Punkt ist für die Diskussionen, die uns noch bevorstehen, wichtig - müssen mit demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar
sein und dem Recht der jeweiligen Länder sowie dem internationalen Recht uneingeschränkt Rechnung tragen.
({2})
Ich will hinzufügen - Sie werden das sicherlich noch erwähnen -, dass das selbstverständlich auch für unsere
Verbündeten in den Vereinigten Staaten gilt.
Ganz generell gesprochen: Wir müssen uns darauf
verlassen können, dass die USA bilaterale Verträge
ebenso achten wie das Regime des Völkerrechts und der
Menschenrechte; denn der Kampf gegen den Terrorismus bedarf nicht nur militärischer Mittel, sondern vor
allem auch der Legitimität der eingesetzten Mittel. Genau darum geht es.
Nach der Lektüre dieses Antrages habe ich allerdings
manchmal den Eindruck gehabt - Kollege Gehrcke, wir
haben unterschiedliche politische Ansichten; aber Sie
wissen, dass ich Ihre Arbeit sehr schätze -, dass es Ihnen
in diesem Antrag um eine ernsthafte Diskussion gar
nicht geht. Er stellt sich im Grunde genommen in die
Reihe von Vorwürfen, die auch in diesem Hause immer
wiederholt worden sind. Beispielsweise haben Ihre Fraktionsvorsitzenden behauptet, dass es eine doppelzüngige
Politik der alten rot-grünen Bundesregierung gegeben
habe und dass die Ablehnung des Irakkrieges überhaupt nicht ernst gemeint gewesen sei.
Ich will hier klarstellen: Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat sich nicht in blinder Gefolgschaft der sogenannten Koalition der Willigen angeschlossen. Deutschland hat sich eben nicht an dem
völkerrechtswidrigen Irakkrieg beteiligt, auch wenn das
hier immer wieder suggeriert wird. Sie hat auch die falsche Entscheidung der amerikanischen Regierung - so
wird es inzwischen auch vom amerikanischen Kongress
gesehen - kritisiert.
({3})
Bundeskanzler Schröder hat in der elementaren Frage
von Krieg und Frieden für den Frieden votiert. Ich stehe
nicht unbedingt in dem Verdacht, jede Entscheidung von
Gerhard Schröder immer nur verteidigt zu haben. Aber
ich will an dieser Stelle eines sagen, weil immer der Eindruck erweckt wird, wir würden nicht ehrlich argumentieren: Die Politik der rot-grünen Regierung war klar und
transparent und wurde in diesem Hause vorgestellt.
({4})
- Warten Sie es ab, Herr Kollege Gehrcke! Ich kann Ihnen das vorlesen. Ich zitiere Gerhard Schröder. Er hat an
dieser Stelle gesagt:
Solidarität, wie wir sie geleistet haben und nach wie
vor leisten, schafft aber auch das Recht, ja die
Pflicht, zu differenzieren.
… Und uns eint eine Freundschaft,
- mit den Vereinigten Staaten die auf gegenseitigem Respekt und der Verfolgung
gemeinsamer Ziele beruht und in der wir deshalb zu
unterschiedlichen Meinungen kommen und dies ertragen können.
Er hat hinzugefügt: Wir machen dieses Abenteuer nicht
mit; aber wir stehen zu unseren Bündnispflichten. Wir
stehen zur Kooperation mit den entsprechenden Stellen
der Vereinigten Staaten. - Daraus hat nie irgendjemand
einen Hehl gemacht.
({5})
Diesen Eindruck erwecken Sie wissentlich, und der ist
falsch.
Eine einseitige Reduzierung der Außenpolitik auf militärische Mittel lehnen wir ab. Dass das richtig ist, zeigt
doch - ich sage das ohne jegliche Befriedigung darüber,
dass sich die Position als richtig erwiesen hat - die Geschichte im Irak, die entsetzlichen Bilder, das Chaos, mit
dem wir es zu tun haben. Wir tragen dort Verantwortung;
da kann es gar keine Frage geben.
Die deutsche Regierung definiert Sicherheit umfassender. Sicherheitspolitik wird seit Rot-Grün - ich sage
ausdrücklich, dass ich sehr froh bin, dass wir uns darüber
auch in der neuen Regierung verständigen konnten und
große Schritte in die richtige Richtung gemacht haben
- von der deutschen Regierung nicht allein mit militärischen Mitteln verfolgt - wo es notwendig ist, erfolgt
eine militärische Absicherung -, sondern auch mit diplomatischen Mitteln und vor allem mit entwicklungspolitischen und zivilen Instrumenten.
({6})
Die Regierung hat die entsprechenden Mechanismen
nicht nur proklamiert, sondern sie auch praktisch umgesetzt. Für Deutschland steht im Mittelpunkt, den Menschen in den Ländern, die von Krieg und gewalttätigen
Konflikten betroffen sind, wieder eine Perspektive für
eine friedliche Zukunft zu bieten. Dazu gehören zentral
der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und die
Unterstützung derjenigen, die sie aufbauen müssen und
polizeiliche Aufgaben wahrnehmen; Sie kennen unsere
Programme. Nur ein staatliches Gewaltmonopol, das
Hand in Hand mit sozialer Gerechtigkeit und der Wahrung der Menschenrechte geht, hat eine Chance auf
langfristige Stabilität; an dieser Stelle sind wir uns,
glaube ich, wirklich einig.
Failing States, wie sie im Irak oder in Somalia entstanden sind, versinken nicht nur im Chaos. Die Menschen wenden sich auch radikalen Kräften zu. Deswegen
stimme ich dem zu, was Außenminister Steinmeier beispielsweise in Bezug auf Afghanistan gesagt hat: Da, wo
Stabilisierungserfolge ausbleiben, nutzen die Taliban
eben ihre Chance und an anderer Stelle entsprechend andere terroristische Gruppierungen, indem sie sich maßgeblich als Beschützer der Bevölkerung aufspielen.
Einsätze der Bundeswehr - auch im Rahmen der
NATO; darum geht es ja hier - wurden daher auch unter
dieser Vorgabe neu orientiert, und die Zusammenarbeit
mit zivilen Akteuren wurde intensiviert und abgestimmt. Entwicklungen wie im vergleichbar ruhigeren
Norden in Afghanistan - das bedeutet nicht ruhig -, in
dem sich die Bundesrepublik Deutschland seit fünf Jahren engagiert, zeigen, dass der Ansatz, zivile und militärische Komponenten zusammenzubringen, richtig ist.
Das alles ist ein mühsames Geschäft. Es bedarf dafür
tagtäglicher diplomatischer Bemühungen und der Bereitschaft zahlreicher Menschen, sich als Soldatinnen und
Soldaten sowie als Entwicklungshelfer und Polizisten
einzusetzen. Dieses Haus sollte diesen Menschen dafür
dankbar sein.
({7})
Die Bundesregierung unterstützt diese Menschen mit
Rat und Tat, und sie führt die notwendige Diskussion
über die Frage, wie wir unser Engagement weiterentwickeln können.
An dieser Stelle möchte ich auf die NATO und die
Frage zu sprechen kommen, was Bündnisverpflichtung
eigentlich bedeutet. Wir haben - das ist noch gar nicht
lange her - auf der Sicherheitskonferenz in München
eine Rede von Gerhard Schröder - Peter Struck hat sie
damals vorgetragen - gehört. Er hat vernünftigerweise
darauf hingewiesen, dass die Zukunft des Bündnisses
auch davon abhängt, ob wir die notwendigen strategischen Debatten - es gibt Anlass, diese zu führen - auch
wirklich gemeinsam im transatlantischen Kontext bewältigen. Die Bundeskanzlerin hat diesen Gedanken ein
Jahr später aufgegriffen. Wir führen diese Debatte heute.
Man kann ja über die eine oder andere Entscheidung unterschiedlicher Meinung sein. Aber wir haben auf dem
NATO-Außenministertreffen eine Diskussion über die
richtige Strategie für Afghanistan geführt. Wir haben die
Politischen Direktoren nach Berlin eingeladen und mit
ihnen die Situation erörtert.
Es geht doch darum, dass Bündnisverpflichtungen
nicht, wie das manchmal suggeriert wird, bedeuten, dass
wir unsere Souveränität an den Nagel hängen würden.
Das ist übrigens eine Argumentation, die mit der einen
oder anderen auch in Deutschland verbreiteten Auffassung manchmal auf gefährliche Art und Weise spielt.
Das sollten wir an dieser Stelle nicht tun. Wir brauchen
eine vernünftige Diskussion über die Weiterentwicklung
der Strategie der NATO
({8})
und keinen billigen Populismus, im Rahmen dessen im
Übrigen Vorschläge unterbreitet werden, die vollkommen unpraktikabel sind. Ich glaube, dass der Deutsche
Bundestag gut beraten wäre, dem Vorbild der zuständigen Ausschüsse zu folgen und den vorliegenden Antrag
abzuweisen.
Herzlichen Dank.
({9})
Dr. Rainer Stinner spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ihnen von der Linksfraktion muss man eines lassen: Sie sind konsequent. Sie wollen die NATO zerstören. Das versuchen Sie mit einer ganzen Reihe von Anträgen, auch heute.
({0})
Wir hingegen glauben, dass die NATO nicht zerstört
werden sollte. Deshalb werden wir Ihren Antrag heute
ablehnen.
({1})
- Auch das ist konsequent, richtig.
Wir glauben, dass durch die Befolgung Ihres Antrages die Bündnisfähigkeit unseres Landes nachhaltig, und
zwar gravierend, vermindert würde. Sie stellen Ihren
Antrag, um genau das zu erreichen; das ist uns bekannt.
Dummerweise haben Sie für ein multilaterales Sicherheitssystem - im Gegensatz zur NATO - keinerlei Konzepte vorgelegt.
({2})
Eine Zerstörung der NATO, die Ihr Antrag impliziert,
bedeutete, dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik
eine Renationalisierung erleben würden. Davon haben
wir in Deutschland nun wirklich die Nase voll.
({3})
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Gleichwohl verkenne ich nicht, dass Sie in Ihrem Antrag ein wichtiges Thema angesprochen haben, nämlich
die Frage, wie wir mit Bündnispartnern umgehen, deren
Verhalten im Einzelfall für uns unakzeptabel ist. Für
meine Fraktion steht außer Zweifel - ich glaube, das gilt
für die meisten Fraktionen -, dass das bei den sogenannten CIA-Flügen der Fall ist.
Wenn wir sagen: „Wir brauchen die NATO als Bündnis“, stehen wir als getreuer Bündnispartner vor der Abwägung, wie weit die Bündnissolidarität gehen muss,
damit die NATO handlungsfähig bleibt, und wie weit sie
gehen darf, wenn unsere Werte beeinträchtigt zu werden
drohen. Das ist eine Frage, mit der wir uns beschäftigen
müssen. Das betrifft aber, wie wir alle wissen, nicht nur
das NATO-Zusatzabkommen. Das ist das geringste Problem. Wir alle wissen, dass die CIA-Flüge auch durch
Kündigung des Abkommens nicht verhindert worden
wären. Sie sind nämlich in keiner Weise durch bestehende Abkommen mit unseren Bündnispartnern gedeckt. Wir erwarten, dass die Bundesregierung das deutlich macht; das tut sie ja auch.
Das Thema CIA-Flüge wird im Untersuchungsausschuss behandelt werden. Wir erwarten, dass nach Abschluss dieses Ausschusses klare Erkenntnisse und entsprechende Vorschläge vorliegen, wie wir dafür sorgen
können, dass Bündnispartner getroffene Regeln einhalten. Ich sage hier sehr deutlich: Es ist für uns inakzeptabel, dass Deutschland ein Transitland für Gefangenentransporte im rechtsfreien Raum ist und bleiben wird.
({4})
Ich möchte deutlich machen, worauf es bei einer Problemlösung, an der Sie gar kein Interesse haben, ankommt.
({5})
- Ich nehme nur zur Kenntnis, wie Sie hier agieren. - An
einer Problemlösung haben Sie kein Interesse. Sie haben
ein Interesse an der Zerstörung der NATO. Bei einer
Problemlösung geht es aber nicht darum, Vereinbarungen aufzukündigen, sondern politisch zu agieren. Ich
glaube, dass das der richtige Weg ist.
Die jetzige Bundeskanzlerin proklamiert nicht nur auf
Marktplätzen Menschenrechte; sie spricht die Dinge
auch im Einzelfall an. Damit hat sie Erfolg, wie wir bei
Herrn Kurnaz gesehen haben. Dieses Vorgehen bzw.
Nichtvorgehen einer Regierung beschäftigt uns alle
nachhaltig. Herr Annen, es ist sympathisch, dass Sie das
damalige Vorgehen Ihrer Regierung verteidigt haben. Ich
glaube nicht, dass Ihre heutige Präsentation eine durchschlagende Wirkung haben wird, aber das muss die Öffentlichkeit beurteilen.
({6})
- Es mag sein, dass Sie dem nicht ganz zustimmen, jedenfalls nicht zustimmen können. Ich verstehe das.
Im Rahmen der NATO wird nicht nur darüber diskutiert, was wir machen, sondern auch, wie wir es tun, Herr
Gehrcke. Die Diskussion darüber ist längst überfällig,
sie hat aber begonnen. Das halten wir für richtig und
wichtig. Diese Diskussion müssen wir natürlich fortsetzen. Ich verhehle nicht, dass die Erklärung von Riga
nur ein erster Schritt gewesen ist. Weitere Schritte müssen folgen, insbesondere was das Vorgehen der NATO in
Afghanistan angeht. Das werden wir entsprechend einfordern.
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir ein handlungsfähiges Bündnis, das rechtsstaatliche Prinzipien nicht nur
predigt, sondern selbst befolgt. Unser Weg ist der bessere. Das ist besser, als durch Kündigungen von Verträgen die Handlungsfähigkeit zu zerstören. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Menschen in unserem Land erwarten, dass
in diesem Hause substanzielle Themen debattiert werden. Die beiden letzten Redebeiträge haben diesen Anspruch erfüllt. Herr Gehrcke, Ihr Antrag erfüllt diesen
Anspruch in unseren Augen leider nicht. Sie haben ja
nachher noch die Möglichkeit, das eine oder andere dazu
zu sagen. Ich bin sehr gespannt darauf, ob die Punkte,
die ich versuche zu benennen und die sich im Wesentlichen auf den Antrag beschränken, ausgehebelt werden
können.
Ihr Antrag ist zunächst einmal ein weiterer Beitrag
unter der Rubrik - die gibt es bei Ihnen nicht zum ersten
Mal -: Wie banne ich möglichst viele antiamerikanische
Ressentiments auf eine Antragsseite?
({0})
Unter diesem Aspekt kann ich Ihnen nur gratulieren. Das
ist Ihnen diesmal in herausragender Weise gelungen,
bringt uns aber dem Anspruch der Substanz alles andere
als näher. Dieser Ort hat es nicht verdient, zur Plattform
von Verunglimpfungen und Beleidigungen unserer
Bündnispartner zu werden, egal welcher Bündnispartner.
Kritik ja - die müssen auch wir immer wieder äußern;
das sollten wir gelegentlich einmal etwas lauter tun -,
Beleidigung nein!
({1})
Sie bewegen sich hier wirklich am Rande der Beleidigung. Im Grunde haben Sie die Schwelle zur Beleidigung überschritten.
Bereits im Feststellungsteil Ihres Antrages überschreiten Sie mit Ihren Argumenten einige Grenzen des
guten Stils, des guten Geschmacks und in meinen Augen
letztlich auch der Redlichkeit. Es steht außer Frage
- Kollege Annen hat es angesprochen; Kollege Stinner
hat es ebenso benannt -, dass die Vereinigten Staaten gerade im Rahmen ihres selbst proklamierten Krieges gegen den Terror - ich bin weiterhin sehr unglücklich über
diesen Begriff - gelegentlich auf Mittel zurückgreifen,
die unserem Rechtsverständnis fremd sind. Ich bin dankbar, dass diese Bundesregierung, die Bundeskanzlerin,
aber auch viele Abgeordnete aus diesem Hause wiederholt darauf hingewiesen haben, und zwar auch bei unseren Bündnispartnern, allerdings in einem anderen Tonfall, in einem anderen Stil und damit auch mit einer
anderen Wirksamkeit als Sie mit Ihrem Antrag. Diesen
Unterschied sollten wir darstellen.
Ich betone, dass es im Umgang mit Partnern wie mit
sich selbst - das bezieht sich auf das, was wir gestern lesen durften - mit Blick auf die Wahrung unseres Rechtsstaatsverständnisses keine bewussten Nachlässigkeiten
geben kann und darf. Die dürfen wir uns alle nicht leisten. Die darf sich keine Regierung leisten und die dürfen
auch wir uns im Umgang mit unseren Partnern nicht leisten.
