Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich, wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns intensive, gute Beratungen.
Vizepräsidentin Dr. Susanne Kastner und der Kollege
Erich Fritz haben vor einigen Tagen jeweils ihren
60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses
gratuliere ich dazu nachträglich herzlich und wünsche
alles Gute.
({0})
Die Kollegin Miriam Gruß hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Das ist kein Anlass zum Jubeln. Als
Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen
Florian Toncar vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Fraktion Die Linke teilt mit, dass der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. An seiner Stelle
soll der Kollege Dr. Hakki Keskin neues ordentliches
Mitglied werden. Sind Sie auch damit einverstanden? Das sieht sehr danach aus. Dann ist der Kollege
Dr. Keskin als ordentliches Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße
Gesetzgebungsarbeit
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 16/3790
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning,
Christian Ahrendt, Michael Link ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine
EU der Erfolge für die Bürger
- Drucksache 16/3832 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
- Drucksache 16/3711 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin GöringEckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit ermöglichen - Künstlerdienste sichern
- Drucksache 16/3779 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 153 zu Petitionen
- Drucksache 16/3817 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 154 zu Petitionen
- Drucksache 16/3818 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 155 zu Petitionen
- Drucksache 16/3819 -
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
- Drucksache 16/3820 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
- Drucksache 16/3821 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
- Drucksache 16/3822 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
- Drucksache 16/3823 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 16/3824 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
- Drucksache 16/3825 ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({16})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
({17}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,
Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hans-Joachim Otto ({18})
Dr. Lukrezia Jochimsen
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,
Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz ({19}),
Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert
- Drucksache 16/3805 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein,
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der
Europäischen Union ({20}) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU
- Drucksache 16/3807 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein ökologisch
und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept
- Drucksache 16/3798 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Notwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Sicherheitssystems
- Drucksache 16/3809 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
im Nahen Osten ({22})
- Drucksache 16/3816 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Die zunächst vorgesehenen Aktuellen Stunden auf
Verlangen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatistik
und auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen zum Nichtraucherschutz finden entgegen der ursprünglichen Ankündigung nicht statt.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll soweit erforderlich abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 67. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler,
Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Petra
Hinz ({24}), Lothar Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung des Goethe-Instituts durch neues
Konzept
- Drucksache 16/3502 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({25})
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({26}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausbildungsplatzlücke schließen - Vorschlag
des DGB aufgreifen
- Drucksache 16/3540 überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({27})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich stelle Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abgabe einer Erklärung durch
die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Düsseldorf - Entschuldigung, in Brüssel.
({28})
- Stellen Sie sich vor, ich hätte dazu Einvernehmen fest-
gestellt. Dann wäre es richtig kompliziert geworden.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle-
rin
zum Europäischen Rat in Brüssel am
14./15. Dezember 2006 und den bevorstehen-
den deutschen Präsidentschaften im Rat der
Europäischen Union und in der G 8
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Stübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Axel Schäfer,
Dr. Lale Akgün, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen
- Drucksache 16/3808 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis
30. Juni 2007 - Europa gelingt gemeinsam
- Drucksache 16/3680 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({30})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Christian Ahrendt, Michael Link ({31}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger
- Drucksache 16/3832 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({32})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Bevor ich dazu der Bundeskanzlerin das Wort erteile,
möchte ich dem Minister Michael Glos zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren.
({33})
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({34})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
rund zwei Wochen beginnt die deutsche Doppelpräsidentschaft: im Rat der Europäischen Union und in der
Gruppe der Acht. In wenigen Stunden beginnt der Europäische Rat - wie gesagt - in Brüssel, noch einmal unter
finnischem Vorsitz.
Weil sich die finnische EU-Präsidentschaft dem Ende
zuneigt, möchte ich ihr an dieser Stelle ein herzliches
Dankeschön sagen. Sie hat unter schwierigen Bedingungen vieles erreicht.
({0})
Der morgen stattfindende Rat wird sich vor allen Dingen mit dem Thema Erweiterungspolitik befassen.
Wenn man sich an die Anfänge der Europäischen Union
erinnert - damals waren es sechs Mitgliedstaaten -, so
kann man heute sagen: Diese Erweiterungspolitik ist
eine Erfolgsgeschichte Europas. Denn heute umfasst die
Europäische Union fast das gesamte kontinentale Europa
in Demokratie und Freiheit.
Mit Rumänien und Bulgarien werden am 1. Januar
2007 zwei weitere Mitglieder in die Europäische Union
kommen. Beide Staaten haben zusätzliche Verpflichtungen zu weiteren Reformen nach dem Beitritt übernommen. Mit Kroatien und mit der Türkei laufen Verhandlungen. Auch die Staaten des westlichen Balkans - Sie
wissen das - haben eine Beitrittsperspektive.
Man sieht also: Es ist viel in Bewegung und natürlich
kommen die Fragen auf, wohin das führt und wie, also
nach welchen Prinzipien die Europäische Union wachsen will. Genau darüber werden wir auf diesem Rat sprechen. Denn der Erfolg der Erweiterungspolitik muss darin liegen, dass die Europäische Union attraktiver und
handlungsfähiger wird, und zwar sowohl nach außen als
auch nach innen.
Wir alle wissen, dass die Perspektive zum Beitritt
noch kein Garantieschein für eine spätere Mitgliedschaft
ist. Es müssen die Kriterien eingehalten werden, auf die
sich der EU-Vertrag gründet, und es müssen die Beitrittskriterien eingehalten werden, die durch die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union festgelegt sind. Dies sage ich nicht als
Drohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für die
Länder, die beitreten wollen, und auch als Ansporn für
die Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dass
sie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat.
Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien haben eine solche Beitrittsperspektive. Aber bei aller Richtigkeit dieser Entscheidung wissen wir, dass die Perspektive eine mittlere ist und dass
noch viele Vorbereitungen zu treffen sind, damit aus dieser Perspektive eine Aufnahme werden kann. Ich nehme
Kroatien hier ausdrücklich aus. Die EU führt mit diesem
Land bereits erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Aber
auch hier ist es noch zu früh, um ein Datum für die Aufnahme nennen zu können.
Wir haben uns in diesen Tagen sehr stark mit der
Frage der Türkei befasst. Es ging um die Umsetzung
des Ankaraprotokolls. Die Vorgeschichte ist bekannt.
Die Türkei hatte sich mit ihrer Unterschrift im Juli 2005
verpflichtet, das Ankaraprotokoll umzusetzen. Ich will
noch einmal sagen: Es geht hier um keine Kleinigkeit,
sondern um die Selbstverständlichkeit, dass Beitrittskandidaten und EU-Mitgliedstaaten einander politisch und
diplomatisch anerkennen.
Die finnische Präsidentschaft - das will ich hier ausdrücklich hervorheben - hat bis zur letzten Minute alles
unternommen, um der Türkei die Umsetzung des Ankaraprotokolls zu erleichtern. Aber wir müssen heute feststellen: Die Türkei hat das Protokoll nicht umgesetzt.
Die EU hat darauf reagiert, und zwar, wie ich meine,
gleichermaßen entschlossen wie besonnen. Sie hat besonnen reagiert, indem der Türkei stets deutlich gemacht
wird, dass es sich für sie lohnt, weiter an Reformen zu
arbeiten. Damit meine ich nicht nur das Ankaraprotokoll, sondern genauso meine ich tief greifende innenpolitische Reformen, bei denen es um Menschenrechte
geht, bei denen es um die Freiheit der Bürgerinnen und
Bürger geht. Entschlossen hat die Europäische Union reagiert, indem die Europäische Kommission am 29. November dieses Jahres deutlich gemacht hat, dass es ein
einfaches „Weiter so!“ nicht geben kann. Sie hat die
Empfehlung abgegeben, acht Verhandlungskapitel auszusetzen und kein Kapitel zu schließen, solange das Ankaraprotokoll nicht umgesetzt ist.
({1})
Genau dies haben die Außenminister am Montag dieser Woche als Grundlage für die Beratungen, die heute
und morgen stattfinden, vereinbart. Ich bin sehr dankbar,
dass es gelungen ist, diese Vereinbarung zu treffen. Die
Außenminister haben damit gezeigt, dass auf Worte Taten folgen. Aber ich sage noch einmal: Die EU hat gleichermaßen besonnen und entschlossen reagiert. Das
Ganze wird dadurch ergänzt und präzisiert, dass die
Kommission dem Rat jährlich, also 2007, 2008 und
2009, berichten wird, ob und inwieweit die Türkei ihren
Verpflichtungen nachgekommen ist. Auch diesen Überprüfungsmechanismus begrüße ich sehr. Denn es ist der
Rat, der immer wieder einstimmig entscheiden muss,
wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergeht.
Meine Damen und Herren, es besteht die Notwendigkeit - das wird auch während unserer Präsidentschaft
eine Rolle spielen und an Bedeutung gewinnen -, Staaten enger an die Europäische Union zu binden, ohne ihnen bereits die Vollmitgliedschaft oder überhaupt etwas
zusagen zu können. Das gilt im Hinblick auf die
Ukraine, die Schwarzmeerregion und andere Regionen.
Deshalb brauchen wir eine attraktive und dauerhafte
Nachbarschaftspolitik, mit der wir die Länder enger an
die Europäische Union heranführen, die selbst nicht Mitglied werden können. Ich bin sehr dankbar für die Initiativen des Auswärtigen Amtes, die sich sehr intensiv mit
der Entwicklung einer solchen Nachbarschaftspolitik beschäftigen.
Wir werden auf dem Rat auch über die Innen- und
Justizpolitik sprechen, vor allen Dingen über das Thema
Migration. Wir alle kennen die Bilder verzweifelter
Menschen und afrikanischer Flüchtlinge auf brüchigen
Booten. Wir können dem nicht einfach zusehen, sondern
wir müssen ein kohärentes und gemeinsames Handeln
der Europäischen Union hinbekommen. Das bedeutet,
dass wir auf der einen Seite mit Entschiedenheit gegen
illegale Migration vorgehen müssen, dass wir aber auf
der anderen Seite auch die Ursachen der illegalen Migration bekämpfen und uns mit der Situation in den afrikanischen Ländern auseinander setzen müssen. Beides gehört zusammen und bei beidem liegt noch sehr viel
Arbeit vor uns.
Wir haben heute nicht nur über den aktuell stattfindenden Rat zu sprechen, der heute und morgen zusammentritt, sondern auch darüber, dass Deutschland in gut
zwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.
Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto „Europa gelingt gemeinsam“ gestellt, aber man könnte auch
sagen: Europa gelingt nur gemeinsam. Wir haben es erlebt: Ein gespaltenes, ein uneiniges Europa - sei es in
außenpolitischen Fragen, sei es in innenpolitischen Fragen - macht die Stärke der Europäischen Union nicht
deutlich. Deshalb gilt für die Außenpolitik wie für die
innere Politik der Europäischen Union: Europa gelingt
nur gemeinsam.
({2})
Das sage ich vor allen Dingen mit Bezug auf das, was
ich das Zukunftsmodell der Europäischen Union nennen
würde: das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell.
Die Bundesregierung fühlt sich der Weiterentwicklung
des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells verpflichtet. Denn wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind,
wenn wir den Menschen keine Perspektive geben können, dann wird Europa, dann wird die Europäische
Union nach außen hin nicht stark auftreten können.
Wir brauchen eine erfolgreiche Politik in Brüssel. Das
bedeutet aber - das möchte ich an dieser Stelle nur kurz
einschieben -, dass auch die Mitgliedstaaten stark sein
müssen. Die Bundesregierung wird den Weg der Reformen während ihrer EU-Ratspräsidentschaft entschieden
weitergehen. Die Dinge gehören zusammen: Einfluss auf
die Entwicklung der Europäischen Union haben wir nur
dann, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn wir
auf dem Pfad des Wirtschaftswachstums bleiben und
wenn unsere Unternehmen prosperieren. Innen- und Außenpolitik gehören an dieser Stelle sehr eng zusammen.
({3})
Wenn wir vorausschauend auf unsere Präsidentschaft
blicken, müssen wir uns bewusst sein, dass in dieser Zeit
unerwartete Ereignisse eintreten können. Alle vergangenen Präsidentschaften haben das erlebt. Selbstverständlich haben wir für unsere Präsidentschaft dennoch
Schwerpunkte gesetzt. So wollen wir insbesondere die
wirtschafts- und sozialpolitische Zukunft Europas in
den Mittelpunkt unserer Präsidentschaft rücken. Auf
dem Frühjahrsgipfel im März 2007 wollen wir deshalb
besondere Impulse in den Bereichen geben, die für die
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, für die Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und für die Entwicklung unseres Wohlstands wichtig
sind. Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas natürlich nicht den Sonntagsreden trauen, sondern
dass sie sich fragen: Bringt mir diese Europäische Union
für mein eigenes Leben ein Stück Sicherheit, ein Stück
Wohlstand? Deshalb müssen wir genau die Dinge, die
damit zusammenhängen, weiterentwickeln oder neu angehen.
Da nenne ich das Thema Bürokratieabbau - oder
„bessere Rechtsetzung“, wie das in der europäischen
Sprache heißt. Hier gibt es in der letzten Zeit einen Mentalitätswandel und wir wollen ihn fördern. Ein Mehr an
Richtlinien bedeutet nicht in jedem Fall ein Mehr an
wirtschaftlicher Prosperität für die Europäische Union.
({4})
Deshalb werden wir den deutschen Kommissar, Herrn
Verheugen, bei diesen Dingen unterstützen.
Wir werden auch eine Diskussion über die Frage der
Einführung eines Diskontinuitätsprinzips in der Europäischen Union führen. Das hat etwas zu tun mit dem
Verhältnis der Institutionen in Europa: Kommission,
Parlament und Rat. Für uns, in einem nationalen Parlament, ist es selbstverständlich, dass mit dem Ende einer
Legislaturperiode Gesetzentwürfe verfallen. Auf europäischer Ebene gibt es so etwas nicht. Wir sollten darüber
reden, dass es doch nicht sein kann, dass ein neues Parlament gewählt wird, eine neue Kommission bestellt wird,
aber das Einzige, was konstant bleibt, die nicht bearbeitete Richtlinie ist. Das wird ein langer Prozess, das wird
nicht schnell gehen; ich weiß, welches dicke Brett wir da
bohren. Aber wir sollten darüber sprechen, weil es für
das Selbstverständnis von Parlament, Kommission und
Rat ganz wichtig ist.
({5})
Die Vollendung des Binnenmarktes wird ein weiterer Schwerpunkt sein. Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen - ich glaube, die Zahlen der Kommission
sind da sehr eindrücklich -, dass der Binnenmarkt seit
Anfang der 90er-Jahre ein Mehr von über 2,5 Millionen
Arbeitsplätzen gebracht hat. Das muss man den Menschen immer und immer wieder sagen: Freiheitliche Regeln im einheitlichen Binnenmarkt in der Europäischen
Union und gemeinsame Standards bringen ein Mehr an
Beschäftigung und machen uns insgesamt stärker.
Wir werden einen Schwerpunkt setzen bei Forschung
und Bildung. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird
während unserer Präsidentschaft starten. Das, was uns
der Bundespräsident immer wieder gesagt hat - wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind -, müssen wir
dadurch umsetzen, dass wir innovativ sind, dass wir forschungsstark sind, dass Europa an der Spitze ist. Das
muss das Credo sein, das sich auch sich hinter dem trockenen Ziel des Lissabonprozesses verbirgt.
({6})
Ein weiterer Schwerpunkt wird die Energiepolitik
sein. Die Kommission wird hier eine Reihe von Mitteilungen machen. Deshalb wollen wir beim Frühjahrsgipfel einen Aktionsplan für eine Energiepolitik für Europa
verabschieden. Wir brauchen einen echten Binnenmarkt
für Strom und Gas. Wir wollen natürlich die Klimaschutzziele erfüllen und müssen deshalb der Energieeffizienz eine besondere Bedeutung beimessen. Wir wollen
die erneuerbaren Energien ausbauen. Wir wollen die Energieforschung entwickeln. Wenn wir als Europa beim
Klimaschutz weiter eine Vorreiterrolle spielen wollen,
müssen wir auch Ziele für die Zeit nach 2012, also nach
dem Auslaufen des Kiotoprotokolls, festlegen. Eine gemeinsame Verhandlungslinie der Europäischen Union
wäre sehr gut, gerade mit Blick auf unsere G-8-Präsidentschaft.
({7})
Natürlich möchten wir, dass der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März zu
einem Höhepunkt unseres Ratsvorsitzes wird. Es ist historisch beachtlich - um es ganz vorsichtig zu sagen -,
dass es 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge möglich ist, in einem wiedervereinigten
Deutschland, in einer nicht mehr geteilten Stadt Berlin
ein Europa zu feiern, das auch die mittel- und osteuropäischen Länder umfasst. Dafür kann man gar nicht
dankbar genug sein.
({8})
Dieser 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge und die Verabschiedung einer Berliner
Erklärung werden uns noch einmal daran erinnern, dass
wir natürlich ein gemeinsames Selbstverständnis und ein
gemeinsames Werteverständnis brauchen. Europa gründet sich auf geschichtliche Erfahrungen, die wir zusammen gemacht haben; häufig waren dies sehr leidvolle Erfahrungen. Europa gründet sich auf dem Willen, die
Zukunft gemeinsam besser zu gestalten. Europa gründet
sich aber vor allem auf Werten, die wir alle teilen: Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Achtung der Menschenrechte.
({9})
Nur auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte
nach dem Zweiten Weltkrieg ein historisch neues Miteinander von größeren und kleineren Mitgliedstaaten
entstehen. Das heißt, europäische Integration muss auch
in Zukunft wertegebunden sein.
Das führt unweigerlich zum Verfassungsvertrag.
Die Verantwortung, die wir haben, ist uns klar. Ich will
aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das wird ein
Prozess sein, der während unserer Präsidentschaft nicht
beendet werden wird. Wir wissen: Nizza ist nicht genug.
Wir brauchen einen Verfassungsvertrag.
({10})
Aber wir haben die Aufgabe, zum Ende unserer Ratspräsidentschaft hin einen Fahrplan vorzulegen, wie es weitergehen kann. Ich hielte es für ein historisches Versäumnis - das will ich hier ganz klar sagen -, wenn wir
es nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahl
mit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzugehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können.
Ich werde mich während unserer Präsidentschaft jedenfalls intensiv dafür einsetzen - das gilt auch für die
gesamte Bundesregierung -, dass auf Grundlage der
Gemeinsamkeit unserer Werte ein solcher Verfassungsvertrag zustande kommt.
({11})
In den Außenbeziehungen der Europäischen Union
wird uns - das spüren wir alle - immer mehr Gemeinsamkeit abverlangt. Wir sind als Mitgliedstaat alleine gar
nicht in der Lage, den Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen und internationalen Terrorismus zu begegnen. Deshalb tun wir das im Verbund mit unseren
Partnern in der Europäischen Union und in der NATO.
Wir müssen in unserer Präsidentschaft natürlich dafür
sorgen, dass in all den aktuellen Fällen mit einer und mit
einer starken Stimme gesprochen wird.
Ich glaube, sagen zu können, dass es in den letzten
Jahren große Fortschritte bei der europäischen Außenund Sicherheitspolitik gegeben hat. Die Europäische
Union hat - wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen erfolgreich dazu beigetragen, die Krise in Mazedonien zu
entschärfen, in Indonesien einen Friedensprozess einzuleiten und im Kongo einer neuen Krise vorzubeugen.
Was haben wir nicht gerade im Zusammenhang mit
dem Einsatz im Kongo über hohe Risiken diskutiert. Ich
glaube aber, dass es besser ist, über die Risiken vorher
zu diskutieren, damit sie einen nicht unerwartet treffen.
Aber ich finde, die Europäische Union hat ihren Auftrag
an dieser Stelle großartig erfüllt.
({12})
Ich bin froh, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nach
Hause kommen können. Der Prozess im Kongo im Zusammenhang mit der Wahl hat das Land ein Stück weiter
gebracht. Das heißt aber nicht, dass unser Engagement
für den Kongo jetzt aufhört. Wir werden dort weiterhin
Polizisten ausbilden. Die UNO wird sich weiterhin engagieren. Wir haben in Bosnien-Herzegowina Verantwortung übernommen und sind auch im Gazastreifen aktiv
tätig.
Die Europäische Union ist sich ihrer wachsenden Verantwortung also nicht nur bewusst, sondern sie nimmt
sie auch wahr. Aber sie weiß auch: Sie ist nur Teil der
Zusammenarbeit mit der NATO und in den Vereinten
Nationen. Die Handlungsfähigkeit der Europäer muss
sich in jedem einzelnen Fall, in jeder Krise wieder neu
bewähren. Die Stabilisierung des westlichen Balkans
wird dabei in den kommenden Monaten mit Sicherheit
ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. In Serbien wird es
Wahlen geben. Wir werden danach vom Sondergesandten Ahtisaari einen Vorschlag bekommen, wie es mit
dem Kosovo weitergeht. Wir wissen schon heute, dass
dann die größte zivile Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Entwicklung im Kosovo begleiten muss und dass es dort zu
einer völlig neuen Qualität bei der Zusammenarbeit von
Europäischer Union und NATO kommen muss.
Wir sind parallel zur Stabilisierung des Balkans natürlich mit Afghanistan beschäftigt, mit dem Nachbarkontinent Afrika und dessen Konflikten und vor allen Dingen
mit dem Nuklearprogramm des Irans. Wir wissen:
Deutschland und auch die Europäische Union dürfen
und werden sich nicht überheben. Deutschland kennt
seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen. Wir sollten jedoch nicht übersehen, dass wir durch die Doppelpräsidentschaft natürlich ein zusätzliches Maß an Verantwortung tragen.
Ich habe in den letzten Tagen mit Präsident Mubarak
und Ministerpräsident Olmert gesprochen; denn wir wissen, dass wir gerade im Nahen Osten vor riesigen Problemen stehen. Bei der Verabschiedung des Libanonmandats waren wir uns alle hier einig: Die militärische
Option, die Präsenz unserer Soldaten vor der libanesischen Küste, ist nur eine Facette des notwendigen politischen Prozesses. So schwierig dies ist, so einig ist sich
die Bundesregierung darin, dass der Weg über eine Belebung des Nahostquartetts führen muss. Dazu gehören
immer wieder auch ungewöhnliche Schritte, wie zum
Beispiel die Reise des Außenministers nach Syrien.
Ich sage ganz deutlich: Diese Reise war ein Risiko kein Zweifel. Wir wissen auch, dass durch diese Reise
Widerspruch ausgelöst wurde. Kurzfristig hat sie auch
noch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns wünschen.
Ich sage aber auch: Diese Reise steht geradezu symbolisch für das Verständnis der Außenpolitik der gesamten
Bundesregierung.
({13})
Dieses Verständnis beinhaltet Dialogbereitschaft auch
dort, wo sie nicht selbstverständlich ist - aber immer auf
der Grundlage klarer Prinzipien und Werte. Dialogbereitschaft und klare Prinzipien und Werte - das gehört
für uns zusammen und das wird auch weiterhin so sein.
({14})
Dies werden wir auch im Zusammenhang mit Syrien,
mit dem Iran und mit den Konflikten in allen anderen
Ländern so handhaben.
Meine Damen und Herren, eine sechsmonatige Präsidentschaft beinhaltet immer die Gefahr einer gewissen
Kurzatmigkeit bei der Bewältigung riesiger Aufgaben.
Deshalb finde ich es richtig, dass sich die Europäische
Union zu Dreierpräsidentschaften entschlossen hat.
Das heißt, gemeinsam mit Portugal und Slowenien werden wir auch über die Zeit unserer Präsidentschaft hinausreichende Dinge planen, um eine gewisse Kontinuität zu erreichen. Dazu wird zum Beispiel die Vorbereitung eines EU-Afrika-Gipfels im zweiten Halbjahr des
Jahres 2007 gehören, bei dem wir Portugal unterstützen
werden.
Wir sind natürlich gut beraten, über das halbe Jahr hinaus zu denken und über den Tellerrand Europas hinaus
zu schauen. Deshalb werden die Programme, die wir
während der EU-Präsidentschaft durchführen, und die
Arbeiten im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft natürlich verknüpft. Das bedeutet ganz elementar, dass wir
unsere Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der EU,
zum Beispiel mit Russland, und unser Verhältnis zu Zentralasien sowie zu China und Indien entwickeln.
Ich begrüße es außerordentlich, dass der Bundesaußenminister die zentralasiatische Region und auch die
nordafrikanische Region besucht hat. Ich glaube, wir
müssen verstehen, dass diese Regionen auch für die Zukunft der Europäischen Union von zentralem Interesse
sind. Wenn man sich einmal anschaut, mit welcher Vehemenz Länder wie China heute eine sehr bewusste Außenpolitik betreiben, dann wird klar, dass die EU gut beraten ist, auch diese Regionen immer wieder im
Blickfeld zu haben und sich um sie zu kümmern.
