Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland
- Zwölfter Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Elke
Reinke, Klaus Ernst und der Fraktion der
LINKEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinderund Jugendhilfe in Deutschland
- Zwölfter Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas
Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje
Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({1}),
Clemens Bollen, Renate Gradistanac, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Öffentliche Verantwortung wahrnehmen mit fairen Chancen Kinder stark machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Kai Gehring, Grietje Bettin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugendliche in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana
Golze, Dr. Barbara Höll, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten Kinderarmut wirksam bekämpfen
- Drucksachen 15/6014, 16/827, 16/2754, 16/817,
16/2077, 16/3849 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Marlene Rupprecht ({2})
Wolfgang Spanier
Diana Golze
Zu dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht liegt neben dem bereits in der Beschlussempfehlung behandelten Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
({3})
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Thomas Dörflinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Redetext
Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Zwölften Kinderund Jugendbericht der Bundesregierung liegt uns ein
sehr wichtiges Dokument vor, mit dem zum ersten Mal
die Themenkreise Bildung, Betreuung und Erziehung
auch und gerade in diesem Zusammenhang in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden. Ich will namens
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch im Plenum des
Deutschen Bundestages dem Expertengremium, das
diesen Bericht unter Leitung von Professor Thomas
Rauschenbach erarbeitet hat, noch einmal ein herzliches
Wort des Dankes sagen.
Wir hatten Gelegenheit, den Bericht im Ausschuss
und in den Arbeitsgruppen zu beraten. Es war eine sehr
interessante Diskussion. Wir werden die Möglichkeit haben, uns auf der Basis der vorliegenden Anträge darüber
zu unterhalten, welche politischen Schlussfolgerungen
wir aus dem Bericht der Expertenkommission ziehen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, ein paar Bemerkungen zu machen, auch vor dem Hintergrund des Antrags,
der dem Deutschen Bundestag von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden ist und über den wir heute befinden werden. Ich will auch ein paar Bemerkungen darüber machen, wo sich der von uns konzipierte Antrag
von dem Entschließungsantrag der FDP und den anderen
vorliegenden Anträgen unterscheidet.
Ein wesentliches Moment, das dazu führt, dass sich
diese Anträge in einigen Punkten unterscheiden, ist
schlicht und ergreifend die folgende Tatsache: Als Koalition, die die Bundesregierung trägt, müssen wir immer
damit rechnen, dass das, was wir in einen Antrag hineinschreiben, möglicherweise politische Realität wird.
({0})
Deswegen müssen wir ein bisschen differenzierter zu
Werke gehen und unterscheiden zwischen dem, was
wünschbar ist, dem, was machbar ist, dem, was finanzierbar ist, und dem, was nach unserer politischen Auffassung tatsächlich Realität werden soll.
({1})
Deswegen - das sei offen eingestanden - kommen wir
in unserem Antrag an der einen oder anderen Stelle auch
zu etwas anderen Ergebnissen als denen, die die Experten in ihrem Bericht vorschlagen. Ich will es an einigen
Punkten deutlich machen.
Die Experten fordern im Zwölften Kinder- und Jugendbericht beispielsweise einen generellen Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige. Dafür
spricht aus fachlicher Sicht sicherlich eine ganze Menge.
Als Maxime steht aber obendrüber, dass das Ganze realisierbar und finanzierbar sein soll. Angesichts dessen rate
ich einfach jedem Kollegen und jeder Kollegin in diesem
Hohen Hause, auch einmal Rücksprache mit denen zu
nehmen, die in den Kommunen, in den Städten und Kreisen die politische Verantwortung tragen. Die sehen das
naturgemäß - sie haben ihre eigene Finanzlage im
Blick - etwas anders als derjenige, der unter Ausblendung der finanziellen Gegebenheiten aus rein fachlicher
Sicht argumentiert.
({2})
- Das ist keine Unterstellung, Frau Lenke. Das ist eine
Tatsache.
({3})
Für die Tatsache, dass es aufseiten der FDP in der
Summe etwas weniger kommunalpolitisch Tätige gibt
als aufseiten unserer drei Parteien, kann ich nichts.
({4})
- Sie sollten einmal mit denjenigen, die kommunalpolitisch Verantwortung tragen - einige sind von der FDP -,
reden. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass sie zum
Beispiel zum Thema Rechtsanspruch auf Betreuung für
unter Dreijährige eine gänzlich andere Auffassung vertreten.
({5})
- Ich bin Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Frau von der Leyen hat vor wenigen Tagen, wenn ich
das richtig erinnere, genau das gesagt, was im Koalitionsvertrag steht. Sie hat gesagt: Wenn wir es nicht
schaffen, bis zu einem gewissen Zeitpunkt die Kinderbetreuung in einem vertretbaren Maße auszubauen, dann
müsste man über einen Rechtsanspruch reden.
({6})
Das entspricht dem Wortlaut des Koalitionsvertrages. Insofern war das nichts Überraschendes. Das ist geltende
Beschlusslage der Großen Koalition und geltende Beschlusslage der Bundesregierung. Da war nichts Neues
dabei.
({7})
Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, dass
das, was wir politisch auf die Schiene setzen, auch finanzierbar sein muss. Deshalb sollten wir uns alle ein für
alle Mal von dem Vorgehen verabschieden, dass wir in
Berlin ebenso wie früher in Bonn große Dinge ins Gesetzblatt schreiben, die von anderen finanziert werden
müssen. Das ist nicht der Sinn unserer politischen Tätigkeit.
({8})
Deswegen rate ich nochmals: Reden Sie mit den kommunalpolitisch Tätigen in Ihrer Partei! Sie werden feststellen, dass man in den Kommunen zu etwas differenzierteren Ergebnissen kommt.
Das Gleiche gilt für die Frage, wie wir das Personal
ausbilden, das beispielsweise in der Tagesbetreuung, in
der Tagespflege tätig ist. Sie finden im Bericht die Maßgabe, dass das Personal eine Hochschulausbildung absolviert haben sollte. In der vergangenen Woche habe ich
in Baden-Württemberg ein Gespräch mit Verantwortlichen mehrerer Tagespflegevereine geführt. Das sind
Menschen, in der Mehrzahl Frauen, die sich ehrenamtlich engagieren. Über diese Vereine organisieren sie die
Tagesbetreuung bzw. die Tagespflege. Das Personal beschäftigen sie selbst. Sie erhalten relativ geringe öffentliche Zuschüsse. Dafür bringen sie großes ehrenamtliches
Engagement auf, in persönlicher und finanzieller Hinsicht. Auf die Forderung, man möge die Ausbildung von
Erzieherinnen und Erziehern, also derjenigen, die sich
mit Kindern befassen, generell auf Hochschulniveau anheben, reagieren diese Personen ganz anders als der Experte, der die Situation nur theoretisch betrachtet. Deswegen rate ich, mit den Verantwortlichen vor Ort zu
sprechen, und zwar nicht nur mit den kommunalpolitisch
Verantwortlichen, sondern auch mit denjenigen, die sich
ehrenamtlich in diesem Bereich engagieren.
Ich bestreite gar nicht, dass es aus fachlicher Sicht angezeigt ist, Erzieherinnen und Erzieher besser zu qualifizieren. Aus fachlicher Sicht spricht meiner Ansicht nach
durchaus etwas dafür, die Ausbildung in bestimmten Bereichen auf Hochschulniveau anzuheben. Der Ansatz,
die Hochschulausbildung zur generellen Anforderung zu
machen, gültig für jede Erzieherin und jeden Erzieher,
geht aber an den Erfordernissen vorbei. Er hätte zweitens zwangsläufig zur Folge, dass all diejenigen, die sich
ehrenamtlich engagieren, die viele Anstrengungen unternommen haben, um die Kinderbetreuung zu organisieren
- und sie organisieren sie gut -, dieser Anforderung
nicht entsprechen könnten. Ihre Qualifikation würde unseren Anforderungen nicht mehr genügen.
Es kann eigentlich nicht das Ziel unserer Überlegungen sein, durch überzogene Forderungen, die wir ins Gesetzblatt schreiben, denjenigen in die Parade zu fahren,
die in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren
aus eigener Initiative bereits viel von dem umgesetzt haben, was jetzt Gegenstand des Kinder- und Jugendberichtes ist.
({9})
Deswegen haben wir die Ansätze des Kinder- und Jugendberichtes, die uns sinnvoll und gleichfalls finanzierbar erscheinen, und zwar nicht nur aus Bundessicht, sondern auch aus Sicht der Länder und Kommunen, noch
einmal mit den theoretischen Forderungen der Fachleute
abgeglichen. Ich glaube, die Koalitionsfraktionen haben
mit dem vorliegenden Antrag einen guten Beitrag dazu
geleistet, dass Bildung, Betreuung und Erziehung
- Stichworte aus dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung - besser miteinander verzahnt
werden können. Wir haben die Grundlage dafür geschaffen, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten eine
sinnvolle Politik für Kinder, Jugendliche, selbstverständlich auch für Eltern sowie Erzieherinnen und Erzieher in
Deutschland machen können.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knapp einem
Jahr stand ich an dieser Stelle und habe zum Zwölften
Kinder- und Jugendbericht meine Jungfernrede gehalten.
Genau 316 Tage sind seither vergangen, und wir müssen
uns fragen: Was ist konkret in diesen 316 Tagen passiert?
({0})
Was haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Koalition, für die Lebenssituation der jungen
Menschen hierzulande geleistet, und wie haben Sie sie
verbessert?
Wenn ich mir das Protokoll der Sitzung vom 9. März
2006 ansehe, bin ich - das muss ich ganz ehrlich sagen skeptisch, ob wirklich etwas vorangebracht wurde. Sie
forderten damals unter anderem - ich darf Sie daran erinnern - eine angemessene Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern für ihre Leistung, die Einführung von
Sprach- und Entwicklungstests vor der Einschulung,
eine bessere Infrastruktur für Familien und eine bedarfsgerechte und gebührenfreie Kinderbetreuung. Sie forderten außerdem, die Spirale von Armut und mangelnden
Bildungschancen endlich zu durchbrechen. Frau Ministerin von der Leyen stellte damals klar: „Unser Latein
darf aber nicht am Ende sein, wenn die Kinder ein, zwei
Jahre alt sind.“ Bis heute sind wir in keinem dieser Aspekte einen Schritt weitergekommen.
({1})
Ja, wir haben das Elterngeld. Doch wie sieht es in
den Familien nach den ersten zwölf bzw. 14 Monaten
aus? Die Familien werden alleingelassen. Sie stehen vor
einer massiven Versorgungs- und Betreuungslücke,
({2})
die sie nur durch den Verzicht auf die Ausübung des Berufs - davon kann ich selber ein Lied singen - oder teure
private Kinderbetreuung überwinden können. Zudem hat
sich die Kinderarmut in Deutschland in den letzten zwei
Jahren mehr als verdoppelt.
Was also ist in den vergangenen 316 Tagen in
Deutschland passiert? An was erinnern wir uns, wenn
wir über Kinder in Deutschland nachdenken? Kinderpornos, Killerspiele und Kevin. Kaum eine Woche im vergangenen Jahr verging, in der wir nichts über Kinder in
der Zeitung lesen konnten. Doch wenn wir uns die
Schlagzeilen genau ansehen, müssen wir feststellen, dass
Kinder meistens erst dann zum Thema wurden, wenn es
schon zu spät war: vernachlässigte, misshandelte
Kinder, ein amoklaufender Schüler und Nachbarn, die
sich über Lärm aus dem Kindergarten beschweren. Der
Deutsche Kinderschutzbund schätzt die Zahl der misshandelten Kinder in Deutschland auf etwa 100 000, und
die Deutsche Kinderhilfe Direkt spricht von 100 an
Misshandlungen gestorbenen Kindern jährlich. Kurz:
Kinder in der Zeitung sind kaum eine gute Nachricht.
Nicht besser steht es um die Jugendlichen. „Suche
Zukunft jeder Art“, stand auf einem Plakat bei einer Demonstration der Generation Praktikum. Düstere Aussichten auch auf dem Arbeitsmarkt, eine völlig ungesicherte Altersversorgung und Perspektivlosigkeit bei
immer weiter steigenden Anforderungen an unsere
Nachkommen!
Ich möchte bei dem Negativgerede über unsere Kinder nicht mitmachen.
({3})
Für mich sind Kinder nicht per definitionem schlecht erzogen, zu dick, zu laut, zu unsportlich, zu arm, zu brutal
oder zu faul. Kinder sind für mich in allererster Linie ein
persönliches Glück und eine Bereicherung des eigenen
Lebens. Sie sind ein Geschenk, das uns Eltern anvertraut ist. Was wir daraus machen, obliegt unserer eigenen
Verantwortung. Wir müssen ihnen - wie Goethe so
schön gesagt hat - zu Wurzeln und Flügeln verhelfen.
Wir müssen sie fordern und fördern. Wir müssen sie lieben und erziehen. Das alles muss in einem Umfeld persönlicher Umstände geschehen, die für jeden Einzelnen
prägend sind und die man sich nicht immer frei wählen
kann.
Genau hier treffen wir auf den Ausgangspunkt des
Zwölften Kinder- und Jugendberichts. Ein Mensch wird
durch Personen, durch Erlebnisse und durch Erfahrungen an verschiedensten Orten geprägt. Durch Bildung,
Betreuung und Erziehung wächst eine Persönlichkeit,
die für ein eigenständiges, verantwortliches Leben gerüstet ist. „Es ist die beste Sozialversicherung, wenn
Menschen lernen, mit ihren eigenen Problemen umzugehen“, sagte Professor Rauschenbach damals bei der Anhörung im Familienausschuss. Ich glaube, dieser neue
Kontext von Bildung, Betreuung und Erziehung hat uns
alle, die den Bericht gelesen haben, überzeugt. Aber jetzt
gilt es, daraus endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen.
({4})
Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht werden zentrale Ansprüche gestellt. Erstens. Kinder- und Jugendpolitik darf kein Anhängsel der Familienpolitik sein,
sondern muss als eigenständiges Politikfeld begriffen
werden. Ich habe in den vergangenen 316 Tagen nichts
von einer eigenständigen Kinder- und Jugendpolitik mitbekommen.
Zweitens wird in dem Bericht gefordert: Es bedarf eines Gesamtkonzepts, das alle Orte und Akteure, die an
Bildungsprozessen beteiligt sind, einbezieht. Wir Liberale wollen dazu alle, die an diesen Prozessen beteiligt
sind, an einen Tisch holen, damit die Übergänge einwandfrei funktionieren. Über Modellversuche sind wir
hier bisher jedoch noch nicht hinausgekommen.
Drittens. Die einzelnen Instanzen wie Familie, Erzieherinnen und Erzieher und Jugendhilfe müssen gestärkt
werden. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass Eltern
schon vor der Geburt auf ihre neue Rolle vorbereitet
werden müssen. Wir dürfen nicht erst ansetzen, wenn es
schon zu spät ist. In diesem Punkt, Herr Dörflinger,
widerspreche ich Ihnen. Erzieherinnen und Erzieher
müssen motiviert werden. Motivieren kann man über
Leistungsanreize und über die Schaffung von Fortbildungsmöglichkeiten. Im Übrigen sprechen wir uns in
unserem Entschließungsantrag zu diesem Bericht als
einzige explizit dafür aus, dass der Erzieherberuf für
Männer attraktiv werden muss. Kinder brauchen Männer
als Bezugspersonen; wir dürfen sie nicht in einer männerfreien Zone aufwachsen lassen.
({5})
Viertens wird in dem Bericht eine Art TÜV für Kinderbetreuungseinrichtungen gefordert. Auch diese Forderung unterstützt die FDP.
Fünftens und letztens: Infrastruktur vor Transferleistungen.
({6})
Durch Geld allein - das ist die Auffassung der FDP, Herr
Dörflinger - erhalten Kinder keine Zuwendung. Sie haben uns da also irgendwo missverstanden. Zuwendung
können Kinder nur von ihren Bindungspersonen erfahren. Die müssen, was ihre Mittel angeht, gestärkt werden. Dazu bedarf es aber einer zielgenauen Infrastruktur.
({7})
Insofern begrüßen wir auch die Einrichtung des Kompetenzzentrums für familienpolitische Leistungen, dessen
Aufgabe es unter anderem ist, die Leistungen auf den
Prüfstand zu stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, alles Prüfen
und Bewerten hilft allerdings nichts, wenn am Ende kein
Fazit steht, das sinnvoll umgesetzt werden kann. Mein
Fazit aus mehr als einem Jahr Bundestagszugehörigkeit:
Es ist erschreckend, wie viel Schlimmes Kindern in
316 Tagen widerfahren kann und wie wenig die Politik
in der Lage ist, dies zu ändern. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten!
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Denkt nicht in Schubladen, bündelt alle Kräfte, die ihr
habt, um Kindern und Jugendlichen die besten Bedingungen zum Aufwachsen zu geben! Dieser Appell steht
nirgends im Kinder- und Jugendbericht. Aber er könnte
als wichtige Überschrift im Kinder- und Jugendbericht
stehen. Er würde sich an sehr viele richten: an die, die im
Bereich Bildung und Erziehung der Kinder tätig sind;
ganz besonders aber auch an die, die im politischen
Raum über die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen entscheiden. Ich
finde, es ist dieser - hier ist der Begriff auch nicht zu pathetisch gebraucht - ganzheitliche Ansatz des Kinderund Jugendberichts, der uns alle beeindrucken und noch
mehr als bisher zum Nachdenken bringen sollte. Er
sollte auch Leitlinie für das weitere politische Handeln
sein.
({0})
Die notwendige Verzahnung und die Zusammenarbeit
- ehrlicherweise muss man zugeben, dass es da in
Deutschland in vielen Bereichen noch Defizite gibt - beziehen sich nicht nur auf einen Aspekt, sondern auf sehr
viele Aspekte. Ich möchte heute drei Denkanstöße aufgreifen, die sich im Kinder- und Jugendbericht finden.
Erstens. Wir müssen noch stärker als bisher Betreuung, Bildung und Erziehung zusammendenken. Das
muss dann auch Auswirkungen auf unser Handeln haben.
({1})
Erfreulicherweise ist es ja so, dass diese Debatte inzwischen auch ihren Niederschlag gefunden hat. So reden
wir mittlerweile zum Beispiel häufiger als früher über
frühkindliche Förderung. In den Köpfen hat sich viel
verändert, was sich auch in unserem Handeln niedergeschlagen hat. Das ist aber noch nicht genug. Ich fürchte,
dass wir in Deutschland noch nicht schnell genug auf die
Notwendigkeiten reagieren, die sich aus diesem ganzheitlichen Ansatz ergeben.
({2})
Es geht mir nicht darum, zu sagen, wir wollen im
Ranking der anderen europäischen Länder besser dastehen. Es geht mir vielmehr darum, dass klar wird, dass
wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch
einiges aufzuholen haben. Es geht also nicht ums Bessersein, sondern darum, noch bessere Rahmenbedingungen für Kinder zu schaffen.
In diesem Zusammenhang gibt es einen ganz interessanten Aspekt, nämlich dass wir bei der Frage, wie viel
Geld wir für Familienförderung und Bildung ausgeben, in diesem europäischen Vergleich keineswegs auf
einem der letzten Plätze liegen, dass wir aber bei der
Frage, wohin und in welches Lebensalter dieses Geld investiert wird, den Unterschied haben, dass sehr viele andere europäische Länder sehr viel früher in die Förderung von Kindern investieren. Ich glaube, es lohnt sich,
einmal darüber nachzudenken, ob wir da nicht eine Prioritätenverschiebung brauchen.
({3})
Diese Prioritätenverschiebung ist für mich auch der
entscheidende Ansatz dafür, dass wir über die Kostenfreiheit für Bildungs- und Betreuungseinrichtungen
reden müssen. Es geht für uns nicht vorrangig - auch,
aber nicht vorrangig - um die Eltern, sondern es geht darum, Bildungsangebote anzubieten, damit Kinder früh
gefördert werden, und Bildungsangebote kostenfrei, zumindest schrittweise, zur Verfügung zu stellen.
({4})
Zweiter Denkanstoß, den ich für mich aus dem Kinder- und Jugendbericht mitgenommen habe: Um die
eben angesprochenen Anforderungen zu erfüllen, müssen die verschiedenen Bereiche und Ressorts intensiver
zusammenarbeiten, verzahnter zusammenarbeiten, als
das bisher der Fall ist. Das gilt für alle föderalen Ebenen.
Das gilt für uns auf Bundesebene, das gilt aber natürlich
auch für die Kommunen. Denn die Frage, was aus dem
wird, was wir hier entscheiden, wie es umgesetzt wird
und wie es bei den Kindern und den Eltern ankommt,
entscheidet sich letztlich immer auf kommunaler Ebene.
Da können wir nicht nur fordern, da müssen wir auch
unterstützen,
({5})
da müssen wir uns auch überlegen, wie wir unterstützen
wollen. Das ist völlig klar. Aber ich glaube, es ist gerade
an den angesprochenen Stellen - was den Missbrauch
angeht - deutlich geworden, dass die Verzahnung der
Netzwerke, die Zusammenarbeit entscheidend sind, um
Kinder besser als bisher zu schützen.
({6})
Ich bin im Übrigen sehr gern bereit und halte es auch
für wichtig, dass wir gemeinsam darüber sprechen, ob
wir gesetzliche Änderungen brauchen, um Kinder noch
besser als bisher schützen zu können. Richtig. Ich habe
aber die Sorge, dass der Eindruck entstehen könnte,
durch eine weitere gesetzliche Änderung könnte eine
Lösung gefunden werden. Man muss klar sagen: Wir
können gesetzlich so viel ändern, wie wir wollen, wenn
wir es nicht verzahnter umsetzen als bisher, dann vermitteln wir den Scheineindruck einer Lösung. Das darf
nicht sein. Es muss klar sein, dass selbst dann, wenn es
gesetzliche Änderungen gibt, die Zusammenarbeit, die
Koordinierung, beispielsweise das Zusammen-Reden in
den Kommunen und das Folgern, entscheidend sein werden für die Frage, ob sie wirklich greifen oder nicht.
({7})
Diese Zusammenarbeit, diese Netzwerke erfordern in
den Kommunen ein dauerhaftes Engagement. Aber man
darf sich nicht darüber täuschen, dass das auch Geld erfordert. Alles, was an Anträgen zum Beispiel über den
Bundesrat schon einmal zu dem Thema, wir wollen weniger im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgeben,
bei uns gelandet war, ist für diese Zusammenarbeit nicht
förderlich, sondern schädlich. Auch das muss hier klar
gesagt werden.
({8})
Drittens. Ich glaube, es macht Sinn - auch aufgrund
dessen, was im Kinder- und Jugendbericht steht -, noch
einmal gemeinsam über die Beziehungen, über das Verhältnis von privater und öffentlicher Verantwortung
für Kinder zu sprechen. Ich halte es für unseriöse Debatten, immer dann, wenn man über staatliche Verantwortung spricht, zu unterstellen, damit werde die Freiheit
der Familie eingeschränkt. Um allen Missverständnissen
vorzubeugen: Es ist der falsche Weg, von staatlicher, von
politischer Seite bestimmte Formen der Familie oder bestimmte Arten, wie Familien leben sollen, vorzuschreiben.
({9})
Es ist aber auch der falsche Weg, den Schutz und das
Wohl des Kindes zu vergessen und dies mit reiner Freiheit zu begründen. Auch das darf uns nicht passieren.
({10})
Zum Schutz von Kindern gehört für mich sowohl die
körperliche und seelische Unversehrtheit - das ist wichtig - als auch, ihnen Chancen für ihren Bildungs- und
Berufsweg zu geben, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
({11})
Welche Schlussfolgerungen ziehen denn die Autorinnen und Autoren des Zwölften Kinder- und Jugendberichts? Ich zitiere:
Deutschland hat sich auf den Weg gemacht, das
System der öffentlichen Bildungs-, Betreuungsund Erziehungsangebote neu zu justieren, zu reformieren und auszubauen.
Im Weiteren heißt es: Dies
lässt die Hoffnung begründet erscheinen, dass in
diesem Aufgabenfeld in den nächsten Jahren nicht
nur marginale, sondern wirklich spürbare Entwicklungen in Gang gesetzt werden …
Das halte ich für wichtig.
Ich will darauf hinweisen, dass im vorliegenden Kinder- und Jugendbericht auch die politischen Forderungen
formuliert worden sind, den Rechtsanspruch auf eine öffentlich geförderte Betreuung von Kindern unter drei
Jahren zu erweitern, den Rechtsanspruch auf ein Platzangebot in der Kindertagesbetreuung auf Ganztagesplätze zu erweitern und den Bildungsanspruch noch stärker als bisher zu betonen.
({12})
Das mag sich nach einem Wunschkatalog anhören.
Aber unser politisches Ziel muss sein - hier gebe ich
Herrn Dörflinger ausdrücklich recht -, dafür Unterstützung zu finden und die Finanzierung zu ermöglichen,
damit dieser Wunschkatalog politische Realität wird.
Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Lenke?
Ich dachte schon, dass Sie heute keine Zwischenfragen stellen. Aber bitte, gerne.
({0})
Bitte schön, Frau Lenke.
Frau Kressl, Sie werden die Opposition nicht los. Wir
wollen kritisch, aber auch konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten.
Obwohl Sie selbst Teil der Regierung sind, haben Sie
Ihre Forderungen - den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem ersten Geburtstag und kostenfreie
Kindergartenplätze - merkwürdigerweise als Wunschkatalog dargestellt. Meine Frage lautet: Welche konkreten
Finanzierungsvorschläge haben Sie hier und heute?
Frau Lenke, jetzt ist schon wieder das passiert, was
bei Ihren Zwischenfragen ständig geschieht. Sie haben
das, was ich gesagt habe, leicht anders interpretiert. Ich
habe nicht gesagt, das ist ein Wunschkatalog. Ich habe
formuliert - ich kann das noch einmal vorlesen -, es mag
sich nach einem Wunschkatalog anhören. Wir haben gemeinsam die Aufgabe, nach Wegen zu suchen, um die
Kommunen, auch mit Unterstützung des Bundes, in die
Lage zu versetzen, dieses Vorhaben finanzieren zu können.
({0})
Hierzu werden übrigens noch Vorschläge erarbeitet. Das
ist ein großes Unterfangen.
({1})
Natürlich schreibt es sich leichter in einen Oppositionsantrag, wie das finanziert werden soll. Schwieriger
ist es, nach realistischen Wegen zu suchen. Aber seien
Sie sicher: Wir arbeiten intensiv und geben uns Mühe.
Das wird sich auch lohnen.
Das war nicht nur das Ende meiner Beantwortung Ihrer Zwischenfrage, sondern auch die Zusammenfassung
dessen, was ich zum Ausdruck bringen wollte: Es lohnt
sich, gemeinsam nach Wegen zu suchen, um diese Ziele
zu erreichen,
({2})
und zwar im Interesse der Kinder und Jugendlichen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr
Staatssekretär! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes leben mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in
Deutschland unterhalb des Sozialhilfeniveaus. Dieser
Satz oder ähnliche Sätze waren im letzten Sommer in allen Zeitungen zu lesen. Mit anderen Worten: Von den
15 Millionen Kindern in Deutschland haben 2,5 Millionen Kinder schlechtere Bildungschancen und ein hohes
Gesundheitsrisiko. Besonders hoch ist das Risiko, in Armut zu leben, für Kinder aus Migrantenfamilien, für
Kinder von Alleinerziehenden und für Kinder in Ostdeutschland.
Dass Kinder in Armut leben, bedeutet nicht nur materielle Defizite. Das heißt, dass Kinder hungrig in die
Kita oder in die Schule gehen. Das heißt, dass Eltern ihre
Kinder von der Schulspeisung abmelden. Das heißt, dass
diese Kinder oft genug keine Kultur- oder Bildungsangebote nutzen können, weil zum Beispiel das Geld für den
Vereinsbeitrag fehlt. Das heißt, es gibt Kinder, die nicht
zur Geburtstagsfeier ihres Schulkameraden gehen, weil
sie kein Geschenk mitbringen könnten. Kinderarmut
heißt: Armut an Bildung, Armut an gesellschaftlicher
Teilhabe, ja sogar Gefahr für die Gesundheit. Wenn wir
heute über die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen debattieren, kommen wir also unweigerlich zu der
Frage, wie man mit existierender Armut bei Kindern und
Jugendlichen umgeht - kurz-, mittel- und langfristig.
Als am 9. März des vergangenen Jahres der Zwölfte
Kinder- und Jugendbericht hier zum ersten Mal debattiert wurde, habe ich die Frage gestellt, zum wievielten
Mal der Deutsche Bundestag die gravierenden Mängel in
der Kinder- und Jugendpolitik in unserem Land beklagt.