Bei einigen Formulierungen in Ihrem Antrag hat man
- bei aller Bereitschaft zu konstruktiver Kritik - das Gefühl, dass die Schwelle zur Unerträglichkeit schlicht
überschritten ist. Sie unterstellen der Bundesregierung
- so steht es in Ihrem Antrag -, sie würde „die Vorbereitung auf einen Angriff auf den Iran“ unterstützen. Herr
Gehrcke, das wissen Sie nun wirklich besser. Zum einen
würde ich mich freuen, wenn Sie mir nachher in Ihren
vier Minuten Redezeit - das ist natürlich nicht furchtbar
viel Zeit - Beweise für Ihre Behauptung vortragen würKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
den, die über das hinausreichen, was möglicherweise der
eine oder andere Journalist in den Vereinigten Staaten
schreibt. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten ist dieser
Vorwurf reichlich verwegen, mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland ist er schlichtweg absurd.
({2})
Sie schreiben dann - es wird in diesem Antrag immer
besser -: Ramstein und die anderen Stützpunkte der USStreitkräfte in Deutschland hätten sich „zu den wichtigsten Drehscheiben für völkerrechtswidrige Kriege und
andere US-Militäreinsätze entwickelt“.
({3})
Dieser Satz im Antrag lohnt im Grunde nicht einmal der
Kommentierung.
({4})
- Ihnen fallen wahrscheinlich noch bemerkenswertere,
noch unerträglichere Formulierungen dazu ein, obwohl
Sie eigentlich schon die Grenze dessen, was man sich
vorstellen könnte, überschritten haben.
Betrachten wir einmal den Kontext. Sind völkerrechtswidrige Kriege letztendlich eine Unterkategorie
von US-Militäreinsätzen?
({5})
- Herr Gehrcke, ich glaube Ihnen, dass Sie so denken.
Das entspricht bemerkenswerterweise einer langen Tradition. Damit sind Sie im Grunde konsequent - und verantwortungslos. So muss man es nämlich sehen.
({6})
Jetzt kommen Sie mit dem Völkerrecht. Herr
Gehrcke, Sie erheben gegenüber der Bundesregierung
den durchaus massiven Vorwurf, diese habe gegen das
NATO-Truppenstatut verstoßen; in Ihrem Antrag ist von
„eindeutigen Bestimmungen“ die Rede. Eine Konkretisierung dieses Vorwurfs bleiben Sie uns in Ihrem Antrag
schuldig. Sie benennen keine konkrete Norm, keinen Artikel. Wir können in Ihrem Antrag nichts Näheres darüber
lesen, wogegen die Bundesregierung verstoßen haben
soll. Ich bitte Sie herzlich, uns das in Ihren vier Minuten
Redezeit zu erklären. Doch wahrscheinlich bleiben Sie
uns die Konkretisierung aus gutem Grunde schuldig.
Können Sie uns diese „eindeutigen Bestimmungen“
überhaupt nennen? Mich würde das interessieren; die
Benennung des Artikels, der Vorschrift, der entsprechenden
Rechtsgrundlage reicht bereits. Es wäre sicher etwas
weit hergeholt, zu behaupten, dass Ihr Schweigen damit
zusammenhängen könnte, dass es in besagtem Statut
keine Bestimmung über die Nutzung des Luftraums gibt.
Vielleicht sollten Sie die besagten Vertragswerke erst
einmal lesen, bevor Sie der Bundesregierung Rechtsbruch
vorwerfen; das wäre doch die Voraussetzung dafür.
({7})
Ich darf Ihnen ganz herzlich für die Information danken
- damit haben Sie einen Beitrag zu unserer Bildung leisten
wollen -, dass Deutschland nach dem Chicagoer Luftfahrtabkommen die Hoheit über seinen Luftraum ausübt.
Eigentlich wissen wir das; doch immerhin hat es die
Seite Ihres Antrags gefüllt.
Sie beschränken sich schließlich nicht darauf, zu
fordern, dass erteilte Dauergenehmigungen für Militärflugzeuge - Herr Annen hat das schon angesprochen -,
also für Flugzeuge, die in Deutschland landen, sowie für
solche, die es nur überfliegen, nicht zu verlängern seien.
Sie fordern gar, anzustreben, dass - ich zitiere jegliche Bewegungen der in der Bundesrepublik
Deutschland stationierten Truppen … in jedem Einzelfall der Genehmigung durch die zuständigen
deutschen Stellen bedürfen …
({8})
- Rechtsnorm vielleicht. Aber das ist doch eine geradezu
groteske Vorstellung, Herr Gehrcke. Jede Truppenbewegung zu genehmigen, ist unglaublich praktikabel, nicht
wahr? Unter diesen Praktikabilitätsgesichtspunkten
könnte man Ihre Forderung möglicherweise diskutieren.
Meine beiden Vorredner haben es schon gesagt: Es
geht Ihnen mit diesen Forderungen eigentlich um eine
Destabilisierung der NATO. Herr Stinner ist da noch
weiter gegangen - ich kann mich dem nur anschließen -:
Es geht Ihnen um eine völlige Marginalisierung der
NATO. Gleichzeitig verunmöglichen Sie damit einen
gewissen Wirkungsbereich unserer Bundeswehr. Das
mag mit diesem Antrag auch intendiert sein. Bestenfalls
ist es Ihnen egal. Ebenso egal sollte uns Ihr Antrag sein.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn ein Buchhalter eine Bilanz aufhübscht, wandert er
dafür nach § 331 HGB ins Gefängnis. Für deutsche Politiker gelten offensichtlich andere Maßstäbe. Bis heute
dulden die jeweiligen Bundesregierungen, dass die USStreitkräfte von ihren Stützpunkten in Deutschland ausgehend, insbesondere von Ramstein, Krieg gegen den
Irak führen - ohne juristische Konsequenzen -, einen
Krieg, der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht
legitimiert wurde, also völkerrechtswidrig ist. Die Stützpunkte in Deutschland sind den USA jedoch ausschließlich
für die in Deutschland für den NATO-Verteidigungsauftrag
stationierten Truppen überlassen worden. Nur in diesem
Rahmen dürfen Verbündete ohne Einzelfallgenehmigung
unseren Luftraum nutzen. So sieht es das Zusatzabkommen
zum NATO-Truppenstatut von 1994 vor.
Die Bundesregierung wusste bereits beim Truppenaufmarsch gegen den Irak im Jahre 2002, dass die USA
einen von der Charta der Vereinten Nationen nicht
gedeckten Angriffskrieg planten. Trotzdem verkündete
der damalige Bundeskanzler:
Wir haben nicht vor, die Bewegungsfreiheit unserer
Freunde einzuschränken.
Gegen ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes
des Bundestages begründete er dies mit Bündnisverpflichtungen. Auf rechtliche Einwände antwortete er:
Hier geht es nicht um Juristerei, sondern um Politik.
Offensichtlich hat Herr Schröder mit dieser unverfrorenen
Aufkündigung des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - keine
Politik außerhalb des Rechts - auch für die neue Bundesregierung Maßstäbe gesetzt. Es scheint, dass wir es seitdem
mit einer „Na-und-Politik“ zu tun haben. Ich nenne zwei
Beispiele: Verbringung mutmaßlicher Terroristen mit als
zivil registrierten Flugzeugen im Regierungsauftrag aus
den USA über Deutschland in osteuropäische oder nordafrikanische Folterkeller - na und? Verurteilung der
Gewährung von Überflugrechten zur Führung des Irakkrieges durch den zweiten Wehrdienstsenat in der Disziplinarsache des Majors Pfaff - na und? Es gab keine
Konsequenzen.
Auch nach den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments wegen illegaler CIA-Aktivitäten in Europa ist die Bundesregierung
ihrer Pflicht aus Art. 25 des Grundgesetzes, Verstöße
verbündeter Staaten gegen das Völkerrecht auf deutschem
Hoheitsgebiet zu verhindern, nicht nachgekommen.
Wenn sich unsere Regierungen aus Opportunismus,
Feigheit oder welchen Gründen auch immer nicht an
Recht und Gesetz halten, dann müssen wir, das Parlament
- also der Gesetzgeber -, ihnen Fußfesseln anlegen,
({0})
sozusagen zur Generalprävention, damit Verfassungsbruch
nicht zum Gewohnheitsrecht wird. Deswegen sollten wir
den Forderungen im Antrag der Linksfraktion zustimmen,
keine Pauschalgenehmigungen mehr für Flüge ausländischer Streitkräfte zu gewähren und das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut neu zu verhandeln.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt spricht Wolfgang Gehrcke für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Niels Annen hat völlig Recht, wenn er davon ausgeht, dass ich persönlich und, wie ich hoffe, auch
meine Fraktion ein tiefes und meines Erachtens begründetes Misstrauen in die Politik der USA haben.
({0})
Das ist keine Frage; er hat völlig recht. Dieses Misstrauen
ist auf Erfahrung begründet. Nicht nur wir empfinden es,
sondern auch ein Großteil der Bevölkerung unseres Landes.
({1})
Sie haben bereits deutlich gemacht, was das Ziel unseres Antrages ist, und ich betone es noch einmal: Ich
möchte, dass damit Schluss gemacht wird, dass der deutsche Luftraum, das Territorium unseres Landes, als
Drehscheibe für völkerrechtswidrige Kriege und den
Transport von Menschen, die gefoltert und misshandelt
werden, gebraucht bzw. missbraucht wird. Dies zu beenden, ist unser Ziel. Der Bundestag sollte ein Interesse
haben, das zu beenden.
({2})
Ich schäme mich für die Politik der USA, auch wenn
ich sie nicht zu verantworten habe. Wie bezeichnet man
ein Land, das Menschen in Ketten legen, schlagen und
foltern lässt?
({3})
Ein solcher Staat ist ein Folterstaat und ein Terrorist. Das
muss man klar aussprechen und vor allem abstellen.
({4})
Ich schäme mich dafür, dass Deutschland einer solchen
Politik Beihilfe geleistet hat.
Ich glaube, man muss noch einmal klar die bekannten
Trennlinien aufzeigen. Ich verweise auf das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts, das Sie hier nie kommentieren, wenn wir über die Rechtsgrundlagen diskutieren.
({5})
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Falle des
Majors Pfaff lautet, dass der Krieg gegen den Irak völkerrechtswidrig war und dass die rot-grüne Regierung unseres Landes Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen
Krieg geleistet hat. Das ist etwas,
({6})
zu dem Sie sich nie geäußert haben. Sie müssen sich
aber damit auseinandersetzen.
({7})
Dass sich die rot-grüne Bundesregierung vom Bundesverwaltungsgericht vorhalten lassen muss, Beihilfe zu
einem völkerrechtswidrigen Krieg geleistet zu haben, ist
schlimm. Mit der übrigen rot-grünen Menschenrechtspolitik beschäftigen sich derzeit zwei Untersuchungsausschüsse. Das ist die Bilanz Ihrer Politik.
({8})
Unser Antrag zielt in einer relativ bescheidenen Forderung darauf, mehr Kontrolle auf deutscher Seite über
das zu gewinnen, was in unserem Land passiert. Wir
wollen, dass man von der Ausnahmeregelung, eine
Dauergenehmigung zu erteilen, zu der Rechtsnorm der
Einzelregelungen mit allen Folgen zurückkehrt.
Man muss hier auch festhalten, dass wir hier nicht nur
auf die Vergangenheit bezogen diskutieren. In Washington
und in vielen Orten dieser Welt wird auf allen Fluren
davon gesprochen, dass nicht ausgeschlossen werden
kann - das wissen Sie sehr genau, wahrscheinlich besser
als ich -, dass sich Präsident Bush, was den Iran angeht,
wieder für einen Krieg entscheidet. Ich erwarte von der
Bundesregierung, dass jetzt klar gesagt wird: Sollte ein
solcher Umstand eintreten, startet kein amerikanisches
Flugzeug mehr von Ramstein aus, werden keine Gefangenen mehr transportiert, wird diesmal keine Beihilfe
geleistet.
({9})
Es ist also ein Präventivantrag, weil wir eine große
Sorge haben. Ich sage Ihnen: Einen weiteren Krieg wie
den gegen Irak, einen Krieg gegen den Iran, einen weiteren
Militärschlag wird die Welt nicht aushalten. Deshalb
muss man rechtzeitig Zeichen setzen: mindestens ein
„Ohne uns“, am besten ein „Dagegen“.
({10})
Herr Kollege Gehrcke, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Freiherr zu Guttenberg zulassen?
Ja, gern.
Bitte schön.
Herr Kollege Gehrcke, dürfte ich Sie noch einmal bitten - ohne Sie dabei in der Polemik unterbrechen zu
wollen -, mir die Rechtsgrundlage zu nennen, die ich
bezüglich des Truppenstatuts erfragt habe?
Das Truppenstatut - das ist ja ein Beistandspakt, der
geschlossen worden ist - gestattet nicht, dass Truppen
ohne die Genehmigung unseres Landes bewegt werden;
das ist die Regel. So etwas muss vorher angemeldet und
genehmigt werden. Das kann man durch eine Dauergenehmigung ersetzen, muss man aber nicht. Das Statut
gestattet aber nicht, dass diese Truppen in völkerrechtswidrigen Kriegen eingesetzt werden. Das ist eine ganz
klare Bestimmung.
({0})
Jetzt hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen der
Kollege Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde nicht, dass man, wenn man zum Beispiel die
Anwendung von Folter - das hat es gegeben - kritisiert,
antiamerikanisch ist. Ich finde aber auch nicht, dass man
einen Staat, der über eine funktionierende Demokratie
und über ein funktionierendes rechtliches System, auch
Gerichtssystem, verfügt und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur hat, umstandslos als einen Terrorstaat hinstellen
kann.
({0})
Lieber Wolfgang Gehrcke, damit nimmt man an dieser
Stelle auch ein Stück der Wirksamkeit der eigenen Kritik
weg.
Ich teile ja Ihre Auffassung in manchen Ihrer Ansätze.
Aber was würde eigentlich anders werden, folgte man
Ihrem Vorschlag? Glaubt irgendjemand, dass die USA,
wenn sie Ramstein nicht hätten nutzen können, auf den
Irakkrieg verzichtet hätten? Das ist eine durchgehend naive
Vorstellung.
Ihnen geht es gar nicht darum, diesen Krieg oder einen potenziellen neuen Krieg gegen den Iran zu unterbinden.
({1})
Dieser Antrag ist nur dazu da, zu insinuieren, dass die
damalige Bundesregierung die Amerikaner nicht daran
gehindert hat, diesen Krieg zu führen und damit mitschuldig geworden ist. Das ist die ganze Polemik, die
hinter diesem Antrag steht.
Ich sage das in aller Ruhe: Ich lasse mir diesen Schuh
nicht anziehen. Ich glaube, dass man im Rahmen einer
vernünftigen Politik die USA für die Menschenrechtsverletzungen und die Folter nachdrücklich kritisieren
kann. Gleichzeitig muss man aber im Hinterkopf haben,
dass man wahrscheinlich keines der Probleme dieser
Welt ohne einen multilateralen Ansatz lösen kann, der
nicht auch die Bereitschaft der Einbeziehung der USA
beinhaltet.
({2})
Damit komme ich zu einem Punkt, der vielleicht ein
bisschen ernster ist und Sie zum Nachdenken bringen
sollte. Natürlich ist die NATO von heute nicht mehr die
NATO der späten 80er-Jahre, der die NATO der Nachrüstung. Sie hat sich in dieser Hinsicht völlig verändert.
Niemand glaubt mehr an eine Bedrohung aus dem Osten. In der Anfangszeit wurde eine Funktion der NATO
wie folgt beschrieben: „to keep the Germans down and
to keep the US in“.
({3})
- Diese Funktion relativiert sich gerade, beispielsweise
durch die Partnerschaft für den Frieden.
({4})
Hinter diesem Satz steht sicherlich eine wichtige Erkenntnis. Allerdings haben Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, noch immer nicht gelernt,
dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik auf
Systeme multilateraler Absicherung angewiesen sind.
Das beinhaltet beispielsweise Veränderungen der Funktionsweise von regionalen Bündnissen wie der NATO und
der Europäischen Union sowie die Einbindung der Außenpolitik in das System der Vereinten Nationen. Aber
was ist das Gemeinsame solcher Einbindungen? Solche
Einbindungen gehen immer mit der Abtretung von
Souveränitätsrechten der Nationalstaaten einher. Was
mich bei Ihnen von der Linkspartei so stört, ist, dass Sie
mit schöner Regelmäßigkeit bei jedem Konflikt, den es
gibt, nicht die Sache kritisieren, sondern immer den
Punkt herausgreifen - sei es, ob es um Afghanistan geht,
oder sei es, ob es um das zur Diskussion stehende Thema
geht -, dass Deutschland Hoheitsrechte an andere, an
multilaterale Institutionen abgibt. Es tut mir leid, aber
das halte ich nicht für links. Ständig zu kritisieren, dass
wir Hoheitsrechte verlieren, ist nicht links, sondern nationalistisch.