({15})
Meine Damen und Herren, auch während unserer
G-8-Präsidentschaft setzen wir einen Schwerpunkt:
Wir wollen zeigen, dass es in unserer Bundesregierung
den unbedingten Willen zur politischen Gestaltung der
Globalisierung gibt. Die Globalisierung muss fairen
Regeln verpflichtet sein. Ich sage das ausdrücklich:
Dazu gehören auch Sozial- und Umweltstandards.
({16})
Natürlich - das ist vielleicht unser größtes Problem bezweifeln viele Menschen heute, dass das überhaupt
noch gelingen kann. Ich glaube aber, wir dürfen diesen
Anspruch nie aufgeben. In der Globalisierung bedeutet
das natürlich eine Gemeinsamkeit mit vielen Partnern
auf der Welt und zum Teil auch das Bohren sehr dicker
Bretter: Wir müssen Barrieren für internationale Investitionen abbauen, wir müssen die Kapitalmärkte transparenter machen, wir wollen das geistige Eigentum effektiver schützen, wir wollen die Produktpiraterie bekämpfen
und wir müssen vor allen Dingen - dazu ist die G-8-Präsidentschaft auch geeignet - im Klimaschutz weiterkommen, nämlich durch eine Verbesserung der Energieeffizienz und durch eine erhöhte Sicherheit hinsichtlich der
Energieversorgung. Schließlich wollen wir während unserer G-8-Präsidentschaft auch Afrika eine Perspektive
geben, was wir zu einem besonderen Schwerpunkt machen werden.
Meine Damen und Herren, die Doppelpräsidentschaft
im Rat der EU und in der G 8 wird uns alle fordern. Deshalb bitte ich bei der Umsetzung auch um die Unterstützung aller. Die Regierung alleine kann das nicht
schaffen. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit
von Bundesregierung, Bundestag, sowohl mit den Koalitionsfraktionen als auch mit den Oppositionsfraktionen,
und auf die Zusammenarbeit mit den Ländern an. Machen wir diese Präsidentschaften zu einem gemeinsamen nationalen Anliegen.
In diesem Jahr war die Welt für einige wunderbare
Wochen im Sommer in unserem Land wahrlich zu Gast
bei Freunden. Nächstes Jahr können wir ganz anders,
aber jeder an seinem Platz dazu beitragen, das Wachstum
und die Verantwortung in der Welt zu fördern und Europa gemeinsam gelingen zu lassen. Denn ich glaube, eines ist gewiss: Europa war und Europa bleibt die Friedensidee des 20. Jahrhunderts und Europa bleibt die Zukunftsidee des 21. Jahrhunderts. Dafür lohnt sich die
Mühe, dafür lohnt sich auch die Arbeit an Kompromissen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Dann
können wir etwas schaffen.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben um die Unterstützung für die wichtige EU-Ratspräsidentschaft aus dem
ganzen Hohen Haus gebeten. Sie haben ausdrücklich
nicht nur um die Unterstützung der Koalitionsfraktionen gebeten, sondern sich auch an die Opposition gewandt. Ich kann Ihnen jedenfalls für die liberale Opposition in diesem Hause sagen: Wir werden Sie bei Ihrem
wichtigen Anliegen, die EU-Ratspräsidentschaft zu einem Erfolg im Interesse unseres Landes zu führen, mit
Sicherheit unterstützen. Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden mit Sicherheit Ihre Arbeit begleiten,
auch kritisch, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel daran: Hier geht es um deutsches Interesse und nicht um
Opposition oder Koalition, meine sehr geehrten Damen
und Herren.
({0})
Wir haben mit dieser EU-Ratspräsidentschaft eine herausragende Chance für Deutschland. Wir haben eine herausragende Chance für Europa. Ich bin deswegen übrigens auch ein wenig verwundert, wie wenig ausgeprägt
das Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen gegenüber dieser ersten Regierungserklärung der Bundesregierung zur EU-Ratspräsidentschaft ist.
Aber, meine Damen und Herren, wir alle wollen den
Erfolg Ihrer Präsidentschaft. Deswegen will ich zu Beginn erst einmal darauf aufmerksam machen, dass die
bisherige Außen- und Europapolitik Ihrer Regierung in
einem wesentlichen Punkt eine wohltuende Korrektur
gegenüber der rot-grünen Regierungszeit erfahren hat.
({1})
Meine Damen und Herren in der Bundesregierung,
Sie haben gegenüber der Vorgängerregierung zwei
Dinge korrigiert, nicht laut angekündigt, aber doch spürbar. Es ist nicht mehr die Rede von der Achsenbildung,
es ist nicht mehr die Rede von einer Achse Paris-Berlin,
gar Moskau. Vor allen Dingen hat die Ignoranz in der
Europapolitik gegenüber den kleineren und mittleren
Staaten der Europäischen Union weitestgehend ein Ende
gefunden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Es war immer
beste Tradition deutscher Außen- und Europapolitik,
nicht nur die Großen in Europa zu sehen, sondern auch
die kleinen und mittleren Völker in Europa als Verbündete zu betrachten.
({2})
Wir erinnern uns noch, wie die Regierung Schröder/
Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit sogar mit Sanktionen
gegen unser Nachbarland Österreich arbeitete, weil dort
eine Regierungsbildung zustande kam, die aus Sicht der
rot-grünen Bundesregierung nicht gewünscht war. Deswegen ist es wohltuend, dass die Regierung Merkel/
Steinmeier dies offensichtlich korrigiert.
Wir alle werden als Volksvertreter immer wieder in
unseren Veranstaltungen gefragt, was uns Europa bringt.
Ich kann nur das aufgreifen, was die Bundeskanzlerin im
Kern als ihre Begründung genannt hat. Selbst wenn uns
Europa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen
Frieden für unser Land und in Europa selbst, dann hätte
sich der europäische Integrationsprozess längst gelohnt.
({3})
Deswegen ist es richtig, dass die europäische Erweiterung und die Erweiterung des Integrationsprozesses
- dazu zählt auch die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien - zunächst als Friedenschance gesehen wird.
Wann hat es das jemals in unserer Geschichte gegeben,
dass wir Deutschen gewissermaßen von Freunden und
Verbündeten umzingelt waren? Das sollten wir uns sehr
genau einprägen. Es ist ohne jeden Zweifel eine wunderbare Entwicklung.
Andere fürchten sich vor dem Wettbewerb, der mit
dem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder einhergeht. Wer sich vor dem Wettbewerb aus Rumänien
und Bulgarien fürchtet, den müssen wir realistischerweise darauf hinweisen, dass das erst der Anfang ist. Es
ist die Ouvertüre. Der eigentliche Wettbewerb kommt
noch auf uns zu, und zwar durch China, Indien und den
unterschätzten südamerikanischen Kontinent. Wer
meint, er könne den Wettbewerb schon innerhalb Europas nicht bestehen, der ist augenscheinlich auch mental
nicht hinreichend für die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung gewappnet.
({4})
In Wahrheit ist die Globalisierung eine sichere Entwicklung. Die beste Antwort auf die Globalisierung ist
die Schaffung eines großen europäischen Binnenmarktes
und eine koordinierte europäische Außen- und Wirtschaftspolitik. Europa ist keine weitere Bedrohung für
Deutschland, sondern unsere Antwort auf den weltweiten Wettbewerb. Es ist in erster Linie kein Risiko, sondern eine Chance für unser Land.
({5})
Deswegen stellt der Binnenmarkt gewissermaßen ein
Fitnessprogramm für diese Herausforderungen dar. Wir
werden uns daran gewöhnen müssen, in Deutschland
mehr über neue Chancen zu reden statt nur über Risiken.
Warum überlassen wir es zum Beispiel Österreich, eine
Investitionsbrücke nach Osteuropa zu bauen?
({6})
Das könnte doch auch unser nationales Projekt in
Deutschland sein.
({7})
Wenn wir über die Osterweiterung bzw. über die Erweiterung insgesamt reden, dann ist neben all dem, was
im Zusammenhang mit Zahlungen und Finanzschlüsseln
im Laufe der nächsten Monaten ohnehin zu beraten und
vielleicht auch kontrovers zu diskutieren sein wird, eine
kritische Anmerkung zu einem von Ihnen bereits angesprochenen Punkt erforderlich. Das Allermindeste, was
der Deutsche Bundestag hinsichtlich der EU-Ratspräsidentschaft von der Bundesregierung erwarten kann, ist,
dass sie sich in wesentlichen Fragen der Europapolitik
- etwa in der Türkeifrage - innerhalb der Regierung einig ist.
({8})
Es bleibt ein einmaliger Vorgang, dass der deutsche
Außenminister die eigene Bundeskanzlerin in der Türkeipolitik öffentlich per Interview zur Ordnung ruft und
anschließend der Vorsitzende der Unionsfraktion wiederum Herrn Steinmeier kritisiert. So etwas verletzt die
goldene Regel der deutschen Europa- und Außenpolitik.
In Wahrheit sind Sie sich nicht einig. Dabei sollte
man von Ihnen Einigkeit erwarten können. Sie schwächen mit der Uneinigkeit in der Türkeifrage auch die europäische Verhandlungsposition gegenüber der Türkei.
({9})
Denn es ist völlig klar, dass das Ankaraprotokoll umgesetzt werden muss. Klar ist auch, dass niemand Mitglied
der Europäischen Union werden kann, der nicht wenigstens alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorher
anerkannt hat. Das kann nicht anders gesehen werden.
({10})
Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass man
Europa nur glaubwürdig führen kann, wenn man selber
führend ist. Ich kann bei all dem, was Sie sich in Europa
- zu Recht - vornehmen, nur an Sie appellieren, Ihre
Hausaufgaben in der Innenpolitik nicht zu vernachlässigen. Die Tatsache, dass wir nun eine konjunkturelle Aufhellung erleben, darf Sie nicht dazu bewegen, vom Kurs
der strukturellen Reformen in Deutschland abzugehen;
denn in Wahrheit ist die Lage im Vergleich zu anderen
europäischen Ländern noch immer nicht komfortabel,
was allein ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik und das
Wirtschaftswachstum zeigt.
Sie haben die Energiepolitik in den Mittelpunkt gestellt. Das ist klug; denn die Energiepolitik ist eine
Schicksalsfrage nicht nur für Deutschland, sondern gerade für das hoch entwickelte Europa insgesamt. Aber
dann muss man von Ihnen erwarten, dass Sie in der
Energiepolitik auch gegenüber solchen Ländern in Europa gesprächsbereit sind, die nicht den törichten Ausstiegskurs bei der Kernenergie mitmachen wollen.
({11})
Weil in Ihrer letzten Regierungserklärung zu Recht von
den Herausforderungen die Rede war, die durch den Klimawandel auf uns zukommen: Es ist ein Fehler, wenn
sich Deutschland in der Energiepolitik verhält wie der
berühmte Geisterfahrer auf der Autobahn. Alle anderen
Länder investieren in die nukleare Kerntechnologie und
entwickeln sie weiter, während wir aussteigen wollen.
Das ist die falsche Antwort. Wir müssen vielmehr bei
den Energietechnologien durch einen Mix aus regenerativen und konventionellen Energien sowie der Kernenergie Spitze sein. Wer das ignoriert, der schadet dem
Klima; denn die CO2-Emissionen können in erster Linie
durch den Einsatz der Kernenergie reduziert werden.
({12})
Frau Bundeskanzlerin, im Forschungsbereich, insbesondere bei der Bio- und der Gentechnologie, ist es nicht
klug - Sie haben in der begrenzten Zeit Ihrer Regierungserklärung dazu nicht so viel ausführen können; das
ist verständlich -, wenn wir Deutschen beispielsweise
bei der Stammzellforschung in Europa auf der Bremse
stehen, anstatt die Chancen für neue Medikamente und
neue Technologien für unser Land zu begreifen. Es ist
nicht etwa das böse Europa, das uns in der Energiepolitik oder in der Forschungspolitik behindert. In Wahrheit
stehen wir in Deutschland auf der Bremse. Wir sind diejenigen, die den europäischen Fortschritt behindern.
Deswegen sage ich zu denjenigen, die immer davon reden, dass uns Europa nur Bürokratie bringt: In Wahrheit
hat die Bundesregierung - beispielsweise beim Antidiskriminierungsgesetz - bei dem, was aus Europa gekommen ist, noch eines draufgesetzt.
({13})
Klagen wir also nicht über Europa, sondern machen wir
unsere Arbeit in Deutschland!
Sie haben mit der bevorstehenden Präsidentschaft im
Rat der Europäischen Union eine große Chance. Es ist
eine Chance nicht nur für die Regierung, sondern für unser Land. Weil wir uns alle für unser Land verantwortlich fühlen, werden wir, die Opposition, Sie bei der EURatspräsidentschaft nach besten Kräften und im Rahmen
unserer Möglichkeiten unterstützen.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Eichel, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsidentschaft im nächsten Jahr sind eine große Herausforderung. Dabei ist die Regierung gerade ein Jahr im Amt.
Ich erinnere mich, dass das bei Rot-Grün noch ein bisschen knapper war. Die Regierung war erst ein Vierteljahr
im Amt, als sie diese Doppelpräsidentschaft zu schultern
hatte. Frau Bundeskanzlerin, das geschieht in einer Zeit,
in der die europäische Lage - das kann Vorteile, aber
auch Nachteile haben - durchaus unübersichtlicher ist.
Es ist nicht erkennbar, wer von den großen Staaten von
sich aus eine Führungsrolle in der Europäischen Union
übernehmen könnte. Es ist erfreulich, dass Italien nach
einer Reihe von Jahren unter Berlusconi, als es europäisch eine Nullnummer war, in die Mitte der europäischen Politik zurückgekehrt ist, obwohl Italien noch eine
Reihe innerstaatlicher Probleme zu bewältigen hat.
({0})
Herr Westerwelle, es hat nie eine Achse Paris-BerlinMoskau gegeben, es war nicht einmal die Rede davon,
vielmehr hat es über längere Zeit - das gilt zurzeit nicht;
das bedauere ich; das liegt nicht an Deutschland - einen
relativ starken französisch-deutschen Motor in der europäischen Integration gegeben.
({1})
Ich glaube nach wie vor, dass es gut wäre, nicht um
andere auszuschließen, aber um Einigungen möglich zu
machen - hier kann ich nur auf das hinweisen, was JeanClaude Juncker des Öfteren zu diesem Thema gesagt hat -,
wenn es einen Gleichklang zwischen Paris und Berlin in
zentralen Fragen der Europapolitik gäbe.
({2})
Deutschland - das ist ein großer Vorteil - ist den Makel, den Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, los.
Das verbessert - hier hat die Bundeskanzlerin Recht natürlich unsere Position in dieser Situation.
Anders, Herr Westerwelle, als Sie sagen, ist inzwischen die deutsche Wirtschaft, was das Wachstum betrifft, mit an der Spitze in der Eurozone und der Europäischen Union. Das kommt daher, weil anders als andere
in den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft, aber auch
die deutsche Politik eine Fülle von Entscheidungen getroffen hat, die es jetzt möglich machen, die weltwirtschaftlichen großen Chancen voll zu nutzen und in Europa nachhaltig nach vorne zu gehen, wenn uns nicht
externe Probleme, die wir nicht beeinflussen können,
wieder zurückwerfen.
({3})
Es war sowohl die Vorgängerregierung als auch die
große Koalition, die im ersten Jahr ihres Bestehens in
der Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgängig die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Das ist eine gute Basis für die EU-Ratspräsidentschaft; denn die Erwartungen sind hoch.
Das kommt auch daher, weil Sie, Frau Bundeskanzlerin - das bestreitet niemand -, kurz nach der Amtsübernahme geholfen haben, eine sehr schwierige Aufgabe in
Europa, nämlich die Finanzielle Vorausschau von 2007
bis 2013, zu lösen. Aber ich sage ausdrücklich - das
müssen wir auch unseren europäischen Partnern sagen -:
Die Erwartungen könnten auch zu hoch sein, denn es
geht - hier haben Sie Recht, Frau Bundeskanzlerin künftig in Europa in zentralen Fragen nur gemeinsam,
mit allen 27, voran oder es geht gar nicht voran. Wir sind
in vielen Fragen, anders als wir es im Verfassungsprozess gewollt haben, in der Situation, dass Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden können. Wir erleben es ja dieser Tage - ich will das im Moment gar nicht
kritisieren -, es wird sich zeigen, ob am polnischen Veto
die Aufnahme der Verhandlungen mit Russland über ein
Partnerschafts- und Kooperationsabkommen scheitert
oder nicht, ob angesichts der zyprischen Politik die weiteren Verhandlungen - das ist Gott sei Dank zurzeit abgebogen worden, auch Zypern hat das begriffen - mit
der Türkei abgebrochen werden oder nicht. Da zeigt sich
plötzlich, dass in diesem Europa auch ganz kleine Mitglieder eine ganz große Rolle spielen können. Deswegen
ist die Behauptung falsch, Herr Westerwelle, dass sich
die Vorgängerregierung nicht um die Kleinen bemüht
habe. Ich weiß, wie oft der Bundeskanzler und ich als
Finanzminister in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik, und zwar auch in den kleinen Nachbarstaaten, gewesen sind. Es gab nämlich einen sehr klugen Satz einer
hochrangigen Beamtin in diesem Hause, der lautete:
Schaff dir deine Freunde, bevor du sie brauchst; wir
brauchen sie alle. - Das ist völlig richtig.
({4})
Aber, meine Damen und Herren, alle müssen ihren
Beitrag dazu leisten. Damit sind wir bei dem nächsten
schwierigen Thema, nämlich dem Verfassungsprozess.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich ein hohes Ziel
gesteckt, nämlich vor der Europawahl 2009 klarzumachen, wie es mit der Verfassung weitergeht, und zwar gemeinsam, sodass dann die Wähler in Europa wissen, wie
und unter welchen Bedingungen künftig Europa weiter
gestaltet wird, weil es mit den jetzigen Regeln - darüber
sind sich ja im Grunde alle einig - wohl auf Dauer nicht
gehen kann. Das, meine Damen und Herren, bedeutet,
dass alle mitmachen müssen. Bis heute haben 18 Länder
Ja und zwei Länder Nein gesagt. Offen stehen bislang
noch die Voten von sieben Ländern. Ich muss übrigens
darauf hinweisen, dass von den 18 Ländern, die Ja gesagt haben, sieben Länder das in Kenntnis der negativen
Voten von Frankreich und den Niederlanden getan haben. Es ist also nicht so, dass der Ratifizierungsprozess
danach abgebrochen worden wäre. Alle müssen ihren
Beitrag leisten. Deswegen muss man denjenigen, die
Nein gesagt haben, auch sagen: Ihr müsst zur Kenntnis
nehmen, dass zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben,
und zwar die Hälfte davon in Kenntnis eures negativen
Votums.
({5})
Es ist auch wahr, dass es in Irland und Dänemark
zwei Voten gegeben hat. In diesen Ländern ist dieselbe
Frage nach dem ersten, negativen Referendum noch einmal gestellt und dann beim zweiten Referendum positiv
beantwortet worden. Ich sage nicht, dass das die Lösung
sein wird, aber ich denke schon, dass diejenigen, die
Nein gesagt haben - das ist ein kleine Minderheit -, das
in ihre eigenen Erwägungen einbeziehen müssen. Hier
gilt in der Tat: Entweder machen alle mit oder es kommt
nicht zustande. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg.
An dem Willen der deutschen Präsidentschaft fehlt es
ganz gewiss nicht. Es darf aber auch nicht an dem Willen
jedes einzelnen anderen fehlen.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in der Regierungserklärung das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell als einen Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft angesprochen. Zum Sozialmodell wird nachher
mein Kollege Axel Schäfer einiges sagen. Ich will mich
auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren. Ja, wir wollen ein wettbewerbsfähiges Europa, aber Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt gehören für uns und
auch für diejenigen, die die Lissabonstrategie erdacht
haben, untrennbar zusammen.
({6})
Wettbewerb treibt uns nicht auseinander, sondern macht
uns gemeinsam stärker und gibt uns die Fähigkeit, auch
die Schwächeren mitzunehmen. Das ist die Zielsetzung.
Nun führen wir in der Tat eine sehr kritische Diskussion
in Europa über die Koordinierung der Wirtschafts- und
Finanzpolitik, insbesondere ausgehend von Frankreich.
Das wird uns im nächsten Halbjahr auch in der deutschen Präsidentschaft erreichen. Dazu muss man einige
Takte sagen:
Erstens. Die Lissabonstrategie war am Anfang zu
sehr zerfasert. Sie ist inzwischen auf vier Themen konzentriert. Das ist richtig so. Diese sind: Wachstum und
Beschäftigung, Innovation, bessere Rechtsetzung und
Energiepolitik. Man muss an dieser Stelle klarmachen,
dass die Lissabonstrategie, die Europa zu der wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen will - ein sehr
hohes Ziel -, fundamental auf der Solidarität der Staaten
aufbaut. Darauf baut Europa überhaupt auf. Das bedeutet
auch, dass die Reicheren für die Ärmeren in Europa einstehen. Dies hat Konsequenzen, die wir klarmachen
müssen. Es geht bei der Lissabonstrategie nicht um den
Wettbewerb der Staaten, sondern es geht um den Wettbewerb der Unternehmen. Es geht darum, dass wir alle vorangehen. Dann können wir in der Tat sehen, wer der
Bessere ist, dann können wir beispielsweise sehen, dass
wir die beste Familienpolitik machen, die besten Schulen und Hochschulen haben und dass wir die besten Forschungsergebnisse und die beste Umsetzung dieser Ergebnisse in neue Produkte erzielen.
({7})
Darum geht es, aber nicht darum, dass der eine Arbeitnehmer dem anderen Arbeitnehmer - das betraf die
Dienstleistungsrichtlinie - zum Beispiel durch Sozialdumping schadet. Es geht auch nicht darum, dass der
eine Staat dem anderen Staat durch Steuerdumping das
Steuersubstrat entzieht. Deswegen sind wir nachdrücklich für eine gemeinsame Besteuerungsgrundlage bei
den Unternehmen.
({8})
Ich sage auch ausdrücklich: In der weiteren Entwicklung
kann ich mir einen gemeinsamen Markt mit 27 unterschiedlichen Steuersystemen und mit 27 völlig unterschiedlichen Sozialsystemen nicht vorstellen.
({9})
Dann ist die Freiheit der Betriebe und die Freiheit der
Menschen nicht gewährleistet.
({10})
Sie müssen in Europa perspektivisch und bei gleich guter Entwicklung der Staaten auch gleiche Chancen vorfinden.
Zweitens. Wir müssen die Strategien zusammenfassen. Es kann nicht sein, dass die Nachhaltigkeitsstrategie
von Lissabon und der Stabilitäts- und Wachstumspakt
unverbunden und zum Teil widersprüchlich nebeneinander stehen. Das müssen die wirtschaftspolitischen Leitlinien leisten. Wir haben die Instrumente in Europa und
wir haben die Gremien. Das sage ich unseren französischen Freunden. Die entscheidende Frage ist, ob die nationalen Staaten und Regierungen bereit sind, die europäische Koordinierung in ihr jeweiliges nationales
Handeln umzusetzen.
({11})
Daraus ergibt sich der europäische Mehrwert, zum Beispiel die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung, die ein zentrales Element der
Lissabonstrategie darstellen.
Drittens: Energiepolitik und Klimaschutz. Europa
muss dabei auch für die Zeit nach 2012 eine führende
Rolle spielen. Aufgrund der Tatsachen, dass wir erstens
besonders stark vom Import abhängig sind - jetzt
50 Prozent, in der Perspektive 70 Prozent unserer Energie werden importierte Energie sein - und zweitens die
fossilen Energieträger zur Neige gehen, stehen wir vor
riesigen Herausforderungen. Die erste Herausforderung
haben wir im Innern zu bewältigen. Da ist die allerwichtigste Aufgabe mehr Energieeffizienz. Mit Blick darauf
müssen wir riesigen Druck machen. Das muss eine gemeinsame europäische Anstrengung sein. Europa muss
an dieser Stelle Vorbild sein und anderen zeigen, wie es
geht.
({12})
Die zweite Herausforderung liegt in der Nutzung der regenerativen Energien und dem gemeinsamen Binnenmarkt für Gas und Strom. Darüber wird im Einzelnen
noch zu reden sein. Das bedeutet ausdrücklich auch
Wettbewerb. Deswegen muss es möglich sein - das will
der Bundeswirtschaftsminister, aber auch die Kommission -, darüber zu einem gemeinsamen Ergebnis zwischen der Bundesregierung und der Kommission zu
kommen.
