Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/14/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns intensive, gute Beratungen. Vizepräsidentin Dr. Susanne Kastner und der Kollege Erich Fritz haben vor einigen Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu nachträglich herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Die Kollegin Miriam Gruß hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Das ist kein Anlass zum Jubeln. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen Florian Toncar vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Fraktion Die Linke teilt mit, dass der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. An seiner Stelle soll der Kollege Dr. Hakki Keskin neues ordentliches Mitglied werden. Sind Sie auch damit einverstanden? Das sieht sehr danach aus. Dann ist der Kollege Dr. Keskin als ordentliches Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 16/3790 ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger - Drucksache 16/3832 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen - Drucksache 16/3711 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({4}) Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin GöringEckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit ermöglichen - Künstlerdienste sichern - Drucksache 16/3779 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 153 zu Petitionen - Drucksache 16/3817 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 154 zu Petitionen - Drucksache 16/3818 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 155 zu Petitionen - Drucksache 16/3819 - Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 156 zu Petitionen - Drucksache 16/3820 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 157 zu Petitionen - Drucksache 16/3821 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 158 zu Petitionen - Drucksache 16/3822 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 159 zu Petitionen - Drucksache 16/3823 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 160 zu Petitionen - Drucksache 16/3824 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 161 zu Petitionen - Drucksache 16/3825 ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({16}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({17}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Moratorium für PC-Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages - zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN PC-Gebühren-Moratorium verlängern - Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hans-Joachim Otto ({18}) Dr. Lukrezia Jochimsen ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz ({19}), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert - Drucksache 16/3805 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union ({20}) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU - Drucksache 16/3807 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept - Drucksache 16/3798 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Notwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Sicherheitssystems - Drucksache 16/3809 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ({22}) - Drucksache 16/3816 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Die zunächst vorgesehenen Aktuellen Stunden auf Verlangen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatistik und auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zum Nichtraucherschutz finden entgegen der ursprünglichen Ankündigung nicht statt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll soweit erforderlich abgewichen werden. Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 67. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Petra Hinz ({24}), Lothar Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept - Drucksache 16/3502 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({25}) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({26}) zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Präsident Dr. Norbert Lammert Ausbildungsplatzlücke schließen - Vorschlag des DGB aufgreifen - Drucksache 16/3540 überwiesen: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({27}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich stelle Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen nun zur Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Düsseldorf - Entschuldigung, in Brüssel. ({28}) - Stellen Sie sich vor, ich hätte dazu Einvernehmen fest- gestellt. Dann wäre es richtig kompliziert geworden. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so- wie den Zusatzpunkt 3 auf: 4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle- rin zum Europäischen Rat in Brüssel am 14./15. Dezember 2006 und den bevorstehen- den deutschen Präsidentschaften im Rat der Europäischen Union und in der G 8 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Stübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Axel Schäfer, Dr. Lale Akgün, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen - Drucksache 16/3808 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({29}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis 30. Juni 2007 - Europa gelingt gemeinsam - Drucksache 16/3680 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({30}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link ({31}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger - Drucksache 16/3832 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({32}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bevor ich dazu der Bundeskanzlerin das Wort erteile, möchte ich dem Minister Michael Glos zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren. ({33}) Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({34})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In rund zwei Wochen beginnt die deutsche Doppelpräsidentschaft: im Rat der Europäischen Union und in der Gruppe der Acht. In wenigen Stunden beginnt der Europäische Rat - wie gesagt - in Brüssel, noch einmal unter finnischem Vorsitz. Weil sich die finnische EU-Präsidentschaft dem Ende zuneigt, möchte ich ihr an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen. Sie hat unter schwierigen Bedingungen vieles erreicht. ({0}) Der morgen stattfindende Rat wird sich vor allen Dingen mit dem Thema Erweiterungspolitik befassen. Wenn man sich an die Anfänge der Europäischen Union erinnert - damals waren es sechs Mitgliedstaaten -, so kann man heute sagen: Diese Erweiterungspolitik ist eine Erfolgsgeschichte Europas. Denn heute umfasst die Europäische Union fast das gesamte kontinentale Europa in Demokratie und Freiheit. Mit Rumänien und Bulgarien werden am 1. Januar 2007 zwei weitere Mitglieder in die Europäische Union kommen. Beide Staaten haben zusätzliche Verpflichtungen zu weiteren Reformen nach dem Beitritt übernommen. Mit Kroatien und mit der Türkei laufen Verhandlungen. Auch die Staaten des westlichen Balkans - Sie wissen das - haben eine Beitrittsperspektive. Man sieht also: Es ist viel in Bewegung und natürlich kommen die Fragen auf, wohin das führt und wie, also nach welchen Prinzipien die Europäische Union wachsen will. Genau darüber werden wir auf diesem Rat sprechen. Denn der Erfolg der Erweiterungspolitik muss darin liegen, dass die Europäische Union attraktiver und handlungsfähiger wird, und zwar sowohl nach außen als auch nach innen. Wir alle wissen, dass die Perspektive zum Beitritt noch kein Garantieschein für eine spätere Mitgliedschaft ist. Es müssen die Kriterien eingehalten werden, auf die sich der EU-Vertrag gründet, und es müssen die Beitrittskriterien eingehalten werden, die durch die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union festgelegt sind. Dies sage ich nicht als Drohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für die Länder, die beitreten wollen, und auch als Ansporn für die Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dass sie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien haben eine solche Beitrittsperspektive. Aber bei aller Richtigkeit dieser Entscheidung wissen wir, dass die Perspektive eine mittlere ist und dass noch viele Vorbereitungen zu treffen sind, damit aus dieser Perspektive eine Aufnahme werden kann. Ich nehme Kroatien hier ausdrücklich aus. Die EU führt mit diesem Land bereits erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Aber auch hier ist es noch zu früh, um ein Datum für die Aufnahme nennen zu können. Wir haben uns in diesen Tagen sehr stark mit der Frage der Türkei befasst. Es ging um die Umsetzung des Ankaraprotokolls. Die Vorgeschichte ist bekannt. Die Türkei hatte sich mit ihrer Unterschrift im Juli 2005 verpflichtet, das Ankaraprotokoll umzusetzen. Ich will noch einmal sagen: Es geht hier um keine Kleinigkeit, sondern um die Selbstverständlichkeit, dass Beitrittskandidaten und EU-Mitgliedstaaten einander politisch und diplomatisch anerkennen. Die finnische Präsidentschaft - das will ich hier ausdrücklich hervorheben - hat bis zur letzten Minute alles unternommen, um der Türkei die Umsetzung des Ankaraprotokolls zu erleichtern. Aber wir müssen heute feststellen: Die Türkei hat das Protokoll nicht umgesetzt. Die EU hat darauf reagiert, und zwar, wie ich meine, gleichermaßen entschlossen wie besonnen. Sie hat besonnen reagiert, indem der Türkei stets deutlich gemacht wird, dass es sich für sie lohnt, weiter an Reformen zu arbeiten. Damit meine ich nicht nur das Ankaraprotokoll, sondern genauso meine ich tief greifende innenpolitische Reformen, bei denen es um Menschenrechte geht, bei denen es um die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger geht. Entschlossen hat die Europäische Union reagiert, indem die Europäische Kommission am 29. November dieses Jahres deutlich gemacht hat, dass es ein einfaches „Weiter so!“ nicht geben kann. Sie hat die Empfehlung abgegeben, acht Verhandlungskapitel auszusetzen und kein Kapitel zu schließen, solange das Ankaraprotokoll nicht umgesetzt ist. ({1}) Genau dies haben die Außenminister am Montag dieser Woche als Grundlage für die Beratungen, die heute und morgen stattfinden, vereinbart. Ich bin sehr dankbar, dass es gelungen ist, diese Vereinbarung zu treffen. Die Außenminister haben damit gezeigt, dass auf Worte Taten folgen. Aber ich sage noch einmal: Die EU hat gleichermaßen besonnen und entschlossen reagiert. Das Ganze wird dadurch ergänzt und präzisiert, dass die Kommission dem Rat jährlich, also 2007, 2008 und 2009, berichten wird, ob und inwieweit die Türkei ihren Verpflichtungen nachgekommen ist. Auch diesen Überprüfungsmechanismus begrüße ich sehr. Denn es ist der Rat, der immer wieder einstimmig entscheiden muss, wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergeht. Meine Damen und Herren, es besteht die Notwendigkeit - das wird auch während unserer Präsidentschaft eine Rolle spielen und an Bedeutung gewinnen -, Staaten enger an die Europäische Union zu binden, ohne ihnen bereits die Vollmitgliedschaft oder überhaupt etwas zusagen zu können. Das gilt im Hinblick auf die Ukraine, die Schwarzmeerregion und andere Regionen. Deshalb brauchen wir eine attraktive und dauerhafte Nachbarschaftspolitik, mit der wir die Länder enger an die Europäische Union heranführen, die selbst nicht Mitglied werden können. Ich bin sehr dankbar für die Initiativen des Auswärtigen Amtes, die sich sehr intensiv mit der Entwicklung einer solchen Nachbarschaftspolitik beschäftigen. Wir werden auf dem Rat auch über die Innen- und Justizpolitik sprechen, vor allen Dingen über das Thema Migration. Wir alle kennen die Bilder verzweifelter Menschen und afrikanischer Flüchtlinge auf brüchigen Booten. Wir können dem nicht einfach zusehen, sondern wir müssen ein kohärentes und gemeinsames Handeln der Europäischen Union hinbekommen. Das bedeutet, dass wir auf der einen Seite mit Entschiedenheit gegen illegale Migration vorgehen müssen, dass wir aber auf der anderen Seite auch die Ursachen der illegalen Migration bekämpfen und uns mit der Situation in den afrikanischen Ländern auseinander setzen müssen. Beides gehört zusammen und bei beidem liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Wir haben heute nicht nur über den aktuell stattfindenden Rat zu sprechen, der heute und morgen zusammentritt, sondern auch darüber, dass Deutschland in gut zwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto „Europa gelingt gemeinsam“ gestellt, aber man könnte auch sagen: Europa gelingt nur gemeinsam. Wir haben es erlebt: Ein gespaltenes, ein uneiniges Europa - sei es in außenpolitischen Fragen, sei es in innenpolitischen Fragen - macht die Stärke der Europäischen Union nicht deutlich. Deshalb gilt für die Außenpolitik wie für die innere Politik der Europäischen Union: Europa gelingt nur gemeinsam. ({2}) Das sage ich vor allen Dingen mit Bezug auf das, was ich das Zukunftsmodell der Europäischen Union nennen würde: das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell. Die Bundesregierung fühlt sich der Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells verpflichtet. Denn wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, wenn wir den Menschen keine Perspektive geben können, dann wird Europa, dann wird die Europäische Union nach außen hin nicht stark auftreten können. Wir brauchen eine erfolgreiche Politik in Brüssel. Das bedeutet aber - das möchte ich an dieser Stelle nur kurz einschieben -, dass auch die Mitgliedstaaten stark sein müssen. Die Bundesregierung wird den Weg der Reformen während ihrer EU-Ratspräsidentschaft entschieden weitergehen. Die Dinge gehören zusammen: Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Union haben wir nur dann, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn wir auf dem Pfad des Wirtschaftswachstums bleiben und wenn unsere Unternehmen prosperieren. Innen- und Außenpolitik gehören an dieser Stelle sehr eng zusammen. ({3}) Wenn wir vorausschauend auf unsere Präsidentschaft blicken, müssen wir uns bewusst sein, dass in dieser Zeit unerwartete Ereignisse eintreten können. Alle vergangenen Präsidentschaften haben das erlebt. Selbstverständlich haben wir für unsere Präsidentschaft dennoch Schwerpunkte gesetzt. So wollen wir insbesondere die wirtschafts- und sozialpolitische Zukunft Europas in den Mittelpunkt unserer Präsidentschaft rücken. Auf dem Frühjahrsgipfel im März 2007 wollen wir deshalb besondere Impulse in den Bereichen geben, die für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, für die Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Entwicklung unseres Wohlstands wichtig sind. Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas natürlich nicht den Sonntagsreden trauen, sondern dass sie sich fragen: Bringt mir diese Europäische Union für mein eigenes Leben ein Stück Sicherheit, ein Stück Wohlstand? Deshalb müssen wir genau die Dinge, die damit zusammenhängen, weiterentwickeln oder neu angehen. Da nenne ich das Thema Bürokratieabbau - oder „bessere Rechtsetzung“, wie das in der europäischen Sprache heißt. Hier gibt es in der letzten Zeit einen Mentalitätswandel und wir wollen ihn fördern. Ein Mehr an Richtlinien bedeutet nicht in jedem Fall ein Mehr an wirtschaftlicher Prosperität für die Europäische Union. ({4}) Deshalb werden wir den deutschen Kommissar, Herrn Verheugen, bei diesen Dingen unterstützen. Wir werden auch eine Diskussion über die Frage der Einführung eines Diskontinuitätsprinzips in der Europäischen Union führen. Das hat etwas zu tun mit dem Verhältnis der Institutionen in Europa: Kommission, Parlament und Rat. Für uns, in einem nationalen Parlament, ist es selbstverständlich, dass mit dem Ende einer Legislaturperiode Gesetzentwürfe verfallen. Auf europäischer Ebene gibt es so etwas nicht. Wir sollten darüber reden, dass es doch nicht sein kann, dass ein neues Parlament gewählt wird, eine neue Kommission bestellt wird, aber das Einzige, was konstant bleibt, die nicht bearbeitete Richtlinie ist. Das wird ein langer Prozess, das wird nicht schnell gehen; ich weiß, welches dicke Brett wir da bohren. Aber wir sollten darüber sprechen, weil es für das Selbstverständnis von Parlament, Kommission und Rat ganz wichtig ist. ({5}) Die Vollendung des Binnenmarktes wird ein weiterer Schwerpunkt sein. Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen - ich glaube, die Zahlen der Kommission sind da sehr eindrücklich -, dass der Binnenmarkt seit Anfang der 90er-Jahre ein Mehr von über 2,5 Millionen Arbeitsplätzen gebracht hat. Das muss man den Menschen immer und immer wieder sagen: Freiheitliche Regeln im einheitlichen Binnenmarkt in der Europäischen Union und gemeinsame Standards bringen ein Mehr an Beschäftigung und machen uns insgesamt stärker. Wir werden einen Schwerpunkt setzen bei Forschung und Bildung. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird während unserer Präsidentschaft starten. Das, was uns der Bundespräsident immer wieder gesagt hat - wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind -, müssen wir dadurch umsetzen, dass wir innovativ sind, dass wir forschungsstark sind, dass Europa an der Spitze ist. Das muss das Credo sein, das sich auch sich hinter dem trockenen Ziel des Lissabonprozesses verbirgt. ({6}) Ein weiterer Schwerpunkt wird die Energiepolitik sein. Die Kommission wird hier eine Reihe von Mitteilungen machen. Deshalb wollen wir beim Frühjahrsgipfel einen Aktionsplan für eine Energiepolitik für Europa verabschieden. Wir brauchen einen echten Binnenmarkt für Strom und Gas. Wir wollen natürlich die Klimaschutzziele erfüllen und müssen deshalb der Energieeffizienz eine besondere Bedeutung beimessen. Wir wollen die erneuerbaren Energien ausbauen. Wir wollen die Energieforschung entwickeln. Wenn wir als Europa beim Klimaschutz weiter eine Vorreiterrolle spielen wollen, müssen wir auch Ziele für die Zeit nach 2012, also nach dem Auslaufen des Kiotoprotokolls, festlegen. Eine gemeinsame Verhandlungslinie der Europäischen Union wäre sehr gut, gerade mit Blick auf unsere G-8-Präsidentschaft. ({7}) Natürlich möchten wir, dass der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März zu einem Höhepunkt unseres Ratsvorsitzes wird. Es ist historisch beachtlich - um es ganz vorsichtig zu sagen -, dass es 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge möglich ist, in einem wiedervereinigten Deutschland, in einer nicht mehr geteilten Stadt Berlin ein Europa zu feiern, das auch die mittel- und osteuropäischen Länder umfasst. Dafür kann man gar nicht dankbar genug sein. ({8}) Dieser 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge und die Verabschiedung einer Berliner Erklärung werden uns noch einmal daran erinnern, dass wir natürlich ein gemeinsames Selbstverständnis und ein gemeinsames Werteverständnis brauchen. Europa gründet sich auf geschichtliche Erfahrungen, die wir zusammen gemacht haben; häufig waren dies sehr leidvolle Erfahrungen. Europa gründet sich auf dem Willen, die Zukunft gemeinsam besser zu gestalten. Europa gründet sich aber vor allem auf Werten, die wir alle teilen: Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. ({9}) Nur auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte nach dem Zweiten Weltkrieg ein historisch neues Miteinander von größeren und kleineren Mitgliedstaaten entstehen. Das heißt, europäische Integration muss auch in Zukunft wertegebunden sein. Das führt unweigerlich zum Verfassungsvertrag. Die Verantwortung, die wir haben, ist uns klar. Ich will aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das wird ein Prozess sein, der während unserer Präsidentschaft nicht beendet werden wird. Wir wissen: Nizza ist nicht genug. Wir brauchen einen Verfassungsvertrag. ({10}) Aber wir haben die Aufgabe, zum Ende unserer Ratspräsidentschaft hin einen Fahrplan vorzulegen, wie es weitergehen kann. Ich hielte es für ein historisches Versäumnis - das will ich hier ganz klar sagen -, wenn wir es nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahl mit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzugehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können. Ich werde mich während unserer Präsidentschaft jedenfalls intensiv dafür einsetzen - das gilt auch für die gesamte Bundesregierung -, dass auf Grundlage der Gemeinsamkeit unserer Werte ein solcher Verfassungsvertrag zustande kommt. ({11}) In den Außenbeziehungen der Europäischen Union wird uns - das spüren wir alle - immer mehr Gemeinsamkeit abverlangt. Wir sind als Mitgliedstaat alleine gar nicht in der Lage, den Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen und internationalen Terrorismus zu begegnen. Deshalb tun wir das im Verbund mit unseren Partnern in der Europäischen Union und in der NATO. Wir müssen in unserer Präsidentschaft natürlich dafür sorgen, dass in all den aktuellen Fällen mit einer und mit einer starken Stimme gesprochen wird. Ich glaube, sagen zu können, dass es in den letzten Jahren große Fortschritte bei der europäischen Außenund Sicherheitspolitik gegeben hat. Die Europäische Union hat - wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen erfolgreich dazu beigetragen, die Krise in Mazedonien zu entschärfen, in Indonesien einen Friedensprozess einzuleiten und im Kongo einer neuen Krise vorzubeugen. Was haben wir nicht gerade im Zusammenhang mit dem Einsatz im Kongo über hohe Risiken diskutiert. Ich glaube aber, dass es besser ist, über die Risiken vorher zu diskutieren, damit sie einen nicht unerwartet treffen. Aber ich finde, die Europäische Union hat ihren Auftrag an dieser Stelle großartig erfüllt. ({12}) Ich bin froh, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nach Hause kommen können. Der Prozess im Kongo im Zusammenhang mit der Wahl hat das Land ein Stück weiter gebracht. Das heißt aber nicht, dass unser Engagement für den Kongo jetzt aufhört. Wir werden dort weiterhin Polizisten ausbilden. Die UNO wird sich weiterhin engagieren. Wir haben in Bosnien-Herzegowina Verantwortung übernommen und sind auch im Gazastreifen aktiv tätig. Die Europäische Union ist sich ihrer wachsenden Verantwortung also nicht nur bewusst, sondern sie nimmt sie auch wahr. Aber sie weiß auch: Sie ist nur Teil der Zusammenarbeit mit der NATO und in den Vereinten Nationen. Die Handlungsfähigkeit der Europäer muss sich in jedem einzelnen Fall, in jeder Krise wieder neu bewähren. Die Stabilisierung des westlichen Balkans wird dabei in den kommenden Monaten mit Sicherheit ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. In Serbien wird es Wahlen geben. Wir werden danach vom Sondergesandten Ahtisaari einen Vorschlag bekommen, wie es mit dem Kosovo weitergeht. Wir wissen schon heute, dass dann die größte zivile Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Entwicklung im Kosovo begleiten muss und dass es dort zu einer völlig neuen Qualität bei der Zusammenarbeit von Europäischer Union und NATO kommen muss. Wir sind parallel zur Stabilisierung des Balkans natürlich mit Afghanistan beschäftigt, mit dem Nachbarkontinent Afrika und dessen Konflikten und vor allen Dingen mit dem Nuklearprogramm des Irans. Wir wissen: Deutschland und auch die Europäische Union dürfen und werden sich nicht überheben. Deutschland kennt seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen. Wir sollten jedoch nicht übersehen, dass wir durch die Doppelpräsidentschaft natürlich ein zusätzliches Maß an Verantwortung tragen. Ich habe in den letzten Tagen mit Präsident Mubarak und Ministerpräsident Olmert gesprochen; denn wir wissen, dass wir gerade im Nahen Osten vor riesigen Problemen stehen. Bei der Verabschiedung des Libanonmandats waren wir uns alle hier einig: Die militärische Option, die Präsenz unserer Soldaten vor der libanesischen Küste, ist nur eine Facette des notwendigen politischen Prozesses. So schwierig dies ist, so einig ist sich die Bundesregierung darin, dass der Weg über eine Belebung des Nahostquartetts führen muss. Dazu gehören immer wieder auch ungewöhnliche Schritte, wie zum Beispiel die Reise des Außenministers nach Syrien. Ich sage ganz deutlich: Diese Reise war ein Risiko kein Zweifel. Wir wissen auch, dass durch diese Reise Widerspruch ausgelöst wurde. Kurzfristig hat sie auch noch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns wünschen. Ich sage aber auch: Diese Reise steht geradezu symbolisch für das Verständnis der Außenpolitik der gesamten Bundesregierung. ({13}) Dieses Verständnis beinhaltet Dialogbereitschaft auch dort, wo sie nicht selbstverständlich ist - aber immer auf der Grundlage klarer Prinzipien und Werte. Dialogbereitschaft und klare Prinzipien und Werte - das gehört für uns zusammen und das wird auch weiterhin so sein. ({14}) Dies werden wir auch im Zusammenhang mit Syrien, mit dem Iran und mit den Konflikten in allen anderen Ländern so handhaben. Meine Damen und Herren, eine sechsmonatige Präsidentschaft beinhaltet immer die Gefahr einer gewissen Kurzatmigkeit bei der Bewältigung riesiger Aufgaben. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die Europäische Union zu Dreierpräsidentschaften entschlossen hat. Das heißt, gemeinsam mit Portugal und Slowenien werden wir auch über die Zeit unserer Präsidentschaft hinausreichende Dinge planen, um eine gewisse Kontinuität zu erreichen. Dazu wird zum Beispiel die Vorbereitung eines EU-Afrika-Gipfels im zweiten Halbjahr des Jahres 2007 gehören, bei dem wir Portugal unterstützen werden. Wir sind natürlich gut beraten, über das halbe Jahr hinaus zu denken und über den Tellerrand Europas hinaus zu schauen. Deshalb werden die Programme, die wir während der EU-Präsidentschaft durchführen, und die Arbeiten im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft natürlich verknüpft. Das bedeutet ganz elementar, dass wir unsere Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der EU, zum Beispiel mit Russland, und unser Verhältnis zu Zentralasien sowie zu China und Indien entwickeln. Ich begrüße es außerordentlich, dass der Bundesaußenminister die zentralasiatische Region und auch die nordafrikanische Region besucht hat. Ich glaube, wir müssen verstehen, dass diese Regionen auch für die Zukunft der Europäischen Union von zentralem Interesse sind. Wenn man sich einmal anschaut, mit welcher Vehemenz Länder wie China heute eine sehr bewusste Außenpolitik betreiben, dann wird klar, dass die EU gut beraten ist, auch diese Regionen immer wieder im Blickfeld zu haben und sich um sie zu kümmern. ({15}) Meine Damen und Herren, auch während unserer G-8-Präsidentschaft setzen wir einen Schwerpunkt: Wir wollen zeigen, dass es in unserer Bundesregierung den unbedingten Willen zur politischen Gestaltung der Globalisierung gibt. Die Globalisierung muss fairen Regeln verpflichtet sein. Ich sage das ausdrücklich: Dazu gehören auch Sozial- und Umweltstandards. ({16}) Natürlich - das ist vielleicht unser größtes Problem bezweifeln viele Menschen heute, dass das überhaupt noch gelingen kann. Ich glaube aber, wir dürfen diesen Anspruch nie aufgeben. In der Globalisierung bedeutet das natürlich eine Gemeinsamkeit mit vielen Partnern auf der Welt und zum Teil auch das Bohren sehr dicker Bretter: Wir müssen Barrieren für internationale Investitionen abbauen, wir müssen die Kapitalmärkte transparenter machen, wir wollen das geistige Eigentum effektiver schützen, wir wollen die Produktpiraterie bekämpfen und wir müssen vor allen Dingen - dazu ist die G-8-Präsidentschaft auch geeignet - im Klimaschutz weiterkommen, nämlich durch eine Verbesserung der Energieeffizienz und durch eine erhöhte Sicherheit hinsichtlich der Energieversorgung. Schließlich wollen wir während unserer G-8-Präsidentschaft auch Afrika eine Perspektive geben, was wir zu einem besonderen Schwerpunkt machen werden. Meine Damen und Herren, die Doppelpräsidentschaft im Rat der EU und in der G 8 wird uns alle fordern. Deshalb bitte ich bei der Umsetzung auch um die Unterstützung aller. Die Regierung alleine kann das nicht schaffen. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit von Bundesregierung, Bundestag, sowohl mit den Koalitionsfraktionen als auch mit den Oppositionsfraktionen, und auf die Zusammenarbeit mit den Ländern an. Machen wir diese Präsidentschaften zu einem gemeinsamen nationalen Anliegen. In diesem Jahr war die Welt für einige wunderbare Wochen im Sommer in unserem Land wahrlich zu Gast bei Freunden. Nächstes Jahr können wir ganz anders, aber jeder an seinem Platz dazu beitragen, das Wachstum und die Verantwortung in der Welt zu fördern und Europa gemeinsam gelingen zu lassen. Denn ich glaube, eines ist gewiss: Europa war und Europa bleibt die Friedensidee des 20. Jahrhunderts und Europa bleibt die Zukunftsidee des 21. Jahrhunderts. Dafür lohnt sich die Mühe, dafür lohnt sich auch die Arbeit an Kompromissen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Dann können wir etwas schaffen. Herzlichen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben um die Unterstützung für die wichtige EU-Ratspräsidentschaft aus dem ganzen Hohen Haus gebeten. Sie haben ausdrücklich nicht nur um die Unterstützung der Koalitionsfraktionen gebeten, sondern sich auch an die Opposition gewandt. Ich kann Ihnen jedenfalls für die liberale Opposition in diesem Hause sagen: Wir werden Sie bei Ihrem wichtigen Anliegen, die EU-Ratspräsidentschaft zu einem Erfolg im Interesse unseres Landes zu führen, mit Sicherheit unterstützen. Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden mit Sicherheit Ihre Arbeit begleiten, auch kritisch, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel daran: Hier geht es um deutsches Interesse und nicht um Opposition oder Koalition, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Wir haben mit dieser EU-Ratspräsidentschaft eine herausragende Chance für Deutschland. Wir haben eine herausragende Chance für Europa. Ich bin deswegen übrigens auch ein wenig verwundert, wie wenig ausgeprägt das Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen gegenüber dieser ersten Regierungserklärung der Bundesregierung zur EU-Ratspräsidentschaft ist. Aber, meine Damen und Herren, wir alle wollen den Erfolg Ihrer Präsidentschaft. Deswegen will ich zu Beginn erst einmal darauf aufmerksam machen, dass die bisherige Außen- und Europapolitik Ihrer Regierung in einem wesentlichen Punkt eine wohltuende Korrektur gegenüber der rot-grünen Regierungszeit erfahren hat. ({1}) Meine Damen und Herren in der Bundesregierung, Sie haben gegenüber der Vorgängerregierung zwei Dinge korrigiert, nicht laut angekündigt, aber doch spürbar. Es ist nicht mehr die Rede von der Achsenbildung, es ist nicht mehr die Rede von einer Achse Paris-Berlin, gar Moskau. Vor allen Dingen hat die Ignoranz in der Europapolitik gegenüber den kleineren und mittleren Staaten der Europäischen Union weitestgehend ein Ende gefunden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Es war immer beste Tradition deutscher Außen- und Europapolitik, nicht nur die Großen in Europa zu sehen, sondern auch die kleinen und mittleren Völker in Europa als Verbündete zu betrachten. ({2}) Wir erinnern uns noch, wie die Regierung Schröder/ Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit sogar mit Sanktionen gegen unser Nachbarland Österreich arbeitete, weil dort eine Regierungsbildung zustande kam, die aus Sicht der rot-grünen Bundesregierung nicht gewünscht war. Deswegen ist es wohltuend, dass die Regierung Merkel/ Steinmeier dies offensichtlich korrigiert. Wir alle werden als Volksvertreter immer wieder in unseren Veranstaltungen gefragt, was uns Europa bringt. Ich kann nur das aufgreifen, was die Bundeskanzlerin im Kern als ihre Begründung genannt hat. Selbst wenn uns Europa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen Frieden für unser Land und in Europa selbst, dann hätte sich der europäische Integrationsprozess längst gelohnt. ({3}) Deswegen ist es richtig, dass die europäische Erweiterung und die Erweiterung des Integrationsprozesses - dazu zählt auch die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien - zunächst als Friedenschance gesehen wird. Wann hat es das jemals in unserer Geschichte gegeben, dass wir Deutschen gewissermaßen von Freunden und Verbündeten umzingelt waren? Das sollten wir uns sehr genau einprägen. Es ist ohne jeden Zweifel eine wunderbare Entwicklung. Andere fürchten sich vor dem Wettbewerb, der mit dem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder einhergeht. Wer sich vor dem Wettbewerb aus Rumänien und Bulgarien fürchtet, den müssen wir realistischerweise darauf hinweisen, dass das erst der Anfang ist. Es ist die Ouvertüre. Der eigentliche Wettbewerb kommt noch auf uns zu, und zwar durch China, Indien und den unterschätzten südamerikanischen Kontinent. Wer meint, er könne den Wettbewerb schon innerhalb Europas nicht bestehen, der ist augenscheinlich auch mental nicht hinreichend für die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung gewappnet. ({4}) In Wahrheit ist die Globalisierung eine sichere Entwicklung. Die beste Antwort auf die Globalisierung ist die Schaffung eines großen europäischen Binnenmarktes und eine koordinierte europäische Außen- und Wirtschaftspolitik. Europa ist keine weitere Bedrohung für Deutschland, sondern unsere Antwort auf den weltweiten Wettbewerb. Es ist in erster Linie kein Risiko, sondern eine Chance für unser Land. ({5}) Deswegen stellt der Binnenmarkt gewissermaßen ein Fitnessprogramm für diese Herausforderungen dar. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, in Deutschland mehr über neue Chancen zu reden statt nur über Risiken. Warum überlassen wir es zum Beispiel Österreich, eine Investitionsbrücke nach Osteuropa zu bauen? ({6}) Das könnte doch auch unser nationales Projekt in Deutschland sein. ({7}) Wenn wir über die Osterweiterung bzw. über die Erweiterung insgesamt reden, dann ist neben all dem, was im Zusammenhang mit Zahlungen und Finanzschlüsseln im Laufe der nächsten Monaten ohnehin zu beraten und vielleicht auch kontrovers zu diskutieren sein wird, eine kritische Anmerkung zu einem von Ihnen bereits angesprochenen Punkt erforderlich. Das Allermindeste, was der Deutsche Bundestag hinsichtlich der EU-Ratspräsidentschaft von der Bundesregierung erwarten kann, ist, dass sie sich in wesentlichen Fragen der Europapolitik - etwa in der Türkeifrage - innerhalb der Regierung einig ist. ({8}) Es bleibt ein einmaliger Vorgang, dass der deutsche Außenminister die eigene Bundeskanzlerin in der Türkeipolitik öffentlich per Interview zur Ordnung ruft und anschließend der Vorsitzende der Unionsfraktion wiederum Herrn Steinmeier kritisiert. So etwas verletzt die goldene Regel der deutschen Europa- und Außenpolitik. In Wahrheit sind Sie sich nicht einig. Dabei sollte man von Ihnen Einigkeit erwarten können. Sie schwächen mit der Uneinigkeit in der Türkeifrage auch die europäische Verhandlungsposition gegenüber der Türkei. ({9}) Denn es ist völlig klar, dass das Ankaraprotokoll umgesetzt werden muss. Klar ist auch, dass niemand Mitglied der Europäischen Union werden kann, der nicht wenigstens alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorher anerkannt hat. Das kann nicht anders gesehen werden. ({10}) Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass man Europa nur glaubwürdig führen kann, wenn man selber führend ist. Ich kann bei all dem, was Sie sich in Europa - zu Recht - vornehmen, nur an Sie appellieren, Ihre Hausaufgaben in der Innenpolitik nicht zu vernachlässigen. Die Tatsache, dass wir nun eine konjunkturelle Aufhellung erleben, darf Sie nicht dazu bewegen, vom Kurs der strukturellen Reformen in Deutschland abzugehen; denn in Wahrheit ist die Lage im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer nicht komfortabel, was allein ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik und das Wirtschaftswachstum zeigt. Sie haben die Energiepolitik in den Mittelpunkt gestellt. Das ist klug; denn die Energiepolitik ist eine Schicksalsfrage nicht nur für Deutschland, sondern gerade für das hoch entwickelte Europa insgesamt. Aber dann muss man von Ihnen erwarten, dass Sie in der Energiepolitik auch gegenüber solchen Ländern in Europa gesprächsbereit sind, die nicht den törichten Ausstiegskurs bei der Kernenergie mitmachen wollen. ({11}) Weil in Ihrer letzten Regierungserklärung zu Recht von den Herausforderungen die Rede war, die durch den Klimawandel auf uns zukommen: Es ist ein Fehler, wenn sich Deutschland in der Energiepolitik verhält wie der berühmte Geisterfahrer auf der Autobahn. Alle anderen Länder investieren in die nukleare Kerntechnologie und entwickeln sie weiter, während wir aussteigen wollen. Das ist die falsche Antwort. Wir müssen vielmehr bei den Energietechnologien durch einen Mix aus regenerativen und konventionellen Energien sowie der Kernenergie Spitze sein. Wer das ignoriert, der schadet dem Klima; denn die CO2-Emissionen können in erster Linie durch den Einsatz der Kernenergie reduziert werden. ({12}) Frau Bundeskanzlerin, im Forschungsbereich, insbesondere bei der Bio- und der Gentechnologie, ist es nicht klug - Sie haben in der begrenzten Zeit Ihrer Regierungserklärung dazu nicht so viel ausführen können; das ist verständlich -, wenn wir Deutschen beispielsweise bei der Stammzellforschung in Europa auf der Bremse stehen, anstatt die Chancen für neue Medikamente und neue Technologien für unser Land zu begreifen. Es ist nicht etwa das böse Europa, das uns in der Energiepolitik oder in der Forschungspolitik behindert. In Wahrheit stehen wir in Deutschland auf der Bremse. Wir sind diejenigen, die den europäischen Fortschritt behindern. Deswegen sage ich zu denjenigen, die immer davon reden, dass uns Europa nur Bürokratie bringt: In Wahrheit hat die Bundesregierung - beispielsweise beim Antidiskriminierungsgesetz - bei dem, was aus Europa gekommen ist, noch eines draufgesetzt. ({13}) Klagen wir also nicht über Europa, sondern machen wir unsere Arbeit in Deutschland! Sie haben mit der bevorstehenden Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union eine große Chance. Es ist eine Chance nicht nur für die Regierung, sondern für unser Land. Weil wir uns alle für unser Land verantwortlich fühlen, werden wir, die Opposition, Sie bei der EURatspräsidentschaft nach besten Kräften und im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Eichel, SPDFraktion. ({0})

Hans Eichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsidentschaft im nächsten Jahr sind eine große Herausforderung. Dabei ist die Regierung gerade ein Jahr im Amt. Ich erinnere mich, dass das bei Rot-Grün noch ein bisschen knapper war. Die Regierung war erst ein Vierteljahr im Amt, als sie diese Doppelpräsidentschaft zu schultern hatte. Frau Bundeskanzlerin, das geschieht in einer Zeit, in der die europäische Lage - das kann Vorteile, aber auch Nachteile haben - durchaus unübersichtlicher ist. Es ist nicht erkennbar, wer von den großen Staaten von sich aus eine Führungsrolle in der Europäischen Union übernehmen könnte. Es ist erfreulich, dass Italien nach einer Reihe von Jahren unter Berlusconi, als es europäisch eine Nullnummer war, in die Mitte der europäischen Politik zurückgekehrt ist, obwohl Italien noch eine Reihe innerstaatlicher Probleme zu bewältigen hat. ({0}) Herr Westerwelle, es hat nie eine Achse Paris-BerlinMoskau gegeben, es war nicht einmal die Rede davon, vielmehr hat es über längere Zeit - das gilt zurzeit nicht; das bedauere ich; das liegt nicht an Deutschland - einen relativ starken französisch-deutschen Motor in der europäischen Integration gegeben. ({1}) Ich glaube nach wie vor, dass es gut wäre, nicht um andere auszuschließen, aber um Einigungen möglich zu machen - hier kann ich nur auf das hinweisen, was JeanClaude Juncker des Öfteren zu diesem Thema gesagt hat -, wenn es einen Gleichklang zwischen Paris und Berlin in zentralen Fragen der Europapolitik gäbe. ({2}) Deutschland - das ist ein großer Vorteil - ist den Makel, den Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, los. Das verbessert - hier hat die Bundeskanzlerin Recht natürlich unsere Position in dieser Situation. Anders, Herr Westerwelle, als Sie sagen, ist inzwischen die deutsche Wirtschaft, was das Wachstum betrifft, mit an der Spitze in der Eurozone und der Europäischen Union. Das kommt daher, weil anders als andere in den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft, aber auch die deutsche Politik eine Fülle von Entscheidungen getroffen hat, die es jetzt möglich machen, die weltwirtschaftlichen großen Chancen voll zu nutzen und in Europa nachhaltig nach vorne zu gehen, wenn uns nicht externe Probleme, die wir nicht beeinflussen können, wieder zurückwerfen. ({3}) Es war sowohl die Vorgängerregierung als auch die große Koalition, die im ersten Jahr ihres Bestehens in der Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgängig die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Das ist eine gute Basis für die EU-Ratspräsidentschaft; denn die Erwartungen sind hoch. Das kommt auch daher, weil Sie, Frau Bundeskanzlerin - das bestreitet niemand -, kurz nach der Amtsübernahme geholfen haben, eine sehr schwierige Aufgabe in Europa, nämlich die Finanzielle Vorausschau von 2007 bis 2013, zu lösen. Aber ich sage ausdrücklich - das müssen wir auch unseren europäischen Partnern sagen -: Die Erwartungen könnten auch zu hoch sein, denn es geht - hier haben Sie Recht, Frau Bundeskanzlerin künftig in Europa in zentralen Fragen nur gemeinsam, mit allen 27, voran oder es geht gar nicht voran. Wir sind in vielen Fragen, anders als wir es im Verfassungsprozess gewollt haben, in der Situation, dass Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden können. Wir erleben es ja dieser Tage - ich will das im Moment gar nicht kritisieren -, es wird sich zeigen, ob am polnischen Veto die Aufnahme der Verhandlungen mit Russland über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen scheitert oder nicht, ob angesichts der zyprischen Politik die weiteren Verhandlungen - das ist Gott sei Dank zurzeit abgebogen worden, auch Zypern hat das begriffen - mit der Türkei abgebrochen werden oder nicht. Da zeigt sich plötzlich, dass in diesem Europa auch ganz kleine Mitglieder eine ganz große Rolle spielen können. Deswegen ist die Behauptung falsch, Herr Westerwelle, dass sich die Vorgängerregierung nicht um die Kleinen bemüht habe. Ich weiß, wie oft der Bundeskanzler und ich als Finanzminister in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik, und zwar auch in den kleinen Nachbarstaaten, gewesen sind. Es gab nämlich einen sehr klugen Satz einer hochrangigen Beamtin in diesem Hause, der lautete: Schaff dir deine Freunde, bevor du sie brauchst; wir brauchen sie alle. - Das ist völlig richtig. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, alle müssen ihren Beitrag dazu leisten. Damit sind wir bei dem nächsten schwierigen Thema, nämlich dem Verfassungsprozess. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich ein hohes Ziel gesteckt, nämlich vor der Europawahl 2009 klarzumachen, wie es mit der Verfassung weitergeht, und zwar gemeinsam, sodass dann die Wähler in Europa wissen, wie und unter welchen Bedingungen künftig Europa weiter gestaltet wird, weil es mit den jetzigen Regeln - darüber sind sich ja im Grunde alle einig - wohl auf Dauer nicht gehen kann. Das, meine Damen und Herren, bedeutet, dass alle mitmachen müssen. Bis heute haben 18 Länder Ja und zwei Länder Nein gesagt. Offen stehen bislang noch die Voten von sieben Ländern. Ich muss übrigens darauf hinweisen, dass von den 18 Ländern, die Ja gesagt haben, sieben Länder das in Kenntnis der negativen Voten von Frankreich und den Niederlanden getan haben. Es ist also nicht so, dass der Ratifizierungsprozess danach abgebrochen worden wäre. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Deswegen muss man denjenigen, die Nein gesagt haben, auch sagen: Ihr müsst zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben, und zwar die Hälfte davon in Kenntnis eures negativen Votums. ({5}) Es ist auch wahr, dass es in Irland und Dänemark zwei Voten gegeben hat. In diesen Ländern ist dieselbe Frage nach dem ersten, negativen Referendum noch einmal gestellt und dann beim zweiten Referendum positiv beantwortet worden. Ich sage nicht, dass das die Lösung sein wird, aber ich denke schon, dass diejenigen, die Nein gesagt haben - das ist ein kleine Minderheit -, das in ihre eigenen Erwägungen einbeziehen müssen. Hier gilt in der Tat: Entweder machen alle mit oder es kommt nicht zustande. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg. An dem Willen der deutschen Präsidentschaft fehlt es ganz gewiss nicht. Es darf aber auch nicht an dem Willen jedes einzelnen anderen fehlen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in der Regierungserklärung das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell als einen Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft angesprochen. Zum Sozialmodell wird nachher mein Kollege Axel Schäfer einiges sagen. Ich will mich auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren. Ja, wir wollen ein wettbewerbsfähiges Europa, aber Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt gehören für uns und auch für diejenigen, die die Lissabonstrategie erdacht haben, untrennbar zusammen. ({6}) Wettbewerb treibt uns nicht auseinander, sondern macht uns gemeinsam stärker und gibt uns die Fähigkeit, auch die Schwächeren mitzunehmen. Das ist die Zielsetzung. Nun führen wir in der Tat eine sehr kritische Diskussion in Europa über die Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, insbesondere ausgehend von Frankreich. Das wird uns im nächsten Halbjahr auch in der deutschen Präsidentschaft erreichen. Dazu muss man einige Takte sagen: Erstens. Die Lissabonstrategie war am Anfang zu sehr zerfasert. Sie ist inzwischen auf vier Themen konzentriert. Das ist richtig so. Diese sind: Wachstum und Beschäftigung, Innovation, bessere Rechtsetzung und Energiepolitik. Man muss an dieser Stelle klarmachen, dass die Lissabonstrategie, die Europa zu der wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen will - ein sehr hohes Ziel -, fundamental auf der Solidarität der Staaten aufbaut. Darauf baut Europa überhaupt auf. Das bedeutet auch, dass die Reicheren für die Ärmeren in Europa einstehen. Dies hat Konsequenzen, die wir klarmachen müssen. Es geht bei der Lissabonstrategie nicht um den Wettbewerb der Staaten, sondern es geht um den Wettbewerb der Unternehmen. Es geht darum, dass wir alle vorangehen. Dann können wir in der Tat sehen, wer der Bessere ist, dann können wir beispielsweise sehen, dass wir die beste Familienpolitik machen, die besten Schulen und Hochschulen haben und dass wir die besten Forschungsergebnisse und die beste Umsetzung dieser Ergebnisse in neue Produkte erzielen. ({7}) Darum geht es, aber nicht darum, dass der eine Arbeitnehmer dem anderen Arbeitnehmer - das betraf die Dienstleistungsrichtlinie - zum Beispiel durch Sozialdumping schadet. Es geht auch nicht darum, dass der eine Staat dem anderen Staat durch Steuerdumping das Steuersubstrat entzieht. Deswegen sind wir nachdrücklich für eine gemeinsame Besteuerungsgrundlage bei den Unternehmen. ({8}) Ich sage auch ausdrücklich: In der weiteren Entwicklung kann ich mir einen gemeinsamen Markt mit 27 unterschiedlichen Steuersystemen und mit 27 völlig unterschiedlichen Sozialsystemen nicht vorstellen. ({9}) Dann ist die Freiheit der Betriebe und die Freiheit der Menschen nicht gewährleistet. ({10}) Sie müssen in Europa perspektivisch und bei gleich guter Entwicklung der Staaten auch gleiche Chancen vorfinden. Zweitens. Wir müssen die Strategien zusammenfassen. Es kann nicht sein, dass die Nachhaltigkeitsstrategie von Lissabon und der Stabilitäts- und Wachstumspakt unverbunden und zum Teil widersprüchlich nebeneinander stehen. Das müssen die wirtschaftspolitischen Leitlinien leisten. Wir haben die Instrumente in Europa und wir haben die Gremien. Das sage ich unseren französischen Freunden. Die entscheidende Frage ist, ob die nationalen Staaten und Regierungen bereit sind, die europäische Koordinierung in ihr jeweiliges nationales Handeln umzusetzen. ({11}) Daraus ergibt sich der europäische Mehrwert, zum Beispiel die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung, die ein zentrales Element der Lissabonstrategie darstellen. Drittens: Energiepolitik und Klimaschutz. Europa muss dabei auch für die Zeit nach 2012 eine führende Rolle spielen. Aufgrund der Tatsachen, dass wir erstens besonders stark vom Import abhängig sind - jetzt 50 Prozent, in der Perspektive 70 Prozent unserer Energie werden importierte Energie sein - und zweitens die fossilen Energieträger zur Neige gehen, stehen wir vor riesigen Herausforderungen. Die erste Herausforderung haben wir im Innern zu bewältigen. Da ist die allerwichtigste Aufgabe mehr Energieeffizienz. Mit Blick darauf müssen wir riesigen Druck machen. Das muss eine gemeinsame europäische Anstrengung sein. Europa muss an dieser Stelle Vorbild sein und anderen zeigen, wie es geht. ({12}) Die zweite Herausforderung liegt in der Nutzung der regenerativen Energien und dem gemeinsamen Binnenmarkt für Gas und Strom. Darüber wird im Einzelnen noch zu reden sein. Das bedeutet ausdrücklich auch Wettbewerb. Deswegen muss es möglich sein - das will der Bundeswirtschaftsminister, aber auch die Kommission -, darüber zu einem gemeinsamen Ergebnis zwischen der Bundesregierung und der Kommission zu kommen. ({13}) Meine Damen und Herren, das hat auch Konsequenzen nach außen. Wir müssen unsere Bezugsquellen diversifizieren: Russland, Norwegen, Nordafrika, der Nahe Osten und auch Zentralasien. Das Thema Energiepolitik ist zu Recht ein zentrales Element der Außenpolitik. Wir müssen die Beziehungen auf eine sichere Basis stellen. Dazu brauchen wir unter anderem das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland. Natürlich ist uns nicht egal, wie Russland sich im Innern entwickelt; das ist wohl wahr. Aber wir müssen auch feststellen, dass Russland immer, die ganzen Jahrzehnte über, ein verlässlicher Partner in der Energiepolitik, bei der Energielieferung war. Zu keiner Zeit haben wir etwas anderes erlebt. ({14}) Wir wollen, dass die Prinzipien der Energiecharta auch in das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen aufgenommen werden. Ich denke, es ist vernünftig, eine Verflechtung zwischen Russland und der Westeuropäischen Union auch bei der Energieversorgung herbeizuführen. Wir haben viel an Know-how und Kapital zu bieten, das die Russen für ihre Energiepolitik brauchen. Das muss auch umgekehrt gelten; eine solche Verflechtung kann nie einseitig sein, sondern muss in beide Richtungen gelten. ({15}) Was Polen betrifft, müssen wir diesem Land garantieren, dass es seine Gaslieferung, wenn nicht vom Osten, vom Westen bekommt. Das kann überhaupt nicht streitig sein. Ich hoffe, dass die finnische Präsidentschaft es noch schafft, das Problem zu lösen. Denn, meine Damen und Herren, auch das muss man den Polen sagen: Das Energiethema ist für uns alle zu wichtig, als dass diese Frage durch das Veto eines einzelnen Landes über längere Zeit verzögert werden könnte. Auch das muss klar sein. ({16}) Zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie und das ganze Kabinett - und alle anderen wollen sicher gerne helfen - haben mit der Doppelpräsidentschaft eine riesige Aufgabe vor sich. Ich wünsche Ihnen dazu alles Gute und sage ganz ausdrücklich: Die Unterstützung ganz gewiss der SPD-Fraktion, aber nicht nur dieser, werden Sie bei dieser Aufgabe haben. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke will ein demokratisches und soziales Europa. ({0}) Der Forderung nach einem demokratischen und sozialen Europa wird wahrscheinlich jeder in diesem Hause zustimmen. Wenn ich aber sage, ohne ein soziales Europa gibt es kein demokratisches Europa, dann werden sich die Geister in diesem Hause scheiden. ({1}) Beginnen wir mit der Demokratie. Es ist öfter über den so genannten Ratifizierungsprozess gesprochen worden. Aber noch keiner hat die Frage gestellt, wie denn eigentlich die Verfassung in Europa verabschiedet werden soll. Ich sage in aller Klarheit, dass für uns nicht so sehr die Frage im Vordergrund steht, wie viele Länder sich wie entschieden haben, sondern die Frage, ob die Bevölkerung an dem Verfassungsprozess beteiligt worden ist. Ich meine, wenn man ein demokratisches Europa will, dann sollte man zumindest bei der Verfassung eine Volksabstimmung fordern; denn ohne Volksabstimmung gibt es kein demokratisches Europa. ({2}) Das gilt im Übrigen nicht nur für den Verfassungsprozess, sondern im Wesentlichen für alle Entscheidungen, die in den letzten Jahren getroffen worden sind, ob das die Einführung des Euro, der Vertrag von Maastricht oder die Osterweiterung war. Meine Damen und Herren, wir sind der festen Überzeugung, dass man ein demokratisches Europa nicht undemokratisch bauen kann, indem man ständig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheidet. ({3}) Nun muss der Zusammenhang zwischen einem sozialen und einem demokratischen Europa nicht unmittelbar einsichtig sein. In dem Verfassungsentwurf wird die attische Demokratie angesprochen. Ich zitiere Perikles, auf den im Verfassungsentwurf konkret Bezug genommen wird: Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden. Wenn wir also ein demokratisches Europa bauen wollen, dann müssen wir die Verfassung so gestalten, dass die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden und nicht die Interessen der Wirtschaft und im Wesentlichen der Großkonzerne, wie das in den letzten Jahren geschehen ist. ({4}) Der eine oder andere wird nun sagen, das sei einfach nur dahergesagt und nicht begründbar. Ich möchte ganz deutlich sagen, dass diese Regierung aufgrund ihrer Politik nicht daran mitwirkt, ein soziales und damit ein demokratisches Europa zu bauen. Darüber muss geredet werden. Es gibt in Europa drei Fehlentwicklungen, die dazu geführt haben, dass immer mehr Menschen diesen Einigungsprozess ablehnen und weiterhin ablehnen werden, wenn er wie bisher gestaltet wird. Wir sollten darauf eingehen. Diese drei Fehlentwicklungen kann man bezeichnen mit Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdumping. Wenn man auf diesem Wege weiter voranschreitet, dann wird man kein soziales und damit kein demokratisches Europa bauen können. ({5}) Ich beginne mit dem Lohndumping. Hier spielt Deutschland eine wirklich verheerende Rolle. Die letzten veröffentlichten Zahlen, die jedem zugänglich sind, haben gezeigt, dass die Tarifabschlüsse und die Lohnentwicklung in Deutschland - das muss man unterscheiden - im Vergleich mit allen übrigen europäischen Staaten so nachteilig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, dass die Währungsunion wirklich gefährdet ist. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Unsere Dumpingpolitik, die durch immer niedrigere Lohnabschlüsse und durch die fortwährende relative Senkung der Lohnstückkosten gekennzeichnet ist, führt in anderen europäischen Hauptstädten zu Diskussionen. Auf diese Art und Weise baut man kein gemeinsames Europa, sondern man macht eine Dumpingkonkurrenz auf, die zulasten der abhängig Beschäftigten geht. Das kann kein soziales Europa in unserem Sinne sein. ({6}) Wenn man die Lohnkonkurrenz, die das Lohndumping letztendlich verursacht, bremsen wollte, dann brauchte man einen Mindestlohn. Wenn Sie Europa wirklich gemeinsam bauen wollen, dann müssen Sie sich der Mehrheit der europäischen Staaten anschließen, die bereits einen Mindestlohn eingeführt haben. Gerade wir in Deutschland brauchen diesen Mindestlohn. ({7}) Das Sozialdumping ist ebenfalls seit einer ganzen Reihe von Jahren Mode geworden und insbesondere durch uns befördert worden, was den luxemburgischen Ministerpräsidenten veranlasste, mit Blick auf die Diskussion innerhalb der so genannten Christdemokraten zu sagen: Europa kann man nicht bauen, wenn man einen Wettbewerb veranstaltet, wer Arbeitnehmerrechte, insbesondere den Kündigungsschutz, am schnellsten abbaut. - Es wäre gut, wenn sich solche Einsichten auch einmal in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen würden. ({8}) Neben Lohndumping und Sozialdumping haben wir Steuerdumping. Es ist aber nicht so - der Kollege Eichel hat dies so dargestellt -, dass wir die unschuldigen Opfer dieser Entwicklung sind. Ich würde das zwar gerne feststellen, aber die Zahlen sagen etwas anderes: Unsere Steuerquote wird gerade noch von der eines kleinen Staates unterboten. Ansonsten liegen wir hinsichtlich der Steuerquote ganz unten in Europa. Wir stoßen das Steuerdumping in Europa an; wir nötigen sozusagen durch unsere verfehlte Politik die anderen europäischen Staaten zum Abbau von Sozialleistungen und von öffentlicher Leistung. ({9}) Wenn Sie sich die Unternehmensteuern anschauen - Sie planen eine weitere Entlastung in Milliardenhöhe -, dann werden Sie feststellen, dass wir zu den Ländern gehören, die immer wieder im so genannten Standortwettbewerb dafür Sorge tragen, dass die Unternehmensteuern nach unten gehen. Das hat zur Konsequenz, dass die Steuern und Abgaben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach oben gehen. Dieses Europa wollen wir nicht; wir lehnen es ab. Sie aber bringen es immer stärker auf den Weg. ({10}) Sie sind keinen Argumenten zugänglich. Schauen Sie sich doch einmal die Lohnentwicklung und die Steuerquote an. Unsere Steuer- und Abgabenquote liegt bei 34 Prozent. In Europa liegt sie bei durchschnittlich 40 Prozent. Das ist eine Differenz von 130 Milliarden Euro. Ich sage es noch einmal: Wenn wir die Steuer- und Abgabenquote des europäischen Durchschnitts hätten, wäre keine einzige der umstrittenen Maßnahmen zum Sozialabbau in den letzten Jahren notwendig gewesen. So traurig ist die Wirklichkeit. ({11}) Ich komme zum letzten Punkt, zur Außenpolitik. Ich habe sehr erfreut gehört, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, besondere Initiativen im Nahen Osten ergreifen wollen. Aber die Frage ist doch: mit welcher Stoßrichtung? Es gehört, wenn wir über Europa sprechen, dazu, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Kontinent eine koloniale Tradition hat, und zwar angefangen von Südamerika bzw. den Conquistadores bis hin zu der Rolle verschiedener Länder - auch Deutschlands - in Afrika und jetzt im Vorderen Orient. Diese koloniale Tradition ist nicht zu Ende. Es ist nun einmal so, dass es im Vorderen Orient letztendlich nicht um Freiheit und Demokratie geht, sondern dass dort, wie beispielsweise John F. Kerry im letzten Präsidentschaftswahlkampf wörtlich formuliert hat, amerikanische Soldaten wegen des Öls sterben. ({12}) Aber eine Außenpolitik, die auf Rohstoffimperialismus fußt, kann niemals zum Weltfrieden beitragen. ({13}) Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind am Irakkrieg beteiligt. Man kann natürlich darüber lachen, dass man das Völkerrecht bricht und an einem solchen Krieg beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass wir an diesem Krieg beteiligt sind, weil wir die Nutzung deutscher Flughäfen ermöglichen, Infrastruktur bereitstellen, Geleitschiffe entsandt haben usw. usf. ({14}) Frau Bundeskanzlerin, wir hätten gerne von Ihnen gehört, ob Sie im Vorderen Orient weiter Außenpolitik in dieser Tradition betreiben wollen oder ob Sie sich endlich von einer verfehlten Außenpolitik lösen wollen, die auf imperialen Zielen aufbaut und deshalb niemals im Nahen Osten zu Frieden führen kann. ({15}) Man kann die Tatsachen, die Lohnentwicklung, die Entwicklung der Sozialsysteme, die Entwicklung der Steuersysteme und die Ergebnisse einer völlig verfehlten Außenpolitik, ignorieren. Wir stimmen zu, dass Europa einen besonderen Auftrag hat. Die besondere Aufgabe besteht darin, ein Europa zu schaffen, das sozial und demokratisch ist und dem Frieden dient. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Kollege Lafontaine, Ihnen zuzuhören. ({0}) - Ja, es ist interessant; aber gleich werden Sie nicht mehr klatschen. - Lieber Herr Kollege Lafontaine, Sie sitzen mit den Nachfolgern von Sozialisten und Kommunisten in einem Fraktionsboot ({1}) und kommen uns mit Belehrungen über Demokratie in Deutschland und Europa. ({2}) Ich möchte Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, was der Kollege Westerwelle vorhin vollkommen richtig gesagt hat: Sie haben nicht kapiert, dass es hier nicht um die Koalition oder die Opposition geht, sondern um deutsche und europäische Interessen und darum, dass Europa eine gute Zukunft in der Welt hat. ({3}) Noch etwas gehört gesagt - wenn ich an Ihre Person, Herr Lafontaine, anknüpfen darf -: Wenn Leute wie Sie, Herr Lafontaine, die wie sonst niemand die deutsche Wiedervereinigung bekämpft haben, in Deutschland die politische Oberhand behalten hätten, dann wären wir mit der europäischen Einigung nicht da, wo wir heute Gott sei Dank sind. ({4}) Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns allen in einer großartigen Regierungserklärung ({5}) Mut gemacht in Bezug auf das, was wir im kommenden Halbjahr während der deutschen Präsidentschaft für Europa und Deutschland bewegen wollen. ({6}) Sie haben gesagt: „Europa gelingt gemeinsam.“ Ich füge hinzu: Es gelingt gemeinsam, wenn wir den Menschen Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundlage eines gelingenden Europas vermitteln können. ({7}) Dass wir daran arbeiten müssen, lehren uns die Erfahrungen, die wir mit dem europäischen Verfassungsvertrag gemacht haben. Die Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und Holland haben in den jeweiligen Referenden nicht etwa deshalb Nein zum Verfassungsvertrag gesagt, weil sie den Entwurf von der ersten bis zur letzten Seite durchstudiert haben. ({8}) Sie haben deshalb Nein gesagt, weil sie ein mulmiges Gefühl hatten, weil Vertrauen und Verlässlichkeit nicht gewährleistet waren, weil für sie Europa nicht mit einer glänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie keinen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen, wie Sie es, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, und sie die Europäische Union mit ausufernden Bürokratismen, Unübersehbarkeiten und mit der unbeantworteten Frage in Zusammenhang gebracht haben, wie weit die Europäische Union eines Tages gehen wird, wo die Grenzen festgelegt werden. Das sind Fragen, mit denen wir uns konstruktiv auseinander setzen müssen. ({9}) Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens gestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bundestag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum 1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir haben auch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einen entscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen. Wir haben beschlossen: Der Deutsche Bundestag … hält vom Beginn des Beitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich, sollten die von der Kommission genannten Defizite nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein. ({10}) Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilt haben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ich möchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss natürlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterien jetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrief festgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind, dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Beitrittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unserer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert werden. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommission die Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dann riskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwischen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite. ({11}) Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wir uns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bürgern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln wollen. Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkei muss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauen und Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich auf das Verhandlungsgebaren der Europäischen Union verlassen können. ({12}) - Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten, die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EU beigetreten sind. Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sind es 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben das Rechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire, immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegte Übergangsfristen. Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicher und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisen und die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat. ({13}) Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergangenen Montag konsequent Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessen Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat - das hat die Frau Bundeskanzlerin ausgeführt -, nicht erfüllt worden ist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlossen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was als Antwort erforderlich war. Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des Ankaraprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmitgliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltung des Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. Die Einhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Wenn entgegenkommenderweise - ich verweise noch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen - die Beitrittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohl diese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das entsprechend Berücksichtigung finden. Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass es im Inneren der Türkei Widerstände gibt, dass es unglaublich schwierig ist, diese Nation nach Europa zu führen. Die Türkei befindet sich nämlich in einem großen Dilemma: In der Türkei gibt es nicht nur eine horizontale kulturelle Vielfalt - das ist für europäische Länder normal -, sondern auch eine vertikale kulturelle Vielfalt im historischen Längsschnitt. Ich kenne die Türkei gut genug, um sagen zu können, dass dort - zwischen Istanbul im Westen und Ostanatolien - die Kulturen verschiedener Jahrhunderte wie im Zeitraffer im Hier und Jetzt nebeneinander stehen. Für die Türkei ist es ungeheuer schwierig, alles, was damit zusammenhängt, zu bewältigen. ({14}) Es wäre aber vollkommen falsch, wenn die Europäische Union das als Begründung dafür heranziehen würde, in ihrem Verhandlungsgebaren nachgiebiger zu werden. ({15}) Dieses Unvermögen der Türkei bzw. das Dilemma, in dem sie steckt, darf nicht zur Forderung nach einer Verhandlungsnachgiebigkeit führen. Es muss vielmehr zu der Frage führen, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkei angesichts dessen überhaupt - auch für die Türkei - die adäquate Lösung ist, ob eine andere Form der allerengsten Anbindung an Europa nicht im ureigenen Interesse der Türkei liegt. Wir stoßen die Türkei nicht zurück, wir strecken die Hand zu einer ganz besonders engen Partnerschaft aus. Ich glaube, die Türkei täte sich im Hinblick auf ihren inneren Frieden, auf das Bewahren ihrer inneren Kohäsion und ihrer kulturellen Traditionen einen Gefallen, wenn sie nicht sofort dem Acquis communautaire beitreten würde; denn eine Vollmitgliedschaft verlangt einem Staat viel ab. ({16}) Wir müssen bei der Erweiterung der EU natürlich darauf achten, dass sie auf lange Sicht sinnvoll und sinnstiftend ist und das erfüllt, was die Bürger in Europa erwarten. Dazu gehört auch die Frage, wie es auf dem Balkan weitergeht. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, dass es jetzt vollkommen klar ist, dass die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgekoppelt sind und nicht mehr, wie es einmal versucht worden ist, im Gleichschritt mit den Verhandlungen mit der Türkei laufen. Kroatien hat eine exzellente Beitrittsperspektive. ({17}) Wir müssen aber klar machen - vielleicht muss das im Rahmen des Verfassungsvertrages in nicht allzu ferner Zeit beschlossen werden -, dass es auf Dauer nicht angeht, dass kleine Länder eine x-beliebige staatliche Zellteilung betreiben - auf dem Balkan gab es jüngst ein solches Referendum - und trotzdem die vollen Rechte eines souveränen Staates in der Europäischen Union in Anspruch nehmen wollen. Dafür haben die Menschen in Europa auf Dauer kein Verständnis. ({18}) Wenn wir über den Verfassungsvertrag sprechen, ist es wichtig, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür zu danken, dass Sie vor wenigen Wochen noch einmal vollkommen unmissverständlich klar gemacht haben, dass wir - ich spreche hier für meine Fraktion - einen Gottesbezug in der Präambel des Verfassungsvertrages wollen. Dazu stehen wir und daran lassen wir uns messen. ({19}) Im kommenden Halbjahr stehen viele wichtige Projekte auf der Tagesordnung: die Entscheidungsverfahren verbessern, eine glaubhafte Subsidiaritätsstruktur entwickeln und vor allen Dingen die Liberalisierung der Energiemärkte weiterbetreiben. Hier haben wir einen erheblichen Nachholbedarf. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister an seinem heutigen Geburtstag vielmals dafür, mit welch unglaublicher Energie er auf die weitere Liberalisierung der Energiemärkte in Europa, aber auch in weltweiten Zusammenhängen hinwirkt. ({20}) Ich habe gesagt, dass wir auf diesem Gebiet einiges nachzuholen haben. Ich kann mich gut an die Zeit vor zehn Jahren erinnern, als wir die Liberalisierung der Energiemärkte in Europa auf Grundlage der Liberalisierungsrichtlinie angegangen sind. Ich habe damals immer gesagt: Wir können nur Ja zur Liberalisierung sagen - wir Deutsche haben sie übrigens als Allererste konsequent durchgeführt, und zwar auf allen Spannungsebenen, energiewirtschaftlich betrachtet - unter der Vorbedingung, dass Frankreich ein Entflechtungskonzept für die EDF vorlegt. Das ist bis heute nicht geschehen. Es wäre richtig gewesen, wenn wir das damals wesentlich konsequenter eingefordert hätten. Jetzt müssen wir die Hausaufgaben erledigen. Wir müssen das Problem der Produktpiraterie angehen und Entbürokratisierung durchsetzen. Dies beginnt damit, dass das Entstehen neuer Bürokratie in Brüssel unterbunden wird. ({21}) In dieser Hinsicht verspreche ich mir viel von den neuen Verzahnungen der Informationsstränge; dadurch wird uns dies besser gelingen. ({22}) - Man kann zumindest Zeichen setzen. ({23}) Wenn man es mit dem Unterbinden der Bürokratie ernst meint, dann muss man dies an ganz konkreten Punkten festmachen, so wie wir dies jetzt mit der Ablehnung der Umsetzung der verrückten Feuerzeugverordnung in deutsches Recht getan haben. Wer selbst Erfahrungen mit Kindern hat, der weiß, dass man noch so viele Versuche mit Hundertschaften von Kindern und Feuerzeugen machen kann: Die Kinder sind nicht so dumm, ({24}) als dass sie damit nichts anrichten könnten. - Hier ist Vernunft angesagt. Denen in Brüssel, die an den Normen arbeiten, möchte ich eines ins Stammbuch schreiben: Meine Damen und Herren in Brüssel, spart euch etwas von der intellektuellen Kälte! Mit mehr Herz und Verstand gewinnt ihr eher das Vertrauen der Menschen in Europa als mit bürgerferner intellektueller Kälte. ({25}) In wenigen Monaten feiern wir in Deutschland das Jubiläum der Römischen Verträge. Dieses Ereignis im wiedervereinigten Deutschland und gerade hier in Berlin unterstreicht wie kein anderes Symbol, wie sehr Europa einig geworden ist. Es zeigt auch, dass wir in diesen sechs Monaten eine ganz exzellente Chance haben - vor allem durch die Koppelung von EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsidentschaft -, das Vertrauen in uns und unsere Verlässlichkeit ({26}) in den Augen unserer Bürger wieder zu fördern und zum Teil wiederherzustellen, aber auch das Vertrauen und die Verlässlichkeit zwischen Deutschland, Europa und der übrigen Welt. Vielen herzlichen Dank. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem Kollegen Keskin das Wort zu einer Kurzintervention erteile, möchte ich dazu ermahnen, bei Zwischenrufen, die hier oben nicht immer zweifelsfrei zu identifizieren sind - schon gar nicht, wenn sie alle gleichzeitig erfolgen -, bewährte parlamentarische Umgangsformen einzuhalten. Gelegentlich, Herr Kollege Lafontaine, gibt es Formulierungen, die wir hier eher zu vermeiden bemüht sind. ({0}) - Noch vorsichtiger ließ sich das kaum formulieren, als ich es gerade getan habe. ({1}) Präsident Dr. Norbert Lammert Nun hat der Kollege Keskin Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Dr. Ramsauer, Sie haben in Bezug auf das Verhalten der Türkei gegenüber der EU von Verlässlichkeit und Vertrauen gesprochen. Hier gebe ich Ihnen Recht. Aber meinen Sie nicht, dass dies nicht auch für Ihre Verlässlichkeit, für die Haltung Ihrer Partei und die des Vorsitzenden der CSU, Herrn Stoiber, zu gelten hat, der sich trotz der vertraglichen Vereinbarung, dass mit der Türkei Beitrittsverhandlungen geführt werden, immer wieder gegen einen EUBeitritt der Türkei ausspricht und dieses Vertrauen und diese Verlässlichkeit somit in hohem Maße verletzt? Zur Verlässlichkeit gehört auch, dass die EU ihre Zusicherungen gegenüber der Türkei erfüllen muss. Die Frau Bundeskanzlerin und Herr Westerwelle haben in ihren Reden aber nur den einen Teil der Wahrheit gesagt. Zum anderen Teil der Wahrheit gehört, dass im Gegenzug zur Zusicherung der Türkei, das Ankarazusatzprotokoll auf Südzypern auszudehnen, die EU direkte Handelsbeziehungen mit Nordzypern, dem türkischen Teil Zyperns, aufnimmt und das Embargo bzw. die Isolation dieses Teils Zyperns beendet. Hiervon ist aber überhaupt keine Rede. Die Umsetzung dieser Vereinbarung ist bislang ausgeblieben. Diese Umsetzung aber hat die Türkei verlangt. Die linke Fraktion legt sehr großen Wert auf Gerechtigkeit. ({0}) Dazu gehört nicht nur Gerechtigkeit gegenüber Menschen, sondern auch Gerechtigkeit gegenüber anderen Ländern. Danke sehr. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich sehe mir das gerne im Protokoll an. Besteht der Wunsch zu einer Erwiderung? - Das ist nicht der Fall. ({0}) Dann erteile ich als nächster Rednerin der Kollegin Renate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. ({1})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Herausforderungen angesichts der EURatspräsidentschaft, die Deutschland ab dem 1. Januar 2007 innehaben wird, sind groß. Deutschland erwartet und wir erwarten von Ihnen, dass Sie konkret sagen, in welche Richtung Sie gehen wollen, welche Instrumente Sie nutzen wollen, mit wem Sie Bündnisse schließen wollen und wie Sie Ihre Ziele erreichen wollen. Aber ich muss Ihnen, Frau Merkel, sagen: Sie haben Ihre Ziele nicht konkret benannt. Ihre Rede war seltsam, blutleer und dürftig. ({0}) Sie reden immer im Ungefähren. Man kann heute feststellen, dass Sie im Hinblick auf die deutsche EURatspräsidentschaft, die in den nächsten Tagen beginnt, nicht gut aufgestellt sind. Warum? Üblicherweise trägt jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union, bevor er die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür Sorge, dass er selbst in keine Konflikte verwickelt ist, seine eigenen Probleme gelöst hat und seine Hausaufgaben gemacht hat. Sie aber übernehmen die Präsidentschaft vor dem Hintergrund eines blauen Briefs aus Brüssel zum Emissionshandel, einer Abmahnung bezüglich der Reduzierung der Treibhausgasemissionen und einer, wie ich finde, wirklich unnötigen Eskalation bei den Verhandlungen mit der Türkei, zu der Sie persönlich beigetragen haben. Ich meine, Sie haben einen Klotz am Bein und genau an der Stelle müssen Sie nachbessern. ({1}) In Ihrer Rede fehlte es an Konkretisierung. Ich will Ihnen einmal sagen, was wir erwarten, und dabei von außen nach innen gehen. Frau Merkel, Sie sagen hier mit großer Weltsicht: Wir müssen Afrika helfen, sich zu entwickeln in Frieden und Wohlstand. - Wie kann man Afrika helfen wollen, ohne heute hier das Wort „Darfur“ auszusprechen? Eine Lösung für diesen Konflikt gehört doch zu einem solchen Konzept dazu. ({2}) Wir können - das wissen wir doch - Afrika nur helfen, wenn wir ihm helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, sich politisch weiter zusammenzuschließen. Wir können Afrika nicht helfen, indem wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass pro Jahr mehr als tausend Menschen an den europäischen Außengrenzen oder auf hoher See versterben, ertrinken. Wir können als Antwort nicht die Polizeifestung Europa dagegensetzen, sondern da müssen Sie, Frau Merkel, ein Konzept zur Entwicklung Afrikas vorlegen. Sie müssen aber auch sagen, wie die Migrations- und Flüchtlingspolitik für Europa aussehen soll. Das wäre eine Antwort und nicht nur das Ungefähre. ({3}) Wir erwarten von Ihnen auch, dass das Gerede über die Türkei endlich aufhört. Ich muss ehrlich sagen, ich wundere mich über die Rede von Herrn Ramsauer. Herr Ramsauer, wie kann man eigentlich bei weit mehr als zehn Minuten Redezeit der draußen staunenden Öffentlichkeit immer nur Bedenken und Kritik im Hinblick auf einen Beitritt der Türkei vermitteln? ({4}) Das ist ein Fehler, das ist populistisch und das ist das Gegenteil von dem, was Ihr früherer Bundeskanzler Helmut Kohl einmal als Perspektive für die Türkei eröffnet hat, im deutschen Interesse und im europäischen Interesse. ({5}) Sie haben sich selber entlarvt - nicht dass wir es nicht schon vorher gewusst hätten -, indem Sie, nachdem Sie so breit die Probleme eines Beitritts der Türkei erörtert haben, bei Kroatien als guter Katholik gleich Ja gesagt haben. ({6}) Ich will gar nicht negieren, dass Kroatien weit entwickelt ist. Aber, Herr Ramsauer, so kann man Europa, die Erweiterung der Europäischen Union und eine europäische Nachbarschaftspolitik nicht entwickeln; damit kommen Sie den europäischen Interessen nicht nach. ({7}) Frau Merkel, Sie haben meines Erachtens ordentlich auf den Tisch geschlagen - allerdings in einem negativem Sinne -, als es um die Türkei ging. Wir sind, ehrlich gesagt, froh, dass sich an dieser Stelle nicht Sie in Brüssel durchgesetzt haben, sondern Ihr Außenminister, Herr Steinmeier. ({8}) Wir erwarten von der deutschen Präsidentschaft ein aktives Engagement hinsichtlich des Nahen Ostens. ({9}) Wir erwarten, dass Europa seiner Verpflichtung nachkommt, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen. Es darf hier nicht passieren, dass man sich hinter dem internationalen Desinteresse, zum Beispiel der USA, versteckt. Deutschland muss an dieser Stelle mehr als koordinieren. Deutschland darf nicht einfach sagen, der Besuch von Herrn Steinmeier in Syrien sei eine ungewöhnliche Maßnahme gewesen. Das hört sich an wie eine Distanzierung Frau Merkels. Wir sagen ganz klar: Man muss mit diesen Ländern reden, auch mit Syrien, und ihnen eine Perspektive geben. Deutschland ist spät genug dran. ({10}) Ich will noch zwei Dinge nennen, die wir erwarten. Wir erwarten, dass im Bereich Klima- und Energiepolitik in dieser Dekade tatsächlich Schritte unternommen werden. Obwohl Sie viele allgemeine Punkte benannt haben, Frau Merkel, ist mir nach Ihrer Rede immer noch unklar, wen Sie eigentlich unterstützen. Unterstützen Sie Sigmar Gabriel, der 30 Prozent weniger Emissionen will? Oder unterstützen Sie Günter Verheugen, der 15 Prozent weniger Emissionen will? ({11}) Genau davon hängt ab, ob Europa seine Klimaziele erreicht, ob Europa eine Vorreiterrolle haben kann. Nur wenn Sie endlich aussprechen: „Minus 30 Prozent bei den Emissionen“, sind Sie überhaupt in der Lage, in Europa oder auf dem G-8-Gipfel eine Vorreiterrolle einzunehmen. ({12}) Stattdessen stehen Sie hier mit einem blauen Brief und haben ein Abmahnungsverfahren am Hals. Und da sagen Sie uns, man müsse auch weitere Schritte einleiten! In der Tat, Frau Merkel, wir brauchen weitere Schritte. Doch um diese Schritte überhaupt machen zu können, müssen wir den Verkehr in den Emissionshandel einbeziehen und wir müssen überlegen, ob Europas internes Kontrollsystem in Sachen Klima und Ökologie hinreichend ist. Nach vielen Jahren gegenteiliger Arbeit durch die CDU/CSU-Fraktion hat Frau Merkel heute hier gesagt - ich freue mich, dass Sie das angesprochen haben -, auch im internationalen Welthandel müssten soziale und ökologische Kriterien verankert werden. ({13}) Darauf kann ich nur sagen: Sie sind endlich angekommen. Aber wenn Sie das erreichen wollen, dann müssen Sie erst einmal einen großen Schritt in Europa gehen. Danach gehen wir mit Ihnen gerne einen Schritt weiter, wenn es darum geht, dass im WTO-Handel ökologische und soziale Kriterien verankert werden. Das fehlt bisher. Die WTO legitimiert in Wahrheit nur Raubbau. ({14}) Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie bei der Weiterentwicklung der Bereiche Justiz und Inneres darauf achten, dass es auch in Zukunft noch Datenschutz- und Verteidigungsrechte gibt. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Wir reden hier über eine Weiterentwicklung im Asylbereich, was das Thema Migranten betrifft, und über eine Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz. Aber Sie haben am Ende nur einen internationalen Datenaustausch zu bieten, der Zugriff auf sämtliche nationale Datenbanken innerhalb der Europäischen Union ermöglicht. Dazu kann ich nur sagen: Es ist nicht unsere Vorstellung von Europa, dass wir den gläsernen europäischen Bürger bekommen. ({15}) Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Thema Römische Verträge sagen. Wir werden im März des kommenden Jahres die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Römische Verträge und Euratom begehen. Wir müssen der Europäischen Union einen Sinn einhauchen. Die Menschen im Lande fragen sich, wozu sie die Europäische Union brauchen. Keiner glaubt heute mehr, dass diese Europäische Union dazu da sein soll, der „Subventionitis“ zu frönen. Keiner glaubt heute mehr, dass sie dazu da ist, dass weiterhin Kohle produziert und verwendet wird. Keiner glaubt heute mehr - das richte ich besonders an Sie, Herr Westerwelle -, dass unsere Zukunft in der Atomenergie liegt. ({16}) - Bis auf einen Geisterfahrer, sage ich Ihnen. Frau Merkel, wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, um die Weltwirtschaft und den Weltmarkt beeinflussen zu können. Wir brauchen in der EU ein Zusammenleben der Religionen. Darüber müssen wir reden und dürfen niemanden ausgrenzen. Wir brauchen eine öffentliche Debatte über Europa im Bundestag und in der Gesellschaft. Frau Merkel, Sie haben in Ihrem letzten Satz gesagt, dass Sie genau das anbieten. Ich sage in meinem letzten Satz: Wir sind bereit, über ein offenes Europa zu diskutieren, das seine Aufgaben beim Thema Klimaschutz und Soziales erledigt. Aber dann dürfen Sie nicht in einer Art klandestiner Politik eine Berliner Erklärung vorbereiten, bei der nicht einmal der Deutsche Bundestag einbezogen wird. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Aber dazu gehört auch eine offene Diskussion. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa gelingt gemeinsam in der deutschen Ratspräsidentschaft mit dieser großen Koalition. Wir werden uns dabei in die Tradition deutscher Ratspräsidentschaften stellen. Ich möchte kurz die beiden letzten nennen: Während der Ratspräsidentschaft 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder waren wir außergewöhnlich erfolgreich. Ich denke nur an die Beauftragung eines Konvents zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta, an die Lösung des Kosovokonflikts, an die Bewältigung der Kommissionskrise und an die Einigung über die Agenda 2000. Wir stehen auch in der Kontinuität zur Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl 1994. Damals haben wir erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erreicht. An Gesetzen wurde die Richtlinie über Europäische Betriebsräte verwirklicht. Es wurde das gemeinsame kommunale Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger realisiert. - Die Ratspräsidentschaften 1994 und 1999 waren Erfolge, auf denen wir aufbauen werden. ({0}) Dazwischen liegen 13 Jahre. Bis 2007 wird die Zahl der Mitgliedsländer der EU von zwölf auf 27 wachsen. Wir haben eine gemeinsame Währung und entscheiden gleichberechtigt im Europäischen Parlament. Diese Erfolge und diese Dimension müssen wir uns deutlich machen, auch wissend, dass die darauf folgende Ratspräsidentschaft - das ist die Dimension - erst wieder in 13 Jahren, nämlich 2020, sein wird. Was sind nun die besonderen Herausforderungen während unserer Ratspräsidentschaft? Erstens wird es darum gehen, Wirtschaft, Soziales und Ökologie zusammenzuführen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Entscheidend ist, dass wir das europäische Sozialmodell weiterentwickeln. ({1}) Wir müssen das noch einmal ins Bewusstsein rücken: Das europäische Sozialmodell basiert auf starken Gewerkschaften - Ordnungsfaktor und Gegenmacht -, auf Gleichberechtigung - Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe -, auf Solidarität und auf staatlicher Mitverantwortung. Es ist das Gegenteil von kalter Globalisierung und Ellenbogengesellschaft. Europa funktioniert nur als Sozialgemeinschaft. ({2}) Deshalb ist das, was sich die Bundesregierung konkret in diesem Bereich vorgenommen hat, gut: Erstens. Wir fordern die Kommission auf, sicherzustellen, dass die Gesetze auch auf ihre sozialen Auswirkungen hin und nicht nur hinsichtlich einer allgemeinen Realisierung des Binnenmarktes konzipiert werden. Zweitens. Wir setzen die Beschäftigungsstrategie fort. Drittens. Wir werden dort weiterhin erfolgreich sein, wo wir bisher schon am meisten geleistet haben, nämlich im Gesundheits- und Arbeitsschutz. Viertens. Mit einem Programm für die Jahre 2006 bis 2010 entwickeln wir weitere Konzepte für die Gleichstellung von Männern und Frauen. ({3}) Fünftens. Wir sind auch mit speziellen Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit aktiv. Das alles sind wichtige und zentrale Bereiche für uns und das werden auch die Sozialdemokraten in der Bundesregierung, ihre Ministerinnen und Minister tragen. Möglich wurde das erst, weil wir es unter deutscher Axel Schäfer ({4}) Mitwirkung bei der Gestaltung der Finanzvorausschau 2013 im letzten Jahr geschafft haben, dass in diesen europäischen Haushalt enorme Mittel eingestellt wurden, um diese Herausforderungen - soziale Gerechtigkeit, Beschäftigungsförderung, Bekämpfung von Benachteiligungen und Förderung von strukturschwachen Regionen - erfolgreich bewältigen zu können, anstatt, wie in früheren Zeiten, lediglich den Agrarsektor zu subventionieren. ({5}) Kolleginnen und Kollegen, zweitens werden wir den Verfassungsprozess voranbringen und einen erfolgreichen Pfeiler setzen, der eine Brücke über die portugiesische und slowenische bis hin zur französischen Präsidentschaft tragen wird, sodass wir zu neuen Grundlagen - auch verfassungsrechtlichen - in dieser Europäischen Union kommen werden. Liebe Bundesregierung, hier haben wir eine ganz klare Erwartung. 18 Länder haben den Verfassungsvertrag ratifiziert. Wir sagen selbstbewusst, dass das ein gemeinsamer Erfolg ist. Nicht wir müssen uns bewegen, sondern die neun Länder, die noch nicht ratifiziert haben oder in denen die Referenden - in zwei Fällen - negativ ausgefallen sind. Sie sind jetzt in der Bringschuld. Wir müssen Brücken bauen und sie mitnehmen, aber diese Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Mit der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages sind sie nämlich die Verantwortung eingegangen, den Verfassungsvertrag auch zu ratifizieren. Anstatt dass diese Länder und Regierungen - teilweise sind die Personen identisch mit denen, die ihn 2003 unterschrieben haben dieses Werk beiseite stellen, sich zurücklehnen und die Entwicklung von außen betrachten, müssen sie von uns in die Verantwortung genommen werden. Das werden wir auch tun. ({6}) Ein Drittes. Wir betreiben eine europäische Politik für die Menschen - Politik, um das Leben der Menschen zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, auch einmal die Erwartungen der Menschen an uns in den Blick zu nehmen. Über 80 Prozent sagen, dass wir eine starke Europäische Union im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung und für die äußere und innere Sicherheit brauchen. Dieser Erwartung der Menschen, die ein Stückchen skeptischer als früher geworden sind, ob wir das tatsächlich gemeinsam schaffen, müssen wir gerecht werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung hierbei nicht nur eine - wenn auch notwendige Kommunikationsstrategie fährt, sondern dass sie mit all ihrem Handeln auch deutlich macht: Deutsche Interessen werden am besten in Europa vertreten und Erfolge in Europa sind Erfolge auch für unser Land. Wir müssen ein bewusstes Gegenbild zu manchen Regierungen setzen - ersparen Sie mir, dass ich sie namentlich nenne -, die nur nach dem Motto verfahren: „Europa ist uns eigentlich egal und alles Schlechte kommt aus Brüssel. Es ist entscheidend, dass wir uns national gegen andere durchsetzen.“ Nein, das ist ein falsches Europabild. Richtig ist: Wir können in Europa nur gemeinsam erfolgreich sein - indem wir zu einem Interessenausgleich kommen und indem wir nicht das scheinbare nationale Interesse gegen die Europäische Gemeinschaft richten. Das muss unsere gemeinsame Verpflichtung in dieser Koalition und auch im Deutschen Bundestag sein. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa gelingt gemeinsam. Es gelingt auch aufgrund von Regierungskontinuitäten, die in den Personen anzuschauen sind. Schon in der Ratspräsidentschaft 1994 war die jetzige Kanzlerin Ministerin. Schon in der Ratspräsidentschaft 1999 war die jetzige Entwicklungsministerin im Amt und der jetzige Außenminister hatte eine wichtige Verantwortung. Die haben sie wahrgenommen. Oskar Lafontaine hat damals seine Verantwortung nicht wahrgenommen. Deshalb ist es ihm so leicht, hier verantwortungslose Reden zu halten. ({8}) Ich glaube, wir machen die Präsidentschaft zu einem Erfolg im blochschen Sinne, nämlich getragen von der Hoffnung, ins Gelingen verliebt. Deshalb wird diese europäische Ratspräsidentschaft gemeinsam gelingen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Ramsauer, am Anfang zwei Tipps: Schauen Sie sich einmal die Protokollstelle an, an der Sie davon sprechen, dass Sie es mit dem Unterbinden von Demokratie ernst nehmen wollen. Korrigieren Sie das, damit es nicht so stehen bleibt. Anstatt anderen Demokratiedefizite vorzuhalten und sie für ungebildet zu erklären, sollten Sie die Mehrheit der Menschen, die in Frankreich den EU-Verfassungstext abgelehnt haben, endlich ernst nehmen. ({0}) Wer, wie wir, einen besseren EU-Verfassungsvertrag will, darf über die deutsche Verfassung, das Verhältnis der EU-Verfassung zu unserem Grundgesetz nicht schweigen. Auch durch eine europäische Verfassungsordnung dürfen Art. 1 und 20 des Grundgesetzes in ihrem Wesen nicht beeinträchtigt werden. Das lässt Art. 79 Abs. 3 nicht zu. Mit diesen unabänderlichen Bindungen ist eine Ordnung unvereinbar, die, dem neoliberalen Zeitgeist folgend, die Menschen als Humankapital der Herrschaft des Profits unterwirft, ihnen also den Eigenwert als Menschen nimmt. Hierzu ein Zitat, Kollege Schäfer: In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. ({1}) Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung. Kollege Schäfer, das steht so nicht im Manifest von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, das steht auch nicht in Ihrem gültigen SPD-Parteiprogramm, das immer noch die Unterschrift von Oskar Lafontaine trägt, sondern das ist ein Zitat aus dem Godesberger Programm. Wer aber die Würde der Menschen, wer ihre Bedürfnisse als Ausgangspunkt allen staatlichen und auch allen abgeleiteten supranationalen Handelns ernst nimmt, der kann eine Verengung auf die geltende ungerechte Wirtschaftsordnung nicht wollen. Jede Wirtschaftsordnung muss sich in ihren konkreten Auswirkungen auf die Würde der Menschen immer wieder von neuem an den genannten Grundprinzipien messen lassen. ({2}) Und sie muss erforderlichenfalls auch abgewählt werden dürfen. Das meint das Grundgesetz auch mit der Freiheit der Wähler, und zwar in seinen Vorschriften über die Eigentumsordnung in den Art. 14 und 15. Hier gibt es die Gewährleistung des Eigentums, aber auch seine verbindliche Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Es gibt die Möglichkeit der Enteignung der Deutschen Bank und anderer Konzerne im Interesse der Allgemeinheit und auch die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln durch ihre Überführung in Gemeineigentum. ({3}) Damit zielt das Grundgesetz zwar nicht auf eine andere Wirtschaftsordnung, aber es gibt den Wählerinnen und Wählern die Freiheit, den Kapitalismus abzuwählen. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1954 in seiner Entscheidung zum Investitionshilfegesetz ausdrücklich dargelegt und das ist bis heute gültig. ({4}) Wenn die FDP beispielsweise in einem Antrag fordert, ausgerechnet Art. 15 aus dem Grundgesetz zu streichen, so zeigt dies, dass sie den Wählern die Freiheit nehmen will, den Kapitalismus abzuwählen. Freiheit ist aber gerade hier auch die Freiheit der Andersdenkenden. ({5}) Auch dass die EU-Verfassung diese Freiheit einschränken will, sodass die Abwahl des Kapitalismus nicht mehr möglich sein soll, ist mit der Würde der Menschen und ihrer Unantastbarkeit ebenso wenig vereinbar wie mit den Prinzipien der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit. In diesem Sinne wiederhole ich