({5})
Lieber Wolfgang Gehrcke, ich weiß, dass Sie persönlich das besser wissen. Aber Sie täten innerhalb der
Linkspartei gut daran - gerade mit Blick auf bestimmte
Veränderungen in diesem Land -, darüber nachzudenken, wie man Ihre Kritik an Menschenrechtsverletzungen
und einer verfehlten Politik der USA gegenüber dem Iran
so in reale Politik umsetzen kann, dass daraus nicht eine
nationale Geisterfahrt wird, sondern eine wirklich verantwortungsvolle internationale Politik. Diese programmatische Weiterentwicklung haben Sie noch vor sich.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/3831 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Dauergenehmigungen für Militärflüge aufheben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/857 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke sowie des
fraktionslosen Abgeordneten Gert Winkelmeier angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes sowie zur Änderung des
Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes und anderer Vorschriften
- Drucksachen 16/1937, 16/2210 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/4191 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Gerhard Schick
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen vor. Für die Aussprache ist eine
halbe Stunde vorgesehen. Die Reden sind zu Protokoll
gegeben worden, und zwar von den Kollegen Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Hans-Ulrich Krüger, Frank
Schäffler, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes sowie zur Änderung des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes und
anderer Vorschriften. Das sind die Drucksachen 16/1937
und 16/2210. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4191, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/4214? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der
Änderungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, der Fraktion Die Linke und der FDP gegen die
Stimmen der Fraktion der Grünen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung des
übrigen Hauses ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
12 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anforderungen an eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland
- Drucksache 16/4155 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
1) Anlage 5
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit
Russland und einen kritischen Dialog
- Drucksache 16/4165 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für die deutsche Ratspräsidentschaft ist das
Ziel vorgegeben, die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland in
Gang zu bringen. Die EU will mit Russland entlang der
vier Räume eine strategische Partnerschaft entwickeln.
Deswegen müssen wir uns damit befassen und definieren, welche Anforderungen wir an diese Partnerschaft
und damit an ein neues PKA stellen wollen.
Russland ist ein wichtiger, aber eben auch ein schwieriger Partner der EU. Die EU braucht Russland, aber umgekehrt braucht Russland auch die EU. Das gilt nicht nur
für Gas und Öl, sondern auch für Russland als Teil einer
demokratischen und friedlichen Staatengemeinschaft
und als Teil von Europa. Es geht also um ein Russland,
das einen konstruktiven Beitrag auch zur Lösung internationaler Krisen leistet, und um ein Russland, in dem
sich die Zivilgesellschaft frei entwickeln kann und Journalisten nicht um ihr Leben fürchten müssen.
Der Energiehunger der westlichen Welt und zunehmend auch der Schwellenländer stärkt Russlands Stellung als Energielieferant. Aber jeder Lieferant braucht
Käufer. Das sollten wir uns vielleicht öfter sagen. Der
Lieferant Russland braucht westliche Technologie, um
neue Ressourcen zu erschließen und seine eigene Energieeffizienz zu verbessern. Das heißt, Russland braucht
auch westliche Devisen. Deswegen gibt es keinen Grund
für die EU, Russland gegenüber in irgendeiner Form leisezutreten. Wir können sehr wohl verlässliche Lieferbedingungen verlangen und fordern, dass Öl und Gas nicht
als politische Druckmittel verwendet werden wie etwa
im Falle der Ukraine, im Fall von Belarus und vor allem
auch - da ist es am offensichtlichsten - im Fall der litauischen Raffinerie, die Rosneft haben wollte und zu der
kein Öl mehr fließt, seit eine polnische Firma den Zuschlag bekommen hat.
In der Konsequenz bedeutet das, dass die Bundesregierung als EU- und G-8-Präsidentin Russland mit
Selbstbewusstsein und voller Entschiedenheit gegenübertreten kann und muss.
({0})
Das gilt auch für die elementaren Werte von Demokratie und Menschenrechten. Russland ist Mitglied der
OSZE und des Europarates und hat sich mithin diesen
Grundwerten verschrieben. Deswegen sollten wir Russlands Ansprüche auch ernst nehmen. Die Entwicklung
der demokratischen Rechte ist unter Putin allerdings
rückläufig, und das muss uns Sorge machen. Das fordert
immer wieder unsere Konfliktbereitschaft. Rechtssicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz und eine unabhängige
Justiz sind wichtig für das Funktionieren jeder Demokratie.
({1})
Auch ausländische Unternehmen, die in Russland schon
tätig sind oder tätig werden wollen, brauchen rechtliche
Rahmenbedingungen, auf die sie sich verlassen können.
Ich sage nur: Das Herausdrängen von Shell war ausgesprochen ominös. Der Europarat hat sich sehr besorgt
über die fehlende Unabhängigkeit insbesondere der russischen Justiz geäußert.
Die Fälle, in denen Wissenschaftler, Journalisten und
Anwälte wegen angeblicher Preisgabe von Staatsgeheimnissen angeprangert und ohne fairen Prozess zu hohen Haftstrafen verurteilt werden, sind besorgniserregend. Zwei von ihnen sind die beiden Physiker - ich
möchte sie nennen, damit sie Öffentlichkeit bekommen Igor Sutjagin und Valentin Danilow. Beide wurden nach
dubiosen Verfahren zu 14 bzw. 15 Jahren Gefängnis oder
Lagerhaft verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, geheime
Informationen preisgegeben zu haben. Dabei waren alle
diese Informationen nachweislich bereits der Öffentlichkeit zugänglich. Nennen möchte ich hier auch den Anwalt Michail Trepaschkin. Er hatte dem FSB Beteiligung
an Bombenanschlägen vorgeworfen. Auch er wurde wegen vermeintlicher Preisgabe von Staatsgeheimnissen
von einem Militärgericht zu vier Jahren Haft verurteilt.
Allen drei Prozessen ist gemein, dass sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Im Fall Danilow
blieb sogar das Urteil geheim.
Neben dem prominenten Fall Chodorkowski gibt es
die weniger bekannte Juristin Swetlana Bachmina aus
dem Jukos-Konzern: Auch an ihr wurde ein Exempel
statuiert. Ich möchte das sagen, weil eben hinter
Chodorkowski auch noch weniger bekannte Namen stehen. Sie wurde zu sechseinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt - gerade oberhalb der Bewährungsgrenze. Frau
Bachmina ist Mutter von zwei kleinen Kindern, die sie
alle drei Monate einmal sehen darf.
Es gibt also wieder eine willkürliche Rechtsprechung in Russland. Das darf uns nicht gleichgültig sein.
({2})
Aus unserer Perspektive bedeutet eine strategische Partnerschaft immer auch die Einhaltung der universellen
Marieluise Beck ({3})
Werte, auf die sich die europäische Staatengemeinschaft
verständigt hat.
Schönen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl-Georg
Wellmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Beck, Sie haben einen Antrag vorgelegt, dessen Überschrift verheißungsvoll klingt: „Anforderungen an eine
strategische Partnerschaft der EU mit Russland“. Der Inhalt ist aber enttäuschend. Ihrer Rede gebe ich zu
100 Prozent Recht, aber nicht Ihrem Antrag.
Der Antrag stellt ein Sammelsurium von Fakten und
Stimmungen zu Russland dar, nach dem Motto: Was wir
schon immer mal zu Russland sagen wollten! Der Antrag bleibt qualitativ weit hinter dem zurück, was Sie
hier gesagt haben. Sie fordern sogar in diesem Antrag
die Bundesregierung auf, die Förderung alternativer
Energien fortzusetzen. Was das in einem Antrag zur strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland
zu suchen hat, erschließt sich mir nicht.
({0})
Frau Beck, Sie haben ja das halbe Wahlprogramm der
Grünen mit untergebracht.
Was strategische Partnerschaft inhaltlich bedeutet,
muss zunächst definiert werden. Die Kanzlerin verwendet den Begriff, zuletzt in Sotschi; Putin tut das auch, zuletzt in der „FAZ“ vom 22. November. Übrigens liefert
er in diesem Artikel eine ziemlich gute Definition von
strategischer Partnerschaft. Er sagt, das sei eine Partnerschaft, der gemeinsame Bestrebungen und Werte zugrunde liegen.
Wir sollten - darauf legen wir großen Wert bei dem
Begriff strategische Partnerschaft - zunächst einmal die
eigenen Maßstäbe im Auge behalten. Der Begriff strategische Partnerschaft trifft zunächst einmal und zuallererst
auf unsere europäische und unsere atlantische Wertegemeinschaft zu; diese verkörpern sich in der Europäischen
Union und der NATO. So weit sind wir mit Russland bei
weitem noch nicht.
Es gibt gute Ansätze im globalen Zusammenhang ich meine die gemeinsame Bearbeitung der Problemgebiete Iran, Nordkorea und Naher Osten. Das gilt auch in
den Bereichen der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Drogenhandels. Aber sonst?
Sehen wir nach Osteuropa: In der Ukraine haben wir
in der Vergangenheit höchst unterschiedliche Interessen
formuliert. Wir haben die orangene Revolution - damit
ist die Entwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft in der Ukraine gemeint - unterstützt; Russland hat
das Gegenteil getan. Ähnliches gilt für Georgien. Moskau lässt bis heute erkennen, dass ihm die EU- und
NATO-Mitgliedschaft der baltischen Staaten schwer im
Magen liegt. Russland hält die sogenannten eingefrorenen Konflikte am Kochen und sponsert die Separatisten
in Moldawien und Georgien.
Die Handhabung dieser eingefrorenen Konflikte steht
in quälendem Kontrast zu den Ankündigungen von Präsident Putin in der „FAZ“ hinsichtlich der strategischen
Partnerschaft mit uns. Ich sage ganz deutlich: Die
Frozen Conflicts sind mit einer strategischen Partnerschaft inkompatibel. Auch in Zentralasien gibt es eine
erhebliche Konkurrenz. Auch dort kann von einer strategischen Partnerschaft keine Rede sein.
Alles in allem müssen wir feststellen, dass von einer
strategischen Partnerschaft noch keine Rede sein kann.
Wir streben sie an. Vielleicht sind wir auch auf dem Weg
dorthin; aber es gibt sie noch nicht.
Die Frage ist: Wie kommen wir weiter? Wie kommen
wir zu einer strategischen Partnerschaft mit Russland?
Wir müssen die eigenen Interessen definieren. Dabei
sollten wir - das sage ich ganz ausdrücklich - die Interessen unserer östlichen Nachbarn, der Polen und der baltischen Staaten, einbeziehen;
({1})
sie haben nämlich ganz spezifische, historische Erfahrungen in Bezug auf Russland, übrigens auch in Bezug
auf Deutschland. Deshalb haben sie ganz spezifische
Anforderungen und Bedürfnisse in Bezug auf Sicherheit
und Stabilität in Europa.
Russland und der Rest Europas sind geostrategisch
aufeinander angewiesen, ob sie wollen oder nicht. Jede
andere Behauptung ist Gerede. Gerhard Schröder hat
neulich im „Adlon“ gesagt, Russland habe eine Alternative
zur EU, nämlich die Hinwendung zur eurasischen Region.
Das stimmt so nicht. Das Letzte, was Russland meiner
Einschätzung nach will, ist eine Abhängigkeit, auch eine
wirtschaftliche Abhängigkeit, von Asien. Auch die asiatischen Länder wollen aus der wirtschaftlich einseitigen
Abhängigkeit von Russland heraus. Russland und die
zentralasiatischen Staaten müssen ihre Volkswirtschaften
modernisieren, und das geht nicht ohne die Unterstützung der EU und Amerikas. Auch deshalb kommt eine
Abwendung Russlands von Europa nicht ernsthaft in Betracht.
Wir haben ein Interesse an einem starken Russland,
an der guten Entwicklung seiner Volkswirtschaft, aber
auch an der Entwicklung seiner Zivilgesellschaft und
seiner demokratischen Institutionen. Außerdem haben
wir ein Interesse an einer geordneten Entwicklung der
Staaten Osteuropas, an der Modernisierung seiner
Gesellschaften. Das sollte möglichst nicht im Konflikt
mit Russland passieren, sondern im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. Insoweit sehe ich eine Verantwortungsidentität zwischen Russland und der EU.
Herr Hoyer, die spannende Frage ist: Gehören
gemeinsame Werte zwingend zu einer strategischen
Partnerschaft? Sie behaupten dies in Ihrem Antrag. Putin
schreibt, Russland habe Europa viel zu bieten. In der Tat
gibt es eine starke kulturelle Affinität zwischen Russland
und Europa und natürlich auch zwischen Russland und
Deutschland. Wir alle kennen allerdings die innenpolitischen Zustände in Russland. Diese Zustände machen uns
Sorgen - die Kanzlerin hat das in Russland erst neulich
deutlich angesprochen -: Die Rechte der Opposition
werden behindert, die Zivilgesellschaft wird durch das
NGO-Gesetz behindert; die Justiz ist nicht unabhängig.
Ich will hier ausdrücklich einmal ein politisches Prinzip
nennen, das für uns essenziell ist: Es ist die Tatsache,
dass bei uns das Parlament die Geheimdienste kontrolliert
und nicht umgekehrt.
Ich finde, wir müssen aber auch eigene Wege dieser osteuropäischen Staaten, auch Russlands, zur Modernisierung
akzeptieren. Wir müssen Tradition und gesellschaftliche
Realitäten berücksichtigen und kommen an der Tatsache
nicht vorbei, dass Russland seit 300 Jahren eine andere
politische Tradition gelebt hat. Wir können eben nicht
voraussetzen, dass Russland eine lupenreine Westminsterdemokratie installiert, bevor wir eine partnerschaftliche
Zusammenarbeit eingehen.
Um gar kein Missverständnis zu erzeugen: Diese Position schließt nicht aus, dass wir uns als Partner die Wahrheit
sagen und unsere Sorgen in Bezug auf Menschenrechte und
Demokratie in Russland sehr deutlich artikulieren.
({2})
Ich sage nochmals: Die Kanzlerin hat bewiesen, dass
das geht. Wir wollen ein starkes und stabiles Russland.
Wir wollen in den Beziehungen zu Russland aber den
Vorrang von Politik und Diplomatie. Deshalb sollten wir
nicht nur über Begriffe und Definitionen, was strategische Partnerschaft ist, reden, sondern konkrete Schritte
machen. Ich nenne das zu verhandelnde Partnerschaftsund Kooperationsabkommen und die Vereinbarung einer
Energiecharta. Vor diesem Hintergrund wäre eine funktionierende strategische Partnerschaft das Beste, was der
EU und Russland passieren kann.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Werner Hoyer, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Wellmann, Letzterem stimme ich ausdrücklich zu. Das wäre außerordentlich wünschenswert.
Ich habe mit diesem Begriff „strategische Partnerschaft“ Probleme, weil wir nach meiner Auffassung
noch nicht so weit sind. Überhaupt finde ich, dass es bei
der Verwendung von Begriffen wie Strategie, Taktik,
Konzept usw. mittlerweile einen ziemlichen Wildwuchs
gibt. Ich würde mich freuen, wenn wir uns darüber verständigen könnten. Vielleicht gelingt das im Laufe der Beratungen dieser Anträge im Ausschuss. Ich bin auf jeden Fall
gern bereit, dazu beizutragen. Man muss sich zumindest
darüber im Klaren sein, welche Ziele man gemeinsam
anstrebt und welche Maßstäbe man auf dem Weg zur
Zielerreichung beachten muss. Dieses Minimum an Verständigung über eine strategische Partnerschaft würde
ich mir eindeutig wünschen.
({0})
Russland ist für uns wichtig. Russland ist ein bedeutsames, großes Land. Es hat eine fantastische Kultur. Es
gibt eine große westeuropäisch-russische und eine
deutsch-russische Geschichte, die keineswegs nur von
Katastrophen gekennzeichnet ist. Deswegen sollten wir
uns in der Tat bemühen.
Ich habe außerordentlich begrüßt, dass die Kameraderie,
die im Verhältnis zu Putin eine Zeit lang geherrscht hat,
von der Bundeskanzlerin geknickt worden ist, dass aber
auch nicht auf ein Russia-Bashing, auf ein „Draufkloppen“
auf Russland, umgestellt worden ist. Dafür ist Russland und
dafür sind unsere Beziehungen zu Russland zu wichtig. Ich
finde diese Entwicklung und die Art und Weise, wie die
Bundeskanzlerin das angepackt hat, erfreulich.