({13})
Meine Damen und Herren, das hat auch Konsequenzen nach außen. Wir müssen unsere Bezugsquellen
diversifizieren: Russland, Norwegen, Nordafrika, der
Nahe Osten und auch Zentralasien. Das Thema Energiepolitik ist zu Recht ein zentrales Element der Außenpolitik. Wir müssen die Beziehungen auf eine sichere Basis
stellen. Dazu brauchen wir unter anderem das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland. Natürlich ist uns nicht egal, wie Russland sich im Innern
entwickelt; das ist wohl wahr. Aber wir müssen auch
feststellen, dass Russland immer, die ganzen Jahrzehnte
über, ein verlässlicher Partner in der Energiepolitik, bei
der Energielieferung war. Zu keiner Zeit haben wir etwas anderes erlebt.
({14})
Wir wollen, dass die Prinzipien der Energiecharta
auch in das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
aufgenommen werden. Ich denke, es ist vernünftig, eine
Verflechtung zwischen Russland und der Westeuropäischen Union auch bei der Energieversorgung herbeizuführen. Wir haben viel an Know-how und Kapital zu bieten, das die Russen für ihre Energiepolitik brauchen. Das
muss auch umgekehrt gelten; eine solche Verflechtung
kann nie einseitig sein, sondern muss in beide Richtungen gelten.
({15})
Was Polen betrifft, müssen wir diesem Land garantieren, dass es seine Gaslieferung, wenn nicht vom Osten,
vom Westen bekommt. Das kann überhaupt nicht streitig
sein. Ich hoffe, dass die finnische Präsidentschaft es
noch schafft, das Problem zu lösen. Denn, meine Damen
und Herren, auch das muss man den Polen sagen: Das
Energiethema ist für uns alle zu wichtig, als dass diese
Frage durch das Veto eines einzelnen Landes über längere Zeit verzögert werden könnte. Auch das muss klar
sein.
({16})
Zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie und das
ganze Kabinett - und alle anderen wollen sicher gerne
helfen - haben mit der Doppelpräsidentschaft eine riesige Aufgabe vor sich. Ich wünsche Ihnen dazu alles
Gute und sage ganz ausdrücklich: Die Unterstützung
ganz gewiss der SPD-Fraktion, aber nicht nur dieser,
werden Sie bei dieser Aufgabe haben.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke will ein demokratisches und soziales Europa.
({0})
Der Forderung nach einem demokratischen und sozialen
Europa wird wahrscheinlich jeder in diesem Hause zustimmen. Wenn ich aber sage, ohne ein soziales Europa
gibt es kein demokratisches Europa, dann werden sich
die Geister in diesem Hause scheiden.
({1})
Beginnen wir mit der Demokratie. Es ist öfter über
den so genannten Ratifizierungsprozess gesprochen worden. Aber noch keiner hat die Frage gestellt, wie denn eigentlich die Verfassung in Europa verabschiedet werden
soll. Ich sage in aller Klarheit, dass für uns nicht so sehr
die Frage im Vordergrund steht, wie viele Länder sich
wie entschieden haben, sondern die Frage, ob die Bevölkerung an dem Verfassungsprozess beteiligt worden ist.
Ich meine, wenn man ein demokratisches Europa will,
dann sollte man zumindest bei der Verfassung eine
Volksabstimmung fordern; denn ohne Volksabstimmung
gibt es kein demokratisches Europa.
({2})
Das gilt im Übrigen nicht nur für den Verfassungsprozess, sondern im Wesentlichen für alle Entscheidungen,
die in den letzten Jahren getroffen worden sind, ob das
die Einführung des Euro, der Vertrag von Maastricht
oder die Osterweiterung war. Meine Damen und Herren,
wir sind der festen Überzeugung, dass man ein demokratisches Europa nicht undemokratisch bauen kann, indem
man ständig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg
entscheidet.
({3})
Nun muss der Zusammenhang zwischen einem sozialen und einem demokratischen Europa nicht unmittelbar
einsichtig sein. In dem Verfassungsentwurf wird die attische Demokratie angesprochen. Ich zitiere Perikles, auf
den im Verfassungsentwurf konkret Bezug genommen
wird:
Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung
bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der
Mehrheit gehandhabt werden.
Wenn wir also ein demokratisches Europa bauen wollen, dann müssen wir die Verfassung so gestalten, dass
die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger
berücksichtigt werden und nicht die Interessen der Wirtschaft und im Wesentlichen der Großkonzerne, wie das
in den letzten Jahren geschehen ist.
({4})
Der eine oder andere wird nun sagen, das sei einfach
nur dahergesagt und nicht begründbar. Ich möchte ganz
deutlich sagen, dass diese Regierung aufgrund ihrer Politik nicht daran mitwirkt, ein soziales und damit ein demokratisches Europa zu bauen. Darüber muss geredet
werden.
Es gibt in Europa drei Fehlentwicklungen, die dazu
geführt haben, dass immer mehr Menschen diesen Einigungsprozess ablehnen und weiterhin ablehnen werden,
wenn er wie bisher gestaltet wird. Wir sollten darauf eingehen. Diese drei Fehlentwicklungen kann man bezeichnen mit Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdumping. Wenn man auf diesem Wege weiter voranschreitet,
dann wird man kein soziales und damit kein demokratisches Europa bauen können.
({5})
Ich beginne mit dem Lohndumping. Hier spielt
Deutschland eine wirklich verheerende Rolle. Die letzten veröffentlichten Zahlen, die jedem zugänglich sind,
haben gezeigt, dass die Tarifabschlüsse und die Lohnentwicklung in Deutschland - das muss man unterscheiden - im Vergleich mit allen übrigen europäischen
Staaten so nachteilig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, dass die Währungsunion wirklich gefährdet ist. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Unsere Dumpingpolitik, die durch immer niedrigere
Lohnabschlüsse und durch die fortwährende relative
Senkung der Lohnstückkosten gekennzeichnet ist, führt
in anderen europäischen Hauptstädten zu Diskussionen.
Auf diese Art und Weise baut man kein gemeinsames
Europa, sondern man macht eine Dumpingkonkurrenz
auf, die zulasten der abhängig Beschäftigten geht. Das
kann kein soziales Europa in unserem Sinne sein.
({6})
Wenn man die Lohnkonkurrenz, die das Lohndumping letztendlich verursacht, bremsen wollte, dann
brauchte man einen Mindestlohn. Wenn Sie Europa
wirklich gemeinsam bauen wollen, dann müssen Sie sich
der Mehrheit der europäischen Staaten anschließen, die
bereits einen Mindestlohn eingeführt haben. Gerade wir
in Deutschland brauchen diesen Mindestlohn.
({7})
Das Sozialdumping ist ebenfalls seit einer ganzen
Reihe von Jahren Mode geworden und insbesondere
durch uns befördert worden, was den luxemburgischen
Ministerpräsidenten veranlasste, mit Blick auf die Diskussion innerhalb der so genannten Christdemokraten zu
sagen: Europa kann man nicht bauen, wenn man einen
Wettbewerb veranstaltet, wer Arbeitnehmerrechte, insbesondere den Kündigungsschutz, am schnellsten abbaut. - Es wäre gut, wenn sich solche Einsichten auch
einmal in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen würden.
({8})
Neben Lohndumping und Sozialdumping haben wir
Steuerdumping. Es ist aber nicht so - der Kollege Eichel hat dies so dargestellt -, dass wir die unschuldigen
Opfer dieser Entwicklung sind. Ich würde das zwar
gerne feststellen, aber die Zahlen sagen etwas anderes:
Unsere Steuerquote wird gerade noch von der eines kleinen Staates unterboten. Ansonsten liegen wir hinsichtlich der Steuerquote ganz unten in Europa. Wir stoßen
das Steuerdumping in Europa an; wir nötigen sozusagen
durch unsere verfehlte Politik die anderen europäischen
Staaten zum Abbau von Sozialleistungen und von öffentlicher Leistung.
({9})
Wenn Sie sich die Unternehmensteuern anschauen
- Sie planen eine weitere Entlastung in Milliardenhöhe -, dann werden Sie feststellen, dass wir zu den
Ländern gehören, die immer wieder im so genannten
Standortwettbewerb dafür Sorge tragen, dass die Unternehmensteuern nach unten gehen. Das hat zur Konsequenz, dass die Steuern und Abgaben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach oben gehen. Dieses
Europa wollen wir nicht; wir lehnen es ab. Sie aber bringen es immer stärker auf den Weg.
({10})
Sie sind keinen Argumenten zugänglich. Schauen Sie
sich doch einmal die Lohnentwicklung und die Steuerquote an. Unsere Steuer- und Abgabenquote liegt bei
34 Prozent. In Europa liegt sie bei durchschnittlich
40 Prozent. Das ist eine Differenz von 130 Milliarden
Euro. Ich sage es noch einmal: Wenn wir die Steuer- und
Abgabenquote des europäischen Durchschnitts hätten,
wäre keine einzige der umstrittenen Maßnahmen zum
Sozialabbau in den letzten Jahren notwendig gewesen.
So traurig ist die Wirklichkeit.
({11})
Ich komme zum letzten Punkt, zur Außenpolitik. Ich
habe sehr erfreut gehört, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin,
besondere Initiativen im Nahen Osten ergreifen wollen.
Aber die Frage ist doch: mit welcher Stoßrichtung? Es
gehört, wenn wir über Europa sprechen, dazu, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Kontinent eine koloniale
Tradition hat, und zwar angefangen von Südamerika
bzw. den Conquistadores bis hin zu der Rolle verschiedener Länder - auch Deutschlands - in Afrika und jetzt
im Vorderen Orient. Diese koloniale Tradition ist nicht
zu Ende. Es ist nun einmal so, dass es im Vorderen
Orient letztendlich nicht um Freiheit und Demokratie
geht, sondern dass dort, wie beispielsweise John F. Kerry
im letzten Präsidentschaftswahlkampf wörtlich formuliert hat, amerikanische Soldaten wegen des Öls sterben.
({12})
Aber eine Außenpolitik, die auf Rohstoffimperialismus
fußt, kann niemals zum Weltfrieden beitragen.
({13})
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind am
Irakkrieg beteiligt. Man kann natürlich darüber lachen,
dass man das Völkerrecht bricht und an einem solchen
Krieg beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat
festgestellt, dass wir an diesem Krieg beteiligt sind, weil
wir die Nutzung deutscher Flughäfen ermöglichen, Infrastruktur bereitstellen, Geleitschiffe entsandt haben
usw. usf.
({14})
Frau Bundeskanzlerin, wir hätten gerne von Ihnen gehört, ob Sie im Vorderen Orient weiter Außenpolitik in
dieser Tradition betreiben wollen oder ob Sie sich endlich von einer verfehlten Außenpolitik lösen wollen, die
auf imperialen Zielen aufbaut und deshalb niemals im
Nahen Osten zu Frieden führen kann.
({15})
Man kann die Tatsachen, die Lohnentwicklung, die
Entwicklung der Sozialsysteme, die Entwicklung der
Steuersysteme und die Ergebnisse einer völlig verfehlten
Außenpolitik, ignorieren. Wir stimmen zu, dass Europa
einen besonderen Auftrag hat. Die besondere Aufgabe
besteht darin, ein Europa zu schaffen, das sozial und demokratisch ist und dem Frieden dient.
({16})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Peter Ramsauer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Kollege Lafontaine, Ihnen zuzuhören.
({0})
- Ja, es ist interessant; aber gleich werden Sie nicht mehr
klatschen. - Lieber Herr Kollege Lafontaine, Sie sitzen
mit den Nachfolgern von Sozialisten und Kommunisten
in einem Fraktionsboot
({1})
und kommen uns mit Belehrungen über Demokratie in
Deutschland und Europa.
({2})
Ich möchte Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, was
der Kollege Westerwelle vorhin vollkommen richtig gesagt hat: Sie haben nicht kapiert, dass es hier nicht um
die Koalition oder die Opposition geht, sondern um
deutsche und europäische Interessen und darum, dass
Europa eine gute Zukunft in der Welt hat.
({3})
Noch etwas gehört gesagt - wenn ich an Ihre Person,
Herr Lafontaine, anknüpfen darf -: Wenn Leute wie Sie,
Herr Lafontaine, die wie sonst niemand die deutsche
Wiedervereinigung bekämpft haben, in Deutschland die
politische Oberhand behalten hätten, dann wären wir mit
der europäischen Einigung nicht da, wo wir heute Gott
sei Dank sind.
({4})
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns allen in einer großartigen Regierungserklärung
({5})
Mut gemacht in Bezug auf das, was wir im kommenden
Halbjahr während der deutschen Präsidentschaft für Europa und Deutschland bewegen wollen.
({6})
Sie haben gesagt: „Europa gelingt gemeinsam.“ Ich füge
hinzu: Es gelingt gemeinsam, wenn wir den Menschen
Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundlage eines gelingenden Europas vermitteln können.
({7})
Dass wir daran arbeiten müssen, lehren uns die Erfahrungen, die wir mit dem europäischen Verfassungsvertrag gemacht haben. Die Bürgerinnen und Bürger in
Frankreich und Holland haben in den jeweiligen Referenden nicht etwa deshalb Nein zum Verfassungsvertrag
gesagt, weil sie den Entwurf von der ersten bis zur letzten Seite durchstudiert haben.
({8})
Sie haben deshalb Nein gesagt, weil sie ein mulmiges
Gefühl hatten, weil Vertrauen und Verlässlichkeit nicht
gewährleistet waren, weil für sie Europa nicht mit einer
glänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie keinen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen, wie Sie es,
Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, und sie die
Europäische Union mit ausufernden Bürokratismen, Unübersehbarkeiten und mit der unbeantworteten Frage in
Zusammenhang gebracht haben, wie weit die Europäische Union eines Tages gehen wird, wo die Grenzen
festgelegt werden. Das sind Fragen, mit denen wir uns
konstruktiv auseinander setzen müssen.
({9})
Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vor
wenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens
gestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bundestag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum
1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir haben
auch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einen
entscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen.
Wir haben beschlossen:
Der Deutsche Bundestag … hält vom Beginn des
Beitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich,
sollten die von der Kommission genannten Defizite
nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein.
({10})
Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin,
dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilt
haben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ich
möchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss natürlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterien
jetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrief
festgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind,
dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Beitrittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unserer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert werden. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommission
die Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dann
riskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwischen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite.
({11})
Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wir
uns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bürgern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln
wollen.
Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkei
muss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauen
und Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich auf
das Verhandlungsgebaren der Europäischen Union verlassen können.
({12})
- Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten,
die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EU
beigetreten sind.
Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sind
es 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben das
Rechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire,
immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegte
Übergangsfristen.
Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicher
und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisen
und die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat.
({13})
Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergangenen Montag konsequent Schlussfolgerungen daraus
gezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessen
Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat - das hat die
Frau Bundeskanzlerin ausgeführt -, nicht erfüllt worden
ist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlossen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was als
Antwort erforderlich war.
Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des Ankaraprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmitgliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltung
des Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. Die
Einhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Wenn entgegenkommenderweise - ich verweise
noch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen - die Beitrittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohl
diese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das entsprechend Berücksichtigung finden.
Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass es im Inneren der Türkei Widerstände gibt, dass es unglaublich
schwierig ist, diese Nation nach Europa zu führen. Die
Türkei befindet sich nämlich in einem großen Dilemma:
In der Türkei gibt es nicht nur eine horizontale kulturelle Vielfalt - das ist für europäische Länder normal -,
sondern auch eine vertikale kulturelle Vielfalt im historischen Längsschnitt. Ich kenne die Türkei gut genug, um
sagen zu können, dass dort - zwischen Istanbul im Westen und Ostanatolien - die Kulturen verschiedener Jahrhunderte wie im Zeitraffer im Hier und Jetzt nebeneinander stehen. Für die Türkei ist es ungeheuer schwierig,
alles, was damit zusammenhängt, zu bewältigen.
({14})
Es wäre aber vollkommen falsch, wenn die Europäische
Union das als Begründung dafür heranziehen würde, in
ihrem Verhandlungsgebaren nachgiebiger zu werden.
({15})
Dieses Unvermögen der Türkei bzw. das Dilemma, in
dem sie steckt, darf nicht zur Forderung nach einer Verhandlungsnachgiebigkeit führen. Es muss vielmehr zu
der Frage führen, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkei
angesichts dessen überhaupt - auch für die Türkei - die
adäquate Lösung ist, ob eine andere Form der allerengsten Anbindung an Europa nicht im ureigenen Interesse
der Türkei liegt. Wir stoßen die Türkei nicht zurück, wir
strecken die Hand zu einer ganz besonders engen Partnerschaft aus. Ich glaube, die Türkei täte sich im Hinblick auf ihren inneren Frieden, auf das Bewahren ihrer
inneren Kohäsion und ihrer kulturellen Traditionen einen Gefallen, wenn sie nicht sofort dem Acquis communautaire beitreten würde; denn eine Vollmitgliedschaft verlangt einem Staat viel ab.
({16})
Wir müssen bei der Erweiterung der EU natürlich darauf achten, dass sie auf lange Sicht sinnvoll und sinnstiftend ist und das erfüllt, was die Bürger in Europa erwarten. Dazu gehört auch die Frage, wie es auf dem Balkan weitergeht. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen,
dass es jetzt vollkommen klar ist, dass die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgekoppelt sind und nicht
mehr, wie es einmal versucht worden ist, im Gleichschritt mit den Verhandlungen mit der Türkei laufen.
Kroatien hat eine exzellente Beitrittsperspektive.
({17})
Wir müssen aber klar machen - vielleicht muss das
im Rahmen des Verfassungsvertrages in nicht allzu ferner Zeit beschlossen werden -, dass es auf Dauer nicht
angeht, dass kleine Länder eine x-beliebige staatliche
Zellteilung betreiben - auf dem Balkan gab es jüngst ein
solches Referendum - und trotzdem die vollen Rechte
eines souveränen Staates in der Europäischen Union in
Anspruch nehmen wollen. Dafür haben die Menschen in
Europa auf Dauer kein Verständnis.
({18})
Wenn wir über den Verfassungsvertrag sprechen, ist
es wichtig, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür zu danken, dass Sie vor wenigen Wochen noch einmal vollkommen unmissverständlich klar gemacht haben, dass
wir - ich spreche hier für meine Fraktion - einen Gottesbezug in der Präambel des Verfassungsvertrages
wollen. Dazu stehen wir und daran lassen wir uns messen.
({19})
Im kommenden Halbjahr stehen viele wichtige Projekte auf der Tagesordnung: die Entscheidungsverfahren
verbessern, eine glaubhafte Subsidiaritätsstruktur entwickeln und vor allen Dingen die Liberalisierung der
Energiemärkte weiterbetreiben. Hier haben wir einen erheblichen Nachholbedarf. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister an seinem heutigen Geburtstag vielmals
dafür, mit welch unglaublicher Energie er auf die weitere
Liberalisierung der Energiemärkte in Europa, aber auch
in weltweiten Zusammenhängen hinwirkt.
({20})
Ich habe gesagt, dass wir auf diesem Gebiet einiges
nachzuholen haben. Ich kann mich gut an die Zeit vor
zehn Jahren erinnern, als wir die Liberalisierung der
Energiemärkte in Europa auf Grundlage der Liberalisierungsrichtlinie angegangen sind. Ich habe damals immer gesagt: Wir können nur Ja zur Liberalisierung sagen
- wir Deutsche haben sie übrigens als Allererste konsequent durchgeführt, und zwar auf allen Spannungsebenen, energiewirtschaftlich betrachtet - unter der Vorbedingung, dass Frankreich ein Entflechtungskonzept für
die EDF vorlegt. Das ist bis heute nicht geschehen. Es
wäre richtig gewesen, wenn wir das damals wesentlich
konsequenter eingefordert hätten. Jetzt müssen wir die
Hausaufgaben erledigen.
Wir müssen das Problem der Produktpiraterie angehen und Entbürokratisierung durchsetzen. Dies beginnt damit, dass das Entstehen neuer Bürokratie in
Brüssel unterbunden wird.
({21})
In dieser Hinsicht verspreche ich mir viel von den neuen
Verzahnungen der Informationsstränge; dadurch wird
uns dies besser gelingen.
({22})
- Man kann zumindest Zeichen setzen.
({23})
Wenn man es mit dem Unterbinden der Bürokratie
ernst meint, dann muss man dies an ganz konkreten
Punkten festmachen, so wie wir dies jetzt mit der Ablehnung der Umsetzung der verrückten Feuerzeugverordnung in deutsches Recht getan haben. Wer selbst Erfahrungen mit Kindern hat, der weiß, dass man noch so
viele Versuche mit Hundertschaften von Kindern und
Feuerzeugen machen kann: Die Kinder sind nicht so
dumm,
({24})
als dass sie damit nichts anrichten könnten. - Hier ist
Vernunft angesagt. Denen in Brüssel, die an den Normen
arbeiten, möchte ich eines ins Stammbuch schreiben:
Meine Damen und Herren in Brüssel, spart euch etwas
von der intellektuellen Kälte! Mit mehr Herz und Verstand gewinnt ihr eher das Vertrauen der Menschen in
Europa als mit bürgerferner intellektueller Kälte.
({25})
In wenigen Monaten feiern wir in Deutschland das
Jubiläum der Römischen Verträge. Dieses Ereignis im
wiedervereinigten Deutschland und gerade hier in Berlin
unterstreicht wie kein anderes Symbol, wie sehr Europa
einig geworden ist. Es zeigt auch, dass wir in diesen
sechs Monaten eine ganz exzellente Chance haben - vor
allem durch die Koppelung von EU-Ratspräsidentschaft
und G-8-Präsidentschaft -, das Vertrauen in uns und unsere Verlässlichkeit
({26})
in den Augen unserer Bürger wieder zu fördern und zum
Teil wiederherzustellen, aber auch das Vertrauen und die
Verlässlichkeit zwischen Deutschland, Europa und der
übrigen Welt.
Vielen herzlichen Dank.
({27})
Bevor ich dem Kollegen Keskin das Wort zu einer
Kurzintervention erteile, möchte ich dazu ermahnen, bei
Zwischenrufen, die hier oben nicht immer zweifelsfrei
zu identifizieren sind - schon gar nicht, wenn sie alle
gleichzeitig erfolgen -, bewährte parlamentarische Umgangsformen einzuhalten. Gelegentlich, Herr Kollege
Lafontaine, gibt es Formulierungen, die wir hier eher zu
vermeiden bemüht sind.
({0})
- Noch vorsichtiger ließ sich das kaum formulieren, als
ich es gerade getan habe.
({1})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nun hat der Kollege Keskin Gelegenheit zu einer
Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Dr. Ramsauer,
Sie haben in Bezug auf das Verhalten der Türkei gegenüber der EU von Verlässlichkeit und Vertrauen gesprochen. Hier gebe ich Ihnen Recht. Aber meinen Sie nicht,
dass dies nicht auch für Ihre Verlässlichkeit, für die Haltung Ihrer Partei und die des Vorsitzenden der CSU,
Herrn Stoiber, zu gelten hat, der sich trotz der vertraglichen Vereinbarung, dass mit der Türkei Beitrittsverhandlungen geführt werden, immer wieder gegen einen EUBeitritt der Türkei ausspricht und dieses Vertrauen und
diese Verlässlichkeit somit in hohem Maße verletzt?
Zur Verlässlichkeit gehört auch, dass die EU ihre Zusicherungen gegenüber der Türkei erfüllen muss. Die
Frau Bundeskanzlerin und Herr Westerwelle haben in ihren Reden aber nur den einen Teil der Wahrheit gesagt.
Zum anderen Teil der Wahrheit gehört, dass im Gegenzug zur Zusicherung der Türkei, das Ankarazusatzprotokoll auf Südzypern auszudehnen, die EU direkte Handelsbeziehungen mit Nordzypern, dem türkischen Teil
Zyperns, aufnimmt und das Embargo bzw. die Isolation
dieses Teils Zyperns beendet. Hiervon ist aber überhaupt
keine Rede. Die Umsetzung dieser Vereinbarung ist bislang ausgeblieben. Diese Umsetzung aber hat die Türkei
verlangt.
Die linke Fraktion legt sehr großen Wert auf Gerechtigkeit.
({0})
Dazu gehört nicht nur Gerechtigkeit gegenüber Menschen, sondern auch Gerechtigkeit gegenüber anderen
Ländern.
Danke sehr.
({1})
Ich sehe mir das gerne im Protokoll an.
Besteht der Wunsch zu einer Erwiderung? - Das ist
nicht der Fall.