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- ich komme zum Schluss -: Wir wollen einen anderen EU-Verfassungsvertrag. Dabei wollen wir aber nicht das Grundgesetz auf dem Altar des neoliberalen Zeitgeistes opfern lassen. In dieser Hinsicht bleiben wir Verfassungspatrioten, auch wenn wir die Einzigen in diesem Hause wären. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt nachdrücklich, dass die EU-Außenminister in der Frage der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Einigung gefunden haben. Jetzt herrscht Klarheit, wie der Prozess weitergehen soll. Es ist auch zu begrüßen, dass Zypern nicht länger die Freigabe der Finanzmittel für den nördlichen Teil der Insel blockieren will. Auch das war überfällig und hat die Beziehungen zur Türkei zu lange unnötig belastet. ({0}) Ich will in aller Deutlichkeit feststellen: Wir haben ein nachdrückliches Interesse daran, dass die Türkei den begonnenen Reformprozess fortsetzt. Die Beitrittsverhandlungen sind dafür ein Katalysator. Niemand will also die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. ({1}) Wir müssen aber - ich denke, auch darin sind wir uns einig - weiter auf die Erfüllung der politischen Voraussetzungen wie die Religionsfreiheit oder die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 301 drängen, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt. Denn das sind Voraussetzungen - Kollege Ramsauer hat zu Recht darauf hingewiesen -, die nach den Kopenhagener Kriterien eigentlich vor Beginn der Beitrittsverhandlungen hätten erfüllt sein müssen. ({2}) Dazu gehört auch die Erfüllung des Ankaraprotokolls, zu der sich die Türkei schon im September letzten Jahres verpflichtet hat. Erfüllung heißt, dass die Häfen und Flughäfen in der Türkei - also nicht nur ein Hafen und ein Flughafen - auch für Schiffe und Flugzeuge Zyperns offen sein müssen. Dass die Türkei bisher nicht bereit ist, alle Mitglieder der EU gleichermaßen anzuerkennen und die vereinbarten Regeln einzuhalten, kann nicht ohne Konsequenzen sein. Deswegen ist die Vereinbarung, acht Verhandlungskapitel einzufrieren und bei keinem der übrigen Kapitel die Verhandlungen abzuschließen, bis das Ankaraabkommen erfüllt ist, eine Maßnahme, die Konsequenzen hat, die aber auch unserem Interesse an der Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei Rechnung trägt, und zwar besonnen und entschlossen, wie es die Bundeskanzlerin ausgeführt hat. ({3}) Wir halten es auch für erforderlich, dass die EU nicht nur zur Verhandlungsroutine übergeht und wir abwarten, wann die Türkei das Ankaraprotokoll erfüllt. Wir wollen vielmehr, dass diese Frage als politisches Thema auf der Agenda der Staats- und Regierungschefs steht, dass sie sich selbst darum kümmern und dies nicht den Beamten der Kommission überlassen. Deshalb begrüßen wir nachdrücklich, dass sich die Staats- und Regierungschefs dementsprechend in den Jahren 2007, 2008 und 2009 auf der Grundlage eines Berichts der Kommission mit dieser Frage befassen und den weiteren Prozess überprüfen werden. Das ist für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Erweiterungsprozesses unverzichtbar. Deshalb war es gut, dass die Initiative der Bundeskanzlerin vereinbart und der Kommissionsvorschlag nachgebessert wurde. Im Übrigen entspricht dieser Beschluss genau dem, was sich die Staats- und Regierungschefs zur Frage der Integrationsfähigkeit der EU auf dem morgigen EU-Gipfel vorgenommen haben. Denn beim künftigen Erweiterungsprozess soll es keinen Automatismus geben. Es sollen keine Beitrittsdaten mehr genannt werden und es soll auf die strikte Erfüllung der Kriterien und der eingegangenen Verpflichtungen geachtet werden. Nur wenn die Bürger der Europäischen Union das Gefühl bekommen, dass die Staats- und Regierungschefs auf die strikte Einhaltung der Beitrittskriterien achten und dass sie vor einer Erweiterung sorgfältig die Auswirkungen eines Beitritts auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit prüfen, werden wir die Akzeptanz für künftige Beitritte bekommen. Diese Akzeptanz brauchen wir; denn die EUPerspektive etwa für die Staaten des westlichen Balkans liegt in unserem Sicherheitsinteresse. ({4}) Wenn diese Staaten ihre inneren und zwischenstaatlichen Konflikte überwinden, sodass EU und NATO ihre Streitkräfte dort vollständig zurückziehen können, und wenn sie alle Beitrittskriterien, insbesondere bei der Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, strikt erfüllen, dann werden wir alle, die derzeitigen Mitglieder der Europäischen Union, einen erheblichen Sicherheitsgewinn haben. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Staats- und Regierungschefs bei ihrem morgigen Gipfel Grundsätze für die Integrationsfähigkeit der EU vereinbaren, damit die EU erweiterungsfähig bleibt. Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft wird die Vertiefung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland sein. Wir wollen die strategische Partnerschaft mit Russland weiter ausbauen. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass sich die enge Zusammenarbeit mit Russland nicht nur an gemeinsamen Interessen orientiert, sondern dass sie auch auf gemeinsamen Werten basiert, zu denen wir uns verpflichtet haben. Die Erneuerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland bietet dafür eine gute Gelegenheit. Es ist deshalb sehr zu bedauern, dass es bislang keine Einigung über das Verhandlungsmandat gibt. ({5}) Denn das Nachfolgeabkommen liegt im gemeinsamen Interesse, auch im Interesse Polens und auch im Interesse Russlands. ({6}) Polen hat unsere Solidarität und Unterstützung bei der Aufhebung des russischen Importverbots für polnisches Fleisch, weil wir dieses Verbot für nicht gerechtfertigt halten. Aber genauso wenig gerechtfertigt ist eine Verknüpfung dieser Frage mit dem Verhandlungsmandat für ein Nachfolgeabkommen mit Russland. Angesichts der Rückschläge bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland ist es wichtig, dass wir im Nachfolgeabkommen, vor allem aber auch in der praktischen Zusammenarbeit immer wieder auf die Respektierung der Werte drängen, zu denen sich Russland bei seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet hat. Ich sage ganz offen: Die innere Entwicklung Russlands bereitet uns große Sorgen. Die Ermordung von Frau Politkowskaja stellt einen Verlust für Russland dar. Ihr unparteiisches Engagement für Menschenrechte und Demokratie war für die Entwicklung der russischen Gesellschaft wichtig. ({7}) Dieser Mord und vor allem die zunehmenden Einschüchterungen der wenigen noch verbliebenen kritischen Journalisten sind beispielhaft für den Niedergang der Pressefreiheit in Russland. Wer immer für den Mord an Litwinenko oder für die zunehmend länger werdende Liste von politisch oder wirtschaftlich motivierten Morden in Russland verantwortlich ist: Es drängt sich die Frage nach der Autorität der russischen Regierung auf. Beunruhigend ist es vor allem für diejenigen, die sich in Russland selbst engagieren. Auch wenn man ein Urteil über die Anwendung des Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen erst nach dem Ende der Registrierungspflicht im April nächsten Jahres fällen kann, muss man anhand der bisherigen Praxis eines schon heute feststellen: Das NGO-Gesetz überfordert mit seinem bürokratischen Aufwand nicht nur die Behörden und führt damit zu willkürlichen Auslegungen, sondern es belastet vor allem auch kleine NGOs erheblich. Damit schadet sich Russland selbst; denn viele dieser kleinen NGOs leisten humanitäre Hilfe für die Menschen in Russland. Sie brauchen ihre Zeit, um den Menschen zu helfen, und nicht für das Ausfüllen nutzloser Berichte. ({8}) Haben also nicht diejenigen Recht, die das langfristige Ziel einer Wertepartnerschaft mit Russland aufgeben und das Verhältnis nur auf eine an gemeinsamen Interessen orientierte Zusammenarbeit reduzieren wollen? Wir sagen dazu ganz klar Nein. Das wäre ein strategischer Fehler. Wir beraubten uns unserer Einflussmöglichkeiten zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir ließen vor allem die Menschen, die sich mitunter unter Einsatz ihres Lebens in Russland engagieren, im Stich. ({9}) Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um Einfluss zu nehmen und mit Russland im Rahmen der „vier Räume“ in der G 8 - bald auch in der WTO - zusammenzuarbeiten. Das alles sind Möglichkeiten, um die Entwicklung in Russland zu beeinflussen, weil wir den Anspruch erheben, dass Russland in Einklang mit den Werten dieser Institutionen leben muss. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen nachdrücklich, dass der EU-Gipfel in Helsinki die Bitte an die deutsche Präsidentschaft richtet, eine Zentralasienstrategie zu erarbeiten. Die EU muss die Herausforderungen, die sich für die Sicherheit und Stabilität Europas aus dieser Region heraus ergeben, strategisch angehen. Das gilt allerdings genauso für die Schwarzmeerregion. Denn mit Beginn der deutschen Präsidentschaft am 1. Januar wird die Europäische Union durch den Beitritt Rumäniens und Bulgariens eine gemeinsame Außengrenze mit den Ländern der Schwarzmeerregion haben. Damit werden die Probleme dieser Region noch unmittelbarer auch zu unseren Problemen werden. Durch diese Region laufen nicht nur wesentliche Energierouten, sondern dort spielen auch organisierte Kriminalität sowie Menschen- und Drogenhandel eine große Rolle. Mit den Konfliktherden Transnistrien, Abchasien und Südossetien hat diese Region gleichzeitig ein erhebliches Krisenpotenzial. Die jüngsten Entwicklungen in Georgien haben das deutlich sichtbar gemacht. Deshalb liegt es im Interesse der EU, einen aktiveren Beitrag zur Stabilisierung der Schwarzmeerregion und zur Stärkung von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Prosperität zu leisten, ({11}) auch mit Blick auf die Energiezusammenarbeit und weitere alternative Energieversorgungsrouten. Nicht zuletzt können durch eine EU-Schwarzmeerpolitik Staaten, die keine bzw. auf absehbare Zeit keine EU-Perspektive haben, stärker in die EU-Politik einbezogen werden, ohne dass sich damit gleich die Frage einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellt. Gerade mit Blick auf die Beitrittswünsche von Ländern wie der Ukraine ist das Signal wichtig, dass sie als europäisches Land nicht zurückgewiesen werden, dass sie als europäisches Land enger in die verschiedenen Bereiche der EU-Politik eingebunden werden, als dies durch die bilaterale Nachbarschaftspolitik möglich ist. ({12}) Deshalb halten wir es für notwendig, in Ergänzung zur bilateralen Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenarbeit mit Russland eine EU-Schwarzmeerpolitik als regionale Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, vergleichbar der „Nördlichen Dimension“ oder dem Barcelona-Prozess. Schwerpunkte einer solchen Schwarzmeerpolitik sollten sein: die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität, die schrittweise Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Umweltschutz, Fragen der Energiezusammenarbeit und des Energietransports. Unverzichtbar ist auch die Vertiefung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit zur Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Wissenschaft. Allerdings werden wir uns dann auch an heiße Eisen heranwagen müssen. Denn eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der Schwarzmeerregion erfordert auch einen aktiveren europäischen Beitrag zur Schlichtung der so genannten Frozen Conflicts. Ich finde, hier kann die EU mehr leisten. Sie hat Vertrauen bei den Konfliktparteien. Selbstverständlich ist dabei eine enge Abstimmung mit den USA unverzichtbar. Auch in den Gesprächen mit Russland müssen die Frozen Conflicts stärker thematisiert werden. ({13}) Zu einer strategischen Partnerschaft gehört auch die Zusammenarbeit bei den Regionalkonflikten in der gemeinsamen Nachbarschaft. Es ist jedenfalls nicht akzeptabel, dass Russland hier eine Politik der kontrollierten Unsicherheit verfolgt und sich gemeinsamen Bemühungen für eine Konfliktregelung verweigert. Meine Damen und Herren, den Menschen in Deutschland wird während unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union und der G 8 immer wieder bewusst werden, dass wir unseren Platz in der Welt, unsere Werte nur in einem politisch integrierten Europa behaupten können. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Präsidentschaft in diesem Sinne ein guter Beitrag zu einer europäischen Identität wird. Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für das Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Jürgen Trittin das Wort.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mit einer Bemerkung zu Ihrem Vorschlag, Frau Bundeskanzlerin, anfangen. Wenn Sie sagen, wir müssten in Europa das Prinzip der Diskontinuität einführen, dann muss man sich auch über die Folgen klar werden. Manche würden sich freuen und sagen: Dann hätten wir letztens im Parlament nicht REACH verabschiedet. - Denken Sie an Ihr eigenes Präsidentschaftsprogramm, insbesondere an die vollständige Liberalisierung der Gas- und Strommärkte. Das ist ein Dossier, das mittlerweile ein Parlament und eine Kommission schon in der dritten Amtszeit beschäftigt. Zweite Bemerkung. Wenn davon geredet wird, dass Deutschland versuchen möchte, in Sachen Bürokratieabbau weiterzukommen, dann muss doch die Frage erlaubt sein, ob die Bundesrepublik Deutschland unter dieser Koalition und in dieser Verfassung nach der Föderalismusreform überhaupt in der Lage ist, anderen Bürokratieabbau beizubringen. ({0}) Was ist das eigentlich für ein Bild, das die Bundesregierung abgibt? Einerseits redet sie über Bürokratieabbau, andererseits aber wird man statt eines Nichtrauchergesetzes 15 oder 16 Nichtrauchergesetze haben, vielleicht auch nur zwölf, und man baut im Rahmen der Gesundheitsreform völlig neue bürokratische Strukturen auf, die unsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch gehörig quälen werden. ({1}) Dritte Bemerkung zu Ihrer Rede. Sie drücken sich vor der Festlegung Ihres Umweltministers und davor, zu sagen: Wir wollen dafür sorgen, dass sich Europa bis zum Jahre 2020 verpflichtet, 30 Prozent der Treibhausgase einzusparen. - Was hindert Sie eigentlich daran, diese Frage in vernünftiger Art und Weise mit der Minderung der Energieabhängigkeit zu verknüpfen? Dies hätte nämlich eines zur Folge: die Umsetzung dieses Ziels. Es hätte zur Folge, dass die Energieimporte - die Europäische Union importiert heute noch 74 Prozent der Energie - auf unter 50 Prozent sinken würden. Auch das ist übrigens nicht nur ein Argument für Klimaschützer, sondern auch und gerade ein ökonomisches Argument. Das würde dazu führen, die Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. ({2}) Letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, Sie wollten die Akzeptanz für Europa verbessern, dann werden Sie innerhalb Europas dieses Land europakompatibler machen müssen. Wenn Sie sagen, Europa sei eine Antwort auf Globalisierung, dann erwarten die Menschen zunächst eine Antwort, die ihnen mehr Sicherheit, mehr soziale Sicherheit verspricht. Da hat Deutschland nun einmal einen Nachholbedarf. ({3}) Wir sind eines der wenigen Länder, die es bis heute nicht fertig gebracht haben, Regelungen einzuführen, damit jemand, der Vollzeit arbeitet, nicht unter die Armutsgrenze sinkt. Wenn Sie Europa akzeptabler machen wollen, dann müssen Sie hier anfangen und dafür sorgen, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht trotz ihrer Arbeit arm bleiben. Deswegen brauchen wir so etwas wie einen gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn in Frankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in den Niederlanden und in vielen anderen Ländern haben. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schlusssatz. Wenn Sie Lust auf Europa machen wollen, ({0}) wenn Sie Begeisterung für Europa wecken wollen, dann dürfen Sie eines nicht zulassen, nämlich dass hier solche Reden wie die, die vorhin Herr Ramsauer vorgetragen hat, gehalten werden. Das macht nicht Lust auf Europa, sondern das macht Angst vor Europa. Das ist der Grund, wenn Sie bei Ihrem Ziel, bis 2009 in der Verfassungsvertragsfrage voranzukommen, keinen Schritt weiterkommen. Wenn Sie das nicht schaffen, dann können Sie sich bei Herrn Ramsauer und bei Herrn Stoiber für ihre Reden bedanken. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Lale Akgün. ({0})

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vorabend der deutschen Ratspräsidentschaft gibt es eine Fülle von Themen, über die wir hier sprechen könnten. Ich möchte mit einem unserer Lieblingsthemen anfangen, nämlich der Entscheidung der EU über den Beitritt der Türkei. Die EU hat mit dem Aussetzen von acht Kapiteln die notwendige Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass die Türkei ihrer Verpflichtung zur Unterzeichnung des Ankaraprotokolls und damit der Anerkennung Zyperns nicht nachgekommen ist. Aber sie hat das rechte Maß bewahrt. Ein Abbruch der Verhandlungen wäre übereilt gewesen und den ureigensten Interessen der EU zuwidergelaufen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Entscheidung ausdrücklich. ({0}) Es ist eine Entscheidung mit Augenmaß, die beiden Seiten gerecht wird, der Türkei und der EU. ({1}) Die Türkei weiß um ihre Hausaufgaben. Jetzt muss die EU ihrerseits gegebene Zusagen einhalten. Die Isolation Nordzyperns muss aufgehoben und die durch die EU versprochenen wirtschaftlichen Hilfen müssen endlich geleistet werden. ({2}) Ich freue mich, dass die EU sich bewegt, was die Zypernfrage angeht. Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, dass Estland und Schweden Überlegungen anstellen, in Nordzypern Büros einzurichten. Großbritannien erwägt Berichten zufolge, Direktflüge zum nordzypriotischen Flughafen Ercan aufzunehmen. Das sind wichtige Signale. Genauso aber muss sich in der Republik Zypern noch einiges tun. Auch hier sind erste Bewegungen bereits zu verzeichnen. Daher gibt es berechtigte Hoffnung, dass Zypern bereits beim ersten Außenministertreffen im Januar seine Blockade aufgeben wird und die EU Gelder für den türkischen Norden freigeben kann. Auch das Veto für den Direkthandel mit Zypern wird nicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Davon bin ich überzeugt. Aus all diesen Gründen ist es richtig, dass die EU durch das Einfrieren zwar Konsequenzen zieht, dass aber ansonsten business as usual gilt - keine Fristen, keine Sanktionen und keine Revisionsklausel für die Türkei. Eine Entscheidung mit Augenmaß, wie gesagt. Für dieses Verhandlungsergebnis möchten wir noch einmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken, der diese klare Linie in Brüssel durchsetzen konnte. ({3}) Damit haben wir eine unnötige Verschärfung der ohnehin sehr angespannten Lage vermieden. Meine Damen und Herren, entgegen vielen Annahmen wird diese Entscheidung auch in der Türkei akzeptiert. Darauf möchte ich hier noch einmal hinweisen. Es ist mitnichten so, dass in der Türkei nur Zeter und Mordio geschrien wird. Wichtig für die Türkei und für die Bevölkerung ist die Tatsache, dass in Brüssel die Verhandlungen weitergehen und nach innen die Reformen fortgesetzt werden können. Das Massenblatt „Sabah“ schreibt gestern: Es ist gut, dass der Zug zum EU-Beitritt eben nicht entgleist ist. Auch das Massenblatt „Hürriyet“ zählt ganz sachlich und differenziert positive und negative Aspekte des Einfrierens auf. Die türkische Börse reagierte wie ein Seismograf. Die Kurse sind seit vorgestern enorm gestiegen und die türkische Lira hat gegenüber Euro und Dollar an Wert gewonnen. Das zeigt einmal mehr, dass die Entscheidung der EU-Außenminister richtig war und auch in der Türkei akzeptiert wird. ({4}) Aber - das ist genauso wichtig - die Verhandlungen müssen jetzt mit größter Sorgfalt weitergeführt werden. Das Einfrieren darf nicht zum Synonym für ein schleichendes Ende der Verhandlungen werden, auch wenn sich das einige vielleicht wünschen sollten. Ein schleichendes Ende würde den Interessen der Europäischen Union zuwiderlaufen. Diejenigen, die am lautesten nach einem sofortigen Abbruch der Verhandlungen gerufen haben, waren wieder einmal die, die eben nicht die Interessen der EU im Sinn hatten, sondern ihr innenpolitisches Süppchen weiter am Köcheln halten wollten. ({5}) Herr Kollege Ramsauer, die EU führt mit der Türkei Beitrittsverhandlungen. An dem Wort „Beitrittsverhandlungen“ ist deutlich zu erkennen, dass diese Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts geführt werden. ({6}) Man sollte diesen Begriff doch einmal wörtlich nehmen. ({7}) Meine Redezeit reicht nicht aus, um Ihnen alle Gründe für einen Beitritt der Türkei noch einmal darzulegen. Deshalb sei nur so viel gesagt: Wenn die EU auch im 21. Jahrhundert ihre Rolle als Friedensmacht ausfüllen will, so muss sie sich den neuen Herausforderungen stellen: dem Islam, dem Terrorismus, aber auch den neuen Nationalismen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Perspektivisch brauchen wir eine EU mit 30 und mehr Mitgliedern, wozu auch die Staaten des westlichen Balkans gehören. Auch im Verhältnis zu den Staaten des Westbalkans muss die EU glaubhaft bleiben und ihre Versprechungen einhalten. Das gilt natürlich auch für alle anderen anstehenden Themen der deutschen Ratspräsidentschaft. Wenn man sich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft anschaut, dann muss man sagen, dass das nicht gerade wenige Themen sind. Es ist keine Frage, dass alles, was wir uns für die nächsten sechs Monate vorgenommen haben, dabei von großer Bedeutung ist. Energiepolitik, Wirtschaftswachstum, Klimaschutz, Verfassungsprozess, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik sind große Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Wichtig ist allerdings, dass wir am Ende dieser sechs Monate tatsächlich Erfolge aufweisen können und dass wir unsere Versprechen gegenüber den Beitrittskandidaten und Nachbarn, aber auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten eingehalten haben. Nur so können wir das größte Problem Europas, nämlich den Verlust an Akzeptanz, wettmachen. Für neuen Schwung, neue Legitimität und neue Begeisterung für die EU zu sorgen, ist die Hauptaufgabe für die deutsche Ratspräsidentschaft. Ich wünsche mir von der deutschen Ratspräsidentschaft echte Antworten auf die Sorgen der Menschen. Erweiterung, vertiefte politische Integration und das soziale Europa sind in diesem Zusammenhang die Stichworte. Leitmotiv der deutschen Ratspräsidentschaft sollte sein: Europa neu denken vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3808, 16/3680 und 16/3832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3796 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck- sache 16/3680 zu Tagesordnungspunkt 4 c, jedoch nicht an den Tourismusausschuss und den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Damit sind Sie ganz offensichtlich einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 h auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen - Drucksache 16/3793 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung ({1}) - Drucksache 16/3794 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Beschäftigungspolitik für Ältere - für ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamtkonzept - Drucksache 16/3027 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Rentenversicherungsbericht im Interesse der Versicherten realistischer gestalten - Drucksache 16/3676 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider ({5}), Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RVAltersgrenzenanpassungsgesetz ({6}) verlängern - Drucksache 16/3815 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Neue Kultur der Altersarbeit - Anpassung der gesetzlichen Rentenversicherung an längere Rentenlaufzeiten - Drucksache 16/3812 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren ({9}) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2006 - Drucksache 16/3700 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Lagebericht der Bundesregierung über die Alterssicherung der Landwirte 2005 - Drucksache 16/907 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von anderthalb Stunden verabredet. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Bundesminister Franz Müntefering. ({12})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Haus fraktionsübergreifend einig, dass wir ein gemeinsames Ziel haben: Wir wollen in diesem Land ein Wohlstandsniveau haben. Daran sollen alle Generationen einen gerechten Anteil haben. Das soll für heute, für morgen und für übermorgen gelten. Dieses allgemeine Ziel heißt mit Blick auf das heutige Thema buchstabiert: Wir wollen eine gute materielle Absicherung der älteren Generation und wir wollen die Möglichkeit altersgerechter Arbeit für diejenigen, die 50, 55, 60 Jahre und älter sind. Wir haben in der Koalition ein Konzept entwickelt, von dem ich sage: Es ist plausibel. Es ist anstrengend. Aber es hat viele gute Argumente für sich. Wir beraten heute die Initiative „50 plus“ und das Gesetz zur schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Wir diskutieren aktuell über die Möglichkeiten zusätzlicher Altersvorsorge im Betrieb oder mittels der Riesterrente. Diese drei Punkte gehören ganz eng zusammen. Wir sind mitten im Prozess dieser Entwicklung. Das faktische Renteneintrittsalter steigt seit Jahren. Vor wenigen Jahren waren es etwa 40 Prozent, die mit 60 Jahren in Rente gingen. Denn wir hatten ja ein Fenster von 60 bis 65 Jahren. Heute sind es noch etwa 25 Prozent. Wir stehen nicht am Anfang der ganzen Debatte. Das faktische Renteneintrittsalter steigt und das ist auch gut so. Die Menschen sind bereit, länger zu arbeiten und in ihren Berufen zu bleiben. Es tut sich auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge. ({0}) Es gibt etwa 90 000 bis 100 000 arbeitslose Ältere über 50 weniger als vor einem Jahr. Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird besser, auch bei den Älteren. Die Vermittlungszahlen im vergangenen Jahr sind gut gewesen: sechsstellig. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat gerade in der letzten Woche beschlossen, dass in zehn seiner Kammerbezirke die Aktion „50 plus“ unterstützt wird. Ich habe in der letzten Woche in Fulda 62 Firmen aus 62 Regionen in Deutschland ausgezeichnet, die ganz besonders aktiv daran arbeiten, dass die ältere Generation wieder in den Betrieben eine Chance hat. Diese Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2000 waren etwa 38 Prozent der über 55-Jährigen berufstätig. Heute sind es 45 Prozent. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, bis zum Ende der Legislaturperiode mindestens 50 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung zu haben. ({1}) Es ist eine Bewegung da, die in eine vernünftige Richtung geht. Das hat natürlich seine Gründe darin, dass wir das faktische Renteneintrittsalter, also die Chance, aus der Arbeitslosigkeit in Rente zu gehen, von 60 auf 63 Jahre anheben; wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Darüber wird wenig gesprochen; aber es ist so. Auch die Zahldauer des Arbeitslosengeldes haben wir von maximal 32 Monate auf maximal 18 gekürzt. Beides sind Maßnahmen, die mit der Politik der Beschäftigung älterer Menschen eng zu tun haben. An einer Stelle diskutieren wir gerade wieder mit allem Nachdruck darüber. Ich sage: Das, was wir machen, ist vernünftig. Wir geben den Menschen, die 50, 55 oder 60 Jahre alt sind, eine Chance, am Erwerbsleben teilzunehmen. Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Initiative „50 plus“ will ich zwei zusätzliche Initiativen ansprechen. Eine erste Initiative in diesem Gesetzentwurf ist - sie ist ganz wichtig und stellt eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Regelung dar -: Menschen, die 45 und älter sind und in Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten arbeiten, haben die Chance, sich auf Staatskosten mittels Bildungsgutscheinen qualifizieren zu lassen. ({2}) Wir müssen bei der Weiterbildung dringend besser werden. ({3}) Der VDI bzw. die großen Verbände melden uns, dass zurzeit in Deutschland 22 000 Ingenieure fehlen. Ich weiß von der BA und anderen Stellen: In Deutschland gibt es 30 000 bis 40 000 arbeitslose Ingenieure. Es muss doch in dieser Gesellschaft möglich sein, dass wir nicht aus dem Ausland, also irgendwoher aus der Welt, 20-, 25- und 30-jährige Ingenieure holen, sondern dass unsere Ingenieure, die 45 und 50 Jahre alt und arbeitslos sind, in ihren Berufen bleiben können. Dies muss doch besser zu organisieren sein, als es bisher der Fall ist. ({4}) Das gilt für andere Berufe in gleicher Weise. Eine zweite Initiative ist der Kombilohn. Denjenigen, die 50 und älter sind und die arbeitslos werden, sagen wir: Wenn du eine Chance hast, wieder in Arbeit zu kommen, dann mache es schnell. Nimm sie schnell an, auch wenn du weniger Lohn hast als bisher. Wir geben im ersten Jahr die Hälfte der Differenz, die zwischen dem alten Nettoeinkommen und dem neuen besteht, dazu und im zweiten Jahr 30 Prozent. Denn wir wissen genau: Ältere, die schnell wieder vermittelt werden, kommen auch gut wieder in den Beruf hinein. Sie dürfen erst gar nicht in das Arbeitslosengeld II fallen. Auch das gehört zu dem angesprochenen Gesetzentwurf. Der Gesetzentwurf zur Rentenversicherung verändert den Eintrittskorridor von bisher 60 bis 65 Jahre auf 63 bis letztlich 67 Jahre im Jahre 2029. Es wird aber wie bisher sein: Die meisten Menschen werden vor dem Höchsteintrittsalter in Rente gehen. Das tun heute die allermeisten; sie gehen weit vor 65 in Rente. Das wird auch in Zukunft so sein, wenn wir ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren erreicht haben. Die Frage ist dann: Wie viel Geld bekommen sie, wenn sie mit 63, 64 oder 65 Jahren in Rente gehen? Mit 63 Jahren können sie in Rente gehen, wenn sie 35 Zahljahre erreicht haben, und mit 65 und damit ohne Abschläge, wenn sie 45 Zahljahre erreicht haben. Ich will darauf hinweisen, dass die Frage der Alterssicherung entscheidend davon abhängt, wie die Wohlstandsentwicklung in Deutschland sein wird. Man darf die Debatte nicht nur an den Jahreszahlen festmachen. Ich will einige Minuten darauf verwenden, das noch einmal deutlich zu machen. Das Rentenwohlstandsniveau beträgt zurzeit 52 Prozent. Es wird nach der Rentenplanung - nicht nach dieser, sondern nach der, die schon längst beschlossen ist - im Jahre 2020 bei mindestens 26 Prozent liegen. ({5}) - 46, Pardon. - Es wird im Jahre 2030 mindestens 43 Prozent betragen. ({6}) - Ja, das ist richtig, Herr Gysi. Das ist aber nicht neu. Sie tun immer so, als ob das neu wäre. Wir sind längst in der Phase, dass die Gesellschaft begriffen hat, dass man das angesichts veränderter Strukturen in dieser Gesellschaft nicht mehr wird fortführen können. ({7}) Denn 1960 wurden die Renten durchschnittlich zehn Jahre lang gezahlt; jetzt werden sie 17 Jahre lang gezahlt. Im Jahre 2030 würde die Rente 20 Jahre lang gezahlt werden. ({8}) Man kann es auch anders ausdrücken: Das Verhältnis zwischen denen, die im Erwerbsleben sind, und denen, die 64 oder älter sind, beträgt heute 100 : 30. In 30 Jahren wird das Verhältnis 100 : 50 betragen, 2 : 1. Auf einen Rentner werden somit zwei Beschäftigte kommen. Die zwei Beschäftigten müssen das verdienen, was der eine Rentner bekommt. Wir Politiker müssen doch den Menschen sagen, welche Entwicklung zu erwarten ist. Gute Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist. Wer die Menschen an dieser Stelle belügt, tut ihnen überhaupt keinen Gefallen. ({9}) Walter Riester, den ich hier sehe, hat vor einigen Jahren eine wichtige Reform begonnen und hat dieses Thema als Erster gesetzt. Er hat gezeigt, wohin der Weg gehen kann. Jetzt aber wieder zurück zu der Frage: Wie hoch ist die Rente dann eigentlich? Die 46 Prozent, die sich im Jahre 2020 ergeben, sind ja kein absoluter Wert, in Geld ausgedrückt. Die Frage, die sich anschließt, ist: Wie viel ist dann 100 Prozent? Das hängt davon ab, wie sich die Löhne in diesem Land entwickeln. Wenn wir eine Lohnentwicklung wie in den vergangenen zehn Jahren haben, wird das natürlich Konsequenzen für die Höhe der Renten haben. Das gilt, ob man nun 46 Prozent oder 43 Prozent hineinschreibt. 43 Prozent von viel ist eben mehr als 46 Prozent von wenig. Das ist ganz einfach. Um das nachzuvollziehen, muss man kein Mathematiker sein. ({10}) Deshalb ist es so wichtig, dass wir dafür sorgen, dass der Wohlstand erhalten bleibt. Entscheidend für die Alterssicherung ist letztlich nicht, ob man von 60 bis 65 oder von 63 bis 67 in Rente gehen kann; vielmehr ist entscheidend, wie hoch die 100 Prozent Wohlstand sind. Wenn die Normalverdiener in Deutschland im Jahre 2030 bzw. 2020 ein gutes Einkommen haben, werden auch die Rentnerinnen und Rentner ein ordentliches Einkommen haben, ansonsten eben nicht. Deshalb besteht die beste Alterssicherung darin, dass wir uns bewusst sind: Wir müssen in die Köpfe und in die Herzen der jungen Menschen investieren. ({11}) Was wir in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung investieren, bestimmt letztlich die Höhe der Rente. Das Festhalten an bestimmten Jahreszahlen führt in die Irre. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Die Alterssicherung hängt von der Wohlstandsentwicklung insgesamt ab. Die von mir genannten Prozentsätze müssen vernünftige Geldbeträge ergeben. Das wird nur geschehen, wenn wir eine Politik machen, wie wir sie uns vorgenommen haben. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, im Jahre 2010 etwa 6 Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung auszugeben, nämlich 3 Prozent des BIP. Wenn wir diese 6 Milliarden Euro in die Rentenkasse gäben, könnten wir uns viele Freunde machen und das wäre auch nicht so übel; man hat ja immer gerne Freunde. Ich sage aber: Wenn wir das machen, wird die nachfolgende Generation dafür büßen müssen. Denn die 46 bzw. 43 Prozent - heute sind es 52 Prozent - ergeben nur noch etwa drei Viertel des Wohlstandsbedarfs. Neben allem, was ich angesprochen habe, braucht man eine vernünftige zusätzliche Alterssicherung - ob sie nun Riesterrente oder betriebliche Altersvorsorge heißt. Daran müssen wir arbeiten. Bei den Debatten um den Investivlohn müssen wir im Blick behalten: Wir brauchen vor allen Dingen die Bereitschaft der Betriebe, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass die Menschen rechtzeitig für ihr Alter sparen können. Wenn wir miteinander das alles machen, dann - da bin ich sicher - haben wir als Koalition der Sicherung des Alters in der Zukunft eine gute Perspektive gegeben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte verbindet mit den Entwürfen von Gesetzen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen und zur Anpassung der Regelaltersgrenze zwei, wie ich finde, wichtige soziale Kernfragen unserer Gesellschaft; denn, Herr Minister Müntefering, die Anhebung, die Sie vorhaben, macht doch nur Sinn, wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegenheit haben, länger zu arbeiten. Zu Beginn meiner Ausführungen will ich gleich sagen: Die Antworten, die die große Koalition auf diese Fragen gibt, sind alles andere als der Situation angemessen. Um es in Schulnoten auszudrücken: Sie sind ungenügend. ({0}) - Ja, genau. Herr Minister, die Anhebung des Regelrentenzugangsalters auf 67 Jahre, auf die sich die Koalition auf Ihr Betreiben hin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verständigt hat, ist ein unerwarteter Tabubruch, für den vor allem die SPD vonseiten der Gewerkschaften erheblichen Gegenwind erfährt. Ich hatte in der vergangenen Woche auf einer DGB-Podiumsdiskussion in Hanau zuletzt Gelegenheit, das zu beobachten. Die Menschen ahnen - Herr Minister, ich sage: zu Recht -, dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder begleitender Arbeitsmarktreformen für die allermeisten Versicherten auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird. Ich fand es bemerkenswert, wie der SPD-Kollege in Hanau von den anwesenden Betriebsräten attackiert und regelrecht demontiert wurde. ({1}) Die Bereitschaft zum Tabubruch als solches ist der eigentliche Grund, warum die Rente mit 67 in der Bilanz der bisherigen Regierungsarbeit eher auf der Habenseite angerechnet wird. Eine echte Entlastungswirkung für die Rentenkasse kann sie eigentlich nicht entfalten; denn die Entlastung um 0,5 Beitragspunkte - und das erst ab 2030 - ist sehr gering. Herr Müntefering, meines Erachtens wird das nicht ausreichen, um den Rentenversicherungssatz bis 2020 unter den im RentenversicherungsNachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen und versprochenen 20 Prozent zu halten. Dass die Entlastungswirkung so gering ist, hängt mit den zahlreichen Ausnahmen zusammen, die Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, namentlich die abschlagsfreie Rente für langjährige und besonders langjährige Versicherte. Kerstin Schwenn hat es in der „FAZ“ vom gestrigen Tage mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffend kommentiert: Der politische Versuch, das Unpopuläre populistisch zu verpacken und die Rentenreform damit sozialverträglich zu machen, wird einen erheblichen Teil des Geldes verschlingen, das die Rentenkassen einsparen sollen. So gesehen, erscheint die rentenpolitische Großtat doch wieder recht klein. Recht hat sie. ({2}) Die allermeisten Sachverständigen, Tarifpartner und Parteien - außer der Koalition natürlich - sind sich in ihrer Ablehnung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren einig, weil sie systemwidrig und ungerecht ist und schwächere Personengruppen benachteiligt; meine Kollegin Laurischk wird als zweite Rednerin meiner Fraktion darauf näher eingehen. Die Anhebung auf 67 ist für die Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge besonders ungerecht. Der Sachverständigenrat hat in seinem aktuellen Gutachten darauf hingewiesen, dass die Jahrgänge 1959 bis 1974 durch die Art und Weise der Anhebung des Rentenzugangsalters besonders belastet werden. Anstatt ein starres Renteneintrittsalter durch ein höheres zu ersetzen, müssen wir, so denke ich, dafür sorgen, dass der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand von den Menschen flexibler als bisher gestaltet werden kann. ({3}) Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass gerade einmal 45 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäftigung sind. Viele Menschen in der Altersgruppe ab 60 Jahren wollen aber nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen über den Umfang, in dem sie voll oder teilweise mit entsprechender Teilrente tätig sind, selbst bestimmen können. Sie wünschen sich eine flexible Gestaltung des Renteneintritts und die Sicherstellung eines ausreichenden Auskommens durch eine Kombination aus gesetzlicher Rente, privater und betrieblicher Altersvorsorge. Sie wünschen sich - das ist ganz wichtig -, dass ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel durch Vorteile bei den Sozialversicherungsbeiträgen, endlich wieder verbessert werden. Warum nicht? Der eigentliche Skandal ist doch, dass ältere Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft aus dem Arbeitsleben regelrecht herausgedrängt werden. Ein 60Jähriger muss sich heute fast rechtfertigen, wenn er morgens noch zur Arbeit geht. Damit muss Schluss sein. ({4}) Für uns ist wichtig, dass die individuelle Gestaltung des Übergangs in den Ruhestand nicht länger zulasten der Versichertengemeinschaft gehen darf. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns dezidiert von der großen Koalition. Sie hat in der letzten Woche ein teueres Schlupfloch für die Altersteilzeit offen gehalten, obwohl wir heute besser denn je wissen, dass der Weg über die Altersteilzeit falsch war. Es ist besser, ihn heute als morgen zu schließen. ({5}) Ich darf Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in wenigen Wochen ein entsprechendes neues Rentenmodell präsentieren wird, in dem die von mir genannten Kritikpunkte und Vorschläge berücksichtigt werden. Zur Arbeitsmarktsituation Älterer und Ihrer Initiative „50 plus“, Herr Minister, muss ich sagen: Sie ist nicht ausreichend und nicht geeignet, eine wirkliche Verbesserung der derzeitigen Situation herbeizuführen. Das belegt schon die Wirkungsprognose, die Ihr Haus für dieses Gesetz selbst gegeben hat. Auf der Homepage des BMAS heißt es, es sollen 65 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie, Herr Müntefering, waren im November ehrgeiziger und haben in diesem Haus von 100 000 Arbeitsplätzen gesprochen. Anscheinend sind Sie ein bisschen vorsichtiger geworden. Es ist auf jeden Fall zu wenig, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen heute - ich sagte es bereits - gerade einmal bei 45 Prozent liegt. Das sind 2,8 Millionen Menschen in dieser Altersklasse, die noch arbeiten. Das bedeutet auch, dass 65 000 Beschäftigungsverhältnisse mehr eine Steigerung von 45 auf 46 Prozent sind. Damit liegen wir deutlich hinter Schweden mit 69 Prozent oder Dänemark mit 60 Prozent. Ich finde, Herr Minister, Sie sollten hier durchaus ein bisschen mehr Ehrgeiz an den Tag legen und nicht einfach nur alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen. Genau darauf läuft Ihre Initiative „50 plus“ am Ende hinaus. ({6}) - Ja, vielleicht ist es sogar alter Wein in alten Schläuchen. Auch das kann ich nicht ausschließen. Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel in der Herangehensweise an das Problem der mangelnden Beschäftigung älterer Menschen. Es geht darum, dass wir Fehlanreize beseitigen, die zu einem Beschäftigungsabbau - er ist heute fast systematisch - bei Älteren führen. Es hilft nicht, Programme, die bisher schon wirkungslos waren, einfach zu verlängern. Ich glaube nicht, dass das, was bisher wirkungslos war, plötzlich Wirkung zeigen wird. Sie sagen ja, Herr Minister Müntefering, das liege daran, dass die Instrumente zu wenig bekannt waren. Ja, wer hat denn die Verantwortung dafür, dass die Menschen diese Programme bisher nicht kennen? Kann das wirklich der Grund sein? Ich glaube eher, dass die Programme nicht nur unbekannt, sondern auch einfach unsinnig sind. Der Kombilohn, den Sie jetzt vorschlagen, wird absehbar keine Wirkung zeigen, solange es lukrativere Ausstiegsmodelle wie etwa die Altersteilzeit gibt, die Sie gerade verlängert haben. Eingliederungszuschüsse mögen für die Unternehmen interessant sein, insbesondere wenn es keine Nachbeschäftigungspflicht gibt. Aber es gibt hier hohe Mitnahmeeffekte. Bei dem geringen vorgesehenen finanziellen Volumen ist es absehbar, dass die Wirkung niedrig sein wird. Ich frage Sie: Wenn die erweiterten Möglichkeiten der Befristung von Arbeitsverträgen für Personen ab 52 Jahren ein richtiger Schritt sind, warum wird dieses Instrument dann nicht für alle Menschen angeboten, die aus der Arbeitslosigkeit heraus wollen? Zusammenfassend noch einmal: Die genannten Maßnahmen werden verpuffen, wenn sich das Denken nicht ändert und wenn Fehlanreize nicht beseitigt werden. Wenn, wie schon angesprochen, die Koalition reizvolle Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Arbeitsleben weiter anbietet und mit großzügigen Vertrauensschutzregeln ausstattet, wird sich das neue Denken nicht durchsetzen können. Das ist falsch. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. ({0}) Ich verweise noch einmal auf den vorliegenden Antrag der FDP zum Rentenversicherungsbericht. Hier geht es darum, dass wir den Menschen künftig wirklich die Wahrheit sagen. Denn, Herr Minister, Sie haben gesagt: Gute Politik beginnt damit, dass man den Menschen die Wahrheit sagt. ({1}) Sie tun das nicht. Sie bringen mit der Rente mit 67 eine verkappte Rentenkürzung auf den Weg. Sie prognostizieren in Ihrem Rentenversicherungsbericht zu gute Rentenwerte, weil Sie im mittleren Szenario mit durchschnittlich zweieinhalb Prozent Lohnsteigerung rechnen, was mehr als optimistisch ist; vielleicht ist es realistiDr. Heinrich L. Kolb scher als in der Vergangenheit, aber immer noch mehr als optimistisch.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deswegen werden Sie den Anforderungen an eine gute Politik leider nicht gerecht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Brauksiepe. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die große Koalition hält Kurs in der Rentenpolitik und bringt heute die notwendigen Antworten ein, um die Alterssicherung langfristig und weit über die laufende Legislaturperiode hinaus zu stabilisieren. ({0}) Blicken wir auf die Entwicklungen in der Vergangenheit zurück. Die bestehende Altersgrenze von 65 gibt es seit mittlerweile 90 Jahren: seit 1913 für die Angestellten und seit 1916 für die Arbeiter. Diese Grenze wurde also in einer Zeit festgelegt, in der die Lebenserwartung weit darunter lag. Arbeiten praktisch bis in den Tod - das ist heute unvorstellbar - ist bei der Einführung dieser Regelaltersgrenze noch der übliche Fall gewesen. Es hat im Laufe der Jahrzehnte erheblichen sozialen Fortschritt gegeben. So lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in den 60er-Jahren bei zehn Jahren, heute beträgt sie 17 Jahre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir vorlegen, bedeutet nach all den Zahlen, die wir kennen, dass wir sagen: Die Rentenversicherung kann es verkraften, dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bis zum Jahr 2030 von heute 17 Jahren auf 18 Jahre steigt. Das ist der Inhalt, um den es erfreulicherweise geht. Wir wissen schon heute, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen im Jahr 2029 knapp drei Jahre höher ist als heute. Die Lebenserwartung der Rentner steigt also um knapp drei Jahre. Die Lebensarbeitszeit erhöhen wir um zwei Jahre. Das heißt, die durchschnittliche Rentenlaufzeit wird um rund ein Jahr steigen. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen. Das kann die gesetzliche Rentenversicherung dank der Produktivität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft verkraften. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer auf 20 Jahre zu erhöhen, das wäre allerdings unverantwortlich. Deswegen beschließen wir heute die vorliegenden Maßnahmen zur Rente mit 67. ({1}) Von verschiedenen Seiten wird kritisiert, das sei ein Rentenkürzungsprogramm. ({2}) - Lieber Kollege Kolb, das, was Sie gesagt haben, war wirklich weit unter Ihrem Niveau. Wir haben seit letztem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger. Diese Entwicklung lässt sich schon rein mathematisch nicht bis zum Jahr 2029 fortschreiben. Denn dann müssten wir ein paar Millionen Arbeitslose minus haben. ({3}) Ich wiederhole: in einem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger. Herr Kollege Kolb, Ihre Partei hat in der Geschichte dieses Landes 42 Jahre lang in unterschiedlichen Konstellationen regiert, ({4}) entweder mit uns oder mit den Sozialdemokraten. Ich fordere Sie auf - dabei lasse ich Ihnen die freie Auswahl -: Suchen Sie das beste dieser 42 Jahre heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit reduziert wurde. ({5}) Wenn Sie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit um 536 000 Personen als ungenügend bezeichnen, ({6}) muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der Realität überhaupt keine Ahnung mehr, Herr Kollege Kolb. ({7}) - Herr Kollege Kolb, es kommen noch ganz andere Sachen. Bleiben Sie erst einmal sitzen. ({8}) Suchen Sie lieber in Ruhe das beste Jahr Ihrer Regierungszeit heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang Sie in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit gesenkt haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie wollen die Zwischenfrage also nicht zulassen?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung der Altersgrenze auf 67 Jahre tritt nicht heute in Kraft und auch nicht morgen oder übermorgen, wie von Kritikern immer wieder suggeriert wird. In den nächsten fünf Jahren ändert sich beim Renteneintrittsalter überhaupt nichts. ({0}) Erst ab dem Jahr 2012 beginnen wir sehr behutsam damit, das Renteneintrittsalter um einen Monat pro Jahr zu erhöhen. Das heißt, im Jahre 2023, also in 17 Jahren, haben wir ein um ein Jahr höheres Renteneintrittsalter als heute. Dann wird es bei 66 Jahren liegen. Danach geht es in größeren Schritten weiter. Das ist ein behutsamer und kalkulierbarer Weg. Richtig ist, dass uns die heutige Situation auf dem Arbeitsmarkt für die Menschen über 50 Jahre noch nicht zufrieden stellen kann. Aber auch hier sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn man sich die Quote der Beschäftigung der 55- bis 64-Jährigen, wie sie im EU-Vergleich gemessen wird, vor Augen führt, stellt man fest: Noch vor drei Jahren lag sie in Deutschland bei unter 40 Prozent. Heute liegt diese Quote bei uns bei 45,4 Prozent, in der alten EU 15 bei 44,1 Prozent und in der EU 25 bei 42,5 Prozent. Das heißt, was die Beschäftigung Älterer angeht, sind wir schon jetzt klar über dem EU-Durchschnitt. Dieser Trend ist positiv. Wir haben uns vorgenommen, im Jahr 2010 - bis dahin wird sich beim Renteneintrittsalter nichts geändert haben - 50 Prozent zu erreichen. Auf diesem Weg sind wir. Im November dieses Jahres waren 97 000 weniger über 50-Jährige arbeitslos gemeldet als vor einem Jahr. Wir sind also auf einem positiven Weg, was die Beschäftigung Älterer angeht. Wir werden diesen Weg gemeinsam weitergehen. Schon im Jahr 2012 wird die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt völlig anders verlaufen. Jeder, der mit diesem Thema seriös umgeht, weiß, dass der Arbeitsmarkt des Jahres 2029 völlig anders aussehen wird als der heutige. Deswegen sind diese Maßnahmen sachgerecht. ({1}) Wir haben in vielen wichtigen Detailfragen deutlich gemacht, dass wir eine Reform durchführen müssen, die finanzielle Solidität und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Beides ist notwendig. Von diesem Prinzip haben wir uns leiten lassen, als es um die Frage ging: Wie gehen wir mit dem runden Dutzend verschiedener Rentenarten um, die es von der Rente für Schwerbehinderte über die Rente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute bis hin zur Witwen- und Witwerrente gibt? Wir haben uns dabei von dem Grundsatz leiten lassen, jeweils parallel zur Regelaltersrente bis zum Jahr 2029 einen Anstieg um zwei Jahre vorzunehmen. Wir haben in drei Bereichen Ausnahmen gemacht. Der Erste betrifft die Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, also besonders langjährig Versicherte. Wir stellen sicher, dass diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzuweisen haben, weiterhin mit 65 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen können. Da mag mancher sagen, das sei unsystematisch. Wahr ist, das ist etwas Neues. Wir sagen damit klipp und klar: Beitragsleistung ist notwendig, die Sozialversicherung lebt von den Beiträgen. Eine langjährige Beitragszahlung bedeutet auch etwas im Hinblick auf die Lebensleistung. Das muss in den sozialen Sicherungssystemen honoriert werden. Das hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun und deswegen machen wir das so. ({2}) Weil wir diejenigen, die Familienarbeit leisten, nicht schlechter stellen wollen, weil wir Beitragsleistung und Familienleistung gleichstellen wollen, haben wir gesagt: Diejenigen, die Kinder erziehen, bekommen diese Zeit angerechnet; diejenigen, die Angehörige pflegen, bekommen das angerechnet. ({3}) Für die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kindes wird angenommen, der Durchschnittsbeitrag sei eingezahlt worden. Durch die Einbeziehung der Kinderberücksichtigungszeiten werden im Grunde zehn Jahre pro Kind angerechnet, wenn festgestellt wird, wie lange jemand versichert war. Dies ist nach meiner festen Überzeugung eine notwendige Ausnahme. Ich bin dankbar, dass unser Koalitionspartner diesem Wunsch, den wir in die Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, gefolgt ist, dass wir das gemeinsam verabreden konnten. Das war ein langjähriges Ziel der Union und ich darf sagen, es war auch ein langjähriges Ziel der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, eine solche Ausnahme für besonders langjährig Versicherte zu schaffen. Ich bin froh, dass wir dies vereinbart haben. ({4}) Wir haben eine weitere Ausnahme verabredet für langjährig Versicherte, die vor dem 67. Lebensjahr in Rente gehen wollen. Das ist bisher schon möglich - mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen -, allerdings in einem kürzeren Korridor. Wir werden dafür sorgen, dass es weiterhin möglich ist, mit 63 Jahren in Rente zu gehen; bei der Rente mit 67 dann mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen für vier Jahre. Damit kommen wir auch einem Wunsch der Tarifpartner nach mehr Flexibilität nach. Diese Regelung ist für die Rentenversicherung langfristig kostenneutral. Uns ist darüber hinaus klar: Es wird bei allem Fortschritt bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisse immer Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten können. Deswegen brauchen wir auf Dauer das Instrument der Erwerbsminderungsrente; auch dazu bekennen wir uns ausdrücklich. Heute geht jemand, der nicht mehr voll arbeiten kann, mit ungefähr 50 Jahren in die Erwerbsminderungsrente. All diejenigen, die in einem solchen Alter in Erwerbsminderungsrente gehen, bleiben so gestellt, wie sie sind: Sie werden so behandelt, als hätten sie bis 60 gearbeitet, das heißt, die so genannten Zurechnungszeiten bleiben unverändert, für diese Menschen ändert sich nichts. Auch für all diejenigen, die langjährig versichert sind, wird es möglich sein, wenn sie später in Erwerbsminderungsrente gehen, die volle Erwerbsminderungsrente zu beanspruchen. Das heißt, für langjährig Versicherte wird es im Alter von 63 Jahren weiterhin die volle Erwerbsminderungsrente geben. Wir bekennen uns dazu. Auch wenn der Grundsatz der Heraufsetzung um zwei Jahre auch bei dieser Rentenart gilt, haben wir weit reichende Ausnahmen geschaffen, um der Lebens- und Beschäftigungssituation derer gerecht zu werden, die nicht so lange arbeiten können. Die Starken für die Schwachen, das ist das Prinzip der solidarischen Rentenversicherung. Die, die nicht mehr können, werden aufgefangen von der Solidargemeinschaft derer, die länger arbeiten können. Das ist das bewährte Prinzip der Rentenversicherung. Das erhalten wir aufrecht. ({5}) Diese Rentenreform auf den Weg zu bringen, war in der Tat nur gegen massive Widerstände möglich; das ist wahr. Der Begriff der Jahrhundertreform ist politisch viel zu häufig strapaziert worden. Deswegen will ich davon bewusst nicht sprechen. Aber sicherlich schreiben wir ein Stück Sozialgeschichte, wenn wir heute die Weichen für einen Übergangszeitraum von 23 Jahren stellen, um dann die Grundlage für eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 18 Jahren zu haben. Das war - das ist schon angesprochen worden - nur gegen massive Widerstände möglich. Wichtige und mächtige Menschen haben sich dagegen ausgesprochen. Ich nenne als Beispiele den DGB-Chef Michael Sommer, den FDP-Chef Guido Westerwelle, den IG-Metall-Chef Jürgen Peters und den FDP-Generalsekretär Dirk Niebel. Sie alle haben sich gegen die Rente mit 67 ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund gilt mein besonderer Dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Vizekanzler und zuständigen Minister Franz Müntefering sowie den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, dass wir diesem Druck nicht nachgegeben haben, sondern diesen notwendigen Beschluss gemeinsam gegen Widerstände auf den Weg gebracht haben. Wir werden das auch weiterhin gegen Widerstände tun. ({6}) Widerstand kam leider auch von der FDP. Das wissen Sie, Herr Kolb, am besten. Sie haben auf Ihrem letzten Bundesparteitag den Antrag eingebracht, das reguläre Renteneintrittsalter solle auf 67 Jahre heraufgesetzt werden. Das haben Sie damit begründet, dass die FDP den Mut haben und sich zu notwendigen Reformschritten bekennen solle. Dafür haben Sie leider keine Mehrheit bekommen, keine Mehrheit für Mut, keine Mehrheit für notwendige Reformschritte in der FDP. Das ist schade, auch für Sie, Herr Kolb. Aber Sie können beruhigt sein: Wir als große Koalition ergreifen auch gegen Widerstände unpopuläre Maßnahmen. ({7}) Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze zum Thema „50 plus“ sagen. Trotz der positiven Entwicklung, die wir haben, sind wir als Gesetzgeber aufgefordert, das, was wir tun können, auch in Zukunft zu tun, um diesen Prozess zu flankieren. Das Programm „50 plus“ bedeutet mehr als der Gesetzentwurf, den wir vorlegen. „50 plus“ ist etwas, was in den Köpfen der Menschen stattfinden muss. Es muss allen klar sein, dass ein über 50-Jähriger nicht zum alten Eisen gehört, sondern noch rund eineinhalb Jahrzehnte zu arbeiten hat. Deswegen gibt es schon jetzt eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung Älterer. Es gibt aber nicht nur Gesetze. Wir auf Bundesebene nehmen auch Geld in die Hand. Das Bundesarbeitsministerium fördert 62 Modellprojekte in Deutschland. Nach mir spricht noch die Kollegin Schewe-Gerigk. Auch in unserem Wahlkreis - wir sind im selben Wahlkreis tätig - gibt es ein solches Projekt. Es wird Geld des Bundes in die Hand genommen, um die Wirtschaft, um die Länder und um die Kommunen stärker in diesen Prozess einzubinden. Zusätzlich tun wir mit bundesgesetzgeberischen Maßnahmen nun noch etwas, um diesen Prozess anzustoßen. Darüber hinaus regeln wir die EU-rechtskonforme befristete Beschäftigung Älterer neu, und zwar in einer Weise, die Flexibilität schafft, wie das sonst im Befristungsrecht an keiner Stelle der Fall ist. Unsere Erwartung ist, dass die Unternehmen von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen und in Zukunft noch verstärkt ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen. ({8}) Wir haben den Weg in diesem Gesetzgebungsverfahren noch vor uns. Ich sage ganz deutlich: Wir sind dafür offen, diese gesetzlichen Maßnahmen, wenn es den Bedarf gibt, noch anzureichern und Anhörungen und Diskussionen dazu durchzuführen. Wir von der Union wollen - auch das sage ich ganz deutlich - für ältere Arbeitslosengeld-I-Empfänger, so wie es der Minister vorgeschlagen hat, die Entgeltsicherung verbessern, damit mehr Menschen nach kurzer Arbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung kommen. Wir von der CDU/CSU wollen gleichzeitig einen Kombilohn für über 50-jährige Arbeitslosengeld-II-Bezieher, um auch die Menschen, bei denen es, aus welchem Grund auch immer, nicht geklappt hat, sie wieder schnell in Arbeit zu bringen, nicht aufzugeben. Auch ältere Langzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive in unserem Land. Das hat etwas mit unserem christlichen Verständnis zu tun, niemanden aufzugeben und am Wegesrand stehen zu lassen. Deswegen werden wir in dieser Frage auch weiterhin aktiv werden. ({9}) Also: Wir haben wichtige Reformvorhaben vorgelegt, um die Renten zu konsolidieren und um zu einer gerechten Verteilung der Lasten aus der demografischen Entwicklung zwischen Rentenempfängern, Beitragszahlern und Steuerzahlern zu kommen. Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv diesen Weg weitergehen im Interesse der arbeitenden Menschen und derer, die als Rentnerinnen und Rentner den Lohn für ihre Lebensleistung von uns mit Recht erwarten. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wenn jemand keine Zwischenfrage zulässt, dann muss er es sich zumindest gefallen lassen, dass man in Form einer Kurzintervention inhaltlich zu dem Stellung nimmt, was hier gesagt wurde. Herr Kollege Brauksiepe, ich will das zu zwei Punkten tun. Erstens. Sie sollten sich das, was Herr Minister Müntefering gesagt hat, wirklich noch einmal vor Augen führen: Gute Politik fängt damit an, dass man den Menschen sagt, was ist. ({0}) Sie haben wieder nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Die Hälfte der Wahrheit ist: Die Arbeitslosenzahl in unserem Land ist im letzten Jahr im Jahresvergleich um 500 000 zurückgegangen. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Im gleichen Zeitraum sind nur etwa 250 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen worden. ({1}) - Ja, Herr Kollege Brandner, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil die Finanzierungskrise in allen Bereichen der sozialen Sicherung damit zusammenhängt, dass wir in den letzten vier Jahren 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Ich freue mich, dass wir jetzt wieder 250 000 Stellen gut gemacht und etwas Boden gewonnen haben. ({2}) Zur Wahrheit gehört aber, den Menschen auch zu sagen, dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und dass die Lage der sozialen Sicherungssysteme weiterhin angespannt bleibt, wenn wir diese Trendumkehr nicht wirklich dauerhaft erreichen und verstetigen. ({3}) Herr Brauksiepe, Sie hätten auch sagen sollen, dass sich die Differenz dadurch begründet, dass demografisch bedingt viel mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt austreten, als neue hinzukommen. Manche Menschen verabschieden sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt und manche gehen einer geförderten selbstständigen Tätigkeit - Ich-AG - nach. Für uns ist wichtig, dass die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse relativ gesehen stagniert. Wenn man sich den Vierjahresvergleich anschaut, dann erkennt man, dass wir weiterhin deutlich im negativen Trend liegen. Das Zweite, auf das ich eingehen möchte, sind Ihre Aussagen zur Position der FDP in Rostock. ({4}) In Rostock lag ein Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik fair und generationengerecht gestalten“ vor, der sieben Punkte enthielt. Davon haben wir sechs beschlossen. ({5}) - Darauf komme ich noch zurück. - Teilweise waren das sehr unpopuläre Dinge, nämlich etwa die Abschaffung des Lebensalters als Kriterium im Kündigungsschutzgesetz und die sofortige Beendigung von Frühverrentungsmöglichkeiten. Man muss hier klipp und klar sagen: Das alles trauen Sie sich ja nicht, obwohl dies wesentliche Teile der Lösung des Problems sind. Einen Punkt haben wir offen gelassen, aber nicht deshalb, weil wir uns dem verweigern wollen, sondern weil wir mit etwas mehr Zeit nach einer besseren Lösung suchen wollten. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass die FDP in wenigen Wochen im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier einbringen wird, in dem sehr klar beschrieben ist, wie man die Erwartungen der Menschen bezüglich des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand besser erfüllen kann. Wir kneifen hier nicht, sondern wir werden Farbe bekennen. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden sich mit dem Vorschlag, den wir Ihnen präsentieren werden, schwer tun. Ich freue mich schon heute auf diese Situation. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Brauksiepe, bitte.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kolb, ich bitte ausdrücklich um Entschuldigung, dass ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben habe. Ich hatte sie zu einem späteren Zeitpunkt erwartet, nämlich dann, als ich darauf hingewiesen habe, dass Sie die Rente mit 67 Jahren ablehnen. Als ich das das letzte Mal gesagt habe, haben Sie eine Zwischenfrage gestellt. Sie bestreiten jetzt also nicht mehr, dass die FDP die Rente mit 67 Jahren ablehnt. ({0}) Das haben Sie akzeptiert. Deswegen kam die von mir erwartete Zwischenfrage an dieser Stelle nicht. Sie hatten also keine Gelegenheit, sie zu stellen. Dafür bitte ich ausdrücklich um Entschuldigung. Wir sind sehr gespannt darauf, was Sie uns ankündigen werden. Ich habe von 536 000 Arbeitslosen weniger als vor einem Jahr gesprochen. Wir können gerne über die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung reden. Wir haben 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr als vor einem Jahr. Ich habe Ihren Beitrag so verstanden, dass Sie einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ihren 42 Regierungsjahren nicht hinbekommen haben. Ich mache Ihnen ein neues Angebot: Wenn Ihre Kollegin an der Reihe ist, dann soll sie uns das Jahr der 42 Jahre Ihrer Regierungszeit in der Bundesrepublik Deutschland nennen, in dem Sie 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen haben. Das wäre doch ein interessanter Beitrag zur Wahrheitsfindung. Vielen Dank. ({1}) - Da waren wir gut; das ist wahr. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit einem praktischen Demokratieproblem zu tun. ({0}) Herr Meckelburg hat hier in der vorigen Debatte gesagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nicht bestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungszeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungen sein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zu entscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird das zum Regelfall. ({1}) Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir die Gesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaftsteuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalenreduzierung nehmen, all das geschieht gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung. ({2}) Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breite Übereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie, die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, dies läge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nun gar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann länger arbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintrittsalters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt. Dann werden wir dafür kritisiert - zum Beispiel von Herrn Meckelburg und von anderen -, dass wir eine andere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber diskutieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor, auch wir wären der Meinung, man müsse das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmal vor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber 67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen. ({3}) Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser 67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert werden! Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie. ({4}) Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dass man sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate bringen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union aus dem Jahr 2005: „Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“ ({5}) - Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht. Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt. Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Darin steht Folgendes: „Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67. ({6}) Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sie versprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hier realisieren. ({7}) Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachen nicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollen nicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So geht es nicht! ({8}) Kommen wir zur demografischen Entwicklung, also zu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weit zurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurden wir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr lange zurück. ({9}) Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den 100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesellschaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden. Das ist schon interessant. ({10}) Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 eingeführt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte. ({11}) 1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre reduziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahre haben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten - bei einer Steigerung der Lebenserwartung von über 30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zum Jahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. Im Vergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmal demografisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig begründen. ({12}) Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dass es auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung gar nicht ankommt. ({13}) - Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Sie werden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wieder nicht. ({14}) Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist gar nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist die der Produktivität der Menschen. ({15}) 1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute versorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, die Sie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahre stieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmen wir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In diesem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Darauf hat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Sie wollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aber weil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich es wiederholen. ({16}) Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent. Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Das heißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. erbracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur 1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen verkauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird etwas herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibt eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten. Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entweder die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Arbeitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres geschehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend - darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen -: im Laufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zu und wir werden nicht entsprechend mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es in ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern. ({17}) Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen - das ist richtig -, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszusammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mit dem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivität, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilung des Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Rentenkasse sind die hohe Arbeitslosigkeit - denn Arbeitslose zahlen keine Beiträge ein -, der Rückgang der Lohnquote - denn wenn es weniger Löhne gibt oder die Löhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entsprechend zurück - und der wachsende Niedriglohnsektor, wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung noch weiter zurückgehen. Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industriegesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. In den USA, in Großbritannien und Frankreich wurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Das ist eine völlig andere Entwicklung. ({18}) Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenversicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu, auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann. Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschen Einheit - insbesondere auch die Renten in Ostdeutschland - dem Rentenversicherungssystem aufzubürden, statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringend erforderlich gewesen wäre. ({19}) Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Sie sagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil am Durchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, im Laufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlich auf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich das dramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durchschnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlung ausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden geben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt, dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersarmut zu tun bekommen werden. Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie eine wirkungslose Initiative „50 plus“ durchführen und das Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich frage mich, wo Ihre Antworten zu finden sind. ({20}) - Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und das wissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aber wir sind nicht bescheuert. ({21}) Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zumindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leute wählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 Millionen Menschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nicht viel zutrauen. ({22}) Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie versprechen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sie schwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt. Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern. ({23}) Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeiten stammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbstständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nur noch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit, Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sich die Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von 90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkommen erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen - das wäre ein mutiger Schritt -, alle Einkommen schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzubeziehen. ({24}) - Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein armer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung einzahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus. Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann auch eine Rente beziehen werden. ({25}) - Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlich in die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wir müssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen. ({26}) Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweiz muss jemand, der Millionen verdient, entsprechend seinem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine gesetzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Franken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwar richtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerne auch im Bundestag erleben. ({27}) Die Unternehmen haben sich verändert. Zu Bismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten in etwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitet wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Je nach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und der andere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinn zu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Sie die Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und führen Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel gerechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen. ({28}) Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge. Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschen mehr private Vorsorge betreiben und beispielsweise Riester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssen die Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Altersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnen nicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Diesen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmen nicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Das entspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nicht ihre Zukunft sein. ({29})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ich zwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme - was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension des Bundestages erhalte -, dachte ich mir, dass Sie eine kleine Strafe verdient haben: Ich bleibe hier einfach eine Legislaturperiode länger, als ich es vorhatte. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist keine populäre Entscheidung, wegen der demografischen Entwicklung aber richtig. Das sage ich auch als Oppositionspolitikerin. ({0}) Wir sind nicht als Abgeordnete gewählt worden, um populistische Entscheidungen zu treffen, sondern wir sind gewählt worden, um den Menschen die Wahrheit über die tatsächliche Situation zu sagen und Lösungen anzubieten. Die Wahrheit ist: Weniger Beschäftigte ({1}) müssen für mehr Rentner und Rentnerinnen längere Zeit Rente zahlen; das sind heute 17 Jahre. Viele Gründe sprechen für die Rente mit 67. Da ist der Geburtenrückgang. Im Jahre 2030 wird es fast 8 Millionen weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Da ist die steigende Lebenserwartung. Jedes zweite heute geborene Mädchen wird 100 Jahre alt werden. Da sind die wachsende Gesundheit und Leistungsfähigkeit Älterer sowie der schon heute sichtbare Fachkräftemangel. Für uns Grüne ist allerdings die Voraussetzung für die Rente ab 67 die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt. ({2}) Herr Minister Müntefering, Ihre Initiative „50 plus“ reicht aber nicht aus; darauf wird die Kollegin Pothmer gleich noch ausführlicher eingehen. Ich frage mich, welche Wertschätzung die Gesellschaft gegenüber Älteren aufbringt, wenn sie davon ausgeht, dass Ältere nur dann vermittelt werden können, wenn man den Arbeitgebern ein zusätzliches Zückerchen in Form von Kombilohn oder Eingliederungshilfen gibt. Ich kenne viele ältere Erwerbslose mit hoher Qualifikation und einem großen Erfahrungswissen, auf das jedes Unternehmen stolz sein könnte. Wir brauchen endlich einen Mentalitätswandel. Es kann nicht sein, dass Menschen unter 30 zu jung und ab 45 zu alt für eine bestimmte Aufgabe sind. ({3}) In den deutschen Betrieben herrscht aber noch immer - das ist bedauerlich - der Jugendwahn. Wir haben in Deutschland keine Kultur der Altersarbeit. Das haben wir insbesondere einem zu verdanken, nämlich dem ehemaligen Rentenminister Dr. Norbert Blüm, ({4}) der mit seinem Frühverrentungsprogramm die Rentenkassen zulasten der Allgemeinheit geplündert hat. Ich finde, es ist absolut absurd, dass er uns nun via Talkshows Ratschläge erteilt oder der IG BAU als Kronzeuge gegen eine solidarische Verlängerung der Altersgrenzen dient. Herr Exminister Blüm, Sie sollten lieber dieses Sitzkissen, das uns die IG BAU zusammen mit ihrer Stellungnahme und ihren Ratschlägen zugeschickt hat, nehmen und damit in ein Fußballstadion gehen, statt die Menschen in die Irre zu führen. ({5}) Wir brauchen die innovativen Arbeitgeber, die schon heute wissen: Lebenslanges Lernen, Gesundheitsförderung und altersgemischte Teams sind der Schlüssel für den Erfolg eines Unternehmens der Zukunft. Es ist eine große Herausforderung, ausreichend Arbeitsplätze für Ältere zu schaffen. Wer aber, wie es die Linke tut, die heutige Arbeitsmarktsituation auf das Jahr 2030 überträgt, der gibt den Anspruch auf politische Gestaltung auf. ({6}) Wir Grüne tun das nicht. Auch darum, Herr Minister Müntefering, unterstützen wir Sie bei Ihrem Vorhaben, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Was wir aber überhaupt nicht verstehen, sind Ihre doppelten Botschaften. Sie wollen Reformer sein, trauen sich aber offensichtlich doch nicht so richtig. Sie wollen mit Vollgas nach vorne fahren, wollen die Rente mit 67 Jahren, gleichzeitig aber haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt und machen ein Gesetz, durch das 15 000 Beschäftigte der Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können. Sie sorgen durch eine verlängerte Stichtagsregelung dafür, dass Betriebe Altersteilzeitverträge nach dem Blockmodell abschließen, sodass die älteren Beschäftigten früher entlassen werden. Ich nenne ein solches Verhalten schizophren. ({7}) Dazu passt die geplante Einführung einer neuen abschlagsfreien Altersrente für Versicherte mit mindestens 45 Beitragsjahren. Das kostet die Versicherten mehr als 2 Milliarden Euro und schmälert den Effekt Ihrer Reform. Das Vorhaben ist aber auch verfassungsrechtlich bedenklich, weil es Versicherte mit gleichen Anwartschaften unterschiedlich behandelt. ({8}) Das heißt, jemand, der nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rente geht und 1 000 Euro erhält, bezieht 24 000 Euro mehr als jemand, der den gleichen Anspruch bereits nach 40 Jahren erfüllt. Da sage ich Ihnen nur: Viel Spaß beim Bundesverfassungsgericht! ({9}) - Beim Bundespräsidenten auch. Wenn Sie dann schon einmal in Karlsruhe sind, dann können Sie ja vielleicht auch gleich erläutern, wie Sie eine mittelbare Diskriminierung von Frauen legitimieren; denn 2004 konnten lediglich 5 Prozent der Frauen, aber 41 Prozent der Männer diese 45 Versicherungsjahre erfüllen. Hinzu kommt, dass diese Sonderregelung denen, die Sie, Herr Minister, besonders schützen wollen, überhaupt nichts nützt. ({10}) - Ich komme gleich zu Ihnen. Lassen Sie mich zunächst den Gedanken zu Ende führen. Ich erinnere an die Debatte im Sommer, in der Ministerpräsident Beck Ausnahmen von der Rente mit 67 Jahren für bestimmte Berufe forderte. Er sprach von Dachdeckern und Krankenschwestern. Die Debatte läuft heute nicht mehr. Sie dürften aber wissen, dass die die 45 Versicherungsjahre kaum erreichen, weil viele von denen bereits mit 50 Jahren eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Darum sage ich: Diese Regelung ist Etikettenschwindel. Sie begünstigt die, die schon gute Ansprüche haben, oder: Wer hat, dem wird gegeben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß zulassen?