({1})
Wir brauchen eine enge und faire Partnerschaft mit
Russland. Hier gibt es noch sehr viel zu tun.
Wir verkennen nicht, welche Schwierigkeiten Präsident
Putin hat. Nach Gorbatschow und Jelzin hat er weiß Gott
ein schweres Erbe übernommen. Dieses Land zu regieren
und es - das ist für ihn ein sehr wichtiges Ziel - mit Stabilität auszustatten, ist eine gigantische Herausforderung.
Deswegen sollten wir nicht ungerecht sein.
Gleichwohl ist wichtig: Wenn wir davon überzeugt
sind, dass bestimmte Kriterien wie die Gewährleistung
der Menschenrechte, der Pressefreiheit und eines funktionierenden Rechtssystems erfüllt sein müssen, da sie
nach unseren Maßstäben unverhandelbar sind, dann
müssen wir das deutlich sagen und diese Auffassung in
den Dialog mit Russland einbringen. Wir dürfen unsere
eigenen Werte und Grundvorstellungen nicht verstecken.
({2})
Es gibt viel aufzuklären. Der russische Botschafter
sagte in einer deutschen Fernsehsendung, die am Sonntagabend ausgestrahlt wurde, dass auch in anderen Ländern
schlimme Verbrechen geschehen, dass auch dort Menschen
umgebracht werden und dass auch diese Verbrechen im
Nachhinein nicht immer aufgeklärt werden können. Das
Problem ist, dass häufig gerade diejenigen, die mit dem
System über Kreuz liegen, ein solches Schicksal erleiden
müssen. Deswegen ist es unbedingt erforderlich, dass die
Geschehnisse in Russland aufgeklärt werden.
({3})
Russland ist für uns ein außerordentlich wichtiger
Partner. Ich hoffe, dass die Verhandlungen der Europäischen Union mit Russland zu einem guten Ergebnis führen.
Frau Beck, eines ist ausgesprochen wichtig: Wir müssen
uns darüber klar werden - darauf hat auch Herr
Wellmann hingewiesen -, dass Russland natürlich in
wesentlichen ökonomischen Bereichen - ich nenne die
Stichworte Rohstoffe und Energie - ein sehr wichtiger
Lieferant für uns ist. Wir sollten alles tun, um nicht nur
Energie einzusparen und effizienter mit ihr umzugehen,
sondern um auch neue Quellen aufzudecken und bestehende Abhängigkeiten zu reduzieren. All das ist richtig.
Aber Russland ist und bleibt noch für lange Zeit unser
wichtigster Energielieferant.
Sollte sich allerdings so etwas wie ein bilaterales Monopol entwickeln - schließlich ist Westeuropa, wenn es
seine Kräfte bündelt, ein sehr bedeutender Nachfrager -,
muss in diesem bilateralen Monopol Waffengleichheit
herrschen. Es ist wichtig, auch im Abkommen zwischen
der Europäischen Union und Russland festzuhalten, dass
nicht nur Russland bzw. Gasprom kräftig in Westeuropa
einkaufen und seine Interessen über die Vertriebswege
sichern kann, sondern dass auch umgekehrt wir Westeuropäer die Chance haben, uns in Russland am Aufbau der
Infrastruktur, die wir gemeinsam brauchen, zu beteiligen.
Das ist, wie ich glaube, außerordentlich wichtig. Das sollten wir mit dem notwendigen Selbstbewusstsein angehen.
Ich formuliere es einmal etwas platt: Auch die Russen
können ihr Öl nicht saufen.
({4})
Wir müssen uns darauf einrichten, dass wir es noch lange
brauchen. Die Vorstellung allerdings, man könne es mal
eben durch eine kleine Pipeline durch das Altai-Gebirge
nach Asien weiterverkaufen, ist völlig unrealistisch.
Deswegen ist unsere Verhandlungsposition, wenn wir
Europäer uns einigen können, gar nicht so schlecht. Wir
sollten die Dinge mit dem nötigen Selbstbewusstsein
und einer konstruktiven Grundhaltung angehen und mit
Freude mit Russland zusammenarbeiten, unsere eigenen
Werte dabei aber nicht vergessen oder gar hintanstellen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Staatsminister Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte bietet eine gute Gelegenheit zur Klärung,
was eigentlich das zwischen der EU und der Russischen
Föderation vereinbarte Ziel, an einer strategischen Partnerschaft zu bauen, bedeutet.
Der Begriff stützt sich zunächst einmal auf Intensität.
Ich möchte das an fünf Punkten zeigen:
Erster Punkt. Seit zehn Jahren haben wir das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen als Grundlage.
Wenn man sich einmal den Text anschaut, dann wird
man sehen, dass dort von einer hohen Verbindlichkeit,
gemeinsamen Werten, Prinzipien und Abläufen die Rede
ist.
Zweiter Punkt. Neben diesem PKA hat sich die Arbeit
an den vier gemeinsamen Räumen in zentralen Feldern
der Zusammenarbeit mit sehr konkreten Ergebnissen
dynamisch entwickelt.
Dritter Punkt. Zweimal im Jahr finden EU-RusslandGipfel statt, die sehr intensiv vorbereitet werden und
nach sehr offenen Diskussionen ebenfalls zu sehr konkreten Ergebnissen kommen.
Vierter Punkt. Es gibt die wachsende Rolle der Energiezusammenarbeit. Russland liefert immerhin 70 Prozent
der eigenen Produktion in die EU, und die EU verlässt
sich auf die Russische Föderation, um 30 Prozent ihres
Gas- und Erdölbedarfs zu befriedigen. Deshalb kann man
schon von einer wechselseitigen Abhängigkeit sprechen,
die geradezu zur Zusammenarbeit zwingt. Wir haben in
den letzten dreieinhalb Jahrzehnten auch gute Erfahrungen
mit der Verlässlichkeit beider Partner gemacht.
Fünfter Punkt. Jeder, der sich mit internationaler Politik
beschäftigt, weiß, dass Russland ein unverzichtbarer
Partner bei dem Bemühen um die Lösung von Konflikten ist - ob im Kosovo, im Iran, in Afghanistan oder im
Nahen Osten.
Allein aufgrund dieser fünf Punkte, durch die die
Intensität des Austausches deutlich wird, ist es
gerechtfertigt, von einer Arbeit an einer strategischen
Partnerschaft zu sprechen.
({0})
Strategische Partnerschaft bedeutet aber auch noch etwas
anderes. Sie bedeutet einen akzeptierten Anspruch beider
Seiten auf den offenen und kritischen Dialog über die
gesellschaftliche Entwicklung bei beiden Partnern.
Kritische Fragen kommen eben nicht unter die Räder
einer strategischen Partnerschaft, sondern sind im
Gegenteil ein Teil der strategischen Partnerschaft. Wir
haben in der Tat Grund, Fragen zu stellen, weil es uns
aufgrund der Intensität der Zusammenarbeit nicht egal
sein kann, wohin der Partner geht. Wir sind davon
überzeugt, dass zu einem starken Russland, das Anspruch
auf Ansehen und Einfluss erhebt, eine freie Presse, ein
System eigenständiger Parteien, rechtstaatliche Verhältnisse, die Vermeidung von Straffreiheit bei aller Form
von Verbrechen und eine sehr lebendige Zivilgesellschaft, auch wenn sie regierungskritisch auftritt, gehören.
({1})
Nicht nur, weil es unseren gemeinsamen Werten entspricht, sondern auch, weil es im Interesse dieses Partners
Russland ist, erwarten wir, dass die abscheulichen Morde
an Anna Politkowskaja und dem Ex-Geheimdienstmann
Litwinenko aufgeklärt werden.
({2})
Deswegen beobachten wir aufmerksam, in welche
Richtung sich die Anwendung des neuen NGO-Gesetzes
entwickelt. Wir werden das bei jeder Begegnung mit
unseren russischen Partnern immer wieder ansprechen.
({3})
Abschließend sage ich: Die Intensivierung und das
Verständnis dieser strategischen Partnerschaft, die ich
versucht habe, hier kurz zu beschreiben, sind ohne Alternative. Es wird kein Zurück hinter einen ständigen intensiven Austausch über Werte und ihre richtige Umsetzung
und auch kein Zurück hin zu einer partiellen und seelenlosen Interessenkoordinierung geben. Das ist bei der
Qualität dieser wechselseitigen Abhängigkeit nicht mehr
angemessen.
Dies ist unser Verständnis von einer strategischen
Partnerschaft, an der wir weiterhin bauen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Gehrke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht eine Debatte
fortsetze, die zu Ende ist; wir kommen darauf zurück.
Ich möchte mich bei der politischen Konkurrenz, also
bei den Grünen und bei der FDP, für die Anträge ausdrücklich bedanken, auch wenn ich sie inhaltlich nicht teile.
({0})
Es ist nämlich notwendig, dass die Problematik der strategischen Partnerschaft Deutschland/EU/Russland hier im
Parlament endlich einmal zur Diskussion gebracht wird.
An die Kollegen der SPD und der CDU/CSU gerichtet
sage ich: Für mich ist schon augenfällig, dass zu allen
wichtigen außenpolitischen Fragen in den letzten Monaten
im Bundestag ausschließlich Anträge der Oppositionsparteien und keine Anträge der Koalitionsparteien
vorgelegt worden sind. Es scheint, als ob Sie zu diesen
Themen zwar etwas zu sagen, aber nichts zu formulieren
hätten.
({1})
Das galt für den Nahen Osten, das gilt jetzt für Russland.
Ich könnte eine Unmenge von Themen nennen. Da muss
man einmal Farbe bekennen. Ich ärgere mich etwas darüber, dass auch wir nichts zum Thema Russland vorgelegt haben; kommt aber.
({2})
- Man muss auch ein bisschen selbstkritisch sein.
({3})
- Nur ein bisschen.
Zur Sache selbst. Ähnlich wie Kollege Hoyer finde
ich den Begriff der strategischen Partnerschaft überzogen;
eine solche ist noch nicht nachgewiesen. Wenn man eine
strategisch begründete Partnerschaft, eine strategisch begründete Konzeption entwickeln will, muss erst einmal
eine Analyse der übereinstimmenden und der divergierenden Interessen vorgelegt werden; sie sind immer die
Grundlage, um so etwas zu beschreiben. Wenn man etwas
Polemik machen wollte, könnte man sagen: Das ist früher
durch Männerfreundschaften überdeckt worden. Das ist
heute ohnehin nicht mehr angesagt. Eine Analyse der
unterschiedlichen Interessen ist also unabdingbar, wenn
man eine strategische Partnerschaft beschreiben will.
Ich würde das Verhältnis EU/Deutschland/Russland
derzeitig auf die Begrifflichkeit bringen wollen: Instabilität in der Stabilität. Ich sehe sehr viele instabile Entwicklungen, aber ich sehe natürlich auch, dass sich in der
Zusammenarbeit viele gemeinsame Grundlagen herausgebildet haben.
Wenn wir über strategische Partnerschaft reden, sollten
wir uns immer wieder klar machen, dass Europapolitik
mehr ist als EU-Politik. Wenn wir selbst von Europa reden,
reden wir meist nur von der EU und denken wenig darüber hinaus.
Ein zweiter Gesichtspunkt, den ich im Antrag der FDP
richtig beschrieben finde - wenn meine Zeit es zulässt,
würde ich Ihnen gern noch sagen, wo ich Ihren Antrag
kritisiere und inhaltlich nicht teile -, ist der, dass Sicherheit und Stabilität in Europa nur mit Russland und nicht
gegen Russland oder gar ohne Russland zu erreichen sind.
Ein Drittes muss man eigentlich einmal gründlicher
bedenken. Ich habe bei vielen Debatten den Eindruck,
dass immer noch die Überlegung mitschwingt, den
russischen Einfluss zu begrenzen. Wenn man eine vernünftige Politik in Europa entwickeln will, muss Europa
ein Interesse daran haben, dass Russland seine weltpolitische Rolle in vielen Konflikten dieser Welt mehr und
vielleicht besser ausfüllt. Ich weiß auch nicht, ob man
umgekehrt von einer Deutschland- und Europastrategie
Russlands sprechen kann; auch insofern setze ich Fragezeichen. Wir müssten jedenfalls ein Interesse daran haben,
dass von Russland mehr Weltpolitik gemacht wird.
Einiges in den beiden Anträgen teile ich nicht. Ich
würde mich nicht auf einen gemeinsamen Wertekanon
berufen wollen. Den halte ich für nicht tauglich, wenn
man Interessenübereinstimmungen und Interessendivergenzen beschreibt, zumal man noch nicht weiß, ob er in
dieser Form in der EU überhaupt vorhanden ist. Kollege
Hoyer, einen Wertekanon „Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft“ unterschreibe
ich Ihnen, was Letzteres angeht, natürlich nicht.
({4})
Da sind unser Grundgesetz und anderes differenzierter.
Bei beiden Anträgen fällt mir auf, dass die Abrüstungsproblematik überhaupt keine Rolle spielt, als ob die
Beziehung zu Russland nicht auch etwas mit Abrüstung
und Rüstungskontrolle zu tun hätte.
Wir hätten eine gute Chance, finde ich, über Interessen
und Interessenbalancen zu diskutieren und dann wirklich
zu einer strategisch begründeten Partnerschaft zu kommen.
Noch sind wir nicht da.
Herzlichen Dank.
({5})
Nun hat Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte, die sich mit der Entwicklung Russlands
befasst, empfinde ich als sehr wohltuend. Ich glaube,
dass sie angesichts der Probleme, vor denen Russland
steht, auch angemessen ist.
Am Ende des Jahres wird die Staatsduma neu gewählt
werden, anschließend der Präsident. Es gibt durchaus
Ängste und Sorgen; sie sind zum Teil hier, wie ich finde,
zu Recht, geäußert worden.
Was die innere Entwicklung Russlands angeht, blicken
eine Menge Menschen - besonders diejenigen, von
denen wir hoffen und erwarten, dass sie die russische
Demokratie stützen, stärken, fördern - mit großer Sorge
auf die kommenden Monate. Dabei dürfen wir aber nicht
vergessen, dass Russland in der Tat eine junge Demokratie
ist, worauf die Widersprüchlichkeit der Entwicklung unter
anderem zurückzuführen ist. Wenn man sich vor Augen
führt, wie sie geprägt wird - ({0})
- Deutschland scheint das Handballhalbfinale gewonnen
zu haben. Obwohl ich rede, hat Deutschland gewonnen;
das freut mich ganz besonders.
({1})
Ich darf das offenbar verkünden.
Ich höre gerade, Deutschland hat dieses Halbfinalspiel soeben im Siebenmeterwerfen gewonnen.
({0})
- In der zweiten Verlängerung, gut.
Wie auch immer, vielleicht gewähren wir auch Russland eine weitere Verlängerung
({0})
beim Aufbau, Stärken und Stützen der Demokratie. Dieses
Land hat es wirklich verdient.
Ich darf einmal erwähnen, worum es mir besonders
geht. Dabei will ich mich gar nicht von denen abheben,
die in der Vorgängerregierung mit Russland zusammengearbeitet haben; aber ich will das deutlich machen.
Wenn ich mir vor Augen führe, wie es beispielsweise
Jabloko bei den Wahlen in Sankt Petersburg, die im
März stattfinden, unmöglich gemacht wird, überhaupt
zur Wahl anzutreten, wenn ich mir anschaue, in welcher
Weise Memorial eingezwängt wird und wie dessen
Handlungsmöglichkeiten beschränkt werden, wenn ich
sehe, dass der Kollege Rybkin, den wir ja alle aus der
Staatsduma kennen, es kaum mehr schaffen kann, wieder
in die Staatsduma gewählt zu werden, dann sehe ich lauter
alarmierende Anzeichen.
Ich glaube, das darf man hier klar und deutlich sagen:
Ich wünsche mir, dass in den nächsten Monaten bis zur
Wahl der Staatsduma die besorgniserregenden Entwicklungen vielleicht doch noch einmal korrigiert werden;
denn die Entwicklung Russlands und die Stärkung der
Demokratie in Russland sind wichtig dafür, dass es auch ein
strategischer Partner der Demokratien in der europäischen
Demokratiefamilie wird. Das würde ich mir wünschen. Ich
hoffe sehr, dass die Administration insoweit alles tut,
dass die Demokraten eine wirkliche Chance bei der
Staatsdumawahl haben werden.
({1})
Neben diesen Alarmzeichen sollten wir aber auch sehen,
vor welchen Schwierigkeiten die russische Demokratie
steht. Ich empfehle Ihnen allen den jüngsten Essay von
Michail Ryklin mit dem Titel „Mit dem Recht des Stärkeren“; Herr Annen hat gerade das Buch in der Hand.