In den Monaten, die seit dieser Debatte vergangen sind,
hatten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeit, die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Sie
hätten zum Beispiel, wie es meine Fraktion mit dem Antrag „Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten - Kinderarmut wirksam bekämpfen“ vorgemacht hat, von der Jugendministerin die dringend notwendige Evaluierung
und Weiterentwicklung des Kinderzuschlags einfordern
können. Sie haben die Gelegenheiten nicht genutzt.
Stattdessen haben Sie einer Verschärfung der Voraussetzungen für die Beantragung des Kinderzuschlags durch
die Hintertür zugestimmt, und das, obwohl Sie wissen,
dass seit langem neun von zehn Anträgen abgelehnt werden. „Schöne Worte, falsche Taten“, auf diesen Nenner
kann man Ihre Politik bringen.
({0})
Dem setzen wir unseren Antrag, den Kinderzuschlag
im Sinne der Betroffenen zu verbessern, entgegen. Wegfall der Mindesteinkommensgrenze, Aufhebung der Beschränkung des Bezugs des Kinderzuschlags auf maximal 36 Monate, eine soziale Sicherung für Kinder von
Eltern mit geringem oder keinem Erwerbseinkommen,
das sind unsere zentralen Forderungen. Sie könnten den
Kinderzuschlag zu dem machen, was er eigentlich sein
soll: ein Mittel, um zu verhindern, dass Familien in Armut, in Hartz IV leben müssen, nur weil ein Kind da ist.
({1})
Nebenbei würden Sie damit die Worthülsen Ihres Koalitionsvertrags mit Leben erfüllen. Den Kinderzuschlag
verbessern, hatten Sie sich schon für 2006 vorgenommen. Papier ist ja geduldig. Aber Sie können sich darauf
verlassen, dass ich und meine Fraktion Sie an diese Passage erinnern werden, bis endlich Vorschläge auf dem
Tisch liegen.
({2})
Leider ist eine Verbesserung des Kinderzuschlags
nicht die einzige verpasste Gelegenheit. Sie haben einer
Föderalismusreform zugestimmt, die die Zuständigkeiten des Bundes weiter einschränkt und minimiert. Uns
sind an Stellen die Hände gebunden, wo ein Eingreifen
dringend notwendig wäre und von allen Beteiligten erwünscht ist. Es ist einigermaßen seltsam, wenn jetzt von
der Regierungsbank und aus den Reihen der SPD eine
Debatte über die Verankerung eines erweiterten Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung angefangen wird. Gemeinsam mit den Menschen in diesem Lande frage ich
mich ernsthaft, ob diese Regierung und die sie tragenden
Parteien überhaupt wissen, was sie tun, geschweige
denn, was sie getan haben.
({3})
Da hat im vergangenen Sommer die SPD fast geschlossen für eine Föderalismusreform die Hand gehoben, mit
der es dem Bund für die Zukunft ausdrücklich untersagt
wird, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Die
Große Koalition hat die angebliche Jahrhundertreform
im Fußballfieber durchgedrückt - gegen den Rat der Experten, der Fachverbände und der Linksfraktion.
({4})
Es ist noch kein halbes Jahr vergangen, da fordern dieselben Abgeordneten nun einen erweiterten Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Ein richtiger Schritt. Aber
wer soll diesen Anspruch einlösen? Die Kommunen mit
ihren chronisch leeren Kassen? Der Städtetag hat sich zu
Recht über dieses unseriöse Gebaren beschwert. Ich
hatte schon im Sommer den Verdacht, dass die Abgeordneten der Koalition gar nicht so genau gelesen haben,
was sie da verabschieden. Insbesondere die SPD geht offenbar davon aus, die Familien für dumm verkaufen zu
können.
({5})
Die Partei stößt einmal mehr an die Grenzen eines
Grundgesetzes, das sie offensichtlich gar nicht so genau
kennt.
Ja, wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung, für alle Kinder, ab Geburt.
({6})
Ja, wir brauchen beitragsfreie Kinderkrippen und Kindergärten, besser heute als morgen. Ja, wir brauchen dafür eine neue Verfassungsänderung und eine Idee, woher
das nötige Geld dafür kommen soll.
({7})
Aber vorher brauchen wir hier eine Grundsatzentscheidung: Sie müssen entscheiden, ob Sie Politik für Familien, für Kinder und Jugendliche machen wollen. Sie
müssen entscheiden, ob Sie das Geld weiter den Unternehmen und den Börsengewinnlern hinterherwerfen
wollen
({8})
oder es für Kinder und Jugendliche einsetzen wollen, ob
Sie den Mut haben, das nötige Geld mittels einer Börsenumsatzsteuer, durch eine soziale Umverteilung von
oben nach unten, zu besorgen - eine klare Forderung
und ein ebenso einfacher wie tragfähiger Finanzierungsvorschlag.
({9})
- Dafür steht die Fraktion Die Linke, Herr Kuhn.
({10})
Die Koalition steht für das Gegenteil - ich sagte es bereits -: schöne Worte, falsche Taten.
Werfen wir einen Blick auf die Realität in den Ländern, die vom Bund in dieser Weise alleingelassen werden! Es zeichnet sich ein düsteres Bild: In Bayern
kommt ein Kitaplatz einem Sechser im Lotto gleich. In
vielen Einrichtungen werden die Kinder zudem nur stundenweise am Vor- und Nachmittag betreut. In Thüringen
gibt es eine Prämie für Eltern, die ihre Kinder nicht in
eine Kindertageseinrichtung bringen.
({11})
In Sachsen-Anhalt wurde der Rechtsanspruch auf einen
Kindertagesbetreuungsplatz vom Erwerbsstatus der Eltern abhängig gemacht. In Brandenburg wurde ähnlicher
Unsinn beschlossen.
Nur zur Erinnerung: In dem hier zu Recht von allen
Seiten gelobten Kinder- und Jugendbericht wird die Förderung von Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gefordert.
({12})
Bildung als Mittel zur Armutsverhinderung - das brauchen wir. Genauso wie in unserem Entschließungsantrag, den Sie nachher sicher pflichtschuldig ablehnen
werden, wird auch in dem Bericht die Anhebung der
Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher auf
Hochschulniveau gefordert. Vielleicht haben Sie unseren
Antrag ja genauso gut oder genauso wenig gelesen wie
manch andere Gesetzentwürfe der Regierung, die Sie
mit Ihren Stimmen hier passieren lassen.
({13})
Nach Angaben der OECD sind „Deutschland und
Österreich die einzigen Länder Westeuropas, in denen keine nennenswerte Präsenz von Beschäftigten
in der Kindertagesbetreuung mit einer grundlegenden Hochschulausbildung zu verzeichnen ist“ ...
Dieses Zitat stammt aus einer Studie der Initiative Neue
Soziale Marktwirtschaft, die vom Institut der deutschen
Wirtschaft in Auftrag gegeben wurde.
({14})
Auch wenn weder die OECD noch das PR-Kampfschiff
der Arbeitgeber in Verdacht stehen, besonders eng mit
unserer Fraktion verbandelt zu sein, ist diese Feststellung richtig. Erzieherinnen und Erzieher tragen eine
hohe gesellschaftliche Verantwortung. Also sollte auch
die Gesellschaft ihrer Verantwortung nachkommen und
den Erzieherinnen und Erziehern eine bestmögliche
Ausbildung angedeihen lassen.
({15})
Nun zum Bereich der Jugendhilfe. Sie muss laut Bericht eine erweiterte Rolle spielen, und ihr kommt eine
höhere Bedeutung zu. Mich stimmt es aber schon nachdenklich, dass einer der Sachverständigen bei der Anhörung zur Föderalismusreform seine Stellungnahme mit
dem Satz begonnen hat: Die Stellungnahme erfolgt vor
der vielleicht optimistischen Annahme, dass die Ergebnisse der Anhörung noch Einfluss auf die beabsichtigte
Föderalismusreform haben und die Anhörung nicht rituellen Zwecken dient. - Der Mann - es war im Übrigen
Professor Johannes Münder, ein anerkannter Experte für
das Kinder- und Jugendhilferecht - sollte recht behalten.
Seine eindrucksvollen Worte wurden gehört, es wurde
genickt - und gut.
Ich erinnere mich noch gut an einen Morgen im Familienausschuss, als die Kolleginnen und Kollegen der
SPD vorschlugen, auf der Basis der äußerst kritischen
Stellungnahme der Kinderkommission ein Ausschussvotum zu den Folgen der Föderalismusreform abzugeben.
Genauso gut erinnere ich mich auch noch daran, wie
schnell dieser Entwurf von den Tischen des Ausschusses
damals wieder verschwand.
Meine Damen und Herren, Sie alle führen im Moment
gerne die Worte „Generationengerechtigkeit“ und „demografischer Wandel“ im Munde. Viel zu oft tun Sie das
aber nur, um damit neue Sozialabbauorgien zu begründen, wie zum Beispiel die Rente ab 67 und die andauernden Verschärfungen für von Hartz IV Betroffene.
({16})
Soziale Gerechtigkeit für alle im Land lebenden Menschen unabhängig von ihrem Alter - das ist unsere Forderung.
Wir haben an dieser Stelle mehr als einen Vorschlag
gemacht. Für uns steht nicht die Frage im Mittelpunkt,
ob wir zu wenige Kinder haben, sondern die Tatsache,
dass zu viele Kinder in Armut leben. Wenn wir den Familien und den Kindern die Angst vor der Zukunft nehmen, dann schaffen wir auch die Rahmenbedingungen
dafür, dass sich wieder mehr Familien für Kinder entscheiden werden. Daran werden wir weiter arbeiten, und
wir werden Sie auf Ihre Verantwortung aufmerksam machen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Guten Morgen. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Golze, ich fand Ihre Rede gut. Vieles
von dem, was Sie gesagt haben, kann ich unterstreichen.
({0})
Ich frage mich nur, warum es ausgerechnet in Berlin,
wo Sie an der Regierung sind, die höchste Kinderarmutsquote gibt und
({1})
warum es in Berlin, wo Sie an der Regierung sind, die
wenigsten Ansätze der Kinder- und Familienpolitik und
die höchsten Kindergartenbeiträge gibt.
({2})
Das haben Sie zu verantworten. Darauf haben Sie selber
keine Antworten.
({3})
Die Veröffentlichung des Zwölften Kinder- und Jugendberichts liegt zwar schon eine Weile zurück; aber
ich denke, die Ergebnisse und die Analyse sind aktueller
denn je. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist die Förderung der Entwicklungs- und Bildungswege von jungen Menschen ausgesprochen komplex. Das ist uns sehr
präsent. Die Politik hat die Aufgabe, in diesem Bereich
zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind
es den Kindern und auch ihren Eltern schuldig, die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, auf ihre individuellen Lebenslagen einzugehen und Bildung als ein
Zukunftsprojekt dieses Landes, als Standortfaktor zu einem ernsten Thema zu machen, über das wir debattieren
müssen.
Zweitens - das ist ein bedauerlicher Aspekt - ist dieser Bericht deshalb so aktuell, weil wir genau in diesem
Bereich immer noch viel zu wenig tun, obwohl wir wissen, was zu tun wäre, obwohl Handlungsdruck besteht,
obwohl wir genug Erkenntnisse, Wissen und Erfahrungen haben. Trotzdem passiert in diesem Land gerade in
diesem Bereich noch immer viel zu wenig.
({4})
Das muss man an dieser Stelle auch der Großen Koalition anlasten: Sie sagen alle, wie wichtig Bildung und
Betreuung sind, und geben zu, dass da relativ wenig passiert. Aber wenn man sich Ihre Versprechungen ansieht,
merkt man, dass auch Sie eigentlich nur mit Wasser kochen.
Frau Kollegin Deligöz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Golze?
Bitte.
Bitte schön, Frau Golze.
Danke. - Frau Deligöz, Sie können sich denken, dass
ich das nicht so stehen lassen kann. Ich frage Sie, ob Sie
wie ich der Auffassung sind, dass die Grundlagen, die
ich zitiert habe, zum Beispiel im Zusammenhang mit
Hartz IV, hier im Bundestag beschlossen worden sind.
Haben Sie beispielsweise darüber Kenntnis, dass in Bayern Kindertagesstättengebühren von mehr als 130 Euro
in der Woche zu zahlen sind, was in Berlin so nicht der
Fall ist? Kurz gesagt: Können Sie meine Meinung zumindest verstehen, dass man nicht allein ein Bundesland
dafür verantwortlich machen kann, sondern dass auch
wir als Bund eine Mitverantwortung für die Kinderarmut
in Deutschland tragen?
({0})
Frau Golze, ich finde, Sie dürfen hier nicht vom
Thema ablenken; aber das tun Sie gerade.
({0})
- Darf ich reden?
({1})
Sie haben vorhin gesagt, dass die Föderalismusreform,
der ich wahrhaftig nicht zugestimmt habe, für die Bun7694
desländer die Möglichkeit geschaffen habe, in diesem
Bereich eigenständig Regelungen zu treffen. Und was
machen Sie hier in Berlin? Nichts! Warum nutzen Sie
diese Möglichkeit nicht?
({2})
Man kann das ja auch ins Positive wenden. Man kann etwas tun. Sie könnten doch in die Bildung und in die Kindergärten investieren. Gerade in Bezug auf die Beiträge
wäre ich ganz ruhig angesichts dessen, was die Eltern
hier zahlen müssen, inklusive Mittagessen, unabhängig
von ihrem Verdienst.
({3})
Sie wollen hoffentlich nicht, dass die Kinder vom Mittagessen abgemeldet werden. Deshalb würde ich nicht so
laut mit Blick auf Bayern schreien. Ich kenne die Sätze
in Bayern und ich kritisiere sie. Aber die Zahl, die Sie zitiert haben, trifft auf Bayern nicht zu. In Bayern haben
wir in Bezug auf die Kindergärten die niedrigsten Zahlen, das stimmt;
({4})
denn die Bayern haben nicht verstanden, dass es auch
eine moderne Familienform gibt. Aber was Sie machen,
entschuldigt das nicht. Sie können das eine schlechte
Handeln nicht mit einem anderen schlechten Handeln
entschuldigen. Das dürfen wir nicht zulassen.
({5})
Wenn Sie verantwortlich handeln wollen, dann müssen
Sie Ihre Forderungen hier vor Ort, wo Sie an der Regierung sind und Verantwortung haben, umsetzen und dürfen nicht einfach mit anderen Themen ablenken.
({6})
Ein weiterer Bereich. Es geschieht noch viel zu wenig, auch im Hinblick auf die Betreuung. Einerseits sagen Sie, Sie setzen auf das TAG und dass das TAG erfolgreich ist. Wir werden noch darüber streiten müssen,
ab wann man das TAG als erfolgreich bezeichnen kann.
Andererseits sagen Sie aber: Wenn das nicht so sein
sollte, setzen wir auf einen Rechtsanspruch. - Wenn Sie
für einen Rechtsanspruch sind, warum setzen Sie ihn
dann nicht um? Unsere Unterstützung dabei hätten Sie.
Entweder Sie finden einen Rechtsanspruch richtig und
notwendig; dann müssen Sie ihn auch umsetzen. Oder
Sie sehen das anders; dann müssen Sie das auch sagen.
Aber dieses Herumgeeiere verdummt die Menschen,
verunsichert die Familien und weckt Hoffnungen, die
Sie nicht einhalten werden. Vor allem machen Sie eines:
Sie schrecken die Kommunen auf, ohne ihnen irgendwelche Konzepte, über die man debattieren kann, vorzulegen. Dadurch fangen Sie sich noch mehr Gegenstimmen ein. Das hat auch zur Folge, dass die Kommunen
daran gehindert werden, ihre Vorstellungen umzusetzen.
Machen Sie eine konsequente Politik! Uns werden Sie
dann an Ihrer Seite haben.
({7})
Wir Grünen haben mit der Kinderbetreuungskarte ein
klares Konzept vorgelegt. Damit können wir den qualitativen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung in
den Kinderkrippen und bei der Ganztagesbetreuung voranbringen. Wir meinen, dass Qualität mindestens genauso wichtig ist wie Quantität. Wir haben ein finanzierbares Modell vorgelegt. Dahinter steckt vor allen Dingen
ein modernes Denken.
Ich kann Ihnen nur sagen: Überwinden Sie endlich
Ihre Scheu! Wir müssen Kinder und Familien anstelle
des Trauscheins fördern. Sie alle wollen sich einen modernen Anstrich geben. Sie wollen eine moderne Familienpolitik machen. Wenn es aber konkret wird, dann
meinen Sie Ihre Ankündigungen nicht ernst. Das ist auch
an diesem Punkt eine doppelzüngige Politik. Entweder
Sie stehen für die neuen Familienbilder - dann müssen
Sie aber auch konsequent handeln -, oder Sie schaffen es
nicht, Ihre Vorbehalte zu überwinden. Dann sehe ich
schwarz für diese Nation.
({8})
Die Koalitionsfraktionen überschlagen sich regelrecht
mit Ankündigungen, beispielsweise wollen sie beitragsfreie Kindergartenplätze. Sie schaffen mit der Beitragsfreiheit aber keinen einzigen neuen Kindergartenplatz.
Sie tun nichts zur Verbesserung der Qualität in den Einrichtungen.
({9})
Sie nehmen die kindliche Frühförderung nicht ernst. Sie
reden zwar darüber, aber Sie tun nichts, wenn es darum
geht, eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen zu
erreichen.
Herr Dörflinger, wir reden nicht über 100 Prozent
Akademisierung. Wir reden, wie im Bericht, immer über
Mischformen. Auch in diesem Bereich sind Sie nicht
mutig genug. Initiativen zur Verbesserung der Qualität
findet man bei Ihnen nicht. Aber genau das fordert der
Bericht. Da sollten Sie noch einmal genau nachlesen.
Wir brauchen keine Beitragsfreiheit für Kindergartenplätze, sondern Betreuungsplätze und eine bessere Qualität der Einrichtungen. Wir brauchen Politik mit Substanz und nicht leere Worte.
({10})
Noch eine Bemerkung zum Vorschlag von Frau von
der Leyen. Sie sagen, die Mittel, die aufgrund des Geburtenrückgangs frei werden, könne man für die Finanzierung der Beitragsfreiheit verwenden. Hinsichtlich der
Verwendung der Mittel für die Schulen kann ich nur sagen: Unterhalten Sie sich einmal mit den Landespolitikern! In den Schulen haben wir große Defizite. Wir
brauchen mehr Lehrer, mehr Ganztagseinrichtungen und
kleinere Klassen. Darauf hoffen die Bildungspolitiker.
Sie sind gar nicht mit der Idee einverstanden, dass Sie
das Geld woanders verfrühstücken wollen.
Wenn Sie frei werdende Mittel im Kindergartenbereich meinen, dann kann ich nur sagen: Diese haben wir
damals, dank der CDU/CSU, beim TAG verfrühstückt.
Dieses Geld haben wir den Kommunen bereits zugestanden, und es ist nicht mehr verfügbar. Sie sollten da Ihre
Verhandlungspositionen nachlesen. Damals haben Sie
das Geld nämlich schon ausgegeben, sodass es jetzt
nicht mehr zur Verfügung steht.
Frau Ministerin, Sie sagen, man solle den Rechtsanspruch nicht als Drohgebärde einsetzen. Das ist Unsinn.
Die Kommunen würden, wenn man ihnen genaue Vorschläge machen würde, verhandeln. Der Wille ist da.
Aber man muss, wie gesagt, konkrete Vorschläge machen. Man darf nicht irgendwelche leeren Versprechungen machen und hinterher sagen, dass es so nicht gehe.
Man braucht da schon mehr als eine populistische Ankündigungspolitik. Das habe ich bisher aufseiten der Koalition vermisst.
Ein gutes Beispiel in Sachen populistischer Politik
und falsche Prioritätensetzung liefert uns an diesem
Punkt die Union. Einerseits sagen Sie, dass wir eine gute
Kinderbetreuung brauchen. Andererseits wissen wir,
dass das Ministerium mit Hochdruck an einem Familiensplitting arbeitet. Familiensplitting klingt gut. Sie
argumentieren an dieser Stelle mit der Gerechtigkeit,
nämlich Gerechtigkeit bei der Verteilung der Finanzmittel. Aber Ihr Gerechtigkeitsbegriff grenzt mehr als
2 Millionen Kinder aus. Denn es werden all die Familien, die keine Steuern zahlen, nicht berücksichtigt. Die
Kinder in Familien, die ein niedriges Einkommen haben
oder die von Hartz-IV-Leistungen leben, werden ebenfalls nicht berücksichtigt. Ihr Gerechtigkeitsbegriff umfasst nur die Gut- und Besserverdienenden.
({11})
Das ist nicht die Gerechtigkeit, die ich meine. Das ist
nicht die Gerechtigkeit, die für die Familien in diesem
Land gut ist. Das sollten Sie noch einmal überlegen.
({12})
Die SPD denkt darüber nach, Mittel für eine mögliche
Kindergelderhöhung zur Förderung der Infrastruktur
einzusetzen. Darüber könnte man, wenn dies möglich
wäre, rein theoretisch reden. Aber wenn Sie dies ernst
meinen, warum haben Sie dann die Anpassung des Existenzminimums, die die Freistellung von Mitteln für dieses Vorhaben garantieren würde, um zwei Jahre verschoben? Das hätten wir schon jetzt machen können. Wenn
man sich den Haushaltsplan anschaut, dann findet man
diese Mittel nicht. Früher hätte man gesagt: Sie haben
eine virtuelle Idee, deren Umsetzung Sie mit ungedeckten Schecks bezahlen. Inzwischen kann man sagen: Sie
haben eine virtuelle Idee, deren Umsetzung Sie mit virtuellem Geld bezahlen wollen, mit Geld, das Sie nicht
haben und nicht in den Haushalt einstellen. Das zeigt,
dass Sie das Ganze nicht ernst meinen.
({13})
Das ist eine Verdummung der Familien. So schafft man
keine Zukunftsperspektiven für Kinder und Familien in
diesem Land. Das Einzige, was man daran erkennen
kann, ist, dass Sie den vorliegenden Bericht, den wir alle
gut finden und über den wir hier debattieren, nicht gelesen haben. Sie haben nicht verstanden, worum es eigentlich geht.
Auch wir von den Grünen haben heute einen Antrag
eingebracht. In unserem Antrag haben wir Ihnen dargestellt, welche Möglichkeiten es gibt. Wir setzen in unserem Antrag die richtigen Prioritäten. Wir brauchen eine
bessere Infrastruktur; wir brauchen Qualität in den Einrichtungen. Wir brauchen eine Politik für Kinder, für
Aufwachsende, für Familien, für diejenigen, die in diesem Land Verantwortung übernehmen. Ihre Politik verfehlt diese Ziele.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaela Noll von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! „Mit fairen Chancen Kinder stark
machen“, so lautet der Titel unseres Antrages. Für mich
bedeutet das, jedem einzelnen Kind Chancen zu geben,
seine Probleme zu verstehen und die Kinder zielgerichtet
zu fördern.
Frau Kollegin Gruß, jetzt muss ich Sie gleich einmal
ansprechen. Ich werde Ihnen jetzt erläutern, dass unsere
Bilanz nach einem Jahr recht gut aussieht. Im
Zwölften Kinder- und Jugendbericht wurde deutlich angemahnt, dass zu viele Kinder die Schule ohne Abschluss verlassen und damit keine Perspektive haben.
Dazu zählen wir gerade die Gruppe der sogenannten harten Schulverweigerer. Was sind denn Schulverweigerer? Das sind Kinder, die frühzeitig in der Schule versagen und den Schulbesuch ganz verweigern. Diese
sogenannte Null-Bock-Generation hat angeblich keine
Lust auf Schule und Leistung. Nach den Angaben der
Experten sind das 1 bis 2 Prozent der Kinder.
Für diese Schulverweigerer möchte ich an dieser
Stelle eine Lanze brechen. Wer sich einmal mit diesen
Jugendlichen beschäftigt und ihnen zugehört hat, weiß,
dass es sich zum größten Teil nicht um eine Null-BockGeneration handelt. Dies sind Jugendliche, die unsere
Hilfe brauchen. Zum Teil haben sie einen Migrationshintergrund. Zum Teil kommen sie aus Risikofamilien mit
massiven sozialen Problemen, wo Alkohol und Drogen
oftmals den Alltag der Eltern bestimmen. Andere hingegen leiden unter Mobbing. Mittlerweile werden 10 bis
15 Prozent der Kinder Opfer von Mobbing. Sie werden
in der Schule gehänselt, gedemütigt und bloßgestellt.
Diesem Psychoterror sind sie nicht gewachsen. Sie verlieren Kraft und die Lust an der Schule.
Jetzt bekommen sie mit dem Bundesprogramm „Die
2. Chance“ endlich Hilfe.
({0})
74 Standorte sind vorgesehen. Man setzt auf eine verstärkte Vernetzung. Die betroffenen Jugendlichen werden zurück in die Schulen gebracht und bekommen eine
zweite Chance auf einen Abschluss.
Ein solches Projekt gibt es bei mir im Wahlkreis. Seit
sieben Jahren kümmert man sich um solche Jugendlichen. 82 Prozent dieser Jugendlichen kehren zurück in
die Schule. Ich glaube, das ist eine wirklich gute Bilanz.
Frau Ministerin, Ihr Projekt heißt zwar „2. Chance“;
aber für diejenigen Kinder, mit denen ich gesprochen
habe, war es oftmals die erste Chance, aus dem Teufelskreis der Perspektivlosigkeit herauszukommen. Sehen
Sie, Frau Gruß, allein dieser Punkt ist sehr wichtig.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Wenn
wir von fairen Chancen sprechen, müssen wir auch die
Problematik der Jungen in unserer Gesellschaft bedenken. Bereits in der letzten Legislaturperiode hatte ich
dazu eine Kleine Anfrage mit dem Titel „Verbesserung
der Zukunftsperspektiven für Jungen“ gestellt. Angesichts der Ergebnisse können wir, glaube ich, zum Teil
sagen: Die Jungen entwickeln sich zu unseren Sorgenkindern. Die Jungen haben eine schlechtere Lern- und
Lesekompetenz. Die Jungen brechen doppelt so oft die
Schule ab. Die Jungen entwickeln drei- bis viermal so
häufig Verhaltensauffälligkeiten. Bei den Jungen sprechen wir auch mehr von Medienverwahrlosung. Gerade
dieses Problem wird von Experten darauf zurückgeführt,
dass den Jungen in ihrer frühkindlichen Entwicklung
männliche Rollenbilder fehlen. Auch dies bestätigte
Professor Rauschenbach in der Anhörung zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht. Er sagte: „Es ist ein
Drama, dass zunehmend Kinder bis zum 10. Lebensjahr
in männerfreien Zonen aufwachsen.“ Wie können wir
hier gegensteuern, um diesen Jungs eine faire Chance zu
bieten? Notwendig sind mehr Elternkompetenz, vor allem aber auch mehr männliche Bezugspersonen in der
Erziehung und Betreuung.
Sie, Frau Ministerin, gehen dieses Problem mit dem
Pilotprojekt „Neue Wege für Jungs“ aktiv an. Damit
werden den Jungen neue Wege für ihre Berufs- und Lebensplanung aufgezeigt. Damit erhöhen sich auch die
Chancen, dass sich mehr Jungen für erzieherische und
soziale Jobs entscheiden. Frau Ministerin, Sie haben den
Anfang gemacht. Ich habe in einem Gespräch mit Minister Laschet aus Nordrhein-Westfalen, meinem Bundesland, festgestellt, dass auch er Handlungsbedarf sieht.
An dieser Stelle möchte ich auch der FDP ein Kompliment machen: Die Forderung nach mehr männlichen Erziehern ist der richtige Weg.
Kollegin Ekin Deligöz hat eben kurz zu Frau Golze
Stellung genommen. Vor allem ihr Eingangsstatement
kann ich voll und ganz unterschreiben. Wer im Glashaus
sitzt, wer in Berlin in der Regierung sitzt, sollte nicht mit
Steinen schmeißen,
({1})
wenn es darum geht, sich auf finanzielle Leistungen zu
beschränken. Geld allein wird nichts bringen. Das hat
auch Professor Rauschenbach festgestellt.
Kinderarmut muss man auch unter dem Aspekt der
Arbeitslosigkeit der Eltern sehen. Dass im letzten Jahr
viele Menschen in Arbeit gekommen sind - das ist unsere Bilanz -, hilft den Familien und kommt den Kindern zugute.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen von der
Opposition, ich habe mich auch mit Ihren Anträgen beschäftigt. Darin erwähnen Sie nicht mit einem einzigen
Wort das zunehmende Engagement der älteren Generation für unsere Kinder. Alle wissen - damit trete ich sicherlich keinem zu nahe -: Wir sind mittlerweile ein
Land der Silberfüchse.