({0})
Dann erteile ich als nächster Rednerin der Kollegin
Renate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Herausforderungen angesichts der EURatspräsidentschaft, die Deutschland ab dem 1. Januar
2007 innehaben wird, sind groß. Deutschland erwartet
und wir erwarten von Ihnen, dass Sie konkret sagen, in
welche Richtung Sie gehen wollen, welche Instrumente
Sie nutzen wollen, mit wem Sie Bündnisse schließen
wollen und wie Sie Ihre Ziele erreichen wollen. Aber ich
muss Ihnen, Frau Merkel, sagen: Sie haben Ihre Ziele
nicht konkret benannt. Ihre Rede war seltsam, blutleer
und dürftig.
({0})
Sie reden immer im Ungefähren. Man kann heute
feststellen, dass Sie im Hinblick auf die deutsche EURatspräsidentschaft, die in den nächsten Tagen beginnt,
nicht gut aufgestellt sind. Warum? Üblicherweise trägt
jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union, bevor er die
EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür Sorge, dass er
selbst in keine Konflikte verwickelt ist, seine eigenen
Probleme gelöst hat und seine Hausaufgaben gemacht
hat. Sie aber übernehmen die Präsidentschaft vor dem
Hintergrund eines blauen Briefs aus Brüssel zum Emissionshandel, einer Abmahnung bezüglich der Reduzierung der Treibhausgasemissionen und einer, wie ich
finde, wirklich unnötigen Eskalation bei den Verhandlungen mit der Türkei, zu der Sie persönlich beigetragen
haben. Ich meine, Sie haben einen Klotz am Bein und
genau an der Stelle müssen Sie nachbessern.
({1})
In Ihrer Rede fehlte es an Konkretisierung. Ich will
Ihnen einmal sagen, was wir erwarten, und dabei von außen nach innen gehen. Frau Merkel, Sie sagen hier mit
großer Weltsicht: Wir müssen Afrika helfen, sich zu entwickeln in Frieden und Wohlstand. - Wie kann man Afrika helfen wollen, ohne heute hier das Wort „Darfur“
auszusprechen? Eine Lösung für diesen Konflikt gehört
doch zu einem solchen Konzept dazu.
({2})
Wir können - das wissen wir doch - Afrika nur helfen,
wenn wir ihm helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln,
sich politisch weiter zusammenzuschließen. Wir können
Afrika nicht helfen, indem wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass pro Jahr mehr als tausend Menschen an den europäischen Außengrenzen oder auf hoher See versterben,
ertrinken. Wir können als Antwort nicht die Polizeifestung Europa dagegensetzen, sondern da müssen Sie, Frau
Merkel, ein Konzept zur Entwicklung Afrikas vorlegen.
Sie müssen aber auch sagen, wie die Migrations- und
Flüchtlingspolitik für Europa aussehen soll. Das wäre
eine Antwort und nicht nur das Ungefähre.
({3})
Wir erwarten von Ihnen auch, dass das Gerede über
die Türkei endlich aufhört. Ich muss ehrlich sagen, ich
wundere mich über die Rede von Herrn Ramsauer. Herr
Ramsauer, wie kann man eigentlich bei weit mehr als
zehn Minuten Redezeit der draußen staunenden Öffentlichkeit immer nur Bedenken und Kritik im Hinblick auf
einen Beitritt der Türkei vermitteln?
({4})
Das ist ein Fehler, das ist populistisch und das ist das Gegenteil von dem, was Ihr früherer Bundeskanzler Helmut
Kohl einmal als Perspektive für die Türkei eröffnet hat,
im deutschen Interesse und im europäischen Interesse.
({5})
Sie haben sich selber entlarvt - nicht dass wir es nicht
schon vorher gewusst hätten -, indem Sie, nachdem Sie
so breit die Probleme eines Beitritts der Türkei erörtert
haben, bei Kroatien als guter Katholik gleich Ja gesagt
haben.
({6})
Ich will gar nicht negieren, dass Kroatien weit entwickelt ist. Aber, Herr Ramsauer, so kann man Europa, die
Erweiterung der Europäischen Union und eine europäische Nachbarschaftspolitik nicht entwickeln; damit
kommen Sie den europäischen Interessen nicht nach.
({7})
Frau Merkel, Sie haben meines Erachtens ordentlich
auf den Tisch geschlagen - allerdings in einem negativem Sinne -, als es um die Türkei ging. Wir sind, ehrlich
gesagt, froh, dass sich an dieser Stelle nicht Sie in Brüssel durchgesetzt haben, sondern Ihr Außenminister, Herr
Steinmeier.
({8})
Wir erwarten von der deutschen Präsidentschaft ein
aktives Engagement hinsichtlich des Nahen Ostens.
({9})
Wir erwarten, dass Europa seiner Verpflichtung nachkommt, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen. Es
darf hier nicht passieren, dass man sich hinter dem internationalen Desinteresse, zum Beispiel der USA, versteckt. Deutschland muss an dieser Stelle mehr als koordinieren. Deutschland darf nicht einfach sagen, der
Besuch von Herrn Steinmeier in Syrien sei eine ungewöhnliche Maßnahme gewesen. Das hört sich an wie
eine Distanzierung Frau Merkels. Wir sagen ganz klar:
Man muss mit diesen Ländern reden, auch mit Syrien,
und ihnen eine Perspektive geben. Deutschland ist spät
genug dran.
({10})
Ich will noch zwei Dinge nennen, die wir erwarten.
Wir erwarten, dass im Bereich Klima- und Energiepolitik in dieser Dekade tatsächlich Schritte unternommen
werden. Obwohl Sie viele allgemeine Punkte benannt
haben, Frau Merkel, ist mir nach Ihrer Rede immer noch
unklar, wen Sie eigentlich unterstützen. Unterstützen Sie
Sigmar Gabriel, der 30 Prozent weniger Emissionen
will? Oder unterstützen Sie Günter Verheugen, der
15 Prozent weniger Emissionen will?
({11})
Genau davon hängt ab, ob Europa seine Klimaziele erreicht, ob Europa eine Vorreiterrolle haben kann. Nur
wenn Sie endlich aussprechen: „Minus 30 Prozent bei
den Emissionen“, sind Sie überhaupt in der Lage, in
Europa oder auf dem G-8-Gipfel eine Vorreiterrolle einzunehmen.
({12})
Stattdessen stehen Sie hier mit einem blauen Brief und
haben ein Abmahnungsverfahren am Hals. Und da sagen
Sie uns, man müsse auch weitere Schritte einleiten! In
der Tat, Frau Merkel, wir brauchen weitere Schritte.
Doch um diese Schritte überhaupt machen zu können,
müssen wir den Verkehr in den Emissionshandel einbeziehen und wir müssen überlegen, ob Europas internes
Kontrollsystem in Sachen Klima und Ökologie hinreichend ist.
Nach vielen Jahren gegenteiliger Arbeit durch die
CDU/CSU-Fraktion hat Frau Merkel heute hier gesagt
- ich freue mich, dass Sie das angesprochen haben -,
auch im internationalen Welthandel müssten soziale und
ökologische Kriterien verankert werden.
({13})
Darauf kann ich nur sagen: Sie sind endlich angekommen. Aber wenn Sie das erreichen wollen, dann müssen
Sie erst einmal einen großen Schritt in Europa gehen.
Danach gehen wir mit Ihnen gerne einen Schritt weiter,
wenn es darum geht, dass im WTO-Handel ökologische
und soziale Kriterien verankert werden. Das fehlt bisher.
Die WTO legitimiert in Wahrheit nur Raubbau.
({14})
Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie bei der
Weiterentwicklung der Bereiche Justiz und Inneres
darauf achten, dass es auch in Zukunft noch Datenschutz- und Verteidigungsrechte gibt. Dazu haben Sie
kein Wort gesagt. Wir reden hier über eine Weiterentwicklung im Asylbereich, was das Thema Migranten betrifft, und über eine Zusammenarbeit in den Bereichen
Inneres und Justiz. Aber Sie haben am Ende nur einen
internationalen Datenaustausch zu bieten, der Zugriff auf
sämtliche nationale Datenbanken innerhalb der Europäischen Union ermöglicht. Dazu kann ich nur sagen: Es ist
nicht unsere Vorstellung von Europa, dass wir den gläsernen europäischen Bürger bekommen.
({15})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Thema
Römische Verträge sagen. Wir werden im März des
kommenden Jahres die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Römische Verträge und Euratom begehen. Wir müssen der
Europäischen Union einen Sinn einhauchen. Die Menschen im Lande fragen sich, wozu sie die Europäische
Union brauchen. Keiner glaubt heute mehr, dass diese
Europäische Union dazu da sein soll, der „Subventionitis“ zu frönen. Keiner glaubt heute mehr, dass sie dazu
da ist, dass weiterhin Kohle produziert und verwendet
wird. Keiner glaubt heute mehr - das richte ich besonders an Sie, Herr Westerwelle -, dass unsere Zukunft in
der Atomenergie liegt.
({16})
- Bis auf einen Geisterfahrer, sage ich Ihnen.
Frau Merkel, wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, um die Weltwirtschaft und den Weltmarkt beeinflussen zu können. Wir brauchen in der EU ein Zusammenleben der Religionen. Darüber müssen wir reden
und dürfen niemanden ausgrenzen. Wir brauchen eine
öffentliche Debatte über Europa im Bundestag und in
der Gesellschaft. Frau Merkel, Sie haben in Ihrem letzten Satz gesagt, dass Sie genau das anbieten. Ich sage in
meinem letzten Satz: Wir sind bereit, über ein offenes
Europa zu diskutieren, das seine Aufgaben beim Thema
Klimaschutz und Soziales erledigt. Aber dann dürfen Sie
nicht in einer Art klandestiner Politik eine Berliner Erklärung vorbereiten, bei der nicht einmal der Deutsche
Bundestag einbezogen wird. Lassen Sie uns gemeinsam
daran arbeiten! Aber dazu gehört auch eine offene Diskussion.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa gelingt gemeinsam in der deutschen Ratspräsidentschaft mit dieser großen Koalition.
Wir werden uns dabei in die Tradition deutscher Ratspräsidentschaften stellen. Ich möchte kurz die beiden
letzten nennen:
Während der Ratspräsidentschaft 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder waren wir außergewöhnlich
erfolgreich. Ich denke nur an die Beauftragung eines
Konvents zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta, an
die Lösung des Kosovokonflikts, an die Bewältigung der
Kommissionskrise und an die Einigung über die Agenda
2000.
Wir stehen auch in der Kontinuität zur Politik von
Bundeskanzler Helmut Kohl 1994. Damals haben wir erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik erreicht. An Gesetzen wurde die
Richtlinie über Europäische Betriebsräte verwirklicht.
Es wurde das gemeinsame kommunale Wahlrecht für
alle Bürgerinnen und Bürger realisiert. - Die Ratspräsidentschaften 1994 und 1999 waren Erfolge, auf denen
wir aufbauen werden.
({0})
Dazwischen liegen 13 Jahre. Bis 2007 wird die Zahl
der Mitgliedsländer der EU von zwölf auf 27 wachsen.
Wir haben eine gemeinsame Währung und entscheiden
gleichberechtigt im Europäischen Parlament. Diese Erfolge und diese Dimension müssen wir uns deutlich machen, auch wissend, dass die darauf folgende Ratspräsidentschaft - das ist die Dimension - erst wieder in
13 Jahren, nämlich 2020, sein wird.
Was sind nun die besonderen Herausforderungen
während unserer Ratspräsidentschaft?
Erstens wird es darum gehen, Wirtschaft, Soziales
und Ökologie zusammenzuführen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Entscheidend
ist, dass wir das europäische Sozialmodell weiterentwickeln.
({1})
Wir müssen das noch einmal ins Bewusstsein rücken:
Das europäische Sozialmodell basiert auf starken Gewerkschaften - Ordnungsfaktor und Gegenmacht -, auf
Gleichberechtigung - Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf
gleicher Augenhöhe -, auf Solidarität und auf staatlicher
Mitverantwortung. Es ist das Gegenteil von kalter Globalisierung und Ellenbogengesellschaft. Europa funktioniert nur als Sozialgemeinschaft.
({2})
Deshalb ist das, was sich die Bundesregierung konkret in diesem Bereich vorgenommen hat, gut:
Erstens. Wir fordern die Kommission auf, sicherzustellen, dass die Gesetze auch auf ihre sozialen Auswirkungen hin und nicht nur hinsichtlich einer allgemeinen
Realisierung des Binnenmarktes konzipiert werden.
Zweitens. Wir setzen die Beschäftigungsstrategie fort.
Drittens. Wir werden dort weiterhin erfolgreich sein, wo
wir bisher schon am meisten geleistet haben, nämlich im
Gesundheits- und Arbeitsschutz. Viertens. Mit einem
Programm für die Jahre 2006 bis 2010 entwickeln wir
weitere Konzepte für die Gleichstellung von Männern
und Frauen.
({3})
Fünftens. Wir sind auch mit speziellen Maßnahmen zur
Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit aktiv.
Das alles sind wichtige und zentrale Bereiche für uns
und das werden auch die Sozialdemokraten in der Bundesregierung, ihre Ministerinnen und Minister tragen.
Möglich wurde das erst, weil wir es unter deutscher
Axel Schäfer ({4})
Mitwirkung bei der Gestaltung der Finanzvorausschau 2013 im letzten Jahr geschafft haben, dass in diesen europäischen Haushalt enorme Mittel eingestellt
wurden, um diese Herausforderungen - soziale Gerechtigkeit, Beschäftigungsförderung, Bekämpfung von Benachteiligungen und Förderung von strukturschwachen
Regionen - erfolgreich bewältigen zu können, anstatt,
wie in früheren Zeiten, lediglich den Agrarsektor zu subventionieren.
({5})
Kolleginnen und Kollegen, zweitens werden wir den
Verfassungsprozess voranbringen und einen erfolgreichen Pfeiler setzen, der eine Brücke über die portugiesische und slowenische bis hin zur französischen Präsidentschaft tragen wird, sodass wir zu neuen Grundlagen
- auch verfassungsrechtlichen - in dieser Europäischen
Union kommen werden.
Liebe Bundesregierung, hier haben wir eine ganz
klare Erwartung. 18 Länder haben den Verfassungsvertrag ratifiziert. Wir sagen selbstbewusst, dass das ein gemeinsamer Erfolg ist. Nicht wir müssen uns bewegen,
sondern die neun Länder, die noch nicht ratifiziert haben
oder in denen die Referenden - in zwei Fällen - negativ
ausgefallen sind. Sie sind jetzt in der Bringschuld. Wir
müssen Brücken bauen und sie mitnehmen, aber diese
Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Mit
der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages sind sie
nämlich die Verantwortung eingegangen, den Verfassungsvertrag auch zu ratifizieren. Anstatt dass diese
Länder und Regierungen - teilweise sind die Personen
identisch mit denen, die ihn 2003 unterschrieben haben dieses Werk beiseite stellen, sich zurücklehnen und die
Entwicklung von außen betrachten, müssen sie von uns
in die Verantwortung genommen werden. Das werden
wir auch tun.
({6})
Ein Drittes. Wir betreiben eine europäische Politik
für die Menschen - Politik, um das Leben der Menschen zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, auch einmal
die Erwartungen der Menschen an uns in den Blick zu
nehmen. Über 80 Prozent sagen, dass wir eine starke Europäische Union im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung und für die äußere und innere Sicherheit brauchen. Dieser Erwartung der Menschen, die ein
Stückchen skeptischer als früher geworden sind, ob wir
das tatsächlich gemeinsam schaffen, müssen wir gerecht
werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung hierbei nicht nur eine - wenn auch notwendige Kommunikationsstrategie fährt, sondern dass sie mit all
ihrem Handeln auch deutlich macht: Deutsche Interessen
werden am besten in Europa vertreten und Erfolge in Europa sind Erfolge auch für unser Land. Wir müssen ein
bewusstes Gegenbild zu manchen Regierungen setzen
- ersparen Sie mir, dass ich sie namentlich nenne -, die
nur nach dem Motto verfahren: „Europa ist uns eigentlich egal und alles Schlechte kommt aus Brüssel. Es ist
entscheidend, dass wir uns national gegen andere durchsetzen.“ Nein, das ist ein falsches Europabild. Richtig
ist: Wir können in Europa nur gemeinsam erfolgreich
sein - indem wir zu einem Interessenausgleich kommen
und indem wir nicht das scheinbare nationale Interesse
gegen die Europäische Gemeinschaft richten. Das muss
unsere gemeinsame Verpflichtung in dieser Koalition
und auch im Deutschen Bundestag sein.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa gelingt gemeinsam. Es gelingt auch aufgrund von Regierungskontinuitäten, die in den Personen anzuschauen sind. Schon
in der Ratspräsidentschaft 1994 war die jetzige Kanzlerin Ministerin. Schon in der Ratspräsidentschaft 1999
war die jetzige Entwicklungsministerin im Amt und der
jetzige Außenminister hatte eine wichtige Verantwortung. Die haben sie wahrgenommen. Oskar Lafontaine
hat damals seine Verantwortung nicht wahrgenommen.
Deshalb ist es ihm so leicht, hier verantwortungslose Reden zu halten.
({8})
Ich glaube, wir machen die Präsidentschaft zu einem
Erfolg im blochschen Sinne, nämlich getragen von der
Hoffnung, ins Gelingen verliebt. Deshalb wird diese
europäische Ratspräsidentschaft gemeinsam gelingen.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion
Die Linke, das Wort.
({0})
Lieber Kollege Ramsauer, am Anfang zwei Tipps:
Schauen Sie sich einmal die Protokollstelle an, an der
Sie davon sprechen, dass Sie es mit dem Unterbinden
von Demokratie ernst nehmen wollen. Korrigieren Sie
das, damit es nicht so stehen bleibt. Anstatt anderen Demokratiedefizite vorzuhalten und sie für ungebildet zu
erklären, sollten Sie die Mehrheit der Menschen, die in
Frankreich den EU-Verfassungstext abgelehnt haben,
endlich ernst nehmen.
({0})
Wer, wie wir, einen besseren EU-Verfassungsvertrag
will, darf über die deutsche Verfassung, das Verhältnis
der EU-Verfassung zu unserem Grundgesetz nicht
schweigen. Auch durch eine europäische Verfassungsordnung dürfen Art. 1 und 20 des Grundgesetzes in ihrem Wesen nicht beeinträchtigt werden. Das lässt Art. 79
Abs. 3 nicht zu.
Mit diesen unabänderlichen Bindungen ist eine Ordnung unvereinbar, die, dem neoliberalen Zeitgeist folgend, die Menschen als Humankapital der Herrschaft
des Profits unterwirft, ihnen also den Eigenwert als
Menschen nimmt.
Hierzu ein Zitat, Kollege Schäfer:
In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten
Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet.
({1})
Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine
neue Wirtschafts- und Sozialordnung.
Kollege Schäfer, das steht so nicht im Manifest von
Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, das steht auch nicht
in Ihrem gültigen SPD-Parteiprogramm, das immer noch
die Unterschrift von Oskar Lafontaine trägt, sondern das
ist ein Zitat aus dem Godesberger Programm.
Wer aber die Würde der Menschen, wer ihre Bedürfnisse als Ausgangspunkt allen staatlichen und auch allen
abgeleiteten supranationalen Handelns ernst nimmt, der
kann eine Verengung auf die geltende ungerechte Wirtschaftsordnung nicht wollen. Jede Wirtschaftsordnung
muss sich in ihren konkreten Auswirkungen auf die
Würde der Menschen immer wieder von neuem an den
genannten Grundprinzipien messen lassen.
({2})
Und sie muss erforderlichenfalls auch abgewählt werden
dürfen. Das meint das Grundgesetz auch mit der Freiheit
der Wähler, und zwar in seinen Vorschriften über die Eigentumsordnung in den Art. 14 und 15. Hier gibt es die
Gewährleistung des Eigentums, aber auch seine verbindliche Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Es gibt die
Möglichkeit der Enteignung der Deutschen Bank und
anderer Konzerne im Interesse der Allgemeinheit und
auch die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln durch ihre Überführung in Gemeineigentum.
({3})
Damit zielt das Grundgesetz zwar nicht auf eine andere
Wirtschaftsordnung, aber es gibt den Wählerinnen und
Wählern die Freiheit, den Kapitalismus abzuwählen. Das
hat das Bundesverfassungsgericht 1954 in seiner Entscheidung zum Investitionshilfegesetz ausdrücklich dargelegt und das ist bis heute gültig.
({4})
Wenn die FDP beispielsweise in einem Antrag fordert, ausgerechnet Art. 15 aus dem Grundgesetz zu streichen, so zeigt dies, dass sie den Wählern die Freiheit
nehmen will, den Kapitalismus abzuwählen. Freiheit ist
aber gerade hier auch die Freiheit der Andersdenkenden.
({5})
Auch dass die EU-Verfassung diese Freiheit einschränken will, sodass die Abwahl des Kapitalismus
nicht mehr möglich sein soll, ist mit der Würde der Menschen und ihrer Unantastbarkeit ebenso wenig vereinbar
wie mit den Prinzipien der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit. In diesem Sinne wiederhole ich
Herr Kollege!
- ich komme zum Schluss -: Wir wollen einen anderen EU-Verfassungsvertrag. Dabei wollen wir aber nicht
das Grundgesetz auf dem Altar des neoliberalen Zeitgeistes opfern lassen. In dieser Hinsicht bleiben wir Verfassungspatrioten, auch wenn wir die Einzigen in diesem
Hause wären.
({0})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt nachdrücklich, dass die EU-Außenminister in der Frage der
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Einigung gefunden haben. Jetzt herrscht Klarheit, wie der Prozess
weitergehen soll. Es ist auch zu begrüßen, dass Zypern
nicht länger die Freigabe der Finanzmittel für den nördlichen Teil der Insel blockieren will. Auch das war überfällig und hat die Beziehungen zur Türkei zu lange unnötig belastet.
({0})
Ich will in aller Deutlichkeit feststellen: Wir haben
ein nachdrückliches Interesse daran, dass die Türkei den
begonnenen Reformprozess fortsetzt. Die Beitrittsverhandlungen sind dafür ein Katalysator. Niemand will
also die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen.
({1})
Wir müssen aber - ich denke, auch darin sind wir uns einig - weiter auf die Erfüllung der politischen Voraussetzungen wie die Religionsfreiheit oder die Abschaffung
des Strafrechtsparagrafen 301 drängen, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt. Denn das sind
Voraussetzungen - Kollege Ramsauer hat zu Recht darauf hingewiesen -, die nach den Kopenhagener Kriterien eigentlich vor Beginn der Beitrittsverhandlungen
hätten erfüllt sein müssen.
({2})
Dazu gehört auch die Erfüllung des Ankaraprotokolls,
zu der sich die Türkei schon im September letzten Jahres
verpflichtet hat. Erfüllung heißt, dass die Häfen und
Flughäfen in der Türkei - also nicht nur ein Hafen und
ein Flughafen - auch für Schiffe und Flugzeuge Zyperns
offen sein müssen.
Dass die Türkei bisher nicht bereit ist, alle Mitglieder
der EU gleichermaßen anzuerkennen und die vereinbarten
Regeln einzuhalten, kann nicht ohne Konsequenzen sein.
Deswegen ist die Vereinbarung, acht Verhandlungskapitel einzufrieren und bei keinem der übrigen Kapitel die
Verhandlungen abzuschließen, bis das Ankaraabkommen erfüllt ist, eine Maßnahme, die Konsequenzen hat, die aber auch unserem Interesse an der Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei Rechnung trägt,
und zwar besonnen und entschlossen, wie es die Bundeskanzlerin ausgeführt hat.
({3})
Wir halten es auch für erforderlich, dass die EU nicht
nur zur Verhandlungsroutine übergeht und wir abwarten,
wann die Türkei das Ankaraprotokoll erfüllt. Wir wollen
vielmehr, dass diese Frage als politisches Thema auf der
Agenda der Staats- und Regierungschefs steht, dass sie
sich selbst darum kümmern und dies nicht den Beamten
der Kommission überlassen.
Deshalb begrüßen wir nachdrücklich, dass sich die
Staats- und Regierungschefs dementsprechend in den
Jahren 2007, 2008 und 2009 auf der Grundlage eines Berichts der Kommission mit dieser Frage befassen und
den weiteren Prozess überprüfen werden. Das ist für die
Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Erweiterungsprozesses unverzichtbar. Deshalb war es gut, dass die Initiative der Bundeskanzlerin vereinbart und der Kommissionsvorschlag nachgebessert wurde.