Darin hat er eine Reihe von gesellschaftlichen Konflikten,
wie ich finde, exakt beschrieben. Dabei wird deutlich,
dass mit dem Ende des realen Kommunismus bei vielen
Menschen in Russland leider immer noch eine gewisse
Empfänglichkeit und Bereitschaft vorhanden ist, eine
Ideologie durch eine andere auszutauschen, in diesem
Fall durch die Gefahr des Nationalismus. In der Nähe
von Sankt Petersburg oder gar in der Stadt und auch in
anderen Regionen dieses Landes ist eine gefährliche
Entwicklung in Richtung Rassismus und Antisemitismus
deutlich zu erkennen. Wenn das so überscharf erkennbar
ist, ist es umso wichtiger und notwendiger, dass wir auf
unserer Seite die strategische Partnerschaft so auffassen,
dass wir Russland auf dem Weg der Stärkung der Demokratie mit fördern. Ich verstehe das Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen als eines der möglichen Instrumente und Mittel, die russische Demokratie zu stärken
und zu fördern.
Nehmen wir nur einmal einen Punkt heraus. Gernot
Erler hat vorhin von den verschiedenen Operationsmöglichkeiten gesprochen. 2004 ist entschieden worden,
dass es einen Menschenrechtsdialog zwischen der Europäischen Union und Russland gibt. Er findet im Mai
erneut statt. Ich glaube, dass dieser Menschenrechtsdialog
von uns gemeinsam so ausgestaltet werden kann, dass
wir über die kritischen Punkte mit den Kollegen diskutieren können. Wichtig ist, dass wir mithelfen, dass
Russland die Probleme lösen kann, die zu einer Fessel
bei der Modernisierung des Landes werden können. So
Gert Weisskirchen ({2})
verstehe ich unseren Beitrag im Rahmen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens.
In Europa gibt es Produzenten von Energie, Konsumenten von Energie, und es gibt diejenigen, die sowohl
Konsumenten sind als auch für den Transport der Energie
zu uns nach Westeuropa wichtig sind. Ich würde es mir
sehr wünschen, dass wir unsere gemeinsamen Interessen
erkennen.
Wenn eine Energiecharta nicht möglich ist, dann sollten die Verhandlungen zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen dazu genutzt werden - Frank-Walter
Steinmeier hat es uns im Auswärtigen Ausschuss erläutert -, um Grundelemente der Energiecharta in dieses
Abkommen aufzunehmen. Das wäre ein ganz wesentlicher Schritt nach vorne, um Verlässlichkeit deutlich zu
machen und um die Ängste, die in Polen und anderswo
gegenüber einem sehr machtvollen und nicht immer vernünftig handelnden russischen Produzenten bestehen,
abzubauen.
Wir müssen erkennen, dass wir in Europa aufeinander
angewiesen sind. Russland und die Länder der Europäischen Union brauchen einander; denn wir wollen gute
Nachbarn sein.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4165 zu Zusatzpunkt 6 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 16/4155 zu Tagesordnungspunkt 12 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens
- Drucksache 16/3227 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/4194 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jerzy Montag
Die Reden von den Kollegen Günter Krings, Dirk
Manzewski, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Wolfgang
Nešković, Jerzy Montag und Alfred Hartenbach sind zu
Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 4
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, Drucksache 16/3227.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4194, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike
Flach, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/383 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden der Kollegen Eberhard Gienger, René
Röspel, Ulrike Flach, Monika Knoche und Priska Hinz
sind zu Protokoll gegeben worden.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/383 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
- Drucksachen 16/2703, 16/3037 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({2})
- Drucksache 16/4169 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Hermann
Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen vor.
2) Anlage 7
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Fünfte Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften und die darauf aufbauenden Verordnungen dienen der Umsetzung der Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit in der Europäischen Gemeinschaft. Die Kommission hatte ihre Initiative für eine europäische Regelung damit begründet, dass die Mitgliedstaaten ihre
Sicherheitsvorschriften und -normen bis heute überwiegend nach einzelstaatlichen Leitlinien entwickelt haben, wobei sie jeweils nationale technische und betriebliche Konzepte zugrunde gelegt haben.
Gleichzeitig haben Unterschiede grundsätzlicher,
konzeptioneller und kultureller Art die Überwindung
technischer Hindernisse und die Aufnahme grenzüberschreitender Verkehrsdienste erschwert. Zudem bestehen
Unterschiede zwischen den nationalen Sicherheitsanforderungen, die das reibungslose Funktionieren des
Eisenbahnverkehrs in der Gemeinschaft beeinträchtigen.
Deshalb muss im Zuge der Bemühungen zur Errichtung eines Binnenmarktes für Eisenbahnverkehrsdienste
ein gemeinsamer europäischer Rahmen für die Regelung der Eisenbahnsicherheit geschaffen werden, der die
Bedingungen harmonisiert und damit Interoperabilität
ermöglicht. Dies ist für die Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahnen im europäischen Verkehrsmarkt eine zwingende Notwendigkeit.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung des Inhalts der Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der
Aufgaben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie der Untersuchung von Unfällen.
Die nationale Umsetzung dieser Richtlinie bedeutet
aber nicht, dass in Deutschland eine neue Sicherheit geschaffen wird. Unser System, das auf der Konzession,
der Eigenverantwortlichkeit der Eisenbahnen zur sicheren Betriebsführung sowie der Eisenbahnaufsicht des
Bundes und der Länder aufbaut, entspricht uneingeschränkt den Sicherheitsanforderungen.
Unser deutsches System hat allerdings die Besonderheit, dass es als einziges in der EU von einer föderalen
Kompetenzverteilung geprägt ist. Das heißt, es besteht
Bundeszuständigkeit für die Eisenbahnen des Bundes
und Länderzuständigkeit für die nichtbundeseigenen Eisenbahnen. Die mittlerweile mehr als zwei Jahre mit den
Ländern geführte Diskussion hat leider zu keiner einvernehmlichen Lösung in dieser Frage geführt. Deshalb hat
die Bundesregierung in ihrem Entwurf ein Modell umgesetzt, das die Errichtung einer Sicherheitsbehörde beim
Bund vorsieht, bei der ein Beirat zur Berücksichtigung
der Länderbelange eingerichtet wird.
Mit diesem Gesetzentwurf erhält die Sicherheitsbehörde folgende Aufgaben: die Genehmigung struktureller
Teilsysteme, die Überwachung der Interoperabilitätskomponenten, die Erteilung der Sicherheitsbescheinigungen und Sicherheitsgenehmigungen und deren Überwachung, die Genehmigung und Überwachung von
Schulungseinrichtungen, die Überwachung und Weiterentwicklung der nationalen Sicherheitsvorschriften und
schließlich das Führen des nationalen Einstellungsregisters für Fahrzeuge. Zudem obliegt dem Bund die Untersuchung gefährlicher Ereignisse im Eisenbahnbetrieb auf
Eisenbahninfrastrukturen, die seiner Eisenbahnaufsicht
unterliegen.
Der Freistaat Bayern hat im Bundesrat einen Antrag
eingebracht, der eine Behörde des Bundes mit zusätzlicher Nutzung der Ausnahmetatbestände der Richtlinie
vorsieht. Dieser Antrag, der bereits zuvor im Arbeitskreis „Bahnpolitik“ der Länder mit deutlicher Mehrheit
beschlossen wurde, ist auch maßgeblicher Teil der Stellungnahme des Bundesrates. Auf Basis dieses Antrages
ist der Regierungsentwurf noch einmal überarbeitet worden. Die Änderungen sind auf Antrag der Koalitionsfraktionen in die Ausschussberatungen eingebracht worden.
Der im Bundesrat ebenfalls angenommene Vorschlag
Niedersachsens für eine Öffnungsklausel, mit der den
Ländern die Möglichkeit gegeben wird, zu wählen, ob
sie die Aufgaben einer Sicherheitsbehörde künftig selbst
ausüben, stößt bei der Bundesregierung aber auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Dies würde zu einer unzulässigen partiellen Bundesverwaltung führen.
Daneben wäre sie zudem mit einem hohen Koordinierungsaufwand verbunden. Dadurch würden für die deutschen Eisenbahnunternehmen und die deutsche Bahnindustrie die Zulassungsprozesse deutlich verteuert. Die
Folge wäre eine erhebliche Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Schiene gegenüber
anderen Verkehrsträgern.
Der Gesetzentwurf und die verschiedenen Änderungsvorschläge sind in einer vom federführenden Ausschuss anberaumten Anhörung eingehend erörtert worden. Ich glaube, mit Recht sagen zu können, dass wir
hier eine für die recht komplizierten Verhältnisse in
Deutschland gute Lösung gefunden haben. Das wurde
uns von den Sachverständigen, insbesondere von Professor Ronellenfitsch, bestätigt.
({0})
Ich darf mich sehr herzlich für die konstruktive Mitarbeit bedanken. Sie alle wissen, dass wir etwas unter Zeitdruck stehen. Mit der Umsetzung der europäischen
Richtlinie hinken wir ziemlich weit zurück. Deshalb will
ich zum Schluss an die Länder appellieren, dass sie diesem Gesetzentwurf in der kommenden Bundesratssitzung zustimmen, damit wir in Europa, in Brüssel, Vollzug melden können.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Patrick Döring, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
komme zunächst auf Ihre letzten Bemerkungen zu sprechen, Herr Staatssekretär. Bei allem Verständnis dafür,
dass Sie mögliche Schwierigkeiten in der EU oder im
Bundesrat sehen und anmerken: Für den Zeitplan und
die Dauer der Diskussionen können die Parlamentarier
des Verkehrsausschusses und des gesamten Hauses am
wenigsten.
({0})
Deswegen ist Ihr Appell bei uns an der falschen Adresse.
Die Bundesregierung hat ohne Not einen zentralistischen Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass alle
Kompetenzen beim Eisenbahn-Bundesamt gebündelt
werden. Dieser Gesetzentwurf hat, wie wir heute wissen,
nicht einmal die volle Unterstützung der diese Bundesregierung tragenden Koalition; denn sonst hätten Sie sicherlich nicht umfangreiche Änderungsanträge eingebracht.
Das Übel liegt, wie so oft im Leben, im Anfang begründet: Am Anfang haben Sie die EU-Richtlinie so ausgelegt, dass eine einzige Sicherheitsbehörde zuständig
sein soll. Inzwischen wissen wir dank der von den Oppositionsfraktionen durchgesetzten Anhörung und anderer
Ausführungen aber, dass dies nicht Inhalt der EU-Richtlinie ist. Die Änderungsanträge, die die Koalition gestellt
hat und die mit ihrer Mehrheit heute verabschiedet werden, sind ein Schritt in die Richtung, in die auch wir
wollen: Wir wollen die Kompetenzen der Länder erhalten und stützen. Das ist vernünftig, weil sie eine gute
Arbeit leisten.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Koalition, die
den VDV bei vielen, insbesondere bahnpolitischen Diskussionen als Kronzeugen anführt, ausgerechnet in diesem Fall eine Meinung vertritt, die völlig konträr zur
Meinung des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen ist. Der VDV sagt: Unsere Mitgliedsunternehmen,
die nicht zur DB AG gehören, befürchten, dass das Eisenbahn-Bundesamt sie nicht so gut behandelt wie die
DB AG. - Solche Befürchtungen, die auch schriftlich
verfasst wurden, kommen sicherlich nicht von ungefähr.
Sie haben diese Bedenken nicht vollständig aufgenommen, versuchen jetzt aber durch die Änderungsanträge, das Schlimmste zu verhindern. Das gelingt Ihnen
nicht in allen Punkten. Jetzt werden wir nämlich eine
Diskussion darüber führen, ob das Eisenbahn-Bundesamt zuständig ist, wenn ein Nicht-DB-Unternehmen auf
bundesbahneigenen Schienennetzen fährt. Zukünftig
wird es so sein, dass dieses Unternehmen dann zwei Genehmigungen braucht. Diese Doppelbürokratie ist das
Ergebnis des Beratungsverfahrens.
({1})
Sie haben wiederholt behauptet - ich vermute, die
Kollegen Beckmeyer und Ferlemann werden das gleich
wieder tun -, dass eine Öffnungsklausel, wie sie der
Bundesrat vorschlägt, verfassungswidrig sei. Mir ist weder in der Anhörung noch in der Diskussion im Ausschuss noch heute klar geworden, warum etwas, was
zurzeit geltendes Recht ist, auf einmal, über Nacht,
durch eine EU-Richtlinie verfassungswidrig werden soll.
Das ist nicht geklärt.
({2})
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Koalitionskollegen von der Justizministerin haben ins Bockshorn jagen lassen, von welchen Interessen auch immer
sie geleitet gewesen sein mag.
In den öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema,
zum Beispiel in der Pressemitteilung des Kollegen
Beckmeyer, wird das Hohelied von mehr Sicherheit gesungen. Niemand kann einer Fraktion dieses Hauses vorwerfen, dass sie etwas gegen mehr Sicherheit auf der
Schiene hat, ganz im Gegenteil. Gerade bei dem Orkan
Kyrill, über den wir am Mittwoch im Ausschuss diskutiert haben, hat sich das System Schiene als durchaus sicher erwiesen. Das gilt übrigens auch für die Nicht-DBBahnen.
Aber statt mehr Sicherheit wird dieses Gesetz vor allen Dingen mehr Bürokratie für die kleinen und mittelständischen Unternehmen produzieren, die versuchen, in
den Ländern etwas besser und erfolgreicher zu sein als
die Deutsche Bahn AG. Diese Doppelbürokratie hätte
man vermeiden können. Am Ende fehlte ganz offensichtlich der Mut, über die verfassungsrechtliche Frage
noch einmal zu diskutieren.
Deshalb sage ich für meine Fraktion: Wir werden diesen Weg nicht mitgehen. Wir werden die Änderungsanträge der Koalition nicht mittragen und hoffen darauf,
dass die Bundesländer im Bundesrat ihre Interessen und
Aufgaben verteidigen und dafür werben, dass alles so
bleibt, wie es ist.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Enak Ferlemann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns hier heute auf Wunsch unserer
Kolleginnen und Kollegen von der FDP zahlreich versammelt, um vor Millionen von Zuschauern vor den
Fernsehschirmen, vor einem vollen Plenum und vor
vollen Rängen zu einem der bedeutendsten Gesetzgebungswerke in dieser Legislaturperiode zu sprechen.
({0})
Wir sind der FDP außerordentlich dankbar dafür, dass
sie uns die Gelegenheit gibt, heute über die großartige
Arbeit der Koalitionsfraktionen noch einmal ausführlich
zu diskutieren und sie darstellen zu können.
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass trotz des unglaublichen Handballkrimis, den wir gerade erleben durften, so viele Kollegen gekommen sind.
({2})
Wir alle freuen uns sehr, Herr Döring, dass Deutschland
rechtzeitig ins Finale eingezogen ist.
({3})
Wir haben es den Kolleginnen und Kollegen der vorigen
Debatte zu verdanken, dass wir mit der FDP keine Handgreiflichkeiten austauschen mussten, um das Halbfinale
zu Ende sehen zu können.
Herr Döring, ich verstehe nicht, warum Sie diese Debatte vom Zaun gebrochen haben. Sie verstehen es wahrscheinlich selber nicht,
({4})
Kollege Friedrich auch nicht. Nun aber stehen wir hier
und müssen uns über dieses Thema noch einmal unterhalten,
({5})
obwohl wir das schon mehrfach getan haben.
({6})
Herr Staatssekretär Großmann hat in hervorragender
Art und Weise dargestellt, wie das Gesetzgebungsverfahren verlaufen ist und wie kompliziert dieses so bedeutende Gesetzgebungswerk auf den Weg gebracht worden
ist.
({7})
Wie Sie wissen, hatten wir große Schwierigkeiten, zu einem Regierungsentwurf zu kommen. Sie kennen die
Probleme mit den Bundesländern. Es kam zu der einmaligen Situation, dass im Bundesrat zwei Anträge beschlossen wurden, die sich widersprechen, aber beide
eine Mehrheit bekommen haben.
({8})
Es blieb dann den Koalitionsfraktionen überlassen, etwas Vernünftiges daraus zu machen.
({9})
Als wir dann den Gesetzentwurf mit einem Änderungsantrag - Herr Kollege Hermann, den fanden auch
Sie eigentlich ganz gut - vorgelegt haben, haben die Oppositionsfraktionen eine Anhörung durchgesetzt, die
zum Ergebnis hatte, dass wir - ich finde, zu Recht - ein
großes Lob für diesen Änderungsantrag bekommen haben.