Vergangenen Mittwoch war Herr Professor Kruse, der
Vorsitzende der Altenberichtskommission, bei uns im
Ausschuss zu Gast; er stellte den Altenbericht vor. Er betonte dabei inständig, dass wir auf die Potenziale der älteren Generation setzen sollten.
Die Gesellschaft muss sich von dem Altenbild verabschieden, das leider auch zum Teil über die Medien
transportiert wird. Alter bedeutet nicht nur Demenz,
Pflege oder Heim. Es gibt „junge Alte“, die sich gerne
aktiv einbringen würden. Wir müssen den älteren Menschen optimale Rahmenbedingungen zur Förderung von
Kindern und Jugendlichen bieten.
({3})
Nur so schaffen wir ein gutes Klima für einen generationenübergreifenden Zusammenhalt.
Es gibt mittlerweile Vorlesepaten in Kindergärten und
die „Seniorpartners in School“, die Mobbingopfern oder
benachteiligten Jugendlichen helfen. Auch diesen Aspekt hätten Sie in Ihren Anträgen erwähnen können.
Ferner setzen wir uns für den weiteren Ausbau von
Mehrgenerationenhäusern ein. Es gibt bereits 200 dieser Häuser, und wir sind auf einem guten Weg. Ich
denke, die nächsten 263 werden zügig auf den Weg gebracht.
Gerade im vergangenen Jahr wurden sehr viele schockierende Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung bekannt. Die jüngste Kriminalitätsstatistik spricht von 175 Fällen. Fast jede Stadt hat
solche Fälle; die Namen sind austauschbar. Deshalb plädieren wir für ein Frühwarnsystem, um Risikofamilien
zu unterstützen. Wir müssen hier keine Diskussion über
verbindliche oder verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen führen. Neue Untersuchungen alleine werden wahrscheinlich nicht zielführend sein. Ich plädiere vielmehr
dafür, beim Alltag der Familien anzusetzen und die Risikofamilien tatkräftig zu unterstützen. Ich nenne das
„Prävention ab Nabelschnur“. Es muss unser Ziel sein,
die Familien bzw. die Elternkompetenz zu stärken, damit
sie den Alltag bewältigen können.
({4})
Es gibt eine Gruppe von Risikofamilien, auf die ich
die Aufmerksamkeit lenken möchte, und zwar psychisch kranke Eltern und ihre Kinder. Wussten Sie,
dass es in Deutschland 500 000 Kinder gibt, bei denen
ein Elternteil an einer manischen Depression oder Schizophrenie leidet? Wussten Sie, dass diese Kinder ein
deutlich erhöhtes Risiko haben, selbst daran zu erkranken?
Die Eltern sind oftmals in Therapie. Um die Eltern
kümmert man sich. Aber daran, dass es für die Kinder
besonders schwierig ist, in diesem Lebensumfeld aufzuwachsen, denken wenige. Diese Kinder brauchen unsere
Hilfe.
Es gibt Projekte wie „KIPKEL“ in Nordrhein-Westfalen, die sich ausschließlich um die Unterstützung von
Kindern psychisch kranker Eltern kümmern und ihnen
damit helfen, das Leben mit ihren kranken Eltern zu bewältigen. „KIPKEL“ hat in den vergangenen acht Jahren
rund 700 Kinder im Kreis Mettmann begleitet. Diese
Kinder sind auf dem richtigen Weg. Solche Projekte
brauchen wir.
Uns darf kein Kind verloren gehen. Deshalb brauchen
alle Kinder faire Chancen, und zwar von Anfang an.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der
FDP-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Vorab eine Bemerkung:
Frau Humme, eine Diskussion über einen Regierungsbericht, bei der erst am Schluss die Ministerin spricht, ist
parlamentarisch unverschämt und ohne Stil.
({0})
Wir haben heute eine Menge guter Vorschläge und
Anregungen gehört, aus denen hervorgeht, wie wir die
Situation der Kinder in Deutschland verbessern können.
Viele dieser Ansätze unterstützt die FDP grundsätzlich.
Zwei Punkte fallen mir bei dieser Debatte allerdings auf.
Erstens. An keiner Stelle haben heute die Parlamentarier
von SPD und CDU/CSU uns erklären können, wie kostenlose Kindergartenplätze geschaffen werden sollen
und wie der Rechtsanspruch auf eine frühe Kinderbetreuung verwirklicht werden soll. SPD und CDU/CSU
sowie die Familienministerin haben in der Öffentlichkeit
Versprechungen gemacht, die bislang - das stelle ich
hier für die Opposition fest - nicht eingehalten wurden.
Wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen haben nicht
Wünsche zu formulieren, sondern konkrete Vorschläge
zu machen, die in der Realität umgesetzt werden können.
Frau von der Leyen, wichtig ist daher, mehr als bisher
mit den Bundesländern und den Kommunen zusammenzuarbeiten. Wir haben Ihnen schon recht frühzeitig den
Vorschlag gemacht, einen Kinderbetreuungsgipfel einzuberufen, um zu sehen, wie man gemeinsam die Kinderbetreuung finanzieren kann. Das geht nur im Dreiklang
aus Bund, Ländern und Kommunen.
Zweitens. Unbestritten ist, dass es Aufgabe des Staates ist, Eltern Unterstützung zu geben und das Kindeswohl zu gewährleisten. Wir, die Opposition, werden sehr
aufmerksam verfolgen, ob Sie mit Ihrer großen Mehrheit
allen Kindern in der Bundesrepublik Deutschland gleiche Chancen eröffnen. Das ist eine nie endende Aufgabe.
({1})
Bildung, Betreuung und Erziehung sind in den ersten
Lebensjahren eines Kindes vorrangig Aufgabe der Eltern. Wir Liberale fordern deshalb die Bundesregierung
auf, alles daran zu setzen, damit Eltern und Kinder die
Freiheit haben, ihr Leben so zu gestalten, dass es gut gelingt. Die FDP fordert als Oppositionsfraktion deshalb
erstens die vollständige Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten - bislang müssen erwerbstätige Eltern einen
Teil dieser Kosten privat finanzieren -, zweitens Nachbesserungen beim Elterngeld - die Bundesregierung hat
nun quasi durch die Hintertür, über Änderungen beim
BAföG zugunsten von Studentinnen mit Kindern, sehr
viel angekündigt; es wird interessant sein, zu sehen, ob
sie unserem schon lange vorliegenden Antrag auf ein
Baby-BAföG folgen wird - und drittens die Umsetzung
aller Ihrer Versprechen. Das können Sie von der Großen
Koalition; denn Sie haben eine Mehrheit von 73 Prozent
im Deutschen Bundestag.
({2})
- Nein. Ich habe drei Minuten Redezeit. Frau Gruß hat
eine Minute weniger geredet.
Nutzen Sie Ihre Mehrheit, um Deutschland zu einem
kinderfreundlichen Land zu entwickeln! Wir, die Opposition, werden konstruktive Vorschläge machen und Sie
vielleicht manches Mal zum Jagen tragen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Kucharczyk
von der SPD-Fraktion.
({0})
Mit der Idee der beitragsfreien Kitas schaffen wir
Chancengleichheit im Bereich der Kinderbetreuung. Das
geht einher mit unserem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und ist die logische Fortführung unserer in der
letzten Legislaturperiode begonnenen zukunftsgewandten Familienpolitik.
({0})
Denn eines ist mehr als deutlich: Zur heutigen Kinderbetreuungsrealität gehören meist zwei arbeitende Erziehungsberechtigte oder Alleinerziehende, die auf eine
funktionierende Kinderbetreuung angewiesen sind. Aber
auch Familien, die, aus welchen Gründen auch immer,
mit der Erziehung überfordert sind, greifen wir damit
unter die Arme. Wir geben damit den Kleinen die notwendige Starthilfe für das Leben.
({1})
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht lässt hier
keine Zweifel aufkommen: Bereits die Jahre in der Kita
oder im Kindergarten sind wichtige Entwicklungs- und
Lehrjahre frühkindlicher Bildung, ohne die eine geradlinige Schul- und Berufsausbildung erschwert wird. In
den ersten Lebensjahren werden nach heutigen Erkenntnissen die wichtigsten Weichen für die Zukunft eines
Menschen gestellt. Fördern und Fordern ist daher auch
für die Kleinsten unserer Gesellschaft das richtige Mittel. Sprachliche und musische Bildung sowie die Kommunikation mit Gleichaltrigen sind später nur schwer
oder mit viel Aufwand zu erlernen.
Ich unterstütze ausdrücklich die sukzessive Beitragsfreistellung der gesamten Kitazeit, wie der SPD-Parteivorstand in Bremen vorgeschlagen hat. Beginnend mit
dem letzten Kitajahr werden wir uns schrittweise vorarbeiten und in den nächsten Jahren hoffentlich eine
durchgängige gebührenfreie vorschulische Bildungsund Betreuungseinheit im Bundesgebiet geschaffen haben.
({2})
Die Struktur für eine frühkindliche Bildung für alle
muss Vorrang haben gegenüber weiteren direkten Leistungen an Familien. Im Sinne eines stimmigen Gesamtkonzeptes ist es auch wichtig, die Förderung von
Ganztagsschulen nicht aus den Augen zu verlieren.
Hier hat die rot-grüne Regierung mit ihrem Projekt der
offenen Ganztagsschule bereits in der letzten Legislaturperiode den Einstieg in ein sich als richtig bewährendes
Programm gemacht. Es lässt das Fazit zu: Die
4 Milliarden Euro Steuergelder sind an dieser Stelle in
unsere Kinder- und Enkelgeneration sehr gut investiert.
({3})
Denn die zukünftigen Generationen haben ein Recht auf
echte Chancengleichheit, und wir wollen und brauchen
mehr erfolgreiche Bildungsbiografien. Das ist nicht zuletzt ein zentraler Punkt im Zwölften Kinder- und
Jugendbericht. Wir haben die Aufgabe, unseren Nachkommen unabhängig von Bildung und finanzieller Unterstützung des Elternhauses einen guten Start in ein eigenständiges Leben zu bieten. Es liegt an uns, ob diese
Bildungsförderung ein Erfolg oder ein Misserfolg wird.
Dazu gehört auch die Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen Eltern
und Schüler im Umgang mit den Medien sensibilisieren,
um eine verantwortungsvolle Nutzung sicherzustellen.
Wir dürfen die Medienkompetenz unserer Kinder und
Enkel auch im Hinblick auf ihre spätere Berufslaufbahn
nicht unterschätzen. Der korrekte Umgang mit elektronischen Medien gehört heutzutage schon zur Basisqualifikation. Im Kindergarten oder in der Kita muss damit begonnen werden, die Kinder medienbewusst zu erziehen,
am besten schon zu Hause. Die heutigen Untersuchungsergebnisse sagen klar: Zu viel Fernsehen, Computerspiele und Spielkonsolen in den ersten acht Lebensjahren von Kindern erschweren die Entwicklung von
Aufnahmefähigkeit, Eigenständigkeit und Kreativität.
({4})
Der vermeintliche Mangel an Zeit der Eltern für Zuwendung und Aufmerksamkeit für die Kinder darf nicht dazu
führen, dass Eltern aus Bequemlichkeit ihre Kinder vor
dem Fernseher oder der Spielkonsole ruhigstellen. Das
ist eine gefährliche Entwicklung.
Richtig ist aber auch, dass ab dem Grundschulalter
neben dem Fernsehen auch die Musikmedien und Computer, darunter auch das Internet, an Bedeutung gewinnen. Die Medien dienen jungen Menschen - hier zitiere
ich den Zwölften Kinder- und Jugendbericht - „als Fundus für Orientierung im Hinblick auf die Persönlichkeits- und Lebenskonzepte“, gleichzeitig als „Wissensund Informationsquellen“ und „für den Erwerb von
Kompetenzen“. Verbote oder eine regelrechte Verteufelung der neuen Medien dienen der Sache, wie wir wissen, nicht.
({5})
Ob ein direktes Verbot von sogenannten Killerspielen
den Erfolg bringt, den wir uns wünschen, müssen wir
dringend diskutieren.
Wichtig ist, unsere Gesetze - etwa § 131 Strafgesetzbuch - konsequent zu nutzen, das Jugendschutzgesetz
und die Regelungen im Mediendienste-Staatsvertrag zu
verschärfen, Missbrauch zu bestrafen und bei der Kennzeichnung der Altersstufen deutlicher - also für jeden
Laien erkennbar - Signale zu setzen. Spiele, die dadurch
auffallen, dass virtuell Blut spritzt oder dass virtuell
Menschen massakriert werden, sollten weder konzipiert
noch hergestellt werden dürfen. Was zur Vorbereitung
von Soldaten auf terrorbekämpfende Einsätze oder friedenssichernde Maßnahmen durchaus Sinn macht, sollte
nicht mit Spielen für die Freizeit gleichzusetzen sein.
Der Koalitionsvertrag zeigt eigentlich all das auf, was
wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren im Interesse der Kinder auf den Weg bringen müssen. Ich
glaube, wir haben hier die Perspektive, das anzupacken,
was in diesem Land im Sinne der Kinder notwendig ist.
Wir lehnen die Anträge der Opposition ab.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über die Politik für Kinder und Jugendliche. Wenn
man es genau betrachtet, stellt man fest, dass das inzwischen leider eine Politik für eine Minderheit geworden
ist: In nur noch 25 Prozent der Haushalte in Deutschland
leben minderjährige Kinder. Lassen Sie mich vor der
Abschlussbetrachtung dieses Kinder- und Jugendberichtes drei Gedanken über das, was in dieser Debatte gesagt
worden ist, äußern.
Zunächst einmal begrüße ich, dass in dieser Debatte
immer wieder ein Gedanke geäußert worden ist - er zog
sich wie ein roter Faden durch die Diskussion -: Das,
was wir heute in unsere Kinder investieren, ist entscheidend dafür, wie dieses Land in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Dann werden wir, die wir heute handeln, die
große Masse der älteren Bevölkerung stellen. Wir sind
uns also über Folgendes bewusst: Wenn weniger Kinder
geboren werden - diese Kinder werden voraussichtlich
mehr leisten müssen als unsere Generation -, dann ist
das Mindeste, dass wir ihnen optimale Startbedingungen schaffen. Optimale Startbedingungen heißt: Bildung, aber auch emotionale Wärme und Stabilität.
({0})
Mein zweiter Gedanke bezieht sich auf den Aufbau
dieses Kinder- und Jugendberichts. Zunächst einmal beleuchtet dieser Bericht zu Recht die Frage, was wir für
alle Kinder tun können, damit sie einen möglichst guten
Start und möglichst gute Rahmenbedingungen haben. Im
Blickpunkt stehen zusätzlich diejenigen Kinder, die es
besonders schwer haben, die eine besondere individuelle
Zuwendung und eine besondere individuelle Förderung
brauchen. Das heißt, es gibt eine große allgemeine Debatte, und es zeichnet sich eine spezielle Debatte ab. Da
dies alles im Rahmen einer föderalen Ordnung geschieht, sind die Verantwortlichkeiten unterschiedlich
angesiedelt.
Ich finde es gut und wichtig, dass wir die Diskussion
nicht dahin gehend zersplittern, dass jeder sich auf seinen eigenen Verantwortungsbereich konzentriert. Vielmehr bemühen wir uns, die Diskussion ganzheitlich zu
führen; schließlich sollte der Ansatz für Bildung, Erziehung und Förderung von Kindern ganzheitlich sein.
Mein dritter Gedanke bezieht sich ebenfalls auf diesen Kinder- und Jugendbericht. Durch die Debatte zog
sich wie ein weiterer roter Faden: dass wir die Entwicklung von Kindern im Lebensverlauf betrachten müssen. In den jeweiligen Phasen sind unterschiedliche
Dinge wichtig und rücken daher in den Vordergrund.
Das heißt, Bildung, Betreuung und Erziehung sind keine
voneinander getrennten, sondern ineinandergreifende
Prozesse. Kinder lernen nicht erst an der Schultür, sondern insbesondere in den Jahren vorher. Umgekehrt: Erziehung, auch die durch das Elternhaus, hört nicht an der
Schultür auf, sondern geht nahtlos weiter.
Dieser Bericht macht sehr deutlich, dass wir lernen
müssen, innerhalb der föderalen Ordnung immer wieder
Grenzen zu überwinden. Die Bundesregierung unterstützt diese grundlegende Richtung. Ich möchte vorweg
sagen: Es gibt unendlich viel zu tun. Ich denke, es ist
müßig, über verschüttete Milch, also über das, was in der
Vergangenheit nicht geschehen ist, zu klagen. Unsere
Aufgabe besteht vielmehr darin, nach vorne zu schauen
und klarzustellen, was wir vor dem Hintergrund dessen,
was wir inzwischen wissen, in Zukunft tun können. Es
gibt auch eine Reihe von Forderungen der Sachverständigenkommission, deren Umsetzung sich bereits in unserer heutigen Politik widerspiegelt.
Der erste Bereich sieht vor, junge Familien von Anfang an finanziell wirksam zu fördern. Hierbei ist das
Elterngeld, das klar in der Bundesverantwortung liegt,
ein ganz großer Meilenstein und Baustein eines nachhaltigen, ganzheitlichen Konzeptes gewesen.
({1})
Es hat vor allem zum ersten Mal dazu geführt, dass
junge Familien bei der Familiengründung nicht als allererstes eine finanzielle Achterbahn, sondern insbesondere
den Rückhalt der Gesellschaft erleben.
Aber - jetzt kommt wieder der schmale Fokus auf die
Kinder, die es besonders schwer haben - es gibt eben
auch Eltern, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder
kümmern, und zwar von Anfang an nicht.
In diesem Bereich hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr ganz konsequent gehandelt. Wir haben
drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule ist das Nationale
Zentrum Frühe Hilfen, das wir eingerichtet haben und
in dem wir Wissenschaft - die wir brauchen, um mehr zu
lernen - und Praxis - was heute im Land läuft - zusammenführen.
Auch die zweite Säule ist im letzten Jahr wichtig gewesen; wir haben geschaut: Wo gibt es Leuchtturmprojekte in der kommunalen Arbeit von Jugendhilfe und
Gesundheitswesen, bei denen ein Netz um diese Kinder
geknüpft wird? Wo gibt es weiße Flecken auf der Landkarte? Vor allem musste geprüft werden - dieser Bericht
ist kurz vor dem Abschluss -, wie man diese Leuchtturm- oder Modellprojekte, die hervorragend funktionieren, in der Bundesrepublik so übertragen kann, dass die
weißen Flecken gefüllt werden.
Schließlich haben wir im letzten Jahr gelernt, dass wir
Wissenslücken haben. Daran wird niemand zweifeln.
Diese Wissenslücken aufzuarbeiten, ist die Aufgabe der
Modellprojekte, die die Bundesregierung inzwischen angestoßen hat. Das heißt, meine Damen und Herren, wir
sind beim Ausbau eines Frühwarnsystems einen ganz
großen Schritt vorangekommen. Jetzt heißt es, dieses
nachhaltig voranzutreiben.
({2})
Der zweite Aspekt, den ich beleuchten möchte, ist der
Lebensverlauf. Wie ich bereits ausgeführt habe, sind wir
beim Thema Elterngeld einen großen Schritt vorangekommen. Das betrifft das erste Lebensjahr des Kindes.
Dann kommt die Phase, in der die Kinder andere Kinder
brauchen. Ich begrüße es, dass die Debatte um die Themen Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung in
unserem Land so dominant geworden ist. Das gibt der
ganzen Sache einen enormen Schub.
Wir wissen, dass wir viel zu tun haben, dass wir, international gesehen, einen enormen Nachholbedarf haben. Wir wissen auch, dass wir vor allem vier verschiedene Aufgaben gleichzeitig angehen müssen. Wir
müssen die Kinderbetreuung ausbauen, insbesondere für
unter Dreijährige. Wir müssen die Kinderbetreuung flexibilisieren, das heißt, flexiblere Öffnungszeiten und
dergleichen ermöglichen. Wir müssen die innere Qualität der Kinderbetreuung verbessern - Stichwort: frühkindliche Bildung -, und wir wollen den Elternbeitrag
senken, das heißt, den Anteil der öffentlichen Hand erhöhen.
Das sind gewaltige Aufgaben. Genau deshalb - damit
komme ich wieder auf die föderale Ordnung zu sprechen sollte sich jeder an seinem Ort fragen, was er tun kann:
Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Akteure
der Gesellschaft. Das heißt, Politik, aber auch der private
Sektor und die Wirtschaft sind gefragt, diese entscheidende Aufgabe gemeinsam voranzubringen.
Lassen Sie mich ganz kurz einen Blick darauf werfen,
was sich in der jüngsten Zeit beim Ausbau der Kinderbetreuung getan hat. Wir haben einen entsprechenden
Bericht im Sommer vorgelegt. Wir haben jetzt für jedes
siebte Kind einen Platz. 2002 hatten wir nur für jedes
zehnte Kind einen Platz. Das ist ein niedriges Niveau,
aber das zeigt, dass sich etwas tut.
Jede dritte Kommune will ihr Ziel, die Kinderbetreuung auszubauen, vor 2010 erreicht haben. 90 Prozent der
Kommunen planen - Stichwort: Vielfalt - beim Ausbau
der Kinderbetreuung, auch das Angebot an Tagesmüttern zu verbessern.
Damit komme ich auf folgenden Punkt zurück: Wo
kann die Bundesregierung innerhalb der föderalen Ordnung flankierend zur Seite stehen? Wir haben den privaten Sektor gestärkt, indem wir die Möglichkeiten zur
Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und Kosten
von haushaltsnahen Diensten deutlich verbessert haben.
Damit entsteht ein Netz der legalen Angebote im privaten Sektor. Das ist eine Säule.
Wir haben seitens der Bundesregierung, um die Kommunen zu begleiten, für den Sommer ein ESF-Programm
zur Qualifizierung von Tagesmüttern auf den Weg gebracht, um Qualität in den Ausbau des Netzes von Tagesmüttern zu bringen.
Zum Thema Verantwortung der Wirtschaft, die
auch ein Interesse daran hat, dass die Kinderbetreuung
ausgebaut wird: Die Bundesregierung wird ab Sommer
ein Programm zur Anschubfinanzierung von betrieblicher Kinderbetreuung auf den Weg bringen, um auch
diese Säule zu stärken.
Mit anderen Worten: Obwohl die primäre Verantwortung nicht bei der Bundesregierung liegt, sagen wir: Dieses Thema ist so wichtig, dass wir dies, wo immer wir es
können, mit klugen Instrumenten begleiten. Dies ist auch
der richtige Weg.
({3})
Ein ganz kleiner Einschub, Frau Deligöz, zu dem
Thema: frei werdende Mittel wegen des Geburtenrückgangs. Ich hatte formuliert, dass die 4 Milliarden Euro,
die im Jahr 2008 frei werden - das bezieht sich auf
Schule und Hochschule -, in diesen Segmenten bleiben
müssen. Das ist meine Hauptforderung, zum Beispiel
zum Ausbau der Ganztagsschule. Ich habe weiter gesagt:
Das betrifft nicht die ebenfalls zunehmend frei werdenden Mittel für den frühkindlichen Bereich; die Zahlen
dazu liegen im Augenblick nicht vor.
Lassen Sie mich einen Blick auf eine etwas spätere
Phase im Lebensverlauf werfen. Es ist ja ein Bericht
über Kinder und Jugendliche - auch dieses Thema ist
wichtig. Weil das dankenswerterweise schon von Frau
Noll und Herrn Kucharczyk sehr stark in den einzelnen
Schwerpunkten beleuchtet worden ist, möchte ich nur
sagen: Auch hierbei geht es für uns als Bundesregierung
vor allem darum, zu schauen: Wo sind Kinder, die spezifischen Hilfebedarf haben, die sozial benachteiligt sind
und die individuelle Förderung brauchen? Insofern ist
die Forderung des Kinder- und Jugendberichts erfüllt
durch die Jugendmigrationsdienste, durch das Programm
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“, durch den Ausbau der Kompetenzagenturen, die für die betreffenden
Kinder vor Ort ganz passgenau individuelle Lösungen
suchen. Freie Träger handeln da Hand in Hand mit der
Schule, mit dem Elternhaus und mit den Jugendämtern.
Unser Ziel ist es, den Bildungsweg der Kinder - damit meine ich nicht nur die intellektuelle Förderung,
sondern auch die Herzens- und Charakterbildung der
Kinder - von Anfang an ganzheitlich zu betrachten. Wir
müssen insbesondere den Blick auf die Kinder schärfen,
die aus sozial benachteiligten Familien kommen. Dies
alles geschieht vor dem Hintergrund, dass wir wissen: Es
kommt auf den Anfang an. Heute machen wir den Anfang dafür, wie wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht
von der SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir debattieren schon seit 9 Uhr, seit
Beginn der heutigen Plenarsitzung, den Zwölften Kinder- und Jugendbericht. Es ist nicht sehr häufig, dass wir
die Kinder- und Jugendpolitik in der Kernzeit behandeln. Heute bringen wir damit zum Ausdruck, dass uns
Marlene Rupprecht ({0})
die Themen der Kinder- und Jugendpolitik zunehmend
wichtiger sind.
Den Zwölften Kinder- und Jugendbericht hat die Ministerin schon am 9. März 2006 eingebracht, Frau
Lenke; sie war die erste Rednerin. Wir debattieren heute
den Bericht nur noch insofern, als er durch die Anträge
berührt wird.
({1})
Nachdem wir heute so viel darüber gehört haben, was
alles gemacht wurde und was dieser Bericht auslöst,
möchte ich einen Aspekt aufnehmen, der zum Teil schon
in den Reden der Kolleginnen angesprochen worden ist.
Ich möchte die Bildung, Betreuung und Erziehung
aus Sicht der Kinder ganz besonders in den Fokus nehmen.
Wir haben diesbezüglich eine sehr erwachsene Sicht.
Wir investieren. Wir geben Geld. Wir machen beitragsfrei. Fragen Sie mal einen Zweijährigen, was für ihn eine
Investition ist! Geld, Beitragsfreiheit, das kennt er nicht.
Ein Kind, das zur Welt kommt, braucht als Allererstes
die Erfahrung, dass seine Grundbedürfnisse befriedigt
werden und dass es ernst genommen wird.
({2})
Was hat das mit Bildung, Betreuung und Erziehung
zu tun? Sehr viel! Das Kind muss in dieser Phase erfahren, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden.
Wenn es schmusen will, muss es an den Körper genommen werden. Wenn es schreit, wenn es Schmerzen hat,
wenn es Hunger hat, wenn es gewickelt werden will,
muss es ernst genommen werden. Was hat das mit Bildung zu tun? Die Pädagogen haben schon früher gesagt:
Das hat etwas damit zu tun, dass eine Persönlichkeit sich
entwickelt. Heute weiß man aus der Hirnforschung - die
Pädagogen werden ja nicht immer so ernst genommen -,
dass dies ganz wichtig ist, um das Gehirn zu entwickeln,
um es für Erfahrungen zu öffnen.
({3})
Deshalb ist es wichtig, dass wir Bildung, Betreuung und
Erziehung früh verzahnen. Kinder sind nämlich bereit,
diese Welt anzunehmen.
Wir wollen die Entfaltung der Persönlichkeit. Das
steht im Grundgesetz, ist ein UN-Kinderrecht und in der
EU-Grundrechtscharta enthalten. Für eine Demokratie
ist es ganz wichtig, dass in ihr verantwortungsbewusste,
selbstständige Menschen heranwachsen. So können sie
aber nur werden, wenn wir ihnen Bildung im weitesten
Sinne zukommen lassen.
({4})
Manchmal sind Eltern überfordert. Dann müssen wir
sie - das ist die öffentliche Verantwortung - unterstützen; manchmal mit Geld - das geht aber an die Eltern
und nur mittelbar an die Kinder -, manchmal durch Verbesserung der Rahmenbedingungen, der Strukturen
- durch Schaffung von Einrichtungen -, und manchmal
durch nachbarschaftliche Hilfe - indem man zum Beispiel sagt: Ich merke, dass du nicht zum Schlafen
kommst, weil dein Kind gerade zahnt; ich fahre einmal
eine Stunde mit ihm spazieren. Auch das ist Hilfe. Diese
Form der Hilfe haben wir schon ganz vergessen. Wir rufen immer nach der großen Hilfe.