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich lasse sie gleich zu. ({0}) Profitieren wird der gut verdienende Abteilungsleiter im öffentlichen Dienst, mitfinanzieren muss es die Verkäuferin. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben und das nenne ich Murks. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann kommt jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Weiß.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich muss erst einmal den Minister zu etwas auffordern. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf: Nehmen Sie diese verfassungsrechtlich bedenkliche, Frauen diskriminierende und sozial unausgewogene Sonderregelung zurück! Was Sie betreiben, ist Besitzstandswahrung und Interessenpolitik. Das lehnen wir Grüne ab. Uns geht es ums Ganze. Uns geht es um Generationengerechtigkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Weiß, haben Sie eigentlich noch Interesse an einer Zwischenfrage?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es war natürlich wunderschön, Ihnen zuzuhören. Deswegen habe ich so lange mit der Zwischenfrage gewartet. Meines Wissens haben Sie zwei Kinder.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Haben Sie das gerade nachgesehen? ({0}) Ein Kind heißt Verena, das andere heißt Sarah Rosa.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, jetzt kennen wir auch die Namen. Wenn Sie nun eines Ihrer Kinder belobigen, weil es eine besondere Leistung erbracht oder etwas besonders gut gemacht hat, dann ist das doch keine Benachteiligung des anderen Kindes. ({0}) - Nein, das ist ein praktisches Beispiel aus dem Leben. Es kann doch keine Benachteiligung anderer Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung sein, wenn durch eine wirkliche Innovation im neuen Rentenrecht derjenige, der lange hart gearbeitet hat und 45 Jahre lang regelmäßig Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt und damit für die Leistungsfähigkeit der deutschen Rentenversicherung gesorgt hat, der Rentnerinnen und Rentnern mit seinen Beiträgen eine anständige Rente ermöglicht hat, eine Belobigung im Rentensystem erhält, die darin besteht, dass er mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann. Wenn ich eine Gratifikation verteile, wenn ich eine Belobigung ausspreche, dann ist das doch keine Benachteiligung anderer. Deswegen kann ich Ihre Denkweise - Entschuldigung, Frau Kollegin Schewe-Gerigk - überhaupt nicht nachvollziehen, zumal wir in diese Regelung ausdrücklich eine frauenspezifische Bestimmung eingebaut haben, nämlich dass wir nicht nur die drei Jahre Kindererziehungszeiten, hinter denen Beiträge des Staates stehen, bei den 45 Jahren anerkennen, sondern auch zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten einrechnen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Weiß, Ihr Rechtsverständnis teile ich nicht. Ihr Beispiel hinkt absolut. Was heißt denn eigentlich Belobigung? Wenn jemand die Chance hatte, 45 Jahre durchgehend erwerbstätig zu sein, das heißt, wenn er keine Zeiten der Erwerbslosigkeit hatte, dann können wir froh sein. Dann hat diese Person ein gutes Polster für das Alter aufgebaut und kann sich auf diesem Sitzkissen niederlassen. ({0}) Aber was ist mit den Personen, die nur 40 Jahre arbeiten konnten und zwischendurch fünf Jahre erwerbslos waren, oder was ist mit denen, die erst später in den Beruf eingestiegen sind und diese 45 Jahre überhaupt nicht erreichen werden? ({1}) Die Logik, die Sie verbreiten, stimmt überhaupt nicht. Es kann doch nicht sein, dass Sie die heutige Arbeitsmarktsituation, die die Menschen daran gehindert hat, 45 Jahre zu arbeiten, diesen vorwerfen. ({2}) - Wenn das eine Beitragsleistung ist, Herr Kollege Weiß, dann müssen Sie demjenigen, der mit 40 die gleiche Leistung erbracht hat, das gleiche geben wie dem, der diese Leistung mit 45 Jahren erreicht hat. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das waren jetzt eine Nachfrage und eine Antwort. Jetzt haben Sie noch neun Sekunden.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich war gerade beim Stichwort Generationengerechtigkeit. ({0}) Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die Beiträge und entlastet die nachkommende Generation. Wir wollen, dass die Menschen individuell flexibler in Rente gehen können. Das ist auch das, was die Mehrheit der Bevölkerung will. Sie ist - wie schon so oft - weiter als die Politik. Eine Mehrheit sagt, sie möchte gerne flexibel zwischen 60 und 67 Jahren mit Abschlägen oder mit Zuschlägen in Rente gehen. Starre Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen müssen aufgehoben werden. ({1}) Auch Modelle wie Teilrente und Teilzeitbeschäftigung sind gefragt. ({2}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Neue Wege sind oft mit Zumutungen verbunden. Das wissen Sie, Herr Kolb. Wenn aber das Ziel klar ist und alle entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mitgenommen werden - ich sage ganz ausdrücklich: auch die Beamten und die Politikerinnen und Politiker müssen analog zu diesen Rentenbeschlüssen behandelt werden -, dann lohnt es sich, diesen Weg zu gehen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Wolfgang Grotthaus spricht für die SPDFraktion. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Kolb sagte gerade: Bitte nicht zu Herrn Gysi. ({0}) - Ich werde zu Herrn Gysi etwas sagen; denn sein Beitrag war wieder einmal eine Sternstunde des Parlaments. Er hat uns fast körperlich bedroht, als er sagte, er werde für noch eine Wahlperiode kandidieren. Uns wird davor nicht bange, Herr Gysi. Wir akzeptieren Sie so, wie Sie sind. ({1}) Ich habe in Ihrem Beitrag festgestellt, dass Sie in den letzten 18 Jahren doch einiges gelernt haben. Sie haben in Ihrem Beitrag unser Demokratieverständnis kritisiert. Wir nehmen das erst einmal so hin. Das deutet darauf hin, dass Sie die Demokratie in den letzten 18 Jahren so richtig kennen gelernt haben. Wenn Sie das aber so herüberbringen, wie Sie es getan haben, dann wirkt das populistisch und sehr unglaubwürdig. Das Zweite ist: Wenn Sie den Vergleich bringen, dass ein Bauer um 1900 acht Menschen ernähren konnte, während es heute 80 sind, und daraus den Schluss ziehen, dass es nicht notwendig ist, Rentenbeitragserhöhungen oder eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit daraus abzuleiten, dann sage ich Ihnen: Das ist die Logik eines Menschen, der im Arbeiter- und Bauernstaat groß geworden ist. Für mich ist das nicht logisch. Vielleicht sollten Sie auch darüber noch einmal nachdenken. ({2}) Ich möchte nun zu einigen sachlichen Begründungen zu der Initiative „50 plus“ kommen. Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir den Menschen entgegen, die sehr oft nur aufgrund ihres Alters aus dem Arbeitsprozess ausgemustert worden sind. Wir bieten den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mit diesem Gesetzentwurf verschiedene Förderinstrumente, damit sie sich verstärkt um die Einstellung älterer Kolleginnen und Kollegen bemühen. Wir meinen, dass es unzulässig ist, wenn sich Arbeitgeber über Fachkräftemangel beklagen. Wenn gefordert wird, ausländische Ingenieure auf dem deutschen Arbeitsmarkt zuzulassen, obwohl man weiß, dass sich insWolfgang Grotthaus besondere ältere Kolleginnen und Kollegen mit den entsprechenden Qualifikationen in der Arbeitslosigkeit befinden, dann ist dies wenig glaubwürdig. Lassen Sie mich dazu eine persönliche Bemerkung machen. Ich habe es in meinem Job erlebt, dass von 1995 an ältere Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Ingenieure, aus den Jobs hinausgekegelt worden sind, vor allem im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnologie. Man hat damals jungen Menschen gesagt, es lohne sich nicht mehr, Ingenieurwissenschaften zu studieren. Heute beklagen genau diejenigen, die dies damals jungen Menschen mit auf den beruflichen Weg gegeben haben, dass es keinen Nachwuchs mehr gibt. ({3}) Diese Arbeitgeber sollten in die Pflicht genommen werden, ältere Arbeitslose, die dieses Studium schon absolviert haben, durch Fördermaßnahmen wieder in den Beruf zu integrieren. Es ist notwendig, ältere Menschen durch gezielte Maßnahmen nicht arbeitslos werden zu lassen und ältere Arbeitslose durch Fördermaßnahmen wieder zu integrieren. Genau das ist die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes. ({4}) Er beinhaltet dazu ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wer lebenslanges Lernen einfordert, der - wir haben darüber hier oft genug in Übereinstimmung über alle Fraktionen hinweg diskutiert - muss die Chance dazu auch älteren Menschen geben. Im Gesetzentwurf sehen wir dazu eine deutliche Erweiterung und damit eine effektive Verbesserung schon bestehender Maßnahmen hinsichtlich der Regelung der Weiterbildungsförderung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor. Künftig können die Beschäftigten bereits ab dem 45. Lebensjahr Förderleistungen erhalten, wenn der Betrieb weniger als 250 Arbeitnehmer beschäftigt. Perspektivisch führt das nach unserer Auffassung zu einer Erhöhung von Fördermöglichkeiten, die früher in Anspruch genommen werden können, wodurch sich die Gefahr der Arbeitslosigkeit verringert. ({5}) Die Übernahme der Weiterbildungskosten stellt gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen einen wichtigen Baustein für verstärkte Anstrengungen zur Weiterbildung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dar. Ein weiteres Instrument - ich sehe, die Zeit läuft mir davon; deswegen will ich mich nur auf ein weiteres Instrument beziehen - sind die finanziellen Anreize für Eingliederungsmaßnahmen. Wir bieten den Älteren mit diesem Gesetzentwurf eine Teilentgeltsicherung. Das bedeutet, dass ältere Menschen, die eine Arbeitsstelle annehmen, die geringfügiger bezahlt wird als die vorherige, einen Gehaltszuschuss für bis zu zwei Jahre erhalten können. In der Spitze sind das 50 Prozent, im unteren Bereich bis zu 30 Prozent. Dabei wird meistens etwas vergessen, was für die Menschen aber ebenfalls von Wichtigkeit ist, nämlich dass die Rentenbeitragszahlung auf 90 Prozent des letzten Verdienstes aufgestockt wird. Bewertet man die Inhalte dieses Gesetzentwurfes, lässt sich feststellen, dass es attraktiv ist, ältere Menschen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Leistungsbereitschaft einzustellen. Denn das - nicht die finanziellen Voraussetzungen - ist erst einmal der wichtigste Grund. Die Menschen, die sich um einen Job bemühen, wollen eingestellt werden. Sie sind leistungsbereit. Sie haben ein entsprechendes Fachwissen. Vielleicht sind sie nicht immer so schnell wie die Jungen. Aber wer gute Kenntnisse von Betriebsabläufen hat, kann rationeller arbeiten als mancher, der nur schneller ist. Mit den Förderinstrumenten wollen wir älteren Menschen in der Gesellschaft eine weitere Chance im Berufsleben geben. Ich bitte darum, dass alle Fraktionen - denn es geht schließlich um die Menschen, die arbeitslos sind Werbung für die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen machen und in den Gemeinden auf die entsprechenden Möglichkeiten aufmerksam machen. Damit können die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden, den Älteren eine neue Chance im Berufsleben zu geben. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP spricht die Kollegin Sibylle Laurischk.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei dem Gesetz, über das wir jetzt debattieren, handelt es sich tatsächlich um ein Rentenkürzungsprogramm. Man muss es ganz klar so benennen. ({0}) Es nennt sich zwar Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen. Aber ich frage mich schon, wo es die Arbeitsplätze für die über 50-Jährigen gibt. Leere Worte und schöne Plakate wie die für die Initiative „50 plus“, Herr Minister, schaffen keine Arbeitsplätze. Es ist nötig, auch seniorenpolitisch hier klare Worte zu finden. Ich bin der Auffassung, dass sich die Bundesregierung mit mehr Mut und Fantasie an den Umbau des gesamten Sozialversicherungssystems machen müsste, statt ständig nur an einer Schraube zu drehen. ({1}) In 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland gibt es derzeit keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Obwohl gerade ältere Arbeitnehmer über Erfahrung und Wissen verfügen, gehören sie neben den Geringqualifizierten zu den großen Verlierern am Arbeitsmarkt. ({2}) Bereits für über 40-Jährige wird es immer schwieriger, eine Anstellung zu finden. Hieran ändert die Erhöhung des Renteneintrittsalters nichts. Statistisch gesehen sind Menschen ab 55 Jahre einem Rückgang der Erwerbsbeteiligung und einem Zuwachs an Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der sich ab dem 60. Lebensjahr noch einmal verschärft. Grund dafür ist eine Arbeitsmarktpolitik, die den Trend zur Frühverrentung gefördert hat und teilweise noch fördert. Neue Vorgehensweisen in der Wirtschaft und in der Personalentwicklung sind erforderlich. ({3}) Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist Heuchelei, den Renteneintritt mit 67 zu begrüßen und gleichzeitig ältere Bewerber noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen einzuladen. ({4}) Hier muss sich sehr schnell sehr viel ändern. Aber auch die Einstellung der Arbeitnehmer muss sich den geänderten Zeiten anpassen. Eine wichtige Voraussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist der Erwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung von Kompetenzen, um mit der technologischen Entwicklung Schritt halten zu können. Arbeitgeber und Betriebsräte müssen der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer eine hohe Priorität einräumen. ({5}) Ich will aber Ihr Augenmerk auch auf die frauenpolitische Problematik richten. ({6}) Dieses Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen geht an der Arbeitsbiografie von Frauen geradezu zynisch vorbei. ({7}) Wer 45 Erwerbsjahre - gegebenenfalls inklusive drei Jahre Erziehungszeit pro Kind - nachweisen kann, kann nach dem vorliegenden Gesetzentwurf schon mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Davon sind aber kaum Frauen betroffen. Denn allenfalls 4 Prozent der Frauen werden nach den vorliegenden Erhebungen zu denjenigen gehören, die tatsächlich schon mit 65 in Rente gehen können. ({8}) Sie müssen also in der Regel bis zum 67. Lebensjahr arbeiten. Das empfinde ich als umso zynischer, als die Anerkennung einer langen Arbeitsbiografie eben hier nicht greift. ({9}) Wenn Frauen in Rente gehen, haben sie in den meisten Fällen eine doppelte Belastung hinter sich, nämlich ihre Erwerbsarbeit und ihre Sorge für die Familie inklusive der Erziehung der Kinder. Das wird hier überhaupt nicht berücksichtigt. ({10}) Herr Brauksiepe, an dieser Stelle haben Sie das Prinzip „Die Starken für die Schwachen“ falsch verstanden. Vielleicht schauen Sie sich einmal den nächsten Bundesparteitag der FDP an ({11}) - sehr gerne -, um eine andere Sicht der Dinge zu erleben, nicht nur die der SPD. Wenn wir im demografischen Wandel auf dem Arbeitsmarkt bestehen wollen, müssen wir akzeptieren, dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind und dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit 50 enden. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Anforderungen an eine umfassende Reform der Sozialversicherungssysteme nicht gerecht, zumal er Frauen einseitig belastet. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der Kollege Stefan Müller. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Regierungswechsel vor gut zwölf Monaten ist die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf unter 4 Millionen gesunken. Ich finde, dieser massive Rückgang ist ein großartiger Erfolg. ({0}) Dies ist ein Erfolg auch deswegen, weil dadurch klar wird, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der in unserem Land stattfindet, sich nicht nur auf die Unternehmen und deren Gewinnsituation auswirkt, sondern jetzt auch bei den Menschen ankommt. ({1}) - Herr Kollege Dr. Kolb, ich glaube, wir sollten das nicht zu gering schätzen. Versetzen wir uns einmal in die Situation eines Menschen, der seit langer Zeit von Arbeitslosigkeit betroffen ist und in diesen zwölf Monaten einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Stefan Müller ({2}) ({3}) Für diesen Menschen ist das in der Tat außerordentlich erfreulich; denn er hat nicht nur eine neue Arbeit gefunden, sondern hat dadurch auch neue Perspektiven und neue Chancen und ganz einfach wieder das Gefühl, gebraucht zu werden und für sich und seine Familie etwas zu erwirtschaften und nicht mehr auf staatliche Fürsorge angewiesen zu sein. Deswegen sollten wir uns mit diesen Menschen freuen und froh darüber sein, dass es wieder mehr Menschen in unserem Land gibt, die eine Beschäftigung haben. ({4}) Es wird aber niemand bestreiten, dass trotz des Aufschwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die Lage gerade für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ältere Arbeitslose in unserem Land nach wie vor schwierig ist. Die Zahlen wurden schon genannt: Jeder vierte Arbeitslose in Deutschland ist älter als 50. Bundesweit sind es über 1 Million. ({5}) Davon ist die Hälfte im Übrigen schon länger als ein Jahr arbeitslos. Das Beschäftigungsniveau der Älteren in Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wie vor deutlich schlechter als in anderen Ländern. Das ist überhaupt keine Frage und darüber gibt es hier keinen Dissens. Was mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr bedenklich stimmt und was ich geradezu für dramatisch halte, ist die Tatsache, dass die Einstellungschancen Älterer in den letzten Jahren nicht besser geworden sind. Zumindest im letzten Jahr waren nur 7 Prozent der neuen Mitarbeiter, also derjenigen, die neu eingestellt worden sind, älter als 50. Ein Zweites stimmt mich sehr bedenklich, nämlich die Tatsache, dass fast jedes dritte Unternehmen in Deutschland ältere Mitarbeiter nur dann einstellt, wenn es staatliche Beihilfen bekommt oder wenn es keine jüngeren Bewerber findet. Daher ist hier Handlungsbedarf unumstritten. Ich möchte mich außerordentlich dafür bedanken, dass es jedenfalls darüber keine Diskussionen gibt. Wir alle wissen, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten. Dies ist auch in den vorhergehenden Reden deutlich geworden. ({6}) Man kann über die Rente ab 67 unterschiedlicher Auffassung sein. Aber die Aufgabe, die Chancen für Ältere auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, eignet sich aus meiner Sicht nicht für einen parteipolitischen Streit. ({7}) Wir alle wissen, dass sich ein Fachkräftemangel abzeichnet. Wir wissen, dass die niedrige Erwerbsbeteiligung der Älteren negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat, weil Know-how verloren gegangen ist. Ich finde, es ist gegenüber den Älteren in unserem Lande ungerecht, dass man ihnen das Gefühl gibt, dass sie mit 50 schon zum alten Eisen gehören. Das passt nicht zusammen. ({8}) Genau deshalb haben wir die Verbesserung der Beschäftigungssituation von Älteren in unserem Land im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir müssen Einigkeit darüber herstellen, dass diese Anstrengungen auch wirklich von allen Beteiligten zu leisten sind und nicht nur die Politik gefragt ist. Zunächst einmal muss die Erkenntnis, dass damit alle Beteiligten gefordert sind, durchgesetzt werden. Dies betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Es betrifft aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Tarifvertragsparteien. Die Politik hat die Aufgabe, dort, wo es möglich ist, Einstellungshemmnisse abzubauen. ({9}) Wir haben vor zwei Wochen in einem ersten Schritt die Lohnzusatzkosten zum 1. Januar 2007 gesenkt. Natürlich wird diese Senkung der Sozialabgaben, die in ihrer Höhe ein massives Einstellungshemmnis in unserem Land sind, die Beschäftigungschancen, auch für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erhöhen. ({10}) Mit der Initiative „50 plus“ und dem heute vorliegenden Gesetzentwurf tun wir das, was der Arbeitsmarktpolitik möglich ist: Wir setzen Anreize, damit Unternehmen wieder ältere Mitarbeiter einstellen; dem dient der Eingliederungszuschuss. Wir verstärken auch den Anreiz dafür, mehr für die Bildung und Weiterbildung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun. Mit der Entgeltsicherung setzen wir Anreize dafür, auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen. Nun kann man ja einwenden, dass es diese Instrumente alle schon gibt. Das ist richtig. Wir verändern die Instrumente zwar hinsichtlich einiger Stellschrauben, ({11}) aber es gibt sie schon. Das heißt: Es wird auch darum gehen, diese Instrumente, die wir jetzt verbessern, wirklich bekannt zu machen. Herr Bundesminister, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür, dass Sie mit Ihrer Initiative „Erfahrung ist Zukunft“ versuchen, die Instrumente bei den Unternehmen bekannter zu machen. ({12}) Gespräche mit Unternehmen beweisen ja: Es ist das größte Problem, dass viele Unternehmen nicht wissen, welche Maßnahmen sie in Anspruch nehmen können. Stefan Müller ({13}) Wir werden ein Weiteres tun müssen - das ist meine persönliche Überzeugung -: Wenn wir im kommenden Jahr die Instrumente der Bundesagentur für die Arbeitsförderung überprüfen, dann werden wir sie auch daraufhin überprüfen, was die Maßnahmen der BA zur Eingliederung Älterer zu leisten imstande sind. Kommen wir zum zweiten Bereich. Nicht nur die Politik ist gefordert, auch die Unternehmen sind gefordert. Auch die Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Arbeitnehmer keine Belastung, sondern eine wertvolle Ressource sind. Mit der schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters verlängert sich die Lebensarbeitszeit; ich halte das angesichts der demografischen Entwicklung für einen richtigen und wichtigen Schritt. Das führt aber zu der Frage, die wir heute auch schon ansatzweise diskutiert haben: Haben wir gerade für ältere Menschen in unserem Land genügend Arbeitsplätze zur Verfügung? In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Renteneintritt mit 67, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, seit Jahren von der Wirtschaft immer wieder gefordert wird. Deshalb ist die Wirtschaft jetzt auch in der Pflicht - wir setzen das ja nun um -, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Gerade das Auseinanderklaffen von Reden und Fordern auf der einen Seite und Realität auf der anderen Seite, die so aussieht, dass keine älteren Mitarbeiter eingestellt werden, führt zu Verdrossenheit in Bezug auf Staat und soziale Marktwirtschaft. ({14}) Die Arbeitnehmer sind aufgefordert, länger im Berufsleben aktiv zu sein. Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, das Ihre zu tun. Ich will mich dabei gar nicht in die Tarifautonomie einmischen, aber ich glaube schon, dass auch die Tarifvertragsparteien dazu einen deutlichen Beitrag leisten können. Ich finde: Unsere Wirtschaft, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt können auf ältere Menschen nicht verzichten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ein Signal geben, dass auch Ältere wieder Chancen haben, in der Wirtschaft mitzuwirken. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Brigitte Pothmer.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schewe-Gerigk hat es bereits gesagt: Die Grünen tragen das Projekt „Rente mit 67“ mit. Wir müssen - davor können auch Sie die Augen nicht verschließen, Herr Gysi - die Belastung der jüngeren Erwerbsgenerationen begrenzen. ({0}) Aber gerade weil wir zu diesem Projekt stehen, müssen wir die Verantwortung auch dafür übernehmen, dass nicht versucht wird, die Gerechtigkeitslücke, die sich dann, wenn wir nichts tun, bei den Jüngeren zweifellos ergeben wird, dadurch zu schließen, dass eine neue Gerechtigkeitslücke bei den Älteren aufgerissen wird. ({1}) Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen: Wenn es nicht gelingt, die Erwerbsbeteiligung der Älteren in großem Umfang zu erhöhen, wird das zu einer Altersarmut erheblichen Ausmaßes führen. Wenn die Menschen keine Arbeit mehr haben, beginnt die Altersarmut schon in den Jahren, bevor sie in Rente gehen. Sie setzt sich natürlich fort, wenn die Menschen Rente beziehen, weil weniger eingezahlt worden ist. Das Programm 50 plus reicht bei weitem nicht aus, um dieses Problem zu lösen, und zwar weder quantitativ noch qualitativ. Ich will etwas zu den Zahlen sagen. 1,3 Millionen arbeitslose Menschen sind älter als 50. Mit den jetzt hier vorgestellten Programmen erreichen Sie, wenn alles supergut läuft, ({2}) 100 000 von ihnen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob Sie mit Ihren Programmen 100 000 Menschen erreichen können; ({3}) denn mit den Instrumenten Eingliederungszuschuss und Entgeltsicherung haben Sie 2006 nur 19 000 Menschen erreicht. Sie müssten die Zahl also signifikant steigern. Wir sind gerne bereit, Sie dabei zu unterstützen. Ich will deutlich sagen: Die Prognose ist zwar sehr positiv, aber gemessen an den Problemen, erreichen Sie nach wie vor viel zu wenig Menschen. ({4}) Die Frage ist, ob diese Instrumente die richtigen sind. Sie versuchen nämlich, mit ihnen angebliche Produktivitätsnachteile auszugleichen. Die Instrumente haben damit immer einen stigmatisierenden Charakter. Diese Stigmatisierung unterstützen Sie - auch das muss gesagt werden - mit Fehlanreizen, zum Beispiel mit der so genannten 58er-Regelung. ({5}) Diese Stigmatisierung gegenüber Ältern unterstützen Sie, wenn Sie Altersteilzeitregelungen treffen. In besonderem Maße gilt das, wenn bei Post und Telekom jetzt 15 000 ältere Beschäftigte mit aktiver Unterstützung dieser Bundesregierung in den Vorruhestand gehen. ({6}) Sie fordern die Unternehmen auf, Vorurteile gegenüber Älteren abzulegen, produzieren diese Vorurteile aber durch Ihr eigenes Handeln immer wieder neu. Gleichzeitig fehlt Ihnen leider völlig der Ehrgeiz, die Beschäftigungsfähigkeit der älteren Menschen zu erhalten, sie zum Beispiel durch mehr und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten arbeitsfähig zu halten; denn mit den 5 Millionen Euro, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf für die Weiterbildung von Beschäftigten einsetzen wollen, ({7}) erreichen Sie rechnerisch - jetzt hören Sie genau zu 790 Beschäftigte. So viel zur Dimension des Problems und zur Lösung, die Sie hier vorschlagen. Das Programm 50 plus ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist sogar weniger. Herr Grotthaus, Sie haben die Chance, die Ausweitung des Prinzips des lebenslangen Lernens auf die Mitarbeiter kleiner und mittlerer Betriebe grundlegend anzustoßen, vertan, obwohl Sie selbst genau das fordern. Angesichts von 790 geförderten Leuten kann man doch nicht allen Ernstes davon sprechen. ({8}) Ich komme zum Schluss. In Zeiten der großen Koalition gilt einmal mehr: Älterwerden ist nicht schwer, alt zu sein dagegen sehr! Danke schön. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“, und mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Was hat uns der frühe Prophet des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung, Udo Jürgens, zu sagen? ({0}) Wir leben länger, sind länger aktiv und bekommen auch länger Rente. Das stimmt. ({1}) Mir fällt dazu ein Fall aus meiner Bürgersprechstunde ein. Einem über 50-Jährigen, der einen Job suchte, habe ich gesagt, welche Firmen in meiner Heimat bevorzugt Ältere einstellen. Nach wenigen Wochen habe ich ihn wieder getroffen. Er hatte einen Job. ({2}) Wieso? ({3}) Der Arbeitgeber suchte eine qualifizierte Kraft mit Erfahrung. Ich weiß, dass jetzt viele mit Gegenbeispielen kommen. Natürlich haben sie Recht: Gerade Ältere ohne Ausbildung haben am Arbeitsmarkt geringe Chancen. Das wissen wir alle. Aber der Unterschied zu uns Sozialdemokraten ist: Wir sind der festen Überzeugung, dass wir handeln können. ({4}) Denn mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Mit 50 Jahren gehört niemand zum alten Eisen. ({5}) Deshalb bringen wir heute die Initiative „50 plus“ auf den Weg. Mit ihr werden wir den Arbeitsmarkt für Ältere verändern. Sie wird nächstes Jahr starten. Mit der Initiative „50 plus“ fördern wir lebenslanges Lernen, schaffen finanzielle Anreize zur Beschäftigung Älterer und entwickeln neue Methoden zur Verbesserung der Arbeitsplätze, humanisieren also die Arbeitswelt. Denn nur wer gesund ist, kann bis 65 oder 67 arbeiten. ({6}) Wir verbinden die Initiative „50 plus“ mit der Rente ab 67. Die Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zukunftsfest zu machen und den Generationenvertrag fortzuführen. Mit der Initiative „50 plus“ liegen die Instrumente auf dem Tisch, mit denen für Ältere der Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Hier und heute will ich mit einigen Vorurteilen aufräumen. ({7}) Erstens. Rentnerinnen und Rentner - ich kann nur hoffen, dass mir viele zu Hause vor den Bildschirmen zuhören ({8}) sind von der Rente ab 67 nicht betroffen. Für sie ändert sich nichts. ({9}) Zweitens. Erst ein heute 42-Jähriger ist voll von der Rente ab 67 betroffen. Aber er lebt auch in der festen Sicherheit, dass er durchschnittlich drei Jahre länger Rente bezieht als ein heutiger Rentner, und wahrscheinlich hat er mit seinem Berufsleben später angefangen. ({10}) Drittens. Die Rente ab 67 hat mit den heutigen Arbeitslosenzahlen - sie sind zum Glück auf unter 4 Millionen gesunken - nichts zu tun. ({11}) Denn erst 2012 starten wir mit der schrittweisen Umsetzung der Rente ab 67, die nach 17 Jahren abgeschlossen ist, also nachdem die Initiative „50 plus“ ihre Wirkung entfaltet hat und wir in Deutschland händeringend Fachkräfte suchen werden. ({12}) Viertens. Es gibt schon heute Betriebe, die Ältere gerne einstellen, zum Beispiel die Firma Härter aus Königsbach-Stein in meiner Heimat. ({13}) Denn gerade Ältere sind leistungsbereit und motiviert. Mehr noch: Ältere bewahren in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf. ({14}) Die Firma Härter wurde deshalb letzte Woche von unserem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering, als Unternehmen mit Weitblick ausgezeichnet. ({15}) Ich bin der festen Überzeugung: Politik kann den Mentalitätswandel in den Köpfen beeinflussen. Nur wer gute Beispiele kennt, kann diese nachahmen. Deshalb fordere ich alle hier im Haus auf, gute Beispiele vor Ort immer wieder bekannt zu machen. Fünftens. Gerade ältere Arbeitnehmer haben Angst, dass sie nach vielen Berufsjahren nicht mehr arbeiten können, die Rente erst ab 67 bekommen und davor schauen müssen, wo sie bleiben. In diesem Fall gibt es schon heute die Erwerbsminderungsrente. Sie müssen wir noch einmal unter die Lupe nehmen, um denen, die nicht mehr können, eine echte Perspektive zu bieten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Das ist der nachsorgende Sozialstaat. Wir müssen den vorsorgenden Sozialstaat konsequent stärken. Es kann nicht sein, dass Arbeit die Menschen krank macht. Deshalb muss die Arbeitsplatzqualität in den Betrieben verbessert werden. Teilhabe bis 67 ist dabei das Ziel aller. Alle, das sind: Betriebsräte, Arbeitgeber, jeder Einzelne und die Politik. ({16}) Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen arbeiten wollen. Sie wollen Teilhabe und das geht in der Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit. Deshalb ist unsere Strategie richtig: zuerst die Initiative „50 plus“, die mehr Jobs für Ältere fördert, und dann im zweiten Schritt die langsame Anpassung der Rente an die Bevölkerungsentwicklung. Bei steigender Lebenserwartung führen wir damit den Generationenvertrag fort und verbessern die Generationengerechtigkeit. ({17}) Älter werden wollen wir, Mitmachen fördern wir und dass wir das können, dafür kämpfen wir. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im nächsten Monat, am 21. Januar 2007, feiert die dynamische Rente in Deutschland ihren 50. Geburtstag. Vor genau 50 Jahren ist die dynamische Rente, eine der größten sozialpolitischen Leistungen unseres Landes, beschlossen worden. ({0}) Wir wollen mit der Rentenreform, die wir heute in den Bundestag einbringen, dafür sorgen, dass die Rente in Deutschland nicht lahmt, sondern auch in Zukunft dynamisch bleibt. Darum geht es. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor 50 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern bei 66 Jahren, die von Frauen bei 71 Jahren. Im Jahr 2030, wenn die heutige Reform voll greift, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bei fast 81 Jahren, die einer Frau sogar bei 86 Jahren. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Dabei muss man aber auch berücksichtigten, dass wir uns in den kommenden Jahren auf ein Schrumpfen unserer Bevölkerung einstellen müssen. Jede neue Generation wird um etwa ein Drittel kleiner sein als ihre Elterngeneration. Das ist übrigens die entscheidende Zahl, die der Kollege Gysi in seinen Rechenbeispielen vergessen hat, weswegen sie von vorn bis hinten nicht stimmen. ({2}) Auf diese Fakten muss der Gesetzgeber reagieren, damit die Rentenversicherung für alle Generationen ein verlässliches und leistungsstarkes Instrument der Alterssicherung bleibt. Ich behaupte: Egal wer regiert, ({3}) niemand kann der Notwendigkeit zur Anhebung der Regelaltersgrenze ausweichen, es sei denn, er will die gesetzliche Rente bewusst gegen die Wand fahren. Die große Koalition handelt rechtzeitig. Wir beschließen jetzt die Anhebung der Regelaltersgrenze. Wie Frau Kollegin Mast gesagt hat, sind die nächsten Rentnergenerationen davon aber überhaupt nicht betroffen. Wir starten schrittweise ab dem Jahr 2012 und erreichen die neue Regelaltersgrenze für die, die dann in Rente gehen, im Jahr 2029. Peter Weiß ({4}) ({5}) - Ja, 2029, Herr Tauss. ({6}) Wir stellen die Weichen also rechtzeitig und vorausschauend. Wer bei der Rente mit 67 nicht mitmachen will, der steckt den Kopf in den Sand und flieht aus der rentenpolitischen Verantwortung. ({7}) Die Polemik gegen die Rente mit 67 wird mit dem Argument geführt, dabei handele es sich um eine verkappte Rentenkürzung. ({8}) Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es auf ganz drastische Weise formulieren: Diese Behauptung ist schlichtweg eine Lüge. ({9}) Fakt ist: Erstens. Die Anhebung der Regelaltersgrenze um zwei Jahre bis zum Jahr 2029 entspricht der Steigerung der Lebenserwartung. Das heißt, die durchschnittliche Rentenbezugsdauer desjenigen, der im Jahr 2029 in Rente geht, ist nicht kürzer als die Rentenbezugsdauer desjenigen, der heute in Rente geht, sondern sie ist eher länger. Das, was wir beschließen, hat also nichts mit einer Rentenkürzung zu tun. Zweitens. Man muss darauf hinweisen, dass durch die Rente mit 67 das Verhältnis zwischen aktiven Erwerbstätigen einerseits und Rentnerinnen und Rentnern andererseits verbessert wird. Der in der Rentenformel enthaltene so genannte Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt, ({10}) dass angesichts einer solch positiven Veränderung wieder Rentenerhöhungen ermöglicht werden. Um es klar und deutlich zu sagen: Wer für die Rente mit 67 stimmt, der macht Rentenerhöhungen erst wieder möglich. ({11}) Wer gegen die Rente mit 67 stimmt, gehört zur Fraktion der potenziellen Rentenkürzer. Das sind die Fakten. ({12}) Wer lange gearbeitet hat und durch langjährige Beitragszahlung in besonderer Weise zur Leistungsfähigkeit der Rente beigetragen hat, dem geben wir die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren schon mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Ich möchte betonen: Die 45-Jahre-Regelung ist keine Benachteiligung anderer, ({13}) sondern eine Belohnung für ein langes und aktives Berufsleben. ({14}) Daher ist die 45-Jahre-Regelung in meinen Augen ein Schlüssel zur Akzeptanz des neuen Rentenrechts. ({15}) Zur Anhebung der Regelaltersgrenze gehört als zweite Seite ein und derselben Medaille - deswegen die beiden Gesetzentwürfe, die wir heute gemeinsam beraten - die Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Initiative „50 plus“. Auch wenn viele etwas anderes behaupten, haben wir da in den letzten Jahren schon gewisse Fortschritte erzielt. Im Jahr 2000 lag die Quote der 55- bis 65-Jährigen, die noch im Erwerbsleben standen, bei nur 37,5 Prozent. ({16}) Im Jahr 2005 lag sie immerhin bei 45 Prozent. Das war wenigstens eine kleine Verbesserung. Aber es ist immer noch viel zu wenig. Deswegen wollen wir den positiven Trend durch die Initiative „50 plus“ massiv verstärken. ({17}) Was unsere Nachbarländer, vor allen Dingen im Norden Europas, zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschafft haben, können wir auch in Deutschland schaffen. Wir brauchen dafür einen Aktionsplan aller Akteure für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre, nicht nur der Politik - etwa in Form eines Gesetzentwurfes, wie wir ihn heute beraten -, sondern auch der Tarifpartner, der Wirtschaft, der Medien. Wir brauchen eine Veränderung des Bewusstseins dahin gehend, dass die Erfahrung und die Kompetenz Älterer unsere Wirtschaft und unser Land voranbringen können. ({18}) Ich finde, mit den beiden Gesetzesvorhaben zeigt die Bundesregierung, dass sie vorausschauend handelt. Es gehört in der Tat Mut dazu, in der Politik etwas zu tun, was auf den ersten Blick bei vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht besonders beliebt ist. Diese große Koalition hat den Mut, das Notwendige vorausschauend zu tun. Deswegen, behaupte ich, wird sie Erfolg haben. Vielen Dank. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Anton Schaaf für die SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Diskussion über die Zukunft der Rente ist immer eine verkürzte Diskussion; denn in der Regel steht dabei die Finanzierbarkeit der Rente im Vordergrund. Ich glaube, die Diskussion ist verkürzt, weil die Alterung der Gesellschaft, der demografische Wandel auch eine gesellschaftliche und nicht nur eine finanzielle Herausforderung ist. ({0}) Die finanziellen Fragen kann man sicherlich schlicht beantworten, indem man die Beiträge erhöht. Das kann man machen. Oder man erhöht einfach den Steuerzuschuss. Übrigens, Herr Gysi, hat es nicht nur Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deutschen Einheit gegeben. Wir lassen der Rentenversicherung jedes Jahr einen Zuschuss von 78 Milliarden Euro für die Aufgaben zukommen, die über die reinen Rentenzahlungen hinaus zu leisten sind. In dieser Hinsicht wird ja immer von versicherungsfremden Leistungen gesprochen. Ich finde, dass beispielsweise die Anerkennung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremde Leistung ist. ({1}) Das ist eine sozialpolitische Leistung, die genau da angesiedelt gehört, wo sie es jetzt ist: bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Also: Wir führen eine verkürzte Diskussion. Dass wir in unserem Lande mehr ältere Menschen haben, ist kein Problem; da hat Gysi völlig Recht. Die Frage ist aber, ob die Bevölkerungsentwicklung insgesamt mit der Alterung der Gesellschaft Schritt hält, ob also genügend Junge nachwachsen. Da müssen wir schlichtweg konstatieren: Die Gesellschaft wird im Schnitt immer älter, und zwar deshalb, weil immer weniger Junge nachkommen. Das ist die gesellschaftliche Herausforderung, auf die wir eine Antwort geben müssen. ({2}) Eines ist völlig klar: Jemand, der 50 oder 55 Jahre alt ist, darf in diesem Land nicht als alt gelten und vor diesem Hintergrund aus den Erwerbsprozessen gedrängt werden. Das ist der entscheidende Punkt. ({3}) Frau Pothmer hat gesagt, dafür reicht unser Programm „50 plus“ nicht aus. In der Tat, Frau Pothmer: Es reicht nicht aus, definitiv nicht. Die Erkenntnis, dass man mit 50 nicht alt ist, muss bei den Verantwortlichen in den Betrieben wachsen. ({4}) Das ist eine Grundvoraussetzung, um die Beschäftigungsfähigkeit Älterer zu erhöhen. Übrigens haben wir dafür in den letzten beiden Legislaturperioden im Rahmen der Betriebsverfassung enorme Möglichkeiten geschaffen, was den Gesundheitsschutz am Arbeitplatz oder was Weiterbildung und Qualifizierung angeht. Die Tarifpartner sind aufgefordert, diese Möglichkeiten auch zu nutzen. ({5}) Es hieß, wir hätten in der Frage der Erwerbsminderung populäre Ausnahmen gemacht. ({6}) - „Populistische Ausnahmen“, haben Sie gesagt, Herr Kolb, genau. - Als Antwort darauf sage ich sehr deutlich: Ich werde mich auf gar keinen Fall damit abfinden, dass Arbeit dazu führt, dass Menschen wirklich krank werden. ({7}) Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Realitäten anschaut, dann muss man feststellen, dass das oftmals leider noch so ist. Deswegen ist es völlig richtig: Solange Arbeit Menschen tatsächlich krank und kaputtmacht, müssen die bisherigen Regelungen zur Erwerbsminderung beibehalten werden. ({8}) Ich bin froh, dass unser Koalitionspartner in diesem Punkt mitgemacht hat und wir die Regelungen zur Erwerbsminderung so belassen konnten, wie sie im Gesetz sind, und nicht verändern mussten: Zugang mit 60 Jahren, abschlagsfrei mit 63 Jahren. ({9}) Das war unsere Leistung. Wir sprechen über die Menschen, die sich kaputt gearbeitet haben und die über die Erwerbsminderung die Möglichkeit haben, zukünftig mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Es ist eine sozialpolitische Frage: Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen so ändern, dass Menschen nicht durch Arbeit krank werden - Herr Kolb, Sie könnten einiges bei Ihrer Klientel, den Unternehmern, dafür tun -, dann bräuchten wir auch keine Erwerbsminderungsrente mehr. ({10}) Das ist ganz klar. Dann kommen wir ohne weiteres voll und ganz zusammen. Ich möchte noch etwas zum Änderungsantrag der FDP sagen. Die FDP schreibt, wir sollten hinsichtlich der Annahmen - es sind keine Prognosen, sondern Annahmen -, die der Rentenversicherungsbericht zur Entwicklung gibt, zurückhaltender sein. Der Sozialbeirat hat uns durchaus ein gutes Zeugnis ausgestellt. ({11}) Sie sagen, unsere Annahme eines durchschnittlichen Lohnzuwachses von 2,5 Prozent, den wir erwarten, sei deutlich zu positiv. Ich kann Ihnen auch sagen, wieso Sie das sagen: Ihr Kollege Niebel hat in einer TV-Show auf die Frage, ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht partizipieren sollten, geantwortet: Ja, aber nicht über prozentuale Lohnerhöhungen. Wenn man keine prozentualen Lohnerhöhungen haben möchte, dann ist auch die Annahme, die Prognose falsch; das ist doch völlig klar. ({12}) Heute sind wir in einer Situation, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem wirtschaftlichen Erfolg, den wir aufgrund der Arbeit, die die alte Regierung, aber auch die neue Regierung gemacht hat, zu konstatieren haben, partizipieren müssen, und zwar vernünftig. Das entlastet die Sozialkassen, und zwar wirklich nachhaltig. ({13}) Zu der Frage, ob die Rente mit 67 nicht eine verkappte Rentenkürzung ist. Populistisch kann man so sicherlich argumentieren. ({14}) Allerdings müsste man dann gleichermaßen auch Folgendes sagen: In den 60er-Jahren hatten wir eine durchschnittliche Rentenbezugszeit von zehn Jahren, heute sind es 17 Jahre. Das bedeutet im Prinzip eine gigantische Rentenerhöhung. Wir haben den Menschen viel mehr gegeben, da sie viel länger Rente beziehen. Anders kann man aus meiner Sicht nicht sauber argumentieren. Das ist nicht redlich. ({15}) Damit macht man den Menschen schlichtweg Angst. Zum Schluss möchte ich auf die Rede von Herrn Gysi eingehen. Herr Gysi, in der Tat haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass viele Menschen die Rente mit 67 ablehnen. Aus ihrer persönlichen Situation heraus ist das auch völlig nachvollziehbar, schließlich ist es eine Belastung. Das gilt übrigens nicht für die Rentner von morgen, auch nicht von übermorgen. Wir sollten in unseren Statements auch nicht so tun, als wäre das so, sondern sagen, was tatsächlich absehbar ist, damit es planbar und für die Menschen handhabbar ist. Dass es eine Belastung ist, werde ich nicht negieren, an keiner Stelle. Dass viele Menschen das nicht wollen, ist völlig klar. Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der nachfolgenden Generationen handeln. ({16}) Dass das von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der Menschen handeln. Das ist völlig widersinnig. Das sozialdemokratische Interesse gilt primär den sozialen Sicherungssystemen. Ich sage als Bekenntnis eindeutig: Uns geht es bei den Maßnahmen, die wir nicht nur vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages, sondern auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse, die man selber gesammelt hat, ergreifen müssen, darum, die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer als paritätische und solidarische Sicherungssysteme zu erhalten. ({17}) Das bedingt, dass man bereit ist, sich selbst zu verändern. Vor dem Hintergrund der weltweiten, europaweiten, aber auch nationalen Entwicklung, vor dem Hintergrund der Globalisierung haben wir Handlungsbedarf. Dieser Handlungsbedarf, dem wir jetzt Rechnung tragen, ist allemal im Interesse der Menschen. So agieren wir. Danke. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3793, 16/3794, 16/3027, 16/3676, 16/3815, 16/3812, 16/3700 und 16/907 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 k sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: 29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln ({0}) - Drucksache 16/3654 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität ({2}) - Drucksache 16/3656 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - Drucksache 16/3657 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Arbeit und Soziales d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln ({5}) - Drucksache 16/3658 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport - Drucksache 16/3712 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({7}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister - Drucksache 16/3755 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Innenausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchführung der Verordnung ({9}) Nr. 166/2006 - Drucksache 16/3756 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Innenausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirksam, unbürokratisch und marktwirtschaftlich gestalten - Drucksache 16/3318 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb, Norbert Geis, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf Körper, Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ächtung des Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 - Drucksache 16/3811 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({12}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Börsengang der Bahn stoppen - Drucksache 16/3801 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Deutsche Flugsicherung europarechtlichen Rahmenbedingungen anpassen - Drucksache 16/3803 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen - Drucksache 16/3711 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({15}) Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit ermöglichen - Künstlerdienste sichern - Drucksache 16/3779

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Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist ebenfalls der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a bis 30 s sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 j. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 11. April 1997 über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region - Drucksache 16/1291 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) - Drucksache 16/3669 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Ernst Dieter Rossmann Uwe Barth Cornelia Hirsch Kai Gehring Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 16/3669, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft - Drucksache 16/513 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 16/3837 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Christine Lambrecht Wolfgang Nešković Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3837, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes - Drucksache 16/2857 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 16/3833 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Mechthild Dyckmans Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3833, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Budapester Übereinkommen vom 22. Juni 2001 über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt ({4}) - Drucksache 16/3225 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 16/3834 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3834, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit derselben Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 30 e: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen - Drucksache 16/3250 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6}) - Drucksache 16/3836 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Christine Lambrecht Joachim Stünker Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Haager Übereinkommens vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen - Drucksache 16/3251 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 16/3836 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Christine Lambrecht Joachim Stünker Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 30 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern - Drucksachen 16/2079, 16/3213 Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Kranz Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2079 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ablehnung der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({10}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Qualität der Mauterfassung durch unabhängigen Versuch nachweisen und Kontrollverfahren zertifizieren - Drucksachen 16/1680, 16/3264 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1680 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den StimVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 i: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette ({12}) KOM ({13}) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06 - Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554 Berichterstattung: Abgeordneter Hubert Deittert Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 j: Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu 44 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 16/3600 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Carl-Christian Dressel Petra Merkel ({14}) Ulrich Maurer Silke Stokar von Neuforn Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 30 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 144 zu Petitionen - Drucksache 16/3625 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 144 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 145 zu Petitionen - Drucksache 16/3626 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch Sammelübersicht 145 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 146 zu Petitionen - Drucksache 16/3627 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 147 zu Petitionen - Drucksache 16/3628 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 147 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 148 zu Petitionen - Drucksache 16/3629 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 149 zu Petitionen - Drucksache 16/3630 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 q: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 150 zu Petitionen - Drucksache 16/3631 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 150 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltungen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 r: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 151 zu Petitionen - Drucksache 16/3632 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 151 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDPFraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 s: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 152 zu Petitionen - Drucksache 16/3633 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 152 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 5 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 153 zu Petitionen - Drucksache 16/3817 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 154 zu Petitionen - Drucksache 16/3818 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 154 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 155 zu Petitionen - Drucksache 16/3819 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zusatzpunkt 5 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 156 zu Petitionen - Drucksache 16/3820 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 157 zu Petitionen - Drucksache 16/3821 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 158 zu Petitionen - Drucksache 16/3822 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 5 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 159 zu Petitionen - Drucksache 16/3823 Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 h: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 160 zu Petitionen - Drucksache 16/3824 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 5 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 161 zu Petitionen - Drucksache 16/3825 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 161 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Damit haben wir diesen Teil der Abstimmungen abgeschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit ({33}) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Wort. ({34})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer verheerenden Mixtur aus grundrechtlicher Ignoranz, verfassungsrechtlicher Inkompetenz und gesetzgeberischem Aktionismus scheinen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, nach Kräften zu bemühen, unsere rechtspolitische Kultur, die einmal als Glanzstück des bundesrepublikanischen Parlamentarismus galt, in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. ({0}) Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht in engsten nächtlichen Koalitionszirkeln kurzfristig ausgebrütet worden wäre! ({1}) Kaum ein wichtiges Gesetz, das mit der gebotenen Achtsamkeit und Sorgfalt hinsichtlich seiner Wirkungen, verfassungsrechtlichen Bezüge und Probleme erarbeitet und beraten worden wäre! ({2}) Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht ohne Rücksicht auf gute parlamentarische Gepflogenheiten im Eilverfahren durch den Bundestag und den Bundesrat gepeitscht worden wäre! ({3}) Die Liste der blamablen Folgen dieser hektischen Politik ist lang. Das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl wurde vom Bundesverfassungsgericht in toto für verfassungswidrig erklärt. Ebenso drastisch urteilte das Bundesverfassungsgericht über das Luftsicherheitsgesetz, dessen § 14 Abs. 3, mit dem die Streitkräfte zum Abschuss ziviler Flugzeuge ermächtigt werden sollten, verfassungswidrig ist. Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung scheitert wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit bereits am Bundespräsidenten, der die Ausfertigung des Gesetzes verweigert. Dem Verbraucherinformationsgesetz wird das gleiche Schicksal zuteil werden. Das Gesetz, das ihm als Entwurf vorgelegt wurde, sei, so der Bundespräsident, ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz. ({4}) Noch peinlicher ist, dass sich der Bundespräsident in seiner Einschätzung genau auf jene grundgesetzlichen Regelungen bezieht, die im Rahmen der Föderalismusreform gerade erst vor wenigen Monaten von der Koalition geändert wurden. Kennen Sie diese Gesetzesänderungen gar nicht? ({5}) Nun erfahren wir, dass die Verfassungskonformität des gerade erst von den Koalitionsfraktionen verabschiedeten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bundes an den Unterbringungskosten von ALG-II-Empfängern mittlerweile selbst in den Reihen der Koalitionsparteien bezweifelt wird. Ähnliches gilt für die mit riesigem publizistischem Aufwand gegen die Opposition und gegen den Sachverstand fast aller Fachleute angekündigte Gesundheitsreform, an der - so muss nun der Kollege Bosbach einräumen - erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel bestehen. Nicht um die politische Auseinandersetzung, sondern um die Inhalte geht es hier. ({6}) Angesichts all dieser peinlichen Vorgänge ist es nur ein arg dämmeriger Lichtblick, dass das ebenfalls mit großem publizistischem Aufwand angekündigte Nichtraucherschutzvorhaben wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit gerade noch rechtzeitig auf Bundesebene aufgegeben wurde. Man könnte diese traurige Bilanz großkoalitionärer Rechtspolitik mit Zynismus quittieren, träfen die Folgen dieser Art von Politik nicht uns alle. Als Oppositionspolitikerin würde ich mich über die offensichtliche Überforderung der großen Koalition gerne freuen können, beförderten die Folgen dieser Art von Politik in der Öffentlichkeit nicht genau jene Zweifel an der parlamen7262 tarischen Demokratie, die der politischen Apathie und den äußersten Rändern des politischen Spektrums Auftrieb geben. ({7}) Verlässlichkeit - so hat heute Morgen Herr Ramsauer gesagt - ist der Maßstab für Politik, damit Vertrauen entsteht. Halten Sie sich an diese Aufforderung! ({8}) Die Liste der gesetzgeberischen Fehlleistungen der großen Koalition droht länger zu werden. Lassen Sie mich nur auf ein bevorstehendes Vorhaben hinweisen, das unter grundrechtlichen Gesichtspunkten unsäglich ist, nämlich die Anbieter von elektronischen Kommunikationsdiensten zur Speicherung der bei ihnen anfallenden Kommunikationsdaten auf Vorrat zu verpflichten. Mit der Übernahme der europarechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der von der Bundesregierung mitgetragenen Richtlinie zur Vorratspeicherung ergeben, geht die Bundesregierung bewusst ein Risiko ein, nämlich das Risiko eines schweren Verfassungskonflikts zwischen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. ({9}) Ich kann Sie nur bitten: Lassen Sie im Interesse des deutschen Parlamentarismus davon ab, die Verfassung, unser Grundgesetz, als Feind, als Gefängnis zu sehen, aus dem man nach Möglichkeit ausbrechen sollte. Lassen Sie davon ab, über den Bundespräsidenten und dessen pflichtgemäße Entscheidungen zu lamentieren und in einer noch nie da gewesenen Form das Verfassungsorgan Bundespräsident zu beschädigen. ({10}) Seien Sie froh, dass wegen einer ernsthaften Prüfung eine nächste Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht vermieden wird. Es stünde Ihnen besser an, dafür Sorge zu tragen, dass das Bundesinnen- und das Bundesjustizministerium ihren einmal als vornehm angesehenen Aufgaben als Verfassungsressorts, als Notare der Regierung, wieder gerecht werden können: Gründlichkeit vor Schnelligkeit, Achtung und Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Bedenken vor einer schnell getroffenen politischen Entscheidung! Fangen Sie damit an, dann haben Sie unsere Unterstützung. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion.