({10})
Jetzt kritisieren Sie, Herr Kollege Döring, dass es so
gekommen ist, und sagen, verfassungsrechtlich sei das
alles nicht richtig, wir hätten uns vom Justizministerium
vielleicht falsch informieren lassen. Ich empfehle Ihnen:
Lesen Sie noch einmal das Wortprotokoll der Anhörung
durch, insbesondere das, was Professor Ronellenfitsch
zur Systematik unserer Verfassung ausgeführt hat. Das
wäre für Sie sehr lehrreich. Ich glaube, Sie könnten noch
einmal das bestätigt bekommen, was Ihnen der Staatssekretär schon mitgeteilt hat und was ich sehr unterstreiche.
Ich finde es also großartig, dass wir heute zu so vorgerückter Stunde
({11})
diese spannende, inhaltsreiche und uns weit nach vorne
bringende Debatte über dieses Gesetzgebungswerk führen dürfen.
({12})
Ich bedanke mich herzlich dafür.
Wir lehnen den Entschließungsantrag der Grünen natürlich ab, der sicherlich Gutes beinhaltet, aber noch auf
einen Stand vor dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen rekurriert, also völlig veraltet ist.
({13})
Uns liegt auch ein Änderungsantrag der FDP-Fraktion
vor, der leider verfassungsrechtlich völlig neben der
Spur liegt.
({14})
Man kann diesem Hohen Hause nur ernsthaft empfehlen, dieses Gesetzgebungswerk zusammen mit unserem
Änderungsantrag heute zu verabschieden. Ich gehe davon aus, Herr Döring, dass der Bundesrat - vielleicht bis
auf das Land Niedersachsen, das von einem Minister
vertreten wird, der Ihrer Partei angehört - mit übergroßer Mehrheit dem Gesetz zustimmen wird. Wir können
die europarechtlichen Vorgaben einigermaßen fristgemäß umsetzen und haben keine Strafzahlung zu erwarten, wenn wir dieses bedeutende Gesetzgebungswerk
noch rechtzeitig in Kraft setzen.
Ich darf mich herzlich für diese spannende Debatte
und für die übergroße Aufmerksamkeit der Kolleginnen
und Kollegen bedanken.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Dorothée Menzner,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Ferlemann, Sie haben diese Debatte so gelobt. Deshalb finde ich es wichtig, zu sagen,
wie die letzte Woche abgelaufen ist. Nicht nur die Gesundheitspolitiker haben das Problem, dass sie im letzten
Moment Änderungsanträge hereingereicht bekommen,
auch wir haben vorgestern Abend erst wenige Stunden
vor der Ausschusssitzung die letzte Fassung bekommen.
Wie eben schon erwähnt wurde, hat am 17. Januar eine
Anhörung im Ausschuss stattgefunden, bei der immerhin sechs von sieben Experten große Bedenken gegen
den vorliegenden Gesetzentwurf geäußert haben,
({0})
ein Experte sogar verfassungsrechtliche Bedenken.
Da hätte man schon annehmen können, dass die
Neufassung Ihres Gesetzentwurfs einige Änderungen
beinhaltet.
({1})
Ein kleiner Satz in Ihrem Gesetzentwurf ist geändert
worden; im Übrigen gehen Sie arrogant über die Meinung der Experten hinweg. Ich meine, dass die Koalition
damit leben muss, dass die Opposition darüber noch beraten möchte.
({2})
Außerdem will ich hier im Plenum deutlich machen: Wir
sind nicht schuld daran, dass das so lange gedauert hat.
Das sind andere. Aber das kann nicht zulasten der Qualität gehen. Wir haben die letzten Monate mehrfach Gesetzentwürfe erlebt, deren Qualität nicht die beste war.
Noch einmal dazu, worum es hier eigentlich geht: Das
Allgemeine Eisenbahngesetz muss geändert werden, um
Vorgaben der EU umzusetzen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir klar regeln, wer bei europaweitem Verkehr für die Zulassung, also für die Sicherheit, zuständig ist. Dabei stellt sich die Frage, welche
Rolle die Landesbehörden spielen werden. Werden regional tätige Eisenbahnunternehmen zukünftig zwei Ansprechpartner haben? Wird zukünftig immer erst ein Jurist gefragt werden müssen, wo welcher Antrag zu
stellen ist? Das wäre eine ziemliche Belastung für kleine
und mittelständische Eisenbahnunternehmen.
({3})
Diese Unternehmen haben in den letzten Jahren massiv
zu Innovationen und Neuerungen beigetragen. Das sind
nicht alles nur kleine, historische Bahnen, sondern darunter sind auch Unternehmen mit mehreren Hundert
Beschäftigten.
Ein kurzes Wort zu den Änderungsanträgen. Den Entschließungsantrag der Grünen unterstützen wir.
Zu dem Änderungsantrag der Liberalen muss ich sagen: Was Sie gestern vorgelegt haben, fanden wir inhaltlich ganz klasse.
({4})
Aber - darüber haben wir diskutiert - juristisch waren da
solche Fallstricke drin, dass wir dem nicht zustimmen
konnten.
Wenn wir im Verkehrsausschuss ausführlich Pfusch
am Bau kritisieren - Hauptbahnhof in Berlin, sage ich
nur -, dürfen wir bei Gesetzentwürfen auch nicht schludern.
({5})
Aber ich habe zur Kenntnis genommen: Sie haben daran
gearbeitet, haben Ihren Änderungsantrag noch einmal
korrigiert. Daher werden wir ihm jetzt zustimmen können.
({6})
Ich danke.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident, ich bin ganz überrascht. Ich dachte, es
spricht noch ein Kollege vor mir.
Kollege Ferlemann, ich teile Ihre Freude über den
Handballsieg.
({0})
Ihre Enttäuschung über die Debatte kann ich nicht teilen.
Aber ich kann sie verstehen. Denn es ist ja offenkundig
geworden, dass Sie nicht besonders viel Diskussionsbedarf sehen. Ihre Fraktion hat zu der ganzen Sache ja
nicht besonders viel zu sagen gehabt.
({1})
Wie wir wissen, sind nicht einmal die Änderungsanträge
von Ihnen gekommen, sondern vom Ministerium.
({2})
Wir Grünen begrüßen die Umsetzung des zweiten europäischen Eisenbahnpakets in deutsches Recht, keine
Frage. Es ist auch gut, dass der Gesetzentwurf jetzt endlich im Parlament beraten wird. Noch besser wäre es allerdings, wenn dieser Gesetzentwurf stärker an unserer
Verfassung und föderalen Gliederung orientiert wäre.
Stattdessen wird versucht, über europäische Vorgaben
einen deutschen Zentralismus durchzusetzen, der an dieser Stelle nicht angemessen ist.
({3})
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab - das sage ich
gleich vorweg -, weil wir schwerwiegende Bedenken
haben.
({4})
Dabei geht es nicht um lächerliche Kleinigkeiten nach
dem Motto „Es ist zwar ein bisschen unklar, ob es mit
der Verfassung vereinbar ist, aber das ist nicht so
schlimm“. Kollege Ferlemann, es war anders, als Sie es
dargestellt haben. Mehrere Fachleute haben festgestellt,
dass erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen
den Gesetzentwurf bestehen, weil er den Ländern die
Zuständigkeit für die Überwachung nimmt, die sie in
diesem Bereich qua Grundgesetz haben. Das ist ein
schwerwiegender Vorwurf, den wir - übrigens von Anfang an - ernst genommen haben.
Sie haben mit Ihrer dankenswerterweise kurzen Rede
eines nicht geschafft: Sie konnten nicht erklären, warum
Sie ohne Not zentralistische Regelungen einführen und
nichts anderes zulassen wollen. Das ist seitens der Europäischen Union nicht zwingend erforderlich gewesen.
({5})
Hier hätten Sie Spielräume gehabt, die Sie aber nicht genutzt haben. Das ist ein großer Fehler.
({6})
Sie hätten dafür sorgen sollen, dass in Deutschland
neue einheitliche Sicherheitsstandards geschaffen werden und nicht mehr die Standards der DB für alle gelten,
wie in vergangenen Zeiten, als es nur die Deutsche Bundesbahn gab. Obwohl sich dies inzwischen geändert hat,
wird es noch so gehandhabt.
Notwendig ist deshalb ein einheitlicher gesetzlicher
Rahmen in Sicherheitsfragen, der dann mit der administrativen Kompetenz unserer Landesbehörden, die das
bisher gut gemacht haben, landesspezifisch bzw. regionalspezifisch umgesetzt wird. Die „subnormativen“ Regelungen, die durch die DB und über das EisenbahnBundesamt auf die anderen Eisenbahnen übertragen
werden, müssen dringend beseitigt werden - wenn nicht
in diesem Gesetz, dann in noch folgenden Gesetzen.
In der Anhörung und auch danach haben Sie uns gesagt, dass den föderalen Bedenken durch Ihre Anträge
und die Einrichtung eines Eisenbahnsicherheitsbeirats
für die Länder Rechnung getragen wird. Ein Beirat ist
aber kein Entscheidungsgremium und auch kein Administrationsgremium. Diese beiden Kompetenzrechte, die
die Länder unabdingbar und zweifelsfrei haben, wollen
Sie ihnen nehmen. Das kann der Beirat nicht ersetzen.
Ich will unterstreichen, was die Kollegin und der Kollege von der Opposition gesagt haben. Die von Ihnen beabsichtigte regionale Sonderregelung bedeutet an vielen
Stellen doppelte Genehmigungen und damit doppelte
Bürokratie. Das entspricht nicht der Absicht zum Bürokratieabbau, die Sie sonst immer wieder verkünden. Es
ist vielmehr ein Beispiel für Bürokratieaufbau.
({7})
Wir argumentieren nicht nur aus verfassungsrechtlicher Sicht für die Kompetenzen der Länder; sie sind
vielmehr auch inhaltlich und praktisch begründet. Die
Landesbehörden haben über die Jahre bewiesen, dass
ihre nichtbundeseigenen Eisenbahnen Sicherheitsstandards pflegen können, die außerordentlich gut funktionieren, aber kostengünstiger sind als das, was die DB
seit vielen Jahren praktiziert. Unsere Sorge ist, dass das,
was mit der föderalen Struktur regional gelungen ist,
durch den Zugriff einer zentralistischen Behörde beseitigt wird, die sich nicht vor Ort befindet und in ihren
Entscheidungen keine regionalen Unterschiede berücksichtigen kann; vielmehr werden dann die Standards von
oben nach unten verordnet.
Wie Sie bereits bemerkt haben, haben wir erhebliche
Bedenken gegen den Gesetzentwurf. Obwohl mit den
Änderungsanträgen einiges verbessert worden ist, lehnen wir den Gesetzentwurf ab, weil er vom Ansatz her
falsch ausgerichtet ist und dies durch die Änderungsanträge letztlich nicht korrigiert wird.
Zum Antrag der FDP möchte ich feststellen: Auch
wenn wir nicht in allen Punkten übereinstimmen, so geht
er grundsätzlich in die richtige Richtung.
({8}): Oh!)
Die FDP übt dieselbe Kritik wie wir. Deshalb werden
wir diesem Antrag zustimmen.
Wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
({9})
Ich erteile Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann feststellen, dass die Oppositionsredner in
der Eisenbahndebatte partiell Entzugserscheinungen haben. Das habe ich schon im Ausschuss bemerkt, und es
scheint auch im Plenum der Fall zu sein.
Ich will einige Punkte zurechtrücken. Wir reden weder über Zentralismus noch über mehr Bürokratie. Wir
reden vielmehr über ein größer werdendes Europa und
den Eisenbahnverkehr innerhalb dieses größer werdenden Europas. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen,
dass wir auf der einen Seite grenzüberschreitende Verkehre mit einem europäischen Lokführerschein, mit einer entsprechenden Sicherheitstechnik aufbauen wollen,
und auf der anderen Seite brauche ich zwei Zulassungsbehörden, wenn ich einen Güterzug von Duisburg nach
Bremen fahren lasse. In Deutschland!
({0})
Das kann doch wohl nicht der Fall sein. Und insofern irren Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn
Sie sagen, wir bauen mehr Bürokratie auf und es ist alles
zentralistisch. Nein, wir wollen eine einheitliche Behandlung des Güterverkehrs in Deutschland erreichen.
Das ist der Ansatz: Einheitlichkeit, nicht Zentralismus.
({1})
Der Punkt ist, dass wir von Europa aufgefordert worden sind, in der Angelegenheit tätig zu werden. Ich
glaube, es ist auch richtig, dass wir das tun. Wir sind im
Verzug. Ich hoffe aber, dass der Gesetzentwurf mit dem
Abschluss der heutigen Debatte im Bundestag den Bundesrat Ende Februar erreichen wird.
Das ist nicht arrogant, und es ist auch nicht in irgendeiner Form über Sie gekommen, als wenn das eine
Diskussion wäre, von der Sie erst heute erfahren. Wir
haben darüber schon Ende letzten Jahres diskutiert; wir
haben eine ordentliche Anhörung durchgeführt. Ich unterstreiche das, was Herr Ronellenfitsch gesagt hat: Ich
halte den Kompromiss, den man für die Regionalbahnen
der Länder gefunden hat, für die optimale Lösung, die
per Definition in das Gesetz aufgenommen wurde.
Die Änderung, die wir letztendlich eingefügt haben,
betrifft die Eilbedürftigkeitsklausel, die herausgenommen worden ist. Ich denke, auch das ist ein Reflex dessen, worüber auf Länderseite diskutiert wird. Diese Herausnahme wird den Diskussionsprozess im Bundesrat
erleichtern, sodass dort eine breite Zustimmung über
Ländergrenzen hinweg herbeigeführt werden kann.
Ich glaube, dass alles das, was hier aktuell noch einmal angeführt worden ist, nicht trägt. Wir haben bei den
Definitionen Regionalbahn und Serviceeinrichtungen
klare Abgrenzungen vorgenommen. Die Zuständigkeiten
sind ebenfalls genau definiert. Insofern meine ich schon,
dass es angemessen ist, dieses Gesetz heute im Deutschen Bundestag in der von den Koalitionsfraktionen geänderten Fassung anzunehmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
eisenbahnrechtlicher Vorschriften. Das sind die Drucksachen 16/2703 und 16/3037. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4169, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion der FDP vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 16/4215? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie vorher angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/4216. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell
wurde vereinbart, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 15 zu erweitern:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zum
Widerruf der Genehmigung zur Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen
- Drucksache 16/4244 Sind Sie damit einverstanden, dass wir über diesen
Zusatzpunkt ohne Aussprache sofort beraten? - Das ist
der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache
16/4244? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({1}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({2}), Irmingard Schewe-Gerigk, Grietje
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft vollenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksachen 16/497, 16/565, 16/4057 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Beck, Fraktion der Grünen, das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der Union, ich darf Ihnen zuerst die
freundlichen Grüße des Neujahrsempfangs der Lesben
und Schwulen in der Union aus der saarländischen Landesvertretung überbringen. Dort hat man mir zwei Botschaften mit auf den Weg gegeben: Zum einen sei das
Motto für 2007 in Sachen Lebenspartnerschaft mehr Mut
und zum anderen sei man sich mit der Bundestagsfraktion darüber einig, dass Anpassungen im Steuerrecht, im
Beamtenrecht und auf weiteren Rechtsgebieten betreffend die Lebenspartnerschaften notwendig seien. Ich
hoffe, dass wir heute diese Einigkeit auch im Plenum
feststellen werden.
({0})
Frau Granold, Sie haben am 10. Februar 2006 mit ihrer Rede vielen Lesben und Schwulen in Deutschland
Mut gemacht und Hoffnung gegeben. Sie haben damals
gesagt:
Nachdem nun Rechte und Pflichten der Lebenspartnerschaften begründet worden sind, müssen wir ein
Stück weit Anpassungen vornehmen … Diese Anpassungen betreffen das Steuerrecht, das Erbschaftsteuerrecht und auch das Beamtenrecht. … Wir
müssen uns bei den Beratungen in den Ausschüssen
eingehend damit befassen, in welchem Umfang hier
Anpassungen vorgenommen werden müssen.
Wir hatten gedacht, dass die Koalition das ernst meint,
und haben gehofft, dass wir im Ausschuss tatsächlich
parteiübergreifend, über die Grenzen von Koalition und
Opposition hinweg, vorankommen. Leider ist daraus
nichts geworden.
Wer sich den Bericht des Rechtsausschusses anschaut, der sieht ein ziemlich betrübliches Ergebnis. In
der 17. Sitzung am 31. Mai 2006 haben Sie kurz beraten
und vertagt. In der 22. Sitzung am 28. Juni 2006 haben
Sie gegen den Willen der Opposition vertagt. In der
25. Sitzung am 27. September 2006 haben Sie nicht beraten und vertagt. In der 43. Sitzung in diesem Jahr haben Sie ebenfalls nicht beraten und vertagt.