({5})
Was brauchen Kinder noch? Sie brauchen nicht nur
Erwachsene, die ihnen Nähe und Nahrung geben, sie
brauchen auch eine Umwelt zum Entdecken. Das heißt,
dass der Raum, in dem sie aufwachsen, für sie interessant sein muss. Sie müssen die Welt entdecken können
und sollen dabei nicht immer eingeschränkt werden. Die
Kinder kommen nämlich neugierig zur Welt. Wenn die
Kinder dann in die Schule kommen, erschrecken wir
manchmal, weil sie so abgestumpft sind. So sind sie aber
nicht auf die Welt gekommen. Wir haben sie dazu gemacht. Deshalb sage ich: Lasst sie die Welt entdecken.
Kinder brauchen andere Kinder. Demokratie braucht
streitbare, aber auch kompromissbereite Menschen, die
bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das lernen
sie nur im Umgang mit anderen Kindern. Erwachsene
nehmen nämlich häufig - wenn sie vernünftig sind sehr viel Rücksicht. Ein Kind weiß nicht, dass es Erfahrungen mit Interessenausgleich machen muss. Es muss
die Erfahrung vom Ich zum Du machen. Wenn das Kind
merkt, dass außer ihm noch jemand das Spielzeug haben
möchte, kommt es zum Streit. Die Mutter gibt ihm das
Spielzeug zurück, ein anderes Kind streitet aber mit ihm
darum. Weil all das im Gehirn abläuft, hat es mit Bildung zu tun. Genau dort wird sie nämlich verankert.
Wir brauchen gute Rahmenbedingungen. Wir brauchen - das ist vorhin schon gesagt worden - Erzieherinnen, die qualifiziert sind. Ich sage nicht, dass die jetzigen
es nicht sind. Ich sage nur, Sie müssen entsprechend vorbereitet werden. Die Zahl der Kinder in den Gruppen
darf nicht übermäßig groß sein. Wir brauchen qualifizierte Tagesmütter. All das brauchen wir, damit Kinder,
wenn sie in die Schule kommen - wir reduzieren Bildung immer auf den schulischen Bereich -, immer noch
neugierig sind.
Spätestens jetzt, in der Schule, müssen wir kapieren,
dass es um Chancengerechtigkeit geht, nicht um Chancengleichheit.
({6})
Ich mache Ihnen das einmal an einem Beispiel klar: Ich
bin 1,60 Meter groß. Der Herr Singhammer ist ein Großer.
({7})
- Ein Langer. Wenn wir Bananen so hoch aufhängen,
dass ich sie mit 1,60 Meter nicht erreichen kann, aber er,
kann mir zwar jeder sagen, dass sie in gleicher Höhe aufgehängt sind, mir ist das aber gleich. Klar, objektiv gesehen hängen die Bananen in derselben Höhe. Für mich ist
Marlene Rupprecht ({8})
es aber nicht gerecht, weil ich mit meiner Größe von
1,60 Metern ständig ins Leere greife, während er sie erreicht, weil er 20 Zentimeter größer ist.
({9})
- Genau. Das ist Solidarität. Gerecht wäre es aber, wenn
die Bananen meinen Fähigkeiten entsprechend aufgehängt würden. Das ist es, was ich meine. So muss Schule
gestaltet sein. Was machen wir?
({10})
- Genau. - Wir gehen davon aus, dass Kinder, wenn sie
in die Schule kommen, gleich in ihrem Entwicklungsstand sind, auch gleich groß - deswegen gleich große Tische - und gleich schnell lernen - deswegen werden sie
in 45 Minuten vertaktet unterrichtet. Kinder brauchen
aber eine individuelle Förderung, um ihre Fähigkeiten
entwickeln zu können.
({11})
Wenn wir dafür sorgen, entstehen im Bereich der Jugendhilfe auch nicht mehr die großen Kosten wie zurzeit, wo der Staat die Bananen für jeden Einzelnen herunterholen muss. Das wäre nicht notwendig, wenn wir
dafür sorgen würden, dass jeder eine Technik entwickeln
kann, um die Banane erreichen zu können, auch wenn
sie einmal höher hängt. Dann hätten wir nicht diese Ausfälle, die uns Sorgen machen. So aufgewachsene Kinder
werden verantwortungsbewusste und gute Eltern in der
nächsten Generation. Solche Eltern brauchen wir. Sie haben erfahren: Diese Gesellschaft will uns, sie nimmt uns
an und hat uns zu Beginn herzlich willkommen geheißen.
Ich möchte, dass dies in die Köpfe gelangt und dass
wir alles, was wir tun, auf Kindgerechtheit überprüfen.
Die Wirtschaft muss überlegen, ob es wirklich kindgerecht ist, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten zu lassen, und dass dafür Kinderbetreuung bis
24 Uhr angeboten wird. Der Wirtschaft würde das passen.
({12})
Ist das denn kindgerecht?
Wir müssen immer wieder kritisch hinterfragen, wie
wir Berufstätigkeit und Kinderbetreuung in Einklang
bringen. Hierbei ist insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention zu beachten, in der es heißt, dass bei allem,
was wir machen und was Kinder betrifft, das Wohl des
Kindes an erster Stelle stehen muss. Weil wir wollen,
dass die Gesellschaft in Deutschland das tut, kämpfen
die Kinderkommission und viele Mitstreiter darum, dass
wir dies explizit ins Grundgesetz schreiben. Die Kinderkommission ist dafür. Ich sehe im Saal lauter Befürworter, die sagen: Jawohl, das ist unser gemeinsamer
Appell, wenn es um Kinder- und Jugendpolitik geht.
Danke schön.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/3849. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des
Zwölften Kinder- und Jugendberichts auf Drucksache
15/6014 den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/827 zu dem genannten Bericht
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP zum Zwölften
Kinder- und Jugendbericht. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 16/4082? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend auf Drucksache 16/3849 fort. Unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in
Kenntnis des Zwölften Kinder- und Jugendberichts den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/2754 mit dem Titel „Öffentliche Verantwortung wahrnehmen - mit fairen Chancen Kinder stark
machen“ anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Zwölften Kinderund Jugendberichts den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/817 mit dem
Titel „Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und
Jugendliche in Deutschland“ abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/2077 mit dem Titel „Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten - Kinderarmut wirksam
bekämpfen“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport
- Drucksache 16/3712 Beschlussempfehlung und Bericht des Sportausschusses ({0})
- Drucksache 16/4077 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Detlef Parr
Katrin Kunert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte diejenigen, die dieser Aussprache nicht folgen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen der Debatte folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Christoph Bergner für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Vertragsgesetz, das Ihnen heute zur abschließenden Beschlussfassung vorliegt, hat das Übereinkommen gegen
Doping im Sport zum Gegenstand, das durch die
33. UNESCO-Generalkonferenz im Oktober 2005 einstimmig angenommen wurde.
Zur Inkraftsetzung dieses Übereinkommens bedarf es
der Ratifikation durch insgesamt 30 Mitgliedstaaten.
Dieser Fall ist im Dezember letzten Jahres bereits eingetreten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben 38 Staaten
dieses Abkommen ratifiziert.
Die Bundesrepublik Deutschland hat unmittelbar
nach der Annahme dieses Übereinkommens die notwendigen Schritte für eine rasche Ratifikation eingeleitet.
Dazu gehörten die Erstellung der deutschen Übersetzung, die in Abstimmung mit Österreich und der
Schweiz vorgenommen wurde, und die informatorische
Übersetzung der umfangreichen Anhänge, die ja größtenteils technische bzw. verfahrensleitende Regelungen
beinhalten. Außerdem hatten wir auch den föderalen Gesetzgebungsprozess zu beachten. Der Bundesrat hat am
24. November letzten Jahres beschlossen, gegen dieses
Gesetz keine Einwände zu erheben. Wir befinden uns
also gerade unter Berücksichtigung der besonderen Notwendigkeiten unserer föderalen Gesetzgebung, wenn das
Parlament diesem Gesetz heute zustimmt, bezüglich der
Schnelligkeit durchaus im vorderen Feld der ratifizierenden Staaten.
Doping ist ein weltweites Problem, das nur durch abgestimmtes internationales Zusammenwirken gelöst
werden kann. Mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens wird den Staaten erstmals ein weltweites Instrument für eine umfassende Dopingbekämpfung zur Verfügung stehen. Dieses Übereinkommen basiert auf dem
Übereinkommen gegen Doping des Europarates, das seit
1994 bei uns in Kraft ist, dessen Zusatzprotokoll, der
Kopenhagener Erklärung gegen Doping im Sport aus
dem Jahre 2003 sowie dem Welt-Anti-Doping-Code der
WADA, der im März 2003 unterzeichnet wurde.
Bisher war also das Europaratsübereinkommen das
einzige völkerrechtlich verbindliche Instrument gegen
Doping im Sport. Durch dieses Regelwerk einschließlich
Zusatzprotokoll wurden die Antidopingpolitik der Vertragsstaaten bereits in einem beträchtlichen Maße harmonisiert und die bestehenden Standards angehoben.
Der räumliche Geltungsbereich war allerdings auf die
46 Vertragsstaaten des Europarates begrenzt. Somit war
die jetzt vorliegende Ausarbeitung eines weltweit verbindlichen Übereinkommens geboten. Außerdem sollten
- auch dies ein besonderer Gesichtspunkt, der der Erwähnung bedarf - die für den Sport und die Antidopingorganisationen durch die Unterzeichnung des WADACodes geltenden Standards für die Dopingbekämpfung
auch auf staatlicher Ebene verbindlich gemacht werden.
Zweck des Übereinkommens ist
- so ist es im Vertragstext nachzulesen die Förderung der Verhütung und Bekämpfung des
Dopings im Sport mit dem Ziel seiner vollständigen
Ausmerzung.
Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die internationale
Zusammenarbeit der Vertragsstaaten untereinander und
mit den Sport- wie auch den Antidopingorganisationen
weiter verbessert und dadurch möglichst einheitliche
Standards für die internationale Dopingbekämpfung geschaffen werden.
Die Vertragsstaaten verpflichten sich aber außerdem
auch zu einer engeren internationalen Zusammenarbeit
mit Sport- und Antidopingorganisationen, um die
Bekämpfung des Dopings im Sport zu fördern. Das
Übereinkommen ermöglicht damit ein gemeinsames und
einheitliches Vorgehen von Staaten und Sportorganisationen im Kampf gegen Doping.
Deutschland hat sich den im Übereinkommen enthaltenen Verpflichtungen und Maßnahmen im Wesentlichen
bereits aufgrund der entsprechenden Europaratsübereinkommen gestellt. Es lag deshalb auch im deutschen Interesse, dass die erforderlichen Maßnahmen in allen Vertragsstaaten im erforderlichen Umfang und nach
grundsätzlich gleichen Maßgaben durchgeführt werden.
Die Bundesregierung hat deshalb an der Vorbereitung
und Erarbeitung des zur Abstimmung stehenden Übereinkommens maßgeblich mitgewirkt.
Meine Damen und Herren, wir verabschieden dieses
UNESCO-Übereinkommen zu einem Zeitpunkt, zu dem
aufgrund einer Vielzahl von Vorfällen die Diskussion um
eine effektivere Dopingbekämpfung erneut entbrannt
ist. Vor diesem Hintergrund entsteht natürlich die Frage,
was uns die UNESCO-Übereinkunft an zusätzlichen Impulsen auch für die bei uns zu entscheidenden politischen Fragen gibt. Dabei spielte auch bei der Beratung
im Ausschuss der Verweis auf den Wortlauf von Art. 8
Abs. 2 der UNESCO-Konvention eine wichtige Rolle.
Dort heißt es - ich zitiere -:
Die Vertragsstaaten ergreifen Maßnahmen beziehungsweise ermutigen die einschlägigen Stellen innerhalb ihres jeweiligen Hoheitsbereichs zur Ergreifung entsprechender Maßnahmen, um die
Anwendung und den Besitz verbotener Wirkstoffe
und Methoden durch Athleten im Sport zu verhüten
und einzuschränken.
Diese Vorschrift - wenn man den Wortlaut genau zur
Kenntnis nimmt - legt für uns nicht eine ganz bestimmte
Maßnahme - wie etwa die strafrechtliche Verfolgung
des Besitzes - gegenüber den Athleten fest.
({0})
Sie führt dazu, dass wir am Ergebnis dieser Maßnahmen
gemessen werden, dass aber die politische Diskussion
über den geeigneten Weg von uns hier zu leisten und zu
führen ist.
Wir wissen alle, jedenfalls diejenigen, die die Diskussion in der Vergangenheit begleitet haben, dass es in der
politischen Diskussion natürlich eine Kontroverse über
die Sinnhaftigkeit der Besitzstrafbarkeit für Sportler
gegeben hat. Ich hoffe nun sehr, dass diese Debatte mit
dem gestrigen Übereinkommen der Koalitionsfraktionen
auch für das weitere Gesetzgebungsverfahren - jedenfalls unter uns - entschärft werden konnte. Mit einer
Übereinkunft, die eine Strafbarkeit des Besitzes größerer
Mengen vorsieht, also von Mengen, die den Verdacht
nahelegen, dass die Mittel weitergegeben werden, und
die einen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz indizieren, könnte die Kontroverse der zurückliegenden Wochen ausgeräumt und überwunden werden.
({1})
Wir als Bundesregierung werden in dem Gesetzgebungsverfahren den Schwerpunkt unserer Arbeit auf die
Erweiterung der Ermittlungsmöglichkeiten von Strafverfolgungsbehörden legen, denn diese ist dringend erforderlich, was die Beispiele, die die Diskussionen der
letzten Wochen bestimmt haben, zeigen. Beispielsweise
wollen wir im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens
das Bundeskriminalamt damit beauftragen, als ermittelnde Behörde gegen internationale Dopingnetzwerke
vorzugehen. Wir hoffen, dass sich auch die Länder darauf verständigen können, Schwerpunktstaatsanwaltschaften einzurichten, die zu einer effektiveren Strafverfolgung des organisierten Dopings und der mafiösen
Dopingnetzwerke beitragen können.
({2})
Ich möchte ankündigen, dass wir schon in Kürze einen
entsprechenden Gesetzentwurf in das Parlament einbringen werden, der dann um den Kompromiss der Koalitionsfraktionen ergänzt werden kann.
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu einem Sachverhalt machen, der auch die Debatte im Ausschuss bestimmt hat und sogar zu einer Sondersitzung
des Sportausschusses führen wird. Ich meine einen Bericht der ARD, der die Effizienz des Kontrollsystems
- ich lege großen Wert darauf, dass es nicht um die Effizienz der Gesetzgebung, sondern um die Effizienz des
Kontrollsystems geht ({3})
zum Gegenstand hat. Über diesen Bericht werden wir
diskutieren und überprüfen, ob die Zahlen, die darin genannt wurden, tatsächlich belastbar, nachweisbar und
verifizierbar sind. Dieser Diskussion will ich nicht vorgreifen.
Abschließend möchte ich auf einen weiteren Gesichtspunkt aufmerksam machen: Wer diesen Film gesehen hat, der wird zur Kenntnis genommen haben, welch
erhebliche Einschränkungen Athleten auf sich nehmen,
um eine Dopingkontrolle bei sich zu ermöglichen. Ich
sage dies aus folgendem Grunde: Wenn wir Doping effektiv bekämpfen wollen, werden wir immer auf die
Mitarbeit des Sports und der Athleten angewiesen sein.
Deshalb wird es auch in Zukunft zu den Grundsätzen unseres Hauses gehören, dass wir die Dopingbekämpfung
nicht gegen den Willen des Sports, sondern im engen
Schulterschluss mit dem Sport in Angriff nehmen werden. Ich empfehle die Annahme des geplanten Vertragsgesetzes.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei
Tagen haben wir im Sportausschuss in großer Geschlossenheit, nämlich einstimmig, das UNESCO-Übereinkommen gegen Doping im Sport als 39. Staat angenommen. Wir sind uns einig: Vor dem Hintergrund der
zunehmenden Aufdeckung von Dopingvergehen müssen
Sport und Staat diese Geißel des Sports, das Doping, mit
ihren ureigenen Mitteln stärker bekämpfen. Auch die
Rechtskommission des Sports gegen Doping ist sich
einig: Zusätzliche gesetzliche Vorschriften dürfen die
Autonomie und die primäre Verantwortlichkeit des
Sports nur ergänzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, waren wir eigentlich von allen guten Geistern verlassen, uns in einer Detailfrage - bereits den Besitz verbotener Substanzen
gesetzlich unter Strafe zu stellen - so heftig zu zerstreiten? Wir waren es nicht. Diese Diskussion war notwendig, auch wenn sie die Grenzen des Anstands meiner
Meinung nach oft überschritten hat.
({0})
Denn im Kern geht es um die Grundsatzfrage: Wie
wollen wir unsere Gesellschaft zukünftig organisieren?
Setzen wir auf immer mehr Staat und geben wir dem
Kürzel BRD damit die neue Bedeutung „beinahe regelungsdicht“, oder vertrauen wir weiterhin den Selbstverwaltungskräften und der Eigenverantwortung in unserer
Gesellschaft?
({1})
Diese Frage scheint für den Sportbereich jetzt beantwortet zu sein. Edmund Stoiber hätte deswegen nicht unbedingt seinen Rückzug ankündigen müssen,
({2})
wohl aber seine Justizministerin Beate Merk. Sie ließ
sich vom Vorsitzenden des Sportausschusses, der der
SPD angehört, antreiben und preschte mit einem Gesetzentwurf vor, in dem es heißt:
Der Besitz von Dopingmitteln wird unter Strafe gestellt.
Ich zitiere dazu Beate Merk:
Der dopende Sportler ist die Zentralgestalt des kriminellen Geschehens.
({3})
Aber genau das geschieht jetzt nicht.
({4})
Dieser bayerische Schnellschuss modert zu Recht im
Bundesratskeller vor sich hin. Dort wird er auch bleiben.
({5})
Ich habe in diesem Zusammenhang immer wieder auf
Parallelen zum Betäubungsmittelgesetz hingewiesen.
Ich freue mich, dass jetzt auch die Kolleginnen und Kollegen von der SPD diese erkennen und dementsprechend
handeln. Den Besitz nicht geringfügiger, also größerer
Mengen von Dopingmitteln dem Handel zuzuordnen
und damit unter Strafe zu stellen, präzisiert § 6 a des
Arzneimittelgesetzes und ermöglicht eine konsequentere
Strafverfolgung aller Beteiligten - auch einzelner Sportlerinnen und Sportler - als Händler, exakt wie es im
Zehnpunkteaktionsprogramm des DOSB gefordert wird
und wie es in Art. 8 des heute zu ratifizierenden Internationalen Übereinkommens gegen Doping im Sport vorgesehen ist und wie es der Presseerklärung von Union
und SPD zu entnehmen ist - ich zitiere -: Das bedeutet,
dass ein Sportler, der mit einer geringen Menge der oben
bezeichneten Substanzen angetroffen wird, nach wie vor
lediglich der Sportgerichtsbarkeit unterliegt und somit
analog zum BtMG straffrei bleibt.
({6})
Wir finden damit endlich zurück zum Schulterschluss
von Bundestag und DOSB; das ist dringend notwendig.
Ein Wort noch zu den Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Die Länder werden sich hierzu aus Kostengründen kaum durchringen können. Wohl könnten aber
kompetente Staatsanwälte an bereits vorhandene
Schwerpunktstaatsanwaltschaften, zum Beispiel gegen
Wirtschaftskriminalität, angedockt werden.
In Art. 11 der UNESCO-Konvention wird die Bedeutung der Kontrollprogramme und ihrer Finanzierung herausgestellt. Effektive Dopinganalytik und Dopingkontrollen gehören zum Kern der Dopingbekämpfung. Seit
vorgestern müssen wir uns neue Fragen stellen, allerdings weniger der Gesetzgeber als die Nationale Antidopingagentur selbst und die Sportfachverbände. Dass die
Ausstattung der Antidopingagentur bedenklich ist, ist
uns seit langem bekannt. Erst im März 2006 berichtete
die „Süddeutsche Zeitung“ unter der Überschrift „Ein
überfordertes System“ von abwesenden Athleten und
von zu wenig Epo-Tests, so jetzt auch die ARD. Geändert hatte sich monatelang wohl gar nichts. Das muss der
Anstoß zu neuen Überlegungen sein. Die offensichtlichen Mängel im Vollzug des WADA-Codes und der eindeutigen NADA-Regeln müssen behoben werden.
Die FDP unterstützt die Bemühungen des Kuratoriums, die Agentur als dritte Säule des deutschen Sports
- neben dem DOSB und der Stiftung „Deutsche Sporthilfe“ - zu etablieren. Das kann aber nur gelingen, wenn
alle Beteiligten bei der Finanzierung dem Beispiel des
DOSB folgen, der seinen Zuschuss in diesem Jahr verdoppelt.
({7})
Der Bund hat das Stiftungskapital deutlich aufgestockt.
({8})
Sponsoren, Medien, Unternehmen, Pharmaindustrie,
alle müssen Verantwortung übernehmen. Es ist ein Unding, dass im Zeitalter elektronischer Kommunikation,
zum Beispiel über SMS, das Abmeldeverfahren und die
Übermittlung von Testergebnissen, einschließlich der
Abwesenheit des Athleten, an NADA und Fachverband
offensichtlich nicht schnell und lückenlos genug möglich waren, um unmittelbar danach Sanktionen in Gang
zu setzen. Das muss sich ändern. Darüber hinaus muss
der E-Pass her, der elektronische Athletenpass, in dem
die körperliche Entwicklung der Athleten und die Testergebnisse dokumentiert werden.
({9})
Da wir heute über ein internationales Übereinkommen debattieren, möchte ich auch grenzüberschreitende Kontrollen anregen. Warum soll nicht ein Niederländer bei uns, ein Deutscher in Frankreich oder ein
Schweizer in Österreich kontrollieren? Das sollten wir
im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zum
Thema machen.
({10})
Bei all diesen Bemühungen dürfen wir eines nicht aus
den Augen verlieren: den Datenschutz. Die FDP sieht
eine Ausweitung der Telekommunikationsüberwachung
äußerst kritisch. Auch eine Regelüberwachung von Fitnessstudios durch Polizei und Ordnungsbehörden findet
unsere Zustimmung nicht; hier sollten wir das Prinzip
der Verhältnismäßigkeit bewahren.
({11})
Bei allem Respekt vor den Einzelfragen ist eine
Grundsatzdebatte, wie wir in unserer Gesellschaft den
Hochleistungssport einordnen und woran wir ihn messen, überfällig, auch in diesem Hohen Hause und auch
vor dem Hintergrund, den Sport im Grundgesetz zu verankern. Wie halten wir es zukünftig mit dem olympischen Motto „citius, altius, fortius“ - schneller, höher,
weiter -? Die messbaren, natürlichen Grenzen sportlicher Leistungen sind meines Erachtens in vielen Bereichen längst erreicht. Die Erwartungshaltung von Zuschauern und Medien ist nach wie vor unverantwortlich
hoch. Die Anforderungen bei bestimmten Sportereignissen, zum Beispiel der Tour de France oder der Golden
League bei der Leichtathletik, werden immer höher geschraubt, den Sportlern wird immer mehr abverlangt.
Prämien für neue Rekorde reizen zu immer neuen
Höchstleistungen und setzen die falschen Prioritäten.
Zunehmend orientieren wir uns nur noch an Zahlen.
Auch das verführt manchen Athleten und sein Umfeld zu
Manipulationen. Dazu gehört der Hase, der als Pacemaker, als Tempomacher, eingesetzt wird und während des
Rennens ausscheidet. Ist das eigentlich der Sport, den
wir, die Gesellschaft, wollen und der Vorbildfunktion
hat? Oder konsumieren viele von uns gedankenlos und
wie selbstverständlich die Sensationen und wenden sich
enttäuscht ab, wenn das hochgesteckte, PR-gepushte
Ziel nicht erreicht worden ist?
Die Japaner haben den Dreiklang „Schneller, höher,
weiter“ umgewandelt. Sie sprechen in ihrer neuen
Sportphilosophie von „superius, fortius, pulchrius“.
Damit orientieren sie sich nicht mehr vorrangig an absoluten Zahlen, sondern am Wettkampfverlauf - Wer wird
Erster? Wer ist stärker? - oder an der Ästhetik sportlicher Wettkämpfe. Über diesen Umerziehungsprozess
sollten wir in Deutschland auch einmal nachdenken.
Auch das kann Teil eines Antidopingprogramms sein
und viel Druck von den Athleten nehmen und sie weniger anfällig machen.
({12})
Mit der Ratifizierung der UNESCO-Konvention gehen wir heute einen wichtigen Schritt nach vorne. Die
FDP-Fraktion stimmt dieser Konvention zu. Es bleibt
uns aber trotzdem noch vieles zu tun. Ich hoffe, dass die
Zwischenrufe nicht darauf hindeuten, dass wir heute
wieder eine Debatte führen, die unter die Gürtellinie
geht, sondern dass diese Debatte sachlich fortgesetzt
wird.
({13})
Ich danke fürs Zuhören.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Freitag von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland unternimmt heute mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf einen weiteren Schritt hin zu einer hoffentlich erfolgreichen Dopingbekämpfung.
Jede Initiative, die zu einer Optimierung des Kampfes
gegen Doping führt - ich füge ausdrücklich hinzu: auch
zu einer Harmonisierung auf internationaler Ebene -, ist
grundsätzlich zu begrüßen. Schließlich weiß jeder, der
sich mit den unterschiedlichen Facetten des Spitzensports beschäftigt, dass die Neigung, konsequent gegen
Doping vorzugehen, in den Ländern dieser Welt unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Das ist eine noch eher
milde Umschreibung des Status quo.
Immerhin wurde im Jahr 2006 in einigen europäischen Ländern intensiv und öffentlich über Doping debattiert. Auch Deutschland gehörte zu diesen Ländern.
Die Ereignisse bei den Winterspielen in Turin und insbesondere der Skandal bei der Tour de France ließen die
Diskussionen über den erfolgversprechendsten Weg zur
Bekämpfung von Doping auch hierzulande zu einem
Dauerbrenner in Politik, Sport und Medien werden. Wer
ist der Sieger der Tour de France 2006? Floyd Landis?
- Er war gedopt und ist es nicht mehr. Der Zweite, Oscar
Pereiro? - Seit heute steht er ebenfalls unter Dopingverdacht. Will man solch einen Sport tatsächlich noch sehen? Kann man jungen Menschen - ich blicke auf die
Tribüne - noch empfehlen, Spitzensport zu betreiben,
({0})
oder wendet man sich einfach nur noch angewidert ab?
Festzustellen ist: Der Sport ist insbesondere durch die
erwähnten Vorkommnisse und die daraus gewonnenen
Erkenntnisse national und international in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten.
({1})
Diese geht uns alle an: Sport - Funktionäre und Aktive -,
Politik und Gesellschaft.
Mit der heutigen Einleitung der Ratifizierung und der
zügigen Umsetzung des Maßnahmenkatalogs der Bundesregierung gegen Doping im Sport kommt der Gesetzgeber seinen Aufgaben in der Dopingbekämpfung nach.
Ich füge hinzu: Der Staat, der bekanntlich der größte
Sponsor des Spitzensports in Deutschland ist, hat aus unserer Sicht nicht nur die Pflicht, Doping mit aller Härte
zu bekämpfen, sondern er hat auch das Recht dazu. Er
muss niemanden fragen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen es,
dass es den Koalitionsfraktionen - ausdrücklicher Dank
an den Kollegen Riegert - nach, wie ich einräume, langwierigen Diskussionen gelungen ist, Einigkeit in einem
bislang strittigen Punkt zu erzielen: Zukünftig soll der
Besitz nicht geringer Mengen bestimmter Dopingmittel
strafbar sein.
({3})
Zu diesen Substanzklassen gehören die gefährlichsten,
aufgrund ihrer Wirksamkeit aber auch beliebtesten Dopingsubstanzen wie anabole Steroide, Hormone und deren verwandte Verbindungen. Hierzu zählen Epo, Insuline und Wachstumshormone - ein Auszug aus der Liste
des Doping-Gruselkabinetts.
Lieber Kollege Hermann, deshalb wundere ich mich
schon ein wenig über Ihre Bewertung, dieses Vorhaben
sei eine ziemlich bescheidene Nummer. Für jemanden,
der in seiner Fraktion in dieser Woche mit einem ähnlichen Vorstoß gescheitert ist, einen eigenen Gesetzentwurf dafür aber seit Monaten medienwirksam ankündigt,
ist das schon eine merkwürdige Aussage. Obendrein ist
das völlig unzutreffend.
({4})
Konkret bedeutet die geplante Regelung, dass es neben dem Kontrollsystem des Sports eine zweite handlungsfähige Säule in der Dopingbekämpfung geben
wird. Es wird endlich gewährleistet, dass der Staat seine
überlegenen Aufklärungsmethoden einsetzen kann und
an dieser Stelle die Schwächen des Kontrollsystems des
Sports kompensieren kann.