Andreas Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001999, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, die Art und Weise, in der Sie hier gesprochen haben, wird dem Thema nicht gerecht. ({0}) Auch unserer gemeinsamen Verantwortung in diesem Haus sind Sie nicht gerecht geworden. ({1}) Das Thema ist ja nicht neu. Es ist meistens ein Thema der Opposition. Die Opposition kritisiert, die Koalitionsfraktionen verteidigen, und jeder von uns war ja auch schon einmal in jeder Rolle. Insofern ist auch die Debatte nicht neu. ({2}) Sie haben schon einmal in einer anderen Rolle hier gesprochen; damals haben Sie mehr verteidigt. ({3}) - Hören Sie mir doch einmal zu. Wir wollen doch ein gutes Bild in der Öffentlichkeit abgeben. - Wir sollten die Debatte grundsätzlich führen. Die Geländegewinne, die Sie vielleicht kurzfristig haben werden, werden nicht sehr nachhaltig sein. Wir sollten zu diesem Thema über unser Selbstverständnis sehr ausführlich sprechen, und zwar nicht nur in einer Aktuellen Stunde, sondern etwas länger. ({4}) Nichts ist so gut, als dass es nicht verbesserungsfähig ist. Natürlich hat es Fehler gegeben. Ich finde, es steht uns gut an, diese einzugestehen. Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als hätten wir alle rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord geworfen. Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ist Ihr Debattenstil ein anderer. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass wir gestern im Rechtsausschuss von Ihnen sehr viele lobende Worte über Gesetzesvorhaben gehört haben. ({5}) Es ist nämlich so, dass wir im Ausschuss sehr sachlich reden, dass wir nicht alles übernehmen, was die Regierung sagt, sondern es wird verbessert, es finden Anhörungen statt, es sind langwierige Verfahren. Das haben Sie gestern ausdrücklich gelobt. Dies hätte heute auch einmal gesagt werden können. ({6}) Ich will einige grundsätzliche Ausführungen machen. Wir als Parlament sind selbstbewusst genug, um zu sagen, dass wir eine bestimmte Verantwortung haben und nicht der Gesetzgebungsvollstrecker der Bundesregierung sind. In einer parlamentarischen Demokratie sind wir, das Parlament, der Chef. Das ist die Normalität. Ich habe das gerade gesagt. Wie oft werden Gesetzesvorschläge der Regierung nach Anhörungen und nach einer bestimmten Zeit - das geht alles sehr rechtsstaatlich und Andreas Schmidt ({7}) sehr gründlich vor sich - gemeinsam verändert und dann hier beschlossen? Es gilt auch bei uns der Grundsatz: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Jetzt möchte ich etwas zu der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen sagen. Sie haben schon oft behauptet, ein Gesetz sei verfassungswidrig, und das Bundesverfassungsgericht war anderer Meinung als Sie. Das Problem ist, dass wir hier in einem Bereich arbeiten, der nicht zu den Naturwissenschaften gehört. In den Naturwissenschaften können Sie etwas unter ein Mikroskop legen und sagen: So ist das. - Bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit ist das etwas schwieriger. ({8}) Es hängt oft von der Meinung ab, ob etwas als verfassungswidrig betrachtet wird. Deswegen möchte ich etwas zum Verfassungsgefüge sagen. Ich beteilige mich nicht an der Kritik des Bundespräsidenten. Das sollten wir nicht tun. Dennoch darf man etwas zum Verfassungsgefüge sagen. Wir bilden uns im Parlament eine Meinung darüber, ob etwas verfassungswidrig oder nicht verfassungswidrig ist. Sie können anderer Auffassung sein. Die Mehrheit bildet sich ihre Auffassung und bringt ein Gesetz mit der Mehrheit durch. Der Bundespräsident kann die Unterschrift verweigern. Das ist sein gutes Recht und das haben wir zu akzeptieren. Damit ist aber nicht festgestellt, ob das Gesetz verfassungswidrig ist. ({9}) Auch das ist richtig. Dem wird auch der Bundespräsident nicht widersprechen. Ob etwas verfassungswidrig ist, kann nur durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden. ({10}) Das Problem ist, dass ein Gesetz, das der Bundespräsident nicht unterschreibt, gar nicht überprüft werden kann. Das bedingt diese Entscheidung zwangsläufig. Das darf man bei allem Respekt hier sagen. Ich glaube, dass wir in Deutschland insgesamt das Problem haben, dass wir zu viele Gesetze machen. Darüber sollten wir einmal sprechen. Wir glauben, dass wir alle Lebensbereiche gesetzlich regeln müssen. Darüber müssen wir einmal grundsätzlich sprechen. Ich will auch davor warnen, in die Falle zu geraten, dass wir zu einem Reflexgesetzgeber werden. Immer wenn etwas in Deutschland passiert, erfolgt sofort der Ruf nach dem Gesetzgeber. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht von den Medien instrumentalisieren lassen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, was unser Selbstverständnis angeht. Ich will die Beispiele nennen: Auch mir hat die Einstellung des Verfahrens im Mannesmann-Prozess nicht gefallen. Sofort kam der Ruf nach dem Gesetzgeber und es wurde gefordert, die Strafprozessordnung müsse geändert werden. Im Fall des Schiedsrichters Hoyzer, der betrogen hat, sagte irgendein Staatsanwalt, dass der Tatbestand des Betrugs nicht erfüllt sei. Schon gibt es Kollegen, die fordern, den § 263 StGB zu ändern. Wenn wir immer nur reflexartig handeln, werden wir dem Hohen Haus keinen guten Dienst erweisen. ({11}) Deswegen, Frau Kollegin, sollten wir das Thema aufgreifen, wir sollten es aber nicht parteipolitisch instrumentalisieren. Wir sollten unserer Gesamtverantwortung als Parlament gerecht werden. Dann, so glaube ich, sind wir auf einem guten Weg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass sich der Kollege Schmidt bemühte, ein Stück weit abzulenken und abzuwiegeln, war zu erwarten. Sie kommen aber nicht daran vorbei, dass es noch nie eine so eindrucksvolle Kette von Fehlleistungen gegeben hat wie die, die hier von der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger aufgezählt worden ist. ({0}) - Schauen Sie nach, Herr Kollege, wie oft in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland der Bundespräsident in vergleichbaren Fällen interveniert hat. ({1}) Dann merken Sie, was hier eigentlich los ist. Gegen eines, was ich beim Kollegen Schmidt herausgehört habe, will ich mich ausdrücklich zur Wehr setzen. Er verfährt offenbar nach dem Motto: Wir machen jetzt einmal Gesetze und dann wird sich in einem offenen Prozess beim Bundesverfassungsgericht oder beim Präsidenten schon herausstellen, ob sie nun verfassungswidrig sind oder nicht. ({2}) So habe ich die Rolle des Parlaments bisher nicht interpretiert. Es darf nicht den permanenten Versuch unternehmen herauszufinden, ob die Gesetze, die es beschließt, verfassungswidrig sind oder nicht. ({3}) Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass neulich in der Debatte über den Entwurf des Justizmodernisierungsgesetzes der Sprecher der SPD auf die Feststellung der Kollegin von der FDP, dieser sei gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet, gesagt hat: Die haben auch nicht immer Recht. Der Gesetzgeber muss die Richter veranlassen, ihre Rechtsprechung zu ändern, indem man ein Gesetz macht, das gegen das, was die Richter bisher immer beschlossen haben, gerichtet ist. - Das ist eine Art von spielerischem Umgang mit der Verfassungsmäßigkeit, die wir nicht akzeptieren können. In diesem Bereich darf es keinen spielerischen Umgang geben. ({4}) Man kann ja über die Frage rätseln, wie so etwas zustande kommt. Ich glaube, dass es etwas mit den Gesetzmäßigkeiten der großen Koalition zu tun hat. Bei vertieftem Nachdenken kommt man darauf. ({5}) Erstens haben Sie einen bestimmten Machtrausch; das ist jedenfalls unser Eindruck. Ihre übergroße Mehrheit führt offensichtlich dazu, dass Sie zum einen - der Kollege Gysi hat heute Morgen darauf hingewiesen - in Ruhe permanent gegen die Mehrheit der Bevölkerung entscheiden können. Das wird uns irgendwann in eine Krise der repräsentativen Demokratie führen. Zum anderen haben Sie offensichtlich im Hinterkopf, dass Sie sich bei einer so großen Mehrheit, durch die auch die Oppositionsrechte, etwa beim Thema Normenkontrolle, sehr eingeschränkt sind, noch mehr leisten können. Das ist eine Art doppelte Ignoranz. Zweitens ist es bei Ihnen, glaube ich, so, dass Sie, wenn Sie sich in der großen Koalition unter großen Mühen, unter Berücksichtigung machtpolitischer Erwägungen, unter wechselseitiger Gesichtswahrung, auf irgendetwas geeinigt haben, dann so angestrengt waren, dass Sie auf das weitere parlamentarische Verfahren keine große Lust mehr hatten. Sie müssen einmal überprüfen, ob das bei Ihnen nicht der Fall ist. ({6}) Haben Sie so viel Anstrengendes hinter sich? Sie meinen, wenn alles so schwierig war, dann muss das, was man gefunden hat, die Wahrheit sein - oder jedenfalls das Einzige, was machbar ist. Diese ganzen Vorgänge werfen verschiedene Fragen auf: erstens - das hat die Kollegin zu Recht gesagt nach der Rolle der Ministerien, des Justizministeriums und des Innenministeriums, die den Gesetzgebungsgang eigentlich überprüfen müssten. Vielleicht sollten Sie das Justizministerium immer sofort zu Ihren Koalitionsgesprächen auf höchster Ebene hinzuziehen, ({7}) damit dessen Überlegungen gleich mit einfließen. Das wäre durchaus erwägenswert. Zweitens werfen sie die Frage auf, inwieweit das Parlament sozusagen durch den Koalitionsausschuss ersetzt wird. Wie groß ist Ihr Selbstbewusstsein ({8}) bei der Frage der verfassungsrechtlichen Überprüfung, die in der Tat dem gesamten Parlament obliegt und nicht nur der Opposition? Wann greifen Sie eigentlich unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit in Ihre eigenen großkoalitionären Debatten ein? ({9}) Drittens und letztens; das will ich zum Schluss sehr deutlich sagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in die Rolle komme, den Bundespräsidenten gegen Angriffe aus der großen Koalition verteidigen zu müssen. ({10}) Ich will Ihnen sagen, was ich zu dem Thema gelesen habe. Namhafte Leute haben sich zu der Aussage verstiegen, der Bundespräsident solle seine Prüfungskompetenz zurücknehmen und nur noch das zurückweisen, was sozusagen Otto Normalverbraucher vor dem Fernseher zu dem Satz „Oh, das ist ja verfassungswidrig!“ veranlasst. Die Ermahnungen, die erfolgt sind, sind geradezu dazu geeignet, eine institutionelle Krise heraufzubeschwören. ({11}) - Ja, natürlich! Passen Sie einmal auf: Ich kenne meine Landsleute ganz gut. Sie sind ziemlich nachhaltig, man könnte auch sagen: stur, wenn man ihnen auf diese Art und Weise kommt. Das kann man dem Herrn Bundespräsidenten nur empfehlen. Wollen Sie ihn im Ernst jetzt jedes Mal, wenn es Ihnen nicht passt, öffentlich zur Ordnung rufen? Was meinen Sie, wie das in der Bevölkerung ankommt, in der das Urteil - oder Vorurteil; wie Sie wollen -, „die da oben“ machten sowieso, was sie wollen, verbreitet ist, wenn die Menschen nun auch noch die Erfahrung machen, dass „die da oben“ auch gegenüber dem Bundespräsidenten machen, was sie wollen? ({12}) Was glauben Sie, was das in einer Demokratie auslöst? Deswegen kann ich Ihnen nur raten: keine lauten Töne mehr! Gehen Sie in diesem Punkt in sich; Sie erweisen uns dann allen einen Dienst! ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In politischer Hinsicht verstehen wir, dass die FDP eben, durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger sehr eindrucksvoll dargestellt, die apokalyptischen Reiter des demokratischen Antichristen hat galoppieren lassen. ({0}) Ich höre den Hufschlag immer noch. Mehr allerdings haben Sie auch nicht zu bieten. Sie tragen sozusagen die Schminke Ihrer eigenen Unfähigkeit sehr dick auf. ({1}) Lassen Sie mich zwei Bemerkungen vorausschicken. Erste Bemerkung. Sie haben eben das Verbraucherinformationsgesetz angeführt. Ich glaube, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dieses Gesetz ist denkbar ungeeignet, der Koalition eine Missachtung rechtstaatlicher Regeln vorzuwerfen. ({2}) Denn die Oppositionsparteien haben zwar gegen das Gesetz gestimmt. Aber die verfassungsrechtlichen Einwände, die aus dem Bundespräsidialamt gekommen sind, sind auch von Ihnen, der Opposition, damals bei den Beratungen des Gesetzentwurfs nicht artikuliert worden. Wir alle sitzen also in einem Boot. Wenn Sie uns auf die Nase hauen, dann sollten Sie sich auch an die eigene Nase fassen. ({3}) Zweite Bemerkung. Es ist für uns sicherlich nicht erfreulich, dass der Bundespräsident in kurzer Zeit zwei Gesetze nicht ausgefertigt hat. Aber im Gegensatz zu denjenigen, die den Parlamentarismus erst in den letzten sechs Jahren oder vielleicht noch gar nicht entdeckt haben, weiß ich, dass solche Vorkommnisse wie die Nichtausfertigung eines Gesetzes in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon immer vorgekommen sind. ({4}) Ich darf auch darauf hinweisen, dass in dieser Legislaturperiode eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet worden sind. ({5}) - Seien Sie einmal ganz ruhig. Sie sollten lieber an Ihre eigene Zeit im Justizministerium denken. ({6}) - Sie haben Ihre eigene Ministerin damals dazu getrieben, zurückzutreten. Seien Sie also ganz ruhig. ({7}) - Hören Sie einmal gut zu. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben uns vorhin pauschal Vorwürfe zu jedem Gesetz gemacht. Die Koalition hat 77 Gesetze auf den Weg gebracht. Sie wurden beraten, verabschiedet und ausgefertigt. Sie sind in Kraft getreten und haben sich in der Praxis bestens bewährt. Auch das muss man einmal deutlich sagen. ({8}) - Ihr pennälerhaftes Gelächter zeigt mir, dass ich mit meiner Einschätzung genau richtig liege. ({9}) Die Bundesregierung und hier insbesondere die Verfassungsressorts brauchen sich ihrer Arbeit nicht zu schämen. Sie prüfen alle Entwürfe in rechtsförmlicher und verfassungsmäßiger Hinsicht. ({10}) Dass diese Prüfung nicht selten unter erheblichem Zeitdruck erfolgen muss, haben diese Ressorts am wenigsten zu verantworten. Es ist auch nichts wirklich Neues. Jede Partei, die einmal Regierungsverantwortung getragen hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kompromissfindung innerhalb einer Koalition infolge des Drucks von Interessenverbänden und Medien und nicht zuletzt auch der Entscheidungsweg im Parlament selbst unter erheblichem Zeitdruck stehen. ({11}) Dass es den Verfassungsressorts trotzdem gelingt, bedenkliche Passagen fast immer rechtzeitig zu identifizieren und auch dann zu entschärfen, wenn dafür politische Kompromisse, für die nicht selten die Opposition verantwortlich zeichnet, neu justiert werden müssen, ist eine Leistung, die auch im heutigen Kontext nicht übersehen werden sollte. ({12}) Selbst wenn man von solchen äußerlichen Erschwernissen der Prüfung einmal absieht, bleibt eines unbestreitbar: Auch Verfassungsfragen sind Rechtsfragen. Über Rechtsfragen kann man sehr schnell geteilter Meinung sein und trefflich streiten. Selbst vor dem Bundesverfassungsgericht gibt es Überraschungen. Denn selten gibt es dort einstimmige Entscheidungen. Häufig können die Verfassungsrichter, die eine abweichende Meinung vertreten, mit beachtlichen Argumenten aufwarten. ({13}) Wer in einer juristischen Auseinandersetzung unterliegt, muss sich deshalb nicht automatisch vorwerfen lassen, er habe fehlerhaft gearbeitet. Viele von uns, die in juristischen Berufen tätig sind oder waren, haben das am eigenen Leibe erfahren. Man sollte das auch in der heutigen Diskussion nicht vergessen. Zum Schluss möchte ich eines hervorheben: Schon immer war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ein beliebtes und gängiges Mittel in der Auseinandersetzung. Studenten, die keine schlüssige Antwort auf Probleme haben, nutzen diesen Begriff oft als Totschlagargument und sonnen sich dann in ihrer Größe. In der Politik - ich will niemanden besonders ansprechen scheint mir das nicht anders zu sein. Selten führt eine inflationäre Verwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeit zu Gutem. Ganz im Gegenteil: Ich könnte mir vorstellen, dass diese inflationäre Verwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeit auch diejenigen, die es angeht, desensibilisieren kann. ({14}) - Ach wissen Sie, Herr Kollege, ich bin schon dankbar dafür, dass Sie sich ab und zu einmal zu Wort melden. Seit Sie wieder im Deutschen Bundestag sind, habe ich nämlich noch nichts von Ihnen gehört. Das ist heute richtig erfreulich. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn Sie ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit in Ihr politisches Denken bringen würden, ({15}) könnte diese Aktuelle Stunde vielleicht dazu führen, dass wir uns, so wie es Herr Schmidt angeboten hat - ich greife dies dankbar auf -, in aller Ruhe und sehr intensiv über die Frage unterhalten, wie wir gemeinsam zu noch besseren Gesetzen kommen können, als wir sie heute schon haben. Danke schön. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über das Thema der heutigen Aktuellen Stunde hat das Deutschlandradio vorgestern früh einen Vorbericht gesendet und dabei das Verhalten der Bundesregierung und der großen Koalition mit einem Zitat aus einem Western von Clint Eastwood zusammengefasst. Dieses Zitat will ich Ihnen nicht vorenthalten. Es lautet: „Ich reite in die Stadt und der Rest findet sich.“ ({0}) Diese Haltung ist für die FDP zu Recht Anlass für diese Aktuelle Stunde; wir kritisieren sie ebenso. Herr Kollege Schmidt, das meiste von dem, was Sie gesagt haben, unterschreibe ich. Es ist richtig: Wir sollten uns vor Populismus in der Gesetzgebung hüten. Wir sollten uns nicht von der öffentlichen Meinung treiben lassen. Aber worüber heute zu diskutieren ist, sind die Wurschtigkeit und die Beliebigkeit, die sich bei der Bundesregierung bei der Prüfung verfassungsgemäßer Fragen in der Gesetzgebung breit machen. ({1}) Ich sage Ihnen: Wenn sich der Kollege Olaf Scholz heute in der „Westfälischen Rundschau“ zu dem Thema unserer Aktuellen Stunde mit dem Satz zitieren lässt: „Er meint, ‚eine etwas lässigere Haltung’ würde dem Rechtsstaat helfen“, ({2}) dann trifft er das Problem bzw. den Nagel auf den Kopf. Darüber müssen wir uns unterhalten. ({3}) Den Beispielen, die von Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger umfassend dargestellt worden sind, will ich keine weiteren hinzufügen; fast alle wichtigen sind angesprochen worden. Einige wenige will ich aber aufgreifen und analysieren. Beim Verbraucherinformationsgesetz hatten wir folgendes Problem: In der Föderalismusreform hat die große Koalition das Grundgesetz geändert; den Kommunen dürfen keine Aufgaben mehr zugewiesen werden. Sie haben aber im Verbraucherinformationsgesetz den Kommunen Aufgaben zugewiesen. ({4}) - Aber selbstverständlich. ({5}) Sie hätten vom September bis heute die Möglichkeit gehabt, den Fehler, der aufgetreten ist, ganz leicht zu korrigieren, indem Sie in einem kurzen Änderungsgesetz die Zuweisungen an „die Kommunen“ in Zuweisungen an „die zuständigen Stellen“ umgewandelt hätten. ({6}) Wir werfen Ihnen vor, dass Sie, so stur und selbstzufrieden, wie Sie sind, monatelang im Nichtstun verharren und dann, wenn der Bundespräsident sagt, so gehe es nicht, er stoppe dieses Gesetz, an ihm herummeckern, ({7}) statt in sich zu gehen. Genau dies hat Ihnen der Kollege Wiefelspütz ins Stammbuch geschrieben. Dieser Poltergeist der Innenpolitik hat sich zu dem Thema der heutigen Aktuellen Stunde so geäußert: Es ist Zeit, dass die große Koalition Selbstkritik übt und einmal in sich geht. ({8}) Das bezog er auf genau die Themen, die wir jetzt hier besprechen. Wenn schon der Kollege Wiefelspütz das sagt, meine Damen und Herren, dann sollten Sie das tatsächlich beherzigen. Beim Gesundheitsschutz, beim Nichtraucherschutz haben wir das gleiche Problem. Natürlich ist jedem klar: Gaststättenrecht ist Landesrecht und der Gesundheitsschutz fällt unter das Bundesrecht. Die Bundesregierung und die große Koalition insgesamt hätten Monate Zeit gehabt, in dieser Diskussion, die für Hunderttausende von Menschen wichtig ist, eine Position zu beziehen. Aber Sie haben monatelang geschwiegen, die Debatte laufen lassen und, als die Angelegenheit fast vor dem Vollzug war, den Karren vor die Wand fahren lassen. Das ist es, was man Ihnen vorwerfen muss. ({9}) Ich könnte auch aus der fachpolitischen Diskussion des Rechtsausschusses und der Rechtspolitik zu dem Thema dieser Aktuellen Stunde viele Beispiele anführen; ich will aber nur ein einziges bringen. Beim Stalking hat es die Bundesregierung geschafft, innerhalb von wenigen Wochen bestimmte gesetzliche Formulierungen als verfassungsrechtlich höchst bedenklich zu bezeichnen, die auf durchgreifende Bedenken stoßen müssten, um dann sechs Wochen später zu dem gleichen Sachverhalt zu sagen: Es gibt null verfassungsrechtliche Bedenken; alles ist in Ordnung. Ein solches Hin und Her habe ich in den vier Jahren, in denen ich im Bundestag bin, nicht erlebt und niemand, der länger im Bundestag ist, hat mir berichten können, dass es so etwas schon einmal gegeben hätte. Ich komme zum Schluss. Die Dirigentin der Bundesregierung hat an Sie die Noten für einen Regierungsdurchmarsch verteilt. Aber Sie spielen nicht die Musik der Bundeskanzlerin, sondern völlig dissonante Melodien. Auf der rechten Seite spielen Sie deutsche Weisen; auf der linken Seite spielen Sie den Blues und das Ganze gerät zu einer verfassungsrechtlichen Chaos-Combo. Deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber auch in einer Aktuellen Stunde diskutieren, damit nämlich klar wird, dass es mit der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit in der großen Koalition so nicht weitergeht. Es ist die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten. Sie bekommen in dieser Frage von der Opposition keine Weihnachtsgeschenke, sondern ein Jahreszeugnis. Dieses lautet ganz eindeutig: Sie können es nicht. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich dem Kollegen Montag zuhörte, gewann ich den Eindruck, er hätte sich von der einen oder anderen exzellenten Rede inspirieren lassen, die wir von der CDU/CSU zu den Hochzeiten von Rot-Grün gehalten haben, als Sie damals mit Ihren Gesetzen aufgelaufen sind. Damals haben Sie unsere Reden mit dem Brustton ehrlicher Überzeugung und Empörung zurückgewiesen. Es gehört zur Ehrlichkeit und zur Sachlichkeit in dieser Debatte, dass wir einige grundlegende Fakten zur Kenntnis nehmen. Dazu gehört zunächst, dass für eine gute Gesetzgebung, die im formellen und materiellen Sinn dem Grundgesetz entspricht, alle beteiligten Verfassungsorgane gemeinsam die Verantwortung tragen, nicht nur die Bundesregierung allein, sondern auch der Bundesrat und das Parlament, der Bundestag. Ferner gehört dazu die Feststellung, dass, wenn wir uns die Zahl der Gesetze ansehen, die in den letzten 57 Jahren, der Zeit seit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, verabschiedet worden sind - der Kollege Schmidt hat, wie ich meine, zu Recht gesagt: Wahrscheinlich waren es viel zu viele; auch darüber muss man reden -, und diese Zahl mit der Zahl derjenigen Gesetze vergleichen, die nicht ausgefertigt wurden oder die vom Verfassungsgericht für ganz oder teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sind, ({0}) wir einsehen, dass diese Zahl sehr gering ist und dass diese Zahl, über die Jahre gesehen, im Wesentlichen gleich geblieben ist. Es stimmt eben nicht, wenn gesagt wird, dass es in den letzten Monaten oder Jahren einen signifikanten Anstieg gegeben hat. ({1}) Diese Bilanz spricht - das will ich als Vertreter eines Verfassungsressorts offensiv ansprechen - für die Qualität der Gesetzgebungsarbeit, für die Wirksamkeit der verfahrensmäßigen Vorkehrungen und auch - das füge ich ausdrücklich hinzu - für die Professionalität und die Kompetenz der Beamtinnen und Beamten in den beteiligten Häusern, die oft unter erheblichem Zeitdruck arbeiten. Dieser Zeitdruck wird bisweilen auch von uns Politikern verursacht, sowohl durch die Entscheidungen der jeweiligen Koalition als auch durch die Opposition, wenn sie sagt, dass eine notwendige Gesetzesmaßnahme aus ihrer Sicht am besten schon vorgestern hätte verabschiedet werden sollen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, aber auch ansprechen. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie wissen doch selbst, dass die verfassungsrechtliche Prüfung laufender Gesetzesvorhaben notwendigerweise hoch komplex ist, häufig von Wertungsfragen abhängig ist und mit guten Argumenten so oder so entschieden werden kann. Tun Sie doch nicht so, als ob jedes Gesetz, das vom Bundestag verabschiedet wird, ein Etikett trägt, auf dem „verfassungsrechtlich unbedenklich“ oder „eindeutig verfassungswidrig“ steht. Das ist eine Unterstellung, die mit der Praxis nichts zu tun hat. ({2}) Sie wissen doch genauso gut wie ich - jedenfalls die Experten unter Ihnen, die im Rechtsausschuss tätig waren oder sind -, dass Sie häufig zu ein und demselben Gesetzgebungsvorhaben genauso viele befürwortende wie ablehnende Gutachten von herausragenden Verfassungsjuristen beibringen können. ({3}) Dass der politische Meinungskampf über die Frage, welches Gesetz gewollt ist, zunehmend mit juristischen Fachgutachten ausgetragen wird, ist eine Modeerscheinung, die wir einmal gemeinsam hinterfragen sollten. ({4}) Ich wundere mich bisweilen über die Bandbreite verfassungsrechtlicher Auffassungen, je nachdem, wer der Auftraggeber für ein bestimmtes Gutachten im politischparlamentarischen Raum ist. ({5}) Die verfassungsrechtliche Prüfung vollzieht sich oftmals vor dem Hintergrund politischer Debatten, bei denen der Wünschbarkeit einer bestimmten Regelung Vorrang vor ihrer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eingeräumt wird. ({6}) Das Thema Nichtraucherschutz ist genannt worden. Dazu kann man stehen, wie man möchte. Wenn uns aber das Argument entgegengehalten wird, eine politisch gewollte Regelung dürfe nicht an den Ergebnissen der Föderalismusreform scheitern, dann sind selbstverständlich die Verfassungsressorts der Bundesregierung gefordert. Dieser Aufgabe werden sie gerecht, auch wenn das nicht auf allen Seiten des Hauses ausschließlich zur Freude gereicht. ({7}) Vor diesem Hintergrund ist es die wichtigste Aufgabe der Verfassungsressorts - Justizministerium und Innenministerium -, anerkannte und nachvollziehbare Maßstäbe für die Prüfung der Verfassungskonformität aufzustellen. Diese Maßstäbe dürfen nicht von Gesetz zu Gesetz neu festgelegt werden, sondern müssen generell gültig sein. Wir müssen uns in allen Fällen von ihnen leiten lassen, unabhängig von der politischen Wünschbarkeit eines Vorhabens. Ich meine, immer dann, wenn eine Gesetzesvorlage verfassungsrechtlich mit guten Argumenten vertretbar ist, sollten von der Regierung keine Einwände erhoben werden, sondern die politischen Entscheidungen des Parlaments respektiert werden. Wenn wir uns auf diesen Grundsatz einigen könnten, wären wir schon wesentlich weiter. Dann könnten wir sachlich darüber diskutieren, was bei der technischen Ausgestaltung des Prüfungsprozesses vielleicht noch verbessert werden kann. Ich bin im Übrigen der Auffassung, dass das Vorgehen der Bundesregierung dem von mir formulierten Prüfungsmaßstab in den beiden von Ihnen zuletzt angesprochenen Fällen durchaus gerecht geworden ist. Wenn Sie sich die Ausgestaltung unseres Gesetzgebungsverfahrens ansehen - von der Prüfung durch die Bundesregierung über die Prüfung im Rechtsausschuss des Bundesrates im so genannten ersten Durchgang, der Aufbereitung der verfassungsrechtlichen Fragestellungen für den Bundestag, der es dann seinerseits in Ausschussberatungen und Sachverständigenanhörungen vertiefen und weiter erörtern kann -, dann meine ich, dass wir verfahrensmäßige Garantien dafür haben, dass die Prüfung mit einem Höchstmaß an Seriosität und Gründlichkeit vorgenommen wird. Wir tragen für das, was zustande kommt, gemeinsam die Verantwortung. Ich möchte für die Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung - wer auch immer sie stellt - in Anspruch nehmen, dass wir alle gleichermaßen ausschließlich im Rahmen der Verfassung handeln wollen. Dieser Maßstab gilt für unsere Arbeit. Wir sind auch bereit, das in jedem einzelnen Fall konkret zu belegen. Für die Legitimität und die Glaubwürdigkeit unserer politisch-demokratischen Institutionen ist es schon wichtig, liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, wie wir miteinander umgehen. ({8}) Das war der Grund, warum mich der Stil Ihres Vortrags zu Beginn Ihrer Rede - auch wenn man über einzelne Argumente diskutieren kann ({9}) berührt hat. Ich glaube, dass wir ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend damit sein sollten, uns gegenseitig sach- und verfassungsfremde Motive oder unsachgemäße Arbeit zu unterstellen. ({10}) Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Auch zu Zeiten, als die FDP oder die Grünen an Bundesregierungen beteiligt waren, sollen einzelne Gesetze vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand gehabt haben. Es ist also keine neue Erscheinung, die Sie hier beklagen. Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Funktionsfähigkeit unserer verfassungsmäßigen Ordnung ist es wichtig, dass sich alle Verfassungsorgane, die in diesem oder einem späteren Stadium am Zustandekommen von Gesetzen beteiligt sind, gegenseitig mit Respekt begegnen. Dies gilt selbstverständlich auch für Entscheidungen des Bundespräsidenten. Soweit es im Laufe dieses Prozesses unterschiedliche Auffassungen zwischen den beteiligten Verfassungsorganen gibt, sind wir aufgerufen, gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine Lösung zu finden, die vor dem Grundgesetz und vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. In den wenigen Fällen, in denen die unterschiedlichen Auffassungen durch eine Entscheidung des Bundespräsidenten oder durch Entscheidungen in einem bestimmten Verfahrensstadium deutlich werden, sind wir aufgerufen, schnellstmöglich, nachvollziehbar und transparent einen neuen überzeugenden Vorschlag zu machen. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies auch im vorliegenden Fall gelingen wird. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde dient dazu, Themen, die die Bevölkerung aktuell bewegen, hier im Disput darzustellen und Meinungen darüber auszutauschen. Herr Staatssekretär Hartenbach, Ihr Beitrag diente nicht diesem Zweck und war dieses Hauses nicht würdig. ({0}) Herr Staatssekretär Hartenbach, es ist für mich nicht nachvollziehbar, wie Sie sich hier hinstellen und so tun können, als sei überhaupt nichts gewesen. Sie vertreten ein Verfassungsministerium. Sie haben Gesetze auf Verfassungskonformität zu prüfen. Sie aber stellen sich hierher, sagen, es sei überhaupt nichts gewesen, und lesen vor, was man Ihnen aufgeschrieben hat. Dieser Stil ist dieses Hauses nicht würdig. ({1}) Ich darf, damit die Kritik nicht nur von uns kommt, eine kurze Zeitungspassage vorlesen. Ich könnte viele Zeitungen dafür nehmen. In der heutigen Ausgabe der „Stuttgarter Zeitung“ steht: Die beiden Volksparteien haben im ersten schwarzroten Jahr viel Pfusch produziert. Sie schaffen bei der Gesetzesarbeit nicht weniger schlampig als die darob zu Recht gescholtene Vorgängerregierung. Das ist der Stand. Darauf haben Sie hier einzugehen. ({2}) Herr Kollege Schmidt, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass in der parlamentarischen Demokratie das Parlament der Chef ist; das ist richtig. Aber ein Betrieb läuft nur dann, wenn der Chef seine Arbeit verantwortungsvoll ausführt und darauf achtet, was er zu tun hat. Mein Vorwurf an Sie lautet: Das haben Sie nicht getan. Für diejenigen, die das nicht tagtäglich verfolgen können, möchte ich dies an einem Beispiel deutlich machen: Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Einführung einer Antiterrordatei beschlossen. Wir von der FDP - ich denke, das gilt auch für die Grünen - hatten Ihnen signalisiert, dass wir bereit wären, mit Ihnen in einen Dialog zu treten und Sie dabei zu unterstützen. Aber Sie haben uns nicht einmal die Chance dazu gegeben. Warum? Weil Sie sich in der großen Koalition bis zum Dienstagabend nicht über den Gesetzentwurf einig wurden und der zuständige Ausschuss am Mittwoch darüber abstimmen musste. Das Problem dieser Regierung ist: Sie legen Gesetzentwürfe auf den Tisch, an denen Sie, weil Sie keine Einigkeit erzielen, bis zur letzten Minute feilen müssen, und so weder dem Parlament noch anderen die Möglichkeit geben, Ihre Gesetzentwürfe zu prüfen. ({3}) Wir werden morgen eine Debatte über die Einsetzung der Föderalismuskommission II führen. Die Ergebnisse der ersten Föderalismusreform sind aus sehr verschiedenen Blickwinkeln kritisiert worden. Aber auf eines, meine Damen und Herren von der großen Koalition, wäre wohl niemand gekommen: dass die Föderalismusreform daran scheitern könnte, dass Sie nicht verstehen, was Sie überhaupt beschlossen haben. Das ist das eigentliche Problem. ({4}) Wenn man sich anschaut, welche Themen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, wird deutlich, dass Sie offenbar noch nicht verinnerlicht haben, in welchen Bereichen Sie Kompetenzen haben und in welchen nicht. ({5}) Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, dass zum Beispiel mein Kollege Goldmann in seiner Rede zum Verbraucherinformationsgesetz auf das Problem hingewiesen hat. ({6}) Aber daraus wurden Sie nicht schlau. Das zeigt sich jetzt bei der Gesundheitsreform. Kollege Lanfermann hat des Öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass auch sie Verfassungsbrüche beinhaltet. ({7}) Aber Sie hören nicht auf uns. Das verstehen wir nicht. ({8}) Lassen Sie mich nun auf das SGB XII zu sprechen kommen. Sie haben den Gemeinden gesagt, dass sie eine Weihnachtsgratifikation zu zahlen haben, zum Beispiel an die Heimbewohner. Die Gemeinden hingegen weisen darauf hin, dass Sie das nicht dürfen. In der Neufassung von Art. 84 des Grundgesetzes heißt es - so haben Sie es wörtlich formuliert -: Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden. Wir hatten immer angemahnt - das war übrigens ein wesentlicher Grund, warum wir die Föderalismusreform abgelehnt haben -, dass das Problem dadurch nicht gelöst wird. In genau dieser Situation befinden wir uns jetzt. Hätten wir das Konnexitätsprinzip in das Grundgesetz aufgenommen, ({9}) könnten Sie diese Aufgaben übertragen; man müsste nur das Geld zur Verfügung stellen. ({10}) Das aber haben Sie nicht gewollt. Die Verfassungskonflikte werden jetzt auf dem Rükken derer ausgetragen, die gehofft haben, die 35 Euro zu bekommen. Nach dem aktuellen Stand der Diskussion können sie sich dessen aber nicht mehr sicher sein. Das ist keine solide Politik. Dagegen wehren wir uns. ({11}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einer Bitte aus dem Gebet eines Pfarrers aus dem Jahre 1864 schließen, das heute allerdings mindestens genauso aktuell ist wie damals - ich zitiere nur zwei Zeilen -: Lieber Gott und Herr! Gib den Regierenden ein besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich vertrete die bessere Regierung. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Anschluss an die Ausführungen des Kollegen Schmidt betone ich für die heutige Debatte und für alle künftigen Debatten dieser Art: Gesetzgebung ist keine Naturwissenschaft. Sie folgt nicht den Prinzipien der Mathematik, liebe FDP. Gerne trage ich zur Wahrheitsfindung bei - dazu hat die FDP aufgerufen - und sage etwas zu den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit. Diese Anforderungen lassen sich sehr schnell aufzählen. Von Bedeutung sind die folgenden Gebote: Gesetze müssen bestimmt sein, was direkt aus dem Gebot der Rechtssicherheit folgt. Gesetze müssen so eindeutig in ihren Regelungen sein, dass jeder die Rechtsfolgen seines individuellen Handelns voraussehen kann. Gesetze müssen außerdem klar sein, das heißt, sie müssen unmissverständlich und rational nachvollziehbar sein. Gesetze müssen notwendig sein, außerdem verhältnismäßig und sie dürfen den Vertrauensschutz der Bürgerinnen und Bürger nicht verletzen. ({1}) Wenn wir jetzt, nach einem Jahr großer Koalition, eine erste Bilanz ziehen, dann stellen wir fest: 97,8 Prozent der Gesetze, die wir erlassen haben, erfüllen diese Voraussetzungen. Das Glas ist nicht etwa halb voll, es ist bis oben voll. ({2}) Reden wir also über die 2,2 Prozent, die bleiben. Es gibt einen übergeordneten Gesichtspunkt, der bei allem eine Rolle spielt, die Verfassungsmäßigkeit. Ich folge dem Gewohnheitsrecht: Niemand darf diesen Bundespräsidenten kritisieren; ({3}) darin gibt es Übereinstimmung in diesem Saal. Aber auch dieser Bundespräsident hat ein Recht auf Irrtum. Es ist ihm wie allen Bundespräsidenten unbenommen, sich auch einmal zu irren, wie uns als Gesetzgeber auch. Wer Jura studiert hat, hat schon vor dreißig, vierzig Jahren den Streit darüber mitbekommen - Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wir haben das während unserer juristischen Ausbildung erlebt -, welches Prüfungsrecht der Bundespräsident nach Art. 82 Grundgesetz hat. Wir haben aus dem Maunz/Dürig und wie sie alle heißen über all die Jahre unverändert erfahren: Er hat ein formelles Prüfungsrecht; das heißt, er muss nach Art. 82 prüfen, ob ein Gesetz formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist. ({4}) Außerdem hat er - das ist Meinung der überwältigenden Mehrheit derer, die sich dazu geäußert haben - ein eingeschränktes Recht sowie die Pflicht zu prüfen, ob ein Gesetz evident verfassungswidrig ist. Es gibt nach unserem Prinzip der Gewaltenteilung, liebe FDP, nur eine Instanz, die aufgerufen ist, die Verfassungsmäßigkeit oder die Verfassungswidrigkeit festzustellen: das Bundesverfassungsgericht. ({5}) Dieser Bundespräsident ist zu dem Ergebnis gekommen, das Verbraucherinformationsgesetz entspreche nicht Art. 84 Grundgesetz. Dieses Gesetz ist aber nachweisbar in allen Regierungsinstanzen, die dazu aufgerufen waren, im Bundestag und im Bundesrat, geprüft worDr. Michael Bürsch den und man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich nicht um neue Aufgaben handelt. ({6}) Man mag diese Auffassung nicht teilen. Wenn es aber über etwas Streit gibt, ist dieses Gesetz noch lange nicht evident, auf der Stirn tragend, verfassungswidrig. ({7}) Der Bundespräsident hat an dieser Stelle das Recht auf Irrtum. Er muss aber nicht unbedingt die Unterzeichnung eines Gesetzes verweigern, wenn er der Meinung ist, es sei nicht der Verfassung gemäß. Er kann das auch wie Johannes Rau elegant machen und sagen: Ich unterzeichne es, aber ich gebe euch den zarten Hinweis, das Verfassungsgericht möge es noch einmal überprüfen. ({8}) Ich will aus diesem Anlass einen weiteren Hinweis geben - das ist aus meiner Sicht in der Kommentierung etwas zu kurz gekommen -: Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung hat der Bundespräsident ebenfalls zurückgewiesen. Ich will mich nicht darüber auslassen, ob zu Recht oder zu Unrecht. Ich sehe den Bundespräsidenten in der Funktion eines Staatsnotars, der darauf hinweist, ob ein Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen ist oder so evident verfassungswidrig ist, dass es zurückgenommen werden muss. Das ist bei diesem Gesetz meiner Ansicht nach auch nicht der Fall. Dieser Fall wirft aber höchst interessante Fragen für das Parlament auf, die ich hier gern einmal diskutieren würde, Herr Schmidt: Welche Aufgaben gehören zu den Kernaufgaben des Staates? Wie viel von seiner Hoheit darf der Staat abgeben? Welche Aufgaben soll der Staat in Zukunft noch übernehmen? Wenn er Aufgaben abgibt: mit welcher Gewährleistung? - Ich bin bekanntlich ein großer Anhänger der öffentlich-privaten Partnerschaften. Für mich ist ein Gefängnis eine Einheit, in der der Staat die Verantwortung für die Sicherheit trägt. Aber dass diese Dienste von Privaten erbracht werden, ist kein Verstoß gegen das Gebot, dass der Staat diese Aufgabe innehat. Diese Fragen sollten wir einmal durchdiskutieren. Zum Schluss komme ich zu den Jahreszeugnissen, Kollege Montag. Ich habe immer gehört: Die Opposition ist die Regierung von morgen. - Mit platter Polemik, mit künstlicher Aufgeregtheit und Diffamierung des Gesetzgebers ist dieses Ziel noch weit entfernt von euch. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP möchte sich mit dieser Aktuellen Stunde wieder einmal als Rechtsstaatspartei und parlamentarische Hüterin der Verfassung darstellen; das haben Sie ja auch früher schon immer wieder für sich in Anspruch genommen. Deshalb haben Sie für diese Aktuelle Stunde einen Titel gewählt, der einer Dissertation oder, ich möchte fast sagen, einer Habilitation alle Ehre machen würde. ({0}) Aber ich denke, wir sollten auf dem Boden bleiben. Das sage ich vor allem zu Ihnen, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger. Ihre maßlos überzogene Polemik wird diesem Thema ganz gewiss nicht gerecht. ({1}) Sie haben so getan, als wären die beiden Ausnahmefälle in dieser Wahlperiode, in denen der Bundespräsident ein Gesetz nicht ausgefertigt hat, die Regel. Damit stellen Sie die Dinge auf den Kopf. ({2}) Diese Koalition hat bei allen Gesetzesvorhaben die Verfassung im Blick und nimmt verfassungsrechtliche Bedenken selbstverständlich immer ernst. Treten verfassungsrechtliche Zweifel auf, dann werden diese geprüft. Dass dabei auch einmal Fehleinschätzungen vorkommen können, bestreitet niemand. Dass es in der Beurteilung von verfassungsrechtlichen Fragen unterschiedliche Meinungen gibt und man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, ist für Juristen, insbesondere für Verfassungsjuristen, weiß Gott nichts Neues oder gar Ungewöhnliches. Wer das Verfassungsrecht kennt, der weiß, dass es nahezu nichts gibt, wozu es unter Verfassungsrechtlern nicht unterschiedliche Auffassungen gibt und was unstrittig ist. ({3}) Das gilt übrigens auch für die Frage, ob dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht zusteht, was aber nach herrschender Meinung der Fall ist und von der Staatspraxis anerkannt wird. Aber es gibt, wie gesagt, fast nichts, was unstrittig ist. Dass der Bundespräsident in dieser Wahlperiode nunmehr bereits zum zweiten Mal ein Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet hat, ist bedauerlich. Gleichwohl respektieren wir diese Entscheidung. Wir tun dies, obwohl man mit guten Argumenten durchaus darüber streiten könnte, ob gerade beim Verbraucherinformationsgesetz ein Verfassungsverstoß seitens des Gesetzgebers vorliegt. Die betreffende Verfassungsnorm ist erst kürzlich im Rahmen der Föderalismusreform umgestaltet worden. Art. 84 des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung bestimmt, dass Gemeinden durch Bundesgesetz Aufgaben nicht mehr übertragen werden dürfen. Man kann sehr wohl der Auffassung sein, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um die Übertragung einer Aufgabe im Sinne des Art. 84 Grundgesetz handelt. ({4}) Es geht nämlich um die Schaffung eines Rechts der Bürger auf Zugang zu einschlägigen Daten von Behörden, eben auch zu solchen von Gemeinden. ({5}) Ob hier also ein Verfassungsverstoß vorliegt, noch dazu ein so evidenter, der die Ablehnung der Ausfertigung unumgänglich macht, daran kann man gut begründete Zweifel haben. Bundesregierung und Parlament haben die Rechtslage geprüft und sind zu einem anderen Ergebnis gekommen als das Bundespräsidialamt. ({6}) - Ja, auch der Bundesrat. Vielen Dank für den Hinweis, Herr Kollege Stünker. - Wer sagt denn, dass die Rechtsauffassung des Bundespräsidialamtes die einzig richtige ist? ({7}) Dass wir immer in besonderem Maße die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im Auge haben, zeigen die aktuellen Beratungen über ein Nichtraucherschutzgesetz. Die Unionsfraktion hat die Probleme hinsichtlich der Zuständigkeit des Bundes für eine umfassende Nichtraucherschutzregelung klar gesehen und angesprochen. Deshalb ist der Vorschlag der damit befassten Arbeitsgruppe gestoppt worden, und zwar in einem sehr frühen Stadium, lange vor den parlamentarischen Beratungen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Ich kann Ihnen versichern: Es wird eine Regelung geben, die mit der Verfassung im Einklang steht. Dieselbe Vorgabe gilt übrigens auch für die Gesundheitsreform. ({8}) Lassen Sie mich abschließend zwei Punkte festhalten: Erstens. Die Koalitionsfraktionen werden ihre legislative Arbeit auch in Zukunft sehr ernst nehmen. Zweitens. Für die verbindliche Klärung der Frage, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist, ist einzig das Bundesverfassungsgericht zuständig. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet: „Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit“. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich komme, wie Sie vielleicht wissen, aus Niedersachsen. Seit ein paar Jahren regiert die FDP in Niedersachsen an vorderster Stelle mit. ({0}) Wenn wir uns einmal anschauen, was in Niedersachsen in den letzten Jahren passiert ist, dann stellen wir fest, dass es ({1}) für diejenigen, die einer Partei angehören, die dort Regierungsverantwortung hat, geboten wäre, eine solche Kritik hier gemäßigter vorzutragen. ({2}) Liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, schauen wir uns einmal die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Möglichkeit der Telefonüberwachung an. Es ist nicht so, dass sich nur ein Organ geweigert hat, etwas auszufertigen bzw. zu unterschreiben. Vielmehr haben Sie verfassungsgerichtlich verbrieft bekommen, dass das, was Sie getan haben, als Sie mit an der Regierung waren, in einem sehr zentralen Punkt verfassungswidrig gewesen ist. ({3}) Jeder, der den Rechtsstaat verkörpern will, muss hier aufheulen. Ich denke, deswegen steht es uns allen gut an, sehr vorsichtig Kritik zu üben, die Dinge sehr behutsam miteinander zu besprechen und nicht polemisch aufeinander einzuhauen. ({4}) Heute ist in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ nachzulesen, dass der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Niedersächsischen Landtags das geplante Gesetz zur Privatisierung der Landeskrankenhäuser in einer Art und Weise verrissen hat, wie es das jedenfalls für viele Landespolitiker zuvor noch nie gegeben hat. ({5}) Auch das ist ein Beispiel dafür, dass man sehr ruhig sein sollte, wenn man woanders Verantwortung übernommen hat und hier sagt, man bewahre die Verfassungsmäßigkeit bzw. man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich glaube, so geht das nicht. ({6}) Herr Kollege Maurer, es hat mich schon erstaunt, dass der Kollege Nešković neulich im Rahmen der Debatte über § 153 a StPO, bei dem es um die Einstellung bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen geht, als BunDr. Matthias Miersch desrichter vorgeschlagen hat, bei einer gerichtlichen Entscheidung unter Umständen noch eine Prüfungskompetenz einzuführen, die der Legislative zugerechnet werden soll. Das halte ich wirklich für Verfassungsunfug und einen Vorschlag, durch den alles auf den Kopf gestellt würde. ({7}) Ich glaube also, dass wir gut beraten sind, zu akzeptieren, dass es immer unterschiedliche Auffassungen geben wird, dass auch die Verfassungsorgane unterschiedliche Meinungen vertreten. Die Vorredner haben schon darauf verwiesen, dass man bezüglich der Verfassungsmäßigkeit bzw. der Verfassungswidrigkeit unterschiedlicher Meinung ist. Ich glaube auch, dass wir es aushalten müssen, dass ein Bundespräsident so agiert, wie er agiert. Das, was der Kollege Schmidt hier vorgetragen hat, war aus meiner Sicht ein sehr guter Vorschlag. ({8}) Wir sollten daran anknüpfen. Als Mitglied der AG Recht meiner Fraktion kann ich nur sagen: Wir nehmen das dankend an. Wir werden uns auch die Frage stellen müssen, wie wir künftig eine noch bessere Arbeit machen können. An zwei Punkten will ich ganz konkret werden. Erstens. Ich glaube, wir müssen uns überlegen - dieses Problem ist hier an vielen Stellen vorgetragen worden -, wie wir dem Zeitdruck begegnen. Das bezieht sich vor allem auf die Umsetzung europäischen Rechts. Wie oft sind wir in den letzten Monaten aufgrund anhängiger Verletzungsverfahren unter enormen Zeitdruck geraten? Ich glaube, wir brauchen hier ein Frühwarnsystem zwischen der Bundesregierung und dem Bundestag, sodass der Bundestag nicht mehr unter einen solchen Zeitdruck gerät. Wir müssen überlegen, wie wir das hinbekommen. ({9}) Zweitens. Ich glaube, wir sollten uns die Geschäftsordnung einmal sehr aufmerksam anschauen. Als jemand, der jetzt seit einem Jahr Mitglied des Bundestages ist, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir in den Ausschussberatungen oft unter großen Zeitdruck geraten und federführende und mitberatende Ausschüsse zum großen Teil parallel beraten. Deshalb sollten wir uns überlegen, ob wir die Geschäftsordnung nicht dergestalt ändern, dass der federführende Ausschuss stets mindestens eine Sitzungswoche nach den mitberatenden Ausschüssen tagt. Ich glaube, es ist wichtig, dass ein federführender Ausschuss die Voten richtig beraten kann. Daran haperte es an der einen oder anderen Stelle. ({10}) Ich glaube, es wäre gut, wenn wir daran arbeiten und uns dieser Aufgaben annehmen würden. Herr Schmidt, ich bin mir sicher, dass Sie diese zwei konkreten Vorschläge mit aufnehmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wachstumsschädliche Mehrwertsteuererhöhung rückgängig machen - Drucksache 16/2520 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Volker Wissing das Wort. ({1})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Macht Geld glücklich? ({0}) Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon lange. Wenigstens unser Bundesfinanzminister hat eine Antwort darauf. Er sagt: „Es hilft“ und fährt fort: „Das Glücksgefühl, Geld zu haben, ist allerdings weitaus weniger intensiv als die beklemmende Erfahrung, keines oder wenig zu haben.“ ({1}) Aber dann fragt man sich, meine Damen und Herren, warum ausgerechnet dieser Bundesfinanzminister so viele Menschen dieser beklemmenden Erfahrung aussetzt. ({2}) Die SPD hatte es in ihren Wahlprospekten ja schön aufgelistet: 21,8 Millionen Rentner, 1,4 Millionen Pensionäre und Versorgungsempfänger, 1,8 Millionen Beamte, 4,7 Millionen Arbeitslose, ({3}) 2 Millionen Studenten, 3,8 Millionen Selbstständige sie alle zahlen ab Januar nicht nur 2, sondern dank effektiver Unterstützung durch die SPD sogar 3 Prozentpunkte mehr beim Einkaufen. Dabei weiß es die SPD genau: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist sozial ungerecht, weil sie vor allem Familien sowie kleine und mittlere Einkommen massiv belastet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zu?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Wissing. - Wir debattieren hier ja über die zu erwartende Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr, die nicht nur politisch, sondern vor allem in der Bevölkerung zu vielen Ängsten führt. Finden Sie es vor diesem Hintergrund angemessen, dass das Finanzministerium bei dieser Debatte nicht zugegen ist? ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich finde das äußerst unangemessen. Es zeigt, dass sich der sozialdemokratische Finanzminister für die Interessen der Menschen, denen er in die Tasche greift, längst nicht mehr interessiert. ({0}) So sagt Peer Steinbrück auch: „Wir treten vielen auf die Füße, aber wir tun dies gleichmäßig.“ Aber wenn ich bei der SPD bleibe und dies nach ihrer eigenen Darstellung weiterspinne, dann muss man sagen: Mit der Mehrwertsteuererhöhung treten Sie Beziehern größerer Einkommen mit der flachen Sohle und denen mit geringen Einkommen mit der Hacke auf die Füße. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaft gelangt zu dem Ergebnis, dass die geplante Mehrwertsteuererhöhung Nichterwerbstätige wie Arbeitslose und Rentner besonders belastet. Während Ihre Politik die Bevölkerung insgesamt um 0,8 Prozent ihres verfügbaren Einkommens bringt, ist das obere Zehntel mit 0,6, das untere mit knapp 1,4 Prozent dabei. ({1}) - Ich hatte es gerade gesagt. Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie es. Es ist das Deutsche Institut für Wirtschaft. Wo SPD draufsteht, ist eines jedenfalls nicht mehr drin, und das ist soziale Gerechtigkeit, meine Damen und Herren. ({2}) Ich muss Ihnen auch sagen: Was die SPD heute für ganz konkret falsch hält, hält sie morgen für ganz konkret richtig. Ich will Ihnen noch einmal Franz Müntefering zitieren, weil Sie das ja schon langsam verdrängen: ({3}) Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer erhöhen, also Produkte und Dienstleistungen spürbar teurer machen, würde das die Binnennachfrage noch weiter abwürgen. Das kann niemand ernsthaft wollen. Deswegen sind wir fest entschlossen, das zu verhindern. ({4}) So sieht es also aus, wenn Sie fest entschlossen sind, etwas zu verhindern: Dann zahlen die Bürger nicht 2 Prozentpunkte mehr, sondern gleich 3 Prozentpunkte. Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Mehrwertsteuer schwächt die Konjunktur. Daran ändert auch die Einschätzung von Herrn Finanzminister Steinbrück nichts, dass es sich nur um eine „leichte Delle“ handeln wird. Man kann nicht bestreiten, dass das Ganze unter dem Strich Arbeitsplätze kostet und nur eines fördert, nämlich die Schwarzarbeit. ({5}) Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Was ist denn eigentlich eine leichte Delle? Sind das 100, sind es 1 000 oder 100 000 verloren gegangene Arbeitsplätze? Wir wissen es heute nicht. Fest steht aber: Sie schwächen unser Land mit einer Steuererhöhung nach der anderen. Und es wird keinen trösten, der seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er vom Bundesfinanzminister erklärt bekommt, dies geschehe nur aufgrund einer kleinen Delle. ({6}) Diese leichte Delle wird für viele Menschen einen herben und bitteren Einschnitt bedeuten. Finanzpolitik findet nicht im leeren Raum statt. Was wir hier beschließen, hat für die Menschen konkrete Auswirkungen. Das sollten wir nicht vergessen. Es wirkt geradezu grotesk, wenn sich die Bundesregierung im Hinblick auf die größte Steuererhöhung in der Geschichte unseres Landes mit einer sensationell niedrigen Nettokreditaufnahme rühmt. Sie greifen den Bürgerinnen und Bürgern schamlos in nicht gekanntem Ausmaß in die Taschen und wollen dann auch noch ein Lob für Ihre geringe Nettokreditaufnahme haben. Das grenzt an Lächerlichkeit. ({7}) Wenn man bedenkt, dass durch die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte die Ausgaben entsprechend steigen, dann ist die Grenze zum Grotesken weit überschritten. Hätten Sie die im Haushalt verfolgten Ziele durch Sparanstrengungen erreicht, dann wäre Ihnen der Respekt in unserem Land und - davon bin ich überzeugt - auch des gesamten Hauses sicher gewesen. ({8}) Aber den Menschen das Geld wegzunehmen und sich dann dafür zu loben, dass die Kreditaufnahme niedriger ausfällt, ist ein starkes Stück. ({9}) Aber wie der Bundesfinanzminister so schön festgestellt hat: Man kann sich auch totsparen. Das Finanzministerium ist ja auf der Regierungsbank im Augenblick nicht vertreten. ({10}) Ich sehe aber auch sonst niemanden, der kurz davor wäre, sich totzusparen. Wenn Sie endlich erkennen würden, dass Sparen für den Staat keine Bedrohung darstellt, sondern dass Einsparungen - das heißt, nicht mehr Ausgaben, sondern weniger - eine Chance für unser Land sind, dann würden Sie vielleicht statt von Totsparen von Gesundsparen sprechen und endlich damit anfangen. ({11}) Die FDP hat die Mehrwertsteuererhöhung von Anfang an abgelehnt und wir fordern Sie heute auf, diese Maßnahme auszusetzen. Sie schadet der Konjunktur und gefährdet Betriebe und Arbeitsplätze in Deutschland. Genau das haben auch Sie vor den Wahlen verkündet. Jetzt wollen Sie aber nicht mehr daran erinnert werden. Ich bin im Übrigen schon gespannt, was Sie den Menschen vor der nächsten Bundestagswahl erzählen werden. ({12}) Fest steht nur, dass Sie sich nach der nächsten Wahl frei fühlen werden, das krasse Gegenteil zu tun. ({13}) Geld mag vielleicht glücklich machen oder nicht, aber wenn der Finanzminister unter dem beklemmenden Gefühl leidet, zu wenig zu haben, ({14}) dann sollte er ernsthaft sparen, sparen und nochmals sparen, bevor er sich am Geld der Bürgerinnen und Bürger bedient. ({15}) Wir wissen genauso gut wie Sie, dass bei Steuermehreinnahmen in Höhe von 19,4 Milliarden Euro in diesem Jahr und 20,1 Milliarden Euro im nächsten Jahr die Mehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist. ({16}) Sie können auf diese Erhöhung verzichten, ohne sich totzusparen. Sie können vor allen Dingen unserem Land eines ersparen, nämlich dass das kleine Pflänzchen des konjunkturellen Aufschwungs, den wir in den letzten Monaten erlebt haben - es ist wirklich nur ein kleines Pflänzchen -, nicht zertreten wird. Wenn Sie etwas für Arbeitsplätze in diesem Land tun wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu, die Mehrwertsteuererhöhung rückgängig zu machen! Die Menschen in unserem Land werden es Ihnen danken. Dann können wir die Chance, die sich durch die Belebung der weltweiten Konjunktur zum Teil auch in Deutschland bietet, in großem Maße nutzen. Die FDP steht in diesem Sinne an Ihrer Seite. ({17}) - Sie mit Ihren klugen Zwischenrufen! Ich gehe davon aus, dass sich die SPD weigern wird, das zu tun, wofür Sie gewählt worden sind. Sie haben den Menschen gesagt, Sie seien gegen die Mehrwertsteuererhöhung. ({18}) Sie werden sich heute aller Voraussicht nach weigern, das zu tun, wofür Sie gewählt wurden. Aber wundern Sie sich nicht, wenn sich die Menschen in Deutschland dann beim nächsten Mal weigern, Sie zu wählen. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wissen, dass die Finanzpolitik der großen Koalition ({0}) zwei Ziele gleichzeitig anstrebt: erstens die Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft und zweitens die nachhaltige Sanierung der öffentlichen Finanzen. Wenn man zwei Ziele gleichzeitig anstrebt, weil beide sehr wichtig sind, dann kann man leider nicht maximieren, sondern nur optimieren. Mit einem Drittel der Einnahmen aus der geplanten Mehrwertsteuererhöhung leisten wir einen Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung; denn 7 Milliarden Euro - das entspricht etwa den Einnahmen aus einem Mehrwertsteuerpunkt - sind für uns ein durchlaufender Posten. Diesen Betrag nehmen wir den Mehrwertsteuerzahlern und geben ihn den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Hier wird netto gegen netto ausgetauscht. Konjunkturpolitisch können Sie diese 7 Milliarden vernachlässigen. Aber mit diesem Betrag leisten wir wie gesagt einen Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung. Das ist eines unserer Ziele. ({1}) Die 14 Milliarden Euro aus dem Aufkommen der beiden anderen Mehrwertsteuerpunkte sind hälftig für die Sanierung der Finanzen der Bundesländer und des Bundeshaushalts bestimmt. Dies wird dazu führen, dass die öffentliche Hand im nächsten Jahr 14 Milliarden Euro weniger Schulden aufnehmen muss. Das bedeutet selbst bei günstigen Zinssätzen langfristig eine Ersparnis in Höhe von 500 Millionen Euro im Jahr. Wir machen also endlich mit dem Schuldenabbau ernst und handeln damit im Interesse zukünftiger Generationen. ({2}) Nun gibt es die beiden berühmten Argumente, die Sie heute wieder gegen eine Mehrwertsteuererhöhung vorgetragen haben. Diese werden durch Wiederholung nicht glaubwürdiger. Das eine Argument lautet: Ihr könntet doch mehr sparen. - Meine Damen und Herren, was hat diese große Koalition nicht bereits alles an unpopulären Entscheidungen zum Subventionsabbau durchgesetzt! Ich erinnere nur an die Abschaffung der Eigenheimzulage und die Kürzung der Pendlerpauschale. Beim Sparen haben wir mehr gemacht als fast alle vorangegangenen Regierungen, und das in sehr unpopulären Bereichen. Das hat die große Koalition durchgestanden. ({3}) Wenn Sie 7 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einsparen wollen, dann müssen Sie an Positionen wie die Rente, das Kindergeld oder die Infrastruktur herangehen. Ich sage sehr deutlich: Dazu sind wir nicht bereit. Mit uns, der großen Koalition, wird das mit Sicherheit nicht geschehen. ({4}) Das zweite Argument gegen eine Mehrwertsteuererhöhung lautet: Die Steuereinnahmen sprudeln. Wir machen offenbar eine gute Politik und deshalb steigen die Steuereinnahmen; darauf sind wir stolz. Aber wer die Zahlen kennt, der wird mir zustimmen, wenn ich sage: Wir stehen bei der Sanierung der Staatsfinanzen leider noch ganz am Anfang. Wir werden den ohnehin viel zu hohen Schuldenberg trotz der sprudelnden Steuereinnahmen in diesem Jahr um 30 Milliarden Euro und trotz der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr um 20 Milliarden Euro neue Schulden erhöhen. Das eigentliche Ziel der Finanzpolitik muss aber sein - nur so darf man den Maastrichtvertrag und Art. 115 des Grundgesetzes interpretieren -, dass man in wirtschaftlich „normalen“ Jahren gar keine neuen Schulden macht, dass die Nettoneuverschuldung in schlechten Jahren maximal 3 Prozent beträgt und dass man in guten Jahren beginnt - wenn man die momentane wirtschaftliche Entwicklung sieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass wir uns in wirtschaftlich guten Jahren befinden -, Schulden zurückzuzahlen. Wer vor diesem Hintergrund die sprudelnden Steuereinnahmen als Argument gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung anführt, der ist entweder nicht bereit - das ist bei vielen so - oder nicht willens, die Zahlen zu verarbeiten. Auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen sind zwei Bundesländer schon deutlich weiter als wir im Bund. Ich kann den Bayern nur wieder Lob zollen. Sie haben in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt. Es ist eine sehr positive Meldung, dass Sachsen offensichtlich im nächsten Jahr genauso weit sein wird. ({5}) Wenn wir uns in Europa umschauen, dann stellen wir fest, dass inzwischen fünf EU-Länder dabei sind, Schulden zurückzuzahlen; das sind die skandinavischen Länder und im nächsten Jahr offensichtlich Spanien. Das muss unser Ziel sein. Ich höre immer wieder den Vorwurf, die Mehrwertsteuererhöhung sei nicht sozial verträglich. Ich sage Ihnen: Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch sozial verträglich. Wer die Fakten kennt, der weiß, dass wesentliche Positionen, zum Beispiel Nahrungsmittel, unverändert mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent belegt werden. ({6}) Das zeigt, dass unsere Politik sozial ist. Ein weiterer entscheidender Posten, die Mieten, wird gar nicht mit Mehrwertsteuer belegt. Von daher stelle ich die These auf, dass zwei Drittel der Ausgaben der viel zitierten Empfänger unterer Einkommen von der Mehrwertsteuererhöhung überhaupt nicht tangiert werden. Wenn Sie sich einmal in Europa umsehen, dann werden Sie feststellen, dass wir mit 19 Prozent noch in der unteren Hälfte liegen. ({7}) Es gibt einige, die weniger haben, aber die Mehrzahl der Länder innerhalb der EU hat eine höhere Mehrwertsteuer, sodass Sie auch unter diesem Gesichtspunkt nicht davon reden können, dass wir mit überzogenen Positionen arbeiten. ({8}) Ich sage sehr deutlich: Wem die Sanierung der öffentlichen Haushalte ein ernstes Anliegen ist - der großen Koalition ist es ein ernstes Anliegen; deshalb haben wir ja die vielen unpopulären Entscheidungen getroffen -, ({9}) der kommt nicht um die Mehrwertsteuererhöhung herum. Interessant ist, dass die Einstellung von Wissenschaft, Wirtschaft und inzwischen auch von weiten Teilen der Bevölkerung zur Mehrwertsteuererhöhung eine andere geworden ist. Es ist richtig, dass zu Beginn manches wissenschaftliche Institut gesagt hat, es bestehe die Gefahr, dass die Konjunktur erschlagen werde. Solche Meldungen gab es vor einem Jahr. Lesen Sie heute einmal nach! Das Ifo-Institut schreibt schon in der Überschrift: Der Aufschwung ist inzwischen so robust, dass sich die Nachfrageseite von der Mehrwertsteuererhöhung nicht mehr ablenken lässt. - Gott sei Dank! Das ist Ergebnis unserer Politik. Der Antrag der FDP ist nicht mehr aktuell. Sie müssen sich andere Themen einfallen lassen. Das Thema Mehrwertsteuererhöhung ist abgehakt. ({10}) Wir haben ganz andere Probleme. Ich bin froh, dass die Bevölkerung und insbesondere die wissenschaftlichen Institute und die Wirtschaft erkannt haben, dass die Sanierung der Staatsfinanzen etwas ganz Wichtiges ist. Vor diesem Hintergrund - das wird Sie von der FDP nicht überraschen - werden wir natürlich Ihren Antrag ablehnen. Wir freuen uns, dass die Zustimmung zur Mehrwertsteuererhöhung immer größer wird. Sie sollten sich aktuellere Themen einfallen lassen. Danke. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Herbert Schui das Wort. ({0})

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zweck der höheren Mehrwertsteuer soll sein, zu ausgeglichenen Haushalten zu kommen. Gegen eine Haushaltskonsolidierung ist an sich ja gar nichts einzuwenden, nur das Mittel taugt nichts. ({0}) Die Defizite und die zu niedrigen Steuereinnahmen sind im Wesentlichen eine Folge der anhaltenden Senkung der Besteuerung von Gewinn- und Vermögenseinkommen. Als grober Anhaltspunkt kann gelten: Im Jahre 1960 hat die Steuerbelastung dieser Einkommen in Westdeutschland 20 Prozent betragen. Bis 1980 ist diese auf 15 Prozent abgefallen. Im darauf folgenden Jahrzehnt, bis zur deutschen Vereinigung, ist sie auf rund 8 Prozent gesunken, und gegenwärtig haben wir gerade einmal 6 Prozent. Wie Sie wissen, hat sich das Wachstum des Bruttoinlandprodukts in derselben Periode verringert. An diesem Trend ändert auch das gegenwärtige Wachstum von 2,4 Prozent nichts. Die Investitionskonjunktur wird im kommenden Jahr abflachen; ebenfalls wird sich das Wachstum der Exporte verlangsamen. Wen wollen Sie vor diesem Hintergrund noch davon überzeugen, dass weniger Gewinnsteuern zu mehr Wachstum und zu mehr Beschäftigung führen? Reden Sie sich nicht mit der Globalisierung heraus, die wie eine biblische Plage über uns gekommen sei. Vielmehr ist diese Form der Globalisierung das Ergebnis von Politik. ({1}) Gerechtfertigt haben Sie diese Politik mit dem Versprechen von mehr Wohlstand. Den aber haben wir nicht. Nachdem nun nichts daraus geworden ist, drehen Sie das Argument um. Nun sind es auf einmal fremde Völkerschaften, die unseren Lebensstandard bedrohen, weil sie billiger arbeiten. Wenn sich die Vorstellung, mehr Lohn besonders für gering Qualifizierte sei wegen der Auslandskonkurrenz nicht möglich, endgültig im allgemeinen Bewusstsein eingefressen hat, dann werden erste Plakate mit der Losung „Das Ausland ist unser Unglück“ nicht auf sich warten lassen. Die höhere Mehrwertsteuer wird die wirtschaftliche Lage der großen Mehrheit der Bevölkerung weiter verschlechtern. Der Wachstumsverlust wird je nach Schätzung 0,7 bis 1,0 Prozent betragen. Dieser Wachstumsverlust als Folge der Mehrwertsteuererhöhung wird so lange anhalten, wie aus Gründen der Konsolidierung des Haushalts die projektierten Staatsausgaben langsamer ansteigen als das geschätzte Wirtschaftswachstum. Bekanntlich sollen die Ausgaben des Bundes laut Finanzplanung bis 2010 im Durchschnitt nominal um rund 1,3 Prozent jährlich wachsen, das Bruttoinlandsprodukt dagegen um durchschnittlich 2,5 Prozent. Für diesen ganzen Zeitraum also entzieht die hohe Mehrwertsteuer anhaltend dem privaten Sektor Kaufkraft, ohne dass der Staat entsprechend mehr ausgeben würde. Gibt es eine Alternative für die Konsolidierung? Ohne Zweifel ja. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen, die hohen Vermögen und Erbschaften müssen wieder stärker besteuert werden. Damit es sich einprägt: Allein die Steuerbelastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen ist seit 1960 - Westdeutschland - von 20 Prozent auf jetzt - Gesamtdeutschland - 6 Prozent gesunken. ({2}) Würde sich die Koalition entschließen können, diesen Steuersatz auch nur etwas anzuheben, dann gäbe es genug Staatseinnahmen, um die Kreditaufnahme zu mindern. ({3}) - Darauf kommen wir gleich. - Im Jahr 2005 beträgt das Unternehmens- und Vermögenseinkommen vor Steuern 555 Milliarden Euro, 2002 waren es 452 Milliarden Euro; in kurzer Zeit eine Steigerung um 100 Milliarden Euro. Jeder Prozentpunkt mehr Steuern auf dieses Einkommen bringt 5,5 Milliarden Euro. Das ist das Alphabet, nach dem soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit buchstabiert wird. ({4}) Glauben Sie denn wirklich, dass Unternehmen massenhaft aus Deutschland flüchten, wenn das Unternehmens- und Vermögenseinkommen um zusätzliche 4 Prozentpunkte - das wären 22 Milliarden Euro - besteuert würde? Beachten Sie das Beispiel Schweden, das gerne auch von Ihnen zitiert wird. Dort beträgt die Staatsquote 57,1 Prozent, in Deutschland dagegen sind es 45,7 Prozent. Die schwedische Wirtschaft wächst heuer um real 4 Prozent, die deutsche um 2,4 Prozent. Im Globalisie7278 rungsindex, den „Foreign Policy“ in seiner Dezemberausgabe erneut ausgewiesen hat, belegt Schweden den Rang 19, Deutschland dagegen nur den Rang 41. Schweden ist also international viel mehr eingebunden als Deutschland. Sein höheres Wachstum und seine niedrigere Arbeitslosigkeit stammen nicht von niedrigeren Löhnen und Gewinnsteuern und nicht von einer geringeren Staatsquote. Wenn aber Schweden noch auf der Landkarte ist und trotz seiner hohen Einbindung in die Globalisierung ökonomisch die besseren Erfolge hat, warum sollen wir in Deutschland nicht dasselbe wagen? ({5}) Wandern die Unternehmen einfach ab, wenn sie wieder höhere Steuern zahlen müssen? Finanzminister Steinbrück behauptet das in einem „Spiegel“-Interview. Ich will mich gerne auf Ihre Überlegungen einlassen. Die höhere Mehrwertsteuer kostet ein Wachstum von 0,7 bis 1 Prozent. Welcher Wachstumsverlust wäre denn tatsächlich durch Abwanderung von Unternehmen eingetreten, wenn Ihr theoretischer Ansatz überhaupt richtig wäre? Mehr oder weniger als bei einer höheren Mehrwertsteuer? Haben Sie das je durchgerechnet, bevor Sie darangegangen sind, die Mehrwertsteuer zu erhöhen? ({6}) Selbst wenn der Verlust an Wachstum und Arbeitsplätzen genauso groß wäre - wenigstens wäre das verfügbare Realeinkommen der Lohnbezieher nicht um die Belastung durch die Mehrwertsteuer gesenkt worden. Dies ist umso fataler, als beispielsweise die Einkommen der Arbeitnehmerhaushalte von 1991 bis 2005 real um 10 Prozent gesunken sind. Müssen eigentlich immer die Arbeitnehmer zahlen, wenn die Staatshaushalte konsolidiert werden? ({7}) Oder haben Sie sich schon einmal durch den Kopf gehen lassen, dass das vielleicht auch die Aufgabe von Gewinn- und Vermögenseinkommensbeziehern sein müsste? ({8}) Es bleibt nur ein vernünftiger Weg: Die Mehrwertsteuererhöhung ist zurückzunehmen. In diesem Punkt hat die FDP Recht. Allerdings darf der Arbeitsmarkt nicht weiter dereguliert und der Unternehmeranteil an der Finanzierung der sozialen Sicherheit nicht weiter abgesenkt werden. Dieser Vorschlag der FDP ist abzulehnen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich bin sofort so weit. - Stattdessen sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen wieder höher zu besteuern, um den Staatshaushalt auszugleichen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl Sie von der FDP die derzeitige Wirtschaftslage in Ihrem Antrag so positiv geschildert haben, Herr Wissing, und mit Ihrem Eingeständnis natürlich auch die Politik unserer Koalition loben, ({0}) dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Herr Bernhardt hat das schon ausgeführt. Die Finanzpolitik in unserem Land steht immer noch vor den größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. ({1}) Wir als Volksvertreter müssen angesichts des sich vollziehenden demografischen Wandels die Leistungsfähigkeit des Staates und der Volkswirtschaft sichern. Das ist unsere Pflicht. Immer mehr alte Menschen werden immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen. Das bedeutet, dass wir gemeinsam - das ist eine viel spannendere Aufgabe, als einen solchen Antrag zu schreiben - entscheiden müssen, wie und in welchem Umfang wir uns staatliche Tätigkeit in Zukunft noch leisten können und wollen. Das ist eine ganz wichtige Frage für unser Volk. Das Ziel der damaligen rot-grünen Bundesregierung wie auch der jetzigen großen Koalition ist es, auch für die künftigen Generationen einigermaßen Wohlstand und einen finanziell leistungsfähigen Staat zu sichern, ({2}) der auch ihren Kindern und ihren Enkeln gute Lebensgrundlagen bescheren wird.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wissing? - Bitte.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Westrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie das Ziel, das diese Regierung mit der Mehrwertsteuererhöhung verfolgt hat, nämlich etwa 19,4 Milliarden Euro mehr einzunehmen, durch den konjunkturellen Aufschwung bereits ohne Mehrwertsteuererhöhung erreicht haben und damit die Mehrwertsteuererhöhung nach Ihrer eigenen Logik überflüssig ist? Sind Sie ebenfalls bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meinen Ausführungen vorhin gesagt habe, dass die leichte konjunkturelle Belebung in Deutschland Folge eines weltweiten konjunkturellen Aufschwungs ist? Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Deutschland von diesem weltweiten konjunkturellen Aufschwung unterdurchschnittlich profitiert und es infolgedessen nicht logisch ist, die Belebung den Erfolgen und der Arbeit der Bundesregierung zuzuschreiben? ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ganz einfach: Unsere Reformen haben mit dazu beigetragen, dass die Wirtschaft in Deutschland zurzeit so floriert ({0}) und dass die Zuversicht überall wächst. Ich denke, dass unsere Arbeit die richtigen Grundlagen dafür schaffen wird, dass wir in Deutschland an der prosperierenden Wirtschaft in Europa und der Welt teilhaben können. Jetzt habe ich Ihre letzte Frage vergessen; wahrscheinlich waren es zu viele. ({1}) - Herr Kollege, wenn Sie mir weiter zuhören, werden Sie das, was Sie wissen wollen, noch erfahren. Sie müssen nur jeden Tag die Zeitung aufschlagen, um etwas ganz anderes zu lesen als das, was Sie hier dargestellt haben. Wahrscheinlich sind die Verfasser dieser Zeitungsartikel mindestens genauso schlau, wie die FDP meint, beim Schreiben ihres Antrags gewesen zu sein. ({2}) Sie haben in Ihrem Antrag die Frage nicht beantwortet, wie Sie die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Enkel sichern wollen. ({3}) Um diese Lebensgrundlagen zu sichern, haben wir in den letzten Jahren eine Reihe von Reformen eingeleitet und durchgeführt, die jetzt ihre Wirkung zeigen. An diese Reformen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, haben Sie sich in Ihrer langen Regierungszeit nicht ansatzweise herangetraut. Das muss man einmal ganz deutlich sagen. ({4}) Das Ergebnis unserer Reformen ist: Die Bundesagentur für Arbeit zahlt Geld zurück, anstatt abzukassieren. Die Kommunen können wieder durchatmen. Für uns Sozialdemokraten - für die FDP vielleicht weniger - ist ganz wichtig, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt. Die Steuerquote wird selbst mit der Mehrwertsteuererhöhung unter dem Durchschnitt der europäischen Staaten liegen. Das Wirtschaftswachstum ist robust. Wir werden die Maastrichtkriterien einhalten. Das haben Sie nicht geschafft. Herr Kollege Wissing, auch Sie sind schon länger Mitglied des Finanzausschusses. Ich weiß nicht mehr genau, wie oft wir im Finanzausschuss über die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert haben. Es ist die vornehme Aufgabe der Opposition, den Finger in die Wunde zu legen, wenn sie der Meinung ist, es laufe irgendetwas falsch. Aber angesichts der vielen Diskussionen, die wir geführt haben, könnte man von Ihnen ein bisschen mehr Stringenz mit Blick auf die zukünftige Politik erwarten. ({5}) Entweder ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt ein wichtiges Instrument für die kontinuierliche Weiterentwicklung unseres Landes, für eine harte Währung und für eine prosperierende Wirtschaft - dann müssen wir alles dafür tun, die Einhaltung der in ihm festgelegten Bedingungen nachhaltig zu sichern, wie wir das jetzt mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer tun - oder wir hängen wie Sie in Ihrem Antrag unser Fähnchen nach dem Wind, egal von welcher Seite er auch weht. ({6}) Was ich von dem Verantwortungsbewusstsein solcher Politiker halte, brauche ich wirklich nicht auszuführen. Ihr Antrag ist - das hat Herr Bernhardt schon gesagt vollkommen unnötig; er geht von falschen Prämissen aus. Hätten Sie schon im Mai die Prognosen des Ifo-Instituts und die Aussagen der EU-Kommission aufmerksam gelesen, dann hätten Sie sich nicht eine solche Mühe mit diesem Antrag machen müssen. Denn die EUKommission hat schon im Mai gesagt, dass diese Steuererhöhung dazu beitragen wird, dass Deutschland den Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten kann, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Der Generaldirektor für Wirtschaft und Währung, Klaus Regling, hat das damit begründet, dass die Haushaltskonsolidierung - entgegen Ihren Aussagen - ausschließlich auf sinkende Staatsausgaben zurückginge, während die Staatseinnahmen - die Mehrwertsteuererhöhung schon eingerechnet - praktisch konstant blieben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ulrich zulassen?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Westrich, entweder ich oder Sie sind im falschen Film. Denn Sie sagen heute das Gegenteil von dem, was Sie noch vor 14 Monaten gesagt haben. ({0}) Ich möchte Sie daher fragen: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie noch im Wahlkampf gegen die MerkelSteuer zu Felde gezogen sind? Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie persönlich damals genau die Gründe angeführt haben, die heute die Opposition anbringt? Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir zwar Exportweltmeister sind, dass aber unsere Wirtschaft aufgrund der schwachen Binnennachfrage Probleme hat? Glauben Sie nicht auch, dass die Mehrwertsteuererhöhung kontraproduktiv ist? Glauben Sie nicht auch, dass Sie ein bisschen Wahlbetrug machen, wenn Sie jetzt sagen, dass die Mehrwertsteuererhöhung richtig ist? ({1})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ulrich, obwohl wir benachbarte Wahlkreise haben, haben wir keinen gemeinsamen Wahlkampf gemacht. Für keinen von uns ist also erkennbar, was der jeweils andere im Wahlkampf gemacht hat. Ich gebe zu, dass ich mich im Wahlkampf gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer eingesetzt habe. Ich bin aber der Meinung, dass die Stabilität unserer Finanzen Vorrang haben muss und dass die Mehrwertsteuererhöhung keineswegs bedeutet, dass es eine Delle bei der Konjunktur geben wird. Vielmehr besagen alle Prognosen, dass unsere Konjunktur auch im nächsten Jahr gut laufen wird und dass es eine Steigerung bei den Löhnen gibt. Damit wird die Mehrwertsteuererhöhung, zumal der ermäßigte Steuersatz auf Lebensmittel erhalten bleibt, erträglich sein. ({0}) - Ja, dies gilt auch für Rentner und Familien. Wichtig ist - das muss auch die Linke lernen -, dass man irgendwann einmal damit beginnt, Schulden, die man in Zeiten aufgehäuft hat, in denen dies notwendig war, zurückzuzahlen. Die EU-Kommission hat ausgerechnet, dass wir die Staatsausgaben zurückgeführt haben und dass die Staatseinnahmen im europäischen Vergleich auf einem niedrigen Niveau bleiben werden. Die Steuer- und Abgabenquote sei in den letzten fünf Jahren, das heißt während der rot-grünen Regierung und der großen Koalition, bezogen auf das BIP, um 3,5 Prozent gesunken und werde 2007 trotz Mehrwertsteuererhöhung nicht höher sein, während die Ausgabenquote weiterhin sinken werde. Vor diesem Hintergrund - so sagt die EUKommission - sei die Mehrwertsteuererhöhung ökonomisch vertretbar. ({1}) Außerdem führt sie - das ist eine alte Forderung von Ihnen - zu einer Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern und zu einer Senkung der Lohnnebenkosten. Das, was die EU-Kommission als Tatsache beschrieben hat, nämlich die Senkung der Staatsausgaben durch den Abbau von Subventionen und durch hohe Sparsamkeit sowie die Senkung der Lohnnebenkosten zur Entlastung der Arbeitsplätze, waren immer auch Ihre Forderungen. Das alles haben wir während der rot-grünen Regierungszeit und in der großen Koalition geleistet, allerdings ohne Ihre Mithilfe, da Sie sich jeder - wirklich jeder - schwierigen Reform verweigert haben. Sie kommen mir so vor, als hinkten Sie der Zeit hinterher. Sie fordern Reformen, die teilweise schon erledigt sind oder gegen die Sie - das ist schon jetzt absehbar - kämpfen werden, statt sie mitzutragen. Was sollen wir uns aber darüber aufregen, da Sie sowieso nicht unser Partner sein werden! Ich will, dass dieser Staat handlungsfähig bleibt, damit wir die zukünftigen Risiken auffangen können. Wenn wir jetzt auch mit der Mehrwertsteuererhöhung dafür sorgen, dass der Schuldenberg, den Sie während Ihrer Regierungszeit mit angehäuft haben, endlich Stück für Stück abgebaut wird, dann gewinnen wir Vertrauen zurück. Wir bieten dem Staat eine gute Basis für die Zukunft. ({2}) Die Bürger wollen einen starken Staat, der jetzt und in Zukunft den Anspruch hat, gleichmäßige Lebensbedingungen für seine Einwohner zu schaffen und zu sichern. Das ist eine Aufgabe, der sich die große Koalition voll stellt. Ihr Vertrauen, dass das der freie Markt allein durch noch tiefer greifende Deregulierung besser schafft, wird von den Bürgern kaum geteilt, zumal unsere Manager zurzeit nicht gerade durch ihre Vorbildfunktion glänzen. ({3}) Wir, die große Koalition, haben gerade heute wieder eine der für die Zukunft notwendigen Reformen auf den Weg gebracht. Auch die Unternehmensteuerreform ist auf einem sehr guten Weg. Das heißt, Sie fordern und wir tun es bzw. haben es schon lange getan. Sie machen es sich sehr leicht und betrachten bei Ihrer jetzigen Art, Politik zu machen, nur den Tag. ({4}) Das gilt auch für die Linke. Die große Koalition kann die 1 500 Milliarden Euro Schulden nicht verdrängen, an deren Anhäufung Sie in außerordentlichem Maße mitgewirkt haben. Den Glauben, dass sich Schulden in Luft auflösen, teilen wohl nur weltfremde Illusionisten. Das sind Sie, denke ich, nicht. Ich frage Sie, wann Sie den Zeitpunkt für gekommen halten, die Konsolidierung der Staatsfinanzen endlich in Angriff zu nehmen. ({5}) In einem ungebrochenen Aufwärtstrend, in einer robusten Konjunkturlage oder dann, wenn die nächsten Risiken auf uns zu kommen und wir Schuldenaufbau statt Schuldenabbau betreiben müssen? Sie müssten doch wissen, wie es Ihnen ergangen ist. Daraus schließe ich - ich wiederhole es -, dass Ihr Interesse an den Zukunftschancen unserer Kinder traurig unterentwickelt ist. ({6}) Ich weiß, dass Sie eigene Sparvorschläge unterbreitet haben. ({7}) Die Vorschläge der Damen und Herren von der Linken hinsichtlich anderer Steuererhöhungen haben wir jetzt wieder gehört. Sie machen sich erfolglose Illusionen, was Sie damit alles finanzieren können. Sie müssten vielleicht einfach einmal mit Ihrem Finanzbeamten darüber sprechen, wie das im Endeffekt ausgeht. Aber wenn Sie von der FDP glauben, dass der sofortige Wegfall der Steinkohlesubvention die Zukunft der Kinder in den betroffenen Regionen nachhaltig verbessern wird, ({8}) dann sind Sie wirklich auf dem Holzweg. Dazu kommt noch: Ein verschuldeter Staat - weil Sie es uns nicht erlauben, Schulden abzubauen - kann bei der Umstrukturierung nicht helfen. Die Forderung nach Wegfall der Steinkohlesubvention ist einfach ein Mantra, das Sie ständig vortragen, das Sie aber meiner Ansicht nach eigentlich kaum ernsthaft meinen. ({9}) Ich verstehe nicht, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten können, dass Sie mit dem Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung zu einer Lösung der Lohnkostenproblematik beitragen können. Arbeit gibt es in Deutschland ja sicher genug. Die Menschen wollen aber, unbescheiden wie sie sind, von ihrer Arbeit leben können. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Westrich, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Lohnkosten sind die Summe aller Löhne, die Arbeitgeber an Arbeitnehmer zahlen. Was bedeutet das Wort „Problematik“ im Zusammenhang mit Lohnkosten? Die Löhne haben sich die Arbeitnehmer doch verdient. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie meinen, dass dann, wenn wir die Mehrwertsteuererhöhung zurücknehmen, im Gegenzug die Löhne gekürzt werden könnten. Oder haben Sie Angst, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- auch einen Anteil an der guten Konjunkturentwicklung haben wollen? Ich finde, Ihr Antrag ist total veraltet und ist sehr merkwürdig. Das müssten Sie jeden Tag sehen, wenn Sie die Zeitungen aufschlagen und die sich überschlagenden Prognosen lesen. ({0}) Ziehen Sie diesen Antrag lieber zurück,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Westrich!