({1})
Was ist denn nun? Wollen Sie mit uns beraten? Dann
tun Sie es auch. Wir sind bereit, Gespräche zu führen
und Schritte zu gehen, die uns vielleicht nicht ganz an
das Ziel unserer Anträge bringen, die aber für die Menschen einen Fortschritt bedeuten. Verwehren Sie sich
nicht! Es ist uns natürlich nicht entgangen, dass es in der
Koalition ein paar Differenzen in den Grundhaltungen
gibt.
({2})
- Wenn dem nicht so ist, dann haben Sie Ihre alten Positionen verraten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD. Aber das möchte ich zu Ihren Gunsten und um der
Sache willen nicht unterstellen.
Es tut sich aber etwas in der Union. Die CSU will fast
wagen, in ihr neues Grundsatzprogramm zu schreiben,
dass Lesben und Schwule vielleicht doch so etwas Ähnliches wie Menschen sind und dass in den eingetragenen
Lebenspartnerschaften Verantwortung gelebt wird. Wenn
die CSU anerkennt, dass Menschen - das könnten auch
Lesben und Schwule sein - in diesen Partnerschaften füreinander einstehen und verlässlich Verantwortung füreinander übernehmen, dann ziehen Sie aus diesen Programmsätzen eine rechtspolitische Konsequenz. Beraten
Sie gemeinsam mit der SPD und der Opposition darüber,
welches die Schritte sein könnten! Es ist doch unfair,
dass eingetragene Lebenspartnerschaften alle Pflichten
der Ehe übernehmen - das volle Unterhaltsrecht einschließlich des nachpartnerschaftlichen Unterhalts, das
mit dem, was die Ehe betrifft, identisch ist -, dass aber
beim Steuerrecht, Erbschaftsteuerrecht sowie Beamtenrecht und bei der Beamtenversorgung des Bundes so
getan wird, als ob das alles nicht existierte. Gleiche
Pflichten, gleiche Rechte, nur das ist fair.
({3})
Schauen Sie sich doch einmal in Europa um! Heute
hat das italienische Parlament beschlossen, ein Gesetz
vorzubereiten, das die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare vorsieht, obwohl der Vatikan dagegen Sturm läuft. In Frankreich, in Skandinavien, in den
Niederlanden, in Großbritannien, in der konservativen
Schweiz, in Tschechien, überall haben wir Gesetze, die
die eingetragene Partnerschaft anerkennen oder sogar
die Ehe für Lesben und Schwule geöffnet haben. Lassen
Sie uns in Deutschland doch nicht erneut das Schlusslicht in der Gesellschaftspolitik werden, bloß weil es
eine Große Koalition gibt.
Volker Beck ({4})
Erkennen Sie an: Es gibt in der Gesellschaft eine
Mehrheit von über 60 Prozent für die vollständige
Gleichstellung. Erkennen Sie an, dass es hier im Parlament eine Mehrheit von über 60 Prozent für eine vollständige Gleichstellung gibt. Machen Sie den Weg frei!
Wenn es nicht anders geht, liebe Damen und Herren von
der Union, dann geben Sie die Abstimmung in der Koalition frei. Es gibt eine Mehrheit im Haus für die
Gleichstellung. Benutzen Sie nicht ihre Stellung in der
Koalition als Veto gegen den gesellschaftlichen Fortschritt! Geben Sie Ihrem Herzen einen Ruck! Ich weiß,
wenn die Abstimmung freigegeben würde, dann wäre
eine ganze Reihe der Kolleginnen und Kollegen der
Union auf unserer Seite. Nehmen Sie die Schwulen und
Lesben nicht länger in Geiselhaft, sondern machen Sie
den Weg frei für die Gleichstellung!
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Ute Granold, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Beck, bei allem Verständnis für Ihr Anliegen muss
ich Ihnen sagen, dass wir noch ein bisschen Geduld haben müssen. Ich bezweifle, dass 60 Prozent der Bevölkerung für eine vollständige Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften sind. Ich glaube es
nicht.
({0})
Ich bedanke mich zunächst einmal für Ihren Gruß von
den Lesben und Schwulen aus der Union. Ich stehe in regem Kontakt auch zu dieser Gruppe aus meiner Partei.
Ich denke schon, dass wir zu einem Ergebnis kommen.
({1})
Sie haben meine Rede vom Februar 2006 zitiert. Der
habe ich nichts hinzuzufügen. Weil wir heute eine Geschäftsordnungsdebatte haben, möchte ich aber doch etwas dazu sagen, warum wir darüber nicht geredet haben.
Wir haben darüber nicht gesprochen, weil wir meinen,
dass wir noch nicht so weit sind, darüber inhaltlich debattieren zu können. Wir haben zwei Anträge vorliegen,
einen von Grün und einen von Gelb. Wir haben aber
zwischenzeitlich auch einen Gesetzentwurf von Grün
vorliegen. Sie hätten besser den Gesetzentwurf auf die
Tagesordnung setzen lassen, dann hätten wir einen
Schritt weiterkommen können. Was Sie wollen, ist ganz
klar. Sie wollen das Thema besetzen, indem wir heute
formell darüber diskutieren. In Kürze wird das Thema
dann erneut aufgerufen, und wir reden inhaltlich darüber.
Wenn es einen sachlichen Grund gibt, das Thema
nicht zu behandeln - schauen Sie in die Geschäftsordnung; Sie kennen sie ganz gut -, dann kann man das Verfahren vertagen, bis die Zeit reif ist. Ich kann Ihnen auch
sagen, warum die Zeit noch nicht reif ist. Sie ist noch
nicht reif, weil das Bundesverfassungsgericht über das
zweite Lebenspartnerschaftsgesetz, das wir 2004 verabschiedet haben, ein Normenkontrollverfahren durchführt. Der Antrag datiert aus dem Jahr 2005. Ich meine,
dass wir der Entscheidung des Gerichts nicht vorgreifen
sollten. Das zweite Gesetz ist immerhin ein Gesetz für
eine Bevölkerungsgruppe, die in der letzten Zeit sehr gut
bedient wurde und doch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht.
({2})
Das erste Lebenspartnerschaftsgesetz wurde vom
Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt. Sie kennen aber auch das Votum: 5 : 3. Es war
nicht ganz klar gewesen, ob das Gesetz in Ordnung ist.
Aber wir akzeptieren das Votum. Sie sollten noch einmal
einen Blick in das Minderheitenvotum werfen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eins zu eins mit der
Ehe gleichzusetzen ist. Es heißt vielmehr, dass die Möglichkeit besteht, dass ein Institut eingesetzt wird. Das
heißt aber nicht, dass der Gesetzgeber eine Verpflichtung
hat, die Lebenspartnerschaft der Ehe gleichzustellen.
Das sollte man klar und deutlich sagen.
({3})
Frau Kollegin Granold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
({0})
Natürlich.
Der Sinn einer solchen Debatte ist der Austausch, der
im Ausschuss leider verweigert wird.
Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass in dem Urteil,
das Sie zitiert haben, insbesondere gesagt wird, dass der
Nichtberücksichtigung im Steuerrecht grundsätzliche
Bedeutung zukommen könnte, und dass das Bundesverfassungsgericht geradezu dazu aufgefordert hat, diese
Frage von dem Verfassungsgericht überprüfen zu lassen?
Ist das nicht eher ein Hinweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die jetzige Rechtslage in dieser Frage
für mangelhaft hält und den Gesetzgeber damit indirekt
aufgefordert hat, zu handeln? Das ist etwas ganz anderes
als das, was Sie hier insinuieren, nämlich dass man möglicherweise verfassungswidrig handeln würde, wenn
man etwas in dieser Richtung tun würde.
({0})
Wir haben doch in dem zweiten Gesetz, Herr Beck,
wesentliche Anpassungen an das Familienrecht vorge7918
nommen. Das steht derzeit zur Überprüfung an. Auf die
Unterhaltspflichten, die Sie angesprochen haben, und
auf die Stiefkindadoption komme ich gleich noch zu
sprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat damals
auch gesagt, dass eine gewisse steuerliche Erleichterung
schon vorhanden ist, weil Sie die Unterhaltszahlungen,
die Sie erbringen, durchaus schon heute als eine außergewöhnliche Belastung absetzen können. Insofern sollte
man schon korrekt sein.
Aber das ist gar nicht das Thema. Das Thema ist, dass
die zweite Änderung, die schon weitreichend war, derzeit zur Überprüfung ansteht. Ich denke, wir sollten dieses Urteil abwarten. Sie wissen auch, dass die Union die
Stiefkindadoption und auch die Volladoption bekämpft
hat und weiter bekämpfen wird. Diese Adoption wollen
Sie ja mit Ihrem Gesetzentwurf ermöglichen; ebenfalls
die FDP, wie aus ihrem Antrag hervorgeht.
({0})
Ich muss jetzt nicht wiederholen, was wir die Adoption betreffend gesagt haben. Es geht um das Kindeswohl, das für uns überall der zentrale Punkt ist. Es geht
nicht darum, dass individuelle Lebenspläne von Erwachsenen verwirklicht werden. An dieser Auffassung wird
sich bei der Union überhaupt nichts ändern.
Ich muss auch erwähnen, dass es auf der europäischen
Ebene - Sie haben unsere Nachbarländer angesprochen Vereinbarungen gibt, die dahin gehen, dass eine Adoption nur bei verschiedengeschlechtlichen Partnerschaften
möglich ist. Es gibt auch keine Initiative auf europäischer Ebene, das zu ändern. Wenn wir dieses Instrument
also im Gesetz installieren würden, dann wäre das mit
dem europäischen Recht nicht vereinbar.
Ich meine, wir sollten, wenn wir das zu einem guten
Ende bringen wollen, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes abwarten. Diese Entscheidung wird sicherlich auch bald ergehen. Dann sollten wir uns im
Rechtsausschuss, wie sich das gehört - weil dann auch
sachlich beraten werden kann -, dem zuwenden, was Sie
und die FDP in Ihren Anträgen formuliert haben. Wir
werden uns mit Ihrem Gesetzentwurf in diesem Haus sicherlich in Kürze auch noch befassen.
Deshalb denke ich, dass die heutige Debatte überflüssig ist. Wir hätten an dieser Stelle besser etwas anderes
gemacht.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der russische Präsident hat heute in der Debatte um das erneute
Verbot des Moskauer Christopher Street Day die Homosexuellen als Teil eines demografischen Problems bezeichnet. Als ob man über seine sexuelle Orientierung
nach demografischen Gründen entscheidet! Nicht die
Schwulen und Lesben sind ein Problem für das russische
Volk, sondern der Präsident, der die Freiheit seiner Bürger nicht schützt.
Aber was Putin offen sagt, denken sich insgeheim
doch viele Gegner der eingetragenen Partnerschaft - als
sei diese eine Gefahr für die Ehe und als würden die
Partner, die diese Lebenspartnerschaft eingehen, eine heterosexuelle Ehe eingehen, wenn es diese Lebenspartnerschaft nicht gäbe. Welch ein Unsinn! Es ist doch ein
Gewinn für unsere Gesellschaft, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Das ist kein Gegeneinander, das ist ein Miteinander. Das ist keine Konkurrenz für die Ehe.
({0})
Bei gleichgeschlechtlichen Paaren bestehen immer
noch erhebliche Divergenzen zu den Rechten von Ehegatten, zum Beispiel im Einkommensteuerrecht. Herr
Kollege Beck hat es dargestellt. Noch dramatischer - da
würde ich gern einmal die Union fragen, ob das mit ihrem Menschenbild vereinbar ist - ist die Situation im
Erbschaftsteuerrecht. Bei den Erbschaften gelten für
eingetragene Lebenspartner wesentlich niedrigere Freibeträge und höhere Steuersätze als für Ehegatten. Nicht
nur das: Wenn ich von meiner Tante etwas erbe, dann
zahle ich weniger Erbschaftsteuer, als wenn ich von dem
Partner etwas erbe, mit dem ich den Bund fürs Leben
eingegangen bin. Wenn Sie einen Lebenspartner bis zum
Tode pflegen, werden Sie bei der Erbschaftsteuer wie
Fremde behandelt. Was das in der Praxis bedeutet, sehen
wir an vielen Fällen. Da müssen Menschen nach dem
Verlust ihres Partners auch noch die Eigentumswohnung
verkaufen, damit sie die Erbschaftsteuer bezahlen können. Das finde ich vom deutschen Staat extrem schäbig.
({1})
Es gibt immer noch kein gemeinsames Adoptionsrecht
für Lebenspartner. Ihre These, Frau Granold, dass es um
das Kindeswohl geht, ist sehr wohl richtig. Aber da frage
ich mich doch: Was ist denn das Kindeswohl? Alle erziehungswissenschaftlichen Studien zu diesem Thema
zeigen, dass Schwule und Lesben genauso gute Eltern
sind wie heterosexuelle Paare. Es gibt seit vielen Jahren,
beispielsweise in Berlin, homosexuelle Pflegeeltern. Die
Kinder in diesen Partnerschaften wachsen wohlbehütet
auf. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union,
glauben, die Kinder seien im Heim besser als in einem
behüteten Haus mit zwei Männern oder mit zwei Frauen
aufgehoben, dann hat das nichts mit dem Kindeswohl,
sondern mit Ihrer verstaubten Ideologie zu tun.
({2})
Frau Granold hat sich bei der letzten Beratung dieses
Antrags der FDP über Anpassungen im Steuer-, Erbschaftsteuer- und Beamtenrecht wohlwollend geäußert.
Geschehen ist nichts. Sie haben das mit juristischen
Vorbehalten begründet. Diese Vorbehalte hätten Sie aber
auch vor einem Jahr äußern können, wenn sie wirklich
so gewichtig gewesen wären. Stattdessen haben Sie sich
als die große Öffnerin der Union abfeiern lassen. Die
Zielgruppen waren erfreut; auch die LSU war ganz
erfreut. Ihr Generalsekretär setzt in der Debatte über Ihr
Grundsatzprogramm noch einen drauf: Öffnet die CDU
für ein modernes Familienbild! Das ist die schöne Theorie.
Fakt ist: Sie machen hier nichts für die Gleichstellung
von Schwulen und Lesben, sondern Sie verfolgen
weiterhin Ihre konservative Ideologie.
Was Sie von der SPD angeht, frage ich mich, ob Sie
nicht können oder nicht wollen,
({3})
wenn es darum geht, in der Koalition Prioritäten zu setzen.
Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie sich nicht
einmal dazu durchringen können, die Anträge der Opposition im Rechtsausschuss zu behandeln.
Die Bundesjustizministerin weist stets darauf hin,
was alles getan werden muss. Unmittelbar vor den
Christopher Street Days gibt es immer eine Reihe von
Interviews, in denen Frau Zypries den Journalisten kluge
Ideen in den Block diktiert. Aber seit Sie mit der Union
regieren, hat sich in diesem Land in dieser Frage nichts
bewegt. Das finde ich umso interessanter, als die Justizministerin auf europäischer Ebene im Rahmen der EURatspräsidentschaft sagt, es sei das Ziel der SPD und der
Bundesregierung, für ein modernes Familienrecht in Europa zu sorgen. Sie haben die Ratspräsidentschaft, Sie
sprechen nach außen schöne Worte; aber Ihre Hausaufgaben hier in Deutschland haben Sie nicht erledigt.
Wir, Deutschland, waren lange Zeit an der Spitze;
jetzt befinden wir uns im europäischen Geleitzug relativ
weit hinten. Wir Liberale werden uns mit dieser Untätigkeit
der Großen Koalition nicht zufriedengeben. Wir erwarten
zumindest praktische Verbesserungen, wie sie Frau
Granold vor einem Jahr versprochen hat. Für uns Liberale
gilt aber unbeschadet dessen: gleiche Pflichten, gleiche
Rechte. Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Beck, wenn es so wäre wie im Handball - dass die
Verzögerungstaktik der Großen Koalition nur die Verlängerung wäre - und wenn wir bei diesem Thema zu einem
solch glücklichen Ergebnis wie die deutschen Handballmänner gekommen wären - sie haben im Halbfinale mit
32 : 31 gesiegt; dazu auch von hier herzlichen Glückwunsch! -,
({0})
dann wäre es gut.
Leider hat mich die Rede eben nicht mehr so ganz
optimistisch gestimmt. Richtig ist, wie mein Vorredner
sagte: gleiche Rechte, gleiche Pflichten. Ich sage hier für
die Fraktion der Linken: Wir haben jetzt zwei Rechtsinstitute: die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft.
Daher ist es nur recht und billig, dass aus gleichen
Pflichten gleiche Rechte erwachsen.
({1})
Dazu ist es notwendig - im Antrag der Grünen ist es
richtig ausgeführt -, dass es im Zivilrecht, im Steuerrecht
und im Adoptionsrecht zu Änderungen kommt. Da haben
Sie unsere volle Unterstützung.