Im Übrigen entspricht dieser Beschluss genau dem,
was sich die Staats- und Regierungschefs zur Frage der
Integrationsfähigkeit der EU auf dem morgigen EU-Gipfel vorgenommen haben. Denn beim künftigen Erweiterungsprozess soll es keinen Automatismus geben. Es
sollen keine Beitrittsdaten mehr genannt werden und es
soll auf die strikte Erfüllung der Kriterien und der eingegangenen Verpflichtungen geachtet werden. Nur wenn
die Bürger der Europäischen Union das Gefühl bekommen, dass die Staats- und Regierungschefs auf die strikte
Einhaltung der Beitrittskriterien achten und dass sie vor
einer Erweiterung sorgfältig die Auswirkungen eines
Beitritts auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit prüfen,
werden wir die Akzeptanz für künftige Beitritte bekommen. Diese Akzeptanz brauchen wir; denn die EUPerspektive etwa für die Staaten des westlichen Balkans
liegt in unserem Sicherheitsinteresse.
({4})
Wenn diese Staaten ihre inneren und zwischenstaatlichen Konflikte überwinden, sodass EU und NATO ihre
Streitkräfte dort vollständig zurückziehen können, und
wenn sie alle Beitrittskriterien, insbesondere bei der
Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, strikt erfüllen, dann werden wir alle,
die derzeitigen Mitglieder der Europäischen Union, einen erheblichen Sicherheitsgewinn haben. Deshalb ist es
wichtig und richtig, dass die Staats- und Regierungschefs bei ihrem morgigen Gipfel Grundsätze für die Integrationsfähigkeit der EU vereinbaren, damit die EU erweiterungsfähig bleibt.
Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft wird die Vertiefung der Beziehungen zwischen
der Europäischen Union und Russland sein. Wir wollen
die strategische Partnerschaft mit Russland weiter
ausbauen. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass sich
die enge Zusammenarbeit mit Russland nicht nur an gemeinsamen Interessen orientiert, sondern dass sie auch
auf gemeinsamen Werten basiert, zu denen wir uns verpflichtet haben. Die Erneuerung des Partnerschafts- und
Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland bietet dafür eine gute Gelegenheit. Es ist deshalb
sehr zu bedauern, dass es bislang keine Einigung über
das Verhandlungsmandat gibt.
({5})
Denn das Nachfolgeabkommen liegt im gemeinsamen
Interesse, auch im Interesse Polens und auch im Interesse Russlands.
({6})
Polen hat unsere Solidarität und Unterstützung bei der
Aufhebung des russischen Importverbots für polnisches
Fleisch, weil wir dieses Verbot für nicht gerechtfertigt
halten. Aber genauso wenig gerechtfertigt ist eine Verknüpfung dieser Frage mit dem Verhandlungsmandat für
ein Nachfolgeabkommen mit Russland.
Angesichts der Rückschläge bei Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in Russland ist es wichtig, dass wir
im Nachfolgeabkommen, vor allem aber auch in der
praktischen Zusammenarbeit immer wieder auf die Respektierung der Werte drängen, zu denen sich Russland
bei seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet hat. Ich
sage ganz offen: Die innere Entwicklung Russlands
bereitet uns große Sorgen. Die Ermordung von Frau
Politkowskaja stellt einen Verlust für Russland dar. Ihr
unparteiisches Engagement für Menschenrechte und Demokratie war für die Entwicklung der russischen Gesellschaft wichtig.
({7})
Dieser Mord und vor allem die zunehmenden Einschüchterungen der wenigen noch verbliebenen kritischen Journalisten sind beispielhaft für den Niedergang
der Pressefreiheit in Russland.
Wer immer für den Mord an Litwinenko oder für die
zunehmend länger werdende Liste von politisch oder
wirtschaftlich motivierten Morden in Russland verantwortlich ist: Es drängt sich die Frage nach der Autorität
der russischen Regierung auf. Beunruhigend ist es vor
allem für diejenigen, die sich in Russland selbst engagieren. Auch wenn man ein Urteil über die Anwendung des
Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen erst
nach dem Ende der Registrierungspflicht im April
nächsten Jahres fällen kann, muss man anhand der bisherigen Praxis eines schon heute feststellen: Das NGO-Gesetz überfordert mit seinem bürokratischen Aufwand
nicht nur die Behörden und führt damit zu willkürlichen
Auslegungen, sondern es belastet vor allem auch kleine
NGOs erheblich. Damit schadet sich Russland selbst;
denn viele dieser kleinen NGOs leisten humanitäre Hilfe
für die Menschen in Russland. Sie brauchen ihre Zeit,
um den Menschen zu helfen, und nicht für das Ausfüllen
nutzloser Berichte.
({8})
Haben also nicht diejenigen Recht, die das langfristige Ziel einer Wertepartnerschaft mit Russland aufgeben und das Verhältnis nur auf eine an gemeinsamen Interessen orientierte Zusammenarbeit reduzieren wollen?
Wir sagen dazu ganz klar Nein. Das wäre ein strategischer Fehler. Wir beraubten uns unserer Einflussmöglichkeiten zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir ließen vor allem die Menschen, die
sich mitunter unter Einsatz ihres Lebens in Russland engagieren, im Stich.
({9})
Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Wir müssen jede
Gelegenheit nutzen, um Einfluss zu nehmen und mit
Russland im Rahmen der „vier Räume“ in der G 8 - bald
auch in der WTO - zusammenzuarbeiten.
Das alles sind Möglichkeiten, um die Entwicklung in
Russland zu beeinflussen, weil wir den Anspruch erheben, dass Russland in Einklang mit den Werten dieser
Institutionen leben muss.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen nachdrücklich, dass der EU-Gipfel in Helsinki die
Bitte an die deutsche Präsidentschaft richtet, eine Zentralasienstrategie zu erarbeiten. Die EU muss die Herausforderungen, die sich für die Sicherheit und Stabilität
Europas aus dieser Region heraus ergeben, strategisch
angehen.
Das gilt allerdings genauso für die Schwarzmeerregion. Denn mit Beginn der deutschen Präsidentschaft am
1. Januar wird die Europäische Union durch den Beitritt
Rumäniens und Bulgariens eine gemeinsame Außengrenze mit den Ländern der Schwarzmeerregion haben.
Damit werden die Probleme dieser Region noch unmittelbarer auch zu unseren Problemen werden. Durch diese
Region laufen nicht nur wesentliche Energierouten, sondern dort spielen auch organisierte Kriminalität sowie
Menschen- und Drogenhandel eine große Rolle. Mit den
Konfliktherden Transnistrien, Abchasien und Südossetien hat diese Region gleichzeitig ein erhebliches Krisenpotenzial. Die jüngsten Entwicklungen in Georgien haben das deutlich sichtbar gemacht. Deshalb liegt es im
Interesse der EU, einen aktiveren Beitrag zur Stabilisierung der Schwarzmeerregion und zur Stärkung von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Prosperität zu leisten,
({11})
auch mit Blick auf die Energiezusammenarbeit und weitere alternative Energieversorgungsrouten. Nicht zuletzt
können durch eine EU-Schwarzmeerpolitik Staaten, die
keine bzw. auf absehbare Zeit keine EU-Perspektive haben, stärker in die EU-Politik einbezogen werden, ohne
dass sich damit gleich die Frage einer Mitgliedschaft in
der Europäischen Union stellt. Gerade mit Blick auf die
Beitrittswünsche von Ländern wie der Ukraine ist das
Signal wichtig, dass sie als europäisches Land nicht zurückgewiesen werden, dass sie als europäisches Land
enger in die verschiedenen Bereiche der EU-Politik eingebunden werden, als dies durch die bilaterale Nachbarschaftspolitik möglich ist.
({12})
Deshalb halten wir es für notwendig, in Ergänzung zur
bilateralen Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenarbeit mit Russland eine EU-Schwarzmeerpolitik als regionale Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, vergleichbar
der „Nördlichen Dimension“ oder dem Barcelona-Prozess.
Schwerpunkte einer solchen Schwarzmeerpolitik sollten
sein: die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter
Kriminalität, die schrittweise Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Umweltschutz, Fragen der
Energiezusammenarbeit und des Energietransports. Unverzichtbar ist auch die Vertiefung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit zur Stärkung von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Wissenschaft.
Allerdings werden wir uns dann auch an heiße Eisen
heranwagen müssen. Denn eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der Schwarzmeerregion erfordert auch einen aktiveren europäischen Beitrag zur Schlichtung der
so genannten Frozen Conflicts. Ich finde, hier kann die
EU mehr leisten. Sie hat Vertrauen bei den Konfliktparteien. Selbstverständlich ist dabei eine enge Abstimmung mit den USA unverzichtbar. Auch in den Gesprächen mit Russland müssen die Frozen Conflicts stärker
thematisiert werden.
({13})
Zu einer strategischen Partnerschaft gehört auch die
Zusammenarbeit bei den Regionalkonflikten in der gemeinsamen Nachbarschaft. Es ist jedenfalls nicht akzeptabel, dass Russland hier eine Politik der kontrollierten
Unsicherheit verfolgt und sich gemeinsamen Bemühungen für eine Konfliktregelung verweigert.
Meine Damen und Herren, den Menschen in Deutschland wird während unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union und der G 8 immer wieder bewusst werden, dass wir unseren Platz in der Welt, unsere Werte nur
in einem politisch integrierten Europa behaupten können. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Präsidentschaft
in diesem Sinne ein guter Beitrag zu einer europäischen
Identität wird.
Vielen Dank.
({14})
Für das Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Jürgen Trittin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
mit einer Bemerkung zu Ihrem Vorschlag, Frau Bundeskanzlerin, anfangen. Wenn Sie sagen, wir müssten in Europa das Prinzip der Diskontinuität einführen, dann
muss man sich auch über die Folgen klar werden. Manche
würden sich freuen und sagen: Dann hätten wir letztens
im Parlament nicht REACH verabschiedet. - Denken Sie
an Ihr eigenes Präsidentschaftsprogramm, insbesondere
an die vollständige Liberalisierung der Gas- und Strommärkte. Das ist ein Dossier, das mittlerweile ein Parlament und eine Kommission schon in der dritten Amtszeit
beschäftigt.
Zweite Bemerkung. Wenn davon geredet wird, dass
Deutschland versuchen möchte, in Sachen Bürokratieabbau weiterzukommen, dann muss doch die Frage erlaubt sein, ob die Bundesrepublik Deutschland unter dieser Koalition und in dieser Verfassung nach der
Föderalismusreform überhaupt in der Lage ist, anderen
Bürokratieabbau beizubringen.
({0})
Was ist das eigentlich für ein Bild, das die Bundesregierung abgibt? Einerseits redet sie über Bürokratieabbau,
andererseits aber wird man statt eines Nichtrauchergesetzes 15 oder 16 Nichtrauchergesetze haben, vielleicht
auch nur zwölf, und man baut im Rahmen der Gesundheitsreform völlig neue bürokratische Strukturen auf, die
unsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch gehörig
quälen werden.
({1})
Dritte Bemerkung zu Ihrer Rede. Sie drücken sich vor
der Festlegung Ihres Umweltministers und davor, zu sagen: Wir wollen dafür sorgen, dass sich Europa bis zum
Jahre 2020 verpflichtet, 30 Prozent der Treibhausgase
einzusparen. - Was hindert Sie eigentlich daran, diese
Frage in vernünftiger Art und Weise mit der Minderung
der Energieabhängigkeit zu verknüpfen? Dies hätte
nämlich eines zur Folge: die Umsetzung dieses Ziels. Es
hätte zur Folge, dass die Energieimporte - die Europäische Union importiert heute noch 74 Prozent der Energie - auf unter 50 Prozent sinken würden. Auch das ist
übrigens nicht nur ein Argument für Klimaschützer, sondern auch und gerade ein ökonomisches Argument. Das
würde dazu führen, die Abhängigkeit der europäischen
Wirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit
zu stärken.
({2})
Letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, Sie wollten die
Akzeptanz für Europa verbessern, dann werden Sie innerhalb Europas dieses Land europakompatibler machen
müssen. Wenn Sie sagen, Europa sei eine Antwort auf
Globalisierung, dann erwarten die Menschen zunächst
eine Antwort, die ihnen mehr Sicherheit, mehr soziale
Sicherheit verspricht. Da hat Deutschland nun einmal einen Nachholbedarf.
({3})
Wir sind eines der wenigen Länder, die es bis heute nicht
fertig gebracht haben, Regelungen einzuführen, damit
jemand, der Vollzeit arbeitet, nicht unter die Armutsgrenze sinkt. Wenn Sie Europa akzeptabler machen wollen, dann müssen Sie hier anfangen und dafür sorgen,
dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht trotz ihrer
Arbeit arm bleiben. Deswegen brauchen wir so etwas
wie einen gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn in
Frankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in den
Niederlanden und in vielen anderen Ländern haben.
({4})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schlusssatz. Wenn Sie Lust auf Europa machen wollen,
({0})
wenn Sie Begeisterung für Europa wecken wollen, dann
dürfen Sie eines nicht zulassen, nämlich dass hier solche
Reden wie die, die vorhin Herr Ramsauer vorgetragen
hat, gehalten werden. Das macht nicht Lust auf Europa,
sondern das macht Angst vor Europa. Das ist der Grund,
wenn Sie bei Ihrem Ziel, bis 2009 in der Verfassungsvertragsfrage voranzukommen, keinen Schritt weiterkommen. Wenn Sie das nicht schaffen, dann können Sie sich
bei Herrn Ramsauer und bei Herrn Stoiber für ihre Reden bedanken.
({1})
Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die
Kollegin Lale Akgün.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vorabend der deutschen Ratspräsidentschaft gibt es eine
Fülle von Themen, über die wir hier sprechen könnten.
Ich möchte mit einem unserer Lieblingsthemen anfangen, nämlich der Entscheidung der EU über den Beitritt
der Türkei.
Die EU hat mit dem Aussetzen von acht Kapiteln die
notwendige Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass
die Türkei ihrer Verpflichtung zur Unterzeichnung des
Ankaraprotokolls und damit der Anerkennung Zyperns
nicht nachgekommen ist. Aber sie hat das rechte Maß
bewahrt. Ein Abbruch der Verhandlungen wäre übereilt
gewesen und den ureigensten Interessen der EU zuwidergelaufen.
Die SPD-Fraktion begrüßt die Entscheidung ausdrücklich.
({0})
Es ist eine Entscheidung mit Augenmaß, die beiden Seiten gerecht wird, der Türkei und der EU.
({1})
Die Türkei weiß um ihre Hausaufgaben. Jetzt muss
die EU ihrerseits gegebene Zusagen einhalten. Die Isolation Nordzyperns muss aufgehoben und die durch die
EU versprochenen wirtschaftlichen Hilfen müssen endlich geleistet werden.
({2})
Ich freue mich, dass die EU sich bewegt, was die Zypernfrage angeht. Ich möchte in diesem Zusammenhang
erwähnen, dass Estland und Schweden Überlegungen
anstellen, in Nordzypern Büros einzurichten. Großbritannien erwägt Berichten zufolge, Direktflüge zum nordzypriotischen Flughafen Ercan aufzunehmen. Das sind
wichtige Signale.
Genauso aber muss sich in der Republik Zypern
noch einiges tun. Auch hier sind erste Bewegungen bereits zu verzeichnen. Daher gibt es berechtigte Hoffnung, dass Zypern bereits beim ersten Außenministertreffen im Januar seine Blockade aufgeben wird und die
EU Gelder für den türkischen Norden freigeben kann.
Auch das Veto für den Direkthandel mit Zypern wird
nicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Davon bin ich überzeugt.
Aus all diesen Gründen ist es richtig, dass die EU
durch das Einfrieren zwar Konsequenzen zieht, dass
aber ansonsten business as usual gilt - keine Fristen,
keine Sanktionen und keine Revisionsklausel für die
Türkei. Eine Entscheidung mit Augenmaß, wie gesagt.
Für dieses Verhandlungsergebnis möchten wir noch
einmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken,
der diese klare Linie in Brüssel durchsetzen konnte.
({3})
Damit haben wir eine unnötige Verschärfung der ohnehin sehr angespannten Lage vermieden.
Meine Damen und Herren, entgegen vielen Annahmen wird diese Entscheidung auch in der Türkei akzeptiert. Darauf möchte ich hier noch einmal hinweisen. Es
ist mitnichten so, dass in der Türkei nur Zeter und Mordio geschrien wird. Wichtig für die Türkei und für die
Bevölkerung ist die Tatsache, dass in Brüssel die Verhandlungen weitergehen und nach innen die Reformen
fortgesetzt werden können.
Das Massenblatt „Sabah“ schreibt gestern: Es ist gut,
dass der Zug zum EU-Beitritt eben nicht entgleist ist. Auch das Massenblatt „Hürriyet“ zählt ganz sachlich
und differenziert positive und negative Aspekte des Einfrierens auf. Die türkische Börse reagierte wie ein Seismograf. Die Kurse sind seit vorgestern enorm gestiegen
und die türkische Lira hat gegenüber Euro und Dollar an
Wert gewonnen. Das zeigt einmal mehr, dass die Entscheidung der EU-Außenminister richtig war und auch
in der Türkei akzeptiert wird.
({4})
Aber - das ist genauso wichtig - die Verhandlungen
müssen jetzt mit größter Sorgfalt weitergeführt werden.
Das Einfrieren darf nicht zum Synonym für ein schleichendes Ende der Verhandlungen werden, auch wenn
sich das einige vielleicht wünschen sollten. Ein schleichendes Ende würde den Interessen der Europäischen
Union zuwiderlaufen. Diejenigen, die am lautesten nach
einem sofortigen Abbruch der Verhandlungen gerufen
haben, waren wieder einmal die, die eben nicht die Interessen der EU im Sinn hatten, sondern ihr innenpolitisches Süppchen weiter am Köcheln halten wollten.
({5})
Herr Kollege Ramsauer, die EU führt mit der Türkei
Beitrittsverhandlungen. An dem Wort „Beitrittsverhandlungen“ ist deutlich zu erkennen, dass diese Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts geführt werden.
({6})
Man sollte diesen Begriff doch einmal wörtlich nehmen.
({7})
Meine Redezeit reicht nicht aus, um Ihnen alle
Gründe für einen Beitritt der Türkei noch einmal darzulegen. Deshalb sei nur so viel gesagt: Wenn die EU auch
im 21. Jahrhundert ihre Rolle als Friedensmacht ausfüllen will, so muss sie sich den neuen Herausforderungen
stellen: dem Islam, dem Terrorismus, aber auch den
neuen Nationalismen. Deshalb sage ich ganz deutlich:
Perspektivisch brauchen wir eine EU mit 30 und mehr
Mitgliedern, wozu auch die Staaten des westlichen Balkans gehören. Auch im Verhältnis zu den Staaten des
Westbalkans muss die EU glaubhaft bleiben und ihre
Versprechungen einhalten.
Das gilt natürlich auch für alle anderen anstehenden
Themen der deutschen Ratspräsidentschaft. Wenn
man sich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft
anschaut, dann muss man sagen, dass das nicht gerade
wenige Themen sind. Es ist keine Frage, dass alles, was
wir uns für die nächsten sechs Monate vorgenommen haben, dabei von großer Bedeutung ist. Energiepolitik,
Wirtschaftswachstum, Klimaschutz, Verfassungsprozess, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik sind große Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Wichtig ist allerdings, dass wir am Ende dieser sechs
Monate tatsächlich Erfolge aufweisen können und dass
wir unsere Versprechen gegenüber den Beitrittskandidaten und Nachbarn, aber auch gegenüber den Bürgerinnen
und Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten eingehalten haben. Nur so können wir das größte Problem Europas, nämlich den Verlust an Akzeptanz, wettmachen. Für
neuen Schwung, neue Legitimität und neue Begeisterung für die EU zu sorgen, ist die Hauptaufgabe für die
deutsche Ratspräsidentschaft.
Ich wünsche mir von der deutschen Ratspräsidentschaft echte Antworten auf die Sorgen der Menschen.
Erweiterung, vertiefte politische Integration und das soziale Europa sind in diesem Zusammenhang die Stichworte. Leitmotiv der deutschen Ratspräsidentschaft
sollte sein: Europa neu denken vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3808, 16/3680 und 16/3832 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3796
soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck-
sache 16/3680 zu Tagesordnungspunkt 4 c, jedoch nicht
an den Tourismusausschuss und den Haushaltsausschuss
überwiesen werden. - Damit sind Sie ganz offensichtlich
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 h auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen
- Drucksache 16/3793 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze
an die demografische Entwicklung und zur
Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der
gesetzlichen Rentenversicherung ({1})
- Drucksache 16/3794 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beschäftigungspolitik für Ältere - für ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamtkonzept
- Drucksache 16/3027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel
Bahr ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Den Rentenversicherungsbericht im Interesse
der Versicherten realistischer gestalten
- Drucksache 16/3676 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({5}), Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RVAltersgrenzenanpassungsgesetz ({6})
verlängern
- Drucksache 16/3815 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Kultur der Altersarbeit - Anpassung der
gesetzlichen Rentenversicherung an längere
Rentenlaufzeiten
- Drucksache 16/3812 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren ({9})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2006
- Drucksache 16/3700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lagebericht der Bundesregierung über die
Alterssicherung der Landwirte 2005
- Drucksache 16/907 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von anderthalb Stunden verabredet. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Herrn Bundesminister Franz Müntefering.
({12})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns in diesem Haus fraktionsübergreifend einig, dass wir ein gemeinsames Ziel haben: Wir wollen in
diesem Land ein Wohlstandsniveau haben. Daran sollen
alle Generationen einen gerechten Anteil haben. Das soll
für heute, für morgen und für übermorgen gelten. Dieses
allgemeine Ziel heißt mit Blick auf das heutige Thema
buchstabiert: Wir wollen eine gute materielle Absicherung der älteren Generation und wir wollen die Möglichkeit altersgerechter Arbeit für diejenigen, die 50, 55,
60 Jahre und älter sind.
Wir haben in der Koalition ein Konzept entwickelt,
von dem ich sage: Es ist plausibel. Es ist anstrengend.
Aber es hat viele gute Argumente für sich. Wir beraten
heute die Initiative „50 plus“ und das Gesetz zur schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre.
Wir diskutieren aktuell über die Möglichkeiten zusätzlicher Altersvorsorge im Betrieb oder mittels der Riesterrente. Diese drei Punkte gehören ganz eng zusammen.
Wir sind mitten im Prozess dieser Entwicklung. Das
faktische Renteneintrittsalter steigt seit Jahren. Vor wenigen Jahren waren es etwa 40 Prozent, die mit 60 Jahren in Rente gingen. Denn wir hatten ja ein Fenster von
60 bis 65 Jahren. Heute sind es noch etwa 25 Prozent.
Wir stehen nicht am Anfang der ganzen Debatte. Das
faktische Renteneintrittsalter steigt und das ist auch gut
so. Die Menschen sind bereit, länger zu arbeiten und in
ihren Berufen zu bleiben.
Es tut sich auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge.
({0})
Es gibt etwa 90 000 bis 100 000 arbeitslose Ältere über
50 weniger als vor einem Jahr. Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird besser, auch bei den Älteren. Die Vermittlungszahlen im vergangenen Jahr sind
gut gewesen: sechsstellig.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat
gerade in der letzten Woche beschlossen, dass in zehn
seiner Kammerbezirke die Aktion „50 plus“ unterstützt
wird. Ich habe in der letzten Woche in Fulda 62 Firmen
aus 62 Regionen in Deutschland ausgezeichnet, die ganz
besonders aktiv daran arbeiten, dass die ältere Generation wieder in den Betrieben eine Chance hat.
Diese Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2000 waren etwa 38 Prozent der über 55-Jährigen berufstätig.
Heute sind es 45 Prozent. Wir haben uns in der Koalition
vorgenommen, bis zum Ende der Legislaturperiode mindestens 50 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung zu haben.
({1})
Es ist eine Bewegung da, die in eine vernünftige Richtung geht.
Das hat natürlich seine Gründe darin, dass wir das
faktische Renteneintrittsalter, also die Chance, aus der
Arbeitslosigkeit in Rente zu gehen, von 60 auf 63 Jahre
anheben; wir befinden uns mitten in diesem Prozess.
Darüber wird wenig gesprochen; aber es ist so. Auch die
Zahldauer des Arbeitslosengeldes haben wir von maximal 32 Monate auf maximal 18 gekürzt. Beides sind
Maßnahmen, die mit der Politik der Beschäftigung älterer Menschen eng zu tun haben. An einer Stelle diskutieren wir gerade wieder mit allem Nachdruck darüber. Ich
sage: Das, was wir machen, ist vernünftig. Wir geben
den Menschen, die 50, 55 oder 60 Jahre alt sind, eine
Chance, am Erwerbsleben teilzunehmen.
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Initiative „50 plus“ will ich zwei zusätzliche Initiativen ansprechen. Eine erste Initiative in diesem Gesetzentwurf
ist - sie ist ganz wichtig und stellt eine Verbesserung im
Vergleich zur bisherigen Regelung dar -: Menschen, die
45 und älter sind und in Unternehmen mit bis zu
250 Beschäftigten arbeiten, haben die Chance, sich auf
Staatskosten mittels Bildungsgutscheinen qualifizieren
zu lassen.