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

-, damit Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in den Augen der Öffentlichkeit nicht weiter leidet. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat das Wort Christine Scheel für Bündnis 90/ Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Wissing, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Wenn Sie ehrlich und nicht so scheinheilig wären, wie das in Ihrem Redebeitrag wieder zum Ausdruck kam, müssten Sie zugeben, dass die Länder - darauf hat Herr Bernhardt zu Recht hingewiesen - von dieser Mehrwertsteuererhöhung mit 7 Milliarden Euro profitieren, dass die Regierungen, an denen die FDP beteiligt ist, bereits im Frühjahr dieses Jahres die Einnahmen aus dieser Mehrwertsteuererhöhung in ihren Haushaltsberatungen berücksichtigt und im Bundesrat zugestimmt haben. ({0}) Sie können diese Forderung nach Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung von Ihrer Homepage nehmen. Denn das Jahr ist ja fast vorbei. Wenn man das realistisch betrachtet, glaube ich, dass die Bürgerinnen und Bürger weder daran glauben noch es erwarten, dass die große Koalition diese Mehrwertsteuererhöhung zurücknimmt oder kurzfristig aufgibt. Die Bürger verhalten sich in dieser Beziehung sehr realistisch. Sie ziehen Anschaffungen teilweise einfach vor; wir sehen, dass das Weihnachtsgeschäft brummt. Die Konjunktur läuft. Es ist richtig, dass man im Frühjahr mit Blick auf diese Mehrwertsteuererhöhung größere Befürchtungen vonseiten der Wirtschaftsverbände und der Institute gehabt hat, dass man aber jetzt sagt, dass die Mehrwertsteuererhöhung keinen erheblichen Konjunktureinbruch bewirken wird. Es werde zwar eine Delle geben; danach setze aber eine Verstetigung ein. Dennoch ist es natürlich so - da gebe ich Ihnen wieder Recht -, dass die Mehrwertsteuererhöhung für die Bezieher kleinerer Einkommen und viele Konsumenten ein Problem darstellt. Denn die Leute haben ja ab dem nächsten Jahr nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung mit 3 Prozentpunkten zu tragen; vielmehr steigt auch die Versicherungsteuer - sie ist damit gekoppelt - um 3 Prozentpunkte. Dazu kommt, dass bis zum 20. Kilometer die Pendlerpauschale entfällt, der Sparerfreibetrag halbiert wird und das Benzin wohl teurer wird, weil der durch die Mehrwertsteuererhöhung und andere steuerliche Veränderungen erhöhte Mineralölsteueranteil zu einer Anhebung von ungefähr 5 Cent führt. Dies wird das Problem des Tanktourismus, das wir beispielsweise in Bayern sehr stark haben, verschärfen. Diese Probleme darf man nicht unter den Tisch kehren; vielmehr muss man sie benennen. ({1}) Es ist schade - das muss ich wirklich sagen -, dass die große Koalition, wenn sie schon eine Mehrwertsteuererhöhung macht, die Chance nicht genutzt hat, die Sozialversicherungsbeiträge nachhaltig unter 40 Prozent zu senken. ({2}) Wir haben Vorschläge dazu unterbreitet. Es ist schade, dass Sie das nicht gemacht haben; denn das hätte die Beschäftigungschancen arbeitsloser Menschen in diesem Land um einiges verbessert. Wir hätten es richtig gefunden, wenn man strukturell zielgenauer vorgegangen wäre. Die Kollegin Thea Dückert hat in diesem Zusammenhang das so genannte Progressivmodell entwickelt. Man hätte dieses Modell mit der Erhöhung finanzieren können. Gerade für Menschen mit einem Einkommen bis 2 000 Euro hätte man die Sozialversicherungsbeiträge auf hervorragende Art und Weise senken und damit gleichzeitig für die Arbeitgeber Anreize setzen können, insbesondere im unteren Lohnbereich mehr Menschen einzustellen. ({3}) Das wäre der richtige Weg gewesen. Sie sind ihn leider nicht gegangen. Vielleicht kommt in diesem Jahr ja noch etwas Positives, was in diese Richtung zielt. Die Konjunktur brummt ({4}) - ich sage das bewusst an dieser Stelle -, weil in den vergangenen Jahren, noch unter Mitwirkung der Grünen, Reformen gemacht worden sind, die jetzt zum Tragen kommen. Sie tragen dazu bei, dass unsere konjunkturelle Entwicklung besser ist. Die Konjunktur brummt, weil sich die Lohnstückkosten im Vergleich zum Ausland günstig entwickelt haben. Die Terms of Trade haben sich letztendlich zugunsten von Deutschland entwickelt. Vielleicht hat die PDS die aktuellen Berichte noch nicht gesehen. Bei der Argumentation der PDS bekommt man manchmal das Gefühl, sie hätte noch immer die Berichte von vor zehn Jahren im Kopf. ({5}) Wir sehen die Notwendigkeit für weitere Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen. Wir haben jetzt zwar einen Konjunkturaufschwung. Wenn man vonseiten des Staates jetzt aber nicht vernünftige Rahmenbedingungen setzt, besteht die Gefahr, dass es sehr leicht wieder zu einem Abschwung kommt. In diesem Zusammenhang sehen wir deswegen die Notwendigkeit, vernünftige Reformen durchzuführen. ({6}) Diese Reform ist aber nicht vernünftig. Sie ist ein Torso und wird Chaos verursachen. Die Pflegeversicherungsreform ist nicht in Sicht und die Arbeitsmarktreform ist strittig. Die Umstellung auf eine stärkere Steuerfinanzierung ist in den Bereichen, wo sie dringend notwendig wäre, in weiter Ferne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Scheel, der Kollege Schui würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sind Sie bereit, die folgende, sehr aktuelle Information zur Kenntnis zu nehmen: Um die drohende Inflationsgefahr zu bändigen, steigert die US-Zentralbank den Zins. Der Zweck ist, das Wachstum etwas zu drosseln, damit man den Inflationsgefahren entgeht. Das wird zur Folge haben, dass das Volumen der deutschen Exporte absinkt, weil die Konjunkturlokomotive USA ebenfalls ihre Fahrt verlangsamen wird. Sind Sie bereit, das zu würdigen und daraus den Schluss zu ziehen, dass uns eine Verbesserung der Terms of Trade zugunsten von Deutschland nicht weiterhelfen wird, wenn das Wachstum unserer Handelspartner nachlässt?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin bereit, das zu würdigen. Sie haben mich nach der Weltmarktsituation gefragt und Vergleiche mit dem Dollar angestellt. Dazu will ich sagen: Die Bedeutung des Dollars für unseren Wirtschaftsraum ist bei weitem nicht mehr so groß, wie es beispielsweise vor zehn oder 20 Jahren der Fall war, weil sich unsere Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern verändert haben. Die damit verbundenen Risiken wirken sich auf uns, was den Handel anbelangt, bei weitem nicht mehr so stark aus, wie es vor vielen Jahren der Fall war. Da Sie so schön stehen, gebe ich Ihnen noch eine andere Antwort. Sie haben vorhin die konjunkturelle Situation in Schweden angesprochen. ({0}) Dazu möchte ich Ihnen klar sagen: In Schweden finanzieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das hohe Steueraufkommen. Die Kapitaleinkünfte werden aufgrund der Tatsache, dass Kapital sehr flüchtig ist, was die Schweden zu Recht erkannt haben, mit einer sehr geringen Abgeltungsteuer bedacht. Ich finde, man kann nicht immer bei bestimmten Ländern das herausziehen, was einem gefällt, und alles andere, was dort vonstatten geht, nicht zur Kenntnis nehmen. ({1}) Sie müssen, wenn Sie schon einen Vergleich mit dem skandinavischen Raum anstellen, auch die andere Seite der Medaille sehen und nicht immer nur das, was Ihnen passt. ({2}) - Ja, das kann ich mir vorstellen. ({3}) Ich wollte noch einmal kurz auf das Stimmenchaos in der großen Koalition eingehen. Wir sehen: Wenn es um Steuererhöhungen geht, ist sich die große Koalition sehr schnell einig. Wenn es darum geht, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, kommen Sie nur millimeterweise voran, wenn Sie nicht sogar ein Stück zurückfallen. Wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung ansieht, erkennt man, dass sie nicht wegen, sondern trotz der großen Koalition so gut ist. ({4}) Das muss man in diesem Kontext deutlich sagen. Trotz Ihrer verkorksten Politik haben Sie der Wirtschaft zum Glück nicht geschadet. Diese Perspektive sollte man zur Kenntnis nehmen. Ich finde, dass die Diskussion, die über die Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen am Produktivkapital geführt wird, bei den Tarifparteien anzusiedeln ist. ({5}) Politik kann Rahmenbedingungen setzen. Sie kann auch vieles andere tun. Aber generell ist es so, dass Sie sich Themen zu Eigen machen, die Sie gar nicht unbedingt auf der politischen Ebene zu lösen haben, sondern die an anderer Stelle gelöst werden müssen. Über sie wird an anderer Stelle diskutiert und dort werden sie angegangen. Letztendlich kann man sagen, dass wir Grüne sehr gute Vorschläge gemacht haben zur Haushaltskonsolidierung, zum Abbau der Neuverschuldung und zu Einsparungen im Haushalt. Hier sitzt Frau Hajduk, die die große Koalition mit 350 Anträgen im Haushaltsausschuss malträtiert - das ist positiv gemeint - und Vorschläge gemacht hat. Wir haben zu den sozialen Sicherungssystemen Vorschläge gemacht. ({6}) Wir hätten auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten können. Aber wenn man sie schon macht, dann sollte man die Mittel sinnvoll verwenden und nicht so, dass sie versacken. ({7}) Wir befürchten, dass das der Fall sein wird. Danke schön. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Georg Fahrenschon hat als nächster das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Wissing, Sie erleben gerade das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten noch schnell einen Schaufensterantrag stellt. Im Ergebnis springt Ihnen nur noch Die Linke bei, allerdings garniert mit der für Sie mit Sicherheit zielführenden Forderung zur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung der Vermögensteuer. Ich gratuliere Ihnen zu diesem strategischen Zug. ({0}) Man kann sich die Mühe machen, nach besonderen Kronzeugen zu suchen. Ich habe einen gefunden. Ich bin stolz darauf, das Konzept eines ehemaligen Mitbürgers meines Wahlkreises, des Landkreises München, anzuführen; er ist aktiver Politiker. Er schreibt, dass sich die Haushalte von Bund und Ländern in einem desolaten Zustand befinden: Die Haushalte sind zu konsolidieren und die Schuldenberge abzubauen. Er schreibt weiter: Um diese Ziele zu erreichen, kann unter folgenden restriktiven Bedingungen eine Mehrwertsteuererhöhung herangezogen werden: … Ich fasse die Bedingungen wie folgt zusammen: Erstens muss es eine Unternehmensteuerreform geben. Zweitens muss es Subventionskürzungen und Sparmaßnahmen geben. Drittens müssen Steuerbegünstigungen reduziert werden. All diese Punkte hat die große Koalition abgearbeitet. Die Eckpunkte einer Unternehmensteuerreform, die auf die Bedürfnisse eines internationalen Wettbewerbs der Steuersysteme eingehen, liegen vor und werden bis Mitte 2007 in ein Gesetz gegossen. ({1}) Wir haben konsequent den Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen betrieben, sowohl im Bundeshaushalt 2006 als auch im Bundeshaushalt 2007. Bereits zum 1. Januar 2006 trat das Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage in Kraft. Ebenfalls zum 1. Januar 2006 trat darüber hinaus das Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen in Kraft. Außerdem trat zum 1. Januar 2006 das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm in Kraft, mit dem eine ganze Reihe weiterer Ausnahmetatbestände abgeschafft wurde. Dies umfasst die Beseitigung der Möglichkeit, Mietwohnungen degressiv abzuschreiben für Neufälle, die Streichung der Steuerfreiheit für Heirats- und Geburtshilfen, die Abschaffung der begrenzten Steuerbefreiung für Abfindungen sowie für Übergangsgelder und Übergangsbeihilfen und die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs von Steuerberatungskosten. Im Übrigen wird ebenfalls mit Wirkung für das Jahr 2006 im Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen darauf abgezielt, dass Gestaltungsmissbrauch und der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzeslücken im Steuerrecht entgegengewirkt wird. Schlussendlich wurden im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 2007 eine Reihe von Abzugspositionen und weiterer Sonderregelungen mit Wirkung ab dem 1. Januar 2007 eingeschränkt. ({2}) Dabei handelt es sich um eine ganze Reihe von Maßnahmen, durch die wir direkte Steuersubventionen und anderweitige steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten abgeschafft haben. Letztlich kommen wir, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren und den Schuldenberg abzubauen, allerdings nicht an einer Mehrwertsteuererhöhung vorbei, die wir jedoch mit einer gleichzeitigen Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um mehr als 2 Prozentpunkte verbinden. All das ist also ganz im Sinne des soeben von mir zitierten, in Grünwald, also im Landkreis München, geborenen Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses, Dr. Martin Lindner, seines Zeichens Vorsitzender der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus. ({3}) Der Kollege Lindner hat in seinem Papier mit dem Titel „Steuerpolitische Vorschläge der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus“ vom 16. Juni 2005, wahrscheinlich vor allem in Kenntnis der dramatischen Lage des Berliner Haushalts, das Problem wie folgt auf den Punkt gebracht: Um langfristig die Staatsfinanzen nachhaltig zu konsolidieren, kommen wir trotz aller Sparanstrengungen und Subventionskürzungen ({4}) nicht um eine Mehrwertsteuererhöhung herum. Diese Tatsache scheint Ihnen, meine Damen und Herren der FDP-Bundestagsfraktion, allerdings nicht bewusst zu sein. Daran, dass nur noch drei aufrechte Liberale anwesend sind, ({5}) wird deutlich, wie intensiv Sie diesen Antrag in Wahrheit verfolgen. ({6}) Sie bleiben unter Ihren Möglichkeiten, wenn Sie eine Diskussion, die wir erst in der letzten Sitzungswoche im Rahmen der Beratungen des Haushalts 2007 sehr ausführlich geführt haben, jetzt aufwärmen. Gulasch wird beim Aufwärmen besser, eine Debatte, die wir bereits sehr intensiv durchgekaut haben, aber mit Sicherheit nicht. ({7}) Übrigens geben mittlerweile, nach angemessener Verdauungszeit, auch die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute zuversichtlichere Prognosen ab. Heute Vormittag um 10 Uhr - diese Meldung ist also sehr aktuell - hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft seine Wachstumsprognose für das kommende Jahr um mehr als das Doppelte nach oben korrigiert: Statt 1 Prozent Wachstum erwartet das IfW für das Jahr 2007 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,1 Prozent. Zugegebenermaßen ist die Kieler Prognose damit am optimistischsten. Andere Institute sind zurückhaltender. Allerdings sagt uns der Sachverständigenrat bzw. sagen uns die fünf Wirtschaftsweisen ein Wachstum in Höhe von 1,8 Prozent voraus ({8}) und das Ifo-Institut prognostiziert - übrigens auch am heutigen Tag - immerhin ein Wachstum von 1,9 Prozent. Im Übrigen sind sich alle Konjunkturexperten in einem Punkt einig: Der Wirtschaftsaufschwung ist robust und beständig und er wird im kommenden Jahr trotz der Mehrwertsteuererhöhung nicht zum Stillstand kommen. ({9}) Das können Sie nicht vom Tisch wischen. ({10}) Ihr Antrag ist daher nicht nur fantasielos, sondern er geht schlicht und einfach an der Realität vorbei. Im Interesse der Sache sollte man sich aber auch damit auseinander setzen, was die Damen und Herren von der FDP-Fraktion unternehmen würden, ({11}) wenn sie selbst Verantwortung hätten. Dazu sagen Sie zweierlei: Erstens würden Sie ein neues Steuersystem auf den Weg bringen, das sich durch niedrige Steuersätze auszeichnet und einfach und gerecht ist. ({12}) Zweitens sagen Sie, Sie würden sparen. ({13}) Niedrige Steuersätze schlagen Sie zwar vor, ({14}) zur Gegenfinanzierung äußern Sie sich aber nicht. Auf den ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag, das Steuersystem zu vereinfachen, spannend. Das ist bei unserem Steuersystem allerdings keine große Schwierigkeit. Ihr Steuerkonzept ist schlicht und einfach weder gerechter noch realistischer. ({15}) Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern bitte einmal, wie, wenn man Ihr Steuerkonzept umsetzen würde, die Entlastung in Höhe von 15 bis 19 Milliarden Euro gegenfinanziert werden soll. Ich kann nur festhalten: Im Rahmen des „Liberalen Sparbuchs“, das Sie heute schon gar nicht mehr dabei haben, haben Sie Einspar- und Umschichtungsvorschläge von rund 8,3 Milliarden Euro gemacht. Das bedeutet, dass Sie die Hälfte der Gegenfinanzierung nicht aufbringen. Daher besteht nicht die Möglichkeit, Ihre Steuerpolitik umzusetzen. Abschließend möchte ich gerne noch einmal den Kollegen Lindner aus dem Berliner Abgeordnetenhaus zitieren. ({16}) Er sagte: Wenn es nach den drei Bedingungen - Sie erinnern sich: Unternehmensteuerreform, Subventionskürzungen und Abbau von Steuervergünstigungen höheren Finanzbedarf wegen der enormen Haushaltsnotlage bei Bund und Ländern sowie des notwendigen Umbaus der sozialen Sicherungssysteme gibt, brauchen wir eine höhere Mehrwertsteuer. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn: Herr Dr. Wissing, seien Sie so nett und richten dem Herrn Kollegen Niebel aus, der diese Debatte wohl auch nicht für so interessant hält, dass seit dem Ende Ihrer Rede mit Frau Barbara Hendricks eine Staatssekretärin aus dem Finanzministerium selbstverständlich anwesend ist. ({0}) - Er war bei der Rede von Herrn Dr. Wissing anwesend, aber dann nicht mehr. Ich wollte Sie nur bitten, das auszurichten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wissing zulassen?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von Herrn Dr. Wissing immer gerne. Sagt er mir jetzt, wo sich der Herr Kollege Niebel aufhält? Das möchte ich gar nicht wissen.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben gerade betont, dass die Staatssekretärin des Finanzministeriums seit dem Ende der Eröffnungsrede der Opposition an der Debatte teilnimmt. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es, gerade in Zeiten einer großen Koalition, sinnvoll wäre, dass schon zu Beginn der Debatte Regierungsvertreter da sind, um die Meinung der Opposition zur Kenntnis zu nehmen? ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Wissing, ich denke, dass sich die Frau Staatssekretärin sicherlich in voller Absicht, dieser Debatte beizuwohnen, aus dem Finanzministerium hierher begeben hat, völlig unerheblich, ob hier Sie sprechen oder ob hier die Kollegin Scheel von den Grünen oder der Herr Kollege Schui von der Linken spricht. Da gibt es keine Wertung, Herr Dr. Wissing. Frau Dr. Hendricks ist da und das sollten Sie bitte Herrn Niebel ausrichten. ({0}) Zu Ihrem Antrag fällt mir ein Zitat von Wilhelm Busch ein: Wofür sie besonders schwärmt, Wenn er wieder aufgewärmt. Die Witwe Bolte meinte damit den Sauerkohl - was ich nachvollziehen kann -, Sie meinen damit die Mehrwertsteuererhöhung. In so ziemlich jeder Debatte, die hier geführt wird, bringen Sie dieses Thema unter, heute sogar mit einem eigenen Antrag. Das erinnert mich auch ein bisschen an Cato den Älteren, der jede Rede im Senat beendete mit: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss. - So ungefähr machen Sie das mit der Mehrwertsteuererhöhung. Hier befinden Sie sich in guter Gesellschaft mit Ihren - und unseren Kollegen von der Linken, über deren Antrag wir vor kurzem in diesem Haus beraten haben. Unabhängig davon, wer von wem abschreibt, bleibt es purer Populismus. ({1}) - Sie werden es gleich hören, Herr Dr. Wissing. Ein bisschen Geduld oder eine Zwischenfrage, so viel Fairness muss sein: wegen meiner Redezeit. Ich nehme das Thema sehr ernst. Ich weiß, dass die Menschen unsicher sind, dass überall Kassandras und Unken alles tun, damit diese Verunsicherung bleibt. ({2}) Es stimmt - darüber können, dürfen und sollen wir uns freuen -: Die Konjunktur brummt, Deutschland gilt wieder als Wachstumsmotor, und die Steuereinnahmen sprudeln. Aber reicht das? Während die einen glauben, auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten zu können, und der Vermögensteuer neues Leben einhauchen wollen, versuchen es die anderen auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({3}) Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ist ein unrealistischer Wunsch; das wissen Sie selber. Sie können das zwei, drei Mal fordern und bekommen vielleicht auch Applaus dafür. Doch Sie werden sich beim dritten Mal eingestehen müssen, dass es wieder gescheitert ist. Dann mag auch der Letzte merken, dass es sich bei diesem durchsichtigen Manöver um Populismus handelt. Die FDP fordert in ihrem Antrag, stattdessen den Arbeitsmarkt zu deregulieren und beschäftigungsfeindliche Regelungen abzubauen. Das hört sich gar nicht so wild an, so verklausuliert, wie das geschrieben ist. Aber man muss dahintersehen: Sie wollen einen Abbau des Kündigungsschutzes, eine Einschränkung der Tarifautonomie, die Versteuerung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen und eine Aufkündigung der Flächentarifverträge. Herr Westerwelle bezeichnet ja gerne die Gewerkschafter als die wahre Plage Deutschlands. Das heißt, Sie wollen im Sog Ihres Antrags Ihr eigentliches Anliegen umsetzen, nämlich die Rechte der Arbeitnehmer zu schleifen. Sie haben dazu kein Wort gesagt. Ich verschweige diese beiden Punkte in Ihrem Antrag nicht. Ihr dritter Punkt bedeutet, dass Sie die Sozialsysteme nach Ihrem Gusto reformieren wollen. Was das heißt, kann man in Ihrem Wahlprogramm nachlesen. Dort steht: Wir wollen, dass jeder sich gegen sein eigenes Risiko der Arbeitslosigkeit versichert und entsprechend passgenaue Beiträge zahlt. Dazu gehört auch die eigenverantwortliche Einschätzung, ob man eine Zeit lang mit einer beitragsmindernden - ich wiederhole: beitragsmindernden Karenzzeit ohne Leistung auskommen kann. Das bedeutet doch wohl: Wer genug Geld auf der hohen Kante hat, muss weniger Beitrag bezahlen, wer sich dagegen eine Zeit ohne Einkommen nicht leisten kann, also zum Beispiel ein allein verdienender Facharbeiter mit Kindern, muss höhere Beiträge bezahlen. ({4}) Also: Diejenigen mit weniger Geld müssen mehr bezahlen, damit diejenigen mit mehr Geld weniger bezahlen müssen. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um das richtig auszusprechen. Wenn man darüber nachdenkt, wird es ganz absurd. ({5}) Bei Ihnen heißt Reform: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Das lassen wir so nicht stehen. Im Haushalt des Landes NRW, dem ja immerhin rund 20 Prozent von einem Mehrwertsteuerpunkt zustehen, wurde die Einnahme wie selbstverständlich verfrühstückt. Falls es jemand verdrängt haben sollte: Dort ist die FDP mit am Ruder. Trotz der Mehreinnahmen wurden Zuschüsse in fast allen sozialen Bereichen extrem gekürzt oder gänzlich gestrichen. Allein in meiner Gemeinde waren dies rund 50 000 Euro bei der Kindergartenfinanzierung. ({6}) Ich muss schon sagen, das ist die komfortabelste Situation überhaupt: Aus Populismus im Bundesrat dagegen sein, das Geld natürlich einsacken und am Ende auch noch die Kommunen und die Eltern schröpfen. Dieses Verhalten ist nicht schlüssig. ({7}) Dr. Hermann Otto Solms hat in seiner Haushaltsrede gesagt: Denn die Steuereinnahmen, die aufgrund der konjunkturellen Entwicklungen in diesem Jahr stärker sprudeln, kompensieren das erwartete Mehraufkommen bereits. Bei aller Wertschätzung für den Herrn Kollegen Dr. Solms: Das nenne ich Politik von der Hand in den Mund. Wir haben ein strukturelles Defizit von rund 40 Milliarden Euro und Sie meinen, wir könnten das mit 8 Milliarden Euro durch sprudelnde Mehreinnahmen ändern? Was ist das für eine schwache Rechnung? Die Mehreinnahmen aus der Erhöhung gehen zu gleichen Teilen an den Bund, an die Länder und an die ArGabriele Frechen beitslosenversicherung, deren Beitrag 2007 insgesamt um 2,3 Prozentpunkte gesenkt wird. Die Belastung durch die Mehrwertsteuererhöhung liegt bei rund 0,8 Prozent. Somit wird trotz einer Erhöhung der anderen Beiträge eine weitgehende Entlastung der Arbeitnehmerhaushalte stattfinden; da kann mir niemand etwas anderes sagen. Keine Entlastung - auch das weiß ich - erhalten Rentnerhaushalte, Studenten und Menschen, die Arbeit suchen. Das ist mir wohl bewusst. Aber alle profitieren mittelfristig von höheren Ausgaben in Bildung und von mehr Arbeitsplätzen. Ich verschweige auch nicht, dass es zu einer Konjunkturdelle kommen kann. Aber die führenden Wirtschaftsinstitute, die sich im Frühjahr noch eher skeptisch gezeigt haben, sagen voraus, dass es eben nicht zu einem Konjunktureinbruch kommen wird. Auch ich habe mich mit dieser Erhöhung schwer getan. Aber wir haben zuvor ein Konjunkturprogramm mit Entlastungen und Impulsen in Höhe von 25 Milliarden Euro bis 2009 verabschiedet, das Wirkung auch auf dem Arbeitsmarkt zeigt. Wer zu diesem auf Vorschuss, auf Pump finanzierten Programm Ja gesagt hat, der musste auch zur Mehrwertsteuererhöhung Ja sagen. Alles andere wäre feige und unehrlich gewesen. ({8}) Dieses Programm umfasst: Investitionen in Forschung und Entwicklung; verbesserte Abschreibungsbedingungen; ein Programm zur energetischen Gebäudesanierung, was bisher zu Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro geführt hat; die Fortsetzung der Zahlung der Investitionszulage in den neuen Bundesländern; die Aufstockung der Verkehrsinvestitionen; die steuerliche Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen, von Kinderbetreuungskosten und von Kosten für die Modernisierung der eigenen Wohnung. Durch die Einführung des Elterngeldes stehen den Familien 3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Betreuung von Kindern unter drei Jahren, 100-prozentige Bedarfsdeckung bei Kindertageseinrichtungen, offene Ganztagsschulen und staatliche finanziellen Hilfen sind der richtige Weg, sowohl Eltern als auch Kinder optimal zu fördern. Ich denke, dieses Konzept ist schlüssig. Familien, Handwerksbetriebe und Dienstleistungsunternehmen bekommen mehr Geld in die Hand, um die zunehmende Binnennachfrage weiter zu stärken. Das Anziehen der Konjunktur bewirkt die Schaffung neuer Arbeitsplätze, was gleichzeitig zu weniger Ausgaben aus den sozialen Sicherungssystemen und mehr Einnahmen in die sozialen Sicherungssysteme führt. Es gibt gute Chancen dafür, dass sich der eingeschlagene Kurs so positiv auswirkt, dass wir die Konjunkturbremse verkraften können. Das Mehr an Arbeitsplätzen kommt dann den Menschen zugute, die heute keine Arbeit haben. Ich denke, das muss unser vorrangiges Ziel sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wird ein Teil auch in den Schuldenabbau bzw. - besser gesagt in eine niedrigere Neuverschuldung gesteckt. Auch das halte ich für lauter. ({9}) - Aber selbstverständlich. Ich möchte mit einer Beurteilung der Schweizer Konjunkturexperten von BAK Basel Economics schließen. In der „NZZ Online“ steht dazu: „Schweizer Wirtschaft soll nächstes Jahr um 2,1 Prozent wachsen“. Jetzt werden Sie fragen, warum ich ausgerechnet die Schweizer heranziehe. Ich sage es Ihnen. Es heißt nämlich weiter: Den grösseren Optimismus für 2007 erklärt BAK mit höheren Wachstumserwartungen für die deutsche Wirtschaft, dem wichtigsten Schweizer Handelspartner. Die Konjunkturindikatoren seien dort - also hier bei uns „unerwartet gut“, und die Zeichen für einen „selbst tragenden Aufschwung“ verdichteten sich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sollten uns dem Schweizer Optimismus anschließen; denn Wirtschaft hat ja bekanntlich auch etwas mit Zutrauen und mit Gefühl zu tun. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, die Vorlage auf Drucksache 16/2520 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen - Drucksache 16/508 - aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 16/3813 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Michael Kauch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Eva Bulling-Schröter bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/3814 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Petra Hinz ({2}) Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Anna Lührmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Friedrich ({4}), Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern - Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort. ({5})

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! Ich freue mich, dass wir in dieser letzten Sitzungswoche vor Weihnachten die Beratung der Gesetzesnovelle zum Fluglärmschutz mit der zweiten und dritten Lesung endlich abschließen werden. ({0}) Wir haben den Gesetzentwurf unserer rot-grünen Vorgängerregierung in ganz wesentlichen Punkten verbessern können. Um dies zu erreichen, haben wir sowohl mit Vertretern der Lärmschutzverbände als auch mit Vertretern der Luftverkehrswirtschaft diskutiert. Wir saßen mit Vertretern der Länder, mit Sachverständigen und mit betroffenen Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Republik zusammen. Dabei sind die unterschiedlichsten Vorstellungen heftig aufeinander getroffen. Es war ein hartes Stück Arbeit, dies alles so unter einen Hut zu bekommen, dass nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern ein belastbarer Interessenausgleich herausgekommen ist. Niemand weiß dies besser als meine Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter aus allen Fraktionen, bei denen ich mich an dieser Stelle für die hervorragende Zusammenarbeit ausdrücklich bedanken möchte. Insbesondere möchte ich mich bei meinem Kollegen Petzold recht herzlich bedanken. ({1}) In vielen Punkten - naturgemäß nicht in allen - haben wir uns einigen können. Deshalb kann ich die Ablehnung der beiden Anträge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen für meine Fraktion auch mit gutem Gewissen vertreten und um Ihrer aller Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf werben. ({2}) Ich meine, mit den intensiven Beratungen der letzten Wochen sind wir der Bitte unseres Bundesumweltministers Sigmar Gabriel um Sorgfalt und Kompromissbereitschaft, die er bei der Einbringung der Novelle vor beinahe genau zehn Monaten hinsichtlich der Ausschussberatung gestellt hat, vorbildlich nachgekommen. ({3}) Ebenso vorbildlich war dabei die Unterstützung durch die Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums. Meinen herzlichen Dank dafür. ({4}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Lärm - seiner Entstehung, seiner Wahrnehmung und seinen Auswirkungen - haben wir es mit einer ausgesprochen komplexen Materie zu tun. Dennoch werden wir auf Schritt und Tritt damit konfrontiert. Sind wir in einem Moment noch Erzeuger von Lärm, sind wir im nächsten Moment schon wieder selbst davon betroffen. Zweifellos ist in unserer modernen, auf Mobilität und wirtschaftliche Flexibilität existenziell angewiesenen Gesellschaft Lärm nicht immer und überall vermeidbar. Wenn wir davon ausgehen, dass Schall erst in dem Augenblick zu Lärm wird, wenn er unangenehm, störend und gesundheitsschädigend wirkt, dann haben wir es nicht mit einem physikalischen, sondern vielmehr mit einem psychologisch-medizinischen Phänomen zu tun. Obwohl die Wahrnehmung von Lärm daher stark vom subjektiven Empfinden abhängt, ist dennoch objektiv nachgewiesen, dass Lärm krank macht. Darüber hinaus lassen sich auch im psychischen, ökonomischen und sozialen Bereich negative Auswirkungen belegen. Was bedeutet das nun alles ganz konkret für den Fluglärm? Die dynamische Entwicklung des Flugverkehrs hat zu einer immens gestiegenen Anzahl der Flugbewegungen geführt. Die Dauerschallpegel konnten bis heute nur konstant gehalten werden, weil die technischen Verbesserungen an den Flugzeugen den Pegelanstieg im Durchschnitt noch kompensierten. Die ermittelten Pegelwerte geben allerdings keine Auskunft über die empfundenen Lärmbelastungen und erheblichen materiellen Verluste infolge des Wertverlustes von Grundstücken. Dies tun aber die vielen Eingaben, Petitionen und Proteste gegen Fluglärm, die uns regelmäßig erreichen. Die Berichte der von Fluglärm betroffenen Menschen und eigene Erfahrungen machen deutlich, dass das Leben unter Fluglärm zu gravierenden Verschlechterungen der Lebensqualität führt. Wie ich bereits vorhin angedeutet habe, bewegen wir uns mit der Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes innerhalb eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Interessen. So sind wir uns selbstverständlich darüber im Klaren, dass wir den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes unter anderem auch dem hervorragend aufgestellten Luftverkehrsstandort Deutschland verdanken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Exportweltmeister wird man nicht zu Fuß. Von Flughäfen und deren Infrastruktur hängen zudem viele tausend Arbeitsplätze direkt und indirekt ab. Ein wohlüberlegter Ausgleich zwischen den Bedürfnissen lärmgeplagter Menschen auf der einen Seite und einer der dynamischsten Wachstumsbranchen unseres Landes auf der anderen Seite ist eine große Herausforderung. Deren Bewältigung ist nichtsdestotrotz unsere Pflicht. ({5}) Vor diesem Hintergrund lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf eingehen, was das Fluglärmschutzgesetz denn nun künftig leisten wird, und vor allem, wo die Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf, ganz zu schweigen von dem bisher noch gültigen Gesetz von 1972, liegen. Grundsätzlich ermöglicht das neue Gesetz mehr passiven Schallschutz für Anwohner durch eine Ausweitung der Schutzzonen. Erstmals wird auch eine Nachtschutzzone eingeführt und damit dem Schutz des Schlafes besonders Rechnung getragen. Konkret heißt das: Mit der Neufassung des Fluglärmschutzgesetzes werden künftig wesentlich mehr Menschen in der Umgebung der Flughäfen Ansprüche auf Schallschutz haben. Definiert werden die beiden Tagschutzzonen 1 und 2 und die Nachtschutzzone durch die Lärmgrenzwerte. Erfreulicherweise ist uns die Absenkung der bisherigen Grenzwerte um 10 bis 15 dB - ich wiederhole: 10 bis 15 dB - gelungen. ({6}) Wenn wir dabei berücksichtigen, dass die Senkung des Schallpegels um 10 dB die subjektive Wahrnehmung des Lärms um die Hälfte reduziert, ist dies, denke ich, ein großer Schritt in die richtige Richtung. ({7}) Die neuen Grenzwerte gelten künftig für alle Verkehrsflughäfen mit regelmäßigem Fluglinien- und Pauschalreiseverkehr. Grundlage des Berechnungsverfahrens ist die so genannte Drei-Sigma-Regelung. Das bedeutet: Drei Sigma am Tag, drei Sigma in der Nacht. Ich habe vorhin von der subjektiven Schallwahrnehmung gesprochen. Die Aufgabe war, einen subjektiven Eindruck, der nicht zuletzt von psychologischen Faktoren abhängt, mittels eines physikalischen Berechnungsverfahrens abzubilden. Wir haben uns die Diskussion um die Berechnungsgrundlage wahrlich nicht einfach gemacht, hängt doch davon die Gesundheit vieler Menschen ab. Im Übrigen muss die Berechnungsgrundlage auch für Flughafenbetreiber wirtschaftlich darstellbar sein. Im Zusammenhang mit der Festsetzung der Grenzwerte gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen den neuen bzw. wesentlich baulich erweiterten zivilen sowie militärischen Flugplätzen unterschieden wird. Dies ist dem bereits beschriebenen Unterschied in der Wahrnehmung von Schallereignissen unterschiedlichen Charakters geschuldet. Die Lärmsituation eines Militärflughafens unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der eines zivilen Flughafens. So findet beispielsweise an einem Militärflughafen in den lärmsensiblen Zeiten wie morgens oder abends, in der Nacht und am Wochenende kein Flugverkehr statt. Ich freue mich ganz besonders, dass es gelungen ist, im Interesse der Anwohner eine wesentliche bauliche Erweiterung eines Flugplatzes so zu definieren, dass eine Erweiterung dann gegeben ist, wenn diese zur Erhöhung des äquivalenten Dauerschallpegels an der Grenze zur Tagschutzzone 1 oder des LAeq Nacht an der Grenze der Nachtschutzzone um mindestens 2 dB führt. Durch das Instrument der vorausschauenden Siedlungsplanung wird überdies von vornherein Konflikten vorgebeugt. In einem Lärmschutzbereich dürfen keine Krankenhäuser, Altenheime, Erholungsheime und ähnliche Einrichtungen gebaut werden. In den Tagschutzzonen des Lärmschutzbereiches gilt das beispielsweise auch für Schulen und Kindergärten. Ich denke, das ist besonders wichtig. Die Bedenken, dass Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime in Lärmschutzbereichen künftig keine baulichen Erweiterungen vornehmen dürfen und damit von der Schließung bedroht wären, sehe ich nicht, Herr Kauch. Denn im Bedarfsfall können Ausnahmen durch die zuständige Landesbehörde genehmigt werden. Änderungen ohne Kapazitätserweiterungen fallen zudem nicht unter das Bauverbot. Des Weiteren werden Ansprüche auf passiven Schallschutz für Wohngebäude in hochgradig fluglärmbelasteten Gebieten festgesetzt. Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen, möchte ich nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass im Fluglärmschutzgesetz Fragen zum aktiven Lärmschutz nicht geregelt werden sollten. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Verkehrslärm entsteht von selbst. Ruhe und damit der Schutz lärmgeplagter Menschen müssen hingegen gewollt und bewusst herbeigeführt werden. Ich habe den Eindruck, dass wir unsere Handlungsfähigkeit in dieser Angelegenheit erfolgreich unter Beweis gestellt und bei dieser schwierigen Ausgangssituation ein belastbares Etappenziel erreicht haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dennoch meine ich: Aktiven Lärmschutz auch im Flugbetrieb umzusetzen, bleibt eine wichtige Forderung, der die Politik zukünftig gerecht werden muss. Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr lange - man könnte auch sagen: zu lange - haben die Anwohnerinnen und Anwohner auf ein neues Fluglärmgesetz gewartet. ({0}) Seit der ersten Ankündigung durch das BMU hat es sechs Jahre gebraucht, um den Gesetzentwurf heute zur Abstimmung im Deutschen Bundestag vorzulegen. Es ist aber zu begrüßen, dass es endlich so weit ist. Denn das alte Gesetz verdiente den Titel „Fluglärmschutzgesetz“ schon lange nicht mehr; die Anforderungen, die an den Lärmschutz gestellt wurden, gehen in der Regel nicht mehr auf dieses Gesetz, sondern auf Betriebsgenehmigungen und Richterrecht zurück. Insofern möchte ich vor den Erwartungen warnen, die auch durch die Rede von Herrn Mühlstein geweckt werden. Dass die Grenzwerte um 15 dB gesenkt werden, ist nach dem Gesetzentwurf theoretisch zwar richtig; aber an den Flughäfen wird sich kaum etwas ändern. An den allermeisten Flughäfen wird sich zumindest kurzfristig und im Bestandsfall nicht viel ändern, weil dieses Schutzniveau bereits erreicht wird. Es wird allerdings Standorte geben, an denen es tatsächlich zu erheblichen Verbesserungen kommt. Das erkennen wir ausdrücklich an; denn nun liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm vor, das - das kann man mit Fug und Recht sagen - einen Ausgleich zwischen den Interessen der Anwohner auf der einen Seite und den Interessen der Nutzer und der Betreiber der Flughäfen auf der anderen Seite schafft. ({1}) Es ist ein ausgewogener Kompromiss zum Lärmschutz an zivilen Flughäfen. Auch wir haben uns - das sage ich an die Adresse der anderen Oppositionsfraktionen - an der einen oder anderen Stelle sicherlich mehr gewünscht. Aber im Ergebnis stellt das Gesetz eine deutliche Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Rechtslage dar. Deshalb stimmen wir - Sie hätten sich also Ihren Zuruf sparen können - dem Gesetzentwurf in der Konsequenz zu. ({2}) Neue niedrige Schutzzonengrenzwerte werden eingeführt. Insbesondere erhalten Anwohner neuer oder auszubauender Flughäfen - das ist interessant, auch mit Blick auf die Rechtssicherheit - ein besseres Schutzniveau. Für die Anwohner von Flughäfen mit Nachtbetrieb wird es eine Regelung geben, die sehr stark auf Einzelereignisse abstellt. Das sind in der Tat diejenigen, die für das Aufwachen in der Nacht verantwortlich sind. Auch hier ist man im parlamentarischen Verfahren zu einem vernünftigen Kompromiss gekommen. Ich sage ausdrücklich: Wir, die Liberalen, haben immer ein klares Bauverbot - gerade für Wohnungen - in den Schutzzonen gefordert. Dieses Verbot war bislang sehr löchrig. Es gibt zwar noch immer ein paar Hintertüren. Aber das hat sich im Vergleich zum bisherigen Fluglärmschutzgesetz deutlich verbessert. ({3}) Wir sind dafür, dass schutzwürdige Einrichtungen in diesen Zonen nicht gebaut werden. Nun komme ich auf den Fall zu sprechen, der hier schon angesprochen wurde. Um es gleich vorweg zu sagen: In meinem Wahlkreis ist das Problem gelöst. Dort liegt eine Baugenehmigung bereits vor. Uns geht es darum, dass die Altenheime, die vor der Entscheidung stehen, ausgebaut oder geschlossen zu werden, aufgrund pflegerechtlicher Voraussetzungen, die der Gesetzgeber geschaffen hat, auch nach dem In-Kraft-Treten des novellierten Fluglärmschutzgesetzes die Möglichkeit haben, ihren Bestand zu sichern. Hier reicht es nicht aus, das in das Ermessen der Behörden zu legen. Vielmehr muss man an dieser Stelle ein Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung vorsehen. Das haben wir im parlamentarischen Verfahren gefordert. Das wurde von der Koalition aber leider abgelehnt. Ich denke, an dieser Stelle ist das Gesetz noch nachbesserungsbedürftig. ({4}) Das Gesetz muss noch in einem anderen Punkt verbessert werden, und zwar im Bereich der Militärflughäfen. Ich finde, das hier gewählte Verfahren ist ausgesprochen ärgerlich. Sie von der Koalition setzen für zivile Flughäfen bestimmte Grenzwerte an, weil von da an eine Gesundheitsschädigung nicht auszuschließen ist. Aber Sie sind nicht bereit, die Anwohner von Militärflughäfen, also dort, wo nicht die Bundesländer, die Kommunen oder Private zahlen müssen, sondern Sie selber, mit dem gleichen Schutz auszustatten. Vielmehr wollen Sie diesen Bürgern ein deutlich höheres Lärmniveau zumuten, bevor Sie die Kosten für den Schallschutz erstatten. Das finde ich ehrlich gesagt unanständig. ({5}) Hier kann man nicht argumentieren, die Lärmbilder an den Militärflughäfen seien anders. Das stimmt zwar. Ihre Zahl ist geringer. Dafür ist es aber lauter. Deshalb muss der Schutz aus meiner Sicht eher höher sein als niedriger. Die Argumentation der Koalition ist daher völlig abstrus. ({6}) In dem von uns in den Bundestag eingebrachten Entschließungsantrag weisen wir darauf hin, an welchen Stellen der vorliegende Gesetzentwurf nicht optimal ist und wo wir noch einmal darüber nachdenken müssen, ob das, was hier entschieden wurde, richtig ist. Dennoch stimmen wir heute zu, denn wir müssen endlich Rechtssicherheit für die Anwohner, für die Flughäfen und für die Menschen, die den Flugverkehr nutzen, schaffen. Wir dürfen nicht weiterhin über Jahre eine unendliche Diskussion führen, sondern wir müssen zu einer Entscheidung kommen, die zumindest für die Anwohner an den Verkehrsflughäfen ein Fortschritt ist. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Kauch, Sie müssen uns zugestehen, dass wir die Möglichkeit für Ihr Alten- und Pflegeheimprojekt eröffnet haben. Aber wir wollen eben nicht die Scheunentore öffnen. Zu den Militärflughäfen bzw. Bestandsflughäfen komme ich später. Es ist allerdings anders, als Sie ausgeführt haben. Im Jahre 1997 hat sich der Deutsche Bundestag in einer Anhörung erstmalig mit der Novellierung des Fluglärmgesetzes befasst. Lassen Sie mich deshalb mit Befriedigung feststellen, dass sich diese Koalition erneut als handlungsfähig erwiesen hat und dass sie es gerade nicht zu einem zehnten Jahrestag einer Anhörung hat kommen lassen, ohne eine Gesetzesnovelle vorzulegen. ({0}) - Wir waren nun einmal zwischendurch sieben Jahre lang leider nicht an der Regierung. ({1}) Wir haben einen Konsens zum Schutz vor Fluglärm nicht nur zwischen den Regierungsfraktionen und den Ministerien, sondern auch mit den Bundesländern und den kommunalen Spitzenverbänden hinbekommen, sodass sich die Ministerpräsidenten, die sich noch vor wenigen Wochen gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen haben, heute mit Vehemenz für die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes einsetzen. ({2}) Sie wissen, das war nicht von vornherein so. Noch in der ersten Lesung musste ich davor warnen, dass das Gesetz am Bundesrat scheitern könnte; denn leider fühlte sich eine ganze Reihe von Landesregierungen bei der ursprünglichen Formulierung des Gesetzentwurfes mit ihren Bedenken etwas außen vor gelassen. Nun könnte man davon ausgehen, dass der Kompromiss dadurch erzielt wurde, dass wir an dem eingebrachten Gesetzentwurf Abstriche gemacht haben. Mitnichten, das Gegenteil ist der Fall. In jedem der neun Punkte des CDU/ CSU-SPD-Antrages, der mit dem heutigen Tag Teil des Gesetzes wird, ist eine Ausweitung des Lärmschutzes bzw. der Rechte der Lärmbetroffenen formuliert, wie ich im Rahmen der Berichterstattung Punkt für Punkt nachgewiesen habe. Ich möchte jetzt nur kurz einige Beispiele nennen. Es wurde das Wesentlichkeitskriterium für den Ausbaufall am Rande der Nachtschutz- und Lärmschutzzone 1 auf 2 Dezibel herabgesetzt. Der Geltungsbereich des Fluglärmgesetzes wurde auf alle Flughäfen mit Linien- und Pauschalreiseverkehr ausgeweitet. Die Siedlungsentwicklung in den Lärmschutzzonen wurde auf ein vernünftiges Maß begrenzt. Die Erstattungsverfahren für Lärmschutzaufwendungen der Lärmbetroffenen werden wesentlich vereinfacht und verkürzt. Der Bestand von freiwilligen Vereinbarungen zum Lärmschutz ist gesichert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines ist mir jedoch besonders wichtig: Lärmmedizinische Gutachten zur Feststellung von zulässigen Lärmpegeln im Rahmen von luftrechtlichen Zulassungsverfahren stellten bisher immer eine große Unwägbarkeit für alle Seiten dar. Durch unser Fluglärmgesetz werden die Pegelwerte des Gesetzes als echte Grenzwerte eingeführt, sodass diese zeit- und nervenaufreibenden Gutachten nicht mehr erforderlich sind. Allerdings werden lärmmedizinische Gutachten, die sich speziellen Problemen im Rahmen von lufttechnischen Zulassungsverfahren widmen, auch weiterhin gesondert in diese Verfahren eingeführt werden können. ({3}) Unter der Maßgabe der großen Vorbehalte, die es zu Verhandlungsbeginn gegenüber den höheren Anforderungen des Gesetzentwurfes an die Flugplatzbetreiber gab, muss das in langen Verhandlungen erzielte Ergebnis in jedem Fall als Erfolg für den Lärmschutz gewertet werden. ({4}) Erlauben Sie mir noch einige grundsätzliche Anmerkungen aufgrund der Diskussionen in den letzten Tagen und Wochen. Da ist zum einen die Frage: Ist auf Dauer die Unterscheidung zwischen Bestandsflughäfen auf der einen Seite und neuen und ausgebauten Flughäfen auf der anderen Seite bei der zugemuteten Lärmbelastung haltbar? Dazu muss man rechtssystematisch bemerken, dass bei allen Verkehrsträgern bei der zulässigen Lärmbelastung der Anwohner eine Unterscheidung zwischen Neu- und Ausbau auf der einen Seite und Bestand auf der anderen Seite gemacht wird. Auch die unterschiedliche Behandlung von zivilen und militärischen Flugplätzen bei den zulässigen Schallpegelwerten kann nur mit den sich wesentlich unterscheidenden Bewegungszahlen in den einzelnen Tagesabschnitten und Wochenabschnitten gerechtfertigt werden. Auf militärischen Flugplätzen sind die Flugbewegungen stark an Dienstzeiten gebunden, die eher eine Abend-, Nacht- und Wochenendruhe gewährleisten. Außerdem kann ich hier auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen verweisen, welches diese unsere Auffassung bestätigt. Dem Gesetzgeber ist es im Jahr 2015 unbenommen, diese Fragen erneut aufzugreifen; denn dann muss er unser Gesetz auf seine Wirksamkeit überprüfen. Meine Fraktion erwartet jedoch, dass auch in Zukunft Flugplatzbetreiber im Sinne des nachbarschaftlichen Friedens weiterhin freiwillige Leistungen des aktiven und passiven Lärmschutzes erbringen. Ganz besonders erwarten wir dieses bei der Erstattung von Aufwendungen für bauliche Schallschutzmaßnahmen und bei der Entschädigung für die Beeinträchtigung des Außenwohnbereichs im Hinblick auf die so genannten Bestandsflugplätze. Grundsätzlich ist zu dem Gesetz anzumerken, dass es gegenüber dem bisher geltenden Gesetz aus dem Jahr 1971 zu einer deutlichen Reduzierung der zulässigen Schallpegelwerte kommt, wie es mein Kollege Mühlstein schon ausgeführt hat. Zusätzlich werden fluglärmbedingte Maximalpegel mit einem Häufigkeitsfaktor gesetzlich eingeführt, mit denen der Tatsache Rechnung getragen wird, dass insbesondere die Maximalpegel als besonders belästigend empfunden werden. Die Ausweitung von ursprünglich nur einer Schutzzone auf jetzt zwei Tagschutz- und eine Nachtschutzzone trägt der Entwicklung in der Rechtsprechung Rechnung. Es ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass wir mit den im Gesetz gefassten Schallschutzwerten insbesondere für den Neu- und Ausbaufall nicht hinter der jüngsten Rechtsprechung zum Schutz vor Fluglärm zurückbleiben. ({5}) Bei der Außenwohnbereichsentschädigung gehen wir sogar deutlich über alles, was bisher in der Rechtspraxis existiert, hinaus. Die Forderung einiger Fluglärmschutzverbände, im Fluglärmgesetz auch den aktiven Schallschutz zu regeln, läuft rechtssystematisch ins Leere. Das Fluglärmgesetz bezieht sich ausdrücklich auf den so genannten passiven Schallschutz. Der so genannte aktive Schallschutz, zu dem technische Anflugregelungen, aber auch Regelungen zum Flugverkehr zu festgelegten Tageszeiten gehören, wird im Luftverkehrsgesetz erfasst, das aber nicht Teil dieser Gesetzesinitiative sein kann. ({6}) Lassen Sie mich aber bitte feststellen: Es bleibt einer Genehmigungsbehörde auch nach unserer Novellierung des Fluglärmgesetzes im Rahmen eines luftrechtlichen Zulassungsverfahrens unbenommen, begründet höhere Anforderungen auch an den aktiven Schallschutz festzuschreiben. Dieses Gesetz ist mit Sicherheit nicht der Schlusspunkt für den Schutz gegen den Fluglärm, aber es ist ein wesentlicher Schritt, der deutlich mehr Rechtssicherheit für alle Seiten schaffen wird. Lassen Sie uns diesen Schritt heute gehen. Auch ich möchte noch einige Worte des Dankes loswerden. Am Anfang gab es einige Irritationen. Wir haben aber dann mit dem Umweltministerium eine hervorragende Zusammenarbeit gefunden. Lieber Kollege Mühlstein, ich glaube, es war ein hartes Stück Arbeit, das wir gemeinsam geleistet haben. Ich danke auch allen anderen Berichterstattern. Auch sie haben sich eingebracht, sodass wir ein Gesetz geschaffen haben, das zwar nicht allen Bedenken Rechnung trägt. Aber es besteht doch so weit Konsens zwischen uns, dass wir als Bundestag ein bisschen stolz auf dieses Gesetz sein können. ({7}) Den Vorwurf - der in einigen Medien gegen das Ministerium erhoben worden ist -, dass die Luftverkehrswirtschaft einen unzulässigen Einfluss auf dieses Gesetz genommen habe, weise ich nachdrücklich zurück. Was behauptet wurde, zeugt von Unwissenheit, Ignoranz; man könnte fast sagen: von Böswilligkeit. Deswegen glaube ich, dass wir hier durchaus einmal hinter diesem Ministerium stehen können. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Lutz Heilmann für Die Linke das Wort. ({0})

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung die Novellierung des Fluglärmgesetzes. Herr Kollege Mühlstein, Sie sprachen davon, dass wir uns in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten befinden. Ich habe Ihren Ausführungen entnommen, dass Sie der Meinung sind, dass dieses Fluglärmgesetz für die Anwohnerinnen und Anwohner sozusagen ein Weihnachtsgeschenk sei. Wenn wir jetzt vor Ostern stünden, würde ich eher sagen, es ist ein komisches Osterei, das Sie den Leuten ins Osternest legen wollen. ({0}) Als Weihnachtsgeschenk würde ich das wahrlich nicht bezeichnen; denn ein effektiver Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner vor Fluglärm ist mit diesem Gesetz nicht möglich. ({1}) Kein Flughafen - das haben Sie selbst gesagt - wird leise. Aktiver Lärmschutz - Fehlanzeige. Da muss ich auch an die FDP einmal ein paar Worte richten. Herr Kauch, bei der Bahn sind Sie nicht so zögerlich, für aktiven Lärmschutz zu sorgen. Warum tun Sie das nicht auch beim Flugverkehr? ({2}) - Das ist ein anderes Gesetz. Dann haben Sie ja die Möglichkeit, dem Änderungsantrag unserer Fraktion, der ebenfalls vorliegt, zuzustimmen. Dann können wir aktiven Lärmschutz in dieses Gesetz integrieren. ({3}) Fluglärm wird ebenso wie der Flugverkehr zunehmen und somit einen noch größeren Beitrag zum weltweiten Klimawandel leisten. Wir debattieren in diesem Hause momentan ja auch viel über den Klimawandel. Beim Thema Fluglärm können wir aktiv etwas gegen den Klimawandel tun; zumindest können wir versuchen, ihn zu meistern. Dieses Gesetz bietet allenfalls den Flughäfen Schutz vor den Anwohnerinnen und Anwohnern; denn diese werden mit Peanuts abgespeist. ({4}) Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs. Wir reden in diesem Hause viel davon, mehr für unsere Kinder tun zu müssen. Aber wenn unsere Kinder, nachdem sie bis zum Mittag in geschlossenen Räumen gesessen haben, am Nachmittag, wenn sie zu Hause sind, vielleicht auf die Idee kommen, im Garten zu spielen, wird ihnen durch Ihr Gesetz zugemutet, dass dort eine 747 über sie hinwegrauscht. Damit wird ihnen das Spielen ordentlich verdorben. Doch nun noch ein paar Gedanken zu dem Gesetzentwurf. Er hat eine lange Geschichte. Es gab vier rot-grüne Entwürfe, von denen jeder letztendlich schlechter war für die Anwohnerinnen und Anwohner als sein Vorgänger. Das ist auch kein Wunder; denn - eine Frage meines Kollegen Roland Claus an die Bundesregierung brachte es ans Licht und am 19. Oktober war es in einem „Monitor“-Bericht in der ARD zu sehen - einige Mitarbeiter von Fraport und des Flughafens Köln sind im Verkehrsministerium tätig, und zwar in der Abteilung, die für den Flugverkehr zuständig ist. Ein Schalk, der Schlechtes dabei denkt. Nun habe ich nichts gegen Lobbyarbeit. Wir alle holen uns auf parlamentarischen Abenden Rat von Sachverständigen, von Leuten, die tiefere Kenntnisse haben als wir. Aber die Vorgehensweise, dass Vertreter der Flugwirtschaft Gesetzentwürfe schreiben, halte ich ganz einfach für skandalös. Forderungen, das Gesetz komplett neu zu kodifizieren, sind nicht unbegründet. Nun zu dem Änderungsantrag der Koalition - auf den Änderungsantrag meiner Fraktion komme ich gleich zu sprechen -: Die Verkürzung der Fristen zur Zahlung von Erstattungen und Entschädigungen begrüßen wir. Jedoch sind die vorgesehenen fünf Jahre ganz einfach zu lang. Lieber Kollege Petzold, es gibt eine ganze Menge Leute, die schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren darauf warten, dass überhaupt etwas passiert. Sie jetzt noch einmal fünf Jahre warten zu lassen, wäre nicht richtig. Die Definition der baulichen Erweiterung ist in Ordnung. Aber die Lex Fraport haben Sie nicht gestrichen. Das wäre ein echter Fortschritt gewesen. Sie wollten mit Ihrem Änderungsantrag für mehr Rechtssicherheit sorgen. Das begrüßen wir ausdrücklich. So sollen gemäß § 8 Abs. 1 des Luftverkehrsgesetzes Grenzwerte des Fluglärmgesetzes beachtet werden. In der vorhergehenden Fassung hieß es aber, dass diese Werte zugrunde zu legen sind. Was ist nun die schärfere Regelung: „zu beachten“ - dann muss man nicht so genau hinschauen oder „zugrunde zu legen“? Nach unserer Meinung ist der zweite Fall die schärfere Regelung. Sie haben also Ihr Gesetz wesentlich entschärft. Somit kann ich nur sagen: Die Änderungen, die Sie im letzten halben Jahr vorgenommen haben, reichen nicht aus. Es fehlen klare Vorgaben zur Begrenzung von Lärm und es fehlt insbesondere der aktive Lärmschutz. Nun möchte ich Ihnen die wichtigsten Punkte aus unserem Änderungsantrag vorstellen. Wir plädieren für die Aufnahme des aktiven Lärmschutzes in das Gesetz. Wir sind in diesem Lande der Gesetzgeber und wir haben jederzeit die Möglichkeit, Gesetze so zu gestalten, wie wir es für richtig halten. - Herr Kollege Petzold, es ist unhöflich, dass Sie jetzt nicht zuhören. Drehen Sie sich doch bitte um! - Wenn wir es für notwendig halten, den aktiven Lärmschutz in das Gesetz aufzunehmen, dann sollten wir das auch tun. Wir sind der Souverän und können eine entsprechende Maßnahme beschließen. So weit meine staatsrechtliche Bemerkung. ({5}) Als zweiten wichtigen Punkt möchte ich noch einmal die Frist ansprechen. Wir fordern, dass die Frist für Erstattungs- und Entschädigungsansprüche auf zwei Jahre verkürzt wird. Kollege Kauch, Sie haben richtigerweise die Privilegierung der Militärflughäfen angesprochen, die wir genauso wie Sie für absurd und für nicht gerechtfertigt halten. Deswegen ist dieser Punkt in unserem Änderungsantrag enthalten. Neben der Aufnahme des aktiven Lärmschutzes wäre die Ablehnung der Privilegierung der Militärflughäfen der zweite Grund für Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Wir kommen uns also relativ nahe. ({6}) Des Weiteren fordern wir, die Grenzwerte zu senken. Denn die Grenzwerte, die Sie in dieses Gesetz hineingeschrieben haben, richten sich beileibe nicht an den aktuellen Ergebnissen der Lärmwirkungsforschung aus. Sie müssen gesenkt werden; so können sie nicht bleiben. Der letzte Punkt, den ich nennen will, ist die Berichtspflicht der Bundesregierung. Da die Forschung schnell voranschreitet, fordern wir, dass die Bundesregierung alle fünf Jahre und nicht alle zehn Jahre Bericht erstatten muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Denn nur so können wir den Anwohnerinnen und Anwohnern einen effektiven Lärmschutz gewährleisten. Ansonsten könnten wir das alte Fluglärmgesetz beibehalten, frei nach dem shakespeareschen Motto: Viel Lärm um nichts. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Winfried Hermann.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir Grüne begrüßen es, dass es nach 35 Jahren heute wohl gelingen wird, das Fluglärmgesetz zu novellieren. ({0}) Um der Wahrheit die Ehre zu geben, will ich sagen, dass dieses Gesetz schon 1998, als es 27 Jahre alt war, veraltet war. Wir haben damals unter Rot-Grün eine Altlast übernehmen müssen. Es ist mir leider nicht vergönnt gewesen - das bedaure ich; ich habe es schon einmal öffentlich bekundet -, in den sieben Jahren rot-grüner Regierung ein neues Gesetz durchzubringen. Dieses Gesetz hätte viel früher kommen müssen. ({1}) Ich muss aber auch sagen, dass ich immer wieder von der Leistung der großen Koalition überrascht bin. Insbesondere überraschen mich die Genossinnen und Genossen, weil sie nämlich erst die CDU/CSU brauchen, um das zu machen, was sie schon sieben Jahre vorher mit uns hätten machen können. ({2}) Im Wesentlichen, was die Grundzüge betrifft, stammt dieser Gesetzentwurf aus der Zeit der rot-grünen Regierung und insbesondere aus dem Hause Trittin. Damit ist er nicht per se gut. Ich will aber deutlich sagen: Ich bin froh, dass Sie nicht hinter dieses Projekt zurückgefallen sind. Ich will Ihnen durchaus zugestehen, dass Sie das Gesetz im parlamentarischen Verfahren nicht schlechter gemacht haben, sondern an verschiedenen Stellen sogar noch nachgebessert haben. Dafür mein Kompliment. ({3}) Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass es eine deutliche Absenkung der Grenzwerte um 10 Dezibel gibt. Aber es ist natürlich keine Kunst - an dieser Stelle fängt die kritische Betrachtung an -, nach 35 Jahren einen Grenzwert um 10 Dezibel abzusenken, wenn die Technologie in derselben Zeit die Verringerung der Lärmemissionen bei Verkehrsflugzeugen um 20 Dezibel möglich gemacht hat. Das heißt, im Grunde genommen hinken auch dieser Gesetzentwurf und damit seine Grenzwerte der technischen Entwicklung hinterher. Er ist auf keinen Fall sehr ambitioniert. Sie tun aber Folgendes: Sie retten sozusagen die Ehre des deutschen Parlaments, damit wieder Gesetzesrecht des Parlaments und nicht Richterrecht gilt, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist. ({4}) Aus Sicht der Grünen ist der Gesetzentwurf nicht optimal und an einzelnen Stellen nicht wirklich ausgewogen. Ich will dies an drei Punkten aufzeigen. Erster Punkt: die Grenzwerte. Ich halte es für nicht gut, dass Sie der Besonderheit der Nachtschutzzonen und der Schlafbedrohung durch Fluglärm nicht angemessen Rechnung tragen. Alle Experten sagen, dass aus gesundheitlichen Gründen in der Nacht ein Grenzwert von 45 Dezibel festgelegt werden muss. Sie sind deutlich darüber geblieben. Sie hatten nicht den Mut, so weit zu gehen. Sie haben meines Erachtens unnötigerweise eine Lex Fraport beschlossen. Sie führen zwar neue Grenzwerte ein, lassen aber genügend Zeit, damit die geplanten Ausbaumaßnahmen noch im Rahmen der alten Grenzwerte erfolgen können. Das ist nicht ausgewogen. Da haben Sie die Interessen eines bestimmten Flughafens einseitig berücksichtigt. Zweiter Punkt: der Charakter von Grenzwertfestsetzungen. Wir können anhand der Geschichte dieses Gesetzes erkennen, dass es kein modernes Umweltrecht ist, wenn man Grenzwerte auf ewig festsetzt. Man muss sich einmal übertragen vorstellen, was wäre, wenn heute für Autos die gleichen Emissionsgrenzwerte wie vor 35 Jahren gelten würden. Da gibt es selbstverständlich eine dynamische Fortschreibung der Grenzwerte, also alle fünf Jahre eine neue Euronorm mit deutlich abgesenkten Werten. In diesen Zeiträumen geht es nicht um eine Senkung um 10 Dezibel, sondern um die Absenkung der Werte um 80 bis 90 Prozent. Wir müssen also auch im Lärmbereich zu einer regelmäßigen kritischen Überprüfung und Anpassung der Grenzwerte kommen. In Ihrem Gesetzentwurf wird nur die Überprüfung festgelegt, aber keine sichere Konsequenz formuliert. Wir fordern, dass es eine regelmäßige Anpassung im Sinne der Lärmwirkungsforschung gibt. ({5}) Dritter Punkt: Auch wir schätzen es so ein - dies wurde von meinen Kollegen von der Opposition schon angesprochen -, dass die besondere Privilegierung des militärischen Fluglärms und damit die Benachteiligung der Anwohner von Militärflughäfen nicht zu rechtfertigen ist. ({6}) Sie brauchen mir da nichts vorzumachen; denn schon zu unserer Regierungszeit hat sich sofort der Verteidigungsminister gemeldet und gesagt, das koste zu viel Geld. Das war auch jetzt wieder ein Argument. Weil man die Kasse des Verteidigungsministers nicht quälen und dem Ministerium nichts zumuten wollte, obwohl es sich, gemessen an diesem großen Etat, um eine kleine Summe handelt, müssen die Anwohner von Militärflughäfen auf Schallschutzmaßnahmen verzichten. Das ist nicht fair; das ist nicht gerecht. Das finden wir nicht gut und das ist korrekturwürdig. ({7}) Ich will zum Ende meiner Rede deutlich machen, dass das Fluglärmgesetz natürlich nicht das Ende des Lärmschutzes an Flughäfen sein kann. Kollege Heilmann, das ist ein Konzept des passiven Lärmschutzes; das ganze Gesetz ist so konzipiert. Man soll es nicht überfordern, sondern klar sehen, dass es andere Gesetzesfelder gibt, wo man den aktiven Lärmschutz angehen muss, etwa bei der europäischen Richtlinie zur lärmbedingten Betriebsbeschränkung, die nicht ambitioniert in deutsches Recht umgesetzt wird. Hier gibt es Spielräume, aktiv einzugrenzen und zu sagen: Wenn zu viel Lärm entsteht, dann können Flughäfen anders als bisher eingreifen und Einschränkungen vornehmen. Ein weiteres Feld ist schon eröffnet. Wir werden demnächst europaweit Daten darüber sammeln, wie sich Lärm in Ballungsräumen ausbreitet, und sie kartieren. Dabei müssen natürlich die Zonen um Flughäfen in besonderer Weise berücksichtigt werden. Wir werden dann wahrscheinlich sehr beeindruckende Lärmkarten bekommen und daraus abgeleitet die Aufforderung, aktive Lärmschutzpläne auszuarbeiten und Maßnahmen bzw. Strategien vorzuschlagen, damit es in diesem Bereich insgesamt zu weniger Lärm kommt. Sie sehen, es ist noch viel zu tun. Wir sollten uns nicht gleich auf die Ruhebank setzen und sagen: Jetzt warten wir 35 Jahre. Es wäre bedauerlich, wenn erst im Jahre 2040 kurz vor Weihnachten wieder einmal ein Deutscher Bundestag über ein solches Gesetz beraten würde. Ich hoffe, wir kommen zu einer früheren Novellierung und zu einer rechtzeitigen Anpassung der Grenzwerte an das, was die Forschung uns immer wieder sagt. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Man merkt, dass Weihnachten bevorsteht. Sehr geehrter Herr Hermann, ich möchte in diesem Stil weitermachen und mich bei Ihnen für die Anerkennung der Leistungen der großen Koalition auf der einen Seite und die Ehrlichkeit auf der anderen Seite, mit der Sie dieses Thema eben behandelt haben, bedanken. Bevor es zu diesem Fluglärmgesetz kommen konnte, gab es einen langen Landeanflug, stellenweise etwas Getöse, einige Turbulenzen. Das liegt natürlich an den vielen Piloten und Fluglotsen, die an diesem Prozess beteiligt waren. Herr Heilmann, wenn man das, was Sie uns gerade gesagt haben, auch noch berücksichtigen wollte, wäre die Angelegenheit nebulös geworden und die ganze Angelegenheit wäre zu einem Blindflug geworden. Ich möchte das aufgreifen, was Herr Hermann gerade mit seinem Wort von der Lex Fraport angedeutet hat, nämlich dass der eine oder andere behauptet hat, es habe bei diesem Prozess auch noch ein paar blinde Passagiere, nämlich Lobbyisten, gegeben, die an entscheidender Stelle ihren Einfluss ausgeübt hätten. Wenn wir im Deutschen Bundestag einer solchen Behauptung das Wort reden, dann begehen wir einen entscheidenden Fehler, ({0}) weil wir uns selber damit bei dem infrage stellen, was wir hier, unabhängig und nur unserem Gewissen unterworfen, tun. ({1}) Weil ich selber nicht zu den Berichterstattern gehöre, möchte ich an der Stelle - wie es viele Vorredner auch getan haben - den Berichterstattern nicht nur für die viele Arbeit, sondern auch ganz entscheidend dafür danken, dass sie diese Arbeit in großer Unabhängigkeit und in der Abwägung verschiedener Interessen getan haben. ({2}) Wir sind mit der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs heute auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Tatsache ist: Der Verkehrslärm nimmt zu. Die Belastung, die die Bevölkerung trägt, muss man beachten und man muss als Gesetzgeber etwas dagegen tun. Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden, ganz klar: Umweltschutz ist in erster Linie auch Menschenschutz. ({3}) Tatsache ist: Es wollen viele fliegen; die wenigsten wollen aber einen Flughafen vor der Haustür. Auch dafür habe ich Verständnis. Aber wir müssen auch Folgendes sehen: Wir sind eine Exportnation. Güter und Menschen müssen wir wettbewerbsfähig transportieren können. Ich möchte auch noch hinzufügen: Dieses Gesetz bürdet - je nachdem, wie man es berechnet - den zivilen Flughäfen, den Kommunen und den Ländern Kosten bis zu einer Höhe von 738 Millionen Euro auf. Das sage ich nur, damit wir wissen, um welche Größenordnung es sich hier handelt. Ich möchte noch eine weitere Zahl nennen: Es sind 400 Millionen Euro in diesen Bereich als Vorleistungen auf Basis des alten Gesetzes und auf freiwilliger Basis geflossen. Auch das sollte man einmal anerkennen. ({4}) Tatsache ist natürlich: Es handelt sich um einen Kompromiss, um keine Punktlandung. Das ist aber sehr viel besser, als dieses Thema permanent in der Luft zu halten, wie wir es über Jahre und Jahrzehnte getan haben. ({5}) Ich möchte jetzt etwas zum Thema Richterrecht sagen. Wir haben im Unterschied zum anglofonen Bereich kein „case law“, es also nicht mit der Situation zu tun, dass mithilfe von Präzedenzfällen für Rechtssicherheit gesorgt wird. Deshalb sind wir als Gesetzgeber aufgerufen, diesen Sachverhalt nicht schleifen zu lassen und Rechts- und Planungssicherheit zu schaffen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Eines ist aus meiner Sicht ganz klar: Wir schaffen Mindeststandards - ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen, weil viele ja sagen, das sei alles kritisch zu sehen -, über die man hinausgehen kann. Denjenigen, die Bau- bzw. Ausbaumaßnahmen durchführen, sei geraten, über diese Mindeststandards hinauszugehen. Das verbessert die Akzeptanz. Es gibt ja auch nicht nur den passiven Lärmschutz, sondern auch den aktiven Lärmschutz. Das sollte man entsprechend berücksichtigen. ({6}) Von uns wurde die Tatsache kritisch gewürdigt - insbesondere in der CSU wurde darüber diskutiert -, dass wir ohne zeitliche Begrenzung zwischen zwei Klassen differenzieren, nämlich zwischen denjenigen, die an bestehenden Flughäfen wohnen, und denjenigen, die an neu zu errichtenden Flughäfen wohnen. Das ist unbefriedigend. ({7}) Wir akzeptieren hier Unterschiede von 5 dB, und zwar über die im Gesetz vorhandene Schwelle des Jahres 2011 hinaus. Das ist bedauerlich. Wir haben aber für das Jahr 2015 eine Überprüfung geregelt. Es ist im Übrigen eine gute Idee, das in einem Gesetz festzuschreiben. Solche Regelungen sollten wir immer wieder treffen. In diesem Rahmen haben wir die Chance, diese Differenzierung zu korrigieren. Aus der Sicht der CSU wäre das wünschenswert. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollegen Christian Carstensen. ({0})