({5})
Der Staatsanwalt kann die Ermittlungen aufnehmen, und
an deren Ende wird das Ergebnis stehen, ob der Betroffene sich wegen Besitzes einer nicht geringen Menge
strafbar gemacht hat oder nicht. Auf jeden Fall also wird
der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, und die Sportgerichtsbarkeit wird von diesen Erkenntnissen profitieren.
Es wird - das prophezeie ich - ungemütlicher für die
Doper in unserem Land. Ich vermute, die Szene ist auch
schon alarmiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Doping bedroht all
das, was den Sport in seiner Gesamtheit als wertvolles
und, wie ich meine, unverzichtbares Gut für unsere Gesellschaft ausmacht. Der Sport ist dabei, seine Glaubwürdigkeit und seine zu Recht immer wieder betonte
gesellschaftliche Vorbildfunktion zu gefährden, vielleicht sogar zu verlieren.
Jetzt ist auch das vielgepriesene deutsche Kontrollsystem ins Zwielicht geraten. Es ist bestimmt besser als
viele andere auf der Welt. Aber ist es deshalb auch erfolgreich? Zweifel sind angebracht.
({6})
Schon die entlarvende Aktenlage aus dem SpringsteinProzess hat eines deutlich gemacht: Offensichtlich kann
man als Spitzensportler in diesem Land, der dem vermeintlich engen Kontrollsystem unterworfen ist, jahrelang dopen, ohne dass es zu einer positiven Dopingprobe
kommt. Das beginnt bei den unterschiedlichsten Methoden, die Einnahme von Dopingsubstanzen zu verschleiern. In Bezug auf Urinproben sind das sozusagen Megaperls für den Urin. Fremdurin muss herhalten, um
Dopingvergehen zu vertuschen. Athleten lassen sich auf
widerwärtigste Betrugspraktiken bei der Urinabgabe ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer heute noch
glaubt, man könne Dopingsünder mit den herkömmlichen Methoden aufspüren, lebt in einer Scheinwelt.
({7})
Ich warne in diesem Zusammenhang vor einer schnellen
und vor allem einseitigen Schuldzuweisung an die
NADA, die ja ein wenig in die Schusslinie geraten ist.
Wohl sind Versäumnisse bei der Weitervergabe von Informationen an die Spitzenverbände festzustellen. Das
ist auch zu kritisieren. Aber wie soll eine Institution ihre
Arbeit fehlerfrei und ohne Reibungsverluste erledigen,
wenn sie finanziell und personell von Anfang an am unteren Limit arbeiten musste?
({8})
Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
Die NADA wird - auch das sollte nicht unerwähnt
bleiben - bislang im Übrigen fast ausschließlich aus
Steuergeldern finanziert. Die Kofinanzierung durch
Sport und Wirtschaft ist, sagen wir mal, steigerungsfähig.
({9})
Da kam auf den ersten Blick die Nachricht recht, dass
der DOSB beabsichtigt, seinen Zuschuss zur NADA
2007 zu verdoppeln. Aber der Teufel steckt, wie so oft,
im Detail: Der Zuschuss wird nicht ab 2007 verdoppelt,
sondern lediglich für 2007. Ich finde, man sollte beim
DOSB darüber noch einmal nachdenken.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal lohnt ein
Blick über die Landesgrenzen, beispielsweise nach
Schweden, auch wenn unbestritten ist, dass Modelle und
Strukturen nicht eins zu eins von Land zu Land übertragbar sind. In Schweden gibt es eine Stiftung namens „Ren
Idrott“, zu Deutsch „sauberer Sport“. Die Initiative dazu
haben die erfolgreichsten Sportlerinnen und Sportler
Schwedens freiwillig ergriffen. Sie legen freiwillig ein
klares Bekenntnis zu einem dopingfreien Sport ab und
- sehr bemerkenswert - tragen im Übrigen auch zur Finanzierung dieser privaten Stiftung bei, die sich der Dopingbekämpfung und -aufklärung widmet. Die Liste der
beteiligten Athletinnen und Athleten liest sich wie das
„Who is Who“ des schwedischen Spitzensports: Carolina Klüft, Christian Olsson, Anja Pärson, Kajsa Bergqvist, um nur einige aktuelle Weltmeister und Olympiasieger aus unterschiedlichen Sportarten zu nennen.
In Deutschland sehe ich keine vergleichbare Bewegung, eher im Gegenteil. Es gibt nur ganz wenige Athletinnen und Athleten, die sich offen und öffentlich klar
positionieren. Doping ist Betrug. Aber wo bleibt der
Aufschrei der sauberen Sportlerinnen und Sportler in unserem Land, die von den Dopern um den Lohn ihres jahrelangen Trainings, um Medaillen, Platzierungen und
vielleicht auch um Sponsorenverträge betrogen werden?
Der neue Sporthilfe-Eid, in dem sich von der Sporthilfe geförderte Athletinnen und Athleten zu einem dopingfreien Sport verpflichten, ist ein zweifellos begrüßenswerter Ansatz, aber nicht vergleichbar mit einer
freiwilligen Initiative, die aus der Athletenschaft selbst
herauswächst.
Fazit: Wir sind alle gefordert: Politik, Sport und Gesellschaft. Auch die Gesellschaft kann und muss ihren
Beitrag leisten. Sie muss Doping und Doper ächten. Doping ist kein Kavaliersdelikt. Ich habe es schon gesagt:
Doping ist Betrug. Den gilt es, mit allen Mitteln einzudämmen. Das sollte und muss uns gemeinsam der Sport
und der Schutz der sauberen Sportler wert sein. Ich bitte
weiterhin um Unterstützung aller in diesem Kampf.
Herzlichen Dank.
({11})
Die Kollegin Katrin Kunert, Fraktion Die Linke, hat
ihre Rede zu Protokoll gegeben. Uns wurde mitgeteilt,
dass sie aufgrund der Witterungsverhältnisse nicht hier
erscheinen kann. Wir hoffen, dass ihr an diesem Tag
keine weiteren Behinderungen widerfahren.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dagmar Freitag ist schon gespannt auf das, was ich sage.
({0})
Das darf sie auch sein.
Wir Grünen begrüßen, dass es eine Anti-Doping-Konvention der UNESCO gibt. Das sage ich vorweg. Wir
freuen uns, dass sie heute ratifiziert wird. Das ist ein
Riesenschritt im weltweiten Kampf gegen Doping im
Sport.
({1})
Diese Konvention schafft eine neue Qualität der Bekämpfung des Dopings im Sport. Sie schafft auch eine
neue Qualität der internationalen Verständigung im
Kampf gegen Doping im Sport. Sie ist der erste Schritt
zur Vereinheitlichung der Standards und der Methoden
im Kampf gegen Doping im Sport.
Es ist auch die Aufforderung, ständig und vermehrt
international zu kooperieren, um das Elend des Dopings
im Sport zu bekämpfen. Es ist zugleich eine neue Legitimation für die Politik, aber auch für den Sport. Es ist
aber nicht nur eine Legitimation, sondern auch, wie ich
meine, eine deutliche Aufforderung, mehr zu tun, als
bisher geschehen ist, und eine entsprechende Selbstverpflichtung.
({2})
Diese Konvention ist übrigens auch die Anerkennung
der Einsicht, dass die Sportorganisationen alleine es
weltweit nicht schaffen. Wenn man dieses Feld dem
Sport alleine überlassen könnte, brauchte man nämlich
keine von Staaten ratifizierte Konvention.
({3})
Das erkennen inzwischen auch die Sportorganisationen
an. Es ist eine doppelte Verpflichtung und Legitimation,
aber keine abstrakte. Denn der Kampf gegen Doping ist
immer sehr konkret. Es kommt darauf an, welche Methoden und welche Mittel eingesetzt werden und wie
man Doping bekämpft.
Die Methoden und die Mittel - meine Vorrednerin hat
es schon angesprochen - werden immer verrückter und
perverser. Man muss sich einmal vorstellen, wie mit
Blutdoping bei der Tour de France seit Jahren gearbeitet
wird. Seit dem Bekanntwerden des Falls Fuentes aus
Spanien wissen wir, wie die Mittel immer genauer eingesetzt werden. Viele deutsche Sportlerinnen und Sportler
sind darin verwickelt. Seit Kenntnis der entsprechenden
Akten wissen wir, dass Athleten, die bei uns regelmäßig
kontrolliert wurden, seit Jahren systematisch gedopt haben und viel dafür bezahlt haben, dass sie die richtigen
Cocktails zum richtigen Zeitpunkt bekommen. Dass sie
nicht erwischt worden sind, muss uns zu denken geben.
Das bedeutet, dass der klassische Kampf, der hauptsächlich auf Kontrollen setzt, nicht ausreicht.
({4})
Wir müssen feststellen - dieser Tage ist es offensichtlich geworden -, dass das deutsche Kontrollsystem Lücken hat. Es trifft nicht zu, dass wir die Besten im Kampf
gegen Doping sind und alle Maßnahmen umsetzen, während die anderen nur große Reden halten. Unser Kontrollsystem weist erhebliche Lücken auf. Ich bin froh,
dass wir uns schnell darauf verständigt haben, auf der
nächsten Sondersitzung des Sportausschusses kritische
Fragen zu stellen. Wir wollen fragen, wer die Verantwortung hat und was zu tun ist, damit diese Lücken rasch geschlossen werden können.
Klar ist: Staatliche Hilfe im Kampf gegen Doping
ist nötig; davon reden übrigens auch viele Sportpolitiker
seit langem. Natürlich hat die Große Koalition seit Monaten um Lösungen gerungen. Ich sage: Es ist bescheiden, was bisher dabei herausgekommen ist.
({5})
Es wird gesagt, man habe schnell für die Ratifizierung
des Vertragswerks gegen Doping im Sport gesorgt. Aber
entschuldigen Sie einmal, Kollegen: Man hat dazu anderthalb Jahre Zeit gehabt, und diese Debatte ist schon
zuvor sieben Jahre lang geführt worden.
({6})
- Ich sage ja: Das haben wir nicht hinbekommen. - Jetzt
hat die Große Koalition aber nochmals anderthalb Jahre
Zeit. Die Debatte über Doping im Sport hat sich jedoch
weiterentwickelt. Man weiß heute mehr; es gibt mehr
Vorschläge.
({7})
Noch immer liegt kein Gesetzentwurf bezüglich staatlicher Hilfen für den Kampf gegen Doping vor. Es gibt
nur Ankündigungen. Die Große Koalition hat nicht einmal einen Antrag vorgelegt.
({8})
Sie haben gerade noch rechtzeitig, damit Sie nicht allzu
spät damit kommen, am Mittwochabend eine Pressekonferenz abgehalten und die Erklärung abgegeben, dass Sie
jetzt etwas tun wollen. Aber Sie haben noch nichts vorgelegt. Dazu kann ich nur sagen: Wir Grünen sind weiter.
({9})
Wir haben nach einer Fraktionsdebatte und einem -beschluss zumindest einen Antrag verabschiedet.
({10})
Sie sagen mit Freude, der Hermann habe sich jahrelang für die Besitzstrafbarkeit eingesetzt, aber nicht
durchgesetzt. Ja, das ist richtig. Wir haben nach heftiger
Debatte eine Abstimmung durchgeführt, die das Ergebnis 20 : 20 hatte. Die Hälfte war dafür; die andere Hälfte
hatte grundsätzliche rechtsstaatliche Bedenken.
({11})
Deswegen gab es hierzu keinen Vorschlag.
({12})
Aber wir haben - das ist der Unterschied zu Ihnen einen neuen Vorschlag gemacht. Kollegin Freitag hat
mehrmals von Sportbetrug gesprochen, den man bekämpfen will. Wir haben beschlossen, dass Betrug im kommerzialisierten Sport strafrechtlich verfolgt werden
soll, dass sich Sportler, die kommerziell um die Spitze,
um den Sieg kämpfen, bei Sportbetrug strafbar machen.
Das ist ein neuer Vorschlag; den sollten Sie einmal zur
Kenntnis nehmen. Das ist ein gutes Modell.
({13})
Jetzt komme ich darauf zu sprechen, warum ich Ihren
Vorschlag bescheiden nenne. Schon heute ist es nach
dem Arzneimittelgesetz so, dass sich Händler, die anderen Mittel aufdrängen, strafbar machen können.
({14})
Das heißt, Sie haben versucht, der nicht informierten Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass Sie etwas Neues
beschlossen haben. Das ist der schönste Sprachtrick, den
ich seit langem erlebt habe. Unter Linguisten würde man
sagen: Bisher hat sich der „Schimmel“ strafbar gemacht,
wenn er mit Dopingmitteln gehandelt hat. Jetzt macht
sich der „weiße Schimmel“ strafbar, wenn er mit Dopingmitteln handelt.
({15})
Was will ich damit sagen?
({16})
Bisher deutet nach geltendem Recht alles darauf hin,
dass derjenige, der eine Tasche voller Mittel hat, ein
Händler ist. Also macht er sich strafbar und wird verfolgt.
({17})
Jetzt sagen Sie: Wir stellen fest, wenn eine oder einer
eine solche Tasche hat, wird sie oder er verfolgt. Sie benutzen dafür das Wort der Besitzstrafbarkeit. Das ist, wie
ich finde, eine Täuschung, weil es für den Eigenverbrauch nicht gilt. Das hätten Sie nicht notwendig gehabt.
({18})
Sie hätten auch ehrlich sagen können: Wir haben uns
nicht verständigt.
Gemeinsam sind wir dafür - da will ich Sie durchaus
loben -, dass es für das bandenmäßige Inverkehrbringen
eine Strafverschärfung geben soll; das haben auch wir
Grünen in der Fraktion beschlossen. Wir haben darüber
hinaus - ich habe es schon gesagt - den Tatbestand des
Sportbetrugs beschlossen und uns klar dazu bekannt,
dass wir zukünftig vonseiten des Staats finanzielle Mittel
nur denjenigen Sportorganisationen zur Verfügung stellen wollen, die im Kampf gegen Doping mitmachen und
nicht schlampig damit umgehen.
({19})
Diejenigen Organisationen, die sich an diesem Kampf
beteiligen, bekommen Geld. Wer schlampt und der Sache nicht nachgeht, muss damit rechnen, dass staatliche
Mittel entzogen werden.
({20})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Was ist das Fazit? Das neue internationale Übereinkommen verlangt von uns, dass wir den Kampf gegen Doping mit Leben bzw. mit konkreten Maßnahmen erfüllen. Gesetze allein reichen nicht aus. Wir brauchen eine
gemeinsame Strategie und Gesamtkonzeption des
Sports, der Teilorganisationen des Sports und der Politik,
damit wir auf Dauer die Geißel des Sports, nämlich das
Doping, wirklich wirkungsvoll bekämpfen können.
Vielen Dank.
({21})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Stephan
Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die ersten Nachweise für sportliche Betätigung in der Menschheitsgeschichte gehen auf das kretisch-mykenische Zeitalter
zwischen 1600 und 1200 vor Christus zurück. Seitdem
ist der Sport nicht mehr aus der Menschheit wegzudenken.
Sport ist ein wichtiges Gut, das es zu wahren und zu
schützen gilt. Jeder Sportler hat das Recht auf Fairness,
auf Gleichbehandlung im Wettbewerb und auf die Teilnahme an einem dopingfreien Sport. Aber gerade im
modernen Wettkampfgeschehen sind Sport und Doping
offenbar zwei unzertrennliche Weggefährten. Dies zeigt
uns sehr deutlich, dass die früheren und auch die gegenwärtigen Präventionsbemühungen nicht dazu ausgereicht haben, Doping und Dopingmissbrauch effizient zu
bekämpfen.
Namen wie Fuentes, Jan Ullrich, Springstein, Fiedler
und Floyd Landis haben mit Sicherheit gerade in jüngster Zeit dazu beigetragen, dass das öffentliche Vertrauen
in die Fairness im Sport deutlich zurückgegangen ist.
Wir haben auch neue Dimensionen kennengelernt. Auch
wenn sich die Aufmerksamkeit aus verständlichen Gründen zunächst ausschließlich auf die Spitzensportler richtet, muss uns eines klar sein: Doping ist nicht nur ein
Thema im Spitzensport, sondern auch im Breitensport.
Doping ist eine Hydra, die nicht nur in zunehmendem
Maße den Spitzensportler im Griff hat, sondern leider
Gottes auch verstärkt den Breitensportler.
Es geht um die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des
Sportes. Meines Erachtens muss auch mit einer Mär aufgeräumt werden: Der einzelne Sportler ist nicht das verführte, willfährige Opfer in einem Geflecht, sondern er
ist durchaus auch der Teilnehmer,
({0})
der sich bewusst und gewollt am Dopingmissbrauch beteiligt.
({1})
Bundesinnenminister Dr. Schäuble hatte völlig recht,
als er in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“
vom 31. Dezember vergangenen Jahres vom Doping als
einer Seuche gesprochen hat, die die Existenz des Sportes gefährdet.
({2})
Insofern sind wir aufgefordert, alles dafür zu tun, Dopingmissbrauch effizienter zu bekämpfen.
Es gibt Gott sei Dank seit geraumer Zeit eine breite
Diskussion in der Öffentlichkeit und in der Gesellschaft,
({3})
auch im gesetzgeberischen Bereich mehr zu tun, um den
Kampf gegen Doping zu verstärken. Uns sollte aber
auch klar sein, dass Doping kein nationales, sondern ein
internationales Problem ist. Bei allem, was wir tun,
können wir in Deutschland nur einen Teilbereich regeln.
Doping ist aber leider Gottes mittlerweile ein Thema,
das den gesamten Weltsport betrifft.
Deswegen ist es richtig, dass sich die UNESCO zu
dem Übereinkommen durchgerungen hat. Ich möchte
betonen, dass Deutschland einen sehr wichtigen Beitrag
zum Zustandekommen des Übereinkommens geleistet
hat. Die Beteiligten haben sich in den Gremien intensiv
für das Zustandekommen und die Verabschiedung dieses
Übereinkommens eingesetzt. Es ist nicht zuletzt den
deutschen Vertretern zu verdanken, dass wir mit dem
Übereinkommen der UNESCO erstmals über ein weltweit verbindlich geltendes Regelwerk verfügen.
({4})
Ich möchte des Weiteren mit einer Interpretation aufräumen. Wir dürfen uns, was die Auswirkungen des
UNESCO-Übereinkommens anbelangt, für Deutschland
nicht allzu viel versprechen, weil hinsichtlich der materiellen Anforderungen der Großteil der Vorschriften dieses
Übereinkommens in Deutschland schon geltendes Recht
ist. Aber - die Sendung in der ARD am vergangenen
Mittwoch ist schon angesprochen worden - es ist gerade
in den letzten Tagen deutlich geworden, dass in Deutschland nicht alles zum Besten steht, was die Bekämpfung
von Dopingmissbrauch und vor allem was die Dopingkontrollen anbelangt. Insofern gibt es auch in Deutschland noch deutlichen Verbesserungsbedarf.
Ich bin froh, dass die Bundesregierung im September
des letzten Jahres ein Maßnahmenpaket vorgelegt hat,
das wir in vollem Umfang unterstützen. Es bedarf im geStephan Mayer ({5})
setzgeberischen Bereich in der Tat deutlicher Verbesserungen.
Die Große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag
darauf verständigt, mehr für eine effiziente Bekämpfung
des Dopingmissbrauchs zu tun. Diesen Ankündigungen
aus dem Koalitionsvertrag lassen wir jetzt konkrete Taten folgen.
({6})
Insofern ist es richtig, dass auch im Zusammenhang mit
dem Arzneimittelgesetz einige Verbesserungen vorgesehen sind.
Die ARD-Sendung hat gezeigt, dass im Bereich der
Kontrollen nicht alles zum Besten steht. Es ist meines
Erachtens nicht hinnehmbar, dass offenbar im vergangenen Jahr in mehreren Hundert Fällen Sportler nicht anzutreffen waren, wenn sie zu Dopingkontrollen herangezogen werden sollten. Unabhängig davon, wie hoch die
Zahl tatsächlich ist und aufgrund welcher Ausreden oder
Argumentation der Dopingtest nicht durchgeführt werden konnte, muss eines klar sein: Die Verletzung von
Meldepflichten ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein
schwerer Verstoß, der entsprechend sanktioniert werden
muss. Deswegen ist es richtig, hier tätig zu werden.
({7})
Ich möchte eines in aller Deutlichkeit sagen: Die Millionen Sportbegeisterten in Deutschland haben meines
Erachtens kein Interesse daran, jedes Wochenende zu
hören, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei wieder einmal Wettkampfstätten, Mannschaftsquartiere und
Trainingsplätze aufsuchen und tätig werden. Um eine
verstärkte Heranziehung des Strafrechts zur Dopingbekämpfung vermeiden zu können, ist es erforderlich, dass
der organisierte Sport selbst, die Sportverbände, seiner
Verantwortung gerecht wird. Hier gibt es schon positive
Ansätze; das möchte ich gar nicht verhehlen. Zu diesem
Schluss komme ich, wenn ich mir zum Beispiel die
Initiative des Deutschen Schwimm-Verbandes anschaue, der seine A-Kader-Athleten verpflichtet, in regelmäßigen Abständen unangekündigte Bluttests vornehmen zu lassen und so ein nachhaltiges Blutbild
vorzuweisen. Obwohl es gar nicht gefordert ist, tut dieser Verband präventiv alles, um gar nicht erst den Anschein des Dopings zu erwecken.
Das alles reicht aber insgesamt nicht aus. Deswegen
ist es richtig, den Strafrahmen für gewerbs- und bandenmäßiges Handeln im Bereich des Arzneimittelrechts zu Dopingzwecken auf zehn Jahre Freiheitsstrafe
deutlich zu erhöhen. Die Abgabe von Arzneimitteln zu
Dopingzwecken an Jugendliche unter 18 Jahren ist in
meinen Augen ein besonders verwerfliches Delikt. Auch
dann, wenn schwere Gesundheits- und Körperschädigungen durch die Verwendung von Arzneimitteln zu Dopingzwecken drohen, ist ein Strafrahmen von zehn Jahren Freiheitsstrafe durchaus angemessen.
({8})
Genauso richtig ist, dass die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit haben, das Mittel der Telefonüberwachung zu nutzen, wenn sie - das muss man so deutlich sagen - kriminellen Banden auf die Schliche
kommen. Die Strafverfolgungsbehörden dürfen nicht
ohnmächtig sein. Richtig ist ebenfalls, eine Kennzeichnungspflicht für dopingrelevante Arzneimittel einzuführen. Ferner wird der Besitz nicht geringer Mengen von
besonders gefährlichen und am häufigsten verwendeten
Wirkstoffen insbesondere im Bereich von anabolen Substanzen nunmehr auch beim Sportler unter Strafe gestellt. In diesem Zusammenhang ist deutlich zu machen:
Der Begriff „nicht geringe Mengen“ ist so zu definieren,
dass sie nicht der Deckung des Eigenbedarfs dienen. Bei
ihnen ist davon auszugehen, dass sie in den Handel gegeben werden, dass sich der Sportler also die Dopingmittel nicht zum Eigengebrauch verschafft hat, sondern
sie als Händler, als Hehler an andere Sportler weitergeben will. Dies gehört strafrechtlich sanktioniert.
({9})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Die Große Koalition hat gezeigt, dass sie handlungsfähig ist. Wir alle, zuvorderst der organisierte Sport, die
Sportverbände, aber auch - wie ausgeführt - der Gesetzgeber, sind aufgefordert, an einem Strang zu ziehen und
dazu beizutragen, dass wir dopingfreie Leistungen im
Sport bekommen und dass das Fair Play und die Glaubwürdigkeit des Sports in der Öffentlichkeit wiederhergestellt werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Dr. Peter Danckert hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Vizepräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
werden in wenigen Minuten den Entwurf eines Gesetzes
verabschieden, das zwar mit sieben oder acht Zeilen ein
kleines Gesetz ist, das aber durch das Übereinkommen
im Anhang - so hoffe ich - große Wirkung haben wird.
Herr Staatssekretär, ich will, nachdem ein solch großer Kompromiss möglich war, nicht unbedingt kritisieren, dass ein Übereinkommen vom 19. Oktober 2005
erst nach anderthalb Jahren in das Gesetzgebungsverfahren einmündet. Mir hat sich zwar nicht richtig erschlossen, warum es so lange gedauert hat; aber das ist nur eine
Randbemerkung.
Wir sind in diesen Tagen, gerade gestern, gefragt worden, ob der Kompromiss, den wir erzielt haben, etwas
mit dem heutigen Tag zu tun hat. Mag sein, dass uns das
zusätzlich angetrieben hat. Ich kann als einer derjenigen,
die hier mitgewirkt haben, sagen: Wir haben seit Monaten miteinander diskutiert, nicht öffentlich, aber intensiv
und in mehreren Etappen.
Ich darf an dieser Stelle dafür auch einmal Dank sagen. Ich bedanke mich bei unserer sportpolitischen Sprecherin, bei unserer AG, bei Kurt Beck, der das unterstützt hat, Peter Struck, Fritz Rudolf Körper und vielen
anderen, aber - und das ist genauso wichtig - ich bedanke mich auch bei meinen Gesprächspartnern in der
Union. Da nenne ich in erster Linie Klaus Riegert und
Peter Rauen. Ihr habt wirklich in sehr kollegialer Weise
bei diesem schwierigen Thema mit uns zusammengearbeitet. Nur so war das möglich. Ihr habt diesen Kompromiss - möglicherweise genauso mühevoll wie wir - in
euren Arbeitsgruppen vertreten müssen. Der Dank geht
auch an eure Fraktionsspitze, denn ohne die hättet ihr
das nicht machen können. An dieser Stelle hat sich die
Kollegialität sehr positiv ausgewirkt.
Ich bin froh, dass wir Unstimmigkeiten ausgeräumt
haben. Es wird sicherlich im Gesetzgebungsverfahren
noch die eine oder andere Frage auftauchen. Das ist immer so. Das sehen wir auch bei der Gesundheitsreform.
({0})
Wir haben aber die große Linie verabschiedet. Das ist
wichtig. Da gibt es Neuerungen. Natürlich fällt es auf,
dass sich jetzt viele in diesem Kompromissvorschlag
wiederfinden.
({1})
Ich finde das gar nicht schlimm. Es besteht doch immer
die Schwierigkeit bei solchen Kompromissen, dass es
keine Sieger und keine Verlierer geben darf. So sehe ich
es als positives Zeichen, wenn der Sport, vertreten durch
den Präsidenten Dr. Thomas Bach und den Generalsekretär Dr. Michael Vesper, sagt: Das haben wir schon
immer gewollt. - Wunderbar, dann gibt es aus dieser
Ecke auch keine Bedenken mehr.
({2})
Ich finde es auch wunderbar, dass Christa Thiel, die Vorsitzende der Thiel-Kommission, sagt, sie habe das schon
immer gewollt.
({3})
Das verwundert uns natürlich ein bisschen, aber das ist
gar nicht schädlich. Wir werden jetzt Seite an Seite gehen. Ich will den Text eines Liedes etwas modifizieren
- singen darf man hier ja nicht -, der lautet: Wann wir
schreiten Seit’ an Seit’…, muss es wohl gelingen.
({4})
Meine sozialdemokratischen Freunde kennen das Lied.
Lasst uns das übersetzen: Wenn wir die Ernte einfahren
können, dann haben wir - einige Wochen wird es noch
dauern; ich hoffe, zum 1. Juli gelingt es - viel erreicht,
und es liegt noch viel vor uns. Wir bemühen uns um die
Aufnahme des Sports in das Grundgesetz, wir haben bei
der Reform des Vereinsrechts viel zu tun, und wir haben
am 27. Februar eine umfassende Anhörung. Wir wollen
etwas für den Sport tun. Wir müssen Deutschland im
Sport voranbringen, jedenfalls unseren Teil dazu leisten.
Auch für sportbetonte Schulen muss viel mehr getan
werden. Wir haben jetzt einen Konfliktpunkt ausgeräumt. Dafür bin ich den Kollegen sehr dankbar, auch
dem Bundesinnenminister. Herr Bergner, würden Sie
ihm das bitte ausrichten? Er hat immer gesagt: Wenn ihr
untergehakt zu mir kommt, dann machen wir das.
Ich habe an dieser Stelle aber noch eine Bitte. Ich
glaube, da spreche ich im Namen der Koalitionsfraktionen. Das, was wir jetzt vereinbart haben, Herr Bergner,
sollte nach Möglichkeit in das jetzt eingeleitete Gesetzgebungsverfahren schon eingespeist werden.
({5})
Wir haben natürlich auch die Möglichkeit, das im Rahmen der parlamentarischen Beratung einzubringen. Das
ist der Kompromiss, auf den der Innenminister gewartet
hat. Jetzt ist er da, und jetzt soll er diesen bitte einarbeiten, selbst wenn das 14 Tage länger dauert.