Aber wir müssen gleichzeitig natürlich endlich einmal
zur Kenntnis nehmen, dass auch dies nur die halbe
Wahrheit ist. Sehen wir uns doch die Realität an: Es gibt
schon in familiären Strukturen zusammenlebende Menschen, denen weder das Rechtsinstitut Ehe noch das
Rechtsinstitut eingetragene Lebenspartnerschaft offensteht. Eine alleinstehende Frau mit Kind oder ein alleinstehender Mann mit Kind haben diese Möglichkeiten
nicht. Auch Geschwister oder andere Verwandte, die
zusammenleben, und Menschen, die Verantwortung für
ältere Pflegebedürftige oder für Kinder übernehmen, haben
diese Möglichkeiten nicht. Hier besteht eine Lücke.
Ein anderes Beispiel. Bei Hartz IV geht die jetzige
Koalition natürlich voran. Allerdings hat an diesem Gesetz
auch die ehemalige rot-grüne Regierung ihren Anteil.
Menschen, die zusammenleben und Verantwortung
füreinander übernehmen, müssen doch keine Liebesbeziehung haben. Wenn sie aber lediglich in einer Wohngemeinschaft leben, werden sie in Haftung genommen.
Für diese Personen gilt nur im Steuerrecht die Individualisierung. Aber im Sozialrecht müssen sie füreinander
einstehen. Auch das ist völlig inkonsequent.
Der konsequente Wege wäre, jetzt das vorhandene
Institut der Lebenspartnerschaft zu ergänzen und einen
unwürdigen Zustand zu beenden, der einigen von Ihnen
vielleicht lächerlich erscheint: dass die Eintragung einer
Lebenspartnerschaft in den verschiedenen Bundesländern noch immer unterschiedlich gehandhabt wird.
Wir müssen dafür sorgen, dass zwei Menschen, die sich als
Lebenspartner eintragen lassen wollen, wenigstens zum
Standesamt gehen können. Den gegenwärtig bestehenden Anachronismus muss man sich einmal vor Augen
führen. Diese Diskriminierung muss beseitigt werden.
Eine Gleichbehandlung erreichen wir nur dann, wenn
wir gesetzlich regeln, dass Familie dort ist, wo Menschen
miteinander leben und füreinander Verantwortung übernehmen. Das ist nur durch eine konsequente Individualisierung im Steuerrecht und im Sozialrecht zu schaffen.
({2})
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Bundesverfassungsgericht machen. Das Ehegattensplitting wurde in
den 50er-Jahren eingeführt, um das Zusammenleben mit
Kindern zu erleichtern. Das Bundesverfassungsgericht
hat damals aber weiß Gott nicht festgeschrieben, dass
das Ehegattensplitting bzw. die Zusammenveranlagung
die einzige Möglichkeit ist.
({3})
Nein, hier müssen wir eine Reform durchführen. Lassen
wir die Menschen, wie wir es in unserem Antrag vorgeschlagen haben, zum Beispiel im Erbschaftsteuerrecht
selbst bestimmen. Dann können sie eine Person ihres
Willens - minderjährige Kinder und ältere Partner ausgenommen - besonders begünstigen; ansonsten erfolgt
eine weitgehende Gleichbehandlung.
Hier besteht Handlungsbedarf. Ich hoffe, dass es uns
gelingt, dieser Verzögerung nicht weiter anheimzufallen,
sondern uns aufzuraffen und mit einer wirklichen Kraftanstrengung eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die
der Lebensrealität der Menschen Genüge tut. Hier sind
wir gefordert. Ich denke, wenn man die Mehrheit dieses
Hauses entscheiden lässt, wie sie es für richtig hält, dann
ist das möglich.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Christine Lambrecht,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
jetzt seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Wenn ich eines gelernt habe, dann das, dass ich hier dicke
Bretter bohren muss und dass die Dinge nur sehr selten
so schnell vorangehen, wie ich es mir vorgestellt habe,
als ich in den Deutschen Bundestag, der damals noch in
Bonn war, eingezogen bin.
({0})
- Na, sehen Sie. Selten war meine Übereinstimmung mit
dem, was Herr Gehb eingeworfen hat, so groß wie gerade
jetzt.
Für das Thema, über das wir im Rahmen der heutigen
Geschäftsordnungsdebatte sprechen, gilt das erst recht.
Wir haben unglaublich lange gebraucht, bis wir das
Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahre 2001 nach vielen
Diskussionen, die auch in der rot-grünen Koalition zu
führen waren, auf den Weg gebracht haben. Hier im
Deutschen Bundestag haben wir mit unserer damaligen
Mehrheit einen Gesetzentwurf beschlossen, in dem all
das, was heute gefordert wird - einzige Ausnahme ist die
Forderung der FDP nach einem absoluten Adoptionsrecht -, bereits enthalten war.
Stellen wir uns einmal vor, Rot-Grün hätte damals
nicht nur im Bundestag eine Mehrheit gehabt, sondern
auch Verantwortung in einigen Ländern getragen, in denen
die FDP mitregiert hat. Wäre schon damals die Einsicht
in das vorhanden gewesen, was heute lautstark von Ihnen
vorgetragen wurde,
({1})
dann wären wir im Interesse der Betroffenen schon sehr
viel weiter und dann hätte es heute Abend und bei vielen
anderen Gelegenheiten überhaupt keiner Diskussion
bedurft. Denn dann hätten wir mit Ausnahme des Adoptionsrechts all das, was Sie, Herr Kauch, heute gefordert
haben, schon längst als Lebenswirklichkeit beklatschen
können.
({2})
Natürlich haben Sie das Recht, dazuzulernen. Es tut
mir leid, dass gerade Sie jetzt für die damalige Position
der FDP in Haft genommen werden; denn Sie sind erst
seit 2003 Mitglied des Bundestags.
({3})
Wären Sie schon damals dabei gewesen, hätten Sie Ihre
Kollegen beraten können. Dann hätte die FDP vermutlich
eine andere Position gehabt. Damals allerdings war die
FDP sehr kritisch. Sie glaubte nicht, dass dieses Vorhaben
mit Art. 6 des Grundgesetzes vereinbar ist, und setzte
sich für eine Prüfung dieser Frage durch das Bundesverfassungsgericht ein. Es wurde gesagt: Erst dann, wenn
das wirklich Schwarz auf Weiß vorliegt, drehen wir uns
natürlich. - Das tun Sie dann aber richtig, so wie wir das
von der FDP kennen.
({4})
Wenn Sie dabei gewesen wären, wären wir vielleicht
schon einige Schritte weiter. Das sind wir aber nicht.
Deswegen müssen wir heute leider die Schritte nachholen,
die seit 2001 schon längst Realität sein könnten. Ich
kann den Betroffenen nur sagen: Wir könnten schon weiter
sein.
Herr Beck, nichtsdestotrotz haben Sie und viele andere
Betroffene recht. Wir müssen bei diesem Thema weiterkommen. Die Fragen, um die es geht, liegen ja auf dem
Tisch. Auch hier sage ich aber: Es bedarf der Auseinandersetzung und Beratung in der Großen Koalition.
Herr Beck, wir beide hatten nie ein Problem mit diesen
Positionen, aber ich kann mich zumindest noch an eine
wirklich beeindruckende und emotionale Rede einer
Ihrer Fraktionskolleginnen - die Dame heißt Antje
Vollmer - erinnern, die sie genau gegen das Adoptionsrecht für Kinder gehalten hat, das wir wenigstens für die
Kinder durchgesetzt haben, die schon in einer solchen
Partnerschaft zusammenleben.
({5})
Das zeigt, es ist nicht ganz so einfach, wie viele das hier
darstellen - diese sagen, dass sie jetzt schnell einmal das,
das und das ändern -, sondern es ist eine wirklich sensible
Materie. Deswegen müssen wir uns die entsprechende
Zeit nehmen.
Die Fragen, die heute Abend alle angesprochen worden
sind, liegen auf dem Tisch. Ich kann Ihnen sagen: Wir
werden am Ball bleiben. Ich freue mich, dass mittlerweile
offensichtlich alle mehr oder weniger intensiv mit im
Boot sind. In der Zwischenzeit ist die Situation eben anders
als im Jahr 2001.
Herr Kauch, ich hätte mir Ihr Engagement früher
gewünscht. Schade, dass Sie so spät in den Bundestag
gekommen sind. Die FDP hätte sich schneller bewegen
und wir hätten im Interesse der Menschen weiterkommen
können. Wir werden am Ball bleiben, aber wir werden
Zeit brauchen. Von daher kann ich nur noch einmal die
Kollegin unterstützen: Legen Sie einen Gesetzentwurf
vor.
({6})
Wir werden darüber reden. Ich kann Ihnen aber versichern: Auch ohne einen solchen Entwurf werden wir
über dieses Thema reden. Haben Sie aber etwas Geduld.
Ich weiß, das fällt Männern ein bisschen schwerer als
Frauen.
({7})
Wir Frauen sind in solchen Situationen etwas gelassener.
Deswegen werden wir als Berichterstatterinnen uns die
entsprechende Zeit nehmen, um hier zu einem guten
Ergebnis zu kommen.
In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Geduld zumindest heute Abend.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zu einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten hintereinander. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur
Errichtung einer Agentur der Europäischen
Union für die Grundrechte
Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur
Ermächtigung der Agentur der Europäischen
Union für die Grundrechte, ihre Tätigkeiten in
den Bereichen nach Titel VI des Vertrags über
die Europäische Union auszuüben
KOM ({1}) 280 endg.; Ratsdok. 10774/05
- Drucksachen 16/150 Nr. 2.65, 16/4246 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Josip Juratovic
Michael Link ({2})
Dr. Hakki Keskin
Omid Nouripour
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({4}), Rainder Steenblock, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in
der EU stärken - Mandat der Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({5}), Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht
gebraucht
- Drucksachen 16/3617, 16/3621, 16/4195 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Florian Toncar
Volker Beck ({6})
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Holger Haibach, Thomas Silberhorn, Christoph
Strässer, Axel Schäfer, Christian Ahrendt, Dr. Hakki
Keskin und Omid Nouripour.1)
Zusatzpunkt 8. Wir kommen zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 16/4246 zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung über einen Vorschlag für eine
Verordnung des Rates zur Errichtung einer Agentur der
Europäischen Union für die Grundrechte sowie über
einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur
Ermächtigung dieser Agentur zur Ausübung ihrer Tätig-
keit in bestimmten Bereichen. Der Ausschuss empfiehlt
1) Anlage 8
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
die Annahme einer Stellungnahme auf der Grundlage
von Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 9. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 16/4195. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/3617 mit dem Titel „Die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger in der EU stärken - Mandat der
Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FDP
auf Drucksache 16/3621 mit dem Titel „Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht gebraucht“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen gegen die
Stimmen der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte und
der Fraktion der LINKEN
Änderung des Bundespolizeigesetzes für Auslandseinsätze der Bundespolizei
- Drucksache 16/3421 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zu Protokoll gegeben worden sind die Reden der Kol-
leginnen und Kollegen Ralf Göbel, Wolfgang Gunkel,
Gisela Piltz, Ulla Jelpke, Silke Stokar von Neuforn und
des fraktionslosen Kollegen Gert Winkelmeier.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3421 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d
sowie Zusatzpunkt 10 auf:
1) Anlage 9
26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes und weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/4138 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Karl Addicks, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sicherheitslücken bei biometrischen Pässen
beseitigen
- Drucksache 16/854 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Einführung des elektronischen Personalausweises
- Drucksache 16/3046 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({12}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt: Biometrie und Ausweisdokumente - Leistungsfähigkeit, politische Rahmenbedingungen, rechtliche
Ausgestaltung
Zweiter Sachstandsbericht
- Drucksache 15/4000 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({14}) und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Datenschutz und Bürgerrecht bei der Einführung biometrischer Ausweise wahren
- Drucksache 16/4159 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolleginnen und Kollegen Altmaier - der Vorname steht nicht
hier ({16})
- jawohl, Peter -, Frank Hofmann, Gisela Piltz, Jan
Korte, Wolfgang Wieland und Gert Winkelmeier.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4138, 16/854, 16/3046, 15/4000
und 16/4159 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Jerzy Montag, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbot von Telefonwerbung zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam
durchsetzen
- Drucksache 16/4156 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({17})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Ich weise darauf hin, dass es sich um einen neuen Ti-
tel handelt.
1) Anlage 10
Zu Protokoll gegeben worden sind die Reden der Kol-
leginnen und Kollegen Julia Klöckner, Dr. Günter
Krings, Dirk Manzewski, Hans-Michael Goldmann,
Karin Binder und Bärbel Höhn.2)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4156 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Rechtsausschuss und den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen die
Federführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktion Die
Linke und die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
wünschen die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen - Federführung beim Landwirtschaftsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung
beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts
- Drucksache 16/3655 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({19})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zu Protokoll wurden die Reden von folgenden Kolle-
gen gegeben: Dr. Jürgen Gehb, Christine Lambrecht,
Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen, Jerzy Montag
und Alfred Hartenbach, Letzterer für die Bundesregie-
rung.3)
({20})
- Und für sich selbst - erstaunlich!
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/3655 an die in der Tagesord-
2) Anlage 11
3) Anlage 12
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Planungssicherheit für Landwirte und Milch-
wirtschaft durch definitiven Beschluss zum
Auslaufen der Milchquotenregelung schaffen
- Drucksache 16/3345 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben: Dr. Wilhelm Priesmeier, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Kirsten Tackmann, Bärbel Höhn und für die Bundes-
regierung Kollege Gerd Müller.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3345 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die
Überweisung ist also so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft
- Drucksache 16/3291 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({22})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen; aber die Re-
den sind zu Protokoll gegeben, und zwar von folgenden
Kolleginnen und Kollegen: Ute Granold, Klaus Uwe
Benneter, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sevim
Dağdelen, Josef Winkler und noch einmal Alfred
Hartenbach.2)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/3291 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Die
Überweisung ist also so beschlossen.
1) Anlage 13
2) Anlage 14
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Heimbericht im Bundestag diskutieren - Missstände offenlegen und bekämpfen
- Drucksache 16/3696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({23})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Kollege Seifert, wollen Sie dazu sprechen?
({24})
- Gut. Ich frage nur, weil hier der Haken fehlt.
Also haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Markus Grübel, Wolfgang
Spanier, Sibylle Laurischk, Dr. Ilja Seifert und Britta
Haßelmann.3)
Ich schließe also die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3696 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so
beschlossen.
Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Renate
Schmidt ({25}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
BAföG an neue Entwicklungen anpassen Auszubildende mit Kindern unterstützen, Auslandsaufenthalte erleichtern, Migrantenförderung verbessern und Hinzuverdienstgrenzen
erhöhen
- Drucksache 16/4162 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({26})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Uwe Barth, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Studierende Mütter durch die Sofortmaß-
nahme Baby-BAföG unterstützen
- Drucksache 16/3142 -
3) Anlage 15
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({27})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({28}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Statt Nullrunde - BAföG angleichen
- Drucksache 16/4157 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sofortmaßnahmen beim BAföG - für mehr
Zugangsgerechtigkeit und höhere Bildungsbeteiligung
- Drucksache 16/4158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({30})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Folgende Rednerinnen und Redner haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben: Dorothee Bär, Renate Schmidt,
Uwe Barth, Cornelia Hirsch, Kai Gehring und Andreas
Storm.1)
Ich schließe also die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4162, 16/3142, 16/4157 und
16/4158 zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss,
den Innenausschuss, den Finanzausschuss, den Aus-
schuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend sowie den Haushalts-
ausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
1) Anlage 16
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 16/4149 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({31})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Folgende Rednerinnen und Redner haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben: Marlene Mortler, Gustav Herzog,
Hans-Michael Goldmann, Dr. Kirsten Tackmann und
Ulrike Höfken.2)
Ich schließe also die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4149 zur federführenden Beratung an
den Landwirtschaftsausschuss und zur Mitberatung an
den Finanzausschuss, den Wirtschaftsausschuss und den
Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Die Überweisung
ist also so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatzpunkt 11:
25 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 12. September 2002 zum
Übereinkommen vom 16. November 1989 gegen Doping
- Drucksache 16/4012 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({32})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bekämpfung des Dopings im Sport
- Drucksache 16/4166 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({33})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden der Kollegen Bernd Heynemann, Dr. Peter
Danckert, Dagmar Freitag, Detlef Parr, Katrin Kunert,
Winfried Hermann und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Dr. Bergner sind zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4012 und 16/4166 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/4012 soll zusätzlich an
den Innenausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
2) Anlage 17
3) Anlage 18
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. Februar 2007,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und eine
gute Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.