Christian Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003745, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gemerkt: Das Thema Fluglärm und die damit verbundene Diskussion über den notwendigen Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner bewegt die Gemüter heute ebenso wie früher. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verzeichnete für das damals geteilte Deutschland im Jahr 1970 rund 8,8 Millionen Fluggäste bei rund 630 000 Flugbewegungen. Der Umweltschutz war in dieser Zeit gerade erst auf der bundespolitischen Tagesordnung aufgetaucht. ({0}) Der damals zuständige Bundesinnenminister Genscher - ein eigenes Umweltressort war damals noch gar nicht denkbar - brachte eine Grundgesetzänderung auf den Weg, die dem Bund erstmals volle Gesetzgebungskompetenz für den Umweltbereich bringen sollte. ({1}) - Mit Recht natürlich und mit einem sozialdemokratischen Koalitionspartner. - Gleichzeitig wurde ein Gesetzentwurf zum Schutz vor Fluglärm in der Umgebung von Flughäfen eingebracht. Der Bundestag brauchte zwei Legislaturperioden, um das Gesetz um 16. Dezember 1970 endlich in dritter Lesung beschließen zu können. Heute, in der letzten Sitzungswoche des Jahres 2006, also bis auf zwei Tage genau 36 Jahre später, kommt es endlich zu einer umfassenden Erneuerung des Gesetzes. Viel hat sich seitdem verändert. Auf manchen Feldern gibt es aber überraschende Parallelen. Die Zahl der Fluggäste und -bewegungen im zum Glück längst vereinten Deutschland hat sich dramatisch verändert. 2005 wurden nicht mehr wie damals 8,8 Millionen, sondern rund 146 Millionen Fluggäste gezählt. Die Zahl der Flugbewegungen erhöhte sich von den genannten 630 000 auf über 2 Millionen. Es wird also wirklich Zeit, die gesetzlichen Regelungen für den Schutz vor Fluglärm auf eine neue Grundlage zu stellen. Aber auch diesmal hat der Bundestag - das ist angesprochen worden - lange dafür gebraucht. Da die nachfolgende Generation ja immer steigerungsfähig ist, haben wir nicht zwei, sondern drei Wahlperioden gebraucht. Umso besser ist es, dass wir uns dieses Mal darauf verständigt haben, die Bundesregierung schon jetzt auf eine Überprüfung nach zehn Jahren zu verpflichten. Damit legen wir bereits heute die Grundlage dafür, dass nicht erst wieder dreieinhalb Jahrzehnte ins Land gehen müssen, ehe das Gesetz den aktuellen Gegebenheiten angepasst wird. Kollege Hermann, aus dieser Regelung folgt, dass, wenn Bedarf besteht, nach zehn Jahren entsprechend gehandelt wird. ({2}) Herr Kollege Nüßlein, das ist im Übrigen ein Grund, warum wir heute noch keine Vereinbarung für das Jahr 2020 - Sie und einige andere haben das angesprochen bzw. gefordert - in das Gesetz hineinschreiben müssen. Für Versprechungen gegenüber den Anwohnerinnen und Anwohnern, die sich bei einer Überprüfung in zehn Jahren möglicherweise als unerfüllbar herausstellen werden, sind jedenfalls wir Sozialdemokraten nicht zu haben; das sollte aber für uns alle gelten. Nach den Diskussionen der letzten Wochen liegt uns ein Gesetzentwurf vor, der sich sehen lassen kann. Das Gesetz wird den notwendigen und wichtigen Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner verbessern und den Flughäfen Planungs- und Rechtssicherheit bieten. ({3}) An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten herzlich danken. Dieser Dank richtet sich natürlich an die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit, aber eben auch an die Vertreter der Opposition für kritische Anmerkungen und Fragen, die dann koalitionsintern für konstruktive Diskussionen gesorgt haben. Kollege Hermann hat das gerade von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich gewürdigt. Nicht nur deswegen geht bei dem Dank an die Opposition ein besonderer Dank an die Grünen, weil - Sie erwähnten das schon - wichtige Vorarbeit in der letzten Wahlperiode für den letztendlich rot-grünen Gesetzentwurf geleistet wurde. Daher wussten Sie - das haben Sie im Februar bei der Debatte zur ersten Lesung erwähnt um die vorhandenen Schwächen. Aber ich hoffe, dass Sie heute auch um die Stärken des Gesetzentwurfs wissen und es am Ende so machen werden wie die FDP und dem Gesetzentwurf gemeinsam mit uns zustimmen. ({4}) - Sie haben noch ungefähr zehn Minuten Zeit zum Nachdenken. Der Dank geht - das Umweltministerium wurde ganz oft angesprochen - an den Umweltminister, aber auch an den Bundesverkehrsminister und die entsprechenden Häuser für die Begleitung der parlamentarischen Arbeit und nicht zuletzt an die Vertreter der Anwohnerinnen und Anwohner und auch der Luftverkehrswirtschaft für ihre - es war nicht anders zu erwarten - höchst unterschiedlichen Hinweise. Natürlich konnten wir nicht alle aufgreifen; denn es galt, einen fairen Interessenausgleich herzustellen. Aber alle Hinweise wurden sehr ernst genommen und ausführlich beraten. Mein Kollege Mühlstein hat schon auf zahlreiche Verbesserungen im Interesse der Anwohnerinnen und Anwohner hingewiesen. Nun werden Sie sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich als Verkehrspolitiker mich auf die Situation und Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft konzentrieren möchte. Das tue ich, nicht obwohl, sondern gerade weil ich selbst vom Lärm betroffener Anwohner - in diesem Fall des Flughafens Hamburg - bin. Ich weiß nicht, ob hier noch der eine oder andere Flughafenanwohner anwesend ist. ({5}) Wir Flughafenanlieger kennen nicht nur den Lärm, sondern wir kennen fast alle auch Freunde, Nachbarn oder Verwandte, die am Flughafen oder im unmittelbaren Umfeld arbeiten. Zurzeit sind das rund 770 000 Menschen. Glücklicherweise gehen die Erwartungen dahin, dass diese Zahl noch steigt. Das geschieht aber nicht automatisch. Die neuen Arbeitsplätze entstehen nur, wenn unsere Luftverkehrswirtschaft im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Wettbewerbssituation gehen wir heute mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs. Denn wir schaffen damit die seit langem von allen Seiten geforderte Rechts- und Planungssicherheit. Es war einfach ein unhaltbarer Zustand, ein so altes Gesetz zu haben, dass Richterrecht das geschriebene Recht längst korrigierte. Gleichzeitig sichern wir letztlich im Interesse aller durch abgestufte Bauverbote und -beschränkungen den Flughäfen notwendige Freiräume und vermeiden zukünftige Nachbarschaftskonflikte. Natürlich reicht das nicht aus. Gerade im Bereich der Luftfahrt sind weitere Anstrengungen notwendig, um die Zukunft dieser Wachstumsbranche zu sichern. Die notwendigen Ausbauvorhaben in München und Frankfurt zeigen, wie wichtig die Verkürzung der Planungszeiträume in unserem Land ist. Zahlreiche EU-Vorhaben und die allgemeine Entwicklung in der Branche - nicht zuletzt mit neuen Konkurrenten im Nahen Osten - bedürfen der Begleitung. Auch im industriellen Bereich ist zum Beispiel bei der Ingenieurausbildung regelmäßige Unterstützung wichtig. Ein neuer Luft- und Raumfahrtkoordinator könnte dabei ausgesprochen hilfreich sein. Ich hoffe sehr, dass, nachdem wir die Einführung der neuen maritimen Koordinatorin erleben konnten, hier nun bald ein entsprechender Ansprechpartner für die Luft- und Raumfahrt zugegen sein wird. Sicherlich ist nicht jeder mit diesem Gesetz rundherum zufrieden. Es bleibt die Frage, ob es nicht auf der einen oder anderen Seite etwas weniger und auf der einen oder anderen Seite etwas mehr hätte sein können. Tatsächlich - das haben wir gerade schon wieder erlebt versuchen einige, einen derartigen Wettbewerb zu starten. Sie fordern die Überprüfung schon nach fünf statt nach zehn Jahren, hier ein paar Dezibel weniger und dort ein paar Ausnahmen bei den Siedlungsbeschränkungen mehr. ({6}) Wir werden uns - das sage ich Ihnen ganz deutlich - an diesem Spiel nicht beteiligen. Zur Begründung möchte ich Sie noch einmal kurz zu den Anfängen des Fluglärmschutzgesetzes entführen. ({7}) Vor 36 Jahren fasste der SPD-Abgeordnete Konrad die Beratungen laut Protokoll wie folgt zusammen: Das Fluglärmgesetz berücksichtigt in seiner heutigen Form die Gesichtspunkte, die ein solches Gesetz nun einmal berücksichtigen muß. Die gesundheitspolitischen und die wirtschaftspolitischen Interessen sind vernünftig koordiniert, was politisch durchsetzbar und finanziell möglich ist, haben wir beschlossen. Vieles hat sich geändert, aber diese Zusammenfassung galt damals und gilt heute. Deswegen bitte ich Sie alle: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man könnte sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir haben lange, 35 Jahre lang, praktisch seit der letzten gesetzlichen Regelung, immer wieder über dieses Thema diskutiert und in den letzten Monaten hart miteinander gerungen, galt es doch, die Quadratur des Kreises schaffen zu müssen. Ich glaube, dass sich das Ergebnis unserer Beratungen sehen lassen kann. Es ist ein vernünftiger Kompromiss, ein fairer Ausgleich zwischen dem Anliegen der Menschen nach Schutz vor übermäßigem Fluglärm und den legitimen ökonomischen Interessen der Luftverkehrswirtschaft. Herr Kollege Carstensen hat schon darauf hingewiesen, dass immerhin mehr als eine dreiviertel Million Menschen direkt oder indirekt in der Luftverkehrswirtschaft beschäftigt sind. Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. ({0}) Drei zentrale Ziele werden wir mit dieser Gesetzesnovelle erreichen: Das 35 Jahre alte Fluglärmgesetz - zuletzt Richterrecht - wird grundlegend modernisiert, der Schutz der Menschen vor Fluglärm wird erheblich verbessert und es wird Rechts- und Planungssicherheit für zukünftige Neu- und Ausbaumaßnahmen geschaffen. Die Kollegen Dr. Nüßlein und Carstensen haben bereits darauf hingewiesen, dass wir weg vom Richterrecht wollten. Ich will nicht all das wiederholen, was bereits vorgetragen worden ist, sondern zwei Aspekte ansprechen, die in dieser Diskussion, wie ich glaube, von besonderer Bedeutung sind. Zum einen geht es um die vielfach kritisierte Ungleichbehandlung von bestehenden und neu gebauten bzw. wesentlich ausgebauten Flughäfen. ({1}) Hier gelten unterschiedliche Lärmgrenzwerte. Richtig ist - das muss man sehen -: Die Lärmbelastung der Menschen ist in beiden Fällen gleich groß. Wenn dennoch unterschiedliche Werte gelten, dann muss man berücksichtigen, dass Flughäfen, die neu gebaut oder wesentlich erweitert werden, die Möglichkeit haben, sich auf die damit verbundenen Kosten einzustellen und diese Gelder zu erwirtschaften. Für bestehende Flughäfen ist das aufgrund der Kapazitätsgrenze, die es nun einmal gibt, so schnell nicht möglich. ({2}) Diese unterschiedliche Ausgangslage rechtfertigt eine unterschiedliche Behandlung. Bei Straßen und Schienen herrschen - auch das ist schon gesagt worden - ähnliche Unterschiede: Der Neubau von Autobahnen und Schienenwegen erfolgt mit Lärmschutz, an bestehenden Straßen und Schienen haben die Bürger darauf keinen Anspruch. Wir haben dazu ein freiwilliges Programm aufgelegt. Im Übrigen sind die Grenzwerte bei Schienenwegen und Straßen erheblich höher als die, die demnächst für bestehende Flughäfen gelten werden. ({3}) - Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie wie ich neben einem alten Schienenweg wohnen würden, auf dem nachts ein Güterzug fährt, dann hätten auch Sie Spaß. ({4}) Der zweite Gesichtspunkt, den ich erwähnen möchte, wurde in der letzten Zeit schon häufig angesprochen: Es geht um die Frage, ob die Verlängerung einer bereits bestehenden Nachtfluggenehmigung als neues Kriterium für eine weitere Verschärfung der Lärmgrenzwerte eingeführt werden sollte. Man muss in der Tat sagen: Der entsprechende Vorschlag ist bedenkenswert. Denn Nachtflugverkehr bringt, was ja niemand leugnen kann, zusätzliche Belastungen. Wenn man das durch schärfere Grenzwerte mildern könnte, wäre das mehr als einen Gedanken wert. Nur, wir haben auch zu sehen, dass diese Verschärfung wegen der notwendigen Maßnahmen zu erheblichen Mehrkosten führen würde. In Hannover-Langenhagen werden diese Kosten auf 50 Millionen Euro geschätzt. In Köln wäre der Betrag mit Sicherheit gleich hoch. Die Folge wären höhere Gebühren und wegen der Kostensteigerungen bestünde die Gefahr einer Abwanderung von Logistik- und anderen Unternehmen. Wir haben hier eine schwierige Abwägung zu treffen. Nachtflugverbote und -erlaubnisse sind Ländersache. Wir haben die Ministerpräsidenten gefragt. Ihr Votum war, sich für die Arbeitsplätze zu entscheiden, gegen eine zusätzliche Verschärfung der Grenzwerte. Das haben wir dann aufgegriffen und berücksichtigt. Aber ich gebe gerne zu, das ist ein Thema, das auf der Tagesordnung bleibt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann es ganz kurz machen, Frau Präsidentin: Ich bin mir sicher, dass wir dieses Thema weiter verfolgen und spätestens in zehn Jahren erneut eine Diskussion haben werden. Wir werden in diesem Hause mit Sicherheit noch viel über Lärm sprechen, vielleicht demnächst über den Lärm an bestehenden Schienensträngen, der die Bürger ähnlich quält. Ich hoffe, dass wir genauso kooperativ und konstruktiv zusammenarbeiten, und möchte meine Rede beschließen mit einem Dank an alle, die mitgearbeitet haben in der großen Koalition: Herr Mühlstein und Herr Carstensen natürlich, bei uns Frau Dött und Herr Dr. Lippold.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch ein Dank an das Ministerium! Mein letzter Dank geht an die Präsidentin, dass sie mit mir so viel Geduld gehabt hat. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit sind wir am Ende dieser Debatte. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen auf Drucksache 16/508. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3813, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen, Drucksache 16/3863. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Prostimmen der Linksfraktion, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses abgelehnt. Zum Gesetzentwurf liegen persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor von Michael Hartmann ({0}), Elisabeth Winkelmeier- Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Siegfried Kau- der.1) Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diesem Gesetzentwurf zugestimmt haben die Abgeordneten der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. ({1}) - Bei Enthaltung eines Abgeordneten der CDU/CSU- Fraktion. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Ge- setzentwurf mit dem gleichen Abstimmungsverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 16/3862? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der FDP-Fraktion ist bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak- tion Die Linke abgelehnt. 1) Anlagen 2 und 3 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3860? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt. Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3861. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/3813 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/263 mit dem Titel „Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linksfraktion angenommen. Unter Nr. III empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/551 mit dem Titel „Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2005 ({3}) - Drucksachen 16/850, 16/3561 Berichterstattung: Abgeordnete Anita Schäfer ({4}) Elke Hoff Paul Schäfer ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe. Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, die Präsidentin sieht es mir nach, wenn ich ausnahmsweise auch die Soldaten auf der Zuschauertribüne herzlich willkommen heiße. ({6}) Seit meinem Amtsantritt im vergangenen Jahr bin ich häufiger gefragt worden, was die gravierendsten Probleme bei der Bundeswehr seien. Anders gefragt: Wo drückt den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr am meisten der Schuh? Manche erwarten auf derartige Fragen eine Zusammenfassung dessen, was aus den etwa 6 000 Eingaben hervorgeht, die ich als Wehrbeauftragter Jahr für Jahr auf den Tisch bekomme. Eine solche Zusammenfassung würde zumindest aus meiner Sicht aber nur einen Teil der Realität widerspiegeln. Meine Antwort auf diese doch recht komplizierte Frage nach der Stimmung in der Truppe sieht sehr viel einfacher und schlichter aus. Aus meiner Sicht bewegt die Soldatinnen und Soldaten am meisten die Tatsache, dass im soldatischen Alltag Anspruch und Wirklichkeit nicht selten weit auseinander klaffen. Zum Beispiel wird bei der mit aller Kraft vorangetriebenen Transformation der Bundeswehr nicht ausreichend im Auge behalten, welche enormen Folgewirkungen sich aufgrund der zusätzlichen Einsatznotwendigkeiten in den letzten zehn Jahren für das Personal, für das Material und vor allen Dingen für die Finanzausstattung ergeben haben. Anspruch und Wirklichkeit liegen auch dann ein Stück auseinander, wenn von den Verantwortlichen in Politik und Bundeswehr die Leistungen der Soldatinnen und Soldaten zwar in höchsten Tönen gelobt werden, auf der anderen Seite gerade diese hoch gelobten Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger im Portemonnaie haben und außerdem die Tatsache unerwähnt bleibt, dass zwei Drittel aller Soldatinnen und Soldaten zu den unteren Einkommensgruppen in unserer Gesellschaft gehören. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat einmal den ebenso schlichten wie eindrucksvollen Satz gesagt: „Sagen, was man tut, und tun, was man sagt“. Das ist nicht nur eine Aufforderung zu mehr Glaubwürdigkeit in Politik und Gesellschaft, das ist im Grunde auch eine wichtige Säule der so genannten inneren Führung - „so genannt“ sage ich nur für diejenigen, die nicht jeden Tag mit der Bundeswehr zu tun haben -; denn aus Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit erwächst Vertrauen. Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage für die Menschenführung, für die Motivation, für die Einsatzbereitschaft und auch für die soldatische Kameradschaft. Das Prinzip, sein Denken und Handeln immer an der Glaubwürdigkeit auszurichten, gilt selbstverständlich und in ganz besonderer Weise auch für mich als Wehrbeauftragten. Deshalb habe ich mir unmittelbar nach meiner Vereidigung einige Grundsätze vorgenommen, die für meine Amtsführung bestimmend sein sollen und aus Wehrbeauftragter Reinhold Robbe meiner Sicht auch dazu beitragen können, Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu stärken. Zu diesen Grundsätzen gehört, dass ich möglichst nahe bei unseren Soldatinnen und Soldaten sein möchte. Deshalb habe ich die Zahl der Truppenbesuche ausgeweitet und bin ich zwischenzeitlich dazu übergegangen, in den Heimatstandorten fast nur noch unangemeldete Truppenbesuche durchzuführen. ({7}) Darüber hinaus bin ich darum bemüht, einmal im Jahr alle Einsatzgebiete aufzusuchen. Dies entspricht meinem Verständnis von Basisnähe. Vor allem aber entspricht das auch den Erwartungshaltungen der Soldatinnen und Soldaten. Daneben möchte ich als „Hilfsorgan des Bundestages“, wie es im Grundgesetz heißt, sehr gerne dabei helfen, die besonderen Themen der Bundeswehr in unser Parlament hineinzutragen. Der Bundespräsident hat dankenswerterweise mehr Anteilnahme für die Soldatinnen und Soldaten eingefordert, die ihre Gesundheit und ihr Leben für unser Land einsetzen. Ich finde, das gilt erst recht für den Deutschen Bundestag. Insofern verstehe ich meine Aufgabe durchaus auch als eine Art Dienstleister, dessen Auftraggeber das Parlament ist. Meine gewonnenen Erkenntnisse, meine Erfahrungen und meine Einschätzungen stehen deshalb selbstverständlich nicht nur dem Fachausschuss und den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, sondern auch allen anderen Parlamentariern in sämtlichen Bereichen zur Verfügung. Meine Damen und Herren, dem Plenum liegt heute mein Jahresbericht für das Jahr 2005 zur abschließenden Beratung vor. Im Juni dieses Jahres konnte ich Ihnen diesen ersten von mir verfassten Bericht bereits vorstellen. Das Aufzeigen der Mängel und Probleme in dem Bericht stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse aus rund 60 Truppen- und Informationsbesuchen. Zum anderen liegen dem Bericht aber auch rund 5 600 Eingaben von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zugrunde. Das sind etwa 10 Prozent weniger als im Jahr zuvor, also als im Jahr 2004. Heute, wenige Wochen vor dem Jahreswechsel, kann ich Ihnen berichten, dass sich die Gesamtzahl der Eingaben im laufenden Jahr deutlich erhöht hat; sie wird sich wieder bei etwa 6 000, auf das ganze Jahr bezogen, einpendeln. Welche besonderen Probleme sich aus den Einschätzungen und der Transformation für die Truppe im Jahr 2005 ergeben haben, konnte ich bereits im Rahmen der ersten Beratungsrunde schildern. Ich erinnere an dieser Stelle nur kurz an einige wichtige Stichworte wie Beförderungsprobleme, Defizite in der Personalbearbeitung, Ausbildungs- und Ausrüstungsmängel oder an die dienstlichen Belastungen im Inland, insbesondere im Sanitätsdienst. Abgerundet hatte ich die Zusammenfassung meines Berichtes mit dem notwendigen Hinweis, dass es den Streitkräften nach wie vor an Finanzmitteln fehle. Vor diesem Hintergrund registrieren es die Soldatinnen und Soldaten mit Dankbarkeit, dass natürlich der Verteidigungsminister, aber insbesondere auch die Bundeskanzlerin und der Bundesminister der Finanzen in der Haushaltsdebatte die Notwendigkeit einer besseren finanziellen Ausstattung der Streitkräfte unterstrichen haben. Für die Angehörigen unserer Streitkräfte wäre es zu begrüßen, wenn das sowohl im nächsten Verteidigungshaushalt wie auch in der mittelfristigen Finanzplanung seinen Niederschlag finden würde. ({8}) Meine Damen und Herren, sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich an dieser Stelle nicht auf aktuelle Themen eingehen möchte, die sich in jüngster Zeit oder im Laufe dieses Jahres ereignet haben. Damit werden wir uns im Rahmen des Jahresberichts 2006 naturgemäß zu beschäftigen haben. Trotzdem mache ich keinen Hehl aus meiner Freude über die Tatsache, dass alle Soldatinnen und Soldaten der jüngsten Kongomission bis zum Weihnachtsfest wieder bei ihren Familien sein werden. ({9}) Die Soldatinnen und Soldaten dürfen wirklich stolz auf ihren geleisteten Beitrag zur Friedenssicherung im Zusammenhang mit den durchgeführten Wahlen im Kongo sein. Das darf aber aus meiner Sicht nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mit Blick auf die Planung, Errichtung und auch auf den Betrieb der Feldlager sowohl in Kinshasa wie auch in Libreville in Gabun erhebliche Probleme gab, die es jetzt aufzuarbeiten gilt. Deshalb bin ich außerordentlich froh, dass der Verteidigungsausschuss des Hohen Hauses sich gleich am Anfang des kommenden Jahres mit diesem Thema ausführlich beschäftigen wird. Meine Besuche in den Einsatzgebieten haben aber auch etwas anderes noch einmal sehr deutlich gemacht: Die notwendige Debatte über den Sinn und Zweck der Einsätze und die Transformation der Streitkräfte darf uns nicht den Blick für die Sorgen und Nöte des einzelnen Soldaten verstellen. Jede Entscheidung, die die Bundesregierung und das deutsche Parlament im Hinblick auf die Streitkräfte treffen, hat am Ende ganz konkrete Auswirkungen auf den Auftrag und den Einsatz eines jeden einzelnen Soldaten. Diese Auswirkungen ständig im Blick zu behalten, ist Pflicht von uns allen. Wer hätte mehr Grund, immer wieder darauf hinzuweisen, als der Wehrbeauftragte, der nun einmal zum Schutz der Rechte der Soldatinnen und Soldaten berufen ist. ({10}) Ganz ausdrücklich bedanken will ich mich an dieser Stelle bei allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses für die ausgezeichnete Kooperation, beim Bundestagspräsidenten für seine persönliche Unterstützung und eigentlich beim gesamten Parlament, bei Ihnen allen, meine Damen und Herren, für die zumindest aus meiner Sicht beispielhaft gute Zusammenarbeit und das ausgezeichnete Zusammenwirken. Mein Dank geht natürlich auch an den Bundesminister der Verteidigung, Dr. Jung. Der Dank geht ebenso an die politische und militärische Führung seines Hauses und an alle nachgeordneten Wehrbeauftragter Reinhold Robbe Dienststellen des BMVg. Nicht zuletzt danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Amtes für die hervorragende Unterstützung, ohne die ich meine Arbeit überhaupt nicht tun könnte. ({11}) In wenigen Tagen können wir das Weihnachtsfest feiern. Etwa 9 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten werden das Fest nicht bei ihren Lieben zu Hause, sondern irgendwo in der Welt, im Einsatz am Horn von Afrika, in Afghanistan oder sonst wo, verbringen müssen. Lassen Sie mich deshalb abschließend die Gelegenheit nutzen, allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die in allen Teilen der Welt und auch an den Heimatstandorten für unser Vaterland ihren wichtigen und oftmals auch gefährlichen Dienst leisten, an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen. Ich wünsche ihnen und ihren Angehörigen in der Heimat ein friedvolles und gesegnetes Weihnachtsfest und für das vor uns liegende Jahr das notwendige Soldatenglück und stets eine gesunde Rückkehr in die Heimat. Ich bin davon überzeugt, dass ich dies auch in Ihrer aller Namen tun darf. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Anita Schäfer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wehrbeauftragter, im Namen meiner Fraktion danke ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre wichtige Arbeit, die Sie im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Medienberichten der vergangenen Wochen musste die Bundeswehr viel Kritik über sich ergehen lassen. Es wäre jedoch falsch und verhängnisvoll, die Bundeswehr unter Generalverdacht zu stellen. Die Vorgänge sind konsequent aufzuklären und nach individueller Verantwortung zu beurteilen. Das Fehlverhalten Einzelner darf nicht dazu führen, dass die überwiegende Zahl von Bundeswehrsoldaten, die höchst beachtliche Leistungen erbringen, diskreditiert wird. Trotzdem zeigen uns die bedauerlichen Vorfälle in Afghanistan, wie wichtig der Wehrbeauftragte als Frühwarnsystem ist. Seine Aufgabe gewinnt im Zeichen von Transformation und Auslandseinsätzen erheblich an Bedeutung. Sie verlangt deswegen - auch und gerade in der Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages - Fingerspitzengefühl. Bedenken und Anregungen des Wehrbeauftragten sollten zuerst in die parlamentarischen Gremien eingebracht werden, bevor es zu öffentlichen Stellungnahmen kommt. Diese Reihenfolge sollte künftig wieder eingehalten werden. Ich denke, dass wir alle uns darüber einig sind. ({0}) Herr Wehrbeauftragter, Ihr Jahresbericht 2005 zeigt eindringlich auf, unter welchem enormen Druck die Soldaten durch den Transformationsprozess und die wachsende Zahl an Einsätzen stehen. Maßstäbe für menschliches Verhalten, wie sie die innere Führung setzt, müssen für eine Armee im Einsatz Leitprinzip bleiben. Die innere Führung ist unerlässlich, um den Soldaten ein ethisches Rüstzeug zu vermitteln und sie für Fehlverhalten zu sensibilisieren. Sie ist ein dynamisches Konzept, das den Soldaten unter sich wandelnden Bedingungen Orientierung für menschliches Verhalten gibt. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Ankündigung von Minister Dr. Jung, dass die bundeswehrinterne Dienstvorschrift zur inneren Führung an die Herausforderungen unserer Zeit angepasst werden soll. Gerade im Auslandseinsatz brauchen wir mitdenkende und verantwortungsbewusst handelnde Soldaten. Deswegen müssen den Soldaten rechtzeitig und gezielt die politischen Hintergründe eines Einsatzes vermittelt werden. Vor allem müssen sie mit den kulturellen, sozialen und religiösen Besonderheiten des jeweiligen Einsatzlandes vertraut gemacht werden. Wir haben aber auch dafür Sorge zu tragen, dass die innere Führung im multinationalen Einsatzverbund Handlungsmaxime für die Bundeswehr bleibt. Sie darf nicht auf Druck verbündeter Staaten ausgehöhlt werden. ({1}) Auf diese Verantwortung hat insbesondere die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer Denkschrift „Soldaten als Diener des Friedens“ eindringlich hingewiesen. Der EUFOR-Einsatz der Bundeswehrsoldaten im Kongo geht fristgerecht zu Ende. Die ersten Soldaten sind bereits heimgekehrt. Die Zielsetzung der Kongomission konnte bislang erreicht und ein neuer Bürgerkrieg verhindert werden. Für diese Leistung sind wir unseren Soldaten zu Dank verpflichtet. ({2}) In Afghanistan, auf dem Balkan, am Horn von Afrika und an den Küsten des Libanon stehen deutsche Einheiten weiterhin in schwierigen Einsätzen. Gerade in Afghanistan ist die sicherheitspolitische Situation gefährlich und unkalkulierbar. Das gilt auch für den Nordsektor und die Hauptstadt Kabul. Die Bundeswehr erfüllt dort ihren Auftrag professionell und engagiert. Deswegen brauchen wir uns in Sachen Leistungsfähigkeit vor keinem Verbündeten zu verstecken. Der Bericht des Wehrbeauftragten macht allerdings deutlich, dass der Sinn von Auslandseinsätzen den Soldaten besser vermittelt werden muss. Nur wenn die Soldaten von einem Einsatz überzeugt sind, bringen sie das entsprechende Engagement mit. Wir müssen deswegen vor jeder Entsendung transparent machen, für welche Anita Schäfer ({3}) Werte, Ziele und Interessen unsere Soldaten notfalls Leib und Leben zu riskieren haben. Dies haben Sie, Herr Verteidigungsminister, in Ihrer Rede vor dem Zentrum Innere Führung noch einmal klar herausgestellt: Wir müssen die politischen Begründungen für Auslandseinsätze für den Staatsbürger mit und ohne Uniform so einleuchtend wie möglich formulieren. Denn die Überzeugungskraft der Begründung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Auftragserfüllung. ({4}) Wir sollten alles dafür tun, dass die Kommunikation mit unseren Soldaten, aber auch mit der Bevölkerung diesem Anspruch künftig gerecht wird. Wenn die Entsendung in einen Einsatz beschlossene Sache ist, müssen Ausrüstung, Versorgung und Schutzniveau der Soldaten stimmen. Das sollte an sich selbstverständlich sein. ({5}) Trotzdem sind in dem Bericht des Wehrbeauftragten Beispiele für Ausstattungsmängel im Einsatz aufgelistet. Darauf habe ich schon in meiner letzten Plenarrede deutlich hingewiesen. Die Stellungnahme des BMVg zu diesen Punkten wird dem Problem allerdings nicht immer gerecht. Ich nenne exemplarisch die Verschleißerscheinungen am viel genutzten Einsatzfahrzeug Wolf und die Klagen über die unzureichende Materialausstattung von Kräften der NATO Response Force. Dieser Zustand ist bedenklich. Ich hoffe, dass sowohl die politische als auch die militärische Führung hier konsequenter Verbesserungsmaßnahmen treffen. Auch mit Blick auf die EUFOR-Mission im Kongo müssen wir die Kritik von Soldaten bezogen auf Unterbringungs-, Versorgungs- und Ausrüstungsmängel ernst nehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass nach Beendigung dieses Einsatzes ein umfassender Evaluierungsbericht für den Verteidigungsausschuss erstellt wird. Nur wenn wir die Schwachpunkte klar erkennen und die berechtigte Kritik unserer Soldaten aufgreifen, sind wir für künftige Einsätze dieser Art gewappnet. So können wir auch einem Vertrauensverlust bei den Soldaten entgegenwirken. Der Bericht des Wehrbeauftragten lässt es an warnenden Hinweisen auf die Kluft zwischen Auftrags- und Mittellage der Bundeswehr nicht fehlen. Ja, er sieht sogar die Bundeswehr an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Der Bericht liegt damit leider in Traditionslinie zu den Vorgängerberichten in den letzten Jahren. Selbst im aktuellen Weißbuch ist von einem „Spannungsverhältnis zwischen den verteidigungspolitischen Erfordernissen und dem finanziellem Bedarf für andere staatliche Aufgaben“ die Rede. Dieses Spannungsverhältnis droht zu einem strukturellen Problem zu werden. Wir sind, was die Haushaltslage angeht, keine Illusionisten. Doch eines müssen wir klar herausstellen: Es wäre fatal, wenn die deutsche Sicherheitspolitik ihre Prioritäten nicht nach der Bedrohungslage, sondern nach der Kassenlage setzt. Ich begrüße deswegen sehr, dass die jetzige Regierung die knappe Mittellage bei der Truppe erkannt hat und schon im Haushaltsjahr 2008 deutlicher gegensteuern will. Wir werden die Bundeskanzlerin hier beim Wort nehmen. ({6}) Die mittelfristige Finanzlinie ist sicherlich ein erster wichtiger Schritt hin zur Stabilisierung des Einzelplans 14. Sie wird aber den vielfältigen Anforderungen einer modernen Einsatzarmee nicht gerecht. Hier sind neben dem Verteidigungsminister die Verteidigungspolitiker aller Fraktionen gefordert, konstruktive Vorschläge einzubringen und gemeinsam mit den Haushaltspolitikern umzusetzen. Die Einsatzrealität der Bundeswehr ist auch für die Nachwuchssituation der Streitkräfte von zentraler Bedeutung. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird eindringlich festgestellt: Insbesondere der Mangel an personellen Ressourcen erweist sich in zunehmendem Maße als Problem. Es betrifft den Bereich des Sanitätswesens ebenso wie den der Operativen Information, der Heeresfliegertruppe, der Feldjäger, Fernmelder oder Pioniere. Betroffen sind also gerade die Spezialisten, die das Rückgrat bei Stabilisierungsoperationen bilden und gegenwärtige wie künftige Einsätze der Bundeswehr maßgeblich prägen. Dies ist auch dem Weißbuch zu entnehmen. Dort wird eine Zielgröße von maximal 14 000 Soldaten angegeben, die gleichzeitig für Stabilisierungsoperationen einsetzbar sein sollen. Angesichts der knappen Personalressourcen bei Spezialisten wird diese Vorgabe nicht leicht zu erreichen sein. Fest steht: Das BMVg ist in der Personalfrage sensibilisiert und leistet im Bereich der Nachwuchsarbeit bereits Erhebliches. Im Übrigen zeigt sich hier, meine Damen und Herren von der Opposition, wie töricht Ihre Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht ist; denn ohne Wehrpflicht müssten wir erhebliche Einbußen bei dem Gewinnen von qualitativ hochwertigem Personal hinnehmen. Allein ein Drittel des länger dienenden Personals wird über Wehrpflichtige gewonnen. Für die Qualitätsbasis der Streitkräfte ist die Wehrpflicht also unverzichtbar. In diesem wichtigen Punkt schafft das neue Weißbuch endlich Planungssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten. ({7}) Dabei ist allerdings für mich klar: Wir müssen noch mehr in die Nachwuchswerbung und Möglichkeiten der Weiterbildung bei den Streitkräften investieren. Sonst kann die Bundeswehr in Konkurrenz zum zivilen Arbeitsmarkt nicht mithalten. Es wäre keine gute Entwicklung, wenn künftig die Truppe Abstriche bei ihrem Personal machen müsste, weil sie für Bewerber zu wenig attraktiv ist. Gerade eine professionelle Einsatzarmee erfordert mehr denn je einen intelligenten, belastungs- und leistungsfähigen Soldatentypus. Anita Schäfer ({8}) Aus diesen Gründen ist es absolut inakzeptabel, dass zwei Drittel der Soldatinnen und Soldaten zu den unteren Lohn- oder Einkommensgruppen gehören. Für ein attraktives und konkurrenzfähiges Berufsbild Bundeswehr ist eine moderne Besoldungsordnung unverzichtbar. Am Ende der Debatte muss eine materielle Verbesserung der Soldaten stehen. Darüber hinaus müssen wir die soziale Absicherung der Realität einer Einsatzarmee anpassen. Dazu gehört insbesondere, im Einsatz versehrte Soldaten beruflich weiterzubeschäftigen. Selbstverständlich müssen wir auch eine Familienbetreuung auf hohem Niveau gewährleisten. Herr Verteidigungsminister Dr. Jung, ich danke Ihnen im Namen unserer Fraktion ausdrücklich dafür, dass Sie in diesen wichtigen Punkten beharrlich voranschreiten. ({9}) Soldat sein ist eben nicht irgendein Job. Wer für die Sicherheit unseres Landes in gefährlichen Missionen den Kopf hinhält, der verdient mindestens ein hohes Maß an materieller und sozialer Absicherung. Er verdient darüber hinaus die besondere Anerkennung von Politik und Gesellschaft. ({10}) Gerade wir Parlamentarier stehen hier in der Pflicht, uns für ein neues Ethos des Soldatenberufes stark zu machen. Meine Damen und Herren, all unseren Soldatinnen und Soldaten wünsche ich an dieser Stelle ein gesegnetes und vor allem ein friedvolles und friedliches Weihnachtsfest und ein gesundes, gutes neues Jahr 2007. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten abschließend im Plenum. Deswegen, Herr Wehrbeauftragter Robbe, darf ich Ihnen und besonders Ihren Mitarbeitern sehr herzlich für die hervorragende Arbeit danken, die weit über die Vorlage dieses Jahresberichts hinausgeht. ({0}) Ihr Amtsverständnis als ein öffentlich agierender Hüter der Interessen unserer Soldatinnen und Soldaten tut zwar manchem in der Koalition hin und wieder weh, aber bleiben Sie unbeirrt. Denn Ihr Kontrollauftrag und Ihr Bericht sind auch deshalb glaubwürdig, weil Sie sich durch zahlreiche unangekündigte Truppenbesuche ein authentisches Bild verschaffen konnten. Ich möchte diese Debatte am Ende des Jahres wie meine Vorredner auch dazu nutzen, den Soldatinnen und Soldaten zu danken, die für den Schutz unserer Freiheit ihren hochverantwortlichen Dienst verrichten. Wir sollten den heutigen Tag auch zum Anlass nehmen, an diejenigen Soldatinnen und Soldaten zu denken, die das Weihnachtsfest fern von der Heimat verbringen müssen. ({1}) Herr Robbe, Sie haben einen Brief an den Verteidigungsausschuss geschrieben, in dem Sie erneut auf schwere Ausrüstungsmängel im Rahmen des Kongoeinsatzes aufmerksam gemacht haben. Die Bundesregierung müsste daraus Konsequenzen ziehen. Das Problem scheint aber zu sein, dass sich der Verteidigungsminister hinsichtlich der Ausbildungs- und Ausrüstungssituation in einer anderen Realität wähnt. Herr Jung, Sie haben mir gegenüber am 22. November behauptet, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich in riskanten Auslandseinsätzen befinden, eine optimale Ausbildung gewähren und eine optimale Ausrüstung mitgeben. Glauben Sie das wirklich? Es müsste doch inzwischen bekannt sein, dass gerade Personenschäden bei Anschlägen auf deutsche Soldaten hätten verhindert werden können, wenn Ihr Ministerium beispielsweise die am Markt vorhandenen Jammer gegen Sprengfallen rechtzeitig beschafft hätte. Insofern waren die Ausrüstungsdefizite im Kongo zwar ärgerlich, anderswo aber hatten sie unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Soldaten. Auch der nun endlich in Gang gesetzte beschleunigte Zulauf von 100 Dingo 2 im nächsten Jahr ist hier nur ein nächster Schritt. Sie schützen immer wieder fehlende Haushaltsmittel vor. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Die Bundesregierung muss endlich deutlich machen, was ihr die zahlreichen Einsätze der Bundeswehr als Instrument der Außenpolitik wert sind. Die große Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sichergestellt werden müsse, künftige Auslandseinsätze aus dem Einzelplan 60 zu finanzieren. Was haben Sie davon bisher umgesetzt? Nichts. Ähnlich inkonsequent zeigt sich die Bundeskanzlerin: Ja, man brauche mehr Geld für die Bundeswehr. Nein, 2007 gebe es noch keines. Wann denn, bitte schön? Wie viel und wofür? Besonders groß ist der Unmut derzeit im zentralen Sanitätsdienst. Hier ist die Personalsituation derart angespannt, dass sich die Betroffenen auch öffentlich deutliches Gehör verschaffen. Die Bundesregierung verkauft es schon als einen Erfolg, wenn die Beschaffung einer Grundbefähigung geschützter Sanitätsfahrzeuge bis 2010 geplant ist. Andere Projekte muss sie sogar über zehn Jahre hinweg strecken. Ich darf daran erinnern, dass die Grundbefähigung lediglich die materielle Mindestanforderung für den Einsatz darstellt. Nach den eigenen Kriterien der Bundeswehr wäre der zentrale Sanitätsdienst nur bedingt einsatzfähig. Auch die personelle Besetzung lässt bestenfalls diese Einschätzung zu: LeElke Hoff diglich 55 Prozent der Truppenärzte stehen der truppenärztlichen Versorgung tatsächlich zur Verfügung. Statt jedoch einzuräumen, dass es Probleme gibt und diese ausgeräumt werden müssen, werden diejenigen, die den Betrieb aus jahrelanger eigener Erfahrung gut kennen und die Probleme artikulieren, als Einzelfälle gebrandmarkt, bei denen - wie es dann heißt - Inhalt und Ziel der Transformation noch nicht in allen Köpfen angekommen sind. Es muss beim Umgang mit der Bundeswehr bald zu einem Paradigmenwechsel kommen; denn sonst verliert sie als Arbeitgeber immer mehr an Attraktivität. Schon heute müssen die Kriterien für diejenigen freiwillig länger Wehrdienst Leistenden herabgesetzt werden, die nicht im Auslandseinsatz verwendet werden. Ich bin froh, dass zumindest mit dem Weiterverwendungsgesetz nun hoffentlich der Anspruch auf Weiterbeschäftigung für im Einsatz zu Schaden gekommene Soldaten geschaffen wird. ({2}) Ich hoffe, dass sich das Verteidigungsministerium hier gegenüber dem Justizministerium durchsetzen wird. Der aus diesem Bereich vorgebrachte Einwand, das Gesetz verstoße gegen das Leistungsprinzip, ist aus meiner Sicht unerträglich. ({3}) Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, es bleibt für Sie und uns alle im nächsten Jahr viel zu tun, um die Bundeswehr auf ihrem schwierigen Weg durch die Transformation zu begleiten. Dafür wünsche ich Ihnen und auch uns weiterhin eine gute Hand. Bei allen Kollegen, insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen des Verteidigungsausschusses, darf ich mich für die gute Zusammenarbeit sehr herzlich bedanken. ({4}) Ich wünsche Ihnen ein frohes, ein glückliches, ein besinnliches Weihnachtsfest, einen guten Rutsch ins neue Jahr und viel Gesundheit. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit im nächsten Jahr. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPDFraktion. ({0})

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Herr Minister! Meine Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Herr Wehrbeauftragter, recht herzlichen Dank Ihnen und Ihren Mitarbeitern für den Bericht und für die Arbeit. Aus der Fülle der Themen, die in Ihrem Bericht auftauchen, werde ich nur zwei oder drei Punkte herausgreifen. Zitat: Ohne die jungen Frauen ist in keiner Laufbahn eine Bedarfsdeckung mehr zu erreichen. Ein erstaunlicher Satz. Das war eine Feststellung, die wir im Unterausschuss „Innere Führung“ zu hören bekommen haben; ({0}) siehe Protokoll vom 27. September 2006. Wer hätte sich das vor einigen Jahren vorstellen können? Deshalb ist die Frage des Umgangs mit Frauen und ihrer Integration in die Bundeswehr immer ein besonderes Thema. Nun kann man sagen: Immer das Gleiche; das haben wir schon zigmal durchgekaut. - Aber so ist es eben und auch im Bericht des Wehrbeauftragten ist das immer wieder Thema. Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Prozess der Integration von Frauen in die Bundeswehr weiterhin durch das Sozialwissenschaftliche Institut untersucht und begleitet wird. Ich bin sehr gespannt auf den Bericht, der nächstes Jahr vorliegen soll. Grundsätzlich geschieht die Integration von Frauen in die Bundeswehr problemlos und störungsfrei. Das hat der Wehrbeauftragte festgestellt und das ist auch unser Eindruck, wenn wir die Truppe besuchen. Auch die Bundeswehr selber stellt es so dar. Dennoch sind immer wieder auch Verbesserungen nötig, zum Beispiel beim Sprachgebrauch. Aus meiner Sicht kommt es viel zu häufig zu verbalen Entgleisungen und auch zu sexuellen Übergriffen, nicht nur von gleichrangigen Kameraden, sondern ebenso von Vorgesetzten. Mangel in der Sprachdisziplin und im Führungsverhalten treten nicht nur im Umgang mit Frauen auf, was uns der Bericht deutlich macht. Das Ministerium räumt hier Handlungsbedarf ein. Ich erwarte allerdings, dass das Ministerium nicht nur die Mängel, die im Bericht des Wehrbeauftragten aufgeführt werden, einräumt, sondern auch Vorschläge unterbreitet, wie diese abzustellen sind. Zum Führungsverhalten noch ein Aspekt. Die Einrichtung, die Aufgaben, die Stellung und die Funktion des Wehrbeauftragten finden meine volle Unterstützung. Viele Länder holen sich Rat und Anregung zu dieser Institution. Trotzdem frage ich mich oft: Warum gehen die Petenten mit ihren Problemen eigentlich nicht zu den Vorgesetzten? Warum ist das Verhältnis offensichtlich nicht so, dass sie davon ausgehen, ihre Vorgesetzten würden sie anhören und etwas für sie tun? Heute Morgen haben uns im Unterausschuss „Innere Führung“ fünf Generäle zu dem Problem der grundsätzlichen Ausbildung und der einsatzbezogenen Ausbildung Rede und Antwort gestanden. Sie sind zu dem Vertrauensverhältnis gegenüber den Vorgesetzten und zu Ausbildung und Supervision befragt worden. Der Generalinspekteur hat gesagt, die Persönlichkeitsbildung müsse verbessert werden. Wir nehmen das so auf und hoffen auf Besserung. Darüber hinaus werfen natürlich die jüngst aufgetauchten Fotos von Soldaten Fragen auf: Sind unsere Soldaten den psychischen Anforderungen und Belastungen gewachsen? Wären solche Vorkommnisse zu verhindern gewesen? Bestehen Defizite in der inneren Führung? Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass es sich hier um Einzelfälle handelt. Nichtsdestotrotz müssen wir die Fragen beantworten und gegebenenfalls Abhilfe schaffen. Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass wir nicht vorschnell Urteile fällen dürfen. Die Einstellung des Verfahrens belegt, dass kein Straftatbestand vorliegt. Geschmacklos und blöde war diese Handlung trotzdem. Mir haben die Bilder noch etwas gezeigt: Kameradschaft hin oder her, wenn es einigen passt, geben sie Bilder weiter, von denen man vorher gedacht hat, dass sie nur ein Kamerad hat, dass es ein Jux ist und das Ganze unter den Kameraden bleibt. Meine Herren und Damen, wir Abgeordneten sind uns der wachsenden Belastung durch Transformation und eine steigende Zahl von Auslandseinsätzen durchaus bewusst. In unseren Wahlkreisen müssen wir uns Diskussionen über Sinn und Unsinn, Zweck und Hintergründe von Auslandseinsätzen stellen. Viele, sehr viele Bürger wollen diese Einsätze nicht. Sie verstehen sie nicht und unterstellen uns Abgeordneten, dass wir leichtfertig und ohne uns der Konsequenzen bewusst zu sein darüber entscheiden. Wegen der Belastung liegt uns die psychologische Betreuung während und nach dem Einsatz besonders am Herzen. Der Einsatz von Truppenpsychologen gewinnt immer stärker an Bedeutung. Wir haben auch einige Psychologen in unserem Unterausschuss „Innere Führung“ angehört. Ich habe aber bedauerlicherweise den Eindruck, dass wir es mit einem Verschiebebahnhof zu tun haben. Denn die Gesamtzahl der dringend benötigten Psychologen nimmt nicht zu; sie werden nur von einer Stelle zur anderen versetzt. Es ist sicherlich richtig, die Truppen im Einsatz verstärkt zu betreuen. Gleichzeitig kann es aber nicht sein, dass die psychologische Beurteilung zum Beispiel bei der Einstellung von Zeitsoldaten wegfällt, weil die Psychologen im Auslandseinsatz sind. So verschieben wir nur ein mögliches Problem und müssen nachher unangenehme Folgen beklagen. Hier sind wir Abgeordneten, insbesondere die Haushälter gefragt - ich sehe eine Haushälterin in unseren Reihen -, sich des Problems anzunehmen. Vielfach handelt es sich um Probleme bei der Finanzierung. Lassen Sie mich noch einmal zum Thema Frauen in der Bundeswehr zurückkommen. Ich zitierte eingangs die bemerkenswerte Feststellung, dass wir die Frauen in der Bundeswehr brauchen. Eine ebenso bemerkenswerte Erkenntnis ist, dass die Frauen bei ihrer Einstellung nicht so ergebnisoffen sind, weil sie genau wissen, was sie wollen. Dass Zielstrebigkeit ein Problem sein könnte, ist schon ein bemerkenswerter Wandel in der Wahrnehmung. Ich weiß aber sehr wohl, wie das gemeint ist, nämlich dass Frauen offensichtlich nicht jede Verwendung wollen. Die Aussage hat einen zweiten Aspekt, nämlich dass Frauen bei der Bewerbung zurückhaltender sind, weil sie bestimmte Vorstellungen hinsichtlich Angebot und Nachfrage haben. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich immer wieder. Viele junge Frauen haben ganz klare Vorstellungen von Teilzeit und Kinderbetreuung. Wir wünschen uns natürlich, dass das nicht nur ein Thema für Frauen ist. Wir wissen auch, dass sich viele Männer über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Gedanken machen. Mit dem Attraktivitätsprogramm haben wir versucht, die Lage zu verbessern. Es bleibt jetzt abzuwarten, ob es Wirkung zeigt. Zum Schluss noch ein Wort an Sie, Herr Wehrbeauftragter. Herzlichen Dank für den Bericht! Wir danken für die Empathie und die Hinweise. Aber ein Hinweis war überflüssig. Denn Beschlüsse und Entscheidungen des Bundestages hat der Wehrbeauftragte eigentlich nicht zu kommentieren. Sie, Herr Robbe, waren immer ein sehr autarker und unabhängiger Abgeordneter. Sie können sich sicherlich in unsere Lage versetzen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Katrin Kunert, Fraktion Die Linke. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Sehr geehrter Herr Robbe! Bundespräsident Köhler beklagt, dass die Deutschen ihrer Bundeswehr mit einem freundlichen Desinteresse begegnen. Er wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes. Das wünschen wir uns auch. Sie, Herr Robbe, wollen diese Debatte fördern. Ich darf Sie zitieren: Die Soldatinnen und Soldaten sollen nicht allein gelassen werden mit ihrem unverzichtbaren Auftrag, unser Land zu verteidigen sowie für Frieden, Freiheit und Menschenrechte auch außerhalb Deutschlands einzutreten. Viele Menschen in unserem Land wollen mit Sicherheit eine solche Debatte führen. Aber wie, frage ich Sie, soll das gehen, wenn sich diese Regierung ständig gegen die Interessen der Mehrheit der Menschen im Land verhält? ({0}) So beschließt die übergroße Mehrheit von Rot-Schwarz ständig mehr Auslandseinsätze, obwohl die Mehrheit der Menschen mehr Sinn in humanitärer Hilfe sieht. Wer definiert eigentlich, was unverzichtbare Aufträge sind? Ich stelle nach zwei Berichten des Wehrbeauftragten fest: Nichts Neues in der Bundeswehr. Jahr für Jahr gibt es die gleichen Probleme. Trotz eines Gesamtvolumens in Höhe von 28 Milliarden Euro für den Verteidigungsetat im Bundeshaushalt gibt es erhebliche Defizite in der Ausstattung und in der Betreuung der Soldatinnen und Soldaten. Skandalös ist für uns nach 16 Jahren deutscher Einheit die immer noch unterschiedliche Besoldung in Ost und West, ({1}) die schrittweise bis 2009 aufgehoben werden soll. Entscheidungen für Auslandseinsätze werden in diesem Haus schneller getroffen. Die Kürzung des Weihnachtsgeldes wurde nicht zurückgenommen. Die Kasernen, insbesondere im Westen, sind in einem schlechten Zustand. Hier braucht es einen Aufbau West. Der Beförderungsstau macht immer noch jedem Ferienstau Konkurrenz. Schaut man sich die Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zum Bericht an, findet man dehnbare Formulierungen wie „geeignete Maßnahmen“, „sind fortwährend bemüht“ oder „verstärkt einfordern“. Einschätzungen des Wehrbeauftragten, dass Erhebungen der Bundeswehr über das Gesamtausmaß des Syndroms der posttraumatischen Erkrankungen von Soldatinnen und Soldaten im Einsatz fehlen, müssen wir leider bestätigen. Das Verteidigungsministerium widerspricht dieser Aussage und verweist auf Daten aus dem Jahre 1999. Diese Daten seien Grundlage für die umgesetzten Betreuungs- und Versorgungskonzepte. Den wiederholten Hinweis, dass diese Erkrankung auch bei der Feuerwehr und der Polizei auftrete, nehmen wir nicht hin. Posttraumatische Erkrankungen treten in der Bundeswehr seit Beginn der Auslandseinsätze auf. Das ist genau der Punkt. Es darf nicht sein, dass ein junger Mann aus Afghanistan zurückkommt und ein halbes Jahr nicht mehr spricht. Wissen Sie wirklich um die Bedingungen und Gefahren, wenn Sie deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland schicken? Wir bezweifeln das sehr stark. ({2}) Der Wehrbeauftragte hat eine Bundesstiftung zur Entschädigung von Strahlenopfern angeregt. Das unterstützen wir. ({3}) Das Verteidigungsministerium hingegen hält dies für nicht vertretbar. Warum nicht? Das werden wir noch einmal auf die Tagesordnung setzen. Ich meine, dass die im Bericht immer wieder aufgezeigten Mängel ein Beleg dafür sind, dass nicht ernsthaft an der Beseitigung der Mängel gearbeitet und so manche Beschwerde bagatellisiert wird. Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der gerade in der heutigen Zeit für uns sehr wichtig ist. Nach Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss „Kurnaz“ wurde vorgeschlagen, die Arbeit des Unterausschusses „Innere Führung“ wegen der Arbeitsbelastung nach dem Frühjahr 2007 einzustellen. Ausgerechnet der Ausschuss, der solche Vorkommnisse wie die in Afghanistan aufzuarbeiten hat, soll eingestellt werden? Der Ausschuss, der die Fragen der Nachwuchswerbung begleiten muss, der sich mit den Kriterien der Eignungsprüfung stärker zu befassen hat und der in besonderem Maße Verantwortung für die politische Bildung und Vermittlung gesellschaftlicher Werte trägt, muss weiterarbeiten - und dies in einer besseren Qualität. ({4}) Wenn man eine Sitzung dieses Ausschusses in letzter Minute auf 7.30 Uhr ansetzt und man verkehrstechnische Probleme hat, dann ist es wirklich schwierig, daran teilzunehmen. Man muss diese Termine auch richtig planen. ({5}) Die im Bericht des Wehrbeauftragten aufgelisteten Mängel stehen auch im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen. Das wiederholte Versagen der Verantwortlichen in der Bundeswehr im Rahmen der Ausbildung und der Vorbereitung auf Auslandseinsätze sowie der psychische Stress für die Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen bestärken die Fraktion Die Linke in ihrer Forderung, den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan einzuleiten. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Reinhold Robbe! Kollegin Kunert, eine Klarstellung, was das weitere Tagen des Unterausschusses „Innere Führung“ angeht: Schon vor Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss hatten wir vereinbart, dass der Unterausschuss an sein Beratungsende gekommen ist. Wir stellen ihn also nicht zugunsten des Untersuchungsausschusses ein, sondern haben intensiv genug beraten und kommen jetzt zu einem Ergebnis. ({0}) In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten 50 Jahre alt. Da trifft es sich sehr gut, dass vor wenigen Tagen hierzu ein etwas weniger trockener Bericht, als es eine Bundestagsdrucksache ist, vorgestellt wurde. Es ist ein wirklich ansehnliches Büchlein über das Amt des Wehrbeauftragten und nicht so voluminös wie manch andere Bände aus diesem Hause, die möglicherweise waffenscheinpflichtig sind. Es ist sehr zu empfehlen. Ihm ist einiges über die Entstehung des Amts des Wehrbeauftragten zu entnehmen. Die Idee ist von dem SPD-Abgeordneten Ernst Paul in den Bundestag eingebracht worden. Man hat sich damals das entsprechende Amt in Schweden als Vorbild genommen. Dort heißt es: „Militie-Ombudsman“. Der damalige Bundeskanzler Adenauer war massiv dagegen. Der Bundestag hat es hinbekommen, diese Einrichtung zu installieren. Offensichtlich waren die meisten Fraktionen dafür. Es wird in diesem Buch auch richtig festgestellt, dass dieses Amt in der deutschen Verfassungs- und Militärgeschichte ohne Beispiel ist. Inzwischen ist es längst selbstverständlich und unverzichtbar. Es ist also gut, dass es dieses Amt gibt, und sehr gut, dass es so gut ausgefüllt wird. Danke schön Ihnen, Herr Robbe, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern! ({1}) Seit der Vorlage des letzten Berichtes im März haben sich einige Grundprobleme verschärft. Dieser Bericht ist ja überwiegend ein Mängelbericht. Es wird unter dem Kapitel „soldatisches Fehlverhalten“ vermerkt, dass es in diesem Bereich eine nicht unerhebliche Dunkelziffer gebe. Diese Aussage hat sich dann ja in unerwarteter Weise mit den berühmt-berüchtigten Skandalfotos und ihrer Veröffentlichung bestätigt. Die dort gezeigten makaber-obszönen „Spiele“ wurden vor sieben Wochen einhellig verurteilt; ihnen wurde sehr genau nachgegangen und in der Sache wurde entschieden ermittelt. Die befürchteten gefährlichen Reaktionen in Afghanistan blieben glücklicherweise aus. Zugleich wurde aber auch Folgendes deutlich, nämlich dass es in der Tat offensichtlich einzelne Fälle waren, dass es sich dabei also nicht um die Spitze eines Eisbergs handelte. Auch etwas anderes wurde hoffentlich noch etwas deutlicher, dass nämlich die Anforderungen, die heutzutage an Soldaten in solchen Einsätzen gestellt werden, enorm groß sind. So genannte Robustheit wird erwartet, auch Sensibilität und Verhaltenssicherheit - und das alles von jungen Soldaten. Das sind Anforderungen, die hierzulande so in normalen Berufen nicht gestellt werden. Eine enorme Herauforderung besteht darin, in der Ausbildung darauf vorzubereiten und durch Menschenführung dazu anzuhalten. Ich habe den Eindruck - er wird von den verteidigungspolitischen Kollegen bzw. Kolleginnen weitestgehend geteilt -: Diese Herausforderung wird von der Bundeswehr insgesamt bemerkenswert gut gemeistert. ({2}) Verschärft haben sich in diesem Jahr die Zweifel am Sinn von Einsätzen. In diesem Zusammenhang sind zu nennen: die krisenhafte Entwicklung in Afghanistan, der neue, zuerst sehr umstrittene Dauereinsatz vor der Küste des Libanon und schließlich der EU-Einsatz im Kongo, der ganz besonders umstritten war und dessen Rahmenbedingungen - Stichworte: Unterbringung, Feldlager auch wirklich unzumutbar waren. Umso erfreulicher ist, dass der Eufor-Einsatz in der waghalsig knappen Zeit von vier Monaten erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Zur Erinnerung: Der andere Kongoeinsatz, an dem sich die Bundeswehr beteiligt hat - das war „Artemis“ im Jahre 2003 -, war ebenfalls sehr erfolgreich, allerdings ist er kaum in das öffentliche Bewusstsein gelangt. ({3}) Umso dringlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass endlich eine Gesamtbilanzierung und Auswertung von Auslandseinsätzen geleistet werden. Es ist gut, aber nicht ausreichend, wenn die grüne Partei auf ihrem Parteitag beschlossen hat, das selbst vorzunehmen. Wir tun das gern. Aber das sollte auch vom Parlament insgesamt und von der Regierung geleistet werden. ({4}) Dass der Wahlprozess im Kongo so gut vonstatten ging - manche sprechen hier sogar von einem irdischen Wunder -, ist ein Gemeinschaftswerk von vielen. Es wäre angemessen, öffentlich den Deutschen zu danken, die dazu beigetragen haben, den Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachtern, den Soldaten, Diplomaten, den deutschen MONUC-Mitarbeitern. Das sollte, so meine ich, im nächsten Jahr mit einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung von Bundesregierung und Parlament geschehen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Bericht des Wehrbeauftragten veranlasst mich, zunächst einige grundsätzliche Anmerkungen zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zu machen, die von der Mehrheit dieses Hauses gebilligt wird. Es ist eine Politik, die seit 1990 zunehmend auf die Bundeswehr als Instrument zur Gestaltung der Außenpolitik setzt. Dabei gerät total in Vergessenheit, dass die außenpolitischen Erfolge vor der Wende mit diplomatischen Mitteln errungen wurden: nach Westen durch die europäische Integration, nach Osten durch die Politik Willy Brandts und den KSZE-Prozess. ({0}) Beides basierte übrigens auf einem klaren Konzept. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Wie ihre Vorgängerregierungen schwankt auch die große Koalition zwischen Großmannssucht und Vasallentreue zur USA. Altkanzler Helmut Schmidt sieht das anscheinend ähnlich - ich zitiere -: Die NATO ist ein militärisches Verteidigungsbündnis, - hören Sie gut zu dem der potenzielle Feind abhanden gekommen ist. Und jetzt suchen die militärischen und diplomatischen Bürokraten des Bündnisses neue Aufgaben … Die Aufgabe der Verteidigung im Notfall muss bestehen bleiben. Aber deswegen muss ich mich nicht verpflichtet fühlen, im Irak oder Syrien die Demokratie zu verwirklichen … ({1}) Da würde ich zurückhaltend sein, auch bei den so genannten friedenserhaltenden militärischen Missionen … Ich habe mich nie als politischer Zwerg gefühlt, aber auch keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat angestrebt. Zitiert nach „Focus“-Interview, 24. Kalenderwoche 2005. ({2}) - Ja, das ist eine Schande. Herr Tauss, wir müssen uns aber auf ihn berufen, weil Sie sich von seiner Politik vollkommen abgekehrt haben. ({3}) Diese Haltung stünde auch der Bundesregierung gut zu Gesicht; stattdessen erklärt sich die Merkel-Regierung zum Hilfsweltpolizisten, wie man dem jüngsten Weißbuch entnehmen muss. Hat diese Regierung aus dem sich abzeichnenden Desaster in Afghanistan nichts gelernt? Offensichtlich nicht. Sonst würde der Verteidigungsminister nicht öffentlich über einen Einsatz im Sudan nachdenken. ({4}) Die Soldaten unseres Landes müssen in nicht wenigen Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren. Ihnen dafür auch noch das Weihnachtsgeld um 70 Prozent zu kürzen, halte ich für unverschämt. Das zeigt die Wertschätzung, die diese Regierung ihren Soldaten entgegenbringt, am deutlichsten. Was ich im Jahresbericht 2005 vermisse, sind klare Aussagen zum Prinzip der inneren Führung und zum Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Ich sage das, weil ich mit Sorge sehe, dass im Kopf des einen oder anderen Spitzenmilitärs seit Jahren ganz andere Leitbilder herumspuken. Immerhin wünscht sich der Inspekteur des Heeres den „archaischen Kämpfer“ und den Hightechkrieger. Offensichtlich soll das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform entsorgt werden, weil es einigen in einer Einsatzarmee lästig geworden ist. ({5}) Ich fordere den Wehrbeauftragten auf, diesen gefährlichen Tendenzen in der Bundeswehrführung mit größtmöglicher Schärfe entgegenzutreten; andernfalls könnten Bilder, wie wir sie seit Jahren aus dem Irakkrieg kennen, zur Regel werden, allerdings dann mit Beteiligung deutscher Soldaten. Das kann niemand wollen. Selbst auf die Gefahr hin, dass ich gleich unterbrochen werde, wünsche ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern ein friedvolles Weihnachtsfest, einen guten Rutsch ins neue Jahr. Insbesondere wünsche ich den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, dass ihrem Weihnachtsurlaub nicht durch irgendeinen unsinnigen militärischen Auslandseinsatz unterbrochen wird. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend den Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten. Eine Vielzahl von Problemen, die darin aufgelistet ist, wird uns im kommenden Jahr und darüber hinaus beschäftigen müssen. Der Bericht zeigt auf, wo Handlungsbedarf besteht. Vieles lässt sich nur lösen - das ist schon angesprochen worden -, wenn die Bundeswehr in Zukunft die finanzielle Ausstattung erhält, die sie ihren Aufgaben entsprechend braucht. Dazu gehört neben der besten Ausrüstung - das haben die Vorrednerinnen und Vorredner bereits angesprochen - auch die angemessene Besoldung und gute Aufstiegsmöglichkeiten für Soldatinnen und Soldaten. Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die unterschiedliche Besoldung in Ost und West immer noch nicht beseitigt. Beim täglichen Dienst im In- oder Ausland spielt es keine Rolle, ob jemand aus den neuen oder aus den alten Bundesländern kommt. Die Angleichung der Besoldung im einfachen und mittleren Dienst soll bis Ende 2007, für höhere Dienstgrade bis 2009 vollzogen sein. Da es sich laut Stellungnahme der Bundesregierung um eine überschaubare Anzahl von Betroffenen handelt, wäre es ein gutes und richtiges Signal, diesen Zeitrahmen nicht auszuschöpfen. Ein weiterer Punkt, der in der Truppe Frustrationen und Enttäuschungen verursacht, sind die unzureichenden Beförderungschancen. Es gibt in allen Dienstgradgruppen zu wenige Planstellen. Überall entstanden in der Vergangenheit Wartezeiten, die je nach Teilstreitkraft unterschiedlich ausfallen. Das Attraktivitätsprogramm hat eine Verbesserung bei Beförderung und Besoldung geschaffen. Allein in den Jahren 2002 bis 2005 gab es zusätzliche Besoldungsverbesserungen für 34 600 Mannschaftsdienstgrade und zusätzlich 35 100 Beförderungen für alle Laufbahnen, davon allein rund 26 700 für Feldwebeldienstgrade. Natürlich löst das Attraktivitätsprogramm den langjährigen Beförderungsstau nicht in kürzester Zeit auf. Aber es ist notwendig - darüber freue ich mich -, dass das Attraktivitätsprogramm mit den im Haushalt 2007 vorgesehenen Verbesserungen fortgesetzt wird. Damit werden rund 3 400 zusätzliche Beförderungen ermöglicht. ({0}) Weitere Probleme bei Besoldung und Laufbahn müssen im Rahmen der Novellierung des Öffentlichen Dienstrechts unter Federführung des BMI gelöst werden. Hier gilt es, sich rechtzeitig in die Diskussion einzuschalten, damit den besonderen Bedürfnissen der Soldatinnen und Soldaten Rechnung getragen wird. Wir haben es vorhin schon gehört: Zwei Drittel von ihnen sind im unteren und mittleren Dienst. Auch dem muss Rechnung getragen werden. Neben diesen und vielen anderen Problemen, die nur zu lösen sein werden, wenn mit den Aufgaben auch die finanzielle Ausstattung wächst, zeigt der Bericht auch andere Missstände in der Truppe auf. Probleme der Gesellschaft machen auch vor der Bundeswehr nicht Halt. Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft und hat ähnliche Probleme wie die Zivilgesellschaft. Der Bericht zeigt Beispiele von respektlosem Verhalten bis hin zu Körperverletzungen und Misshandlungen. Missbrauch von legalen und illegalen Drogen wird ebenso geschildert wie rechtsextremistische Vorkommnisse. Zwar ist die Zahl der Taten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen gering und in den vergangenen Jahren fast gleich geblieben, doch jede einzelne rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motivierte Tat - sei es auch nur ein Propagandadelikt - ist eine zu viel. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen weder in der Bundeswehr noch in der Gesellschaft Platz haben. ({1}) Hier gilt es, weiterhin wachsam zu bleiben und präventive und erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Wo es nötig ist, muss auch mit disziplinarrechtlichen Maßnahmen bis hin zum Ausschluss aus der Truppe reagiert werden. Bei Übergriffen und Fehlverhalten haben die Soldatinnen und Soldaten das Recht, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden. Sie nutzen es auch. Ich will sie auch dazu ermutigen, Vorkommnisse direkt an den Vorgesetzten zu melden. Der Bericht des Wehrbeauftragten ist eine Auflistung von Problemen und Mängeln in der Truppe. Ich möchte Ihnen, Herr Robbe, dafür danken, dass Sie auch Positives in den Bericht aufgenommen haben. Kameradschaft und Solidarität sind vor allem in den Auslandseinsätzen unverzichtbar. Sie haben diese Eigenschaften der Soldatinnen und Soldaten an anschaulichen Beispielen in Ihrem Bericht eindrucksvoll beschrieben. Ich möchte zum Schluss allen Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz danken. Mein Dank gilt auch dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Truppeangehörigen haben. Ich darf Ihnen das Buch „Zum Schutz der Grundrechte …“, das in dieser Woche vorgestellt wurde, empfehlen. Es enthält interessante Details zur Historie des Wehrbeauftragten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 16/850 und 16/3561. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN Aufhebung der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen - Drucksache 16/2523 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Axel Troost, Fraktion Die Linke, das Wort. ({1})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Nacht aus dem Nichts zu Geld zu kommen, das ist - ich sage es ganz vorsichtig - eine angenehme Vorstellung. Für die meisten Menschen bleibt das ein unerreichbarer Wunsch, bei einigen klappt es aber sehr gut, zum Beispiel beim Familienunternehmen Merck, das um 400 Millionen Euro reicher geworden ist, als im Sommer dieses Jahres die Übernahmeschlacht um die Schering AG tobte. Was war passiert? Der Vorstand der Schering AG hatte sich für eine Übernahme durch die Bayer AG ausgesprochen. Diese Situation nutzte das Familienunternehmen Merck aus und kaufte, ganz im Stile eines Hedge-Fonds, massiv Schering-Aktien an der Börse. Um die Übernahme wie geplant durchführen zu können, musste die Bayer AG diese Aktien dann von Merck zurückkaufen, freilich zu einem deutlich höheren Preis. Das Ergebnis dieses Spekulationsgeschäfts war ein Ertrag in Höhe von rund 400 Millionen Euro - über Nacht, aus dem Nichts und vor allem steuerfrei. ({0}) Diese 400 Millionen Euro wurden, steuertechnisch gesprochen, als Veräußerungsgewinn verbucht. Veräußerungsgewinne sind seit der rot-grünen Unternehmensteuerreform aus dem Jahre 2000 steuerfrei. Das, meine Damen und Herren, ist eine der größten steuerpolitischen Ungerechtigkeiten, die den Bürgerinnen und Bürgern in den letzten Jahren zugemutet wurde. ({1}) Dazu sagt die Fraktion Die Linke: Das muss geändert werden und das kann auch geändert werden. ({2}) Wir müssen Veräußerungsgewinne wieder besteuern, wie es auch in den meisten anderen westeuropäischen Staaten üblich ist. Dadurch würde nicht nur mehr Steuergerechtigkeit geschaffen, sondern dadurch könnten wir auch noch zwei weitere Ziele erreichen: Erstens würden wir dafür sorgen, dass wir wieder mehr Geld in die öffentlichen Kassen bekommen, nämlich rund 2 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will daran erinnern: Dieser Betrag entspricht in etwa der Größenordnung, die durch die Abschaffung der Entfernungspauschale ab dem Jahr 2007 für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Belastung bzw. für die öffentlichen Kassen als Mehreinnahmen entsteht. Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt: Leere öffentliche Kassen sind kein Naturgesetz. Leere öffentliche Kassen sind das Ergebnis einer Steuerpolitik, durch die an Unternehmen und Besserverdienende Steuergeschenke verteilt wurden. ({3}) Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt aber auch: Diese Steuerpolitik kann geändert werden. Dafür bräuchte man aber den politischen Mut, Entscheidungen zu treffen, die die Besserverdienenden und die Unternehmen Geld kosten. ({4}) Würden wir Veräußerungsgewinne besteuern, könnten wir - das ist das zweite Ziel unseres Antrags - auch den Einfluss von Hedge-Fonds und Private-EquityFirmen zurückdrängen. Eine Strategie dieser Finanzmarktakteure besteht darin, Firmen billig aufzukaufen, sie anschließend zu „sanieren“ - so wird Arbeitsplatzvernichtung in den Chefetagen genannt - und dann teuer zu verkaufen. Genau diese Strategie wird durch den Steuerzahler bezuschusst, und zwar dadurch, dass die entstehenden Gewinne steuerfrei sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, man kann nicht immer wieder - auch auf sehr populistische Weise -, fordern, dass das Problem der Heuschrecken gelöst werden muss, und gleichzeitig darauf verzichten, Steuern auf Veräußerungsgewinne zu erheben. ({5}) Wir brauchen eine Politik, die andere Schwerpunkte setzt. Wenn man sich die Aussagen der Bundesregierung vor Augen führt - wahrscheinlich werden diese Argumente auch in dieser Debatte angeführt -, dann stellt man fest - ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage -, dass durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen … althergebrachte Beteiligungsstrukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen werden sollen. ({6}) Natürlich besteht in Einzelfällen, zum Beispiel bei Umstrukturierungen und bei Entflechtungen von Unternehmen, die Notwendigkeit dazu; das stelle ich nicht infrage. Aber ich sage: Die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen ist ein untaugliches Instrument, um dieses Ziel zu erreichen. ({7}) Denn es wird eben nicht im Einzelfall geprüft, was gefördert werden sollte und was nicht. Stattdessen wird nach dem Gießkannenprinzip verfahren: Jeder Veräußerungsgewinn wird subventioniert, auch wenn dahinter kein sinnvolles Umstrukturierungsinstrument steht. Dies heißt, in der Regel sind die Verlierer die Beschäftigten. Deswegen sind wir der Ansicht: Hier muss eine Veränderung durchgeführt werden. Eine Steuerpolitik, die solche Praktiken auch noch subventioniert, ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspolitisch falsch und finanzpolitisch abenteuerlich. Wir bitten Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Wir brauchen die Aufhebung der Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion.