({6})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Parr zulassen?
Ja, der Kollege Parr darf auch einmal fragen.
({0})
Herr Kollege Danckert, Sie haben in Ihrer Presseerklärung geschrieben:
Die Koalitionsfraktionen sind sich weiterhin darüber einig, dass der Besitz nicht geringer Mengen
den Handel indiziert und bestraft werden soll.
In dem Zehnpunkteprogramm des DOSB steht, dass
der DOSB „eine Strafverschärfung für das banden- und
gewerbsmäßige Inverkehrbringen von Dopingsubstanzen“ fordert. Und weiter:
Der DOSB weist ausdrücklich darauf hin, dass
Athleten/innen, die mit Dopingmitteln handeln oder
sie anderweitig in den Verkehr bringen, mit Gefängnisstrafe bedroht sind.
({0})
Welcher Konflikt ist jetzt eigentlich gelöst worden, wenn
die Koalition offensichtlich genau diese Position des
DOSB unterstützt?
({1})
Lieber Kollege Parr, ich weiß nicht, ob dieses Parlament der geeignete Ort ist ({0})
- jetzt lassen Sie mich doch bitte ausreden; Sie haben
Ihre Frage gestellt, und ich gebe jetzt die Antwort -, um
Nachhilfeunterricht in gewissen juristischen Fragen zu
geben.
({1})
Die Lage ist folgendermaßen: In § 6 a des Arzneimittelgesetzes ist unter anderem der Handel - das ist der
Punkt - unter Strafe gestellt. Da, wo Sportler, Funktionäre, Mediziner und Personen wie Herr Springstein mit
unerlaubten Substanzen angetroffen worden sind, haben
sie sich immer damit herausgeredet, dass sie gesagt
haben: Wir wollen nicht handeln - die Staatsanwaltschaft muss Handel nachweisen -; vielmehr besitzen wir
das nur für den Eigenverbrauch. Ein solches Herausreden wird mit der von uns hier vorgeschlagenen Lösung
ausgeräumt.
({2})
Derjenige, der mehr als eine geringe Menge unerlaubter
Substanzen besitzt, wird für den Besitz dieser unerlaubten Substanzen bestraft.
Der Gedanke, der dahintersteht, ist - Klaus Riegert
wird das sicherlich bestätigen -, dass schon dieser Besitz
ein Hinweis auf Handel sein könnte. Sanktioniert wird
also nicht der Handel, sondern der Besitz einer nicht geringen Menge. Das ist ein Teil der von uns immer geforderten Besitzstrafbarkeit. Das ist eine neue Qualität.
Wir haben uns also gewissermaßen eine Brücke gebaut: Auch der Besitz einer nicht geringen Menge ist ein
Hinweis auf einen Handel. Damit liegen wir auf der Linie der bisherigen gesetzlichen Regelungen. Ich denke,
das kann jeder, der fünf Minuten darüber nachdenkt, verstehen. Wir haben uns jedenfalls auf diesen Punkt verständigt. Wir halten das für den richtigen Ansatz, den
wir im Gesetzgebungsverfahren verfolgen.
({3})
Es ist gut, wenn sich nun alle hinter uns sammeln. Dann
werden wir dieses gemeinsame Anliegen umsetzen.
Die Sendung „Mission: Sauberer Sport“ in der ARD
am vergangenen Mittwoch hat gezeigt - das ist hier
schon angesprochen worden -, dass wir ein zusätzliches
Problem haben: Nicht nur die Wettkampfkontrollen, sondern auch die Trainingskontrollen müssen einwandfrei
durchgeführt werden; das gehört zusammen. Zu den
Wettkampfkontrollen will ich ganz klar sagen: Das
Volumen der Wettkampfkontrollen, die jetzt durchgeführt werden und aus dem Etat der NADA und möglicherweise der Verbände finanziert werden, ist viel zu gering. Angesichts der Zahl unserer Kaderathleten muss
das Volumen der Wettkampfkontrollen deutlich erhöht
werden.
({4})
Dazu brauchen wir aber Mittel.
Ein weiteres Problem mit den Trainingskontrollen ist
in der Reportage von Hajo Seppelt und Jo Goll ganz
deutlich geworden: die enorme Zahl von Athleten, die zu
kontrollieren sind - seien es nun 400, 300 oder nur
200 Athleten. Wir haben gemeinsam beschlossen, in der
Sitzung des Sportausschusses am 31. Januar einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten.
({5})
Wir werden sehen, ob uns das gelingt. An diesem Tage
werden Präsident Bach, Herr Prokop, Athletenvertreter
und Herr Dr. Pabst, der mit seinen Kontrolleuren durch
das Land reist, zu Gast sein, und dann werden wir sehen,
was da wirklich los ist. Wir brauchen jedenfalls Aufklärung.
Ich habe vorgeschlagen, eine unabhängige Kommission einzusetzen, und mir erlaubt, Ihren geschätzten
Kollegen Klaus Kinkel als Vorsitzenden dieser Kommission vorzuschlagen. Ich glaube nämlich, dass er eine integre Persönlichkeit ist, die mit dem Sport sehr verbunden ist. Er könnte diese Arbeit leisten. Weder die NADA
noch eine andere Sportorganisation sollte diese Untersuchung vornehmen. Wir wollen, dass eine unabhängige
Einrichtung dies tut. Wenn die Ergebnisse vorliegen,
werden wir sehen, was an diesen Stellen noch zu tun ist.
Jetzt komme ich auf die Mittel zu sprechen. Wir müssen auch bereit sein, mehr Mittel einzusetzen.
({6})
Hier ist schon gesagt worden - ich glaube, von Dagmar
Freitag -: Eigentlich wird die NADA nur durch Steuermittel des Staates finanziert. Ich frage den organisierten
Sport - ich wende mich hier an einen namhaften Vertreter: Eberhard Gienger -: Wäre es nicht sinnvoll, einmal
zu überlegen, ob der Sport nicht selber mehr dazu beitragen kann? Ich habe vor einem Jahr die Dopingabgabe ins
Gespräch gebracht. Für Sponsoring im Sport stehen
2,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Wenn davon
1 Prozent abgezweigt würde, dann stünden - das ist leicht
ausgerechnet, Detlef Parr - zusätzlich 25 Millionen Euro
zur Verfügung. Wenn nur 0,5 Prozent abgezweigt würden, stünden immer noch 12,5 Millionen Euro zusätzlich
zur Verfügung.
Wir haben jetzt einen Etat von 1,7 Millionen Euro - in
einem Land mit 82 Millionen Einwohnern und einer entsprechenden Zahl von Sportlern! Das entspricht dem Etat
von Finnland und der Schweiz. Zur Bevölkerungssituation in diesen Ländern brauche ich Ihnen nichts zu sagen.
Wir müssen in diesem Bereich mehr tun. Wenn wir das
Ziel einer effektiveren Dopingbekämpfung erreichen
wollen, dann müssen über eine Dopingabgabe oder etwas Vergleichbares mehr Mittel zur Verfügung stehen.
Die 250 000 Euro für das Jahr 2007 sind - das ist an
die Adresse des DOSB gerichtet - ein netter Beitrag,
aber sozusagen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wir brauchen nicht einmalig 250 000 Euro - das war ja
eine einmalige Verpflichtung -, sondern dauerhaft erheblich mehr Mittel. Wenn wir eine effektivere Dopingbekämpfung wollen, brauchen wir nicht nur 250 000
Euro, sondern 25 Millionen Euro. Ich glaube, das wäre
im Interesse der Sportler, des organisierten Sports, der
Politik und auch der Sponsoren. Denn auch die Sponsoren müssen ein Interesse daran haben - das zeigt sich unter anderem bei der Telekom -, dass im Kampf gegen
Doping etwas Nachhaltiges getan wird.
({7})
Mit der Ratifizierung des Übereinkommens wurde
eine Grundlage geschaffen. Herr Staatssekretär, wir werden sehen, wie Art. 8 Abs. 2 des Gesetzentwurfs ausgelegt wird. Ich verweise dabei auf die Möglichkeiten des
Art. 5: Es dürfen nicht nur Reden im Parlament gehalten
werden, sondern es müssen auch Gesetze auf den Weg
gebracht werden. Wir müssen etwas umsetzen.
Wir sind mit diesem Kompromiss auf dem richtigen
Weg. Ganz wichtig war, dass wir mit dem DOSB Frieden geschlossen haben. Die heftigen Meinungsverschiedenheiten, da gebe ich Detlef Parr recht, sind sozusagen
Schnee von gestern. Das kann man noch einmal nachlesen, wenn einen das freut.
({8})
Aber wir gucken nach vorne.
Vielleicht nicht mehr allzu weit, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei denen, die mitgewirkt haben: Klaus Riegert, Peter Rauen, Dagmar
Freitag, Swen Schulz und andere. Wir sind auf einem
guten Wege. Wenn wir jetzt diesen Gesetzentwurf verabschieden, dann haben wir eine gute gesetzliche Grundlage geschaffen.
Vielen Dank, Frau Vizepräsidentin!
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Internationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport auf Drucksache 16/3712. Der
Sportausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/4077, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
({0})
Ich gebe bekannt, dass interfraktionell vereinbart
worden ist, die heutige Tagesordnung um die Beratung
der Anträge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion der FDP zu dem möglichen Einsatz von
Tornado-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan auf
Drucksachen 16/4048 und 16/4096 zu erweitern und
diese jetzt in verbundener Beratung mit Zusatzpunkt 7
aufzurufen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 sowie die eben aufgesetzten
Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge in
Afghanistan einsetzen
- Drucksache 16/4047 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine Zusage deutscher Tornados ohne Bundestagsmandat
- Drucksache 16/4048 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Werner Hoyer, Birgit Homburger, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Neues Mandat für Tornado-Einsatz unerlässlich
- Drucksache 16/4096 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Die
Linke fünf Minuten Redezeit erhalten soll. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Oskar Lafontaine das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Frage, ob Tornados der Bundeswehr in den Süden
Afghanistans geschickt werden sollen, beschäftigt mittlerweile auch große Teile der deutschen Öffentlichkeit.
Dabei stand in den letzten Wochen die Frage im VorderOskar Lafontaine
grund, ob es dazu eines Bundestagsmandates bedarf. Wir
sind der Auffassung: Dies ist notwendig. Wir unterstützen alle diejenigen, die darauf bestehen, dass der Deutsche Bundestag hierüber Beschluss fasst, weil wir dabei
bleiben, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee sein
muss.
({0})
Bei uns steht diese Frage aber nicht im Vordergrund.
Man könnte durch die intensive Diskussion dieser Fragestellung von dem eigentlichen Thema abgelenkt werden.
Das eigentliche Thema ist die Frage, ob hier ein
Kampfeinsatz beschlossen wird. Nach unserer Auffassung wird ein Kampfeinsatz beschlossen.
({1})
- Ja. - Ehe ein solcher Kampfeinsatz beschlossen wird,
sollte man sich zumindest Klarheit darüber verschaffen,
was man da mit beschließt. Diese Tornados unterstützen
die Zielfindung der NATO-Bomben. Bei den NATOBombardierungen im Süden Afghanistans kommen viele
Zivilisten ums Leben. Ich halte es für völlig verantwortungslos, eine solche Vorgehensweise in diesem Parlament auch noch zu unterstützen bzw. zu beschließen.
({2})
Noch wichtiger ist für mich aber, dass wir uns mit
dieser Vorgehensweise den Terror ins Land holen.
({3})
Ich kann nur immer wieder darauf verweisen, dass die
Mehrheit des Bundestages dann, wenn sie solchen Einsätzen zustimmt, schlicht und einfach ihrer Verantwortung nicht gerecht wird; denn es ist nicht der Auftrag des
Bundestages, Beschlüsse zu fassen, den Terrorismus
nach Deutschland zu holen. Das müsste doch eigentlich
vermittelbar sein.
({4})
Alle ausländischen Dienste - einschließlich der amerikanischen Dienste - sagen, dass wir durch solche Einsätze
die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöhen.
({5})
Das müsste Sie doch beschäftigen, meine Damen und
Herren.
({6})
Ich kann die Blauäugigkeit nicht verstehen, mit der
man solche Einsätze beschließt. Es wurde einmal gesagt
- das war einer der törichtsten Aussprüche, die hier in
den letzten Jahren gefallen sind -:
({7})
Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. - Da
darf man sich doch nicht wundern, wenn die Opfer der
NATO-Bomben im Süden Afghanistans beispielsweise
sagen: Meine Verwandten werden in Deutschland gerächt.
({8})
Man muss sich zumindest klar darüber werden, was man
mit solch einer törichten Argumentation in der Welt alles
anrichtet.
({9})
Wir sind der Auffassung, dass es das Richtige wäre,
die Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Wir glauben,
dass überhaupt keine vernünftige Strategie vorhanden
ist, die begründen könnte, dass diese Truppen in Afghanistan weiter stationiert bleiben sollten. Wir sind der
Auffassung, dass eine solche Vorgehensweise, wie sie
derzeit wiederum ins Auge gefasst wird, erstens mit unserer Verfassung nicht in Übereinstimmung ist, zweitens das Völkerrecht bricht und drittens auch vom
NATO-Vertrag nicht gedeckt ist. Insofern ist es an der
Zeit, endlich umzukehren, ehe Schlimmeres passiert.
({10})
Es wird immer wieder gesagt, durch den Einsatz in
Afghanistan sei Großartiges erreicht worden. Ich möchte
darauf hinweisen, dass es auch viele kritische Stimmen
gibt. Ich empfehle insbesondere dem konservativen Teil
des Hauses, einmal die Auffassung zur Kenntnis zu nehmen,
({11})
die Peter Scholl-Latour immer wieder vorträgt; der kennt
sich in Afghanistan ja sicherlich besser aus als viele
Damen und Herren dieses Hohen Hauses. Seine Auffassung, dass wir dort keines der Ziele erreicht haben, die
wir vorgegeben haben zu erreichen, ist sicherlich nicht
ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Wenn er etwas
hart formuliert: „Wir arbeiten hier mit Drogenbaronen
und Verbrechern zusammen. Ist das eigentlich Auftrag
der Bundeswehr?“, dann ist dies nicht ohne Weiteres
vom Tisch zu wischen. Es kann nicht Auftrag einer Parlamentsarmee sein, mit Verbrechern und Drogenbaronen
zusammenzuarbeiten. Auch das muss einmal in aller
Klarheit festgestellt werden.
({12})
Wie auch immer Sie die Argumente drehen und wenden: Sie haben sich verrannt. Jeder weiß: Wenn man sich
verrannt hat, ist es schwer, wieder umzukehren.
({13})
- Ihr habt die Erfahrung gemacht, dass ihr euch verrannt
habt. Ihr habt nur nicht gelernt umzukehren. Es wird Zeit
dafür. Sonst bringen die Wähler es euch bei.
({14})
Zurück zu der ernsthaften Auseinandersetzung. Der
Einsatz in Afghanistan führt zu keinem vernünftigen Ergebnis. Er erhöht die Terroranschlagsgefahr in Deutschland. Er setzt eine Politik fort, die auf permanentem Völkerrechtsbruch begründet ist. Deswegen können wir nur
sagen: Gehen Sie diesen Weg nicht! Die Erweiterung auf
einen Kampfeinsatz ist durch nichts begründet. Kehren
Sie um, und ziehen Sie die Truppen aus Afghanistan zurück!
({15})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke beantragt, Afghanistan
sich selbst zu überlassen. Sie beantragen, die Fehler zu
wiederholen, die nach dem Abzug der Sowjetunion aus
Afghanistan gemacht worden sind. Sie beantragen, eine
Situation herbeizuführen, die in Afghanistan eher über
kurz als über lang wieder zu einem Bürgerkrieg führen
würde. Sie wollen die Voraussetzungen dafür geschaffen
sehen, dass Afghanistan endgültig ein Failed State wird,
ein Rückzugs-, Ruhe- und Ausbildungsraum für Terroristen, wie Afghanistan es vor dem Einsatz war.
({0})
Dieser Antrag ist unverantwortlich, auch wenn Sie hineingeschrieben haben, dass Sie eine „verantwortliche
Exitstrategie“ wollen. Eine solche Strategie gibt es zum
jetzigen Zeitpunkt nicht. Allein das Nachdenken darüber
ist unverantwortlich. Dieser Antrag ist unverantwortlich,
weil er das Signal aussendet, wir könnten Afghanistan
möglicherweise im Stich lassen.
({1})
Bei aller Unterschiedlichkeit der Lebensläufe und Biografien der Attentäter vom 11. September hatten sie alle
eines gemeinsam, Herr Kollege Lafontaine: Alle waren
mehrere Wochen, teilweise Monate, in Ausbildungslagern und Trainingscamps der al-Qaida in Afghanistan.
In den Lagern der al-Qaida hat man Schulungs- und
Ausbildungsmaterial, zum Beispiel Pläne, gefunden, die
ganz klar belegt haben, was die weiteren Ziele dieser
Terrororganisation sind.
Wir haben es bei den Anschlägen in London, in Madrid, auf Bali und auf Djerba - wo übrigens auch Deutsche ums Leben gekommen sind - gesehen, genauso wie
bei den sogenannten Kofferbombern von Köln und Dortmund, deren versuchter Anschlag nur aus technischen
Gründen nicht viele Tote zur Folge hatte: Die Spur führt
immer auch in Richtung al-Qaida. Das zeigt, dass der
Satz, den der damalige Verteidigungsminister Struck gesagt hat, dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird, nach wie vor gilt; denn wir müssen verhindern, dass Afghanistan wieder ein Rückzugsraum für alQaida wird.
({2})
Der Kampf kann natürlich nicht allein militärisch gewonnen werden; das weiß jeder. Es geht um einen klugen Mix zwischen zivilem Aufbau und militärischer Sicherheitsvorsorge. Der NATO-Außenministerrat wird
am 26. Januar darüber sprechen, wie diese Strategie auf
ganz Afghanistan ausgeweitet werden kann.
ISAF ist ein breites internationales Bündnis. Die Zusammenarbeit der 37 Nationen hat eine klare völkerrechtliche Grundlage, nämlich die Resolution des Sicherheitsrates. Der Auftrag lautet, Afghanistan bei der
Aufrechterhaltung der Sicherheit zu unterstützen, stabilitätserhaltend und stabilitätsschaffend zu arbeiten. Das ist
nicht nur Nothilfe und nicht nur Selbstverteidigung.
Auch die Operation „Medusa“ beispielsweise ist unter
dem ISAF-Mandat durchgeführt worden. Stabilitätsschaffung durch Militär setzt natürlich voraus, dass man
in dem einen oder anderen Fall seine Waffen einsetzt.
Trotzdem ist ISAF - ich will den Begriff einmal aufgreifen - keine Kriegspartei. Mit diesem Begriff wird
eine Symmetrie zwischen Taliban und den internationalen Truppen suggeriert. Das lehnen wir ab. Im Übrigen
greifen Sie hier zu einer Terminologie, die wir bei unseren amerikanischen Freunden kritisieren. Wir führen in
Afghanistan keinen Krieg, sondern wir sind von der afghanischen Regierung eingeladen worden und arbeiten
auf der Basis eines UN-Mandates.
({3})
Das ist die Sachlage, die Sie mit Ihrem Antrag in Zweifel zu ziehen versuchen. Das lehnen wir ab.
({4})
Die Lage, so wie sie sich derzeit darstellt, ist differenziert zu beurteilen. Auf der einen Seite gibt es Erfolge
und auf der anderen Seite wachsende Schwierigkeiten.
Erfolge gibt es bei der Demokratisierung, bei der Situation der Frauen, auf dem Bildungssektor und dem Gesundheitssektor. Allein die Tatsache, dass inzwischen
über 4 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt sind, weil sie glauben, dass die Voraussetzungen, das Land wieder aufzubauen, immer besser werden,
zeigt, dass eine Schwarz-Weiß-Sicht, wie Sie sie hier
dargestellt haben - nach dem Motto: Es macht sowieso
keinen Sinn, sich für Afghanistan zu engagieren -, der
Wirklichkeit nicht entspricht.
({5})
Auf der anderen Seite gibt es - teilweise wachsende Schwierigkeiten, weil die gewünschte Entwicklung
manchmal ausbleibt. Das führt zu Ungeduld, die Probleme mit Korruption und Drogen nehmen zu, und in
manchen Provinzen verschlechtert sich die Sicherheitslage. Aber das darf nicht dazu führen, jetzt Hals über
Kopf das Land zu verlassen, so wie Sie es dem Bundestag empfehlen.
Der deutsche Schwerpunkt bleibt der Norden. Ein
dauerhafter Erfolg - das allerdings muss hinzugefügt
werden - kann nur bei einem Erfolg in allen Teilen Afghanistans erreicht werden. Es gibt keine ISAF-Nord
und ISAF-Süd. Wer in dieser Woche die Gelegenheit
hatte, mit unseren britischen Kollegen zu sprechen, der
wird festgestellt haben, dass deren PRT-Konzept, also
das Provincial-Reconstruction-Team-Konzept, und Vorgehensweise der Art, wie Deutschland im Norden die
Wiederaufbauarbeiten in Verbindung mit militärischen
Fähigkeiten angeht, sehr ähnlich sind.
Nun zur Anfrage der NATO bezüglich der Tornados:
Es geht um die Frage, ob Deutschland bei der Aufklärung helfen kann. Es geht nicht um unmittelbare Zielbekämpfung. Eine verbesserte Aufklärung, eine verbesserte Kenntnis über mögliche Bedrohungen, Herr
Lafontaine, dient zunächst dem Schutz eigener Kräfte,
natürlich auch dem Schutz unserer Entwicklungshelfer
und nicht zuletzt dem Vermeiden sogenannter Kollateralschäden, wenn Angriffe auf feindliche Ziele gestartet
werden müssen. Wer also Aufklärung unterbindet, bewirkt genau das, was Sie hier vorgeben anzuprangern.
({6})
Deshalb finde ich es richtig, dass die Bundesregierung ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt hat, zu prüfen, ob wir die Aufklärungslücke, die möglicherweise
entsteht, mit den RECCE-Tornados schließen können,
wobei die näheren Umstände - wo, wie lange, mit welchem genauen Auftrag? - noch geprüft werden, unter
anderem durch eine Fact-Finding-Mission. Die Bundesregierung hat noch keine Entscheidung getroffen. Wir
gehen aber davon aus, Herr Minister, dass die Entscheidung, so sie denn getroffen wird, wie bei allen Auslandseinsätzen bisher - da schließe ich die Vorgängerregierung ein - auf einer eindeutigen, unzweifelhaften
Rechtsgrundlage erfolgt. Denn das ist die Voraussetzung
für eine möglichst breite parlamentarische Zustimmung.
Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass man unseren
Soldaten, denen ich an dieser Stelle danke, dieses
schwierige Mandat überhaupt zumuten kann.
({7})
Ich bin allerdings der Meinung, dass die detaillierten
Sachfragen zum Tornadoeinsatz dann erörtert werden
sollten - das werden wir in jedem Falle tun -, wenn die
Entscheidung der Bundesregierung getroffen ist. Deshalb will ich jetzt keine weiteren Ausführungen dazu
machen.
Ich könnte mir allerdings vorstellen - damit komme
ich zum Schluss -, dass der Antrag der Fraktion der FDP
und vielleicht auch der des Bündnisses 90/Die Grünen,
die sozusagen im Vorgriff auf eine Entscheidung der
Bundesregierung ein bestimmtes Verfahren anmahnen,
hätten vermieden werden können,
({8})
wenn uns der Informationsfluss der Bundesregierung
über Pläne und Absichten etwas rechtzeitiger und kontinuierlicher erreichen würde.
({9})
Das möchte ich als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ausdrücklich anmahnen.
({10})
Dr. Werner Hoyer hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bemerkung zur Informationspolitik möchte ich unterstreichen. Ich möchte es auch bei
dieser Bemerkung belassen. Herr Minister, seien Sie sicher: Wir wollen nicht die Oberingenieure oder die Unterkommandeure der Armee werden. Aber die politische
Verantwortung müssen wir am Ende tragen. Deshalb
möchten wir frühzeitig in die Überlegungen einbezogen
werden.
Zur Rechtsfrage: Ich habe gestern das Ergebnis einer
Beauftragung des Wissenschaftlichen Dienstes bekommen. In einem entsprechenden Gutachten kommt das
Gremium zu dem Ergebnis, dass die von der Bundesregierung aufgrund der Anfrage überlegte Entsendung der
Tornados grundsätzlich unter das bestehende ISAFMandat fällt, wenn die Bedingungen eingehalten werden, die dort genannt sind: Unabweisbarkeit, quantitative und zeitliche Begrenzung, aber natürlich auch Personal- und Haushaltsobergrenzen. Deshalb kann man die
endgültige juristische Bewertung erst vornehmen, wenn
wir genau wissen, was uns vorgelegt wird.
({0})
Gleichwohl kann man natürlich eine politische Bewertung vornehmen. Hierbei komme ich zu dem
Schluss, dass es mit Geist und Buchstaben des ISAF-Beschlusses sicherlich nicht oder nur sehr schwer vereinbar
wäre, wenn mit einer Veränderung der Qualität der Anstrengungen unserer Bundeswehr in Afghanistan seitens
der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag nicht
befasst würde. Politisch ist es also sehr viel klüger, sich
um eine Zustimmung des Bundestages zu bemühen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich glaube, in der Sache
stehen wir hier vor einer der schwierigsten Abwägungen
in der Außenpolitik seit langer Zeit. Mit der qualitativen
Veränderung unserer Mitwirkung in Afghanistan einher
geht auf der einen Seite eine weitergehende Mitwirkung
an der Operation ISAF im Süden, wobei es sich natürlich
bei ISAF - das ist vollkommen zutreffend von Herrn
Polenz gesagt worden - um einen Gesamteinsatz han7718
delt. Die Aufteilung in Nord und Süd ist also nur unter
regionalen Gesichtspunkten richtig. Mit Berufung auf
diese Aufteilung kann sich die Bundesregierung allerdings nicht aus ihrer Mitverantwortung für das, was im
Süden geschieht, stehlen. Die NATO ist ja kein abstraktes Gebilde, sondern wenn die NATO irgendetwas unternimmt, dann kann das nicht geschehen, ohne dass vorher
deutsche Vertreter in den entsprechenden NATO-Gremien mitgewirkt haben. Das heißt, auch wir tragen Mitverantwortung für das, was im Süden passiert. Das gilt
allerdings nur in begrenztem Maße für OEF, für die Operation „Enduring Freedom“, weil wir ja in der Tat so gut
wie nichts über das wissen, was im Osten Afghanistans
passiert. Ich empfehle die Lektüre des sehr interessanten
Berichts von Lothar Rühl, der vorgestern in der „Neuen
Zürcher Zeitung“ erschienen ist. Da muss man, wie ich
glaube, schon etwas genauer hinschauen. Die eine Frage
ist also, inwiefern diese qualitative Veränderung bzw. Intensivierung unseres Beitrages für uns ein Problem darstellen könnte. Darüber hinaus haben wir andererseits
eine außerordentlich schwere bündnispolitische Frage zu
beantworten: Wenn die Anforderung des Bündnisses tatsächlich unabweisbar ist und wir die geforderte Leistung
erbringen könnten - die Bundesregierung wird uns das ja
dann darlegen müssen -, dann ist das bündnispolitisch
sehr brisant, weil mit der Beantwortung dieser Frage die
Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland sehr
eng zusammenhängt. Ich empfehle also, das sehr sorgfältig zu erwägen, nicht nur, weil wir Liberale jeder Renationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik widersprechen werden, nicht nur, weil wir
die NATO auch noch brauchen werden, wenn wir eines
Tages einmal nicht mehr über Afghanistan sprechen,
sondern auch, weil wir in Afghanistan auf die Solidarität
des Bündnisses, die sehr stark von unserer eigenen
Bündnisfähigkeit abhängt, im Interesse unserer eigenen,
dort tätigen Soldaten angewiesen sind.
({2})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
wir uns hier nicht vorzeitig festlegen. Wir werden sehr
sorgfältig prüfen und abwägen und dann im Lichte der
beiden genannten Überlegungen, nämlich zum einen, wo
unsere eigenen Interessen für das weitere Vorgehen in
Afghanistan liegen, und zum anderen, wie diese mit den
Bündnisinteressen in Einklang zu bringen sind, eine Entscheidung fällen. Das Bündnisargument hat für uns ein
großes Gewicht. Aber andererseits bin ich, Herr Kollege
Polenz, nicht der Meinung, dass wir einfach allen Vorschlägen des NATO-Generalsekretärs folgen sollten.