({2})
Wir müssen bei der Weiterbildung dringend besser werden.
({3})
Der VDI bzw. die großen Verbände melden uns, dass
zurzeit in Deutschland 22 000 Ingenieure fehlen. Ich
weiß von der BA und anderen Stellen: In Deutschland
gibt es 30 000 bis 40 000 arbeitslose Ingenieure. Es
muss doch in dieser Gesellschaft möglich sein, dass wir
nicht aus dem Ausland, also irgendwoher aus der Welt,
20-, 25- und 30-jährige Ingenieure holen, sondern dass
unsere Ingenieure, die 45 und 50 Jahre alt und arbeitslos
sind, in ihren Berufen bleiben können. Dies muss doch
besser zu organisieren sein, als es bisher der Fall ist.
({4})
Das gilt für andere Berufe in gleicher Weise.
Eine zweite Initiative ist der Kombilohn. Denjenigen, die 50 und älter sind und die arbeitslos werden, sagen wir: Wenn du eine Chance hast, wieder in Arbeit zu
kommen, dann mache es schnell. Nimm sie schnell an,
auch wenn du weniger Lohn hast als bisher. Wir geben
im ersten Jahr die Hälfte der Differenz, die zwischen
dem alten Nettoeinkommen und dem neuen besteht,
dazu und im zweiten Jahr 30 Prozent. Denn wir wissen
genau: Ältere, die schnell wieder vermittelt werden,
kommen auch gut wieder in den Beruf hinein. Sie dürfen
erst gar nicht in das Arbeitslosengeld II fallen. Auch das
gehört zu dem angesprochenen Gesetzentwurf.
Der Gesetzentwurf zur Rentenversicherung verändert
den Eintrittskorridor von bisher 60 bis 65 Jahre auf 63
bis letztlich 67 Jahre im Jahre 2029. Es wird aber wie
bisher sein: Die meisten Menschen werden vor dem
Höchsteintrittsalter in Rente gehen. Das tun heute die allermeisten; sie gehen weit vor 65 in Rente. Das wird
auch in Zukunft so sein, wenn wir ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren erreicht haben.
Die Frage ist dann: Wie viel Geld bekommen sie,
wenn sie mit 63, 64 oder 65 Jahren in Rente gehen? Mit
63 Jahren können sie in Rente gehen, wenn sie
35 Zahljahre erreicht haben, und mit 65 und damit ohne
Abschläge, wenn sie 45 Zahljahre erreicht haben. Ich
will darauf hinweisen, dass die Frage der Alterssicherung entscheidend davon abhängt, wie die Wohlstandsentwicklung in Deutschland sein wird. Man darf
die Debatte nicht nur an den Jahreszahlen festmachen.
Ich will einige Minuten darauf verwenden, das noch einmal deutlich zu machen. Das Rentenwohlstandsniveau
beträgt zurzeit 52 Prozent. Es wird nach der Rentenplanung - nicht nach dieser, sondern nach der, die schon
längst beschlossen ist - im Jahre 2020 bei mindestens
26 Prozent liegen.
({5})
- 46, Pardon. - Es wird im Jahre 2030 mindestens
43 Prozent betragen.
({6})
- Ja, das ist richtig, Herr Gysi. Das ist aber nicht neu. Sie
tun immer so, als ob das neu wäre. Wir sind längst in der
Phase, dass die Gesellschaft begriffen hat, dass man das
angesichts veränderter Strukturen in dieser Gesellschaft
nicht mehr wird fortführen können.
({7})
Denn 1960 wurden die Renten durchschnittlich zehn
Jahre lang gezahlt; jetzt werden sie 17 Jahre lang gezahlt. Im Jahre 2030 würde die Rente 20 Jahre lang gezahlt werden.
({8})
Man kann es auch anders ausdrücken: Das Verhältnis
zwischen denen, die im Erwerbsleben sind, und denen,
die 64 oder älter sind, beträgt heute 100 : 30. In
30 Jahren wird das Verhältnis 100 : 50 betragen, 2 : 1.
Auf einen Rentner werden somit zwei Beschäftigte kommen. Die zwei Beschäftigten müssen das verdienen, was
der eine Rentner bekommt. Wir Politiker müssen doch
den Menschen sagen, welche Entwicklung zu erwarten
ist. Gute Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist.
Wer die Menschen an dieser Stelle belügt, tut ihnen
überhaupt keinen Gefallen.
({9})
Walter Riester, den ich hier sehe, hat vor einigen Jahren eine wichtige Reform begonnen und hat dieses
Thema als Erster gesetzt. Er hat gezeigt, wohin der Weg
gehen kann.
Jetzt aber wieder zurück zu der Frage: Wie hoch ist
die Rente dann eigentlich? Die 46 Prozent, die sich im
Jahre 2020 ergeben, sind ja kein absoluter Wert, in Geld
ausgedrückt. Die Frage, die sich anschließt, ist: Wie viel
ist dann 100 Prozent? Das hängt davon ab, wie sich die
Löhne in diesem Land entwickeln. Wenn wir eine Lohnentwicklung wie in den vergangenen zehn Jahren haben,
wird das natürlich Konsequenzen für die Höhe der Renten haben. Das gilt, ob man nun 46 Prozent oder
43 Prozent hineinschreibt. 43 Prozent von viel ist eben
mehr als 46 Prozent von wenig. Das ist ganz einfach.
Um das nachzuvollziehen, muss man kein Mathematiker
sein.
({10})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir dafür sorgen, dass
der Wohlstand erhalten bleibt. Entscheidend für die
Alterssicherung ist letztlich nicht, ob man von 60 bis
65 oder von 63 bis 67 in Rente gehen kann; vielmehr ist
entscheidend, wie hoch die 100 Prozent Wohlstand sind.
Wenn die Normalverdiener in Deutschland im Jahre
2030 bzw. 2020 ein gutes Einkommen haben, werden
auch die Rentnerinnen und Rentner ein ordentliches Einkommen haben, ansonsten eben nicht. Deshalb besteht
die beste Alterssicherung darin, dass wir uns bewusst
sind: Wir müssen in die Köpfe und in die Herzen der
jungen Menschen investieren.
({11})
Was wir in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung
investieren, bestimmt letztlich die Höhe der Rente.
Das Festhalten an bestimmten Jahreszahlen führt in
die Irre. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Die Alterssicherung hängt von der Wohlstandsentwicklung insgesamt ab. Die von mir genannten Prozentsätze müssen
vernünftige Geldbeträge ergeben. Das wird nur geschehen, wenn wir eine Politik machen, wie wir sie uns vorgenommen haben. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, im Jahre 2010 etwa 6 Milliarden Euro mehr
für Forschung und Entwicklung auszugeben, nämlich
3 Prozent des BIP. Wenn wir diese 6 Milliarden Euro in
die Rentenkasse gäben, könnten wir uns viele Freunde
machen und das wäre auch nicht so übel; man hat ja immer gerne Freunde. Ich sage aber: Wenn wir das machen, wird die nachfolgende Generation dafür büßen
müssen. Denn die 46 bzw. 43 Prozent - heute sind es
52 Prozent - ergeben nur noch etwa drei Viertel des
Wohlstandsbedarfs.
Neben allem, was ich angesprochen habe, braucht
man eine vernünftige zusätzliche Alterssicherung - ob
sie nun Riesterrente oder betriebliche Altersvorsorge
heißt. Daran müssen wir arbeiten. Bei den Debatten um
den Investivlohn müssen wir im Blick behalten: Wir
brauchen vor allen Dingen die Bereitschaft der Betriebe,
der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dafür zu sorgen,
dass die Menschen rechtzeitig für ihr Alter sparen können.
Wenn wir miteinander das alles machen, dann - da
bin ich sicher - haben wir als Koalition der Sicherung
des Alters in der Zukunft eine gute Perspektive gegeben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte verbindet mit den Entwürfen von
Gesetzen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen
älterer Menschen und zur Anpassung der Regelaltersgrenze zwei, wie ich finde, wichtige soziale Kernfragen
unserer Gesellschaft; denn, Herr Minister Müntefering,
die Anhebung, die Sie vorhaben, macht doch nur Sinn,
wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegenheit haben, länger zu arbeiten. Zu Beginn meiner Ausführungen will ich gleich sagen: Die Antworten, die die
große Koalition auf diese Fragen gibt, sind alles andere
als der Situation angemessen. Um es in Schulnoten auszudrücken: Sie sind ungenügend.
({0})
- Ja, genau.
Herr Minister, die Anhebung des Regelrentenzugangsalters auf 67 Jahre, auf die sich die Koalition auf
Ihr Betreiben hin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verständigt hat, ist ein unerwarteter Tabubruch, für den vor
allem die SPD vonseiten der Gewerkschaften erheblichen Gegenwind erfährt. Ich hatte in der vergangenen
Woche auf einer DGB-Podiumsdiskussion in Hanau zuletzt Gelegenheit, das zu beobachten. Die Menschen ahnen - Herr Minister, ich sage: zu Recht -, dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder begleitender
Arbeitsmarktreformen für die allermeisten Versicherten
auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird.
Ich fand es bemerkenswert, wie der SPD-Kollege in Hanau von den anwesenden Betriebsräten attackiert und regelrecht demontiert wurde.
({1})
Die Bereitschaft zum Tabubruch als solches ist der eigentliche Grund, warum die Rente mit 67 in der Bilanz
der bisherigen Regierungsarbeit eher auf der Habenseite
angerechnet wird. Eine echte Entlastungswirkung für
die Rentenkasse kann sie eigentlich nicht entfalten; denn
die Entlastung um 0,5 Beitragspunkte - und das erst ab
2030 - ist sehr gering. Herr Müntefering, meines Erachtens wird das nicht ausreichen, um den Rentenversicherungssatz bis 2020 unter den im RentenversicherungsNachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen und versprochenen
20 Prozent zu halten. Dass die Entlastungswirkung so
gering ist, hängt mit den zahlreichen Ausnahmen zusammen, die Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, namentlich die abschlagsfreie Rente für langjährige und
besonders langjährige Versicherte.
Kerstin Schwenn hat es in der „FAZ“ vom gestrigen
Tage mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffend
kommentiert:
Der politische Versuch, das Unpopuläre populistisch zu verpacken und die Rentenreform damit sozialverträglich zu machen, wird einen erheblichen
Teil des Geldes verschlingen, das die Rentenkassen
einsparen sollen. So gesehen, erscheint die rentenpolitische Großtat doch wieder recht klein.
Recht hat sie.
({2})
Die allermeisten Sachverständigen, Tarifpartner und
Parteien - außer der Koalition natürlich - sind sich in ihrer Ablehnung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren einig, weil sie systemwidrig und ungerecht
ist und schwächere Personengruppen benachteiligt;
meine Kollegin Laurischk wird als zweite Rednerin meiner Fraktion darauf näher eingehen. Die Anhebung auf
67 ist für die Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge
besonders ungerecht. Der Sachverständigenrat hat in seinem aktuellen Gutachten darauf hingewiesen, dass die
Jahrgänge 1959 bis 1974 durch die Art und Weise der
Anhebung des Rentenzugangsalters besonders belastet
werden.
Anstatt ein starres Renteneintrittsalter durch ein höheres zu ersetzen, müssen wir, so denke ich, dafür sorgen,
dass der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand von den Menschen flexibler als bisher gestaltet
werden kann.
({3})
Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass gerade
einmal 45 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäftigung sind.
Viele Menschen in der Altersgruppe ab 60 Jahren
wollen aber nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen über
den Umfang, in dem sie voll oder teilweise mit entsprechender Teilrente tätig sind, selbst bestimmen können.
Sie wünschen sich eine flexible Gestaltung des
Renteneintritts und die Sicherstellung eines ausreichenden Auskommens durch eine Kombination aus gesetzlicher Rente, privater und betrieblicher Altersvorsorge.
Sie wünschen sich - das ist ganz wichtig -, dass ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel durch Vorteile bei den Sozialversicherungsbeiträgen, endlich wieder verbessert werden.
Warum nicht? Der eigentliche Skandal ist doch, dass ältere Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft aus dem
Arbeitsleben regelrecht herausgedrängt werden. Ein 60Jähriger muss sich heute fast rechtfertigen, wenn er morgens noch zur Arbeit geht. Damit muss Schluss sein.
({4})
Für uns ist wichtig, dass die individuelle Gestaltung
des Übergangs in den Ruhestand nicht länger zulasten
der Versichertengemeinschaft gehen darf. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns dezidiert von der großen Koalition. Sie hat in der letzten Woche ein teueres Schlupfloch für die Altersteilzeit offen gehalten, obwohl wir
heute besser denn je wissen, dass der Weg über die Altersteilzeit falsch war. Es ist besser, ihn heute als morgen
zu schließen.
({5})
Ich darf Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in wenigen Wochen ein entsprechendes neues Rentenmodell
präsentieren wird, in dem die von mir genannten Kritikpunkte und Vorschläge berücksichtigt werden.
Zur Arbeitsmarktsituation Älterer und Ihrer Initiative
„50 plus“, Herr Minister, muss ich sagen: Sie ist nicht
ausreichend und nicht geeignet, eine wirkliche Verbesserung der derzeitigen Situation herbeizuführen. Das belegt schon die Wirkungsprognose, die Ihr Haus für dieses Gesetz selbst gegeben hat. Auf der Homepage des
BMAS heißt es, es sollen 65 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie, Herr Müntefering, waren im November
ehrgeiziger und haben in diesem Haus von 100 000 Arbeitsplätzen gesprochen. Anscheinend sind Sie ein bisschen vorsichtiger geworden. Es ist auf jeden Fall zu wenig, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigungsquote
der 55- bis 64-Jährigen heute - ich sagte es bereits - gerade einmal bei 45 Prozent liegt. Das sind 2,8 Millionen
Menschen in dieser Altersklasse, die noch arbeiten. Das
bedeutet auch, dass 65 000 Beschäftigungsverhältnisse
mehr eine Steigerung von 45 auf 46 Prozent sind. Damit
liegen wir deutlich hinter Schweden mit 69 Prozent oder
Dänemark mit 60 Prozent. Ich finde, Herr Minister, Sie
sollten hier durchaus ein bisschen mehr Ehrgeiz an den
Tag legen und nicht einfach nur alten Wein in neuen
Schläuchen verkaufen. Genau darauf läuft Ihre Initiative
„50 plus“ am Ende hinaus.
({6})
- Ja, vielleicht ist es sogar alter Wein in alten Schläuchen. Auch das kann ich nicht ausschließen.
Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel in der
Herangehensweise an das Problem der mangelnden Beschäftigung älterer Menschen. Es geht darum, dass wir
Fehlanreize beseitigen, die zu einem Beschäftigungsabbau - er ist heute fast systematisch - bei Älteren führen.
Es hilft nicht, Programme, die bisher schon wirkungslos
waren, einfach zu verlängern. Ich glaube nicht, dass das,
was bisher wirkungslos war, plötzlich Wirkung zeigen
wird. Sie sagen ja, Herr Minister Müntefering, das liege
daran, dass die Instrumente zu wenig bekannt waren. Ja,
wer hat denn die Verantwortung dafür, dass die Menschen diese Programme bisher nicht kennen? Kann das
wirklich der Grund sein? Ich glaube eher, dass die Programme nicht nur unbekannt, sondern auch einfach unsinnig sind.
Der Kombilohn, den Sie jetzt vorschlagen, wird absehbar keine Wirkung zeigen, solange es lukrativere
Ausstiegsmodelle wie etwa die Altersteilzeit gibt, die
Sie gerade verlängert haben. Eingliederungszuschüsse
mögen für die Unternehmen interessant sein, insbesondere wenn es keine Nachbeschäftigungspflicht gibt.
Aber es gibt hier hohe Mitnahmeeffekte. Bei dem geringen vorgesehenen finanziellen Volumen ist es absehbar,
dass die Wirkung niedrig sein wird. Ich frage Sie: Wenn
die erweiterten Möglichkeiten der Befristung von Arbeitsverträgen für Personen ab 52 Jahren ein richtiger
Schritt sind, warum wird dieses Instrument dann nicht
für alle Menschen angeboten, die aus der Arbeitslosigkeit heraus wollen?
Zusammenfassend noch einmal: Die genannten Maßnahmen werden verpuffen, wenn sich das Denken nicht
ändert und wenn Fehlanreize nicht beseitigt werden.
Wenn, wie schon angesprochen, die Koalition reizvolle
Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Arbeitsleben weiter anbietet und mit großzügigen Vertrauensschutzregeln
ausstattet, wird sich das neue Denken nicht durchsetzen
können. Das ist falsch.
({7})
Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege.
Ich komme zum Ende.
({0})
Ich verweise noch einmal auf den vorliegenden Antrag der FDP zum Rentenversicherungsbericht. Hier geht
es darum, dass wir den Menschen künftig wirklich die
Wahrheit sagen. Denn, Herr Minister, Sie haben gesagt:
Gute Politik beginnt damit, dass man den Menschen die
Wahrheit sagt.
({1})
Sie tun das nicht. Sie bringen mit der Rente mit 67 eine
verkappte Rentenkürzung auf den Weg. Sie prognostizieren in Ihrem Rentenversicherungsbericht zu gute
Rentenwerte, weil Sie im mittleren Szenario mit durchschnittlich zweieinhalb Prozent Lohnsteigerung rechnen,
was mehr als optimistisch ist; vielleicht ist es realistiDr. Heinrich L. Kolb
scher als in der Vergangenheit, aber immer noch mehr
als optimistisch.
Herr Kollege!
Deswegen werden Sie den Anforderungen an eine
gute Politik leider nicht gerecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Brauksiepe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die große Koalition hält Kurs in der Rentenpolitik
und bringt heute die notwendigen Antworten ein, um die
Alterssicherung langfristig und weit über die laufende
Legislaturperiode hinaus zu stabilisieren.
({0})
Blicken wir auf die Entwicklungen in der Vergangenheit zurück. Die bestehende Altersgrenze von 65 gibt es
seit mittlerweile 90 Jahren: seit 1913 für die Angestellten und seit 1916 für die Arbeiter. Diese Grenze wurde
also in einer Zeit festgelegt, in der die Lebenserwartung
weit darunter lag. Arbeiten praktisch bis in den Tod
- das ist heute unvorstellbar - ist bei der Einführung dieser Regelaltersgrenze noch der übliche Fall gewesen. Es
hat im Laufe der Jahrzehnte erheblichen sozialen Fortschritt gegeben. So lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in den 60er-Jahren bei zehn Jahren, heute beträgt sie 17 Jahre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir vorlegen, bedeutet nach all den Zahlen, die wir kennen, dass
wir sagen: Die Rentenversicherung kann es verkraften,
dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bis zum
Jahr 2030 von heute 17 Jahren auf 18 Jahre steigt. Das
ist der Inhalt, um den es erfreulicherweise geht. Wir wissen schon heute, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen im Jahr 2029 knapp drei Jahre höher ist als heute.
Die Lebenserwartung der Rentner steigt also um knapp
drei Jahre. Die Lebensarbeitszeit erhöhen wir um zwei
Jahre. Das heißt, die durchschnittliche Rentenlaufzeit
wird um rund ein Jahr steigen. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen. Das kann die gesetzliche Rentenversicherung dank der Produktivität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft
verkraften. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer
auf 20 Jahre zu erhöhen, das wäre allerdings unverantwortlich. Deswegen beschließen wir heute die vorliegenden Maßnahmen zur Rente mit 67.
({1})
Von verschiedenen Seiten wird kritisiert, das sei ein
Rentenkürzungsprogramm.
({2})
- Lieber Kollege Kolb, das, was Sie gesagt haben, war
wirklich weit unter Ihrem Niveau. Wir haben seit letztem
Jahr 536 000 Arbeitslose weniger. Diese Entwicklung
lässt sich schon rein mathematisch nicht bis zum
Jahr 2029 fortschreiben. Denn dann müssten wir ein paar
Millionen Arbeitslose minus haben.
({3})
Ich wiederhole: in einem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger.
Herr Kollege Kolb, Ihre Partei hat in der Geschichte
dieses Landes 42 Jahre lang in unterschiedlichen Konstellationen regiert,
({4})
entweder mit uns oder mit den Sozialdemokraten. Ich fordere Sie auf - dabei lasse ich Ihnen die freie Auswahl -:
Suchen Sie das beste dieser 42 Jahre heraus und sagen Sie
uns, in welchem Umfang in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit reduziert wurde.
({5})
Wenn Sie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit um
536 000 Personen als ungenügend bezeichnen,
({6})
muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der Realität überhaupt keine Ahnung mehr, Herr Kollege Kolb.
({7})
- Herr Kollege Kolb, es kommen noch ganz andere Sachen. Bleiben Sie erst einmal sitzen.
({8})
Suchen Sie lieber in Ruhe das beste Jahr Ihrer Regierungszeit heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang
Sie in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit gesenkt haben.
Sie wollen die Zwischenfrage also nicht zulassen?
Nein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung der
Altersgrenze auf 67 Jahre tritt nicht heute in Kraft und
auch nicht morgen oder übermorgen, wie von Kritikern
immer wieder suggeriert wird. In den nächsten fünf
Jahren ändert sich beim Renteneintrittsalter überhaupt
nichts.
({0})
Erst ab dem Jahr 2012 beginnen wir sehr behutsam damit, das Renteneintrittsalter um einen Monat pro Jahr zu
erhöhen. Das heißt, im Jahre 2023, also in 17 Jahren, haben wir ein um ein Jahr höheres Renteneintrittsalter als
heute. Dann wird es bei 66 Jahren liegen. Danach geht es
in größeren Schritten weiter. Das ist ein behutsamer und
kalkulierbarer Weg.
Richtig ist, dass uns die heutige Situation auf dem Arbeitsmarkt für die Menschen über 50 Jahre noch nicht
zufrieden stellen kann. Aber auch hier sind wir auf dem
richtigen Weg. Wenn man sich die Quote der Beschäftigung der 55- bis 64-Jährigen, wie sie im EU-Vergleich
gemessen wird, vor Augen führt, stellt man fest: Noch
vor drei Jahren lag sie in Deutschland bei unter 40 Prozent. Heute liegt diese Quote bei uns bei 45,4 Prozent, in
der alten EU 15 bei 44,1 Prozent und in der EU 25 bei
42,5 Prozent. Das heißt, was die Beschäftigung Älterer
angeht, sind wir schon jetzt klar über dem EU-Durchschnitt. Dieser Trend ist positiv. Wir haben uns vorgenommen, im Jahr 2010 - bis dahin wird sich beim Renteneintrittsalter nichts geändert haben - 50 Prozent zu
erreichen. Auf diesem Weg sind wir.
Im November dieses Jahres waren 97 000 weniger
über 50-Jährige arbeitslos gemeldet als vor einem Jahr.
Wir sind also auf einem positiven Weg, was die Beschäftigung Älterer angeht. Wir werden diesen Weg gemeinsam weitergehen. Schon im Jahr 2012 wird die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt völlig anders verlaufen.
Jeder, der mit diesem Thema seriös umgeht, weiß, dass
der Arbeitsmarkt des Jahres 2029 völlig anders aussehen
wird als der heutige. Deswegen sind diese Maßnahmen
sachgerecht.
({1})
Wir haben in vielen wichtigen Detailfragen deutlich
gemacht, dass wir eine Reform durchführen müssen, die
finanzielle Solidität und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Beides ist notwendig. Von diesem Prinzip
haben wir uns leiten lassen, als es um die Frage ging:
Wie gehen wir mit dem runden Dutzend verschiedener
Rentenarten um, die es von der Rente für Schwerbehinderte über die Rente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute bis hin zur Witwen- und Witwerrente
gibt? Wir haben uns dabei von dem Grundsatz leiten lassen, jeweils parallel zur Regelaltersrente bis zum Jahr
2029 einen Anstieg um zwei Jahre vorzunehmen.
Wir haben in drei Bereichen Ausnahmen gemacht.
Der Erste betrifft die Menschen, die 45 Jahre gearbeitet
haben, also besonders langjährig Versicherte. Wir stellen sicher, dass diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzuweisen haben, weiterhin mit 65 Jahren ohne Abschläge
in Rente gehen können. Da mag mancher sagen, das sei
unsystematisch. Wahr ist, das ist etwas Neues. Wir sagen
damit klipp und klar: Beitragsleistung ist notwendig, die
Sozialversicherung lebt von den Beiträgen. Eine langjährige Beitragszahlung bedeutet auch etwas im Hinblick auf die Lebensleistung. Das muss in den sozialen
Sicherungssystemen honoriert werden. Das hat etwas
mit sozialer Gerechtigkeit zu tun und deswegen machen
wir das so.