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rot-grüne Bundesregierung hat im Jahre 2000 mit dem Steuersenkungsgesetz ein modernes und international wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht für Deutschland auf den Weg gebracht, welches heute, unter der großen Koalition, fortbesteht und den Bürgern und den Unternehmen in unserem Lande viele finanzielle Erleichterungen verschaffen konnte. Dieses Steuersenkungsgesetz hat einen wichtigen Beitrag zum heutigen Aufschwung geleistet und hat - daran besteht für mich kein Zweifel - auch zu den jetzt spürbaren Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt beigetragen. ({0}) Mit diesem in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin größten Steuerreformpaket mit einer Absenkung der Steuerbelastung in Höhe von sage und schreibe 75 Milliarden DM ist der Grundstein für eine dringend benötigte Finanzreform gelegt worden. Der Mittelstand wurde mit 14 Milliarden DM entlastet. Die wichtigste und für jeden Einzelnen spürbare Auswirkung dieses Gesetzes war die Senkung der Steuersätze. So wurden der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, der Körperschaftsteuersatz auf 25 Prozent und der Eingangssteuersatz, in mehreren Stufen, von 26 Prozent auf gerade noch 15 Prozent abgesenkt, mithin um ein Drittel reduziert; dieses Beispiel ist schon mehrfach angeführt worden. ({1}) Wenn wir heute sagen können, dass ein Familienvater, verheiratet, mit zwei Kindern, bis zu einem Jahreseinkommen von 37 500 Euro bei Einbeziehung des Kindergeldes keine Steuern zahlt, dann ist das nach wie vor erwähnens- und bemerkenswert. ({2}) Das waren aber keine irrationalen Steuergeschenke; das war vielmehr der notwendige Beitrag, die Steuern bei Unternehmen und die Steuern bei Privaten gleichwertig zu senken. Dazu gehörten allerdings auch der Wechsel zum so genannten Halbeinkünfteverfahren und, logisch konsequent, die Steuerfreiheit von Dividenden innerhalb der Unternehmensebene und von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen bei Kapitalgesellschaften. Diesen Zusammenhang bitte ich zur Kenntnis zu nehmen; davon steht nämlich nichts in Ihrem Antrag. Das Halbeinkünfteverfahren trat notwendigerweise an die Stelle des eben nicht europatauglichen Vollanrechnungsverfahrens. Es bewirkt, dass nach Vorbelastung auf der Unternehmensebene auf der Ebene des Anteilseigners Einnahmen aus Beteiligungen nur zur Hälfte in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer eingestellt werden. Insgesamt ergab sich bzw. ergibt sich durch diese Maßnahme eine Belastung der ausgeschütteten Gewinne, die der steuerlichen Belastung bei anderen Einkunftsarten angenähert ist. Anders ausgedrückt: Die Gleichbehandlung von Dividenden mit anderen Einkünften lässt sich nur erreichen, wenn Ausschüttungen zwischen Körperschaften nicht besteuert werden. Für den vollzogenen Systemwechsel zum Halbeinkünfteverfahren sprachen und sprechen diverse Vorteile: Das Halbeinkünfteverfahren ist klar und transparent, weil die Ebene der Kapitalgesellschaft klar von der Ebene der Anteilseigner getrennt wird. Das Halbeinkünfteverfahren ist wettbewerbsneutral und europatauglich. Demgegenüber war das Vollanrechnungsverfahren nur ein nationales Mittel; es beseitigte lediglich die steuerliche Doppelbelastung bei einem Anteilseigner und seiner Gesellschaft innerhalb Deutschlands. Last not least: Das Halbeinkünfteverfahren hat gezeigt, dass es konsequent kumulative Mehrfachbelastungen innerhalb von Konzernen und Beteiligungsstrukturen vermeidet. Wirtschaftlich gesehen stellt der Veräußerungsgewinn den Wert der Rücklagen der veräußerten Kapitalgesellschaft dar. Diese setzen sich aus offenen Rücklagen und stillen Reserven zusammen. Hier wird dann unterschieden: Offene Rücklagen sind mit 25 Prozent Körperschaftsteuer belastet, stille Reserven nur dann, wenn das entsprechende Wirtschaftsgut, beispielsweise ein Grundstück, veräußert wird. Damit eine Doppelbesteuerung vermieden wird, sind bei der Anteilsveräußerung zwischen Kapitalgesellschaften im neuen System der Körperschaftsteuer Veräußerungsgewinne konsequenterweise steuerfrei. Eine Besteuerung bereits bei der Anteilsveräußerung, wie hier gefordert wird, würde im aktuellen System eine nicht gerechtfertigte Doppelbesteuerung der offenen und stillen Reserven auslösen. Wir haben erreicht, dass durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen althergebrachte Beteiligungsstrukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen worden sind, ({3}) dass die Positionierung dieser Unternehmen im internationalen Wettbewerb optimiert wurde und dass das Steueraufkommen in Deutschland gesichert wurde. Wenn im Jahre 2006, nach dem Systemwechsel, Kapitalertragsteuer in Höhe von 11 Milliarden Euro anfallen wird, wenn wir nach der Senkung des Körperschaftsteuersatzes von 40 Prozent auf 25 Prozent heuer Einnahmen in Höhe von 23 Milliarden Euro, also in gleicher Höhe wie seinerzeit bei dem höheren Steuersatz haben werden, ist dies ein Beweis dafür, dass der Ansatz, der beim Steuersenkungsgesetz 2000 gewählt wurde, in die richtige Richtung ging und geht. ({4}) - Ich danke für den Zwischenruf, Frau Kollegin. Dies wird leider vielfach vergessen, auch in diesem Antrag. Stattdessen wird ausgeführt, es gäbe Fälle, in denen rein spekulative Faktoren den Beteiligungswert bestimmten und nach erfolgreicher Spekulation unversteuerte Gewinne gemacht würden. Dem ist entgegenzuhalten: Ebenso wie ein erhöhter Börsenkurs eine Entsprechung in den stillen Reserven des Firmenwerts haben kann und eben nicht in einer Spekulation, ist es möglich, dass eine entsprechende Spekulation nicht mit einem Veräußerungsgewinn, sondern mit einem Veräußerungsverlust endet. Das heißt: Die rein spekulativ erhöhten Kurse sinken; die Beteiligung kann nur mit Verlust veräußert werden. Selbst wenn man dem Antrag der Linken folgen und alle Schwierigkeiten des Einzelfalles hintanstellen wollte, müsste man folgerichtig die Einnahmesituation des Staates auch mit Veräußerungsverlusten behaften. Damit wäre jedoch der Zockerei auf Unternehmensebene und auf Kosten des Staates Tür und Tor geöffnet, also der berühmte „Schuss nach hinten“ vollzogen. ({5}) Gleiches gilt für die Idee, eine Mindestbeteiligungsgrenze oder Mindesthaltedauer bzw. ein umfassendes Verbot des Betriebsausgabenabzugs für Aufwendungen für Beteiligungen einzuführen. All diese Dinge sind gestaltungsanfällig und damit unpraktikabel. Sie würden zu einem Nebeneinander von steuerfreien und steuerpflichtigen Beteiligungsveräußerungen führen und Unternehmen dazu ermuntern, Verluste in den steuerpflichtigen und Gewinne in den steuerfreien Bereich zu verlagern. Im Übrigen gilt seit 1999 respektive seit 2004 die 5-Prozent-Klausel, sprich: ein pauschales Betriebsausgabenabzugsverbot. Gerade im Zuge der Überlegungen zur Unternehmensteuerreform 2008 müssen wir uns auf die Fahne schreiben, dass alles, was wir entwerfen, nicht missbrauchsanfällig und nicht gestaltungsanfällig ist. Wir sollten gemeinsam nach Lösungen suchen - ich lade auch Sie von der Linken dazu ein -, wie wir das Steuersubstrat des Staates sichern können. Wir sollten aber nicht ein Verfahren diskreditieren, das in die richtige Richtung gewiesen hat. Ich lade Sie daher herzlich ein, die Umsetzung der Steuerreform konstruktiv zu begleiten. Hierzu gehört auch die weitere Senkung der Körperschaftsteuer auf 15 Prozent und die Senkung der Gewerbesteuermesszahl von 5 Prozent auf 3,5 Prozent. Wir alle wollen, dass zukünftig mehr von den Gewinnen, die in diesem Staate erwirtschaftet werden, der Besteuerung in diesem Staate zugeführt werden. Es geht darum, dies ohne eine Komplizierung des ohnehin schon hinreichend differenzierten Steuerrechtes zu schaffen. Die Ansätze, die wir hierbei gefunden haben, sind ermutigend. Daher appelliere ich an Sie: Lassen wir uns nicht von scheinbaren Argumenten der Steuergerechtigkeit verführen, vorschnell den Kopf auszuschalten, sondern überlegen wir, wie wir unser Steuerrecht auf Grundlage des Steuersenkungsgesetzes 2000 vernünftig fortentwickeln können. Dabei spielt sicherlich auch die Abgeltungsteuer gelegentlich eine Rolle. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war schon eine große Überraschung für uns Oppositionspolitiker - dazu gehörte damals auch die CDU/CSU -, als wir im Jahre 2000 die Vorschläge der damaligen rot-grünen Regierung zur Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei Beteiligungsverkäufen zur Kenntnis genommen haben. Das hatten wir nicht erwartet. ({0}) In den Diskussionen, die wir vorher in unserer Koalition geführt hatten, hatten wir als FDP eine völlige Steuerfreiheit immer ausgeschlossen, weil das steuersystematisch nicht gerechtfertig war und auch bis heute nicht gerechtfertigt ist. ({1}) In diesem Punkt stimme ich dem Antrag der Linken zu. Allerdings gilt das nicht für die Begründung, die Sie vorgebracht haben. ({2}) Der reine Appell an den Neidkomplex führt uns nicht weiter. Die Frage lautet, was steuersystematisch richtig ist. ({3}) Ich habe die Diskussion damals hier im Deutschen Bundestag, bei der ich sogar die Ehre hatte, einen Beitrag zu leisten, noch einmal nachgelesen. Ich habe damals gesagt: Das … führt zu einer einseitigen Begünstigung der Kapitalgesellschaften gegenüber den Personengesellschaften und den Einzelkaufleuten. Genau das ist der steuersystematisch entscheidende Gegenangriff. Es war nicht in Ordnung, dies nur für Kapitalgesellschaften einzuführen und die Personengesellschaften davon auszuschließen. Im Übrigen hat die Steuerfreiheit natürlich dazu beigetragen, dass die so genannte Deutschland AG stärker entflochten worden ist. Insofern hatte das volkswirtschaftlich auch einen positiven Effekt. Steuersystematisch aber war es nicht richtig, die Kapitalgesellschaften auf diese einseitige Weise zu begünstigen. ({4}) Deswegen haben wir als FDP hinsichtlich einer Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer einen steuersystematisch einwandfreien Vorschlag gemacht. ({5}) Nach unserem Entwurf sind Veräußerungsgewinne bei Beteiligungsverkäufen grundsätzlich steuerpflichtig. Der Steuertarif ist dabei natürlich deutlich abgesenkt. Diese Gewinne können aber in eine steuerfreie Reinvestitionsrücklage eingestellt werden, die für entsprechende Investitionen innerhalb von vier Jahren aufgelöst werden muss. Wenn das nicht geschieht, dann muss die Besteuerung endgültig nachvollzogen werden. - Das ist ein steuersystematisch richtiger Ansatz. Ein anderer richtiger Ansatz ist der, der in anderen Ländern gefunden worden ist, beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo Veräußerungsgewinne mit einem eigenen Steuertarif belastet werden, der sehr viel niedriger ist. Er lag einmal bei 12 Prozent und 15 Prozent; ich weiß nicht, wie hoch er im Moment ist. Mir geht es aber auch nur um das System. Es stellt sich die Frage, was die Bundesregierung jetzt tut. ({6}) Sie hat ja angekündigt, eine Unternehmensteuerreform einzubringen. Noch im Januar wird sie einen Regierungsentwurf vorlegen. Herr Krüger, ich habe mich etwas darüber gewundert, dass Sie das Halbeinkünfteverfahren so gerühmt haben, obwohl Sie gerade dabei sind, es wieder abzuschaffen. Das macht ja wenig Sinn. ({7}) Nach dem, was bis jetzt von Ihren Vorschlägen und Überlegungen bekannt ist, bleibt § 8 b Körperschaftsteuergesetz - also diese Ausnahme - erhalten. ({8}) Dadurch würden Sie den steuersystematischen Fehler fortschreiben. Das wäre bedauerlich. ({9}) Sie haben aber noch Zeit, diese Frage zu überdenken und einen steuersystematisch einwandfreien Vorschlag zu machen. ({10}) Wenn es Ihnen hilft, stelle ich Ihnen unseren Entwurf zur Verfügung. Sie müssen ihn nur abschreiben. Sie können sich darauf verlassen, dass das sauber durchdacht, steuersystematisch konsequent und einwandfrei ist. ({11}) Sie brauchen sich also nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen und auch über das Halbeinkünfteverfahren nicht mehr nachzudenken. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Peter Rzepka, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst vor kurzer Zeit, nämlich im Juli dieses Jahres, hat die Bundesregierung der Fraktion Die Linke das System der deutschen Körperschaftsbesteuerung erklärt, ({0}) und zwar in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, die das Thema des heute vorliegenden Antrages zum Inhalt hatte. Deshalb habe ich die Vermutung, dass unsere Kollegen von der Linksfraktion nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können. Ich denke, beides ist gleich schlimm. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es letztlich nur darum geht, die Komplexität des Unternehmensteuerrechts durch unzulässige Vereinfachung zu einem populistischen Antrag zu nutzen. ({1}) Falsches, Herr Kollege Troost, wird nicht dadurch richtig, dass es wiederholt wird. ({2}) Das gilt für die Ausführungen der Linken zur Unternehmensbesteuerung im Allgemeinen und zur Körperschaftsteuerbefreiung von Gewinnen aus Beteiligungsverkäufen im Besonderen. Im so genannten Halbeinkünfteverfahren, das hier schon angesprochen worden ist und das seit dem 1. Januar 2001 gilt, werden Gewinne von Körperschaften mit einem einheitlichen Steuersatz definitiv besteuert, unabhängig davon, ob sie ausgeschüttet oder einbehalten werden. Solange die Gewinne im Unternehmen verbleiben, bleibt es bei diesem Steuersatz. Im Fall der Ausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner kommt es zur Nachbelastung. Dabei werden die Dividenden beim Anteilseigner nur zur Hälfte in die Bemessungsgrundlage seiner Einkommensteuer einbezogen. Dies geschieht, um eine übermäßige Belastung ausgeschütteter Gewinne im Vergleich zu anderen Einkünften zu vermeiden. Diesem gleichen Ziel dient die Steuerfreiheit bei Ausschüttungen von Körperschaften an andere Körperschaften. Die gewollte steuerliche Gesamtbelastung wird dadurch hergestellt, dass die Gewinne einmal bei der Körperschaft, die sie erzielt, und zum anderen bei der Weiterausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner besteuert werden. Eine zusätzliche Besteuerung der Dividenden innerhalb einer Beteiligungskette würde zu einer mehrfachen Besteuerung des gleichen Gewinns führen und kann deshalb nicht ernstlich gefordert werden. Der Gewinn, den eine Körperschaft durch Veräußerung einer Beteiligung an einer anderen Körperschaft erzielt, wird wie eine Gewinnausschüttung in der Beteiligungskette steuerfrei gestellt. Das gilt sowohl für Beteiligungen an inländischen als auch für solche an ausländischen Gesellschaften. Diese Freistellung berücksichtigt, dass der Veräußerungsgewinn auf offenen und stillen Reserven sowie auf zukünftigen Gewinnausschüttungen und Gewinnaussichten der Beteiligungsgesellschaft beruhen kann. ^ Offene Reserven sind bei der Beteiligungsgesellschaft bereits versteuert. Stille Reserven sind bei ihr steuerlich verhaftet und müssen bei Aufdeckung besteuert werden. Gewinnaussichten unterliegen bei ihrer Realisierung naturgemäß auch in der Gesellschaft der Besteuerung. Trotz der Freistellung der Gewinne aus Beteiligungsverkäufen ist also gesichert, dass alle Gewinne in vollem Umfang im Halbeinkünfteverfahren besteuert werden, einmal in der Gesellschaft, die sie erzielt, zum anderen bei Weiterausschüttungen an natürliche Personen als Anteilseigner. Die Steuerfreiheit dieser Veräußerungsgewinne korrespondiert mit der Steuerfreiheit von Dividenden in Kapitalgesellschaftskonzernen - das ist hier angesprochen worden -; denn man kann die Veräußerung einer Beteiligungsgesellschaft mit Gewinn auch als Vollausschüttung aller Gewinne betrachten. Bei einer weiteren zusätzlichen Steuerpflicht des Veräußerungsgewinns käme es zu einer Doppelbesteuerung; da unterscheiden wir uns auch, Herr Kollege Dr. Solms. Wer das will - Sie von der Linksfraktion wollen es ausweislich Ihres Antrages -, ({3}) legt die Axt an die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit - ein Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch unsere Steuersystematik zieht und dessen Nichtbeachtung regelmäßig vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wird. Aus der Steuerbefreiung der Veräußerungsgewinne folgt, dass auch Veräußerungsverluste und Teilwertabschreibungen nicht berücksichtigt werden dürfen. Das ist sozusagen die andere Seite der Medaille. Wer die Steuerbefreiung wieder abschaffen will, muss auch Veräußerungsverluste und Teilwertabschreibungen wieder anerkennen. Nicht so die Linksfraktion: Sie will nur die süßen Trauben der Gewinnsteuern für den Fiskus, vergisst dabei aber die sauren Trauben der Verluste. Führende Vertreter der PDS/Die Linke haben denn auch die Kehrseite der Medaille bekämpft, das heißt die vor dem Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht bestehende Möglichkeit zu Teilwertabschreibungen. Sie ging Hand in Hand mit der damaligen Besteuerung der Veräußerungsgewinne. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Rede der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch in diesem Hause anlässlich der Debatte über den Bundeshaushalt 2005 erinnern. Sie sagte damals: Sie nehmen es … einfach hin, dass der weltgrößte Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro außerplanmäßig abschreiben will, - es ging um die zuvor erworbene Beteiligung an Mannesmann um 20 Milliarden an Steuern zu sparen. Das wurde damals gegeißelt. Ich will nicht entscheiden, ob die damalige Abschreibung von Vodafone steuerrechtlich zulässig war. Das kann hier dahingestellt bleiben. Darüber werden letztlich das zuständige Finanzamt und gegebenenfalls die Finanzgerichte zu entscheiden haben. Jedenfalls ist mit dem Übergang vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren in diesem Punkt gehandelt worden. Mit dem Systemwechsel bei der Körperschaftsteuer ist die steuerliche Geltendmachung von Veräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen bei Beteiligungen abgeschafft worden. ({4}) Damit ist genau das geändert worden, was die Kollegin Lötzsch damals angeprangert hat. Systemgerecht wurden dann allerdings auch die entsprechenden Veräußerungsgewinne freigestellt. Noch einmal: Man kann nicht zugleich für die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen und gegen die Geltendmachung von Veräußerungsverlusten sowie die Möglichkeit zu Teilwertabschreibungen sein. Das verletzt nach meiner Auffassung wichtige steuersystematische Grundsätze und widerspricht dem gesunden Menschenverstand. ({5}) Der Standort Deutschland würde unattraktiver für große Kapitalgesellschaften. Gewinner wären die Länder, die dem geltenden deutschen Körperschaftsteuerrecht vergleichbare Regelungen hinsichtlich der Veräußerungsgewinne haben. Ich darf in diesem Zusammenhang Schweden, Irland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg nennen. Frankreich übrigens will 2007 diese in unserem Körperschaftsteuerrecht geltende Regelung bei sich einführen. So falsch kann sie dann wohl nicht sein, Herr Kollege. ({6}) Zu Beginn meiner Rede bin ich auf die Dividendenfreistellung eingegangen und habe erklärt, warum Dividendenzahlungen von einer Körperschaft an eine andere steuerfrei sind. Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag behauptet, Beteiligungsaufwendungen dürften systemwidrig von der Steuerschuld abgezogen werden, dann irrt sie erneut oder - was noch schlimmer ist - unterschlägt einen Teil der Wahrheit, Herr Troost. ({7}) Denn zum einen sind die Dividenden, die eine Körperschaft erhält, zwar nicht bei der empfangenden, aber bei der ausschüttenden Gesellschaft besteuert worden, und zwar entweder mit inländischer oder - bei Auslandsbeteiligungen - mit ausländischer Steuer. Zum anderen werden die Aufwendungen, die mit diesen Dividenden in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, in pauschalierter Form nicht zum Abzug zugelassen. Ursache für diese Regelung der Pauschalierung waren die in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten, Aufwendungen im Zusammenhang mit Beteiligungen diesen zuzuordnen. Wer die Praxis kennt, weiß, dass die Probleme in diesem Zusammenhang unlösbar erschienen. Deshalb ist es zu der Pauschalierungsregelung gekommen, die im Übrigen auch der Mutter-Tocher-Richtlinie der Europäischen Union entspricht. - Übrigens stellen viele Länder Dividenden gänzlich frei, Herr Troost, ohne Betriebsausgabenabzugsverbote vorzusehen. Nach all dem wird es Sie nicht überraschen, dass die Unionsfraktion den Antrag der Linken ablehnen wird. Er ist unsystematisch, führt zur Übermaßbesteuerung, schädigt den Standort Deutschland - insbesondere den Holdingstandort, den es dann nämlich nicht mehr gäbe - und gefährdet das Vertrauen in die Beständigkeit und Berechenbarkeit des deutschen Steuergesetzgebers. Letztlich ist er ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen und zur Verhinderung von Investitionen in Deutschland. Wir werden den Antrag ablehnen. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nun Kollegin Christine Scheel, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass das Thema „Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen“ sehr sensibel ist. Es ist vor allem dazu geeignet, bei Veranstaltungen Neiddebatten zu führen ({0}) und mit einem gewissen Populismus so zu tun, als ob die Unternehmen gänzlich steuerfrei wären, Arbeitsplätze in Deutschland abbauten und auch sonst nur Unfug treiben würden. ({1}) - Ich sage jetzt, was seit 2001 passiert ist. Banken und Versicherungen zum Beispiel nehmen die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei ihren Handelsbeständen gar nicht in Anspruch. Das heißt, sie versteuern ihre Veräußerungsgewinne, und zwar deswegen, weil sie - sie haben damals die Option bekommen, sich nach altem Recht steuerlich behandeln zu lassen die Veräußerungsverluste steuerlich geltend machen. Die Kehrseite der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen ist die Nichtabziehbarkeit der Verluste. Man muss sehen: Entweder geht beides oder es geht gar nichts. Es gibt nicht das eine oder das andere. Wenn man das eine zulässt, muss man auch das andere tun; das ist eine klare Linie. ({2}) Ein Blick zurück zeigt, welche gravierenden fiskalischen Auswirkungen Beteiligungsverluste haben können. Ich erinnere an den Börsencrash 2001 und die damit einhergehenden hohen Beteiligungsverluste. Das war der Hauptgrund, warum das Körperschaftsteueraufkommen völlig zusammengebrochen ist. Wir haben heute noch Altfälle - und zwar aus der Zeit, bevor wir das Gesetz geändert haben -, die vor Gericht ausgetragen werden. Vodafone zum Beispiel macht - das wurde bereits angesprochen - 50 Milliarden Euro Buchverluste aus dem Jahr 2001 steuerlich geltend. 50 Milliarden Euro Buchverluste! Das wären umgerechnet circa 20 Milliarden Euro, die der Fiskus diesem Unternehmen nachzahlen müsste, wenn sich Vodafone vor Gericht durchsetzt. Solche Probleme gibt es heute nicht mehr, weil es nicht mehr zulässig ist, solche Verluste steuerlich geltend zu machen. ({3}) Ich bin gottfroh, dass wir damals die Entscheidung so getroffen haben. Wenn ich an die Börsensituation im Jahr 2001 und daran denke, wie die internationalen Firmen damals am Steuerstandort Deutschland aufgestellt waren, und mir vorstelle, welche Verlustvorträge wir heute noch hätten, wenn wir die Verlustverrechnung nicht abgeschafft hätten, dann wird mir schlecht. ({4}) Es ist daher richtig, Vor- und Nachteile sehr sorgsam gegeneinander abzuwägen. Herr Dr. Solms, man kann sicherlich über die Steuersystematik reden; das halte ich für eine richtige und wichtige Debatte. Aber man darf es nicht so platt, wie vorgeschlagen, machen und sagen: Wenn die Veräußerungsgewinne besteuert werden, dann haben wir 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen und die Welt wird schön. - So einfach ist es leider nicht. Ich bitte daher darum, im Ausschuss eine differenzierte Debatte darüber zu führen, was Sinn macht. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2523 an die in der Tagesordnung aufgeVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/887Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 16/3843 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Geis Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Hans-Christian Ströbele Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland gibt es rund 5 Millionen Wohnungseigentümer. Für sie alle ist heute ein guter Tag. Mit dem vorliegenden Gesetz verbessern wir ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit und wir vereinfachen das gerichtliche Verfahren, wenn es einmal zu Streitigkeiten kommen sollte. Das geltende Wohnungseigentumsgesetz aus dem Jahre 1951 zeigte an einigen Punkten Reformbedarf. Wir haben deshalb wesentliche Änderungen vorgenommen. Die drei wichtigsten Ergebnisse will ich kurz aufzeigen: Erstens. Wir verbessern die Willensbildung in der Eigentümergemeinschaft. Wenn es um die Verteilung von Betriebs- und Verwaltungskosten geht oder um Maßnahmen der Modernisierung des gemeinschaftlichen Eigentums, dann ersetzen wir das bisherige Einstimmigkeitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip. Wir kommen damit einer alten Forderung aus der Praxis nach. Denn es kam immer wieder vor, dass objektiv notwendige Baumaßnahmen von einzelnen Eigentümern blockiert worden sind. Allerdings stellen wir sicher, dass auch in Zukunft nicht unsachgemäß über den Kopf Einzelner hinweg entschieden wird. Im Interesse des Minderheitenschutzes bleibt es dabei, dass Beschlüsse bei Gericht angefochten werden können, und zwar insbesondere dann, wenn sie einer ordnungsgemäßen Verwaltung des Gemeinschaftseigentums widersprechen. Die zweite wesentliche Änderung betrifft das gerichtliche Verfahren. Künftig gilt die Zivilprozessordnung auch für die Wohnungseigentumssachen. Damit kommen wir wiederum einem Wunsch vieler Praktiker nach, der Richterschaft und nunmehr sogar auch der Bundesrechtsanwaltskammer. 1951 hatte man die WEG-Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen, und zwar mit der Erwartung, dass dadurch die Verfahren zügiger erledigt würden. Man muss ganz deutlich sagen: Gerade diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Praxis hat bislang versucht, Schwächen des Verfahrens durch die Übernahme einzelner Elemente aus der ZPO wenigstens teilweise auszugleichen. Aber diese Anwendung zahlreicher Normen im Wege der Analogie hat zu einer ganz beträchtlichen Rechtsunsicherheit geführt. Deshalb ist hier der Gesetzgeber gefordert. Seit der ZPO-Reform im Jahre 2002 hat sich auch der Zivilprozess verändert. Die materielle Prozessleitung des Gerichts und die Mitwirkungsrechte und -pflichten der Verfahrensbeteiligten sind erweitert worden. Es werden mehr Vergleiche geschlossen und weniger Rechtsmittel eingelegt. Wir glauben, dass sich hier das WEG-Verfahren nahtlos einfügen lässt. Mit der dritten Änderung greifen wir eine wegweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf. Er hat im Juni letzten Jahres die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer als teilrechtsfähig anerkannt, wenn sie bei der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums am Rechtsverkehr teilnimmt. Ich halte es deshalb für richtig und geboten, dass wir das Richterrecht jetzt in Gesetzesrecht überführen und dabei zugleich eine praktikable Regelung für die Haftung der Wohnungseigentümer schaffen. Dieses Gesetz ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie Rechtsprechung und Gesetzgebung bei der Weiterentwicklung des Rechts konstruktiv zusammenwirken. Konstruktiv zusammengearbeitet haben bei diesem Projekt auch alle Fraktionen. Der Rechtsausschuss hat diesen Gesetzentwurf in einer sehr guten Sachverständigenanhörung und weiteren guten Berichterstattergesprächen weiterentwickelt. Ich danke allen, die am Zustandekommen dieses guten Gesetzentwurfs engagiert mitgearbeitet haben. ({0}) - Ich muss so schnell sein, weil Dirk Manzewski sonst keine Zeit mehr hat. Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung sorgen wir für eine praktikable Modernisierung des Gesetzes. Wir stellen sicher, dass es den Bedürfnissen der Praxis besser gerecht wird, und wir stärken zugleich die Attraktivität des Wohnungseigentums in Deutschland. Wenn wir jetzt alle gemeinsam dem Gesetzentwurf zustimmen, dann können wir sagen: Fröhliche Weihnachten! Schönen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des Wohnungseigentumsgesetzes ist eine Erfolgsgeschichte. Wir wollen, dass es dabei bleibt. Das sind wir allen jetzigen und allen künftigen Wohnungseigentümern schuldig. Ich bin optimistisch, dass das Gesetz, das wir heute verabschieden werden, diesem Anspruch gerecht wird. Die Änderungen werden das Wohnungseigentum praktikabler und vielleicht auch ein Stück gerechter machen. Sie werden helfen, die Attraktivität des Wohnungseigentums auch für die Zukunft zu sichern. Das ist gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Wohnungseigentum immer mehr zur Alterssicherung dient, sehr wichtig. ({0}) Zu den entscheidenden Verbesserungen gehört - das hat der Herr Staatssekretär schon gesagt - die Erleichterung der Willensbildung. Hier bestand spätestens seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum so genannten Zitterbeschluss dringender Handlungsbedarf; denn die durch diese Rechtsprechung erzwungene Rückkehr zum starren Einstimmigkeitsprinzip ging an den Bedürfnissen der Praxis vollkommen vorbei. Die Folge war, dass ein einziger Wohnungseigentümer eine Maßnahme verhindern konnte, die alle anderen für gut und richtig hielten. Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, die wir heute beschließen - wir machen das meines Erachtens vorsichtig und sinnvoll -, wird dazu beitragen, solche Blockaden aufzubrechen. Sie wird in vielen Fällen den Weg für Modernisierungs- und Energieeinsparungsmaßnahmen freimachen. Hiervon profitieren nicht nur die Wohnungseigentümer, sondern das ist auch gut für das Handwerk und für die Umwelt. Als juristisch anspruchsvoll erweist sich der Versuch, die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eigentümergemeinschaft, Wohnungseigentümern und Gläubigern klarer zu fassen. Auch hier bestand Handlungsbedarf. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfähigkeit hatte in der Praxis zu einer Reihe von Folgefragen geführt. Der Gesetzentwurf versucht, hierauf eine Antwort zu geben. Ob dies in allen Punkten überzeugend gelungen ist, kann heute noch niemand mit Gewissheit sagen. Hier wird die Rechtsprechung noch einiges zu tun haben. Gegebenenfalls wird auch der Gesetzgeber, werden wir nachsteuern müssen. Es wäre aber auch keine Lösung gewesen, zum jetzigen Zeitpunkt vollständig auf eine Regelung zu verzichten, wie dies von einigen Vertretern aus der Wissenschaft empfohlen wurde. Der Zustand der Rechtsunsicherheit hätte so möglicherweise noch Jahre angedauert und die Eigentumswohnung als besondere Rechtsform des Wohnens hätte Schaden genommen. Das wollten wir nicht. ({1}) Hingegen war es richtig, die Wohnungseigentümergemeinschaft für nicht insolvenzfähig zu erklären. Das wäre die falsche Schlussfolgerung aus der Teilrechtsfähigkeit gewesen. ({2}) Die Gründe dafür sind in der Anhörung vorgetragen worden. Wir hätten es aber begrüßt, wenn der Gesetzgeber den Weg zu Ende gegangen wäre und dem Gläubiger die Möglichkeit gegeben hätte, einen unfähigen Verwalter durch einen fähigen zu ersetzen. Leider hat unser darauf gerichteter Änderungsantrag keine Mehrheit gefunden. Ich wage vorauszusagen, dass hier in absehbarer Zeit gesetzgeberische Korrekturen vorgenommen werden müssen. Kein Problem haben wir damit, dass sich das Verfahren in Wohnungseigentumssachen in Zukunft nach der Zivilprozessordnung richten soll. Dies wird zu einer Beschleunigung von Verfahren führen und dazu beitragen, dass Prozesshanseln die Lust am Streit vergeht. Die Gefahr einer Überforderung einzelner Wohnungseigentümer sehen wir nicht. Auch im Anwendungsbereich der Zivilprozessordnung hat das Gericht durch Hinweise darauf hinzuwirken, dass sich die Parteien rechtzeitig und vollständig erklären. Erfreulich ist, dass es uns fraktionsübergreifend gelungen ist, den Gesetzentwurf um eine Vorschrift zu ergänzen, durch die die Bestellungsdauer für den ersten Verwalter auf höchstens drei Jahre beschränkt wird. Auf diese Weise wird der Gleichlauf von Bestellungsdauer und Verjährungsfrist durchbrochen und die Gefahr von Interessenkonflikten reduziert. ({3}) Wir hätten uns auch gefreut, wenn unser Vorstoß, die Übertragung bestimmter Aufgaben auf Sachverständige unmittelbar im Wohnungseigentumsgesetz zu regeln, ebenfalls Unterstützer gefunden hätte. Auf diese Weise hätte die damit verbundene Erleichterung für die Praxis sofort eintreten können. So bedarf es erst der Umsetzung durch die Länder, die sich hiermit möglicherweise Zeit lassen werden. Auch ich habe die unaufgeregte und an der Sache orientierte Beratung des Gesetzentwurfs als sehr wohltuend empfunden und ich finde, dass wir zu guten Ergebnissen gekommen sind. Dass unsere Änderungsanträge keine Mehrheit gefunden haben, wird uns als FDP nicht daran hindern, diesem guten Gesetzentwurf zuzustimmen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Geis, CDU/ CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Weihnachtsstimmung breitet sich aus. Ich hoffe, dass die Grünen nachher ebenfalls feststellen, dass sie dem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen sollten, ({0}) zumal er bereits in der letzten Legislaturperiode grundgelegt ({1}) und die Fachwelt schon einbezogen worden ist. Nur ist es so gewesen, dass durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2. Juni 2005 ein nochmaliges Überdenken dieses Gesetzentwurfes notwendig geworden ist, und zwar vor allem aufgrund der Teilrechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft, die der BGH festgestellt hat. Diese Teilrechtsfähigkeit ist juristisch gesehen ein nicht ganz einfaches Feld. Schon der Name ist schwierig: Man meint, dass es sich hier nur um ein Teilrecht, also nicht um eine Vollrechtsfähigkeit handelt. In Wirklichkeit ist dies aber nicht der Fall. Wir haben die Regelung so getroffen, dass - das wollte auch der BGH - die Wohnungseigentümergemeinschaft da, wo sie verwaltend tätig wird, vollrechtsfähig ist, sich also voll verpflichten und Forderungen stellen kann. Der Verwalter kann zum Beispiel selbstständig Öl kaufen, ohne vorher alle Miteigentümer zu fragen. Er kann am Gesamteigentum Reparaturen vornehmen lassen, die dringend notwendig sind. Für das Wohnungseigentum des Einzelnen bleibt der Eigentümer selbst zuständig. Aber für das Gemeinschaftseigentum kann die Wohnungseigentümergemeinschaft, weil sie vollrechtsfähig ist, selbst handeln, durch den Verwalter. Dieser ist insoweit gesetzlicher Vertreter. Das ist zweifellos ein großer Vorteil; denn dadurch wird die Verwaltung insgesamt leichter werden. Letztendlich, nach einer gewissen Zeit, wird Wohnungseigentum dadurch attraktiver. Das haben auch Sie gesagt, Frau Dyckmans, und das war auch unser Wunsch, der Wunsch der Koalition. Das Wohnungseigentum soll für den einfachen Bürger eine Möglichkeit der Vermögensbildung darstellen. Darüber, dass es auch zur Altersvorsorge dienen kann, sind wir uns ebenfalls einig. Dieses Gesetz will nun einen Beitrag dazu leisten. Ich meine, das ist, soweit uns das im juristischen Bereich möglich ist, auch gelungen. Aber zurück zur Teilrechtsfähigkeit. Dieser Punkt ist nicht ganz einfach. Es gibt und gab Stimmen, die dagegen sind, Stimmen aus der Wissenschaft und vor allen Dingen von der Anwaltschaft, die davor gewarnt haben, die Teilrechtsfähigkeit einzuführen. In der Tat ist es nicht ganz einfach, eine Unterscheidung zwischen dem Verwaltungsbereich und dem übrigen Rechtsbereich, in dem die Eigentümergemeinschaft immer noch als Bruchteilsgemeinschaft auftritt, zu treffen. Diese Unterscheidung, die ja getroffen werden musste, ist nach meiner Auffassung in dem Regierungsentwurf nach den Beratungen in der Koalition und mit allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern gut gelungen. Nun ist, so meine ich jedenfalls, klar geworden, was zum Verwaltungsbereich und was zum übrigen Bereich gehört. Dennoch glaube ich, dass wir in der Praxis Probleme bekommen werden, weil mit diesem Gesetz nicht jeder einzelne Fall so konkret geregelt werden kann, dass keine Schwierigkeiten mehr auftauchen. Also werden die Gerichte das am Ende glatt bügeln müssen und es wird in den Einzelfällen eine gemeinsame Rechtsprechung zustande kommen, zumal wir im Gesetz vorsehen, dass die Berufungsinstanz für Urteile des Amtsgerichts nicht das gewöhnliche Landgericht ist, sondern das Landgericht am Sitz des Oberlandesgerichtes. ({2}) - Ja, das habe ich schweren Herzens getan. Aber in diesem Fall macht das Sinn; denn so gelingt es, wenigstens in einem Oberlandesgerichtsbezirk eine gemeinsame Rechtsprechung herauszukristallisieren. Das war ein wichtiger Punkt. Eine weitere Neuerung ist die Stellung des Verwalters. Der Verwalter wurde eine Zeit lang als Zwitterfigur dargestellt, als Mann mit einer Doppelfunktion. Er bleibt nach wie vor der Verwalter der gesamten Wohnungseigentümergemeinschaft; das heißt, er ist bezogen auf das Rechtssubjekt im Bereich der Verwaltungstätigkeit gesetzlicher Vertreter. Im übrigen Bereich ist er geschäftsführend tätig, bleibt aber für die gesamte Gemeinschaft zuständig. Ich meine daher, dass es ebenfalls gelungen ist, diese Zwitterstellung des Verwalters aus dem Zwielicht zu holen, seine Stellung gesetzlich eindeutig zu regeln und seine Kompetenzen klar abzugrenzen. Ein weiterer Punkt, der nach meiner Meinung geregelt werden musste, betrifft die Insolvenzfähigkeit. Frau Dyckmans hat es schon angesprochen. Wir haben darüber lang beraten, auch koalitionsintern und zusammen mit der Regierung. Ich möchte an dieser Stelle die gute Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär und seinen Mitarbeitern ausdrücklich loben. ({3}) Sie hat dazu beigetragen, dass wir gemeinsam zu vernünftigen Ergebnissen gekommen sind. Die Insolvenzfähigkeit war ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehen. Wir haben sie aber aus den Gründen, die Frau Dyckmans schon erwähnt hat, wieder herausgenommen. Letztendlich soll die Insolvenz zur Auflösung eines Rechtssubjektes führen. Das ist aber in diesem Fall nicht vorgesehen und wird vom Gesetz verhindert. Schon deshalb kann man hier keine Insolvenz vorsehen. Im Übrigen ist es ohne weiteres möglich, dass die Wohnungseigentümer selbst so lange Geld zuschießen, bis die Ansprüche der Gläubiger befriedigt sind. Weil das Insolvenzverfahren eine anteilsmäßige Befriedigung der Ansprüche der Gläubiger vorsieht, es hier aber eine vollständige Befriedigung der Ansprüche der Gläubiger gibt, passt nach unserer Auffassung das Instrument der Insolvenzfähigkeit an dieser Stelle nicht. Deswegen haben wir es gestrichen. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Umstellung der Verfahrensregeln von der Freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die ZPO. Dieser Punkt war ebenfalls nicht unumstritten. Es gab durchaus Stimmen, die die Meinung äußerten, dass hier der einzelne Wohnungseigentümer in das etwas stringentere Verfahren der ZPO gezwungen wird. Aber ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Denn schon jetzt ist in einem Verfahren nach der Zivilprozessordnung ein Richter in der ersten Instanz gehalten, die Parteien aufzufordern, ihren Vortrag zu bringen. Eine Benachteiligung eines Wohnungseigentümers, der sich nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, kann ich also nicht erkennen. Ein wichtiges Argument betraf noch die Frage der Kosten. Denn beim FGG-Verfahren, also bei einem Verfahren nach der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist es möglich, die Kosten variabel zu gewichten und nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip der ZPO festzulegen. Auch aufgrund der Beratungen im Rechtsausschuss haben wir hier eine wichtige Sperre eingezogen. Wir sehen nämlich eine Sperre bei den Gerichtskosten und bei der Errechnung des Streitwertes vor. Zum Schluss haben wir noch die Regelung eingeführt, dass von einem Wohnungseigentümer, der gegen die anderen Wohnungseigentümer klagt, nur ein Rechtsanwalt bezahlt werden muss, sodass die Gerichts- und Anwaltskosten nicht zu hoch ausfallen. Der letzte Punkt betrifft den Mehrheitsbeschluss bei der Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen. Es stellte sich die Frage, ob nicht derjenige Wohnungseigentümer, der nicht das Geld hat, um große Modernisierungsmaßnahmen bezahlen zu können, benachteiligt wird. Unser Anliegen war es, dass der Wohnungseigentümer, der für sein Wohneigentum sozusagen seinen letzten Pfennig ausgegeben hat, bei einer Modernisierungsmaßnahme nicht allzu sehr ins Hintertreffen gerät. Dieses ist gelungen. Wir haben die Unbilligkeit einer solchen Forderung eingeführt; außerdem haben wir die Dreiviertelmehrheit vorgesehen. Ich glaube, man kann diesem Gesetz alles in allem wohl zustimmen. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1951 dankte der belgische König ab und die USA und die UdSSR sondierten Möglichkeiten für einen Waffenstillstand in Korea. In diesem Jahr, 1951, verabschiedete der Deutsche Bundestag auch das Wohnungseigentumsgesetz, ein Gesetz, das dieses Haus seitdem nur ganz unwesentlich geändert hat. Der heutige Entwurf bezweckt dafür nun umso größere Änderungen. In all den langen Jahren seit 1951 waren es die Richterinnen und Richter, die das gute, alte WEG auf dem Wege der Rechtsfortbildung stets an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst haben. Sie kümmerten sich also um die Lebenstauglichkeit eines Gesetzes, das der Gesetzgeber deshalb seit 1951 nicht mehr anzufassen brauchte. Genau aus diesem Grund hatte Ihnen meine Fraktion Herrn Dr. Schmidt-Räntsch, einen amtierenden BGHRichter, in die Beratungen des Rechtsausschusses zum WEG eingeladen. Herr Dr. Schmidt-Räntsch hatte in seiner Stellungnahme ausdrücklich klargestellt, dass er nicht nur für sich, sondern für den gesamten Senat, bei dem die Zuständigkeit in WEG-Sachen liegt, sprechen möchte. Die klare und detaillierte Stellungnahme des Senats aber kümmerte den Ausschuss in seiner Mehrheit nicht. ({0}) Seine klare und detaillierte Stellungnahme wurde damit auch nicht zum Maßstab Ihrer Gesetzgebung. Für uns bleibt sie aber der Maßstab für die Fehlerhaftigkeit dessen, was Sie heute zur Änderung des WEG beschließen werden. ({1}) Sie werden ohne sinnvollen Grund beschließen, dass die Regelung von Streitigkeiten in der Eigentümergemeinschaft zukünftig der ordentlichen anstelle der Freiwilligen Gerichtsbarkeit obliegt. Sie bürden damit den Wohnungseigentümern höhere Verfahrenskosten und ein höheres Verfahrensrisiko auf, ({2}) nur weil Sie den Landeshaushalten deutlich höhere Einnahmen bescheren wollen. ({3}) Sie nehmen den Wohnungseigentümern eine Gerichtsbarkeit weg und erschweren ihnen damit den Weg, ihr Recht unbürokratisch durchzusetzen. ({4}) Vor allem schwächen Sie damit solche Menschen, die ihr Wohnungseigentum unter großer Anstrengung zur Erleichterung der Altersvorsorge erworben haben und nun im Streitfall vor allen finanziellen Hürden des ordentlichen Rechtsweges stehen. Wieder einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren insbesondere von der SPD, vergessen Sie Ihre Wurzeln. ({5}) Sie haben es so weit gebracht, dass ein konservativer BGH-Senat Ihnen die Vernachlässigung des Schutzes der Schwachen vorwirft. Ich zitiere aus der erwähnten Stellungnahme des BGH-Richters Dr. Schmidt-Räntsch: Dieser Schutz Schwacher ist gerade bei größeren Wohnungseigentümergemeinschaften unbedingt erforderlich und gerade deshalb auch [ursprünglich] vorgesehen worden. Wohnungseigentum ist für die „kleinen Leute“ gedacht. ({6}) Das Wohnungseigentum wird nach Ihrem Willen aber zunehmend zu einer Privilegierung der gehobenen Schichten werden. ({7}) Sie werden heute festlegen, dass Beschlüsse der Eigentümergemeinschaft in einem Beschlussbuch zu führen sind. Das macht ja sogar ein wenig Sinn angesichts der durch den Entwurf zusätzlich eingeräumten Möglichkeiten der Eigentümergemeinschaft, den konkreten Inhalt des Eigentums außerhalb des Grundbuches ändern zu wollen. Ein wenig Sinn sorgt allerdings stets auch für wenig Sinnvolles. Richtig wäre es gewesen, die Wirksamkeit der Beschlüsse von der Aufnahme in das Beschlussbuch abhängig zu machen. Dann erst könnte sich die Gemeinschaft darauf verlassen, dass nur solche Beschlüsse gelten, die auch dokumentiert sind. Da haben Sie also das Richtige gemeint und doch das Falsche geschrieben. Warum Ihnen dieses Missgeschick passierte, können Sie nur selbst verstehen; denn Dr. Schmidt-Räntsch hat Ihnen in seiner Stellungnahme einen Formulierungsvorschlag geschenkt. Den hätten Sie nur abzuschreiben brauchen. Ich erinnere zum Abschluss daran, dass das ursprüngliche WEG im Jahre 1951 als echter Fraktionsentwurf in die Beratungen gelangte und man viel Abgeordnetenverstand auf die Ausgestaltung des Wohnungseigentums und dessen soziale Funktion verwandte. Das war seinerzeit ein zeitgemäßer und sehr moderner Entwurf. Auch der aktuelle Entwurf ist zeitgemäß. Denn es entspricht leider den heutigen Gepflogenheiten der parlamentarischen Mehrheit, Entwürfe der Ministerien ohne eigenen Gestaltungsanspruch gedankenlos durchzuwinken, selbst wenn der größte Unsinn dabei herauskommt. Ist das aber auch modern? Ich sagte es schon: Es ist sehr viel Zeit vergangen seit 1951. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe schon in meiner Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes darauf hingewiesen: Der deutsche Wohnimmobilienmarkt steht in den nächsten Jahren vor sehr großen Herausforderungen. Zwar scheint zumindest die Frage der Einbeziehung von Wohnimmobilien in REITs - übrigens auch in meinem Sinne - gelöst zu sein; aber trotzdem gibt es eine ganze Menge Druck auf die Kommunen und ihre Wohnungsbaugesellschaften. Die Begehrlichkeiten der Kämmerer auf eine schnelle Mark durch die Veräußerungen ihrer Bestände sind groß. Wenn wir Verkäufe an Investoren vermeiden wollen, dann müssen wir darüber diskutieren, ob und wie wir im Rahmen von Privatisierungen von Mietwohnungen eine gangbare Alternative sehen. Zudem fordern viele die Einbeziehung der Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge. Die große Koalition hat dies auch in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Dann müssen wir uns konsequenterweise auch mit den Problemen beschäftigen, die Wohnungseigentümergemeinschaften und ihre rund 15 Millionen Wohnungseigentümer seit vielen Jahren bewegen. Unsere Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, begrüßt diese Gesetzesänderung. Wir hatten sie schon in der letzten Legislaturperiode gefordert und unterstützt. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde auch noch unter der rotgrünen Koalition am 25. Mai 2005 im Kabinett beschlossen. Für uns ist es wichtig, für bestimmte Fälle das Einstimmigkeitsprinzip durch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss abzulösen. Das Einstimmigkeitsprinzip ermöglichte bisher einzelnen Miteigentümern die Blockade von sinnvollen Modernisierungsmaßnahmen und führte letztlich zu Ersatzvereinbarungen, den so genannten Zitterbeschlüssen, die nach der Rechtsprechung des BGH auch ohne gerichtliche Anfechtung von Anfang an unwirksam waren. In dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Quorum für bestimmte Fälle auf drei Viertel der Eigentümerstimmen abgesenkt. Das ist zwar immer noch eine hohe, aber nicht unüberwindliche Hürde. Sie erschwert auf jeden Fall Blockaden, sie erleichtert die Willensfindung und sie stärkt die Handlungsfähigkeit von Wohnungseigentümergemeinschaften. Auch die getroffenen Regelungen zur Teilrechtsfähigkeit und zur Insolvenzfähigkeit finden unsere Zustimmung. Wir hätten gerne noch einige Änderungen - aus unserer Sicht Verbesserungen - an dem Gesetzentwurf vorgenommen, die wir auch in unserem Änderungsantrag aufgeführt haben. Zum Beispiel hätten wir es für dringend geboten gehalten, eine gesetzliche Verpflichtung zur Errichtung einer angemessenen Instandhaltungsrücklage in das Gesetz aufzunehmen. Gerade die mangelnde Höhe der Instandhaltungsrücklagen führt in vielen Fällen zu Streitigkeiten und kann gelegentlich sogar zu Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, ja sogar zu Insolvenzen und Zwangsversteigerungsverfahren führen. Unser Vorschlag, sich an § 28 der II. Berechnungsverordnung zu orientieren, war sehr praktikabel und hätte hier eine deutliche Klarstellung ermöglicht. Schade, dass Sie da unserem Vorschlag nicht gefolgt sind. Es ist positiv - Herr Geis hat es eben auch angemerkt -, dass eine Formulierung aufgenommen wurde, die unbillige Belastungen von wirtschaftlich schwächeren Wohneigentümern abwenden soll. ({0}) Die interne Diskussion in unserer Fraktion über die Frage „FGG oder ZPO?“ hat uns letztlich doch zu dem Entschluss kommen lassen, dass wir die Freiwillige Gerichtsbarkeit einer Regelung in der ZPO vorziehen; denn wir sehen durchaus mit Sorge, dass durch die vorgeschlagene Regelung in der Zivilprozessordnung Verfahren aufgrund von Kapazitätsengpässen bei den Gerichten in die Länge gezogen werden. Ich glaube, das ist nicht im Sinne des Erfinders und dieser Gesetzesinitiative. Unsere Fraktion wird dem Gesetzentwurf dennoch zustimmen, auch wenn Sie - was zu erwarten sein dürfte unseren klugen Änderungsanträgen nicht zustimmen werden; denn wir halten den überwiegenden Teil des Gesetzes für gelungen und im Sinne der Wohneigentümer für eine deutliche Verbesserung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier heute abschließend über den Entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes. So sehr sich das WEG in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt hat, so hat sich im Laufe der Zeit doch ein zunehmender Bedarf nach praktikableren Regeln gezeigt. Insbesondere die bereits angesprochene Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Juni 2005, mit der der BGH zum ersten Mal klargestellt hat, dass die Wohnungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums selbst rechtsfähig ist, hat uns veranlasst, dies auch so ins Gesetz zu schreiben. Frau Kollegin Bluhm, es ist natürlich ärgerlich, wenn man ins kalte Wasser geworfen wird, ohne vorher bei den Debatten, insbesondere den Anhörungen, dabei gewesen zu sein. ({0}) Trotzdem, es ist schon ein bisschen traurig, wenn man dann im Grunde genommen nur das abliest, was einem vorgefertigt wird, und sich keine eigenen Gedanken macht; ({1}) denn das, was Sie gesagt haben, war in den wesentlichen Punkten falsch. Wenn nämlich verlangt wird, dies nicht gesetzlich zu verankern, Frau Kollegin Bluhm, dann bedeutet das nichts anderes - das habe ich schon beim Kollegen Nešković nicht so richtig verstanden -, als dass man die Rechtsprechung des BGH ignoriert. ({2}) Dies wiederum hätte die Konsequenz, dass auch die aus der Entscheidung des BGH weiter resultierenden Folgen nicht vom Gesetz hätten aufgegriffen werden können. Das neue WEG wäre damit im Grunde genommen schon vom ersten Tag seiner Gültigkeit an veraltet und die Gerichte würden vermutlich aufgrund der dann herrschenden unsicheren Rechtslage von Verfahren überschwemmt werden. ({3}) Insbesondere waren in diesem Zusammenhang auch die Rechte und Pflichten sowie das Verwaltungsvermögen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ebenso wie die Stellung ihres Verwalters völlig neu zu definieren. Ich meine, dass das in diesem Gesetzentwurf gut gelöst wurde. Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir zumindest in einem Bereich die Stringenz verlassen haben, und zwar in dem Punkt der Insolvenzfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft; denn eigentlich beinhaltet Rechtsfähigkeit auch Insolvenzfähigkeit. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies hätte einfach keinen Sinn gemacht; denn das Insolvenzrecht passt hier einfach nicht. Das gilt insbesondere für das Ende eines Insolvenzverfahrens; denn eine Wohnungseigentümergemeinschaft kann zum Beispiel nicht aufgelöst werden. Problematisch wären aber auch die Regelungen hinsichtlich des Anfangs eines Insolvenzverfahrens gewesen. Eigentlich hätte man nämlich den Verwalter verpflichten müssen, den Insolvenzeröffnungsantrag zu stellen. Der Zeitpunkt hierfür ist bei einer Wohnungseigentümergemeinschaft aber relativ unklar. Die Bundesregierung hatte laut ihrer Gegenäußerung vor, den Verwalter deswegen von dieser Pflicht zu entbinden. Im Gesamtkontext wäre das aber nicht schlüssig gewesen. Aus all diesen Gründen ist es deshalb meiner Auffassung nach richtig gewesen, von einer Insolvenzfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft Abstand zu nehmen. Ich persönlich halte es im Grundsatz für richtig und dringend notwendig, dass in Teilbereichen eine Beschlusskompetenz und damit das Mehrheitsprinzip statt der bisher erforderlichen Einstimmigkeit für Entscheidungen der Wohnungseigentümergemeinschaft eingeführt werden soll. Denn, Frau Kollegin Bluhm, das bislang geltende Einstimmigkeitsprinzip hat in der Praxis sehr häufig wichtige, gebotene Entscheidungen zulasten der anderen verhindert und Wohnungseigentum damit unattraktiv gemacht. Der Einzelne ist im Übrigen - das ist eine Kritik an Ihnen, Frau Bluhm - dadurch aber nicht rechtlos gestellt. Es wurde nämlich ein Korrektiv eingebaut, und zwar dergestalt, dass die einzelnen Mehrheitsentscheidungen für den Einzelnen nicht unbillig erscheinen dürfen. Ich meine, das ist ausreichend. Die Einführung einer aktuellen Beschlusssammlung zu einer umfassenden Information potenzieller Erwerber wird weiterhelfen, weil diese sich über die von der Gemeinschaft gefassten Beschlüsse informieren können. Begrüßt wird von mir auch, dass wir eine kürzere Frist für die Berufung des Erstverwalters eingeführt haben. Aufgrund der Entscheidung des BGH halte ich es für folgerichtig, die Wohnungseigentümer nun nicht mehr für die Verbindlichkeiten der Gemeinschaft gesamtschuldnerisch haften zu lassen. Zwar soll auch weiterhin die Möglichkeit bestehen, nicht nur gegen die Gemeinschaft, sondern auch unmittelbar gegen den einzelnen Wohnungseigentümer vorzugehen. Dessen Haftung soll sich aber nunmehr - ich glaube, das ist ziemlich vernünftig - auf seinen Anteil am Gemeinschaftseigentum beschränken. Ich erachte es für gut, dass wir eine Verlagerung der Verfahren vom FGG zur ZPO vornehmen. Abgesehen davon, dass bereits bisher Grundsätze der ZPO im Wohnungseigentumsverfahren gegolten haben, bietet die ZPO meiner Ansicht nach die effizientere und stringentere Verfahrensführung. Kollegin Bluhm, da ich Richter bin, kann ich sagen: Da Gerichte stets auf Ausgleich bedacht sind, erwarte ich kein Nachlassen bei der Suche nach einvernehmlichen Lösungen. Dem Interesse des Einzelnen, sein Recht zu suchen - auch das ist von Ihnen im Zusammenhang mit dem Kostenrisiko kritisiert worden; ZPO-Verfahren sind tatsächlich in der Regel etwas teurer als FGG-Verfahren -, wird aber durch die Beschränkung von Streitwert und Kostenerstattung Rechnung getragen. Diese Veränderung ist an Ihnen offensichtlich vorbeigegangen. Ich komme zum Schluss. Ich bin mir natürlich durchaus bewusst, dass wir in absehbarer Zeit vermutlich noch einige Justierungen am WEG vornehmen werden; der Kollege Geis hat das angesprochen. Nun aber alles auf die lange Bank zu schieben und die weitere Rechtsprechung abzuwarten, halte ich aber wie die große Mehrzahl der Sachverständigen nicht für richtig. ({4}) Ich finde, dass uns ein guter Vorschlag zur Änderung des WEG vorliegt. Ich bitte Sie hierfür um Ihre Zustimmung. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Wohneigentumsgesetzes und anderer Gesetze, Drucksache 16/887. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3843, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern - Drucksachen 16/3019, 16/3835 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Dr. Karl Addicks Thilo Hoppe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Fraktion.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in der Adventszeit, in der Weihnachtszeit. Wenn wir durch die Straßen Berlins gehen, dann sehen wir viele Menschen, deren größte Sorge derzeit ist, wie sie noch schnell Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder und ihre anderen Liebsten kaufen können. Es ist etwas Schönes und Gutes, andere Menschen zu beschenken. Weihnachten ist ein schöner Brauch. Aber wir sollten bei alldem nicht aus den Augen verlieren, dass jeden Tag 30 000 Menschen, vor allem Kinder, an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Jeder Einzelne von ihnen hätte das Recht, zu leben. Diejenigen, die nicht verhungern, hätten das Recht, einen solchen Tag mit Geschenken, Wärme, Liebe und einem satten Bauch begehen zu können. Deswegen finden wir die Zielsetzung des Antrags der Grünen mit dem Titel „Den Hunger in den Entwicklungsländern wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ gut. Wir alle sind uns, glaube ich, parteiübergreifend über die Millenniumsentwicklungsziele, zu denen auch die Halbierung der Zahl der Hungernden gehört - wir wol7324 len den Hunger schnellstmöglich ganz beseitigen - einig. ({0}) Dreiviertel der Ärmsten leben auf dem Land. Deswegen hat ein Antrag, der sich auf den ländlichen Raum bezieht, große Bedeutung. Aber trotzdem ist es so, dass der Antrag der Grünen neben der guten Zielrichtung ein Verständnis von ländlicher Entwicklung hat, das unserer Auffassung nach zu eng gefasst ist. Denn wir in der SPD-Bundestagsfraktion, aber auch unser Ministerium verstehen mehr darunter, als nur Traktoren zu kaufen und technische Hilfe für die Landwirtschaft anzubieten. Wir haben einen umfassenderen Ansatz, der deutlich macht, dass wir Entwicklungszusammenarbeit und die Entwicklung ländlicher Räume in Entwicklungsländern unter anderem als globale Strukturpolitik verstehen. Denn was nützt der Kauf von Traktoren, wenn der Landwirt seine Ware nicht verkaufen kann? Der Grund dafür, warum viele Geberländer sich mit ihren Investitionen zurückgezogen haben, liegt eher darin, dass es sich oft nicht lohnt, in Regionen zu investieren, in denen die Bauern ihre Produkte nicht mehr auf den Märkten verkaufen können, weil sie mit agrarsubventionierten Dumpingprodukten der Industrieländer konkurrieren müssen. Deswegen richten wir den Fokus auf die globale Handelspolitik. Wir sind der Auffassung, dass im Antrag der Grünen zu wenig darauf eingegangen wird. Die Punkte zum Ökolandbau im Antrag der Grünen haben sicherlich ihre Berechtigung. Auch wir wollen, dass Landwirtschaft nachhaltig betrieben wird. Sie muss nachhaltig und standortgerecht betrieben werden. Es ist der falsche Weg, eine Nischenproduktion in Entwicklungsländern besonders fördern zu wollen. Denn hier geht es erst einmal darum, Menschen mit Nahrung zu versorgen. Dabei kann es auch notwendig sein, die Menschen mithilfe von konventioneller Agrarwirtschaft - so wie wir es tun - zu versorgen. Der Antrag der Grünen fordert uns auf, den Entwicklungsländern keinerlei Hilfestellungen im Bereich der Gentechnologie zu geben, zum Beispiel wie sie verantwortungsvoll damit umgehen können, sodass sich Saatgut nicht unkontrolliert verbreitet und Menschen in Entwicklungsländern nicht abhängig von Saatgut werden, das von den Agrarmultis und den Chemiemultis der Industrieländer angeboten wird. Ich glaube, es ist wichtig, dass mit der Gentechnologie in Entwicklungsländern verantwortlich umgegangen wird und wir den Entwicklungsländern Hilfestellung geben und uns nicht zurückziehen, wie es der Antrag der Grünen fordert. Man muss den Willen der Länder respektieren, auch wenn wir in Deutschland dieses Thema anders handhaben. Jeder kann seine eigene Meinung dazu haben. Aber man muss respektieren, was die Entwicklungsländer wollen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass gute Regierungsführung in den Entwicklungsländern wichtig ist. Wir unterstützen in einem Umfang von 350 Millionen Euro in 30 Ländern Programme zur ländlichen Entwicklung. Diese und andere Programme beinhalten allerdings auch die Förderung der Menschenrechte, von demokratischen Strukturen und von Rechtssicherheit, die Transparenz staatlichen Handelns, die Korruptionsbekämpfung, die Durchführung von marktwirtschaftlichen Reformen und von Landreformen sowie die Bildungs- und Gesundheitspolitik. Da ich gerade über gute Regierungsführung spreche, möchte ich betonen: Ich denke, es ist richtig, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit bei diesem Thema einen Schwerpunkt setzt. Denn es gibt viele Länder, die über einen ländlichen Raum verfügen. Allerdings leben in diesem ländlichen Raum häufig Arme und Hungernde. Diese Länder wären durchaus in der Lage, diese Menschen zu ernähren und ihnen ein gutes Einkommen bzw. Auskommen zu ermöglichen. Aus besonderem Anlass möchte ich ein Land hervorheben, von dem ich glaube, dass es durchaus wohlhabend sein könnte, nämlich Kuba. Kuba ist eine Karibikinsel, die nahe an den USA liegt. Die dortigen klimatischen Verhältnisse sind für die landwirtschaftliche Produktion gut. Eigentlich könnte diese Insel blühen und gedeihen und alle Menschen könnten in Wohlstand leben. Aber Kubas Regierung nimmt ihre Bevölkerung in Geiselhaft und will von Demokratie und Menschenrechten nichts wissen. An dieser Stelle muss ich auf etwas hinweisen, das mich sehr empört hat: Eine Delegation des Deutschen Bundestages, die Deutsch-Mittelamerikanische Parlamentariergruppe, wollte aus Solidarität mit der kubanischen Bevölkerung nach Kuba reisen, um einen Beitrag zu Verständigung, Dialog und Demokratisierung zu leisten und den Menschen eine Perspektive zu geben. ({1}) Weil wir bei dieser Gelegenheit auch mit Oppositionellen reden wollten, hat die kubanische Regierung der Delegation des Deutschen Bundestags den Stuhl vor die Tür gesetzt. Das darf sich dieses Haus nicht gefallen lassen. ({2}) Gute Regierungsführung ist eine Aufgabe, der sich die Entwicklungsländer selbst stellen müssen. Nur dann, wenn sie das tun, können wir auch im ländlichen Raum den Hunger überwinden. Als Industrienation müssen wir auch unsere eigenen Hausaufgaben machen. Wie ich bereits vorhin sagte, geht es dabei auch um die globalen Rahmenbedingungen im Handelsbereich. In dieser Woche jährt sich das Scheitern der WTO-Konferenz in Hongkong. Damals ging es bei der festgefahrenen Doha-Entwicklungsrunde darum - das steht nach wie vor im Mittelpunkt -, den Entwicklungsländern für ihre Produkte, auch für ihre Agrarprodukte, einen fairen Marktzugang zu ermöglichen. Wir dürfen nicht weiterhin mit enormen Subventionen Exportdumping betreiben, sodass die Bauern ihre Waren nicht verkaufen können, weil zum Beispiel tiefgefroreDr. Sascha Raabe nes Geflügelfleisch aus der EU in afrikanischen Regalen liegt. Man kann die Hühnerfarm eines Bauern noch so sehr unterstützen, auch mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Aber wenn man diese Situation nicht ändert, hat er davon nichts. Das Europaparlament hat heute den Haushalt für das Jahr 2007 beschlossen. Den größten Haushaltsposten - er beträgt fast 50 Prozent; das entspricht knapp 55 Milliarden Euro - bilden die Subventionen für die Landwirtschaft. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich in der Debatte, die wir heute Morgen geführt haben, nicht nur unsere Entwicklungsministerin, sondern auch die Bundeskanzlerin für gerechte Handelsbedingungen stark gemacht hat. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat die enormen Agrarsubventionen der EU und der USA vehement kritisiert. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Länder des Südens keine fairen Handelsbedingungen vorfinden, und betont, dass er das ändern will. Ich denke, hier hat er Recht. ({3}) - Ja. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das müssen auch wir unterstützen. Ich glaube, wir müssen auch bei den Verhandlungen im Rahmen der Economic Partnership Agreements, also der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den afrikanischen und karibischen Staaten, einfordern, dass den Entwicklungsländern wirklich faire Handelschancen eingeräumt werden. Letztlich hilft die ländliche Entwicklung nicht nur den Menschen in den Entwicklungsländern. Wie die Verleihung des Friedensnobelpreises am Sonntag letzter Woche an Herrn Yunus gezeigt hat, besteht auch ein sehr starker Zusammenhang zwischen Frieden und Entwicklung. Das eine bedingt das andere. Meiner Meinung nach gibt es aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen Entwicklung und Frieden, sondern auch einen Zusammenhang zwischen Entwicklung und Freiheit. Daher möchte ich mit einem Zitat von Willy Brandt schließen. Er hat gesagt: Satte Menschen sind nicht notwendigerweise frei, hungernde Menschen sind es in jedem Fall nicht. Lassen Sie uns in diesem Sinne für die Freiheit kämpfen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Addicks von der FDP-Fraktion.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir alle das Ziel verfolgen, den Hunger wirksam zu bekämpfen und die ländliche Entwicklung zu fördern, hätten wir wirklich einen interfraktionellen Antrag formulieren können. Leider haben wir heute nicht über die Überschrift abzustimmen - wenn es so wäre, könnten Sie unserer Zustimmung sicher sein. Es ist vieles richtig, was die Grünen in ihrem Antrag schreiben und fordern. Doch leider ist es nicht so viel, dass wir einfach so zustimmen könnten; ich habe das gestern im Ausschuss begründet und ich will gleich noch ein bisschen dazu sagen. Es ist richtig: Es ist ein Riesenskandal, dass es auf diesem Planeten immer noch Menschen gibt, die hungern müssen, dass Kinder wegen Nahrungsmangels krank werden und sterben. Dieser Nahrungsmangel besteht nicht nur in qualitativer Hinsicht, er besteht ebenso in quantitativer Hinsicht. Nach den Berichten der Weltgesundheitsorganisation haben 852 Millionen Menschen auf diesem Planeten nicht genügend Nahrung und diese Zahl steigt sogar noch - und das, obwohl die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit weltweit erhöht werden. Offensichtlich geht die Gleichung „Mehr Geld gleich mehr Hilfe gleich weniger Hunger“ nicht auf. Gibt es etwas, was wir in der Entwicklungszusammenarbeit nicht richtig machen? Was können wir besser machen? Diese Fragen müssen immer wieder gestellt werden. Damit komme ich zu den Punkten im Antrag der Grünen, die absolut nicht unsere Zustimmung finden können. Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine der größten Herausforderungen; da sind wir völlig einer Meinung. Doch die Frage lautet: Warum hungern die Menschen ausgerechnet in den ländlichen Gebieten, woher die Nahrung doch kommt? Hat das vielleicht etwas mit der Verteilung des Agrarlandes zu tun? Ja, sicher. Aber das ist es nicht allein; es sind auch Krieg, Krankheit und Korruption. Kollege Raabe hat gerade schon viele andere Gründe genannt; ich will das nicht noch einmal aufzählen. Jedenfalls gibt es dafür viele Ursachen. Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmittelprogramme allenfalls punktuell. Natürlich helfen wir in akuten Notlagen, etwa bei Hungerkrisen. Aber auf die Dauer nutzen nur Maßnahmen, die die Entwicklungsländer auf den Weg von Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft und Pluralismus bringen. So lassen sich die Ursachen des Hungers bekämpfen. Das sind die Maßnahmen, die wir in erster Linie fördern und fordern müssen. ({0}) Es ist nicht so, dass wir das nicht schon täten. Aber wir können diese Maßnahmen besser bündeln, besser synchronisieren und effizienter gestalten. Wir sind da an einigen Punkten anderer Auffassung als die Grünen, übrigens gemeinsam mit der Bundesregierung. Wer Afrika kennt, der weiß, dass dieses Land - zumindest in den tropischen und subtropischen Zonen - auch 2 Milliarden Menschen ernähren könnte. Gehen Sie hin und stecken Sie eine Banane in die Erde - stecken Sie irgendetwas in die Erde! -, und Sie werden ohne viel Dazutun in kürzester Zeit die Ernte einfahren. Allerdings fruchten diese Maßnahmen nur, wenn sie ineinander greifen, wenn sie miteinander verzahnt sind sonst bleibt alles Stückwerk. Deshalb sollten wir in der EZ nicht den großen Wurf versuchen, sondern den Ländern ganz kontinuierlich bei der Entwicklung helfen, sprich: den Beginn der Wertschöpfungsketten stärken. Da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die ländliche Entwicklung und die Landwirtschaft zu fördern, sehr richtig. Aber das ist es nicht allein. Wichtig sind auch Kleinhandel, Handwerk, Kleingewerbe und viele andere kleine Dinge. Wir haben bei unseren Besuchen in Namibia und in anderen afrikanischen Ländern gesehen, wie es funktioniert, Leute zum Beispiel mit Mikrokrediten in die Selbstständigkeit zu bringen, wie Arbeitsplätze geschaffen werden und Menschen dadurch letztlich von Hilfe unabhängig gemacht werden. Das ist die beste Entwicklungszusammenarbeit, das ist die Entwicklungszusammenarbeit aus einem Guss, die wir brauchen. ({1}) - Auch eine Form der Landwirtschaft; es gibt viele Formen. ({2}) Aber ich will darauf jetzt nicht näher eingehen. Haben Sie schon einmal längere Zeit in Afrika gelebt, Herr Trittin? ({3}) Ich war jahrelang da, ich weiß genau, wovon ich rede. Kommen Sie mir bitte nicht mit solch trivialen Zwischenrufen! ({4}) Die Forderung der Grünen, mit westlichem Bürokratismus die Dinge zu regulieren, mit Labels und Standards, das passt überhaupt nicht; so etwas können wir irgendwann später einführen. Das brauchen die Entwicklungsländer jetzt nicht. ({5}) Sie brauchen eine Liberalisierung, einen Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen; Herr Raabe hat das gerade schon gesagt. ({6}) - Herr Trittin, also bitte! - Nur so erreicht man die Wertschöpfung in den Entwicklungsländern, die - ({7}) - Herr Präsident, jetzt müssen Sie aber langsam unterbrechen. ({8}) Verabschieden Sie sich bitte von den Dogmen, auch vom Dogma der Ablehnung der Grünen Gentechnik. Das ist nicht das Teufelszeug, als das Sie es immer brandmarken. Die Grüne Gentechnik bringt auch sehr segensreiche Dinge mit sich - das haben übrigens auch Leute von Greenpeace erkannt -, sie eröffnet durchaus Chancen und beinhaltet nicht nur hypothetische Risiken. Herr Hoppe, auch Düngemittel können für die Landwirtschaft in der Dritten Welt eine sehr große Bedeutung haben. Man sollte das nicht einfach ablehnen. Die Pflanzen brauchen nun einmal bestimmte Mineralien; fehlende Mineralien begrenzen ihr Wachstum. Lassen Sie die Dogmen hinter sich! Dann kommen wir zu gemeinsamen zustimmungsfähigen Anträgen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In vielen Ländern rund um den Globus ist die Bekämpfung des Hungers die wichtigste Voraussetzung für eine positive Entwicklung. Letztendlich wollen wir alle eine positive Entwicklung erreichen; darum müssen wir kämpfen. Wir haben die Zahl schon gehört: 850 Millionen Hungernde. Das ist natürlich viel zu viel. Diese Zahl muss sinken. Wir haben auch von dem Millenniumsziel gehört: Bis 2015 wollen wir die Zahl der Hungernden halbieren. Das ist ein hochgestecktes Ziel; aber wir müssen es erreichen. Dabei stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass auf der einen Seite in Ländern wie Ghana, Mosambik und Brasilien erfreulicherweise beachtliche Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers erzielt werden konnten, während auf der anderen Seite die Situation in ganzen Regionen unverändert dramatisch ist. Wir müssen zunächst nach den Ursachen fragen und diese analysieren. Bei der Sicherung der Ernährung sind drei Elemente von entscheidender Bedeutung: Erstens: eine ausreichende Produktion guter Nahrungsmittel. Sie kann durch Veränderungen in vielen Bereichen erreicht werden. Zweitens: der Zugang zu Nahrung. Damit meine ich auch die fehlende Kaufkraft in vielen Ländern. Drittens: die Verwertung der Nahrungsmittel. Daraus wird ersichtlich, dass in den einzelnen Entwicklungsländern je nach Problemlage unterschiedliche Handlungsfelder gewählt werden müssen. Wenn man sich beispielsweise Afrika anschaut, stellt man fest, dass im Unterschied zu anderen Regionen die Erträge pro Kopf der Bevölkerung in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen sind. Hier muss man mehr in die landwirtschaftliche Produktion investieren. ({0}) So können wir etwas erreichen. In anderen Ländern, beispielsweise in Lateinamerika, haben wir ein Problem mit der Kaufkraft. Dort müssen wir der Bevölkerung eine ganz andere Form der Hilfe zukommen lassen. Sozialprogramme wie „Fome Zero“ in Brasilien sind dabei sicherlich ein guter Ansatzpunkt. Oftmals scheitert eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln am fehlenden Zugang von Bauern zu Land und an mangelhaft durchgeführten Landreformen. Eine umverteilende Landreform allein ist in den meisten Fällen aber nicht ausreichend, um eine nachhaltige ländliche Entwicklung zu erreichen. Auch hier müssen wir individuelle Lösungen finden. Die Implementierung von Agrarreformen führt nicht nur zu einer Umverteilung von Land, sondern auch dazu, dass Bauern und Landlose in die Lage versetzt werden, nachhaltig zu produzieren. Sie müssen am Markt und damit am Wettbewerb teilhaben können. Natürlich müssen sie entsprechende Ressourcen wie auch Kapital zur Verfügung haben. Hierbei sind Aus- und Fortbildung mit Sicherheit ganz wichtige Punkte; beides müssen wir weiterhin fördern. Die Bundesregierung - das muss man anerkennen unterstützt Agrar- und Bodenreformen, indem sie im politischen Dialog mit den Regierungen der Partnerländer hierfür eintritt. Hierbei spielen die finanzielle Förderung des Aufkaufs von Land im Zuge von Landreformen, das Angebot zur Beratung bei Landverfassungsreformen, die Hilfe bei Fragen sozialverträglicher Landverteilung, aber auch der Zugang von Frauen zu Ressourcen neben vielen anderen Dingen eine wichtige Rolle. In dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ wird kritisiert, dass sich die internationale Agrarforschung zu sehr auf die Gebiete konzentriert, die ertragsstark sind bzw. bewässert werden können. Ich kann das so nicht sehen und ich meine, die Kritik ist nicht angebracht, weil dadurch auch wichtige Impulse und Beiträge geliefert werden, um gerade dieses Problem bewältigen zu können. ({1}) Auch durch die in dem Antrag geforderte Ausrichtung auf die ökologische Landwirtschaft allein - das haben wir eben schon gehört - kann nicht entscheidend zur Linderung des Hungers beigetragen werden. Hier müssen wir ebenfalls alle Möglichkeiten ausschöpfen, die sinnvoll sind und uns weiterhelfen. Meine Damen und Herren, wir müssen uns von ideologischen Präferenzen lösen ({2}) und nach vernünftigen, standortgerechten und nachhaltigen Lösungen suchen, sie finden und dann auch umsetzen. ({3}) Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir den Entwicklungsländern - sozusagen unseren Partnerländern - nicht vorschreiben können und wollen, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Wir können nur gemeinsam und auf gleicher Augenhöhe mit ihnen vernünftige Lösungen finden, Programme entwickeln und die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen vor Ort mit einbauen. Nur dadurch werden wir eine sinnvolle Arbeit leisten können. Es ist auch schon angeklungen, dass die Partnerländer selbst natürlich ebenfalls in der Verantwortung sind. Ich bin froh darüber - Sie von den Grünen verweisen in Ihrem Antrag ja auch darauf -, dass es die freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung gibt. Sie sind ein großer und wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Hungers. Die jeweiligen nationalen Regierungen werden durch sie in die Pflicht genommen, dafür Sorge zu tragen, dass die Bevölkerung einen ausreichenden Zugang zu Nahrung hat. Von dieser Verantwortung werden wir die Regierungen auch nicht entbinden. Unsere Entwicklungszusammenarbeit kann nur subsidiär sein. Daran müssen wir entsprechend arbeiten und das müssen wir unterstützen. Wir sollten dabei allerdings auch überlegen, wie wir das bereits angesprochene Instrument der freiwilligen Leitlinien weiterentwickeln können, damit dadurch noch besser zur Bekämpfung des Hungers beigetragen werden kann. Vorstellbar wäre ein effektives Monitoring-Instrument, um die Erfolge und auch Probleme der nationalen Regierungen bei der Bekämpfung des Hungers zu dokumentieren und zu analysieren. Dazu liegt ja bereits eine entsprechende Studie vor, die als Grundlage für die Beratung dienen kann. Darüber hinaus ist die Erweiterung des Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte um die Möglichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens zu diskutieren. Derzeit arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtsrates daran. Vielleicht gelingt es uns ja, die Möglichkeit einer Individualbeschwerde hinsichtlich des Rechts auf Zugang zu Nahrung auf internationaler Ebene vor dem entsprechend zuständigen UN-Ausschuss zu schaffen. ({4}) So könnten die Regierungen besser in die Verantwortung genommen werden, die Verpflichtungen aus den jeweiligen freiwilligen Leitlinien einzuhalten und umzusetzen. Dass wir all dies nicht im Alleingang bewältigen können, liegt auf der Hand. Die Notwendigkeit einer besseren internationalen Absprache und Arbeitsteilung wird von niemandem bestritten. ({5}) Ich befürchte aber, dass die FAO allein mit dieser Aufgabe möglicherweise überfordert ist. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Antrag auch auf andere wichtige internationale Gremien, wie beispielsweise die Global Donor Platform for Rural Development, verwiesen worden wäre. Des Weiteren ist in dem vorgelegten Antrag zu lesen, dass wir die marktverzerrenden Agrarsubventionen senken sollen. Ich glaube, dass wir hier mutiger sein müssen und auch wollen. Daher ist es unser Ziel, die Agrarexportsubventionen nicht nur zu senken, sondern langfristig ganz abzuschaffen. ({6}) Meine Damen, meine Herren, bei all diesen kritischen Anmerkungen zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, die ich jetzt gemacht habe, möchte ich ausdrücklich festhalten, dass er in vielen wichtigen Teilen richtige Vorschläge enthält und dass wir seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wesentliche Teile auch unterstützen. Trotzdem ist uns der Antrag an vielen Stellen - dies ist bereits kritisiert worden - zu pauschal und zu tendenziös. Aus diesem Grunde müssen wir ihn leider ablehnen. Ich hoffe nur, dass wir bald zu einem gemeinsamen Antrag kommen - das ist ja auch bereits mehrmals angesprochen worden - und dass wir hier einen vernünftigen und guten Antrag verabschieden, mit dem wir alle unsere Ziele verwirklicht sehen. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydin von der Fraktion Die Linke. ({0}) - Kollege Aydin. Entschuldigung. ({1})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