Wenn Bush und de Hoop Scheffer - das ist ja meistens
das Gleiche ({3})
nichts anderes als „more of the same“ einfällt, dann können wir das so nicht hinnehmen; denn wir würden dabei
übersehen, dass wir mittel- und langfristig in Afghanistan nur Erfolg haben können, wenn wir zwei Schlüsselprobleme lösen, für die bislang niemand ein überzeugendes Konzept vorlegen konnte. Das eine Problem ist, dass
das pakistanische Grenzgebiet Waziristan eine unerschöpfliche Quelle für den Nachschub an die Terroristen
in Afghanistan bietet. Das zweite Problem ist der gigantische Widerspruch in der Drogenfrage, der schon bei
der ersten Ausweitung des Einsatzes der Bundeswehr
auf Kunduz seinerzeit hier diskutiert worden ist. Irgendwann müssen wir uns einmal die Mühe machen, Lösungen für diese beiden Probleme zu finden, sonst wird der
Einsatz in Afghanistan am Ende in einer Katastrophe enden. Jeder, der bisher die Afghanistanbemühungen zum
Lackmustest für die NATO hochstilisiert hat, wird sich
hinterher wundern, vor was für einem Scherbenhaufen er
dann steht.
({4})
Das Wort hat Detlef Dzembritzki von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will vorweg sagen, dass für uns als SPD-Fraktion der
Wiederaufbau, die Entwicklung und die Unterstützung
des Parlaments und der Regierung in Afghanistan absolut im Vordergrund stehen. Das ist selbstverständlich,
daran wird nicht gerüttelt, und das wird auch weiterhin
Priorität haben.
Außerdem wird auch ganz klar sein, dass das Einsatzgebiet der Bundeswehr im Norden Afghanistans liegt.
Aber wir wissen - auch aus den Diskussionen und aus
dem Mandat -, dass temporäre Einsätze, temporäre Hilfe
an anderer Stelle gefordert sind, machbar sind und tatsächlich auch schon stattgefunden haben.
Für uns ist also klar, dass eine Veränderung der Konzeption nicht zur Diskussion steht. Für uns ist entscheidend - ich bin dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses dankbar, dass er darauf hingewiesen hat -, dass
das, was wir inhaltlich bewegen wollen, dass das, was
wir als Schwerpunkt im zivilen Aufbau sehen, sicherlich in militärischer Absicherung, auch von den anderen Bündnispartnern wahrgenommen wird, und dass wir
hier in dieser Weise im besten Sinne des Wortes eine Kohärenz herstellen.
Herr Polenz, Sie haben auf unsere Gespräche mit den
Kollegen aus dem Unterhaus hingewiesen, die wirklich
interessant waren, weil sie sehr inhaltlich ausgerichtet
waren. Ich darf das um meine Eindrücke aus Diskussionsrunden in der Westeuropäischen Union ergänzen, in
denen sehr stark nicht nur die militärische Frage, sondern immer wieder auch die inhaltlich zivile Frage in
den Vordergrund gerückt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das einerseits als Schwerpunkt betonen und beschreiben, kommen wir doch andererseits nicht umhin, festzustellen,
dass die Aufgabe in Afghanistan nur mit zivilem Aufbau
und ohne militärische Absicherung nicht zu lösen ist.
Wir dürfen und wir können nicht so tun - ich bitte bei
den Freundinnen und Freunden vom Technischen HilfsDetlef Dzembritzki
werk um Nachsicht -, als wenn nur mit einem zivilen
Einsatz des THWs das zu leisten wäre, was dort zu leisten ist.
Ich glaube - auch meine Vorredner haben darauf hingewiesen -, dass wir bei dem, was im Augenblick von
uns erbeten wird, nämlich im Aufklärungsbereich mitzuwirken - die britischen Kolleginnen und Kollegen haben
uns bei dem Gespräch auch deutlich gemacht, dass ihre
Kräfte erschöpft sind, dass sie andere Aufgaben wahrzunehmen haben -, nicht umhinkommen, uns diesem Ansinnen, diesem Anliegen objektiv zu öffnen und zu prüfen, ob wir es realisieren können. Denn - ich glaube, das
ist deutlich zu unterstreichen - Aufklärung ist auch eine
Frage von Sicherheit. Und Sicherheit für unsere Soldaten und für die Zivilbevölkerung soll mit im Vordergrund stehen. Wenn man sich die NATO-Länder anschaut, wissen wir, dass nicht alle über die
Aufklärungskapazitäten, die hier notwendig sind, verfügen.
Man darf auch darauf hinweisen - ich weiß, dass das
alles bei Ihnen, Herr Lafontaine und Kolleginnen und
Kollegen, nicht helfen wird -, dass die Tornados, soweit
ich das beurteilen kann, sogar ziviler sind als die Flugzeuge, die bisher die Aufklärung machen. Aber das soll
nicht vertieft werden, weil das von dem eigentlichen
Problem ablenken würde.
Herr Lafontaine, Sie haben gesagt: Wir holen den
Terrorismus nach Deutschland. Ich muss gestehen, dass
ich mich nicht nur wundere, sondern dass diese Aussagen, so wie Sie sie hier aus meiner Sicht populistisch
vornehmen, Schmerzen verursachen.
({0})
Ich habe für Ihre Arbeit, die Sie in den zurückliegenden Jahrzehnten geleistet haben, nach wie vor Respekt.
Ich habe auch an einigen Stellen die Möglichkeit gehabt,
im persönlichen Gespräch mit Ihnen manchen Gedanken
auszutauschen. Aber wie Sie uns hier im Parlament in
die Situation meinen bringen zu können, dass wir - jetzt
überziehe ich einmal ein bisschen - die Legitimierung
von Terror wollten oder akzeptieren wollten, halte ich
für eine große Ungeheuerlichkeit. Zumindest müsste
man doch auch die Frage stellen: Wer würde denn, wenn
er den Terror nach Deutschland bringt, der Terrorist
sein? Das wäre doch keine ehrenwerte Persönlichkeit,
sondern jemand, der aus genau dem terroristischen Umfeld käme, das wir durch die gemeinsamen Aktionen der
internationalen Gemeinschaft zu bekämpfen versuchen.
({1})
Wir wollen dafür sorgen, dass der Terror weder unser
Land noch andere Länder erreicht. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit muss die internationale Gemeinschaft den Einsatz von Gewalt grundsätzlich verdammen und ausschließen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich
freundlicherweise mit Zwischenrufen zurück; denn Sie
wissen es besser. Ich habe hier im Parlament schon einmal darauf hingewiesen: Sicherlich gibt es Einzelne
- ich will jetzt keine Namen nennen -, die so tun, als
wollten sie sich in unserem Land inkorrekt verhalten.
Aber, Frau Kollegin Knoche, wissen Sie, wie dankbar
viele Kolleginnen und Kollegen im Parlament, insbesondere Frauen, und viele Menschen in Afghanistan
sind, dass sich Europa und die Bundesrepublik einbringen?
Ich finde es dermaßen töricht - ich möchte nicht noch
kräftigere Worte benutzen -, den Vergleich zu ziehen:
Die Sowjets sind gescheitert, also werdet auch ihr scheitern. Wir treten dort nicht als Okkupanten auf.
({3})
Wir wollen keine Vorschriften machen, was dort zu geschehen hat. Wir sind dort, um dem Land, der Regierung
und den Menschen dabei zu helfen, das eigene Schicksal
selbst in die Hand zu nehmen, um von uns unabhängig
zu werden. Das ist der entscheidende Punkt. Nur wenn
man weiß, was in diesem Land in den zurückliegenden
drei Jahrzehnten geschehen ist, und wenn man zur
Kenntnis nimmt, dass die Kapazitäten, die notwendig
wären, um diese Aufgabe von einem Tag auf den anderen zu bewältigen, überhaupt nicht vorhanden sind, dann
wird deutlich, dass Hilfe notwendig ist.
Lieber Herr Hoyer, ich bin Ihnen für Ihren Beitrag
dankbar. Natürlich müssen wir uns jede Entscheidung,
die den militärischen Bereich betrifft und damit verbunden sein könnte, dass Menschen zu Schaden oder sogar
zu Tode kommen, besonders schwer machen. Sie haben
einige Überlegungen, an denen wir uns dabei orientieren
sollten, angesprochen. Eine solche Frage müssen wir immer wieder sehr genau prüfen. Das ist die Herausforderung, die wir zu bewältigen haben. Ich vermute, dass wir
uns der Bitte, Kapazitäten zur Aufklärung zur Verfügung
zu stellen, letztlich nicht werden entziehen können. Wir
werden intensiv darüber diskutieren. Wenn wir dieser
Bitte entsprechen, würden wir dadurch allerdings keineswegs unsere Ideale verraten oder die Grundsätze der
Zusammenarbeit mit Afghanistan aufgeben. Das muss
deutlich unterstrichen werden.
Ich bin der Regierung dankbar, dass sie eines sehr
schnell erkannt hat - an dieser Stelle möchte ich nicht
die juristische, sondern ausschließlich die politische Diskussion führen -: Der Einsatz von Tornados würde eine
Erweiterung des Mandats darstellen. Daher muss das
Parlament darüber debattieren. Wir als Regierungskoalition sollten das auf jeden Fall tun, weil wir immer großes
Interesse daran haben müssen, breite Mehrheiten im Parlament herzustellen. Allein auf Wunsch der Opposition
hätte diese Diskussion sofort beendet werden können.
Die SPD-Fraktion hat sich klar dazu bekannt - das finde
ich richtig -, dass eine neue Entscheidung über das Mandat getroffen werden muss.
({4})
Auch bin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie
sich dieser Aufgabe im Rahmen ihrer Verantwortung in
der G 8 und insbesondere in der EU so intensiv zuwendet. Herr Polenz hat schon darauf aufmerksam gemacht,
dass die Außenministerkonferenz in Brüssel dazu genutzt werden soll, dass die Politischen Direktoren gemeinsame Arbeit leisten und dass man durch Diskussionen und den Erfahrungsaustausch über den Umgang mit
dem Afghanistan Compact versucht, weiter aufeinander
zuzugehen.
Ich finde es sehr gut - auch dies zu Herrn Hoyers
Hinweis -, dass sowohl der pakistanische als auch der
afghanische Außenminister in die Außenministerkonferenz der G-8-Staaten einbezogen werden, um auf diesem
Wege die Nachbarschaftspolitik anzustoßen. Auch wir
sollten überlegen, wie wir als Parlamentarier unsere
Kontakte in diese Region etwas stärker ausbauen können. Denn Pakistan ist ein wichtiger Mitspieler. Wir sollten uns bemühen, für gute Nachbarschaft zu sorgen und
Aggressionen abzubauen. Diese Gesamtverantwortung
müssen wir als Parlament wahrnehmen.
Vielen Dank.
({5})
Für das Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort
dem Kollegen Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Dzembritzki, das ist ja alles richtig. Wir haben
uns als Parlament mehrheitlich dazu bekannt, die gewählte afghanische Regierung zu unterstützen. Das ist
versehen mit einem UN-Mandat. Wir lassen uns in diesem Bemühen nicht in eine Ecke stellen, etwa mit Besatzern. Nur, eines müssen Sie als Koalition sich an dieser Stelle fragen lassen: Wie bringen Sie es eigentlich
mit schöner Regelmäßigkeit fertig, Situationen herbeizuführen, die es Kollegen wie Herrn Lafontaine überhaupt
erst ermöglichen, solche Ausführungen über Afghanistan zu machen?
({0})
- Herr von Klaeden, Sie wären gut beraten, an dieser
Stelle künftig anders zu agieren.
Ich will einmal nachzeichnen, worum es geht, aber
nicht aus Rechthaberei, sondern um zu zeigen, was sich
ändern muss. Sie haben am 20. Dezember, mit einer halben Stunde Vorlauf, die Obleute des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses, die Sie auf
die Schnelle erreichen konnten, über diese Anfrage informiert, obwohl sie Ihnen bereits seit zehn Tagen vorlag. Warum haben Sie das gemacht? Weil Sie befürchteten, dass auf der Bundespressekonferenz Fragen dazu
gestellt würden. Sie haben gesagt: Dieser Anfrage können wir nachgeben, weil sie durch das Mandat im Prinzip gedeckt ist. Das ist so weit gegangen, dass der Fraktionsvorsitzende der SPD bei der Fraktionsklausur in
Brüssel in einem Gespräch mit dem NATO-Generalsekretär gesagt hat: Ihr habt angefragt, wir liefern. Da sage
ich Ihnen: So geht das nicht, so geht man nicht mit dem
Bundestag um, und so geht man nicht mit dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Parlamentsarmee um.
({1})
Dann, lieber Herr Kollege Benneter, haben Sie an dieser
Stelle die Bremse gezogen und sich gegenüber Ihrer
Fraktionsführung durchgesetzt.
({2})
Jetzt sind wir an dem Punkt, dass wir über diese Frage
rational diskutieren. Meine Bitte und Aufforderung an
Sie von der Koalition lautet: Hören Sie auf, herumzufilibustern, gerade wenn es um so schwierige Fragen wie
Militäreinsätze geht! Sobald es Zweifel daran gibt, ob etwas durch das Mandat gedeckt ist oder nicht, muss der
Bundestag befasst werden, kann man sich nicht daran
vorbeimogeln. Das ist der Kern dessen, worum es hier
geht.
({3})
Über alle anderen Fragen werden wir in nächster Zeit
in aller Ruhe und Gelassenheit zu diskutieren haben. Natürlich haben wir nicht nur ISAF-Nord und ISAF-Süd.
Aber wir haben die Situation, dass bestimmte Teile der
NATO anders agieren, als es beispielsweise die Bundeswehr und die Skandinavier im Norden Afghanistans tun.
Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, dass bei den im Süden
Eingesetzten, bei den Amerikanern, in der Frage des
Verhältnisses von militärischen Mitteln - die, ich betone das, notwendig sind - und zivilem Aufbau ein Umdenkprozess im Gange ist. So hat ein dort stationierter
General gesagt: Wenn man mich fragt, ob ich eine zusätzliche Kompanie will oder lieber einen Kilometer
Straße bauen will, dann entscheide ich mich für den Kilometer Straße.
({4})
Der Mann hat recht. Das heißt, wir haben hier eine Entwicklung.
Ich erwarte von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie
uns im Anschluss an das Treffen der NATO-Außenminister und der NATO-Verteidigungsminister darlegen
können, auf welche Strategie für ISAF Sie sich innerhalb
der NATO, mit den Verbündeten, geeinigt haben. Soll es
so gehen wie im Süden, nämlich in die Sackgasse? Oder
soll ganz Afghanistan mit einem Mix von zivilen und
militärischen Mitteln stabilisiert werden? Das wird es
sein, worüber wir uns dann zu unterhalten haben.
({5})
Dazu gehören klare Aussagen, zum Beispiel wie man
mit dem Kampf gegen Drogen umgeht; ich will das hier
nicht unnötig in die Länge ziehen, indem ich all diese
Fragen anspreche.
Die Debatte darüber, wie man Afghanistan stabilisiert, ist eine praktische Debatte, und sie ist es wert, geführt zu werden. Anders ist es mit der Debatte, ob man
an einem neuen Mandat vorbeikommt. Ich glaube, es ist
auch und gerade im Interesse der Soldaten der Bundeswehr, die dort eingesetzt sind, dass solche Einsätze nicht
ausschließlich von der jeweiligen Mehrheit beschlossen
werden.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4047 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/4048 und 16/4096 sollen an dieselben
Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/4047
überwiesen werden. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Renate Künast, Fritz Kuhn
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Für ein Entwicklungspartnerschaftsabkommen der Europäischen Union ({0}) mit den
Staaten der Afrika-, Karibik-, Pazifikgruppe
({1})
- Drucksache 16/4055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierfür ist zwischen den Fraktionen verabredet worden, eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thilo Hoppe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Cotonouabkommen ist der Abschluss von
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten vorgesehen. Zu
den AKP-Staaten - das sind überwiegend ehemalige britische und französische Kolonien in Afrika sowie aus der
Karibik- und der Pazifik-Region - zählen viele der ärmsten Länder dieser Erde.
Mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden die erklärten Ziele verfolgt, die Armut zu bekämpfen und eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Bisher
steuert die EU-Kommission aber deutlich an diesen
Zielen vorbei. Das liegt vielleicht auch daran, dass der
Handelskommissar der Europäischen Union, Peter
Mandelson, für dieses Abkommen zuständig ist und dass
der Entwicklungskommissar, Louis Michel, bei den Verhandlungen am Katzentisch sitzt.
Der Handelskommissar folgt anderen Prioritäten als
der Entwicklungskommissar. Das wird deutlich, wenn
man die Grundsatzreden der beiden miteinander vergleicht und ins Detail geht. Der Handelskommissar
denkt vor allem an die wirtschaftlichen Interessen der
Europäischen Union. Dabei hat er zuerst die Wünsche
der Exportindustrie im Ohr: Abbau von Handelshemmnissen, Zollsenkungen in den Partnerländern, Liberalisierung des Dienstleistungssektors, Investitionsschutzabkommen.
Dabei sind die Märkte der AKP-Länder gar nicht so
interessant. Mithilfe dieser Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit schwachen AKP-Ländern kann man auf der
internationalen Bühne aber Barrieren beseitigen, die sich
auf der Ebene der WTO aufgrund des geschlossenen
Widerstandes der Entwicklungs- und Schwellenländer
so noch nicht einreißen ließen. So verwundert es auch
nicht, dass die Europäische Kommission in den Verhandlungen mit den AKP-Staaten all diese Streitpunkte,
die zum bisherigen Scheitern der WTO-Verhandlungen
bzw. zu einer Sackgasse dort geführt haben, wieder auf
die Agenda gehoben hat: die sogenannten Singapurthemen, die Liberalisierung des Dienstleistungssektors
- GATS lässt grüßen -, Absenken des Außenschutzes.
Auf die schwachen AKP-Länder wird ein erheblicher
Druck ausgeübt, deutlich mehr zu bieten, als es ihnen bei
den WTO-Verhandlungen möglich war. Das ist unfair,
weil hier ein Riese mit einer Gemeinschaft von Zwergen
verhandelt. Die AKP-Staaten stehen mit dem Rücken
zur Wand, weil die Zollpräferenzen, die ihnen aufgrund
älterer Abkommen von der EU noch eingeräumt werden,
nicht mit der WTO kompatibel sind und auslaufen müssen. Aus diesem Grunde ist auch das Argument unsinnig, das oft gebraucht wird, dass die AKP-Staaten keine
neuen Abkommen zu unterschreiben brauchen, wenn sie
ihnen nicht passen. Die AKP-Staaten sind in der Position
des Schwächeren, und die Europäische Union sollte dies
nicht ausnutzen.
({0})
Wir plädieren für eine Politik der Europäischen
Union, die sich an den Grundsätzen orientiert, die Entwicklungskommissar Michel formuliert hat. Den AKPStaaten sollen durch neue Abkommen - wir nennen sie
im Antrag bewusst Entwicklungspartnerschaftsabkommen - neue Spielräume für eine nachhaltige Entwicklung geschaffen werden.
Nun werden wir uns in dieser Debatte sicherlich wieder über zwei Grundsatzfragen streiten: Sind die Interessen der Europäischen Union mit denen der AKP-Entwicklungsländer überhaupt vereinbar? Ließen sich diese
Abkommen so gestalten, dass es zu einer Win-win-Situation kommt? Die zweite Grundsatzfrage: Trägt die
Öffnung der Märkte zur Armutsbekämpfung bei, oder
bewirkt Handelsliberalisierung in vielen Fällen eher das
Gegenteil?
Die Europäische Kommission sieht das ganz undogmatisch, aber egoistisch: Sie schützt ihren Agrarmarkt
mit hohen Zöllen und subventioniert ihre Agrarexporte mit katastrophalen Auswirkungen für die Entwicklungsländer. In einem Teilbereich praktiziert sie also genau
das Gegenteil von freier Marktwirtschaft und Freihandel. Von den Entwicklungsländern fordert sie aber eine
sehr weitreichende Absenkung ihres Außenschutzes, besonders im Dienstleistungsbereich und für Industriegüter. Das ist ein wirklich unmoralisches Messen mit
zweierlei Maß.
({1})
Ich plädiere auch dafür, undogmatisch an diesen
Grundsatzstreit heranzugehen; aber in einem ganz anderen Sinne. Entscheidend ist, was am Ende für die große
Mehrheit der Bevölkerung herauskommt. Mehr Freihandel kann zu einer nachhaltigen Entwicklung und
Armutsbekämpfung beitragen, aber nur dann, wenn es
genügend Schutzmechanismen gibt und wenn in den
Partnerländern flankierende Steuer-, Sozial- und Umweltgesetze beschlossen und auch eingehalten werden.
Zur Frage der möglichen Win-win-Situation: Beschränkt man dies allein auf Wirtschaftsinteressen im
engeren Sinne, dann wird es schwierig. Dann würde ich
eher dafür plädieren, dass der Riese sich ein Stück zurücknimmt und den Zwergen mehr Gestaltungsspielraum lässt. Was geschehen kann, wenn ein Riese seine
Übermacht ausnutzt, kann man vor der Westküste Afrikas besichtigen. Als Folge eines Fischereiabkommens
sind die Fischgründe leergefischt. Eine große deutsche
Zeitung titelte: Die EU produziert ihr Flüchtlingsproblem selbst. - Auch Bundespräsident Köhler hat auf
seiner Afrikareise jetzt sehr deutliche Worte zu diesem
Fischereiabkommen gesagt.
Daraus müssen wir für die neu zu verhandelnden
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU
und den AKP-Ländern lernen. Sie müssen den Geist der
Gerechtigkeit atmen. Sie müssen entwicklungsverträglicher sein. Nur dann können sie zu einer Win-win-Situation führen.
Wir hoffen, dass unser Antrag zu dem notwendigen
Kurswechsel beiträgt und dass sich zumindest die Bundesregierung für einen solchen Kurswechsel in der EU
stark macht. Denn wenn es so weiterläuft wie bisher,
dann führen diese Verhandlungen nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen
zwischen den Ländern Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raums, den sogenannten AKP-Staaten, und
der Europäischen Union befinden sich in der Schlussphase. Bis zum Ende dieses Jahres sollen die seit 2004
andauernden Verhandlungen mit den sechs regionalen
Ländergruppen der AKP-Region und der EU abgeschlossen sein. Konkrete Textentwürfe für die Regionalabkommen sind bereits in der Beratung. Die Karibikregion ist mit ihrem Vertragsprozess am weitesten
fortgeschritten. Anfang Februar wird uns ein ReviewBericht der Verhandlungen vorliegen, der dann im Detail
über den Verhandlungsstand und den Verhandlungsinhalt
informieren wird.
In Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, fordern Sie, die bereits
im Jahr 2000 beschlossenen Vereinbarungen, bis 2008
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, auch EPAs genannt, abzuschließen, nun doch lieber durch Entwicklungspartnerschaften zu ersetzen. An dieser Stelle verdrehen Sie die Intention dieser Abkommen. Beim
Vertragsschluss 2000 betonte der damals amtierende
Vorsitzende des AKP-Rates, John Horne, dass es das
Ziel der AKP-Staaten sei, sich im Zuge der rasch fortschreitenden Globalisierung schrittweise in Richtung
Freihandel zu entwickeln. Deshalb habe man sich auf
die Wirtschaftsabkommen geeinigt, die erstmals handels- und entwicklungspolitische Ansätze miteinander
verknüpfen.
Im Übrigen war Ihre Fraktion im Jahr 2000 noch voller Begeisterung und bezeichnete das Cotonouabkommen und seine Ziele als eine Partnerschaft mit großer
Zukunft. Voller Lobeshymnen stellten Sie fest, dass es
mit diesen neuen Handelsregelungen gelungen ist, ein
WTO-konformes System zu errichten und gleichzeitig
den Interessen der Entwicklungsländer Rechnung zu tragen. Heute, nicht mehr in der Regierungsverantwortung,
stellen Sie das infrage und fallen mit Ihrem Antrag zu
längst überholten Argumenten zurück, die auf Fragen
des weltweiten Wandels und der Globalisierung keine
Antwort geben.
Der Handel ist heute, wo die Öffnung der Märkte voranschreitet, für das wirtschaftliche Wachstum von enormer Bedeutung. Wirtschaftliches Wachstum nimmt eine
Schlüsselrolle bei der Armutsbekämpfung ein. So formulierte der europäische Kommissar für Entwicklung,
Louis Michel - auch Sie hatten ihn erwähnt, Herr Kollege -, erst kürzlich in einem Interview von „Europolitique“: Die einzige Möglichkeit für diese Länder, der Armut zu entkommen, ist der Weg in ein freies
Handelssystem.
Die EPAs werden diesen Weg in förderlicher Weise
begleiten und unterstützen. So wird dem Wunsch der
AKP-Staaten, ihnen eine schrittweise Integration in
den Weltmarkt zu ermöglichen, entsprochen. Je nach
Bedarf und Reife der jeweiligen Länder wird es eine individuell zeitlich gestufte Marktöffnung geben.
Im Übrigen wurde es den AKP-Staaten freigestellt,
sich an den Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen
Union zu beteiligen. Sollte sich ein Land dazu nicht in
der Lage fühlen, stand das Angebot, eine mit dem Loméabkommen vergleichbare Regelung zu treffen. Bis heute
hat kein AKP-Land eine solche Alternative eingefordert.
Vielmehr ist zu beobachten, dass heute die AKP-Staaten
der Europäischen Union gegenüber als sehr selbstbewusste Partner auftreten.
Daher ist für mich an Ihrer Argumentation und der
Argumentation einiger Nichtregierungsorganisationen
schwer nachvollziehbar, dass Sie immer noch der Meinung sind, anstelle der AKP-Staaten sprechen zu müssen. Wäre es nicht an der Zeit, unseren Verhandlungspartnern endlich das Vertrauen entgegenzubringen, dass
sie eigenständig, selbstbewusst und kompetent ihre Forderungen artikulieren können? Auch das gehört zu einer
Partnerschaft dazu.
({0})
Neben der schrittweisen Öffnung für den Weltmarkt
sind die EPAs auch für die regionale Integration der
AKP-Mitglieder von großer Bedeutung. Der Abbau von
regionalen Handelsschranken und die mögliche Errichtung einer Zollunion dienen dem wirtschaftlichen
Wachstum innerhalb der Region und sind zugleich ein
wesentlicher Faktor zur Stabilisierung und Intensivierung der Beziehungen der Länder untereinander. Das
wissen wir am besten aus unserer eigenen Erfahrung mit
dem Integrationsprozess in Europa.
Auch hier leistet die EU bei den regionalen Verhandlungen gezielte Unterstützung mit Expertenteams, den
sogenannten Regional Preparatory Task Forces. Wir lassen die AKP-Staaten nicht mit ihren Problemen allein,
wie so oft behauptet wird. Wir leisten technische und
finanzielle Hilfen.
Bereits im 9. Europäischen Entwicklungsfonds stellten die europäischen Staaten 730 Millionen Euro für
Maßnahmen im Bereich der makroökonomischen Stabilisierung, der Steuerreform, der Zollverwaltung, der Investitionen und Wettbewerbspolitik bereit. Mit dem
10. Europäischen Entwicklungsfonds, der zeitgleich mit
den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen in Kraft tritt,
werden den AKP-Staaten 22,6 Milliarden Euro für
Strukturanpassungen zur Verfügung gestellt. Zusätzlich
zu dieser Summe werden die AKP-Staaten ab 2012 aus
der handelsbezogenen Entwicklungshilfe noch einmal
rund 1,2 Milliarden Euro erhalten. Denn wir wissen,
dass erfolgreicher Handel ordnungsgemäße Produktionsmöglichkeiten und gute Infrastruktur voraussetzt.
Die laufenden Verhandlungen zeigen aber auch, dass
in vielen AKP-Staaten funktionierende Institutionen
fehlen, Institutionen, die für den Erfolg der EPAs von
wesentlicher Bedeutung sind. Deshalb ist ein zentraler
Punkt sowohl der Verhandlungen als auch der anschließenden Implementierung der Abkommen, den Aufbau
solcher Institutionen voranzutreiben. Diese Institutionen
müssen natürlich auch von den Entscheidungsträgern der
einzelnen Staaten gewollt sein.
An dieser Stelle möchte ich etwas zu den im Juli ergebnislos verlaufenen Verhandlungen der Welthandelsorganisation sagen. Der derzeitige Stand ist für uns alle
sehr unbefriedigend. Um Bewegung in die Verhandlungen zu bringen, erklärte sich die EU mit dem Auslaufen
der Agrarexporthilfen bis Ende 2013 einverstanden.
Doch von anderer Seite bewegte sich in den Gesprächen
wenig. Das ist sehr bedauerlich.