({2})
Weil wir diejenigen, die Familienarbeit leisten, nicht
schlechter stellen wollen, weil wir Beitragsleistung und
Familienleistung gleichstellen wollen, haben wir gesagt:
Diejenigen, die Kinder erziehen, bekommen diese Zeit
angerechnet; diejenigen, die Angehörige pflegen, bekommen das angerechnet.
({3})
Für die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kindes
wird angenommen, der Durchschnittsbeitrag sei eingezahlt worden. Durch die Einbeziehung der Kinderberücksichtigungszeiten werden im Grunde zehn Jahre pro
Kind angerechnet, wenn festgestellt wird, wie lange jemand versichert war. Dies ist nach meiner festen Überzeugung eine notwendige Ausnahme. Ich bin dankbar,
dass unser Koalitionspartner diesem Wunsch, den wir in
die Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, gefolgt
ist, dass wir das gemeinsam verabreden konnten. Das
war ein langjähriges Ziel der Union und ich darf sagen,
es war auch ein langjähriges Ziel der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, eine solche Ausnahme
für besonders langjährig Versicherte zu schaffen. Ich bin
froh, dass wir dies vereinbart haben.
({4})
Wir haben eine weitere Ausnahme verabredet für
langjährig Versicherte, die vor dem 67. Lebensjahr in
Rente gehen wollen. Das ist bisher schon möglich - mit
versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen -, allerdings in einem kürzeren Korridor. Wir werden dafür
sorgen, dass es weiterhin möglich ist, mit 63 Jahren in
Rente zu gehen; bei der Rente mit 67 dann mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen für vier Jahre.
Damit kommen wir auch einem Wunsch der Tarifpartner
nach mehr Flexibilität nach. Diese Regelung ist für die
Rentenversicherung langfristig kostenneutral.
Uns ist darüber hinaus klar: Es wird bei allem Fortschritt bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisse
immer Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten können. Deswegen brauchen wir auf Dauer das Instrument
der Erwerbsminderungsrente; auch dazu bekennen wir
uns ausdrücklich. Heute geht jemand, der nicht mehr
voll arbeiten kann, mit ungefähr 50 Jahren in die Erwerbsminderungsrente. All diejenigen, die in einem solchen Alter in Erwerbsminderungsrente gehen, bleiben so
gestellt, wie sie sind: Sie werden so behandelt, als hätten
sie bis 60 gearbeitet, das heißt, die so genannten Zurechnungszeiten bleiben unverändert, für diese Menschen
ändert sich nichts. Auch für all diejenigen, die langjährig
versichert sind, wird es möglich sein, wenn sie später in
Erwerbsminderungsrente gehen, die volle Erwerbsminderungsrente zu beanspruchen. Das heißt, für langjährig
Versicherte wird es im Alter von 63 Jahren weiterhin die
volle Erwerbsminderungsrente geben. Wir bekennen uns
dazu. Auch wenn der Grundsatz der Heraufsetzung um
zwei Jahre auch bei dieser Rentenart gilt, haben wir weit
reichende Ausnahmen geschaffen, um der Lebens- und
Beschäftigungssituation derer gerecht zu werden, die
nicht so lange arbeiten können. Die Starken für die
Schwachen, das ist das Prinzip der solidarischen Rentenversicherung. Die, die nicht mehr können, werden aufgefangen von der Solidargemeinschaft derer, die länger
arbeiten können. Das ist das bewährte Prinzip der Rentenversicherung. Das erhalten wir aufrecht.
({5})
Diese Rentenreform auf den Weg zu bringen, war in
der Tat nur gegen massive Widerstände möglich; das ist
wahr. Der Begriff der Jahrhundertreform ist politisch
viel zu häufig strapaziert worden. Deswegen will ich davon bewusst nicht sprechen. Aber sicherlich schreiben
wir ein Stück Sozialgeschichte, wenn wir heute die Weichen für einen Übergangszeitraum von 23 Jahren stellen,
um dann die Grundlage für eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 18 Jahren zu haben.
Das war - das ist schon angesprochen worden - nur
gegen massive Widerstände möglich. Wichtige und
mächtige Menschen haben sich dagegen ausgesprochen.
Ich nenne als Beispiele den DGB-Chef Michael
Sommer, den FDP-Chef Guido Westerwelle, den IG-Metall-Chef Jürgen Peters und den FDP-Generalsekretär
Dirk Niebel. Sie alle haben sich gegen die Rente mit 67
ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund gilt mein besonderer Dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Vizekanzler und zuständigen Minister Franz Müntefering
sowie den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, dass wir diesem Druck nicht nachgegeben haben, sondern diesen notwendigen Beschluss gemeinsam gegen Widerstände auf den Weg gebracht
haben. Wir werden das auch weiterhin gegen Widerstände tun.
({6})
Widerstand kam leider auch von der FDP. Das wissen
Sie, Herr Kolb, am besten. Sie haben auf Ihrem letzten
Bundesparteitag den Antrag eingebracht, das reguläre
Renteneintrittsalter solle auf 67 Jahre heraufgesetzt werden. Das haben Sie damit begründet, dass die FDP den
Mut haben und sich zu notwendigen Reformschritten bekennen solle. Dafür haben Sie leider keine Mehrheit bekommen, keine Mehrheit für Mut, keine Mehrheit für
notwendige Reformschritte in der FDP. Das ist schade,
auch für Sie, Herr Kolb. Aber Sie können beruhigt sein:
Wir als große Koalition ergreifen auch gegen Widerstände unpopuläre Maßnahmen.
({7})
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze
zum Thema „50 plus“ sagen. Trotz der positiven Entwicklung, die wir haben, sind wir als Gesetzgeber aufgefordert, das, was wir tun können, auch in Zukunft zu tun,
um diesen Prozess zu flankieren. Das Programm
„50 plus“ bedeutet mehr als der Gesetzentwurf, den wir
vorlegen. „50 plus“ ist etwas, was in den Köpfen der
Menschen stattfinden muss. Es muss allen klar sein, dass
ein über 50-Jähriger nicht zum alten Eisen gehört, sondern noch rund eineinhalb Jahrzehnte zu arbeiten hat.
Deswegen gibt es schon jetzt eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung
Älterer. Es gibt aber nicht nur Gesetze. Wir auf Bundesebene nehmen auch Geld in die Hand. Das Bundesarbeitsministerium fördert 62 Modellprojekte in
Deutschland. Nach mir spricht noch die Kollegin
Schewe-Gerigk. Auch in unserem Wahlkreis - wir sind
im selben Wahlkreis tätig - gibt es ein solches Projekt.
Es wird Geld des Bundes in die Hand genommen, um
die Wirtschaft, um die Länder und um die Kommunen
stärker in diesen Prozess einzubinden.
Zusätzlich tun wir mit bundesgesetzgeberischen Maßnahmen nun noch etwas, um diesen Prozess anzustoßen.
Darüber hinaus regeln wir die EU-rechtskonforme
befristete Beschäftigung Älterer neu, und zwar in einer
Weise, die Flexibilität schafft, wie das sonst im Befristungsrecht an keiner Stelle der Fall ist. Unsere Erwartung ist, dass die Unternehmen von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen und in Zukunft noch verstärkt
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen.
({8})
Wir haben den Weg in diesem Gesetzgebungsverfahren noch vor uns. Ich sage ganz deutlich: Wir sind dafür
offen, diese gesetzlichen Maßnahmen, wenn es den Bedarf gibt, noch anzureichern und Anhörungen und Diskussionen dazu durchzuführen.
Wir von der Union wollen - auch das sage ich ganz
deutlich - für ältere Arbeitslosengeld-I-Empfänger, so
wie es der Minister vorgeschlagen hat, die Entgeltsicherung verbessern, damit mehr Menschen nach kurzer Arbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung kommen. Wir
von der CDU/CSU wollen gleichzeitig einen Kombilohn für über 50-jährige Arbeitslosengeld-II-Bezieher,
um auch die Menschen, bei denen es, aus welchem
Grund auch immer, nicht geklappt hat, sie wieder schnell
in Arbeit zu bringen, nicht aufzugeben. Auch ältere
Langzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive in unserem Land. Das hat etwas mit unserem christlichen Verständnis zu tun, niemanden aufzugeben und am Wegesrand stehen zu lassen. Deswegen werden wir in dieser
Frage auch weiterhin aktiv werden.
({9})
Also: Wir haben wichtige Reformvorhaben vorgelegt,
um die Renten zu konsolidieren und um zu einer gerechten Verteilung der Lasten aus der demografischen Entwicklung zwischen Rentenempfängern, Beitragszahlern
und Steuerzahlern zu kommen. Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv diesen Weg weitergehen im Interesse
der arbeitenden Menschen und derer, die als Rentnerinnen und Rentner den Lohn für ihre Lebensleistung von
uns mit Recht erwarten.
Herzlichen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Kolb.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich denke, wenn jemand keine Zwischenfrage zulässt, dann muss er es sich zumindest gefallen
lassen, dass man in Form einer Kurzintervention inhaltlich zu dem Stellung nimmt, was hier gesagt wurde. Herr
Kollege Brauksiepe, ich will das zu zwei Punkten tun.
Erstens. Sie sollten sich das, was Herr Minister
Müntefering gesagt hat, wirklich noch einmal vor Augen
führen: Gute Politik fängt damit an, dass man den Menschen sagt, was ist.
({0})
Sie haben wieder nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Die
Hälfte der Wahrheit ist: Die Arbeitslosenzahl in unserem
Land ist im letzten Jahr im Jahresvergleich um
500 000 zurückgegangen. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Im gleichen Zeitraum sind nur etwa
250 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen worden.
({1})
- Ja, Herr Kollege Brandner, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil die Finanzierungskrise in allen Bereichen der sozialen Sicherung damit zusammenhängt, dass
wir in den letzten vier Jahren 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Ich
freue mich, dass wir jetzt wieder 250 000 Stellen gut gemacht und etwas Boden gewonnen haben.
({2})
Zur Wahrheit gehört aber, den Menschen auch zu sagen,
dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und dass die
Lage der sozialen Sicherungssysteme weiterhin angespannt bleibt, wenn wir diese Trendumkehr nicht wirklich dauerhaft erreichen und verstetigen.
({3})
Herr Brauksiepe, Sie hätten auch sagen sollen, dass
sich die Differenz dadurch begründet, dass demografisch
bedingt viel mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt austreten, als neue hinzukommen. Manche Menschen verabschieden sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt und
manche gehen einer geförderten selbstständigen Tätigkeit - Ich-AG - nach. Für uns ist wichtig, dass die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse relativ gesehen stagniert. Wenn man sich
den Vierjahresvergleich anschaut, dann erkennt man,
dass wir weiterhin deutlich im negativen Trend liegen.
Das Zweite, auf das ich eingehen möchte, sind Ihre
Aussagen zur Position der FDP in Rostock.
({4})
In Rostock lag ein Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik
fair und generationengerecht gestalten“ vor, der sieben
Punkte enthielt. Davon haben wir sechs beschlossen.
({5})
- Darauf komme ich noch zurück. - Teilweise waren das
sehr unpopuläre Dinge, nämlich etwa die Abschaffung
des Lebensalters als Kriterium im Kündigungsschutzgesetz und die sofortige Beendigung von Frühverrentungsmöglichkeiten. Man muss hier klipp und klar sagen: Das
alles trauen Sie sich ja nicht, obwohl dies wesentliche
Teile der Lösung des Problems sind.
Einen Punkt haben wir offen gelassen, aber nicht deshalb, weil wir uns dem verweigern wollen, sondern weil
wir mit etwas mehr Zeit nach einer besseren Lösung suchen wollten. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass die FDP in wenigen
Wochen im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier
einbringen wird, in dem sehr klar beschrieben ist, wie
man die Erwartungen der Menschen bezüglich des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand besser erfüllen kann. Wir kneifen hier nicht, sondern wir werden
Farbe bekennen.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden sich mit dem Vorschlag, den wir Ihnen präsentieren werden, schwer tun.
Ich freue mich schon heute auf diese Situation.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Herr Brauksiepe, bitte.
Herr Kollege Kolb, ich bitte ausdrücklich um Entschuldigung, dass ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben habe. Ich hatte sie zu einem
späteren Zeitpunkt erwartet, nämlich dann, als ich darauf
hingewiesen habe, dass Sie die Rente mit 67 Jahren ablehnen. Als ich das das letzte Mal gesagt habe, haben Sie
eine Zwischenfrage gestellt. Sie bestreiten jetzt also
nicht mehr, dass die FDP die Rente mit 67 Jahren ablehnt.
({0})
Das haben Sie akzeptiert. Deswegen kam die von mir erwartete Zwischenfrage an dieser Stelle nicht. Sie hatten
also keine Gelegenheit, sie zu stellen. Dafür bitte ich
ausdrücklich um Entschuldigung. Wir sind sehr gespannt
darauf, was Sie uns ankündigen werden.
Ich habe von 536 000 Arbeitslosen weniger als vor einem Jahr gesprochen. Wir können gerne über die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung reden. Wir haben
317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr
als vor einem Jahr. Ich habe Ihren Beitrag so verstanden,
dass Sie einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit in
Ihren 42 Regierungsjahren nicht hinbekommen haben.
Ich mache Ihnen ein neues Angebot: Wenn Ihre Kollegin
an der Reihe ist, dann soll sie uns das Jahr der 42 Jahre
Ihrer Regierungszeit in der Bundesrepublik Deutschland
nennen, in dem Sie 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen
haben. Das wäre doch ein interessanter Beitrag zur
Wahrheitsfindung.
Vielen Dank.
({1})
- Da waren wir gut; das ist wahr.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit einem praktischen Demokratieproblem zu tun.
({0})
Herr Meckelburg hat hier in der vorigen Debatte gesagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nicht
bestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungszeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungen
sein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zu
entscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird das
zum Regelfall.
({1})
Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir die
Gesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaftsteuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalenreduzierung nehmen, all das geschieht gegen den
Mehrheitswillen der Bevölkerung.
({2})
Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breite
Übereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie,
die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, dies
läge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nun
gar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann länger
arbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintrittsalters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sich
die Sache entwickelt.
Dann werden wir dafür kritisiert - zum Beispiel von
Herrn Meckelburg und von anderen -, dass wir eine andere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber diskutieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor,
auch wir wären der Meinung, man müsse das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmal
vor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber
67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen.
({3})
Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser
67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert werden! Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie.
({4})
Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles
fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dass
man sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate bringen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union aus
dem Jahr 2005: „Sobald es die Bedingungen auf dem
Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise
Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“
({5})
- Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht.
Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt.
Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Darin steht Folgendes: „Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsalter
von 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67.
({6})
Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sie
versprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hier
realisieren.
({7})
Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachen
nicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollen
nicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So geht
es nicht!
({8})
Kommen wir zur demografischen Entwicklung, also
zu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weit
zurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurden
wir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr lange
zurück.
({9})
Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den
100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesellschaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden.
Das ist schon interessant.
({10})
Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 eingeführt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte.
({11})
1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre reduziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahre
haben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten - bei
einer Steigerung der Lebenserwartung von über
30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zum
Jahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. Im
Vergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmal
demografisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig begründen.
({12})
Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dass
es auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung gar
nicht ankommt.
({13})
- Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Sie
werden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wieder nicht.
({14})
Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist gar
nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage
ist die der Produktivität der Menschen.
({15})
1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute versorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, die
Sie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahre
stieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmen
wir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In diesem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Darauf
hat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Sie
wollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aber
weil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich es
wiederholen.
({16})
Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent.
Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Das
heißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozent
mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. erbracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur
1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen verkauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird etwas herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibt
eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten.
Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entweder die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Arbeitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres geschehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend
- darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen -: im
Laufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre
zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zu
und wir werden nicht entsprechend mehr Waren und
Dienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es in
ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeit
um zwei Jahre zu verlängern.
({17})
Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen - das ist
richtig -, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszusammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mit
dem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivität, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilung
des Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Rentenkasse sind die hohe Arbeitslosigkeit - denn Arbeitslose
zahlen keine Beiträge ein -, der Rückgang der Lohnquote - denn wenn es weniger Löhne gibt oder die
Löhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entsprechend zurück - und der wachsende Niedriglohnsektor,
wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung noch weiter zurückgehen.
Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industriegesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. In den USA, in Großbritannien und Frankreich
wurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Das
ist eine völlig andere Entwicklung.
({18})
Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenversicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu,
auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann.
Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschen
Einheit - insbesondere auch die Renten in Ostdeutschland - dem Rentenversicherungssystem aufzubürden,
statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringend
erforderlich gewesen wäre.
({19})
Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Sie
sagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil am
Durchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, im
Laufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlich
auf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich das
dramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeit
doppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durchschnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlung
ausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden geben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt,
dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersarmut zu tun bekommen werden.
Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie eine
wirkungslose Initiative „50 plus“ durchführen und das
Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich frage
mich, wo Ihre Antworten zu finden sind.
({20})
- Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und das
wissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aber
wir sind nicht bescheuert.
({21})
Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zumindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leute
wählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 Millionen
Menschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nicht
viel zutrauen.
({22})
Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie versprechen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sie
schwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt.
Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern.
({23})
Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeiten
stammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängiger
Beschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbstständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nur
noch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit,
Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sich
die Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von
90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkommen erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen
- das wäre ein mutiger Schritt -, alle Einkommen
schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung mit
einzubeziehen.
({24})
- Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein armer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung einzahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus.
Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann auch
eine Rente beziehen werden.
({25})
- Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlich
in die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wir
müssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen.
({26})
Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweiz
muss jemand, der Millionen verdient, entsprechend seinem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine gesetzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Franken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwar
richtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerne
auch im Bundestag erleben.
({27})
Die Unternehmen haben sich verändert. Zu
Bismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten in
etwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitet
wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Je
nach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und der
andere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinn
zu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Sie
die Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und führen Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel gerechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen.
({28})
Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge.
Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschen
mehr private Vorsorge betreiben und beispielsweise
Riester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssen
die Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur
Altersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnen
nicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Diesen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmen
nicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Das
entspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nicht
ihre Zukunft sein.
({29})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines
Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ich
zwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme
- was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension des
Bundestages erhalte -, dachte ich mir, dass Sie eine
kleine Strafe verdient haben: Ich bleibe hier einfach eine
Legislaturperiode länger, als ich es vorhatte.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist keine populäre
Entscheidung, wegen der demografischen Entwicklung
aber richtig. Das sage ich auch als Oppositionspolitikerin.
({0})
Wir sind nicht als Abgeordnete gewählt worden, um populistische Entscheidungen zu treffen, sondern wir sind
gewählt worden, um den Menschen die Wahrheit über
die tatsächliche Situation zu sagen und Lösungen anzubieten.
Die Wahrheit ist: Weniger Beschäftigte
({1})
müssen für mehr Rentner und Rentnerinnen längere Zeit
Rente zahlen; das sind heute 17 Jahre. Viele Gründe
sprechen für die Rente mit 67. Da ist der Geburtenrückgang. Im Jahre 2030 wird es fast 8 Millionen weniger
Menschen im Erwerbsalter geben. Da ist die steigende
Lebenserwartung. Jedes zweite heute geborene Mädchen
wird 100 Jahre alt werden. Da sind die wachsende Gesundheit und Leistungsfähigkeit Älterer sowie der schon
heute sichtbare Fachkräftemangel.
Für uns Grüne ist allerdings die Voraussetzung für die
Rente ab 67 die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt.
({2})
Herr Minister Müntefering, Ihre Initiative „50 plus“
reicht aber nicht aus; darauf wird die Kollegin Pothmer
gleich noch ausführlicher eingehen. Ich frage mich,
welche Wertschätzung die Gesellschaft gegenüber Älteren aufbringt, wenn sie davon ausgeht, dass Ältere nur
dann vermittelt werden können, wenn man den Arbeitgebern ein zusätzliches Zückerchen in Form von Kombilohn oder Eingliederungshilfen gibt. Ich kenne viele
ältere Erwerbslose mit hoher Qualifikation und einem
großen Erfahrungswissen, auf das jedes Unternehmen
stolz sein könnte. Wir brauchen endlich einen Mentalitätswandel. Es kann nicht sein, dass Menschen unter 30
zu jung und ab 45 zu alt für eine bestimmte Aufgabe
sind.
({3})
In den deutschen Betrieben herrscht aber noch immer
- das ist bedauerlich - der Jugendwahn. Wir haben in
Deutschland keine Kultur der Altersarbeit. Das haben
wir insbesondere einem zu verdanken, nämlich dem ehemaligen Rentenminister Dr. Norbert Blüm,
({4})
der mit seinem Frühverrentungsprogramm die Rentenkassen zulasten der Allgemeinheit geplündert hat. Ich
finde, es ist absolut absurd, dass er uns nun via Talkshows Ratschläge erteilt oder der IG BAU als Kronzeuge gegen eine solidarische Verlängerung der Altersgrenzen dient. Herr Exminister Blüm, Sie sollten lieber
dieses Sitzkissen, das uns die IG BAU zusammen mit ihrer Stellungnahme und ihren Ratschlägen zugeschickt
hat, nehmen und damit in ein Fußballstadion gehen, statt
die Menschen in die Irre zu führen.
({5})
Wir brauchen die innovativen Arbeitgeber, die schon
heute wissen: Lebenslanges Lernen, Gesundheitsförderung und altersgemischte Teams sind der Schlüssel für
den Erfolg eines Unternehmens der Zukunft. Es ist eine
große Herausforderung, ausreichend Arbeitsplätze für
Ältere zu schaffen. Wer aber, wie es die Linke tut, die
heutige Arbeitsmarktsituation auf das Jahr 2030 überträgt, der gibt den Anspruch auf politische Gestaltung
auf.
({6})
Wir Grüne tun das nicht. Auch darum, Herr Minister
Müntefering, unterstützen wir Sie bei Ihrem Vorhaben,
das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Was wir aber überhaupt nicht verstehen, sind Ihre doppelten Botschaften.
Sie wollen Reformer sein, trauen sich aber offensichtlich
doch nicht so richtig. Sie wollen mit Vollgas nach vorne
fahren, wollen die Rente mit 67 Jahren, gleichzeitig aber
haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt und machen ein
Gesetz, durch das 15 000 Beschäftigte der Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können.
Sie sorgen durch eine verlängerte Stichtagsregelung dafür, dass Betriebe Altersteilzeitverträge nach dem Blockmodell abschließen, sodass die älteren Beschäftigten früher entlassen werden. Ich nenne ein solches Verhalten
schizophren.
({7})
Dazu passt die geplante Einführung einer neuen abschlagsfreien Altersrente für Versicherte mit mindestens 45 Beitragsjahren. Das kostet die Versicherten
mehr als 2 Milliarden Euro und schmälert den Effekt Ihrer Reform. Das Vorhaben ist aber auch verfassungsrechtlich bedenklich, weil es Versicherte mit gleichen
Anwartschaften unterschiedlich behandelt.
({8})
Das heißt, jemand, der nach 45 Jahren abschlagsfrei in
Rente geht und 1 000 Euro erhält, bezieht 24 000 Euro
mehr als jemand, der den gleichen Anspruch bereits
nach 40 Jahren erfüllt. Da sage ich Ihnen nur: Viel Spaß
beim Bundesverfassungsgericht!
({9})
- Beim Bundespräsidenten auch.
Wenn Sie dann schon einmal in Karlsruhe sind, dann
können Sie ja vielleicht auch gleich erläutern, wie Sie
eine mittelbare Diskriminierung von Frauen legitimieren; denn 2004 konnten lediglich 5 Prozent der Frauen,
aber 41 Prozent der Männer diese 45 Versicherungsjahre
erfüllen. Hinzu kommt, dass diese Sonderregelung denen, die Sie, Herr Minister, besonders schützen wollen,
überhaupt nichts nützt.
({10})
- Ich komme gleich zu Ihnen. Lassen Sie mich zunächst
den Gedanken zu Ende führen.
Ich erinnere an die Debatte im Sommer, in der Ministerpräsident Beck Ausnahmen von der Rente mit 67 Jahren für bestimmte Berufe forderte. Er sprach von Dachdeckern und Krankenschwestern. Die Debatte läuft
heute nicht mehr. Sie dürften aber wissen, dass die die
45 Versicherungsjahre kaum erreichen, weil viele von
denen bereits mit 50 Jahren eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Darum sage ich: Diese Regelung ist Etikettenschwindel. Sie begünstigt die, die schon gute Ansprüche haben, oder: Wer hat, dem wird gegeben.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiß zulassen?
Ja, ich lasse sie gleich zu.
({0})
Profitieren wird der gut verdienende Abteilungsleiter
im öffentlichen Dienst, mitfinanzieren muss es die Verkäuferin. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben
und das nenne ich Murks.
({1})
Dann kommt jetzt die Zwischenfrage des Kollegen
Weiß.