So sieht eine Kollegin aus. - Meine Damen und Herren! Herr Präsident! 1996 gab es das Versprechen der Regierenden, den Hunger auf der Welt bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Die Bilanz ist erschütternd. Nach Angaben der FAO hat sich die Zahl der Hungernden von 840 auf 854 Millionen erhöht. Ein Antrag, der die Hungerbekämpfung ins Zentrum der Politik stellt, findet selbstverständlich unsere Zustimmung. Als zentrale Maßnahme zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung definieren die Antragsteller den Zugang zu produktiven Ressourcen und Einkommensmöglichkeiten. Das ist richtig. Ein Beispiel: Im Sommer 2005 erreichten uns aus Niger Nachrichten über eine dramatische Hungerepidemie. Dürre und Heuschreckenbefall sollen die Ursache gewesen sein. Tatsächlich betrug der Rückgang des Ernteertrages aber nur 10 Prozent. Doch das reichte aus, um die Preise für Getreide hochzutreiben, und das in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung pro Tag nicht mehr als einen Dollar zur Verfügung hat. Eine Katastrophe! Während die Menschen im Niger hungerten, exportierten Nahrungsmittelhändler ihr Getreide ins Nachbarland Nigeria, wo mehr Menschen über das notwendige Geld verfügen. Die Hungerepidemie von 2005 im Niger war Ergebnis einfacher Marktmechanismen. Der Hunger in der dritten Welt ist auch unser Problem. ({0}) Denn wer hungert, hat nichts mehr zu verlieren. Es ist vollkommen verständlich, dass Menschen aus vielen Ländern Afrikas dem Elend entfliehen wollen. Und was macht die EU? Sie stellt Gelder für die Aufrüstung der Grenzpolizei zur Flüchtlingsabwehr zur Verfügung. Die Linke sagt Nein zu dieser Politik. ({1}) Das Übel muss an der Wurzel gepackt werden. Die Menschen müssen einen Arbeitsplatz haben, der die Existenz ihrer Familien sichert. Beschäftigung ist das beste Mittel gegen Armut und Hunger. Dies erfordert in vielen Ländern der Dritten Welt den Wiederaufbau staatlicher Strukturen, die seit den 80er-Jahren unter dem Druck von IWF oder Weltbank systematisch zerstört worden sind. Die Antragsteller verweisen außerdem zu Recht auf das Landproblem. Nach UN-Angaben sind die Hälfte der weltweit Hungernden Kleinbauern und ihre Familien. Ein weiteres Viertel stellen Landlose. Es braucht dringend Landreformen. Nur wenn Großgrundbesitzer zugunsten der Landlosen enteignet werden, kann die extrem ungleiche Verteilung als eine der Hungerursachen beseitigt werden. ({2}) Die Linke sagt: Wir müssen eine Politik der systematischen Armutsbekämpfung in den Ländern der Dritten Welt unterstützen. Armutsbekämpfung heißt für uns die Zurückdrängung ungesicherter Jobs in der Schattenwirtschaft durch die Schaffung staatlich garantierter Arbeitsplätze mit angemessenen Löhnen, ({3}) eine Umverteilung von Land zugunsten der Landlosen und Kleinbauern in den Ländern der Dritten Welt, staatliche Eingriffe in den Markt, zum Beispiel zur Subventionierung von Getreide- und Milchprodukten. ({4}) Dies muss welthandelspolitisch flankiert werden durch die Senkung der Zinslast durch Streichung illegitiHüseyin-Kenan Aydin mer Schulden, die Stärkung von Zollschutzmechanismen für die Landwirtschaft der Entwicklungsländer, um sie vor der ruinösen Konkurrenz durch die großen Nahrungsmittelkonzerne der Industrieländer abzuschirmen. Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, den Hunger zu bekämpfen, müssen Sie diese Vorschläge annehmen. Ihre Argumentation, Sie könnten 80 Prozent des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, aber da 20 Prozent nicht Ihre Zustimmung finde, müssten Sie ihn ablehnen, ist heuchlerisch. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird schwierig, in vier Minuten auf all die Argumente und Unterstellungen einzugehen. Ich möchte am Ende dieser Debatte noch einige Zahlen und klare Fakten allgemeinverständlich darlegen. Es gibt acht Millenniumsziele. Bei sieben Millenniumszielen gibt es - wenn auch bescheidene - Fortschritte. Bei dem wichtigsten Ziel - die Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 - gibt es aber keinerlei Fortschritte, die Kurve verläuft vielmehr in die falsche Richtung - das haben schon einige Redner festgestellt -: Die Zahl der Hungernden steigt. Das müsste doch zu einem Aufschrei und einer kritischen Selbstreflexion führen. Woran liegt das? ({0}) Zur kritischen Reflexion müssten die Regierungen der vom Hunger betroffenen Staaten, aber auch die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit eigentlich einen Sonderkrisengipfel durchführen. Es gibt noch eine zweite Kurve. Das hat heute noch niemand deutlich gesagt. Herr Addicks, Sie haben festgestellt, dass die Mittel für die Entwicklungshilfe und die Zahl der Hungernden zunehmen. Daraus haben Sie geschlossen, dass die Entwicklungshilfe womöglich sogar eine Ursache dafür ist oder zumindest das Problem nicht verbessert. ({1}) Erlauben Sie mir eine genauere Betrachtung. Nach den neuesten Zahlen von UNDP - dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen - ist der Anteil der Entwicklungshilfemittel, die für den ländlichen Raum bzw. den Agrarbereich gedacht sind, von 1990 bis 2005 von 12 Prozent auf etwas mehr als 3 Prozent zurückgegangen. Wir haben in der letzten Wahlperiode und in dieser Wahlperiode im Entwicklungsausschuss zwei Anhörungen durchgeführt. Alle Sachverständigen aus den wissenschaftlichen Instituten haben übereinstimmend festgestellt, dass der Bereich ländliche Entwicklung - speziell der Agrarsektor - sträflich vernachlässigt wird. Das ist doch absolut widersinnig: Die Zahl der Hungernden steigt, aber die Gelder für die Betroffenen werden in diesem Bereich gekürzt. ({2}) Auf diesen Missstand - um nicht zu sagen: Skandal machen wir mit unserem Antrag aufmerksam. Es reicht nicht aus, als Reaktion eine Träne darüber zu vergießen, dass 30 000 Menschen pro Tag verhungern. Ich gebe zu, dass auch ich viele Reden mit Betroffenheitspädagogik oder mit aufrüttelnden Einzelschicksalen begonnen habe, die ich in den Notaufnahmelagern in Niger selber kennen gelernt habe. Das allein reicht aber nicht. Es ist jetzt notwendig, auf den Missstand zu reagieren. Dazu fordern alle kirchlichen Hilfswerke und NGOs wie Brot für die Welt, Misereor oder FIAN mehr Geld und neue Konzepte für die ländliche Entwicklung, und zwar besonders für die Landwirtschaft. ({3}) Ich begreife nicht, dass zwar in den Anhörungen viele Fachpolitiker dieser Forderung zustimmen, dass aber im Etat dieser Bereich nach wie vor in zunehmendem Maße vernachlässigt wird. ({4}) Diesen Skandal prangern wir an. Ich bitte Sie, das endlich anzugehen. Es gab einen Beitrag - und zwar von Herrn Dr. Bauer mit sehr viel Substanz auch zum Thema Recht auf Nahrung. Dafür möchte ich mich bedanken. Damit komme ich zu meinem nächsten Punkt. Was das Recht auf Nahrung angeht, müssen drei Voraussetzungen geschaffen werden. Erstens sind mehr Geld und neue Konzepte für den ländlichen Raum in der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Aber das Gegenteil ist der Fall, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern international. Das muss zu einem Aufschrei führen. Zweitens muss das Recht auf Nahrung einen sehr großen Stellenwert bekommen. Das stößt manchmal an die Grenzen einer überstrapazierten Ownership. Wenn unser Ministerium beispielsweise in Verhandlungen mit der Regierung von Niger darauf hinweist, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt werden muss, um sich nicht zu verzetteln, und der Regierung die Auswahl dieser Bereiche überlässt, darf es einem Land mit extrem vielen Hungertoten nicht möglich sein, dass die Regierung in diesem Fall der ländlichen Entwicklung eine geringere Bedeutung beimisst und sich für andere Sektoren entscheidet. ({5}) In einem Land, in dem Menschen verhungern, dürfen nicht andere Sektoren den ländlichen Bereich verdrängen. Drittens. Wie der Kollege Sascha Raabe zu Recht festgestellt hat, reicht eine Senkung der Agrarexportsubventionen nicht aus. Wir sind gerne bereit, den Antrag in diesem Punkt noch radikaler zu formulieren. Wir fordern die Abschaffung aller marktverzerrenden Agrarsubventionen. Das ist völlig klar. Wir brauchen gerechte Strukturen im Welthandel. Das hat auch Herr Bauer festgestellt. Aber in einem Punkt möchte ich ihm deutlich widersprechen. Es wurde das Bild gemalt, dass mit einem freien Welthandel, mit Handelsliberalisierung und einem verbesserten Marktzugang für die Entwicklungsländer das Problem des Hungers überall gelöst werden kann. Es gibt zwei weitere Kurven, die eigentlich kaum zusammenpassen. Es gibt Länder, die auf dem Papier Wirtschaftswachstum durch die Ausweitung der Plantagenexportwirtschaft haben. Trotzdem steigt dort die Zahl der Hungernden. Warum? Wenn es keine flankierende Sozialpolitik, kein progressiv gestaffeltes Steuersystem und keine Umweltgesetzgebung in den betreffenden Ländern gibt, dann führt eine Ausweitung der Plantagenwirtschaft zur Verdrängung von Kleinbauern, Familienbetrieben und Indigenen. Das kann man in vielen Ländern mit einer starken Weltmarktintegration sehen. Diese kann unter anderen Voraussetzungen sehr segensreich sein. Wir vertreten keine Abschottungstheorie. Wenn es aber keine flankierende Gesetzgebung gibt, dann führt die Weltmarktintegration zu noch mehr Hungernden, als wir heute bereits haben. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoppe, kommen Sie bitte zum Schluss.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf die genannten drei Säulen gehen wir in unserem Antrag ein. Es war in der alten Regierung mit der SPD leichter, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Unser heutiger Antrag ist zu 80 bis 90 Prozent identisch mit alten Anträgen betreffend die Bekämpfung des Hungers. Ich finde es schade, dass wir nun damit alleine stehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoppe, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielleicht wird die Anregung aufgegriffen und wir unternehmen den Versuch eines fraktionsübergreifenden Antrags. Danke sehr. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/3835 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhard Grindel, Wolfgang Börnsen ({1}), Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Monika Griefahn, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Schaffung eines kohärenten europäischen Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikationspolitik in Europa machen - zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto ({2}), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für einen zukunftsfähigen europäischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste - den Beratungsprozess der EUFernsehrichtlinie aktiv begleiten - zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste - Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977, 16/3791 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Christoph Waitz Dr. Lukrezia Jochimsen ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({4}), Christoph Waitz, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Moratorium für PC-Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages - zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN PC-Gebühren-Moratorium verlängern - Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hans-Joachim Otto ({5}) Dr. Lukrezia Jochimsen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. Ich bitte die Kollegen, die dieser Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen dem Redner folgen können. ({6}) Bitte schön, Herr Kollege Grindel.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat das Europaparlament in erster Lesung die Neuregelung der EU-Fernsehrichtlinie beschlossen. Heute verabschieden wir einen umfassenden Beschluss des Deutschen Bundestages mit unseren Erwartungen an die Beratungen im EU-Ministerrat. Ich finde, das ist ein richtiges Signal auch an unseren Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Wir wollen als nationales Parlament EU-Richtlinien nicht nur umsetzen, sondern auch Einfluss nehmen und mitgestalten. ({0}) Dabei verkennen wir nicht die Zuständigkeit der Bundesländer. Aber auch uns, dem Bundestag, kann es nicht egal sein, wie sich das Fernsehen in Deutschland weiterentwickelt. Angesichts zunehmend schwieriger werdender politischer Prozesse brauchen wir ein qualitativ gutes Fernsehen als Mittler zu unseren Wählern. Wir brauchen das Fernsehen als ein Medium für den öffentlichen Diskurs. Es geht beim Fernsehen um ein Programmangebot zur Information, Bildung und Unterhaltung. Fernsehen ist für uns sowohl Kultur- als auch Wirtschaftsgut. ({1}) - Richtig, in dieser Reihenfolge, lieber Kollege Tauss. Das verbindet uns in der großen Koalition. Ich sage es einmal zugespitzt: Ziel des Fernsehens kann es nicht sein, dass alle Zuschauer zu einer Infoelite werden. Sie dürfen aber auch nicht in einem Unterhaltungsprekariat versinken - um es einmal so zu formulieren. ({2}) Demzufolge müssen wir mit der Umsetzung der EUFernsehrichtlinie beide Säulen unseres dualen Rundfunksystems stärken. Die große Koalition will so viel Flexibilisierung wie möglich und so viel Regulierung wie nötig. Beispiel Werbezeiten: So wie in unserem fraktionsübergreifenden Antrag grundsätzlich gefordert, hat nun das Europäische Parlament eine Ausweitung der Werbeunterbrechungen auf alle 30 Minuten beschlossen. Gleichzeitig werden Einzelspots bei Sportsendungen zugelassen. Das ist ein sachgerechter Kompromiss. Dabei weise ich darauf hin, dass sich die europäischen Liberalen, lieber Herr Kollege Otto, gerade gegen die Aufhebung des Blockwerbegebots ausgesprochen haben. Das sage ich nur für den Fall, dass die FDP im Bundestag auf dieses Thema näher eingehen sollte. Zur Produktplatzierung wird unser Kollege Krummacher einiges sagen. Anders als von der EU-Kommission gewollt, beschränkt das EU-Parlament die Produktplatzierung auf Fernsehfilme und Serien. Das ist gut. Gut ist vor allem, dass Dokumentationen, Ratgebersendungen und Kinderprogramme von Produktplatzierung frei bleiben sollen ({3}) und dass es hier alle 20 Minuten zu einem Warnsignal kommen soll, um die Zuschauer aufzuklären und zu informieren. Das geht in die richtige Richtung. Trotzdem, Herr Staatsminister, haben Sie im Ministerrat unsere Unterstützung, wenn es darum geht, ganz auf Produktplatzierungen zu verzichten und damit auf eine klare Trennung von Werbung und Programm hinzuwirken. ({4}) Im Europaparlament haben die Versuche, das Fernsehen in Zukunft als reines elektronisches Wirtschaftsgut einzuordnen, keine Mehrheit gefunden, weil Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt nicht allein durch das Wirtschaftsrecht geändert werden können. Das Bekenntnis zu den zwei starken Säulen des dualen Rundfunksystems erfordert aber auch, dem - ich sage es zugespitzt - Populismus zum Thema PC-Gebühren entgegenzutreten. ({5}) Das ist ja das zweite Thema dieser Debatte; deswegen auch einige Anmerkungen dazu. Es geht mitnichten darum, für zusätzliche Gebühren oder für eine Belastung der Wirtschaft in dreistelliger Millionenhöhe zu sorgen. Es geht darum, dass nach dem Rundfunkrecht in Deutschland für jedes Gerät, mit dem man Rundfunk empfangen kann, eine Gebühr zu entrichten ist. Mit einem internetfähigen PC kann man Radio empfangen, und rund 15 Prozent der Hörer machen das auch schon, vor allem jüngere Leute. Nun ist aber nicht zu bestreiten - das ist der entscheidende Punkt -, dass selbstverständlich die PCs nicht zum Radiohören angeschafft wurden. Aber das hat die Rundfunkkommission der Länder auch gesehen. Entscheidend ist deshalb - das ist seitens manches Wirtschaftsvertreters verschwiegen worden -, dass für die neuartigen Geräte gerade im gewerblichen Bereich eine umfassende Zweitgerätefreiheit gilt, wie wir sie für normale Radios und Fernseher aus dem privaten Bereich kennen. Wenn also irgendwo - das muss man verdeutlichen - in der Werkstatt, im Auto des Betriebsleiters oder im Ladengeschäft bereits ein Radio existiert, dann braucht sich niemand über eine Gebühr für den PC Gedanken zu machen, vorausgesetzt natürlich, dass das Gerät angemeldet ist. Das bedeutet auch, wenn im gewerblichen Bereich mehrere Radios angemeldet waren, dann können diese jetzt getrost abgeschafft und dann kann Hörfunk über PCs gehört werden, und zwar für nur noch eine Gebühr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Grindel, verstehe ich Sie richtig, Sie halten die PC-Gebühr trotz aller Proteste für richtig und widersprechen damit Ihrem in dieser Sache sehr viel weiteren Kulturstaatsminister und dem Bundeswirtschaftsminister, der sich kritisch mit dieser Gebühr beschäftigt hat? ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Entscheidende bei der Diskussion, lieber Kollege Otto - ich will Ihnen das erklären -, war die Frage, ob es angesichts der öffentlichen Debatte und des Umstands, dass es hier um Gebühreneinnahmen von etwa 5 Millionen Euro geht - das ist ja keine große Summe -, ({0}) notwendig war, mehr oder weniger aus strategischen Gründen jetzt diese Entscheidung in der Ministerpräsidentenkonferenz zu fällen. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Mit einem Stimmenverhältnis von 15 : 1 hat man sich in der Ministerpräsidentenkonferenz für die Linie, die mit dem Rundfunkstaatsvertrag eingeschlagen worden ist, entschieden. ({1}) Ich halte das für richtig und habe die Anmerkungen des Staatsministers auch nicht dem Grunde nach verstanden, sondern mehr formell, ob es notwendig ist, zu diesem Zeitpunkt diese Entscheidung zu treffen oder dafür zu sorgen, mehr über die wahren Sachverhalte aufzuklären, dass es um keine zusätzliche Gebühr geht, sondern um die Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags und einer Regelung, die klar macht: Wenn man mit einem Gerät Radio oder später einmal Fernsehen empfangen kann und kein anderes Gerät angemeldet hat, dann muss man eine Gebühr dafür zahlen. Um nicht mehr und nicht weniger ging es. Da sind der Kulturstaatsminister und unsere Fraktion völlig einer Meinung. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Grindel, der Herr Kollege Börnsen möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie auch diese?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, aber mit Bedenken. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Grindel, trifft es nicht zu, dass die Frage um die Fernseh- und Rundfunkgebühr einen bestimmten Prozesscharakter gehabt hat, nämlich dass erst am 24. Oktober 2006 die Ministerpräsidenten eine Entscheidung gefällt haben, die dazu geführt hat, dass man in der Zweitgerätebesteuerung einen ganz neuen Weg beschritten hat und am Ende der Diskussion der Wirtschaftssenator von Hamburg, Gunnar Uldall, gesagt hat: Diese Zweitgerätelösung ist ein Vorteil für alle Beteiligten, besonders für Mittelstand, Handwerk und Gewerbe?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Börnsen, überraschenderweise kann ich Ihnen das bestätigen. ({0}) Ich will auf einen Punkt hinweisen, weil das, was Sie gesagt haben, völlig richtig ist und meines Erachtens auch den vielen besorgten Unternehmern im Land gesagt werden muss. Um das noch einmal ganz klar zu machen: Wer herkömmliche Fernseher und Radios in größerer Zahl hatte, musste jedes einzelne Gerät anmelden und dafür eine Gebühr zahlen. Das wird jetzt anders sein. Wegen der Regelung über die Zweitgerätefreiheit wird es so sein, dass man für ein Gerät zahlt und alle anderen Geräte von der Gebühr befreit sind. ({1}) Was der Kollege Uldall meint, ist, dass dann, wenn man zehn oder 15 Radios oder Fernsehgeräte in seinem Betrieb hat - in manchen Betrieben werden das noch mehr sein -, man all diese Geräte getrost abschaffen und dann über Internet jetzt schon Radio und, wenn es in Zukunft technisch möglich ist, Fernsehen empfangen kann. ({2}) Insofern wird es in diesem Bereich eine gewisse Entlastung für die Wirtschaft geben. Da haben der Kollege Uldall und auch Sie völlig Recht. ({3}) Wir sollten jetzt die Empfehlung der Rundfunkkommission der Länder abwarten. Deshalb werden wir den Anträgen, die es dazu gegeben hat, nicht zustimmen. ({4}) Ich will aber eines deutlich sagen. Wir sollten den jetzt eingeschlagenen Weg noch präzisieren und zu der Lösung kommen: GEZ-Gebühr plus umfassende Zweitgerätebefreiung. Denn die manchmal sehr schneidig vorgetragenen Alternativen haben ihre Probleme. Denken Sie an die personenbezogene Medienabgabe, die von Ihnen, Herr Kollege Otto, empfohlen wird. Die ist verfassungs- und abgabenrechtlich ausgesprochen problematisch und die Familien zahlen die Zeche. Auch das ist wahr. ({5}) Eine haushaltsbezogene Abgabe ist in einer mobilen Gesellschaft schwer zu kontrollieren. Eine Rundfunksteuer verstößt gegen das Gebot der Staatsferne. Eines wird völlig übersehen. Das sage ich mit Hinweis auf die Diskussion, die wir gerade in diesen Tagen über ARD und ZDF und die EU-Wettbewerbshüter haben. Jede Alternative zur herkömmlichen Rundfunkgebühr würde EU-rechtlich zu erheblichen Problemen führen. Die Rundfunkgebühr gibt es seit 1953. Das war vor unserem EG-Beitritt. Sie ist eine Altbeihilfe. Würden wir jetzt etwas ändern, würde es sich bei einer neuen Abgabe um eine Neubeihilfe handeln. Jede Gebührenerhöhung müsste in Brüssel notifiziert werden. Da kann ich angesichts der Debatten, die wir in diesen Tagen haben, Neugierige nur warnen. Eine Regelung auf der Basis einer großzügigen Zweitgerätefreiheit - das ist mein persönlicher Vorschlag - wäre dagegen europafest und relativ einfach zu machen. Dabei könnten - das will ich betonen - Ungerechtigkeiten im Bereich des Hotelgewerbes oder bei Filialbetrieben angepackt werden. Schlussgedanke: Ich habe ein Bekenntnis zum dualen System und zur Qualität auch und besonders des öffentlich-rechtlichen Fernsehens abgelegt. Gerade die ARD kann man aber auch von dieser Stelle aus - das möchte ich tun - bitten, es den Unterstützern des öffentlichrechtlich Systems nicht schwerer zu machen, als es ohnehin manchmal schon ist. Wenn man auf Unterscheidbarkeit gegenüber den Privaten Wert legt und wenn man der These der Konvergenz der öffentlich-rechtlichen und der privaten Sender immer widerspricht, dann - das sage ich ganz offen - passen Verträge wie die mit Jan Ullrich und auch mit Günther Jauch nicht in die Medienlandschaft. ({6}) Wir können auf die Qualität unseres dualen Rundfunksystems in Deutschland stolz sein und wir sollten für Rahmenbedingungen sorgen, damit das so bleibt. Mit ihrem Antrag zur EU-Fernsehrechtlinie leistet die große Koalition, so glaube ich, einen überzeugenden Beitrag. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von der FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der gestrigen Entscheidung zur Fernsehrichtlinie im Europaparlament wird die Produktplatzierung aus der Schmuddelecke der Schleichwerbung herausgeholt. Eine geregelte Produktplatzierung ist für den Verbraucher transparent und beseitigt Zweifel, wie Filmproduktionen zusätzlich finanziert werden können. Der anrüchige Umweg über Produktbeistellung kann künftig erspart bleiben. Außerdem ist in der letzten Minute erreicht worden, dass der Abstand für Werbeunterbrechungen auf 30 Minuten gesenkt werden konnte, wie es im ursprünglichen Berichtsentwurf vorgesehen war. ({0}) Die im Kulturausschuss des Europaparlamentes gewünschte 45-Minuten-Regelung war zum Glück nicht durchsetzbar. ({1}) Dieser Ansatz wäre ein fatales Signal ({2}) an die Wirtschaft und die Rundfunkanbieter gewesen. Anstatt die Werberegelungen zeitgemäß zu liberalisieren, hätte die Richtlinie zu einer Verschärfung der Werbeabstandsregelungen geführt und die wirtschaftliche Situation der Rundfunkveranstalter unnötig verschlechtert. Insgesamt müssen wir allerdings feststellen, dass die jetzt im Europäischen Parlament verabschiedete Fernsehrichtlinie leider ein ziemliches Flickwerk geworden ist. Das Parlament in Straßburg hat die Chance vertan, die Regelung der Werbezeit noch weiter zu liberalisieren und den Gegebenheiten eines veränderten Werbemarktes anzupassen. ({3}) Die Bundesregierung muss jetzt die Ratpräsidentschaft nutzen, um hier noch Änderungen zu erreichen. ({4}) Denn starre Werberegelungen im audiovisuellen Bereich benachteiligen die Rundfunkanbieter gegenüber den übrigen Medien, die im Wettbewerb um Werbekunden stehen. Ganz zwangläufig wird sich die Werbewirtschaft immer stärker anderen Medien zuwenden. Damit wird die finanzielle Basis der Rundfunkanbieter geschwächt und die Qualität werbefinanzierter Programminhalte gefährdet. Heute stehen zusätzlich drei Anträge zur Rundfunkgebühr für internetfähige Computer auf der Tagesordnung. Neben der absurden Rundfunkgebührenpflicht für Universitäten ist die Computerrundfunkgebühr das deutlichste Anzeichen dafür, dass die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf eine neue Grundlage gestellt werden muss. Wir Liberale treten für einen Paradigmenwechsel bei der Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks ein. ({5}) Die personenbezogene Medienabgabe ist das Modell, das wir seit langem favorisieren. Herr Grindel, natürlich kann man da über vieles diskutieren. Aber wir können nicht, wie es in der Vergangenheit der Fall war, dieses Problem ausblenden und so tun, als ob nichts wäre. Wir müssen uns schon um die Dinge kümmern. Das war im Zusammenhang mit dem Moratorium über internetfähige PCs eigentlich auch angedacht. Das war der Grund für das Moratorium; das wissen Sie. Deswegen finde ich es nicht in Ordnung, was Sie hier von sich geben. Wir dürfen bei der Diskussion um die Rundfunkgebühren jedoch nicht Halt machen. Wir müssen im Interesse qualitativ hochwertiger Angebote im Fernsehen und Hörfunk die eigentlichen Probleme anpacken. Dazu müssen wir neu bestimmen, wie der Rundfunkbegriff in einer digitalisierten Medienwelt bestimmt und die Ausgestaltung des Grundversorgungsauftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geregelt werden kann. In einschlägigen Aufsätzen ist von einer „Revolution in der Medienwelt“ die Rede. Selbst wenn der Begriff „Revolution“ zu drastisch sein mag, so glauben wir doch, dass sich das System des deutschen Rundfunks an einem Scheideweg befindet, an einer Stelle, die uns zwingt, Stellung zu der Frage zu beziehen, wie der Rundfunk in Deutschland zukünftig ausgestaltet werden soll. Welche Aufgaben soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk zukünftig tatsächlich noch wahrnehmen? Eines ist dabei ganz klar: Wenn es das Ziel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein sollte - da bin ich völlig bei Ihnen, Herr Grindel -, im Kampf um Quoten die Privaten zu überflügeln, dann wäre das das Ende der Existenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. ({6}) Einschaltquoten dürfen nicht die Messlatte für die Programmgestaltung sein. Dabei werden wir uns auch mit der Frage auseinander setzen müssen, ob die Qualitätskontrolle bei ARD und ZDF von den internen Gremien überhaupt geleistet werden kann oder ob wir nicht ein System der externen Bewertung der Qualität der Programme benötigen und auf Basis dieser Bewertung zu einer Verteilung der Gebührengelder kommen sollten. ({7}) Wir Liberale meinen, Grundversorgung in der neuen Medienwelt muss nicht bedeuten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sämtliche Aufgaben erfüllen, sämtliche Geschmacksrichtungen abdecken und auf sämtlichen Verbreitungswegen präsent sein muss. ({8}) - Herr Tauss, Sie kommen auch noch dran. - Wir denken, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk insbesondere unter Verzicht auf Werbeeinnahmen und den damit notwendig verbundenen Blick auf werberelevante Zielgruppen darauf konzentrieren sollte, ({9}) eine erhebliche Qualitätsverbesserung des Programms zu erzielen. Meine Damen und Herren, lieber Herr Grindel, die Überlegungen sollten noch weiter gehen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass wichtige kulturelle Inhalte und Bildungsangebote aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in so genannte Spartenkanäle abwandern ({10}) und nur noch mit zusätzlichem Kostenaufwand für den Zuschauer zu beziehen sind. ({11}) Es sollte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht selbstverständlich sein, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Formaten das Niveau eines Boulevardjournalismus gepflegt wird. Damit wird der Unterhaltungsauftrag, für den auch ein Qualitätsmaßstab gilt, in miserabler und verantwortungsloser Weise erfüllt. Damit sage ich nichts gegen Sendungen wie „Wetten, dass …“ am Samstagabend. Aber es wäre an der Zeit, dass sich die Verantwortlichen in den Sendeanstalten und Rundfunkräten einer Aufgabenkritik sowie einer externen und staatsfernen Qualitätskontrolle ihrer Sendungen stellen würden. Ich lade Sie und auch die Medienpolitiker in den Ländern ein, mit uns über diese Fragen zu diskutieren. Es wird dafür höchste Zeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es immer wieder erschreckend - das muss ich ganz ehrlich sagen -, wie viel Unverständnis nicht nur auf europäischer Ebene, sondern selbst bei uns in Deutschland herrscht, wenn es um die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht. ({0}) Dabei wird sein Wert spätestens dann deutlich, wenn wir uns andere Länder wie Italien, Polen und Russland anschauen, in denen es keine oder nur eine stark eingeschränkte Unabhängigkeit des Rundfunks gibt. Aus den Gründen unserer eigenen Geschichte wurde der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach dem Krieg in Deutschland zu einem Garanten für unabhängigen Journalismus gemacht. Damit ist er zu einem Grundpfeiler unserer demokratischen Ordnung geworden, den wir schützen müssen - auch vor übermäßigen Liberalisierungsbestrebungen in Europa. Mit unserem heute vorliegenden Antrag unterstützen wir grundsätzlich den gestern vorgelegten Vorschlag der EU-Kommission für eine Neufassung der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“. Ich will hier nur einige Punkte herausgreifen; Herr Grindel hat schon viele andere erwähnt. Wir begrüßen, dass die Kommission plattformunabhängige Regelungen formuliert hat und das mit einer Unterscheidung von linearen und nicht linearen Mediendiensten verknüpft. Es sollen eben Inhalte und nicht die Übertragungswege im Vordergrund stehen. Wir unterstützen ebenso das geplante europaweite Gegendarstellungsrecht und die Harmonisierung der Jugendschutzvorschriften, allerdings ohne dass die Standards gesenkt werden. Darauf werden wir bestehen müssen. ({1}) Ganz grundlegend bleibt uns aber wichtig, dass die Vorschriften zur Werbung möglichst stark formuliert werden. Das bedeutet: Zumindest für den öffentlichrechtlichen Rundfunk wollen wir keine Produkt- und Themenplatzierung. Schleichwerbung muss hier ausgeschlossen werden, damit sich die Programmgestaltung allein an publizistischen Kriterien orientiert und die Programmfreiheit gewährleistet bleibt. Kollege Otto, ich schlage vor, dass Sie sich in den USA einmal drei Stunden vor den Fernseher setzen. Danach werden Sie freiwillig aufhören, Fernsehen zu schauen. Denn die vielen Werbeunterbrechungen sind nicht zu ertragen. ({2}) - Weil Sie davon gesprochen haben, dass Sie mehr Freiheit haben wollen. ({3}) Überhaupt scheint das der Knackpunkt der langen Kontroverse mit der EU-Kommission zu sein. Immer wieder wird die Unabhängigkeit der Sender angegriffen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss eigenständig sein und muss selbst entscheiden, und zwar unabhängig von Wirtschaft und Staat. Dieser Knackpunkt wird an dem laufenden Beihilfeverfahren deutlich. Mit der Art und Weise, wie hier mit unserem Rundfunksystem als zentralem Bestandteil unserer Demokratie umgegangen wird, überschreitet die Kommission meiner Ansicht nach ihre Kompetenz. ({4}) Außerdem halte ich das für einen äußerst schlechten Umgang. Denn es gab über zwei Jahre einen langen Prozess und sehr konstruktive Gespräche zwischen Bundesregierung, den Ländern und der Kommission. Wie ich gehört habe, wurde am Montag nach achteinhalb Stunden Verhandlungen ein Konsens erreicht. Was aber ist nun? Ärgerlicherweise stellt die Kommission am nächsten Tag in der Person von Frau Kroes neue Nachforderungen, was wirklich unerträglich ist. ({5}) Im Kern wird von der Kommission in diesem Fall beispielsweise die unabhängige digitale Weiterentwicklung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisiert. Das heißt, alle bestehenden und zukünftigen digitalen Angebote sollen genehmigungspflichtig werden. Das können wir doch nicht zulassen. ({6}) Wenn die Kommission in diesem Punkt mit ihrer Forderung durchkäme, hätten wir faktisch einen Staatsrundfunk. Das ist genau das, was wir eben nicht wollen. ({7}) Zudem ist es nicht nur eine Frage nach dem, was wir wollen; wir dürfen es auch gar nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 45 Jahren in seinen Urteilen immer wieder deutlich gemacht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Grundversorgungsauftrag hat und für diesen Programmautonomie genießt. Es ist spätestens seit dem Rundfunkurteil aus dem Jahr 1991 klar, dass dieses auch für die Übertragungswege gilt. Wir brauchen die neuen digitalen Übertragungswege, wenn wir junge Leute ansprechen wollen. Ansonsten gibt es für die ältere Generation das analoge Fernsehen und für die jungen Leute gibt es die privaten Sender. So kann es nicht sein. ({8}) Ich bin der Meinung, im Notfall müssen wir für die Verteidigung der Rundfunkautonomie, und zwar auch für die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bis zum Europäischen Gerichtshof gehen. ({9}) Dass unsere Ministerpräsidenten beim Abschluss des letzten Rundfunkstaatsvertrags einerseits die autonome Entscheidung der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, der KEF, unterlaufen haben und andererseits festlegten, dass für den Bereich des Internets maximal 0,75 Prozent des Etats ausgegeben werden dürfen, ist natürlich ein Problem. Damit spielen sie der Kommission in die Hand. Ich denke, wir müssen von den Ministerpräsidenten eine eindeutig übereinstimmende Position verlangen. Einzelne Ministerpräsidenten dürfen nicht ausscheren. Dies wäre ein Problem im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit gegenüber der EU-Kommission. ({10}) Ich stimme Herrn Grindel unbedingt zu, wenn er sagt: Wir dürfen bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht Konvergenz in Bezug auf die private Konkurrenz und die Quote anstreben. Darin stimme ich mit ihm vollkommen überein. Wir alle müssen bei den Programmräten und den Ministerpräsidenten anmahnen, dass Programmautonomie und Programmvielfalt das sind, was den öffentlichrechtlichen Rundfunk auszeichnet. ({11}) Wir müssen die bestehende Vielfalt erhalten - das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht -, zum Beispiel in Form des Rechts auf Kurzberichterstattung. ({12}) Es ist uns wichtig, dass im öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiterhin über alle Ereignisse, an denen ein öffentliches Interesse besteht, berichtet werden kann. Wir wollen keine Einschränkungen. Ich glaube, das ist etwas, wofür wir gemeinsam streiten sollten. Dies ist schon in unserem Antrag formuliert worden. Wie gesagt, die Rundfunkanstalten müssen sich selber in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich auf ihren Auftrag besinnen. Da denke ich an einen weiteren Bereich, den wir hier vor fast exakt zwei Jahren besprochen haben. Am 17. Dezember 2004 haben wir nämlich im Bundestag beschlossen, dass im Rahmen der Veröffentlichung von populärer Musik im Rundfunk Fördermaßnahmen für deutsche Produkte, ({13}) also für deutsche Sänger und deutsche Produktionen, vorgesehen werden. Auch das haben die öffentlichrechtlichen Sender zugesagt. Aktuelle Zahlen zeigen aber, dass die ersten Anstrengungen nicht von langer Dauer waren und sich strukturell nichts geändert hat. Da müssen die Öffentlich-Rechtlichen nachlegen, wenn sie zeigen wollen, dass sie Wert darauf legen, von uns vehement verteidigt zu werden. Denn das ist für uns in Deutschland auch ein Wirtschaftsfaktor. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Lothar Bisky von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Koalitionsantrag zur EU-Fernsehrichtlinie tragen wir Linken aus inhaltlichen Gründen weitgehend mit. Maßgeblich für unsere Zustimmung ist, dass Sie bei aller Notwendigkeit, die neuen Entwicklungen im Medienbereich auf EU-Ebene zu revidieren, anerkennen, dass die Mitgliedstaaten weiterhin ihren Rundfunk in den für sie zentralen Bereichen selbstbestimmt regulieren können. Das ist uns ausgesprochen wichtig. Lassen Sie mich das anhand von zwei Punkten erläutern. Erstens. Die Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbeziehungen. Sie dereguliert Werbebeschränkungen und definiert Bedingungen der kommerziellen Kommunikation, also auch der Werbung, für die Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischen Binnenmarkt. In einem dürften wir uns alle einig sein: Den Anbietern geht es primär ums Geldverdienen und um Rendite und zuvörderst nicht um den Jugendschutz, nicht um Verbraucherrechte, ({0}) nicht um ein vielfältiges kulturelles Programmangebot und schon gar nicht darum, die Autonomie journalistisch-redaktioneller Arbeit abzusichern. ({1}) Das aber sind für uns als Linke Kernpunkte einer guten Medienpolitik. Deshalb gehören insbesondere der Jugend- und Verbraucherschutz, aber auch das Gebot der Trennung von Werbung und Programm in den Verantwortungsbereich der Politik. Diese sollten nicht nach dem Herkunftslandprinzip bewertet werden, sondern nach den jeweils nationalen Schutzbestimmungen der Mitgliedstaaten. Das Herkunftslandprinzip wird nämlich in den Ansiedlungsbemühungen um Medienunternehmen schnell zu einem medienrechtlichen Unterbietungswettbewerb führen. Den lehnen wir eindeutig ab. ({2}) Die Verbraucherzentrale und andere Interessenverbände - darunter übrigens auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken - befürchten zu Recht, dass Jugend- und Verbraucherschutz in Europa mit der Fernsehrichtlinie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert würden. Darum unterstützen wir ihre Forderung, die etablierten Qualitätsstandards zu erhalten und das Herkunftslandprinzip aus dem Richtlinienentwurf herauszunehmen. Dazu haben Sie sich leider nicht durchringen können. Zweitens. Wir sind für den Erhalt eines öffentlichrechtlichen Medienangebots. Sicherlich müssen wir uns die zentrale Frage stellen, wie dieses Angebot organisiert und finanziert werden soll, ohne beständig Gegenstand von Beihilfeverfahren der Europäischen Kommission zu sein und ohne sich den Privaten in Inhalt und Form immer mehr anzunähern. Was die Finanzierung betrifft, so sind wir gegen das einfallslose „Weiter so“ der Ministerpräsidenten. Die beschlossene Ausweitung der Gebührenpflicht auf internetfähige PCs und Handys wird daher von uns abgelehnt. Für eine trag- und zukunftsfähige Grundlage ist eine grundsätzliche Revision des Gebührensystems erforderlich. Davon unbestritten bedarf es Regulierungen, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt sind und die unterschiedliche nationale Verfassungen, kulturelle Traditionen und medienpolitische Konzepte nicht missachten. Gleiches gilt für die Deregulierungsbemühungen, die die Bedingungen weiter zugunsten des privaten Rundfunks und der kommerziellen Medienanbieter verschieben. Unsere Auffassung ist: Product Placement soll die Ausnahme sein und nicht zur Regel werden. In bestimmten Programmformaten, in denen es die Zuschauer und Zuschauerinnen erkennen können, wie etwa bei Fernsehfilmen und -serien, sollte es maßvoll erlaubt sein, als Themenplacement allerdings nicht. Themenbeiträge als bezahlte Marketingmaßnahmen lehnen wir prinzipiell ab. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein vielfältiges und kulturelles öffentlich-rechtliches Medienangebot, das durch Werbung angemessen begleitet sein kann. Darüber, wie dies konkret ausgestaltet werden muss, haben wir in diesem Hause unterschiedliche Auffassungen. Darüber, dass wir es erhalten sollten, hoffentlich nicht. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von Ihnen kennen wahrscheinlich die Geschichte von Robinson Crusoe, ({0}) einem Seemann, der einige Jahre auf einer Insel als Schiffbrüchiger verbringt. Vielleicht haben einige von Ihnen aber auch den Film „Cast Away“ mit Tom Hanks in der Hauptrolle gesehen. ({1}) Er spielt darin Robinson Crusoe, allerdings nicht im 18. Jahrhundert, sondern im Heute. Sein Freund Freitag ist in diesem Film kein Mensch, sondern ein Ball. Der Ball hat den Namen Wilson, nicht Freitag. Warum ist das so? Weil der Ball von einer Firma ist, die den Namen Wilson trägt. Ich bin mir sicher, dass einige Menschen diesen Film über alles lieben, vor allem die Vorstände des amerikanischen Paketdienstes Fed-Ex; denn der Film „Cast Away“ hebt vor allem die Pakete dieser Firma hervor. Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich daran erinnert, aber mir ist das sehr eindeutig vor Augen geblieben: Er ernährt sich vom Inhalt dieser Pakete. Dieser Kinofilm macht nur zu deutlich, was auf uns zukommt, wenn wir Produktplatzierungen oder auch Produktionsbeihilfen ganz offiziell zulassen: ({2}) Das Fed-Ex-Logo zog sich durch den ganzen Film. Das kann nicht das sein, was wir uns wünschen. ({3}) Ein anderes lustiges Beispiel ergab sich in einem Fachgespräch zu dem Thema. Da sagte ein Produzent, ein Schauspieler wollte bei einer Nacktszene seine Uhr nicht abnehmen. Er hat sich die ganze Zeit gewundert, warum der Schauspieler seine Uhr nicht abnimmt. ({4}) Dieser Schauspieler hatte - das stellte sich am Ende heraus - einen Werbevertrag mit der Uhrenfirma. Das war in der Sache nicht besonders dramatisch, ({5}) aber man kann sich natürlich andere Beispiele vorstellen, wo das ein bisschen mehr Einfluss auf die Inhalte des Programms nehmen kann. ({6}) Wir Grünen wollen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass auch in Zukunft ein qualitativ hochwertiges und unabhängiges Programm sichergestellt werden kann. Deshalb wollen wir, dass die gezielte Platzierung von Produkten, gleich welcher Art, nicht erlaubt wird. Unserer Meinung nach ist die große Koalition auf halber Strecke stehen geblieben: Sie will zwar Produktplatzierungen verbieten, Produktionsbeihilfen aber nicht. ({7}) Der Film „Cast Away“ zeigt ganz eindeutig, dass auch Produktionsbeihilfen das Bild und die Handlung dominieren können. ({8}) Eine besondere Gefahr sehen wir bei journalistischen Formaten - zumindest hierbei sind wir uns, glaube ich, alle einig -; denn die Unabhängigkeit der Redaktion kann durchaus gefährdet sein. Die unzähligen Schleichwerbeaffären der letzten Monate zeigen, dass Produktplatzierung durchaus attraktiv ist und definitiv Einfluss auf Drehbücher nehmen kann. ({9}) Wir müssen an der klaren Trennung von Werbung und Programm festhalten. Deshalb bedauern wir, dass im EU-Parlament gestern in erster Lesung für die Zulassung von Produktplatzierungen gestimmt wurde. Wir können die Vorteile der Zuschauer durch Produktplatzierungen überhaupt nicht sehen. ({10}) Wir gehen davon aus, dass sich der Werbekuchen insgesamt nicht ausweiten würde, sondern die Stücke des Werbeetats insgesamt nur anders verteilt würden, dass die Verbraucher vom Fernsehen nur noch genervter wären und das Programm inhaltlich nicht besser würde, es zum Beispiel nicht - was wir uns alle wünschen würden - mehr investigativen Journalismus oder mehr bessere Filme geben würde. Wir sehen da keinen direkten Zusammenhang und keine Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({11}) Für uns ist klar - das hat auch der Kollege Grindel schon angesprochen -, dass Medien nicht nur ein Wirtschaftsgut, sondern auch Kulturgut sind. ({12}) - Für uns sind sie sicherlich in erster Linie Kulturgut. Wir akzeptieren aber, dass es sich dabei natürlich auch um ein Wirtschaftsgut handelt. ({13}) Bei der Fernsehrichtlinie gibt es viele Punkte, die wir durchaus positiv finden. Im Zeitalter der Digitalisierung ist es natürlich notwendig, die Fernsehrichtlinie anzupassen. Wir brauchen europaweit einheitliche Regelungen für Fernsehen und Internet. Wir unterstützen das abgestufte Regulierungsverfahren und die Regulierung im Jugendschutzbereich. All das sehen wir sehr positiv. Wir hoffen, dass die Bemühungen des Kollegen Neumann Erfolg haben und es im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft noch zu Veränderungen kommt. Allerdings hat das Hoffen bei der großen Koalition bisher meist sehr wenig genützt. ({14}) Wischiwaschikompromisse werden wir in diesem Bereich nicht unterstützen. Leider habe ich nicht mehr viel Zeit. Deshalb zur PCGebühr nur so viel: Wir, die Grünen, haben hierzu ein eigenes zukunftsfähiges Modell auf den Tisch gelegt, weil wir die Einführung einer PC-Gebühr zum 1. Januar 2007 für nicht zukunftsfähig halten. Wir brauchen endlich eine geräteunabhängige, haushaltsbezogene Mediengebühr. ({15}) Für weitere Details reicht die Zeit hier und heute nicht aus. In die Debatte, die im nächsten Jahr mit den Ländern geführt werden wird, werden wir uns natürlich konstruktiv und kritisch einbringen. Im Parlament werden wir in einigen zentralen Fragen der Medienpolitik, nämlich bei der Vielfaltsicherung, dem Verbraucherschutz und der Qualitätssicherung, zusammenhalten müssen; sonst überrollt uns die EU-Kommission mit Verschlechterungen. Das können wir alle nicht wollen. Deshalb hoffe ich, dass wir zu verschiedenen Punkten Diskussionen führen und zu positiven Lösungen kommen werden. Danke schön. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johann-Henrich Krummacher von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johann Henrich Krummacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bestehende Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ ist gegenwärtig die Grundlage der EU-Politik im audiovisuellen Bereich. Sie stammt aus dem Jahr 1989. Nicht nur die politische, auch die technologisch-mediale Situation war damals eine völlig andere. Auch der Nutzungs- und Verbreitungsgrad dieses Mediums ist gestiegen. In vielen Haushalten läuft der Fernseher im Schnitt drei bis vier Stunden am Tag. Das mag man bewerten, wie man will. Es zeigt aber, dass wir hier über einen gesellschaftlich höchst relevanten Lebensbereich sprechen. ({0}) Durch den bislang erreichten Stand der Diskussion darüber, wie die notwendige Neufassung der Richtlinie Gestalt annehmen könnte, ist - lassen Sie den Stuttgarter Abgeordneten das so sagen - ein viel versprechendes Pflänzle entstanden. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass dies nun in die richtige Richtung wächst. ({1}) Ich darf nochmals unterstreichen: Fernsehen - egal in welcher Form - ist in erster Linie - das haben wir heute gewissermaßen zu einer gemeinsamen Überzeugung gemacht - ein Kulturgut. ({2}) Man kann und muss mit Kulturgütern gut wirtschaften. Aber diese deswegen zu reinen Wirtschaftsgütern umzudeuten oder sie so zu behandeln, wäre im wahrsten Sinne des Wortes kurzsichtig. ({3}) Das zu verstehen ist wichtig, weil sich bereits hier entscheidet, ob das Vorhaben richtig eingefädelt wird. Das hat Folgen für das, was letztlich entscheidend sein wird, nämlich das Kleingedruckte. Zum Wesenskern öffentlicher Leistungserbringung im so genannten Informationszeitalter gehört, auch medial niemanden zurückzulassen. Wie Lesen und Schreiben werden auch Medienkompetenzen immer mehr zur Res publica, zur öffentlichen Angelegenheit: je größer diese Kompetenzen, desto besser für den Menschen selbst und desto besser für unser Gemeinwesen. ({4}) Um es etwas salopp, aber mit durchaus ernstem Kern zu formulieren: Von der „Sendung mit der Maus“ oder der ZDF-Produktion „Löwenzahn“ können auch viele Erwachsene noch etwas lernen, während durch zu viele andere Angebote aus Kindern eher lethargische, nicht unbedingt lernbegierige Erwachsene werden. ({5}) Dies zeigt abermals die Notwendigkeit einer guten Balance zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern. Wenn der freie Informationsfluss sozusagen das Öl im Getriebe unserer Demokratie ist, dann leisten beide - öffentlich-rechtliche wie private Anbieter - einen wichtigen Beitrag. ({6}) Aber durch die Privaten allein ist dieser Fluss nicht hinreichend gewährleistet. ({7}) Das heißt schlicht und einfach: ARD, ZDF und die dritten Programme der ARD-Familie senden auf sehr hohem Niveau, wenn nicht sogar höchstem Niveau. Dafür sind wir dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen dankbar. ({8}) Deshalb gilt glasklar: Das muss auch im Rahmen einer neuen Richtlinie so bleiben. ({9}) Ein weiterer wichtiger Punkt - er wurde bereits angedeutet - ist das Thema Werbung. Es ist nicht überzeugend, Art und Umfang der Werbemöglichkeiten lockern zu wollen, aber den eigentlichen Kern, das heißt die quantitative Werberegulierung, an sich beizubehalten. Noch weniger überzeugend ist es vor diesem Hintergrund, bei einer anderen Art der Werbung die Schleusen zu öffnen, nämlich bei der Produktplatzierung. Einen positiven Weg weisen beispielsweise die Transparenzrichtlinien des Zweiten Deutschen Fernsehens auf, bei denen die Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen wie privaten Kooperationspartnern ein Controllingverfahren durchläuft. ({10}) - Das ist sehr wirksam und wird bereits jedes Jahr abgefragt, dem Fernsehrat vorgetragen und von dort kontrolliert. Der Vorschlag der Kommission hingegen würde eine generelle Öffnung für Produktplatzierung ermöglichen. Dass für bestimmte Sendungen wie Nachrichten oder Kinderprogramme Ausnahmen gelten sollen, kann den Wirkungsradius dieser fast schon als perfide zu bezeichnenden Form der Werbung nicht seriös eingrenzen. Darum sind Produktplatzierungen schlicht und ergreifend abzulehnen. Sonst müsste es nach jeder Sendung heißen: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Drehbuchautor oder Produzenten. ({11}) Gute Zeichen gibt es hingegen beim Jugendmedienschutz. Die Ausdehnung des Jugendmedienschutzes auf nicht lineare, das heißt individuell abrufbare Dienste, ist ebenso richtig wie wichtig. Jugendschutz hat viele Facetten. Eine solche Ausweitung des medialen Jugendschutzes ist ein wichtiger Teil des Ganzen. ({12}) Es macht wenig Sinn, Verrohungen und Orientierungslosigkeit bis hin zur Gefahr gewaltverherrlichender Computerspiele zu beklagen und dann diese mediale Flanke zu öffnen. ({13}) Nochmals: Wir begrüßen die Ausweitung des medialen Jugendschutzes auf die nicht linearen Medien. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt gibt es mit Blick auf den bisherigen Diskussionsstand sowohl Licht als auch Schatten. Um dazu beizutragen, dass das Licht mehr wird und die Schatten weniger werden, sollte die Debatte über audiovisuelle Dienste zu einem Schwerpunkt der deutschen Medien- und Kommunikationspolitik auf europäischer Ebene werden. Sowohl die Landesregierungen als auch Kulturstaatsminister Neumann tragen dazu auf erfreuliche Weise bei. Wenn dies dazu führt, dass ein kohärenter europäischer Rechtsrahmen geschaffen wird, dann ist das gut: für die Medienlandschaft, für die Medienkultur und für den Medienstandort, und zwar in Europa und in Deutschland gleichermaßen. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Krummacher, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion. ({1})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist nicht wahr, Kollege Otto. Ich wurde heute sogar schon gefragt, warum ich so still bin. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend wurden schon einige wichtige Punkte der vorliegenden Anträge angesprochen. Kollege Grindel hat auf die aktuellen Entwicklungen im Beihilfeverfahren hingewiesen. Ich denke, es lohnt sich in der Tat, am Ende dieser Debatte noch auf einzelne Aspekte einzugehen und die eine oder andere Aussage aufzugreifen, die in dieser Diskussion gemacht worden ist. Lieber Kollege Waitz, mit Ihnen möchte ich beginnen. Sie haben gesagt, Sie wollen nicht, dass sich öffentlich-rechtliche Sender jedes Verbreitungsweges bedienen können. Über diese Position kann man diskutieren. Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation ehrlicher sein. Denn wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das, was Sie eigentlich meinen, etwas anderes ist. Ihre Auffassung in dieser Frage entspricht übrigens nicht der Politik der Liberalen im Europaparlament, ({0}) die an dieser Stelle vernünftiger als die Liberalen in diesem Hause ({1}) und vernünftiger als die eine oder andere Landesregierung sind, wie das Abstimmungsverhalten im Bundesrat gezeigt hat. Wenn Sie wollen, dass sich öffentlich-rechtliche Sender nicht jedes Verbreitungsweges bedienen können, müssten wir im Wege der Konvergenz dafür sorgen, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk des Verbreitungsweges Internet, des Rückgrats der Informationsgesellschaft, nicht mehr bedienen kann. ({2}) Man kann zu dieser Auffassung kommen. Ich allerdings bin anderer Meinung - die Kollegin Griefahn hat in diesem Zusammenhang einige Argumente angeführt -; ({3}) denn genau diese Entwicklung würde auf eine Austrocknung durch Nichtweiterentwicklung hinauslaufen. ({4}) Wir waren uns bereits in der Enquete-Kommission, die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998 eingesetzt worden ist, darüber einig, dass es auch in Deutschland die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geben muss. Das gehört zur Fairness und zur Grundversorgung. ({5}) Zum zweiten Punkt, Kollege Waitz. Auch ich kenne Sendungen im öffentlich-rechtlichen Bereich, die mir keine große Freude bereiten. Die Zahl der Minuten, die man mit Volksmusik gefoltert wird, nimmt auch im öffentlich-rechtlichen Bereich in erschreckendem Umfang zu. Aber auch dadurch wird versucht, auf das Bedürfnis eines Teils der Bevölkerung einzugehen. Es darf nicht nur „Intellektuellenfernsehen“ geben, sondern es müssen auch solche Angebote gemacht werden, von denen ein Teil der Bevölkerung sagt: Dabei kann ich mich entspannen. Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Form gerechtfertigt wäre, diese Menschen zu bevormunden. Wem eine Sendung nicht gefällt, der kann auf ein anderes Programm, zum Beispiel auf Arte - übrigens auch ein öffentlich-rechtlicher Sender - umschalten. ({6}) Sie haben den Rückgang der Zahl solcher Sendungen beklagt, die sich mit Themen aus dem Bereich Wissenschaft und Bildung beschäftigen. Ja, auch ich beklage, dass es den einen oder anderen Programmbeitrag, der früher gesendet wurde, nicht mehr gibt. Das gilt vor allem für den Rundfunk. ({7}) Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in diesem Bereich mehr tun können; das ist völlig klar. Was Sendungen mit wissenschaftlichem Hintergrund betrifft, erinnere ich mich an eine Sendung von Ranga Yogeshwar, der damals in einer Nische des Dritten Programms begonnen hat. Man hat gesagt: Das hat kaum eine Chance. - Es wurde ein Renner im WDR, ist in die Primetime gehoben worden. Dem Yogeshwar gehört ein Bundesverdienstkreuz verliehen: zum einen für seine Verdienste um Wissenschaft und Forschung und Bildung in diesem Land und zum anderen für den Beweis dafür, dass die Leute gar nicht so platte Sendungen sehen wollen, wie es der eine oder andere öffentlich-rechtliche Intendant gelegentlich seinem Publikum unterstellt. Das sind erfolgreiche Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ich finde das gut. Sie haben die Grundversorgung angesprochen. Darüber muss man immer wieder reden, völlig klar. Die Grundversorgung ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt Gebühren erheben können - so das Bundesverfassungsgericht. Deswegen muss man sich sicherlich Gedanken machen, wie die Grundversorgung in einer Zeit, in der sich Entwicklungen gesellschaftlicher Art ergeben, möglicherweise neu zu definieren ist. Ich hätte überhaupt kein Problem damit, eine solche Debatte zu führen, auch mit den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften. Nur, eines ist auch klar - das ist Ihr Denkfehler, Kollege Waitz -: Die Privaten haben deutlich erklärt, dass sie eine Grundversorgung nicht anbieten wollen und aus wirtschaftlichen Gründen auch nicht anbieten können. Ich sage dies nicht als Vorwurf, nur als Feststellung. Die Privaten haben für sich einen anderen Auftrag definiert, und zu diesem gehört nicht die Sicherstellung der Grundversorgung. Wenn aber der private, kommerzielle, werbefinanzierte Bereich die Grundversorgung nicht leisten kann, dann brauchen wir zur Sicherung der Qualität von Hörfunk und Fernsehen in Deutschland parallel zu den Privaten einen gebührenfinanzierten Grundversorgungsauftrag. ({8}) Zur Richtlinie, zur Trennung in lineare und nicht lineare Dienste, ist das eine oder andere gesagt worden. Ich will hier noch einmal unterstreichen, dass ich es für sehr wichtig halte, dass unabhängig von Verbreitungsweg, unabhängig davon, wie das Programm abgerufen wird - sei es programmorientiert oder individuell -, Mindeststandards im Jugendschutz, im Verbraucherschutz und im Hinblick auf das Respektieren der Menschenwürde eingehalten werden. Das ist ein wichtiges Signal dieser Richtlinie; das sollten wir bei aller sonstigen Kritik würdigen. ({9}) Ein Problem bleibt zweifellos die Schleichwerbung, bleibt das Productplacement. Kollegin Bettin, ich habe hier ein paar Ausführungen dazu gemacht. Aber Ihr „nackter Schauspieler“ ist für mich nicht mehr zu toppen. ({10}) Deshalb will ich an dieser Stelle noch etwas anderes zur Werbung sagen. Ich würde raten, über die Kritik an den 45 Minuten, die von Werbung nicht unterbrochen werden sollen, noch einmal nachzudenken. Auch ein Film ist ein Kulturgut; darüber sind wir uns doch im Kulturausschuss einig, selbst mit der FDP. Aber wenn ein Film ein Kulturgut ist, muss man einen Film ohne ständige Unterbrechungen sehen können. ({11}) Ich finde, schon eine Unterbrechung alle 45 Minuten ist Zumutung genug. Aber alle 30 Minuten, das ist problematisch. Das Kurzberichterstattungsrecht ist gewährleistet. Ich habe mich an dieser Stelle übrigens sehr gewundert über die eine oder andere Einlassung von großen Sportverbänden in Deutschland, die sich dagegen gewandt haben, die erklärt haben: Das wollen wir nicht. - Ich glaube, der Fußball tut sich keinen Gefallen damit. Der Fußball lebt davon, dass freie Information über Fußballspiele möglich ist. Ich bin froh, dass die Richtlinie entgegen dem, was der DFB will, an dieser Stelle ebenfalls klare Signale aussendet. ({12}) Zu den PC-Gebühren. ({13}) Wie gesagt, die Forderung nach der Abschaffung der Gebühren, die demnächst auf PCs erhoben werden, ist schon ein bisschen populistisch. Liebe Kollegin Bettin, ich habe heute Abend gelesen, der Kollege Berninger geht zu Mars. So weit dazu. ({14}) Außerdem stimmt nicht, was in eurem Antrag steht: dass die Selbstständigen und die Hochschulen belastet werden. Denn Hochschulen, die schon bisher Gebühren zahlen, sind überhaupt nicht betroffen. Betroffen ist die eine oder andere Hochschule, wo in der Vergangenheit schwarzgesehen worden ist. Nur, die zu unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann unser Anliegen auch nicht sein; das wäre unfair gegenüber denen, die Gebühren gezahlt haben. Insofern gibt es kein riesengroßes Problem. ({15}) Es heißt, die Wirtschaft, die Selbstständigen würden besonders belastet. Dazu sage ich: Nein. Der Kollege Grindel hat darauf hingewiesen, aber man muss es noch einmal deutlich sagen: Es ist nicht die Wirtschaft, die hier mehr bezahlen muss. Sie zahlt, weil PCs anders behandelt werden als Fernsehgeräte, die in Firmen - übrigens auch in Büros des Deutschen Bundestages 7342 aufgestellt worden sind, im Grunde genommen weniger als zuvor. ({16}) Der Präsident weist mich auf das Ende meiner Redezeit hin. Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir haben, bei aller Kritik, das beste Rundfunk- und Fernsehprogramm der Welt, und zwar weil es gebührenfinanziert ist. Kollege Waitz, Kollege Otto, ich würde Sie gerne gelegentlich zu 24 Stunden amerikanischem Fernsehen verurteilen. Ich glaube, dann kommen Sie zu einer anderen Position als der, die Sie heute Abend vorgetragen haben. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3791. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3297 mit dem Titel „Die Schaffung eines kohärenten europäischen Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikations- politik in Europa machen“ in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Frak- tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an- genommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2675 mit dem Titel „Für einen zukunftsfähigen euro- päischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste - den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2977 mit dem Titel „Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3792. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der FDP auf Drucksache 16/2970 mit dem Titel „Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetan- schluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlich-recht- lichen Rundfunks grundlegend reformieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 16/3002 mit dem Titel „Moratorium für PC- Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkge- bührenstaatsvertrages“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/2793 mit dem Titel „PC-Gebühren-Moratorium verlängern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthal- tung der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen - Drucksache 16/3344 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- debeiträge von Lena Strothmann, CDU/CSU-Fraktion, Christian Lange, SPD-Fraktion, Birgit Homburger, FDP- Fraktion, Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke, und Matthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3344 an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzan- fechtung - Drucksache 16/886 - 1) Anlage 4 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 16/3844 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen wer- den. Es handelt sich um die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion, Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, FDP-Fraktion, Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, und Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, sowie des Par- lamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Pfän- dungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung, Drucksache 16/886. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/3844, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3865? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3864? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera- tung mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 7 auf: 1) Anlage 5 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassensektor - Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeichnungsschutz - Parlamentswillen respektieren - Drucksache 16/3797 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz ({1}), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert - Drucksache 16/3805 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Axel Troost von der Fraktion Die Linke das Wort. ({2})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Sparkassen-Bezeichnungsstreit gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute lautet: Das Vertragsverletzungsverfahren wurde eingestellt und die privaten Markenrechte der Sparkassen bleiben geschützt. Das ist sicherlich auch ein Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit hier. Die schlechte Nachricht lautet aber: ({0}) Was die Bundesregierung der EU-Kommission als Preis für diesen Erfolg im Gegenzug zugesagt hat, weiß niemand so richtig. Fakt ist, dass die EU-Kommission in ihrer Presseerklärung zum Kompromiss schreiben kann: § 40 Kreditwesengesetz wird stets so angewendet, dass EU-Recht nicht verletzt wird. Das macht mich stutzig. Wir alle wissen doch: Für die EU-Kommission heißt dieser Satz genau, dass auch privaten Banken erlaubt werden muss, sich Sparkasse zu nennen. Stutzig werde ich auch, wenn ich in der „Financial Times Deutschland“ die Überschrift „Sparkassen Sieg für Brüssel“ oder im „Handelsblatt“ lese, dass die EU-Kommission in der Auseinandersetzung im Grundsatz gewonnen hat. Mit Verlaub: Erfolgsmeldungen sehen anders aus. Die entscheidende Frage ist: Hat die Bundesregierung der EU zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass die EU sagen kann, EU-Recht wird nicht verletzt? Hat die Bundesregierung also zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass sich auch eine private Bank Sparkasse nennen darf? Das ist die entscheidende Frage. Da müssen wir als Parlamentarier sagen: Wir wissen es nicht. Wir kennen nur die knappe gemeinsame Erklärung von Finanzministerium und EU-Kommission. Die entscheidenden Protokollnotizen und Interpretationshilfen haben wir schlicht und einfach nicht. Während der gesamten Verhandlungen fuhr die Bundesregierung einen undurchsichtigen Zickzackkurs. Am Ende erfahren wir als Bundestag nicht einmal, was im Detail vereinbart wurde. Das können wir uns doch nicht gefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Parlaments, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Bei allem, was wir nicht wissen und was die Öffentlichkeit auch nicht weiß, ist aber eines sicher: Eine dauerhafte und eindeutige Sicherung des Bezeichnungsschutzes ist das nicht. Ganz offensichtlich lässt die Vereinbarung wichtige Fragen offen. Ganz offensichtlich bedarf die Vereinbarung weiterer juristischer Interpretationen. Weil das so ist, kann die Vereinbarung ein Einfallstor für eine faktische Aufgabe des Sparkassen-Bezeichnungsschutzes sein. Es ist doch unehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, davor die Augen zu verschließen und in Ihrem Antrag heile Welt zu spielen. Denn wir haben draußen auf den Finanzmärkten keine heile Welt. Draußen häufen sich die Angriffe auf öffentlich-rechtliche Sparkassen. Die kommerziellen Großbanken haben sich doch gerade zum Ziel gesetzt, den Sparkassensektor zu knacken. Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank und viele andere stört es natürlich, wenn Sparkassen im Markt sind, die nicht Renditeforderungen von 25 Prozent anstreben und damit die Gewinnmargen kleiner halten. Genau diesen kommerziellen Großbanken haben Sie, hat die Bundesregierung mit dem weichen Kompromiss mit offenen Formulierungen potenziell ein riesiges Geschenk gemacht. Die kommerziellen Großbanken sind mit ihrer Interpretation des Kompromisses doch schon vorgeprescht. Die ist eindeutig. So wird gesagt: Berlin ist kein Sonderfall. Dass sich auch Private künftig Sparkasse nennen dürfen, gelte - ich zitiere den Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes - „auch in jedem anderen Fall, wenn eine Kommune ihre Sparkasse privatisieren will“. Vor alledem dürfen wir doch nicht die Augen verschließen. Wir müssen Sparkassen durch klare Rahmenbedingungen vor dem Zugriff kommerzieller Großbanken schützen und nicht Steilvorlagen für weitere Angriffe liefern. ({2}) Deswegen sage ich auch: Mit diesem Kompromiss hat die Bundesregierung den Parlamentswillen nicht eins zu eins umgesetzt, wie wir ihn gemeinsam im September formuliert haben. Das heißt ganz klar: Wir müssen uns gemeinsam dafür einsetzen, hier keine faulen Kompromisse zu schließen. Deswegen fordere ich alle auf, sich auch diesmal für den Sparkassen-Bezeichnungsschutz stark zu machen. Sagen wir der Bundesregierung klar, dass sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht hat. Sagen wir ihr, dass sie noch einmal nachverhandeln soll. Sagen wir ihr, dass eine mutige Verteidigung dieses Sparkassenkompromisses nicht ausreicht, sondern dass wir hier weitergehen müssen. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Tage eines Jahres sind die Zeit der Rückblicke und Resümees. Ein Thema beim Rückblick auf die Finanzmarkt- und Bankenthemen dieses Jahres ist sicherlich die Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung und der Europäischen Kommission über den Bezeichnungsschutz der Sparkassen. Seit einigen Tagen kennen wir das Resümee dieser Thematik: Der Sparkassen-Namensstreit mit Brüssel, also der Streit über den Bezeichnungsschutz, kann mit Recht als ein Kapitel des Jahres 2006 bezeichnet werden, das sehr turbulent verlief, aber trotzdem letztendlich positiv ausging. Diesen positiven Ausgang verdanken wir der Bundesregierung. In der letzten Woche hat sie nach einem wochenlangen Verhandlungsmarathon eine erfreuliche Einigung mit der EU-Kommission über den Bezeichnungsschutz der Sparkassen erzielt. Entgegen Ihrer Auffassung, Kollege Troost und meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, sind wir in der Union davon überzeugt, dass die Bundesregierung damit sehr wohl den Bundestagsbeschluss vom September dieses Jahres umgesetzt hat. ({0}) Sie hat in ihren Verhandlungen den Parlamentswillen nicht nur respektiert, sondern sie ist ihm sogar ausdrücklich gefolgt. ({1}) Gerne erläutere ich Ihnen unsere Überzeugung kurz anhand von drei Kernforderungen, die wir vor drei Monaten gemeinsam - Sie hatten sich daran beteiligt - im Plenum formuliert haben. ({2}) Erstens sollte - so steht es im Antrag - der Bezeichnungsschutz der Sparkassen im Sinne des § 40 des KreLeo Dautzenberg ditwesengesetzes grundsätzlich erhalten bleiben. Zweitens sollte in diesem Zusammenhang der Verkauf der Bankgesellschaft Berlin als Sonderfall behandelt werden. Das ist die so genannte Insellösung. Drittens sollte das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingestellt werden. Alle drei Forderungen sind aufgrund der Verhandlungen erfolgreich umgesetzt worden. ({3}) - Lieber Kollege Troost, wenn Sie nicht im Senat mitbeteiligt gewesen wären, als wir uns den Berliner Fall eingehandelt haben, dann wäre es gar nicht zum Vertragsverletzungsverfahren gekommen. ({4}) - Nein, Sie waren mit anderen in Berlin zusammen, die ich als Koalitionspartner natürlich nicht ausdrücklich erwähnen möchte. Allen drei Forderungen entspricht die Einigung mit der EU-Kommission eindeutig. Ich sage daher sehr deutlich, dass die Vereinbarung ein Erfolg ist. Sie ist ein Erfolg für die deutschen Verhandlungsführer und - das ist noch viel wichtiger - für den Sparkassensektor. Ich kann daher nicht verstehen, warum diese Verhandlungen nicht anerkannt werden und sich schon wieder Nörgler und Kritiker aus der Deckung wagen. ({5}) Sie haben festgestellt, die Verhandlungslösung sei nicht wasserdicht, und fragen, was passiert, wenn sich der Berliner Fall an anderer Stelle wiederholt. Dürfen dann wieder private Investoren den Namen Sparkasse fortführen? Wäre das nicht der Dammbruch für den öffentlichrechtlichen Sparkassensektor? ({6}) Diese Argumentation enthält mir zu viel Wenn und Aber. ({7}) Zu der Frage, was dann passiert, Herr Kollege Troost: Ehe private Investoren übernehmen können, muss zunächst einmal jemand bereit sein, zu verkaufen. So ist das in unserem Rechtsstaat, der noch dem Eigentum verpflichtet ist. Das steht am Anfang der Gesamtsituation. ({8}) In den meisten Fällen gelten politische Entscheidungen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Ändern sich diese, dann muss auch die Politik reagieren. Sollte sich - dies sei nur am Rande bemerkt - der Berliner Fall an anderer Stelle wiederholen, dann stehen wir in der Politik und auch der Bankensektor - insbesondere diese Organisation - vor schwerwiegenderen Fragen als der des Bezeichnungsschutzes. Zunächst einmal sehe ich aber unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht, dass der Bezeichnungsschutz für die Sparkassen durch die Verhandlungslösung aufgeweicht wird. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass diejenigen, die die Verhandlungslösung jetzt zerreden, die europäische Absicherung des Bezeichnungsschutzes tatsächlich gefährden. Warum ich diese Befürchtung habe, macht ein Blick auf den Verhandlungsverlauf in diesem Jahr sehr deutlich. Nicht ohne Grund sprach ich eingangs von einem turbulenten Kapitel in Sachen Sparkassen-Bezeichnungsschutz. Wir alle wissen, dass in den letzten Wochen und Monaten nicht immer zu erwarten war, dass Deutschland mit der EU-Kommission zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne des öffentlich-rechtlichen Sparkassensektors gelangen würde. Im Sommer standen vielmehr folgende Szenarien im Raum: Ein Weg schien zwischenzeitlich darin zu bestehen, den Forderungen der EU-Kommission nachzugeben und den § 40 KWG zu ändern, um die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahren zu erreichen. Die andere Option war eine Beendigung der Verhandlungen ohne einvernehmliche Lösung. Die Konsequenz wäre ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gewesen, dessen Ausgang völlig offen gewesen wäre. Beide Szenarien konnten abgewendet werden. § 40 Kreditwesengesetz muss nicht geändert werden und das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wird eingestellt. Dass § 40 KWG nicht geändert werden muss, ist auch ein Verdienst des Deutschen Bundestages. Wir haben der Bundesregierung mit unserem Antrag im September sehr deutlich gemacht, dass wir die zwischenzeitlich von ihr vorgeschlagenen Kompromissangebote zur Änderung des § 40 KWG für sehr problematisch halten und dass wir im Übrigen weder sachliche noch europarechtliche Gründe für eine Änderung sehen. Das Ergebnis haben wir jetzt, Herr Kollege Troost. ({9}) Damit haben wir der Bundesregierung für die Brüsseler Verhandlungen letztlich den Rücken gestärkt. Mit Unterstützung durch eine große Parlamentsmehrheit konnten sich die deutschen Verhandlungsführer hartnäckig für den Erhalt des § 40 KWG in seiner heutigen Fassung einsetzen, und zwar mit Erfolg, wie wir seit der letzten Woche wissen. Der Fraktion Die Linke reicht diese Lösung aber noch immer nicht aus. Sie fordert eine Nachverhandlung mit dem Ziel der dauerhaften Sicherstellung des Bezeichnungsschutzes. Das heißt, sie will eine Garantie für die Ewigkeit. Aus der Historie betrachtet man die Ewigkeit meistens von unten. Das ist im Grunde kein progressiver Ansatz für die Zukunft. ({10}) Wir müssen vielmehr die Entwicklungen in der Kreditwirtschaft, der Landesgesetzgebung und der Europäischen Union weiterhin beachten. Wie absurd diese Forderung grundsätzlich ist und wie wenig sie mit Realpolitik zu tun hat, brauche ich hier wohl nicht näher zu erläutern. ({11}) Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, wie bei so vielen Themen erliegen Sie auch beim Thema Sparkassen wieder einmal dem Irrglauben, dass wir auf einer Insel der Glückseligen leben. Das tun wir aber nicht. Wir sind in die Europäische Union eingebunden, ob wir das wollen oder nicht. ({12}) - Richtig, wir wollen das. - Die EU wird weiterhin - das muss uns bewusst sein - ein Auge auf die Drei-SäulenStruktur der deutschen Kreditwirtschaft werfen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir von der Union wollen den Bezeichnungsschutz für öffentlichrechtliche Sparkassen nicht nur kurzfristig retten. Wir sind vielmehr von ihrer Bedeutung gerade mit Blick auf die Gemeinwohlorientierung sehr wohl überzeugt und haben ein langfristiges Interesse daran. ({13}) Aber wir sind als Realpolitiker vernünftig genug, um zu wissen, dass die jetzt erreichte Vereinbarung mit der Europäischen Union das bestmögliche Ergebnis ist, das zu erreichen war. Deshalb lautet meine abschließende Bitte: Lassen Sie uns gemeinsam das Ergebnis der Verhandlungen der Bundesregierung mit der Europäischen Union über den Bezeichnungsschutz der Sparkassen würdigen! ({14}) Lassen Sie uns auch in Zukunft die Entwicklung der deutschen Kreditwirtschaft aufmerksam verfolgen und politisch-konstruktiv begleiten! Richtschnur unseres Handelns sollte dabei immer die qualitativ gute und flächendeckende Versorgung der Unternehmen und der Bevölkerung mit Bankdienstleistungen sein. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von der FDP-Fraktion.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn ein Wort an den Antragsteller richten. Herr Kollege Troost, Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie von der Linksfraktion wollen. Ihre Partei ist in Berlin - eigentlich sind es hier noch zwei Parteien - in der Landesregierung. Diese hat die Brüsseler Entscheidung ausdrücklich begrüßt. Im Deutschen Bundestag wettern Sie aber nun gegen die Einigung im Sparkassenstreit. In der Begründung Ihres Antrags verweisen Sie auf das in vielen Bundesländern umgesetzte Girokonto für jedermann in den dortigen Sparkassengesetzen. In Berlin, wo Sie in der Landesregierung vertreten sind, gibt es kein Girokonto für jedermann im Sparkassengesetz. Wenn Ihnen die Menschen, die kein Girokonto erhalten, wirklich am Herzen liegen würden, dann hätten Sie längst das Girokonto für jedermann im Berliner Sparkassengesetz festschreiben können. ({0}) Sie brüllen in der Opposition, verkriechen sich aber in der Berliner Landesregierung in den Regierungsdienstwagen. Das ist zutiefst verantwortungslos. ({1}) Wir als FDP können mit der Einigung im Sparkassenstreit sehr gut leben. Anders als jedoch von der Bundesregierung kurz nach der Einigung öffentlich verkündet, hat sich die Bundesregierung in Brüssel nicht durchgesetzt, weder im Fall des Beihilfestreites um die Berliner Sparkasse noch in der Auslegung des § 40 KWG. Insofern hat die Regierung tagelang die Öffentlichkeit über den wahren Inhalt der Einigung getäuscht: Erstens. Das Land Berlin darf seine Landesbank Berlin Holding AG und damit seine Sparkasse auch an einen privaten Investor verkaufen und dieser darf den Namen „Sparkasse“ im Rahmen des Berliner Sparkassengesetzes weiter uneingeschränkt nutzen. ({2}) - Das ist ja Teil des Sparkassengesetzes in Berlin. - Die BaFin musste sogar ihre bisherige Untersagung auf Weisung des Finanzministeriums zurücknehmen. Zweitens. § 40 KWG wird in der Europäischen Union in einer Weise angewandt, die nicht gegen die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr verstößt. Dem Schutz der Bezeichnung „Sparkasse“ gemäß § 40 KWG geht das höherrangige, direkt anwendbare Gemeinschaftsrecht vor und dies nicht nur im Beihilfestreit um die Berliner Sparkasse. Damit hat die Bundesregierung es nicht geschafft, die Auseinandersetzung auf das Beihilfeverfahren zu reduzieren und Berlin als Sonderfall zu behandeln. Das war aber das eigentliche Ziel, auch das Ziel des Entschließungsantrages der Koalition Ende September. ({3}) Im Gegenteil: Nur weil die Bundesregierung akzeptierte, dass das höherrangige Gemeinschaftsrecht bei der Anwendung des § 40 KWG generell gilt, konnte die EUKommission der Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens zustimmen. ({4}) § 40 KWG ist nur noch eine formale Hülle, die in der Praxis nicht mehr angewandt wird. Der Antrag von der Union und der SPD mogelt sich um den Inhalt der Einigung herum. Sie schreiben im Antrag: „Es besteht kein Erfordernis zur Änderung des § 40 KWG“ und suggerieren damit, dass sich nichts verändert hat. Tatsache ist aber, die Bundesregierung hat klein beigegeben. Sie ist als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Es bedarf keiner Änderung des § 40 KWG, weil er künftig keine Rolle mehr spielen wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schäffler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schäffler, sind Sie bereit, dem Herrn Kollegen Troost von der Linken zu sagen, dass die Verantwortlichen der Sparkassen in der Bundesrepublik Deutschland mit dem gefundenen Kompromiss zufrieden sind, weil sichergestellt ist, dass dort, wo Sparkasse draufsteht, auch Sparkasse drin ist? ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es mag sein, dass die Verbände das so interpretieren. Die können das so interpretieren, wie sie wollen. Sie werden die Einigung im Sparkassenstreit aber nicht verändern können. Die ist zwischen Bundesregierung und Europäischer Kommission so verabredet, wie ich es gerade dargestellt habe. Das ist ja auch im Internet öffentlich einzusehen. ({0}) Natürlich können verschiedene Verbände unterschiedlicher Meinung sein, aber tatsächlich zählt, was in dieser Einigung steht. Damit sind die Länder in Deutschland künftig frei, ihre Sparkassengesetze nach ihren Vorstellungen zu ändern, ohne dass der Bund über § 40 KWG dies verhindern kann. Aber auch die Kommunen können sich künftig auf europäisches Recht beziehen, ohne dass die Länder ihnen die Veräußerung ihrer Sparkasse untersagen können. Von Bedeutung ist, dass in der Einigung nichts mehr von einer vollständigen gemeinnützigen Gewinnverwendung steht. Die Länder können den Sparkassen lediglich bestimmte gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen. Eine Veräußerung durch eine Kommune können auch die Länder künftig nicht verhindern. Meine Damen und Herren, die FDP erkennt die Verdienste der Sparkassen für die Versorgung breiter Bevölkerungsschichten und des Mittelstandes mit Finanzdienstleistungen ausdrücklich an. ({1}) Gerade um dies auch zukünftig sicherzustellen, ist die Einigung eine wichtige Grundlage für eine dynamische Weiterentwicklung des Sparkassensektors und des Finanzstandortes Deutschland. Es ist aber auch eine gute Nachricht für den Wettbewerbsföderalismus und eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion. ({0})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal glaubt man, man sei hier im falschen Film. Dass Sie, Herr Troost, versuchen, Leute aufzuwiegeln und in Angst zu versetzen, kann ich noch nachvollziehen, ({0}) aber Sie, Herr Schäffler, reden mit absolut gespaltener Zunge. Sie haben sich nicht konstruktiv an dem Kompromiss des Bundestages beteiligt und Sie waren nicht einmal in der Lage, sich in der eigenen Fraktion auf eine Haltung zu verständigen, weil die eine Hälfte dafür war, das Sparkassenprivileg aufrechtzuerhalten, und die andere Hälfte dagegen. Jetzt machen Sie sich zum Chefinterpreten der nun gefundenen Rechts- und Kompromisslage. Es ist geradezu albern und lächerlich, was Sie hier abgezogen haben, um das in aller Deutlichkeit zu sagen. ({1}) Das Verhältnis zur EU ist nicht nur im Fall der Sparkassen, sondern auch auf anderen Gebieten, wie wir in diesen Tagen merken konnten, außerordentlich schwierig. Die EU-Kommissare und die zuständigen Generaldirektionen wandeln häufig stark am Rande des eigentlich geltenden Europarechts und versuchen, es durch praktisches Handeln, durch Faktensetzen in eine andere Richtung zu verschieben. ({2}) Dagegen muss man sich wehren, weil das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit für die EU-Kommission genauso wie für unsere Bundesregierung und unser gesamtes politisches Handeln gilt. Reinhard Schultz ({3}) Darum ging es ausdrücklich bei der Findung eines Sparkassenkompromisses. Es ist Einigung darüber erzielt worden, dass der historische Verstrickungen aufweisende Fall der Berliner Sparkasse isoliert behandelt wird. Das war anders nicht möglich, weil eine beihilferechtliche Entscheidung der EU vorlag. Es sind öffentliche Subventionen geflossen, die an die Bedingung geknüpft gewesen sind, dass das Institut danach diskriminierungsfrei verkauft werden kann. ({4}) Damit ist die Geschichte natürlich noch nicht zu Ende. Ich bin einmal gespannt, wer die Berliner Sparkasse kauft. Ich kann sagen, wem ich die Daumen drücke. Die öffentlich-rechtliche Sparkassenfamilie ist gemeinsam auf dem besten Wege, das Geld in die Hand zu nehmen, um das Problem elegant zu lösen, ({5}) sodass sich der Kreis wieder schließt. Ich fände gut, wenn das dabei herauskäme. Das sage ich ganz offen. Natürlich brauchen wir einen diskriminierungsfreien Verkaufsvorgang, aber auch die öffentlich-rechtlichen Institute haben das Recht und die Chance, dort mitzubieten. Vielleicht geht das auch gut. ({6}) - Wenn sie sich einig sind. Man kann nur an sie appellieren, dass sie sich einigen. ({7}) Der zweite Punkt betrifft § 40 KWG. Die EU hat versucht, der Bundesregierung Kriterien hinsichtlich des Gemeinwohls und hinsichtlich der Frage, wann eine privatisierte Sparkasse eigentlich noch Sparkasse heißen darf, aufs Auge zu drücken. Darüber hat man sich ausdrücklich nicht geeinigt. Die Tatsache, dass man sich nicht geeinigt hat und trotzdem das Vertragsverletzungsverfahren eingestellt wird, bedeutet, dass § 40 KWG in Deutschland uneingeschränkt weiter gilt. ({8}) - Nur nicht in Berlin; das ist nun einmal so. - Der Bundesfinanzminister hat dem Sparkassen- und Giroverband ausdrücklich mitgeteilt, dass die Bundesregierung auch künftig für den Fall, dass jemand versuchen sollte, eine Sparkasse zu privatisieren und den Namen mitzugeben, über die BaFin eingreifen und die Weiterführung des Namens Sparkasse untersagen wird. Das ist eine definitive Zusage. Ich kann mir gar nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen sich ein Fall wie der der Berliner Sparkasse wiederholen könnte. Natürlich ist in der fernen Zukunft alles möglich, aber nach den Ereignissen um die Berliner Sparkasse haben die Sparkassen einen solch starken Sicherungsverbund geschlossen, dass sie Insolvenzen oder Schieflagen problemlos innerhalb der Sparkassenfamilie auffangen können und auch auffangen werden. Nicht zuletzt - auch darauf möchte ich verweisen - ist der Sparkassensektor bei allen - auch internationalen Stresstests der stabilste von allen Sektoren, auch aufgrund seiner Verbundstruktur. Das heißt, eine Sanierungsprivatisierung, wie sie, um das einmal so zu interpretieren, in Berlin möglicherweise vorliegen wird, ist in anderen Fällen weitgehend auszuschließen. Dann bleiben lediglich die Fälle einer Privatisierung nach dem Willen des Trägers der Sparkasse. Dazu bedarf es allerdings Änderungen im Ländersparkassenrecht. Diese sind nicht so einfach. Auch dort gilt das Rahmenrecht des Kreditwesengesetzes mit § 40. Natürlich gibt es da Spielräume. Zum Beispiel könnte ein Stammkapital eingeführt werden, was einige Länder wollen. Ich halte es allerdings nicht für besonders überzeugend, wenn der Landesgesetzgeber einerseits erklärt, er denke nicht daran, seine Sparkassen zur Privatisierung freizugeben, andererseits aber eine rechtliche Möglichkeit zur Einführung von Stammkapital im engeren Sinne - es geht ja nicht um Eigenkapital - mit gestückelten Beteiligungen fordert. Wenn nicht privatisiert werden soll und die kommunalen Träger weiterhin für die Sparkassen zuständig sein sollen, besteht diese Notwendigkeit eigentlich nicht. Insofern muss man auf Länderebene hinterfragen, warum eine Tür aufgemacht wird, die gleichzeitig wieder zugemauert werden soll. Das ist nicht sehr überzeugend. Da werden wir an anderer Stelle kämpfen. Das ist Landespolitik. Es wird nie so weit kommen, zumindest mit uns nicht, dass § 40 KWG in der Form geöffnet wird, dass die Länder einen Freifahrtschein dafür erhalten, privatisierte Institute weiterhin „Sparkasse“ nennen zu können. Die Sparkassen müssen weiterhin öffentlich-rechtlich bleiben und sie werden nach wie vor Gemeinwohlkriterien unterworfen sein. Ich denke, das ist ein klares Ergebnis. Ich wundere mich, Herr Kollege Troost, dass ausgerechnet Sie hier die Deutsche Bank oder den Bankenverband als zuverlässigen Kommentator dieses Kompromisses darstellen. Das ist nicht der Gesetzgeber oder etwas Ähnliches, sondern eine Interessengruppe, die die Situation, die jetzt einigermaßen gefestigt ist, wieder aufweichen will, um den nächsten Angriff auf die Sparkassenfamilie vorzubereiten. Denen würde ich nicht die Hand reichen, indem ich ihnen Recht gebe. Die Pressemitteilung, die die Bundesregierung und die Wettbewerbsbehörde gemeinsam verfasst haben, und der Brief hinsichtlich Berlin, den Sanio geschrieben hat, ({9}) sind die beiden Grundlagen, die feststehen. Sie geben genau das wieder, was wir in unserer Entschließung am 29. September dieses Jahres gesagt haben: Berlin isolieren und dafür den gesamten Rest retten. Insofern kann ich nur sagen: Die Bundesregierung hat meines Erachtens punktgenau - im Rahmen der Möglichkeiten - unseren Entschließungsantrag umgesetzt. Dafür möchte ich mich beim Bundesfinanzminister und bei der Verhandlungsgruppe ausdrücklich noch einmal bedanken. Ich bin davon überzeugt, dass auch die EUReinhard Schultz ({10}) Kommission sich davon hat beeindrucken lassen, dass sich der deutsche Gesetzgeber nicht durch eine EU-Behörde in seine Gesetzgebungskompetenz hineinpfuschen lässt. Denn das war das Begehr: dass ein deutsches Parlament, der Vertreter des deutschen Volkes, durch eine Behördenentscheidung gezwungen wird, ein Gesetz zu verändern. Das hatte die EU-Kommission vor; es ist aber abgewehrt worden und wird auch nicht geschehen. Ich denke, es war gut, dass es in diesem Zusammenhang einen engen Schulterschluss zwischen Parlament und Bundesregierung gegeben hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schultz, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schäffler? ({0})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Schäffler.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schultz, wenn es so ist, wie Sie das gerade beschrieben haben, wieso ist der Berliner Fall dann nicht auf den Beihilfestreit reduziert worden, wieso hat man dann in diesem Zusammenhang das Vertragsverletzungsverfahren mit abgeräumt?

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war doch gerade die Kunst, lieber Herr Schäffler. Die EU-Kommission hat einen Zweifrontenkrieg gegen das deutsche Sparkassenrecht geführt und versucht, das Beihilfeverfahren in Berlin als Hebel zu benutzen, um die gesamte Veranstaltung auszubremsen. Gleichzeitig hat sie ein lange ruhendes Vertragsverletzungsverfahren wieder aufleben lassen. Dass dieses Vertragsverletzungsverfahren jetzt eingestellt worden ist und gleichzeitig das Problem Berlin gelöst werden konnte, war sozusagen der Hattrick, der uns alle gerettet hat. Es gab von Anfang an einen politischen Zusammenhang und das Problem ist auch im Zusammenhang gelöst worden. Gab es noch eine Frage? - Nein. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in enger Zusammenarbeit mit den Sparkassen die Interpretationshoheit über diesen Kompromiss behalten. Ich bedanke mich für die gute interfraktionelle Zusammenarbeit im Vorfeld und bis zum heutigen Tage. Trotzdem wird das Holzauge selbstverständlich für den Fall wachsam bleiben, dass die EU-Kommission in der nächsten Zeit auf dumme Gedanken kommen sollte. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Andreae vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es gerade erlebt: Gegen Angriffe kann man sich wehren; gegen Lob ist man machtlos. In diesem Sinne will ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen, dass wir diesem Antrag der großen Koalition zustimmen werden. ({0}) Wir wollen der Koalition an dieser Stelle ein Lob aussprechen; denn wir finden das vorliegende Ergebnis richtig. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass es sich um eine Umsetzung derjenigen Punkte handelt, die wir am 29. September in größerer Runde verabredet haben. Wie gesagt, § 40 des Kreditwesengesetzes bleibt erhalten. Der Erhalt der öffentlich-rechtlichen Sparkassen ist vorerst gesichert. Außerdem gibt es kein Vertragsverletzungsverfahren. Wir wären damals Ihrem Antrag beigetreten; die Vorgeschichte kennen Sie. Aber diesmal konnten wir Ihrem Antrag nicht beitreten. Der Grund ist, dass wir Sorgen haben, was die Argumentation der EUKommission im bisherigen Verfahren betrifft. Denn es ist schon so, dass die EU-Kommission weiterhin behauptet, dass der Grundversorgungsauftrag einer Sparkasse unabhängig von ihrer Rechtsform erbracht werden kann. Die EU-Kommission ignoriert auch weiterhin diesen unvermeidlichen Zielkonflikt zwischen der Gemeinwohlverpflichtung der öffentlich-rechtlichen Sparkassen und den Gewinninteressen privater Unternehmen. Sie stellt außerdem das Regionalprinzip infrage. Brüssel insistiert auch weiterhin darauf, dass für zukünftige Fälle ein möglicher Verkauf einer Sparkasse in Übereinstimmung mit dem EU-Recht erfolgen muss. Daraus schließen wir, dass Brüssel seine Vorbehalte gegen § 40 des Kreditwesengesetzes nur zurückgestellt, aber noch nicht aufgegeben hat. ({1}) Diesen Punkt sehen wir kritisch. Auch Sie sollten das tun. Herr Dautzenberg, ich würde mir wünschen, dass Ihnen klar ist, was hier passiert ist. Es ist vielleicht mit einem spielentscheidenden Tor zu vergleichen. Aber es ist noch lange nicht so, dass das Spiel insgesamt gewonnen ist. Was bedeutet das für den Fall, dass ein Bundesland sein Sparkassengesetz ändern und seine Sparkasse verkaufen will? Was bedeutet es, wenn Volksbanken und Sparkassen regional fusionieren wollen oder wenn es gar Fusionen von regionalen Sparkassen zu Großsparkassen gibt? ({2}) Es könnte durchaus sein, dass die Kommission solche Fälle als willkommenen Anlass sieht, den Rechtsstreit über § 40 des Kreditwesengesetzes wieder aufzunehmen. Wir wollen das Verhandlungsergebnis nicht kleinreden. Ich meine tatsächlich - mir ist es damit wirklich ernst -, dass es angesichts der Tatsache, was in den Verhandlungen möglich war, ein gutes Ergebnis ist. Deswegen stimmen wir diesem Antrag und nicht dem Antrag der Linken zu. Wir wünschen uns, dass wir nicht nur heute Abend, sondern auch in Zukunft von der Union, die bei diesem Thema unterschiedliche Interessen verfolgt, hören: ({3}) Die Zukunft der Sparkassen ist noch nicht entschieden. Wir erwarten schon, dass sich die Bundesregierung weiterhin mit Umsicht und erhöhter Aufmerksamkeit für eine dauerhafte Lösung im Sinne des Erhalts der Sparkassen und vor allem ihres Gemeinwohlauftrages einsetzt. Wir können sie dabei im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen. ({4}) Dieser Teilschritt war gut und richtig. Aber es ist weiterhin dringend notwendig, bei diesem Thema umsichtig und aufmerksam zu sein. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3797 mit dem Titel „Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassensektor - Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeichnungsschutz - Parlamentswillen respektieren“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3805 mit dem Titel „Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Katherina Reiche ({1}), Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlich fortentwickeln - Drucksachen 16/2502, 16/3143 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Dirk Becker Angelika Brunkhorst Dr. Reinhard Loske Es ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Es hat nur ein Redner den Anspruch gestellt, zu sprechen. Er muss in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit auch nicht die ganze Redezeit in Anspruch nehmen. ({2}) Es handelt sich um den ehrenwerten Kollegen Ingbert Liebing von der CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal in diesem Jahr über das Thema IKZM, über das Integrierte Küstenzonenmanagement. Das ist wahrlich ein Wortungetüm, das erschrecken mag. Aber das Thema ist wichtig. Es ist wichtig, dieses Thema aus der Ecke der Fachexperten herauszuholen und es viel mehr als bisher ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. ({0}) Das Thema ist wichtig, weil es um die Entwicklung unserer Küstenregionen geht. In kaum einer anderen Region prallen unterschiedlichste Nutzungsansprüche so sehr aufeinander wie an unseren Küsten - und das in einem ökologisch besonders wertvollen Gebiet. Deshalb ist es so wichtig, dass gerade hier Strategien entwickelt werden, um die Küstenregionen als ökologisch intakten und wirtschaftlich erfolgreichen LebensIngbert Liebing raum für die hier lebenden Menschen dauerhaft zu erhalten und nachhaltig zu entwickeln. Das ist die Aufgabe des IKZM. ({1}) Es geht um Interessenausgleich und um Konfliktvermeidung. Da geht es um ökologische und ökonomische Belange, um Küstenschutz, um Naturschutz, um Tourismus, um Schifffahrt, um Energiegewinnung, um Hafenwirtschaft, Landwirtschaft oder Fischerei. Es geht um vernünftige Verkehrsanbindungen für die im Regelfall nicht gerade zentral gelegenen Küstenregionen. ({2}) Immer wieder geht es dabei darum, diesen Interessenausgleich zu organisieren. ({3}) Das kann man nicht mit viel Theorie machen. Entscheidend ist die Praxis in den Küstenregionen. ({4}) Integriertes Küstenzonenmanagement muss mit Leben gefüllt werden. Dafür ist es allemal sinnvoll, vorhandene Strukturen zu nutzen. Wir fangen ja nicht erst bei null an. ({5}) Ich selbst habe einmal als Vorsitzender der Euregio „Die Watten“, eines Zusammenschlusses aller Gemeinden und Städte auf den Inseln und Halligen im Wattenmeer von Holland bis Dänemark, im Wattenmeerforum mitarbeiten dürfen. ({6}) Hier treffen sich bereits seit vielen Jahren Entscheidungsträger verschiedener staatlicher und regionaler Ebenen mit nicht staatlichen Interessenorganisationen von Holland bis Dänemark und arbeiten gemeinsam an einer nachhaltigen Entwicklung der Wattenmeerregion. Sie haben eine gemeinsame Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der Region erarbeitet. Das ist ein Beispiel für praktiziertes integriertes Küstenzonenmanagement. Solche Potenziale müssen auch in Zukunft genutzt werden. ({7}) Die Bundesregierung hat im März der EU die nationale IKZM-Strategie vorgelegt. Gern möchte ich bei dieser Gelegenheit den beteiligten Ministerien und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Dank der CDU/ CSU-Fraktion für die geleistete Arbeit aussprechen. ({8}) Wir haben einen schönen Bericht und eine ambitionierte Strategie vorliegen. Aber es muss jetzt auch weitergehen. ({9}) Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, eine nationale Koordinierungsstelle für Integriertes Küstenzonenmanagement einzurichten. ({10}) Dabei ist es wichtig, dass sie auch mit Praktikern besetzt wird. Zentraler Punkt des IKZM ist eine frühzeitige Konflikterkennung und -lösung. Dafür ist ein umfassendes Verständnis für die wechselseitigen Verflechtungen maritimer Wirtschaft, mariner Ökologie sowie der Wechselwirkungen in den Küstenregionen wichtig. Geht man dies nur mit einem fachspezifischen Tunnelblick an, landet man zwangsläufig in der Sackgasse. ({11}) - Genau, das ist viel zu eng, Herr Kollege Thiele. Damit das nicht passiert, brauchen die Regionen umsichtige „Kümmerer“, die den Überblick bewahren und sich auf höherer Ebene koordinieren. Dafür brauchen wir auch die Unterstützung der staatlichen Ebene; denn viele Rahmenbedingungen werden eben nicht in der Region selber, sondern von anderen außerhalb bestimmt. Beim integrativen Ansatz von IKZM spielt auch der Wirtschaftsraum Küste eine zentrale Rolle. ({12}) IKZM darf eben nicht, wie manchmal falsch verstanden oder befürchtet, als rein ökologisches Planungsinstrument betrachtet werden. Es geht um eine ausgewogene Regionalentwicklung - Küstenregionen sind auch Regionen, in denen Menschen leben und arbeiten - und es geht um eine ökonomisch erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung, ({13}) die einen Beitrag zur Lissabonstrategie der EU leistet. ({14}) Integrativer Ansatz von IKZM bedeutet, dass wir benachbarte Politikbereiche einbeziehen. Das gilt insbesondere für die Verzahnung zwischen Küstenthemen und Meerespolitik. Maritime Themen erfahren zurzeit eine völlig neue Aufmerksamkeit. Wir diskutieren über das EU-Grünbuch zur integrativen Meerespolitik, wir diskutieren über die EU-Meeresschutzstrategie, die in wenigen Tagen beim EU-Ministerrat zur politischen Einigung ansteht. Es geht auch um die Zielsetzung, ein weltweites Netz von Meeresschutzgebieten auszuweisen. Ich nenne auch die boomende maritime Wirtschaft. Die Meeresforschung beschäftigt sich mit der Gewinnung von Energieressourcen aus dem Meer und neue marine Wirkstoffe unterstützen den medizinischen Fortschritt. Es geht um die Sicherung von Nahrungsquellen aus dem Meer, gerade für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es geht auch um die Wechselwirkungen zwischen den Meeren und dem Weltklima. Die Meere nehmen mehr als die Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf und tragen damit eine wesentliche Last der globalen Klimaveränderung. Alle diese Themen finden direkt vor unseren Küsten statt und beeinflussen unsere Küstenregionen. Der Klimawandel ist längst angekommen. Das Ausmaß von Katastrophen und Extremsituationen, die in den letzten Jahren weltweit über Küstenregionen und deren Bevölkerung hereingebrochen sind, häufen sich auffällig. Wir haben bis jetzt Glück gehabt, dass die deutschen Küsten hiervon weitgehend weniger betroffen waren. Aber gerade in den Küstenregionen geht es jetzt auch um Anpassungsstrategien und nicht um die Vermeidung des Unvermeidlichen. All diese Themen waren auch Gegenstand der 5. Nationalen Maritimen Konferenz in der vergangenen Woche in Hamburg, einer, wie ich finde, ausgesprochen erfolgreichen Veranstaltung, nicht zuletzt auch dank der umsichtigen und kompetenten Leitung durch die neue maritime Koordinatorin der Bundesregierung, Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. ({15}) Wie geht es jetzt weiter? Die Europäische Kommission hat wieder zu Expertengesprächen eingeladen, die im März stattfinden sollen. Wir müssen wachsam sein, dass bei der EU kein neues Bürokratiemonster geschaffen wird. Mir ist wichtig - das sagt auch der Antrag der Koalitionsfraktionen -, dass sich die Bundesregierung im Rahmen der zukünftigen Weiterentwicklung von Integriertem Küstenzonenmanagement dafür einsetzt, den unbürokratischen Charakter dieser Kooperation beizubehalten. Das ist auch wichtig, um die Menschen an den Küsten mitzunehmen, die IKZM umsetzen und nutzen sollen. ({16}) Wir gehen davon aus, dass auf dieser Basis eine weitere EU-Richtlinie zu diesem Thema nicht kommt. ({17}) Die Bundesregierung hat mit der Vorlage der nationalen IKZM-Strategie einen wichtigen ersten Schritt getan. Meine Fraktion begrüßt diesen Strategiebericht ausdrücklich. Jetzt stehen die Umsetzung und der Prozess einer kontinuierlichen Fortentwicklung an. Dazu wollen wir mit unserem Antrag der Koalitionsfraktionen einen Beitrag leisten. Ich bin sicher, er wird bei den Beteiligten seine Wirkung nicht verfehlen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für die Geduld zu dieser späten Stunde. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Reden der Kollegen Dirk Becker, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/3143 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlich fortentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2502 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstellen - Drucksache 16/3545 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Reden sollen insgesamt zu Protokoll genommen werden. Deswegen brauche ich die Aussprache nicht zu eröffnen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Dorothee Bär und Philipp Mißfelder, CDU/CSU, Jörg Tauss und Christoph Pries, SPD, Christoph Waitz, FDP, Dr. Lothar Bisky, Die Linke, und Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3545 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten 1) Anlage 6 2) Anlage 7 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union ({1}) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU - Drucksache 16/3807 - Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD, Hellmut Königshaus, FDP, Heike Hänsel, Die Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/3807. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke sowie Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Ackermann, Hartfrid Wolff ({2}), Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Dem Beruf des Rettungsassistenten eine Zukunftsperspektive geben - Das Rettungsassistentengesetz novellieren - Drucksache 16/3343 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, CDU/CSU, Dr. Margrit Spielmann, SPD, Jens Ackermann, FDP, Frank Spieth, Die Linke, Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3343 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie Zusatz- punkt 9 auf: 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung - Fährkonzept verbessern - Drucksache 16/3668 - 1) Anlage 8 2) Anlage 9 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept - Drucksache 16/3798 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom- men. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Gero Storjohann, CDU/CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Pa- trick Döring, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3668 und 16/3798 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt 10 auf: 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({7}), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einrichtung einer Polizeireformkommission - Drucksache 16/3704 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Notwendigkeit einer Defizitanalyse des beste- henden Sicherheitssystems - Drucksache 16/3809 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom- men. Es sind die Beiträge der Kollegen Günter Baumann, CDU/CSU, Wolfgang Gunkel, SPD, Dr. Max Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, und Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.4) 3) Anlage 10 4) Anlage 11 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/3704 und 16/3809 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 15. Dezember 2006, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.