Deshalb ist es umso dringender, die bereits im Dezember letzten Jahres in Hongkong getroffenen Zusagen
einzuhalten. Diese Zusagen waren erstens eine stärkere
handelsbezogene Entwicklungshilfe und zweitens, den
am wenigsten entwickelten Ländern einen zoll- und quotenfreien Marktzugang zu ermöglichen. Ihre Forderung,
die Everything-but-Arms-Initiative, die den am wenigsten entwickelten Ländern einen zoll- und quotenfreien
Zugang auf den europäischen Binnenmarkt ermöglicht,
auf alle AKP-Staaten auszuweiten, hält die CDU/CSUFraktion für kontraproduktiv.
({1})
Der den ärmsten Ländern eingeräumte Marktvorteil
würde so zum Teil durch die Gleichstellung mit weiterentwickelten Ländern verpuffen.
Vor dem Hintergrund des momentanen Stillstands der
Doharunde gewinnt ein erfolgreicher Abschluss der
Verhandlungen zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen umso mehr an Bedeutung. Es wäre ein deutliches
Signal an die Blockierer, wenn es dennoch möglich ist,
multilaterale Verträge im Sinne der Entwicklungsländer
abzuschließen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird
sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
für den erfolgreichen Abschluss der EU-AKP-Verhandlungen einsetzen und die damit verbundenen entwicklungspolitischen Ziele nicht außer Acht lassen. Die
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden zu einer
nachhaltigen Entwicklung in dieser Region und dazu
beitragen, die Armut zu reduzieren. Weitere Jahre der
Verzögerung wären für diese Länder verlorene Jahre.
({2})
Der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen enthält aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion keine
neuen entwicklungspolitischen Ansätze, die den Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten zum
Erfolg verhelfen könnten. Wir lehnen diesen Antrag daher ab.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Als Nächster hat das Wort für die FDP-Fraktion der
Kollege Hellmut Königshaus.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hatten bereits gestern Gelegenheit, uns zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen Gedanken zu machen. Wir haben dazu keine Redebeiträge gehalten, diese aber zu
Protokoll gegeben.
Gestern lag ein Antrag der Linkspartei vor, der unseren Erwartungen an einen Antrag der Linkspartei genau entsprach. Die Linken sind eine antimarktwirtschaftliche Partei. Deshalb ist es natürlich nur konsequent,
wenn sie den freien Handel ablehnen. So war auch dieser
Antrag. Die breite Mehrheit lehnt diese Position - darin
sind wir uns, glaube ich, einig - völlig zu Recht ab, da
ein eingeschränkter Handel gerade den Entwicklungsländern die Chance raubt, vom weltweiten Wirtschaftswachstum zu profitieren. Aber immerhin: Man weiß,
woran man bei den Linken ist.
({0})
- Das dachte ich mir schon.
Bei den Grünen dagegen - das erschüttert viel mehr weiß man nicht so recht, woran man ist. Der Antrag,
über den wir hier sprechen, ist weder Fisch noch Fleisch.
({1})
Er ist weder für die Marktöffnung noch dagegen. Er ist
weder für Handelsbeschränkungen noch dagegen; die
Kollegin Hübinger hat das schon ausgeführt. Wahrscheinlich wissen Sie selbst nicht, was Sie in diesem Zusammenhang wirklich wollen. Deshalb kam der Antrag
erst gestern auf den Tisch des Hauses und ins Licht der
erstaunten Öffentlichkeit.
Es ist daher auch nicht besonders erstaunlich, dass der
weitestgehende Vorschlag, den man darin finden kann,
eigentlich gar nicht inhaltlicher, sondern eher semantischer Art ist. Sie wollen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen völlig neu als „Entwicklungspartnerschaftsabkommen“ bezeichnen. Das ist eine Politik, die wir
schon zu rot-grünen Zeiten kannten: Man benennt das
Arbeitsamt in Arbeitsagentur um, und schon schießen
die Vermittlungszahlen nach oben. Nach diesem Erfolgsmodell wollen Sie jetzt offenbar auch die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen behandeln. Dies ist ein wirklich weiser Vorschlag, der den Bedürftigen vor Ort
helfen wird.
Leider schlagen Sie dann im Übrigen nur Dinge vor,
die ohnehin schon Ziel der Verhandlungen zwischen
den AKP-Staaten und der EU sind. Es besteht schon die
Frage, wieso Sie etwas Selbstverständliches einfordern.
Wollen Sie beispielsweise mit der Forderung, dass die
neuen Abkommen der Entwicklung der AKP-Staaten zugutekommen sollen, den Vorwurf umschreiben, die EU
praktiziere das Gegenteil davon oder beabsichtige dies?
So etwas behaupte ja noch nicht einmal ich. Jeder weiß,
ich bin weiß Gott kein unkritischer Beobachter der EUPolitik, vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklungspolitik. Aber anzunehmen, die Kommission wolle
sozusagen im Stil der Kolonialmächte durch die Abkommen die AKP-Staaten zum Nutzen der europäischen
Großindustrie ausbeuten, ist Humbug.
Vielleicht wollen Sie auch die sogenannten Globalisierungskritiker für sich einnehmen. Aber die werden
Sie mit solch einem weichgespülten Antrag nicht erreichen. Da müssen Sie schon so fundamental werden, wie
es die Linksfraktion mit ihrem Antrag gerade vorgemacht hat.
Sie tun aber den Ländern, über die wir hier sprechen
und für deren Interessen wir uns gemeinsam einsetzen
wollen, keinen Gefallen, wenn Sie deren Entwicklung
mit weniger Handel und einer stärkeren Abschottung ihrer Märkte behindern. Sie selbst kritisieren doch immer
wieder die Politik der EU, die ihre Märkte mit Subventionen, Zöllen und Tarifen vor dem Rest der Welt abschottet. Damit haben Sie - jedenfalls im Grundsatz völlig recht.
Denn eine solche Abschottung - das müssen wir an
dieser Stelle nicht weiter erörtern - verhindert, dass sich
den Menschen in den Entwicklungsländern gute Entwicklungschancen bieten und sie sich eine eigene Existenz aufbauen können. So schaffen wir Abhängigkeiten,
die wir dann notdürftig mit unserer Entwicklungsunterstützung zu mildern versuchen, aber nur mit sehr begrenztem Erfolg.
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
welche absurden Blüten diese Politik treiben kann. Die
EU versucht, die negativen Konsequenzen ihrer eigenen
Subventionswut gegenüber den AKP-Staaten - und
zwar, nebenbei bemerkt, nur gegenüber den AKP-Staaten - zu entschärfen, indem sie wiederum deren Exporte
subventioniert. Dass das dem Steuerzahler zugemutet
wird, ist ihm wohl kaum zu erklären. Diesen Unfug müssen wir beenden.
({2})
Den AKP-Staaten und den Steuerzahlern hilft nur
eins, nämlich der Abbau von Protektionismus. Glücklicherweise - das sage ich aus voller Überzeugung - haben die neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen genau dieses Ziel.
Wichtig ist nicht, dass wir diese Abkommen umbenennen, sondern dass sie zügig und erfolgreich abgeschlossen werden. Das verlangt nicht nur die WTO - berechtigterweise - von der EU, sondern wir sind es den
AKP-Staaten auch schuldig.
Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Wir sind
nicht nur gegenüber den AKP-Staaten in der Pflicht das ist nur ein Teil -, sondern wir müssen auch gegenüber den anderen Staaten in der Dritten Welt unsere Verpflichtungen erfüllen. Die nach wie vor festzustellende
und völlig unbegründete Vorrangbehandlung der AKPStaaten geht zulasten dieser Länder. Auch das müssen
wir kritisch hinterfragen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln in der Tat das Thema Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten schon
zum dritten Mal in relativ kurzer Zeit im Plenum. Zweimal haben wir anlässlich des Antrags der Linkspartei
darüber diskutiert; heute beraten wir den Antrag der
Fraktion der Grünen.
Wenn man die Redebeiträge verfolgt, dann wird die
Spannbreite innerhalb des Parlamentes deutlich. In der
Linkspartei wird die Position vertreten, dass Entwicklung im Prinzip nur ohne Handel und durch Abschottung der Märkte möglich ist; die Marktwirtschaft gilt als
schlecht. In der FDP wird die Meinung vertreten, dass
der Freihandel alle glücklich macht und sich die Entwicklung dann schon einstellen wird.
Ich glaube, beides ist falsch. Denn die Erfahrung aus
den letzten zehn Jahren, als die Globalisierung den größten Schwung der letzten hundert Jahre hatte, zeigt, dass
sich weder die Länder, die sich abgeschottet haben, noch
die Länder, die all ihre Zölle mit einem Federstrich abgeschafft und ihre Wirtschaft komplett liberalisiert haben,
gut entwickelt haben. Vielmehr waren die Länder am erfolgreichsten, die sich Schritt für Schritt geöffnet haben.
Das war bei den asiatischen Tigerstaaten der Fall; das
zeigen jetzt aber auch einige lateinamerikanische Länder.
Man muss deshalb die Frage stellen, warum sich Länder wie China, Indien und Brasilien sehr gut entwickelt
haben, während wir in vielen Ländern Afrikas vor einem Scherbenhaufen stehen. Es ist insofern gut - um
den Fokus auf die afrikanischen Staaten zu richten und
die karibischen und pazifischen Staaten einmal beiseite
zu lassen -, dass durch die Reise des Bundespräsidenten
die Aufmerksamkeit zurzeit verstärkt auf Afrika gerichtet ist. Auch unsere Ministerin war sehr häufig in Afrika
und ist jetzt wieder dort gewesen. Morgen beginnt zudem das Weltsozialforum in Nairobi. Außerdem wollen
wir im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft und unseres G-8-Vorsitzes versuchen, das Thema Afrika in den
Mittelpunkt zu rücken.
Man muss aber selbstkritisch fragen - das richte ich
teilweise auch an die Regierungen der betreffenden Länder -, warum sich unter den Least Developed Countries,
also unter den am wenigsten entwickelten Ländern der
Welt, fast nur afrikanische Länder - ich glaube, 2005
war Haiti die einzige Ausnahme in dieser Gruppe - befinden. Herr Königshaus, ich möchte das aufgreifen, was
Sie über die Bundesanstalt für Arbeit und unsere Maßnahmen gesagt haben. Sie haben gesagt, wir hätten geglaubt, allein durch die Umbenennung der Bundesanstalt
für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit werde alles
besser. Das stimmt nicht. Entscheidend war vielmehr,
dass wir das Prinzip des Förderns und Forderns in der
Arbeitsmarktpolitik eingeführt haben. Das Gleiche brauchen wir auch in der Entwicklungszusammenarbeit mit
Afrika. Wir müssen die dortigen Länder fördern und in
die Lage versetzen, zu produzieren, damit sie überhaupt
Handel treiben können. Gerechte Handelsbedingungen
sind zwar wichtig. Aber der Zugang zum EU-Markt
nutzt nichts, wenn man nicht in der Lage ist, überhaupt
etwas zu produzieren. Das Handelsvolumen aller fast
40 Least Developed Countries, denen wir im Rahmen
der Everything-but-Arms-Initiative einen freien Marktzugang einräumen, ist nicht einmal so groß wie das von
Südkorea. Daran sieht man, dass wir mehr tun müssen,
um diese Länder zu fördern. Das gilt auch im Hinblick
auf unsere Agrarsubventionen. Der Antrag der Grünen
enthält dazu gute, sachgerechte Punkte, Herr Hoppe.
Wenn die Koalition einen gemeinsamen Antrag vorlegt,
wird sich darin einiges davon wiederfinden.
Im Rahmen von Aid for Trade wollen wir den AKPStaaten ab 2010 2 Milliarden Euro jährlich zugutekommen lassen. Wir müssen aber von den afrikanischen
Staaten auch einfordern, mit guter Regierungsführung
und entsprechenden Maßnahmen sich dem Wettbewerb
zu stellen und so eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung anzustreben. Manches, was sich in den letzten
Jahrzehnten im Rahmen der Präferenzsysteme entwickelt hat - auch wenn es gut gemeint gewesen ist -, hat
dazu geführt, dass sich in einigen Staaten korruptionsanfällige Rentenökonomien entwickelt haben. Diese Staaten haben sich nicht dem Wettbewerb gestellt. Die
Zolleinnahmen sind in diesen Ländern oft die Haupteinnahmequelle, kommen aber aufgrund von Korruption nicht den ärmsten Bevölkerungsschichten zugute,
sondern fließen in andere Taschen. Dadurch bedingt hat
man in diesen Ländern oft nicht die Notwendigkeit gesehen, den Wirtschaftssektor wettbewerbsfähig zu machen.
Die Präferenzsysteme waren daher Fluch und Segen.
Denn die lateinamerikanischen und die asiatischen Länder, die ich als Beispiele angeführt habe, mussten den
Nachteil, keinen Präferenzzugang in die EU zu haben,
durch bessere Produktivität und Effizienz wettmachen
und haben dadurch nun eine stärkere Wettbewerbsposition. Genau das müssen wir auch bei den AKP-Staaten
erreichen. Sie müssen aufgrund ihrer eigenen Wirtschaftskraft in der Lage sein, an den Vorteilen des globalen Wettbewerbs teilzuhaben. Es ist daher wichtig, dass
wir die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen entsprechend ausgestalten. Denjenigen, die sagen, man müsse
alles nur so lassen, wie es ist - das werden wir zum Abschluss der Debatte sicherlich von der Linkspartei hören -,
sei empfohlen, sich anzuschauen, was sich trotz der Präferenzsysteme in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Das ist in einigen Bereichen leider erschreckend wenig.
Wir wollen fördern und fordern. Wir wollen den
AKP-Staaten helfen, sie aber auch ermutigen und auffordern, mit guter Regierungsführung und einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft sich selbst zu helfen; denn nur
dann kommt es auch der breiten Masse der Bevölkerung
in diesen Ländern zugute.
Ein Punkt im Antrag der Grünen bezieht sich auf den
quoten- und zollfreien Marktzugang für alle AKPStaaten. Es mag auch innerhalb der Koalition Argumente
dafür und dagegen geben, vielleicht auch an der einen
oder anderen Stelle eine Meinungsverschiedenheit. Ich
finde den Punkt eigentlich richtig, weil ich glaube, dass
sich die Europäische Union bei der Frage, wie hoch
überhaupt das Handelsvolumen der ärmsten Länder ist,
die jetzt einen quoten- und zollfreien Marktzugang haben, dem Glaubwürdigkeitstest stellen muss. Wenn wir
immer nur den ärmsten Ländern den Marktzugang einräumen, wohl wissend, dass uns das nicht wehtut, es diesen Ländern aber auch nicht viel hilft, dann werden wir
nicht viel erreichen. Glaubhaft werden wir vielmehr nur
dann, wenn wir allen Entwicklungsländern diesen
Marktzugang ermöglichen. Da beziehe ich nicht nur die
afrikanischen Länder ein, sondern auch die lateinamerikanischen und die asiatischen Entwicklungsländer. Ich
rede nicht von Schwellenländern; über die kann man sicherlich differenzierter reden. Aber alle Entwicklungsländer der Welt sollten einen quoten- und zollfreien Zugang zum europäischen Markt bekommen.
({0})
Die Menschen sind überall auf der Welt gleich. Für mich
spielt es keine Rolle, ob ein Mensch in Afrika, Lateinamerika oder Asien hungert. Europa sollte auch von der
kolonialen Selektierung der Länder, denen man wegen
der historischen Verpflichtung besonders hilft, wegkommen und bekräftigen, dass uns alle Menschen gleich viel
wert sind und allen Armen geholfen werden muss.
({1})
Zum Schluss möchte ich eine Bemerkung machen,
weil die WTO angesprochen worden ist. Es ist sicherlich
richtig, dass die EU mit dem bis 2013 angekündigten
Auslaufen der Agrarexportsubventionen einen richtigen Schritt gemacht hat. Es ist aber aus meiner Sicht keineswegs so, dass die Europäische Union damit alle ihre
Hausaufgaben gemacht hat. Natürlich müssen auch die
USA noch viel tun. Ich denke an die Nahrungsmittelhilfe
und andere Formen der verdeckten Agrarexportsubvention, die die USA betreiben. Wir dürfen aber auch nicht
so tun, als ob die enormen internen Subventionen, die
wir in Europa haben und die fast die Hälfte des EUHaushalts ausmachen - auch nach der EU-Agrarreform -, zu keinen Marktverzerrungen führten. Es ist
gut, dass wir die Produktion von der Subvention abgekoppelt haben, aber es ist nicht so, als ob es keine handelsverzerrenden Elemente mehr gäbe. Deshalb glaube
ich, dass die EU gut daran tut, daran zu arbeiten und im
Rahmen der WTO-Verhandlungen einen Schritt hin zur
Öffnung der Märkte zu machen und die Zölle zu senken.
Dann wird Fördern und Fordern auch glaubhaft.
Das betrifft auch Sozial-, Umwelt und Kernarbeitsnormen. Herr Hoppe, ich würde mir wünschen, dass wir
nicht nur sagen, dass die nationalen Regierungen ihre
Gesetze machen sollen, sondern dass wir solche Normen
in die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen hineinschreiben, wie wir es auch im Rahmen der WTO wollen. Zu
unserer Glaubwürdigkeit gehört dann aber auch - das
meine ich mit Fördern und Fordern -, dass wir die
OECD-Leitlinien, die für die multinationalen und deutschen Unternehmen gelten, einhalten und nicht einige
deutsche Großkonzerne sich dadurch auszeichnen, dass
sie selber bestechen und in anderen Ländern gegen diese
Regeln verstoßen. Wir - Politik, Wirtschaft und Europäische Union - müssen mit gutem Beispiel vorangehen.
Dasselbe müssen wir auch von den afrikanischen Staaten
einfordern.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank, dass Sie mir eine Minute länger gegeben haben.
({0})
Zum Abschluss der Debatte hat der Kollege
Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Königshaus hat dankenswerterweise gesagt, bei uns
wisse man, woran man sei. Wir sind nicht unglücklich
darüber, dass wir nach den Wahlen das tun, was wir vor
den Wahlen versprochen haben. Das wäre auch für andere Fraktionen nachahmenswert.
({0})
Für faire Bedingungen im Welthandel müssen wir uns
einsetzen - das ist die Botschaft der Bundeskanzlerin für
die entwicklungspolitischen Schwerpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das klingt erst einmal
gut, in der Realität werden jedoch keine fairen Entwicklungs- und Handelsbedingungen für die Partnerinnen
und Partner im Süden geschaffen. Im Gegenteil: Der
Bundesregierung und der EU-Kommission geht es darum, EU-ansässigen Unternehmen den Weg in die
Märkte der Schwellen- und Entwicklungsländer zu ebnen und dabei alle Regulierungen, in der EU und in den
Ländern des Südens, zu beseitigen. Der globale Wettbewerb soll ungehindert funktionieren, schwächere Konkurrenten sind aus dem Weg zu räumen. In den Verhandlungen zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen,
EPAs, zwischen der EU und den AKP-Staaten stehen
sich ungleiche Partner gegenüber.
Wie viele Nichtregierungsorganisationen kritisieren
wir, dass die EPAs in erster Linie Handelsabkommen
sind. Das ist der falsche Ansatz. In den EPAs müssen
Entwicklung und Partnerschaft an erster Stelle stehen.
Nur so kommt man zu solidarisch und entwicklungspolitisch kohärenten Abkommen. Wir fordern ein neues Verhandlungsmandat. Nur Forderungen an die laufenden
Verhandlungsrunden zu stellen, ist zu wenig.
Die Verlängerungsfrist für das Lomé-Abkommen
läuft Ende des Jahres aus. Die AKP-Staaten haben viel
zu verlieren: 40 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU,
während das umgekehrt nur für 3 Prozent gilt. Auch die
Auszahlungen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds sind letztlich an die Unterzeichnung der EPAs geknüpft.
Das Auslaufen des Lomé-Abkommens darf nicht
dazu führen, dass die AKP-Staaten in die Zwangslage
geraten, Verträge mit negativen Folgen für ihre eigene
wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu schließen.
Um die Begleitschäden der Handelsliberalisierungen
aufzufangen, müssen zusätzliche Kompensationsmittel
zur Verfügung gestellt werden.
Herr Raabe, zu Ihrem Beitrag. Marktwirtschaft und
Antineoliberalismus schließen sich gegenseitig gerade
nicht aus.
({1})
Die Bundesregierung muss die kurze Zeit ihrer Präsidentschaft nutzen, um den Zeitdruck aus den Verhandlungen zu nehmen und sich für eine Verlängerung der
Lomé-Referenzen bei der WTO einzusetzen. Es ist gut,
dass die Grünen dem EU-Entwicklungskommissar
eine wichtige Rolle zukommen lassen wollen. Warum
nicht noch einen Schritt weitergehen und ihm die Federführung in den Verhandlungen übertragen?
Auf der Verhandlungsagenda haben Themen wie Investitionen, Wettbewerbspolitik und öffentliches Beschaffungswesen nichts zu suchen. In diesen Forderungen stimmen wir mit den Grünen überein. Wichtig ist
uns, dass die EPA-Verhandlungen transparent gestaltet
werden. Die Politik der verschlossenen Türen muss beendet werden. Die Zivilgesellschaft soll eine aktivere
Rolle spielen.
Auf dem heute in Nairobi beginnenden Weltsozialforum werden zahlreiche afrikanische, karibische und
pazifische Nichtregierungsorganisationen miteinander
darüber diskutieren, welche Auswirkungen die EPAs auf
ihre Staaten haben und wie Alternativen aussehen können. Auch die Linke wird in Nairobi vertreten sein und
sich mit der Kritik an der bisherigen Verhandlungsführung durch die EU auseinandersetzen. Unsere Vorstellungen haben wir bereits gestern mit einem parlamentarischen Antrag vorgestellt. Die Vorredner haben darauf
hingewiesen.
Ich wiederhole unsere Forderung, dass der EU-Kommission das Mandat für die EPA-Verhandlungen entzogen und ein neues, entwicklungspolitisch kohärentes
Mandat formuliert wird. Weder in der EU noch in ihren
Partnerstaaten dürfen soziale und ökologische Standards
zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4055 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und zur Mitberatung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie zu überweisen. - Wie ich
sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Michael Kauch, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen
Medizin stärken
- Drucksache 16/2837 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich gebe zur Kenntnis, dass die Abgeordneten
Michael Kretschmer, René Röspel, Cornelia Pieper,
Petra Sitte und Priska Hinz ({1}) ihre Reden zu Pro-
tokoll geben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2837 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Generelle Altschuldenentlastung auf dauerhaft leer stehende Wohnungen
- Drucksachen 16/2078, 16/3082 Berichterstattung:
Abgeordneter Henry Nitzsche
Für die Aussprache ist auch hier eine halbe Stunde
vorgesehen.
Ich gebe das Wort der Kollegin Heidrun Bluhm, Die
Linke.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Gäste! Im
Jahre 1999, damals frisch in der Opposition, hat die
1) Anlage 3
CDU/CSU zu Recht eine Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes gefordert, weil - ich zitiere aus ihrem Antrag ... sich die Rahmenbedingungen für wohnungswirtschaftliches Handeln gegenüber dem Inkrafttreten des Altschuldenhilfe-Gesetzes ... erheblich
verschlechtert haben. Eine nur zögerliche Wirtschaftsentwicklung und ein ... spürbarer Bevölkerungsrückgang haben dazu geführt, dass Wohnungsunternehmen insbesondere in strukturschwachen
Regionen einen erheblichen Wohnungsleerstand haben. Leerstandsquoten von deutlich über 10 % sind
inzwischen keine Seltenheit, in nicht wenigen Fällen steht mehr als 1/5 des Wohnungsbestandes eines
Unternehmens leer. Die Folgen sind erhebliche
Mieteinnahmenverluste. Viele der betroffenen Unternehmen haben daher große Schwierigkeiten, ihre
Altschulden zu bedienen, ohne auf zum Teil immer
noch dringend erforderliche Sanierungs- und Modernisierungsinvestitionen in ihrem Wohnungsbestand gänzlich zu verzichten. Diesen Unternehmen
in Gebieten mit einem hohen strukturellen Leerstand sowie mit besonderen Belastungen aus negativen Restitutionsfällen kann wirksam nur dadurch
geholfen werden, dass ihnen eine weitere Teilentlastung für die Altschulden gewährt wird.
Die Analyse ist völlig richtig. Die Schlussfolgerung
ist allerdings inkonsequent.
Im Rahmen der Beratungen zum Haushalt 2007 hatte
meine Fraktion die Aufstockung des Altschuldenhilfefonds gefordert. Aber auch hier lehnten Sie ab, meine
Damen und Herren der Koalition. Dieses nährt den Verdacht, dass die jetzige Koalition weder willens noch in
der Lage ist, das Altschuldenproblem zu lösen.
({0})
Heute zeigt sich, dass die mit rot-grüner Bundestagsmehrheit beschlossene Gesetzesnovelle mit ihren Teilentlastungen - zum Beispiel die Aufhebung der Veräußerungspflicht und die Einführung der Härtefallregelung
des § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes - das Altschuldenproblem nicht lösen konnte.
Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass der Wohnungsleerstand gerade in Ostdeutschland auf lange
Sicht auf einem hohen Niveau verbleiben wird und auch
in den alten Bundesländern in vielen Regionen schnell
wächst. Demografischer Wandel, Wanderungsbewegungen, anhaltende Strukturschwäche ganzer Regionen sowie verminderte bzw. ausbleibende Investitionen und somit Mietverluste verschärfen die wirtschaftliche
Situation der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland bis
hin zu Insolvenzen.
Die Folge ist, dass insbesondere Kommunen gerade
auch deshalb dazu gezwungen sind, ihre lukrativen Wohnungsbestände ganz oder teilweise zu veräußern, um
ihre laufenden Kredite überhaupt bedienen zu können.
Für den Erhalt der kommunalen Wohnungswirtschaft als
sozialpolitisches Instrument und Stadtentwickler ist es
höchste Zeit für die Streichung der nach unserer Auffassung ohnehin fiktiven Altschulden.
({1})
Gut sieben Jahre nach der letzten Novellierung des
Altschuldenhilfe-Gesetzes bleibt nach unserer Auffassung die Altschuldenhilfe eine vereinigungsbedingte
Sonderaufgabe des Bundes.
({2})
Die Linke fordert deshalb die Streichung der Altschulden. Es ist wohnungspolitischer und wirtschaftlicher
Unsinn, dass ein Wohnungsunternehmen erst in seiner
Existenz bedroht sein muss, um von willkürlich geschaffenen Schulden entlastet zu werden.
({3})
Mindestens jedoch müssen die Voraussetzungen dafür
geschaffen werden, dass jedes von Altschuldenhilfeproblematik betroffene Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern auch Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen kann. Die Härtefallregelung nach § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes greift inhaltlich und zeitlich zu
kurz.
Gegenwärtig können Wohnungsunternehmen die Regelung zur Altschuldenentlastung nur in Anspruch nehmen, wenn der Leerstand der Unternehmen mehr als
15 Prozent beträgt. Es bedarf zwingend der generellen
Lösung der Altschuldenfrage für alle Wohnungsunternehmen, und zwar unabhängig davon, wie hoch die
Leerstandsquote des jeweiligen Unternehmens ist. Ansonsten sind die Ziele des Stadtumbaus nämlich nicht zu
erreichen.
Um die Zielsetzung desStadtumbauprogramms, wie
es die Bundesregierung beschlossen hat, bis Ende 2009
circa 350 000 Wohnungen vom Markt zu nehmen, überhaupt zu erreichen, müssen sich alle Wohnungsunternehmen am Stadtumbau beteiligen. Für die Unternehmen
mit weniger als 15 Prozent Leerstand, die allein über
900 000 leer stehende Wohnungen verwalten, besteht
heute kein finanzieller Anreiz, sich am Stadtumbauprozess engagiert zu beteiligen. Das gilt es zu korrigieren.
({4})
Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind daher
aufgerufen, in diesem Sinne verantwortungsvoll zu handeln und sich dem Antrag anzuschließen. Nur so können
wir die Probleme der ostdeutschen, vor allem der kommunal und genossenschaftlich verankerten Wohnungswirtschaft sowie des Stadtumbaus Ost nachhaltig lösen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ich
wünsche Ihnen ein schönes und sturmfreies Wochenende.
({5})
Die Kollegen Volkmar Uwe Vogel, Ernst Kranz,
Joachim Günther ({0}) und Peter Hettlich haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit schließe ich die
Aussprache.
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/3082 zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Generelle
Altschuldenentlastung auf dauerhaft leer stehende Wohnungen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/2078 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der
FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. Januar 2007, 13 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das
Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.