Ich muss erst einmal den Minister zu etwas auffordern. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf: Nehmen Sie
diese verfassungsrechtlich bedenkliche, Frauen diskriminierende und sozial unausgewogene Sonderregelung
zurück! Was Sie betreiben, ist Besitzstandswahrung und
Interessenpolitik. Das lehnen wir Grüne ab. Uns geht es
ums Ganze. Uns geht es um Generationengerechtigkeit.
({0})
Herr Weiß, haben Sie eigentlich noch Interesse an einer Zwischenfrage?
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es war natürlich wunderschön, Ihnen zuzuhören. Deswegen habe ich so lange
mit der Zwischenfrage gewartet.
Meines Wissens haben Sie zwei Kinder.
Ja. Haben Sie das gerade nachgesehen?
({0})
Ein Kind heißt Verena, das andere heißt Sarah Rosa.
Danke schön, jetzt kennen wir auch die Namen.
Wenn Sie nun eines Ihrer Kinder belobigen, weil es
eine besondere Leistung erbracht oder etwas besonders
gut gemacht hat, dann ist das doch keine Benachteiligung des anderen Kindes.
({0})
- Nein, das ist ein praktisches Beispiel aus dem Leben. Es kann doch keine Benachteiligung anderer Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung sein, wenn durch eine wirkliche Innovation im neuen Rentenrecht derjenige, der lange hart
gearbeitet hat und 45 Jahre lang regelmäßig Beiträge in
die Rentenversicherung gezahlt und damit für die Leistungsfähigkeit der deutschen Rentenversicherung gesorgt hat, der Rentnerinnen und Rentnern mit seinen
Beiträgen eine anständige Rente ermöglicht hat, eine Belobigung im Rentensystem erhält, die darin besteht, dass
er mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann.
Wenn ich eine Gratifikation verteile, wenn ich eine Belobigung ausspreche, dann ist das doch keine Benachteiligung anderer.
Deswegen kann ich Ihre Denkweise - Entschuldigung, Frau Kollegin Schewe-Gerigk - überhaupt nicht
nachvollziehen, zumal wir in diese Regelung ausdrücklich eine frauenspezifische Bestimmung eingebaut haben, nämlich dass wir nicht nur die drei Jahre Kindererziehungszeiten, hinter denen Beiträge des Staates
stehen, bei den 45 Jahren anerkennen, sondern auch
zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten einrechnen.
Herr Kollege Weiß, Ihr Rechtsverständnis teile ich
nicht. Ihr Beispiel hinkt absolut. Was heißt denn eigentlich Belobigung? Wenn jemand die Chance hatte,
45 Jahre durchgehend erwerbstätig zu sein, das heißt,
wenn er keine Zeiten der Erwerbslosigkeit hatte, dann
können wir froh sein. Dann hat diese Person ein gutes
Polster für das Alter aufgebaut und kann sich auf diesem
Sitzkissen niederlassen.
({0})
Aber was ist mit den Personen, die nur 40 Jahre arbeiten
konnten und zwischendurch fünf Jahre erwerbslos waren, oder was ist mit denen, die erst später in den Beruf
eingestiegen sind und diese 45 Jahre überhaupt nicht erreichen werden?
({1})
Die Logik, die Sie verbreiten, stimmt überhaupt nicht.
Es kann doch nicht sein, dass Sie die heutige Arbeitsmarktsituation, die die Menschen daran gehindert hat,
45 Jahre zu arbeiten, diesen vorwerfen.
({2})
- Wenn das eine Beitragsleistung ist, Herr Kollege Weiß,
dann müssen Sie demjenigen, der mit 40 die gleiche
Leistung erbracht hat, das gleiche geben wie dem, der
diese Leistung mit 45 Jahren erreicht hat.
({3})
Das waren jetzt eine Nachfrage und eine Antwort.
Jetzt haben Sie noch neun Sekunden.
Nein, ich war gerade beim Stichwort Generationengerechtigkeit.
({0})
Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die
Beiträge und entlastet die nachkommende Generation.
Wir wollen, dass die Menschen individuell flexibler in
Rente gehen können. Das ist auch das, was die Mehrheit
der Bevölkerung will. Sie ist - wie schon so oft - weiter
als die Politik. Eine Mehrheit sagt, sie möchte gerne flexibel zwischen 60 und 67 Jahren mit Abschlägen oder
mit Zuschlägen in Rente gehen. Starre Altersgrenzen in
Tarif- und Arbeitsverträgen müssen aufgehoben werden.
({1})
Auch Modelle wie Teilrente und Teilzeitbeschäftigung
sind gefragt.
({2})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Neue
Wege sind oft mit Zumutungen verbunden. Das wissen
Sie, Herr Kolb. Wenn aber das Ziel klar ist und alle entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mitgenommen werden - ich sage ganz ausdrücklich: auch die Beamten und
die Politikerinnen und Politiker müssen analog zu diesen
Rentenbeschlüssen behandelt werden -, dann lohnt es
sich, diesen Weg zu gehen.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Wolfgang Grotthaus spricht für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Kollege Kolb sagte gerade: Bitte nicht zu
Herrn Gysi.
({0})
- Ich werde zu Herrn Gysi etwas sagen; denn sein Beitrag war wieder einmal eine Sternstunde des Parlaments.
Er hat uns fast körperlich bedroht, als er sagte, er werde
für noch eine Wahlperiode kandidieren. Uns wird davor
nicht bange, Herr Gysi. Wir akzeptieren Sie so, wie Sie
sind.
({1})
Ich habe in Ihrem Beitrag festgestellt, dass Sie in den
letzten 18 Jahren doch einiges gelernt haben. Sie haben
in Ihrem Beitrag unser Demokratieverständnis kritisiert.
Wir nehmen das erst einmal so hin. Das deutet darauf
hin, dass Sie die Demokratie in den letzten 18 Jahren so
richtig kennen gelernt haben. Wenn Sie das aber so herüberbringen, wie Sie es getan haben, dann wirkt das
populistisch und sehr unglaubwürdig.
Das Zweite ist: Wenn Sie den Vergleich bringen, dass
ein Bauer um 1900 acht Menschen ernähren konnte,
während es heute 80 sind, und daraus den Schluss ziehen, dass es nicht notwendig ist, Rentenbeitragserhöhungen oder eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit daraus abzuleiten, dann sage ich Ihnen: Das ist die Logik eines
Menschen, der im Arbeiter- und Bauernstaat groß geworden ist. Für mich ist das nicht logisch. Vielleicht sollten Sie auch darüber noch einmal nachdenken.
({2})
Ich möchte nun zu einigen sachlichen Begründungen
zu der Initiative „50 plus“ kommen. Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir den Menschen entgegen, die sehr
oft nur aufgrund ihres Alters aus dem Arbeitsprozess
ausgemustert worden sind. Wir bieten den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mit diesem Gesetzentwurf verschiedene Förderinstrumente, damit sie sich verstärkt
um die Einstellung älterer Kolleginnen und Kollegen bemühen.
Wir meinen, dass es unzulässig ist, wenn sich Arbeitgeber über Fachkräftemangel beklagen. Wenn gefordert
wird, ausländische Ingenieure auf dem deutschen Arbeitsmarkt zuzulassen, obwohl man weiß, dass sich insWolfgang Grotthaus
besondere ältere Kolleginnen und Kollegen mit den entsprechenden Qualifikationen in der Arbeitslosigkeit
befinden, dann ist dies wenig glaubwürdig.
Lassen Sie mich dazu eine persönliche Bemerkung
machen. Ich habe es in meinem Job erlebt, dass von
1995 an ältere Kolleginnen und Kollegen, insbesondere
Ingenieure, aus den Jobs hinausgekegelt worden sind,
vor allem im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnologie. Man hat damals jungen Menschen
gesagt, es lohne sich nicht mehr, Ingenieurwissenschaften zu studieren. Heute beklagen genau diejenigen, die
dies damals jungen Menschen mit auf den beruflichen
Weg gegeben haben, dass es keinen Nachwuchs mehr
gibt.
({3})
Diese Arbeitgeber sollten in die Pflicht genommen werden, ältere Arbeitslose, die dieses Studium schon absolviert haben, durch Fördermaßnahmen wieder in den Beruf zu integrieren.
Es ist notwendig, ältere Menschen durch gezielte
Maßnahmen nicht arbeitslos werden zu lassen und ältere
Arbeitslose durch Fördermaßnahmen wieder zu integrieren. Genau das ist die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes.
({4})
Er beinhaltet dazu ein ganzes Bündel von Maßnahmen.
Wer lebenslanges Lernen einfordert, der - wir haben darüber hier oft genug in Übereinstimmung über alle Fraktionen hinweg diskutiert - muss die Chance dazu auch
älteren Menschen geben.
Im Gesetzentwurf sehen wir dazu eine deutliche Erweiterung und damit eine effektive Verbesserung schon
bestehender Maßnahmen hinsichtlich der Regelung der
Weiterbildungsförderung älterer Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen vor. Künftig können die Beschäftigten bereits ab dem 45. Lebensjahr Förderleistungen erhalten, wenn der Betrieb weniger als 250 Arbeitnehmer
beschäftigt. Perspektivisch führt das nach unserer Auffassung zu einer Erhöhung von Fördermöglichkeiten, die
früher in Anspruch genommen werden können, wodurch
sich die Gefahr der Arbeitslosigkeit verringert.
({5})
Die Übernahme der Weiterbildungskosten stellt gerade
im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen einen
wichtigen Baustein für verstärkte Anstrengungen zur
Weiterbildung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dar.
Ein weiteres Instrument - ich sehe, die Zeit läuft mir
davon; deswegen will ich mich nur auf ein weiteres Instrument beziehen - sind die finanziellen Anreize für
Eingliederungsmaßnahmen. Wir bieten den Älteren mit
diesem Gesetzentwurf eine Teilentgeltsicherung. Das
bedeutet, dass ältere Menschen, die eine Arbeitsstelle
annehmen, die geringfügiger bezahlt wird als die vorherige, einen Gehaltszuschuss für bis zu zwei Jahre erhalten können. In der Spitze sind das 50 Prozent, im unteren
Bereich bis zu 30 Prozent. Dabei wird meistens etwas
vergessen, was für die Menschen aber ebenfalls von
Wichtigkeit ist, nämlich dass die Rentenbeitragszahlung
auf 90 Prozent des letzten Verdienstes aufgestockt wird.
Bewertet man die Inhalte dieses Gesetzentwurfes,
lässt sich feststellen, dass es attraktiv ist, ältere Menschen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Leistungsbereitschaft einzustellen. Denn das - nicht die finanziellen Voraussetzungen - ist erst einmal der wichtigste
Grund. Die Menschen, die sich um einen Job bemühen,
wollen eingestellt werden. Sie sind leistungsbereit. Sie
haben ein entsprechendes Fachwissen. Vielleicht sind sie
nicht immer so schnell wie die Jungen. Aber wer gute
Kenntnisse von Betriebsabläufen hat, kann rationeller
arbeiten als mancher, der nur schneller ist.
Mit den Förderinstrumenten wollen wir älteren Menschen in der Gesellschaft eine weitere Chance im Berufsleben geben. Ich bitte darum, dass alle Fraktionen - denn
es geht schließlich um die Menschen, die arbeitslos sind Werbung für die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen machen und in den Gemeinden auf die entsprechenden Möglichkeiten aufmerksam machen. Damit können die
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden, den Älteren eine neue Chance im Berufsleben zu geben.
({6})
Für die FDP spricht die Kollegin Sibylle Laurischk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei dem Gesetz, über das wir jetzt debattieren,
handelt es sich tatsächlich um ein Rentenkürzungsprogramm. Man muss es ganz klar so benennen.
({0})
Es nennt sich zwar Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen. Aber ich frage
mich schon, wo es die Arbeitsplätze für die über 50-Jährigen gibt. Leere Worte und schöne Plakate wie die für
die Initiative „50 plus“, Herr Minister, schaffen keine
Arbeitsplätze.
Es ist nötig, auch seniorenpolitisch hier klare Worte
zu finden. Ich bin der Auffassung, dass sich die Bundesregierung mit mehr Mut und Fantasie an den Umbau des
gesamten Sozialversicherungssystems machen müsste,
statt ständig nur an einer Schraube zu drehen.
({1})
In 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland gibt es
derzeit keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Obwohl gerade ältere Arbeitnehmer über Erfahrung und Wissen
verfügen, gehören sie neben den Geringqualifizierten zu
den großen Verlierern am Arbeitsmarkt.
({2})
Bereits für über 40-Jährige wird es immer schwieriger,
eine Anstellung zu finden. Hieran ändert die Erhöhung
des Renteneintrittsalters nichts.
Statistisch gesehen sind Menschen ab 55 Jahre einem
Rückgang der Erwerbsbeteiligung und einem Zuwachs an Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der sich ab dem
60. Lebensjahr noch einmal verschärft. Grund dafür ist
eine Arbeitsmarktpolitik, die den Trend zur Frühverrentung gefördert hat und teilweise noch fördert. Neue Vorgehensweisen in der Wirtschaft und in der Personalentwicklung sind erforderlich.
({3})
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist Heuchelei, den Renteneintritt mit 67 zu begrüßen und gleichzeitig ältere Bewerber noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen einzuladen.
({4})
Hier muss sich sehr schnell sehr viel ändern.
Aber auch die Einstellung der Arbeitnehmer muss
sich den geänderten Zeiten anpassen. Eine wichtige Voraussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist der
Erwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung von
Kompetenzen, um mit der technologischen Entwicklung
Schritt halten zu können. Arbeitgeber und Betriebsräte
müssen der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer eine
hohe Priorität einräumen.
({5})
Ich will aber Ihr Augenmerk auch auf die frauenpolitische Problematik richten.
({6})
Dieses Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen geht an der Arbeitsbiografie von
Frauen geradezu zynisch vorbei.
({7})
Wer 45 Erwerbsjahre - gegebenenfalls inklusive drei
Jahre Erziehungszeit pro Kind - nachweisen kann, kann
nach dem vorliegenden Gesetzentwurf schon mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Davon sind aber kaum
Frauen betroffen. Denn allenfalls 4 Prozent der Frauen
werden nach den vorliegenden Erhebungen zu denjenigen gehören, die tatsächlich schon mit 65 in Rente gehen
können.
({8})
Sie müssen also in der Regel bis zum 67. Lebensjahr arbeiten.
Das empfinde ich als umso zynischer, als die Anerkennung einer langen Arbeitsbiografie eben hier nicht
greift.
({9})
Wenn Frauen in Rente gehen, haben sie in den meisten
Fällen eine doppelte Belastung hinter sich, nämlich ihre
Erwerbsarbeit und ihre Sorge für die Familie inklusive
der Erziehung der Kinder. Das wird hier überhaupt nicht
berücksichtigt.
({10})
Herr Brauksiepe, an dieser Stelle haben Sie das Prinzip „Die Starken für die Schwachen“ falsch verstanden.
Vielleicht schauen Sie sich einmal den nächsten Bundesparteitag der FDP an
({11})
- sehr gerne -, um eine andere Sicht der Dinge zu erleben, nicht nur die der SPD.
Wenn wir im demografischen Wandel auf dem Arbeitsmarkt bestehen wollen, müssen wir akzeptieren,
dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch
jenseits der Lebensmitte vorhanden sind und dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit
50 enden. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Anforderungen an eine umfassende Reform der Sozialversicherungssysteme nicht gerecht, zumal er Frauen einseitig belastet.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der
Kollege Stefan Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit dem Regierungswechsel vor gut zwölf Monaten ist
die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf unter 4 Millionen gesunken. Ich finde, dieser massive
Rückgang ist ein großartiger Erfolg.
({0})
Dies ist ein Erfolg auch deswegen, weil dadurch klar
wird, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der in unserem Land stattfindet, sich nicht nur auf die Unternehmen und deren Gewinnsituation auswirkt, sondern jetzt
auch bei den Menschen ankommt.
({1})
- Herr Kollege Dr. Kolb, ich glaube, wir sollten das
nicht zu gering schätzen. Versetzen wir uns einmal in die
Situation eines Menschen, der seit langer Zeit von Arbeitslosigkeit betroffen ist und in diesen zwölf Monaten
einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat.
Stefan Müller ({2})
({3})
Für diesen Menschen ist das in der Tat außerordentlich
erfreulich; denn er hat nicht nur eine neue Arbeit gefunden, sondern hat dadurch auch neue Perspektiven und
neue Chancen und ganz einfach wieder das Gefühl, gebraucht zu werden und für sich und seine Familie etwas
zu erwirtschaften und nicht mehr auf staatliche Fürsorge
angewiesen zu sein. Deswegen sollten wir uns mit diesen Menschen freuen und froh darüber sein, dass es wieder mehr Menschen in unserem Land gibt, die eine Beschäftigung haben.
({4})
Es wird aber niemand bestreiten, dass trotz des Aufschwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die
Lage gerade für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und ältere Arbeitslose in unserem Land nach wie vor
schwierig ist. Die Zahlen wurden schon genannt: Jeder
vierte Arbeitslose in Deutschland ist älter als 50. Bundesweit sind es über 1 Million.
({5})
Davon ist die Hälfte im Übrigen schon länger als ein
Jahr arbeitslos. Das Beschäftigungsniveau der Älteren
in Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wie
vor deutlich schlechter als in anderen Ländern. Das ist
überhaupt keine Frage und darüber gibt es hier keinen
Dissens.
Was mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr bedenklich
stimmt und was ich geradezu für dramatisch halte, ist die
Tatsache, dass die Einstellungschancen Älterer in den
letzten Jahren nicht besser geworden sind. Zumindest im
letzten Jahr waren nur 7 Prozent der neuen Mitarbeiter,
also derjenigen, die neu eingestellt worden sind, älter als
50. Ein Zweites stimmt mich sehr bedenklich, nämlich
die Tatsache, dass fast jedes dritte Unternehmen in
Deutschland ältere Mitarbeiter nur dann einstellt, wenn
es staatliche Beihilfen bekommt oder wenn es keine jüngeren Bewerber findet. Daher ist hier Handlungsbedarf
unumstritten.
Ich möchte mich außerordentlich dafür bedanken,
dass es jedenfalls darüber keine Diskussionen gibt. Wir
alle wissen, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten.
Dies ist auch in den vorhergehenden Reden deutlich geworden.
({6})
Man kann über die Rente ab 67 unterschiedlicher Auffassung sein. Aber die Aufgabe, die Chancen für Ältere
auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, eignet sich aus
meiner Sicht nicht für einen parteipolitischen Streit.
({7})
Wir alle wissen, dass sich ein Fachkräftemangel abzeichnet. Wir wissen, dass die niedrige Erwerbsbeteiligung der Älteren negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat, weil Know-how
verloren gegangen ist. Ich finde, es ist gegenüber den Älteren in unserem Lande ungerecht, dass man ihnen das
Gefühl gibt, dass sie mit 50 schon zum alten Eisen gehören. Das passt nicht zusammen.
({8})
Genau deshalb haben wir die Verbesserung der Beschäftigungssituation von Älteren in unserem Land im Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Wir müssen Einigkeit darüber herstellen, dass diese
Anstrengungen auch wirklich von allen Beteiligten zu
leisten sind und nicht nur die Politik gefragt ist. Zunächst
einmal muss die Erkenntnis, dass damit alle Beteiligten
gefordert sind, durchgesetzt werden. Dies betrifft nicht
nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Es betrifft aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie die Tarifvertragsparteien.
Die Politik hat die Aufgabe, dort, wo es möglich ist,
Einstellungshemmnisse abzubauen.
({9})
Wir haben vor zwei Wochen in einem ersten Schritt die
Lohnzusatzkosten zum 1. Januar 2007 gesenkt. Natürlich wird diese Senkung der Sozialabgaben, die in ihrer
Höhe ein massives Einstellungshemmnis in unserem
Land sind, die Beschäftigungschancen, auch für ältere
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erhöhen.
({10})
Mit der Initiative „50 plus“ und dem heute vorliegenden Gesetzentwurf tun wir das, was der Arbeitsmarktpolitik möglich ist: Wir setzen Anreize, damit Unternehmen wieder ältere Mitarbeiter einstellen; dem
dient der Eingliederungszuschuss. Wir verstärken auch
den Anreiz dafür, mehr für die Bildung und Weiterbildung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu tun. Mit der Entgeltsicherung setzen wir Anreize dafür, auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen.
Nun kann man ja einwenden, dass es diese Instrumente
alle schon gibt. Das ist richtig. Wir verändern die Instrumente zwar hinsichtlich einiger Stellschrauben,
({11})
aber es gibt sie schon. Das heißt: Es wird auch darum gehen, diese Instrumente, die wir jetzt verbessern, wirklich
bekannt zu machen. Herr Bundesminister, ich bin Ihnen
außerordentlich dankbar dafür, dass Sie mit Ihrer Initiative „Erfahrung ist Zukunft“ versuchen, die Instrumente bei den Unternehmen bekannter zu machen.
({12})
Gespräche mit Unternehmen beweisen ja: Es ist das
größte Problem, dass viele Unternehmen nicht wissen,
welche Maßnahmen sie in Anspruch nehmen können.
Stefan Müller ({13})
Wir werden ein Weiteres tun müssen - das ist meine
persönliche Überzeugung -: Wenn wir im kommenden
Jahr die Instrumente der Bundesagentur für die Arbeitsförderung überprüfen, dann werden wir sie auch daraufhin überprüfen, was die Maßnahmen der BA zur Eingliederung Älterer zu leisten imstande sind.
Kommen wir zum zweiten Bereich. Nicht nur die Politik ist gefordert, auch die Unternehmen sind gefordert.
Auch die Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Arbeitnehmer keine Belastung, sondern eine wertvolle
Ressource sind. Mit der schrittweisen Erhöhung des
Renteneintrittsalters verlängert sich die Lebensarbeitszeit; ich halte das angesichts der demografischen
Entwicklung für einen richtigen und wichtigen Schritt.
Das führt aber zu der Frage, die wir heute auch schon ansatzweise diskutiert haben: Haben wir gerade für ältere
Menschen in unserem Land genügend Arbeitsplätze zur
Verfügung? In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Renteneintritt mit 67, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, seit Jahren von der Wirtschaft immer wieder gefordert wird. Deshalb ist die
Wirtschaft jetzt auch in der Pflicht - wir setzen das ja
nun um -, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer zur
Verfügung zu stellen. Gerade das Auseinanderklaffen
von Reden und Fordern auf der einen Seite und Realität
auf der anderen Seite, die so aussieht, dass keine älteren
Mitarbeiter eingestellt werden, führt zu Verdrossenheit
in Bezug auf Staat und soziale Marktwirtschaft.
({14})
Die Arbeitnehmer sind aufgefordert, länger im Berufsleben aktiv zu sein. Die Tarifvertragsparteien sind
aufgefordert, das Ihre zu tun. Ich will mich dabei gar
nicht in die Tarifautonomie einmischen, aber ich glaube
schon, dass auch die Tarifvertragsparteien dazu einen
deutlichen Beitrag leisten können.
Ich finde: Unsere Wirtschaft, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt können auf ältere Menschen nicht verzichten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ein
Signal geben, dass auch Ältere wieder Chancen haben,
in der Wirtschaft mitzuwirken.
({15})
Das Wort hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die
Kollegin Brigitte Pothmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Schewe-Gerigk hat es bereits gesagt: Die Grünen tragen
das Projekt „Rente mit 67“ mit. Wir müssen - davor
können auch Sie die Augen nicht verschließen, Herr
Gysi - die Belastung der jüngeren Erwerbsgenerationen
begrenzen.
({0})
Aber gerade weil wir zu diesem Projekt stehen, müssen
wir die Verantwortung auch dafür übernehmen, dass
nicht versucht wird, die Gerechtigkeitslücke, die sich
dann, wenn wir nichts tun, bei den Jüngeren zweifellos
ergeben wird, dadurch zu schließen, dass eine neue Gerechtigkeitslücke bei den Älteren aufgerissen wird.
({1})
Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen:
Wenn es nicht gelingt, die Erwerbsbeteiligung der Älteren in großem Umfang zu erhöhen, wird das zu einer Altersarmut erheblichen Ausmaßes führen. Wenn die
Menschen keine Arbeit mehr haben, beginnt die Altersarmut schon in den Jahren, bevor sie in Rente gehen. Sie
setzt sich natürlich fort, wenn die Menschen Rente beziehen, weil weniger eingezahlt worden ist. Das Programm 50 plus reicht bei weitem nicht aus, um dieses
Problem zu lösen, und zwar weder quantitativ noch qualitativ.
Ich will etwas zu den Zahlen sagen. 1,3 Millionen arbeitslose Menschen sind älter als 50. Mit den jetzt hier
vorgestellten Programmen erreichen Sie, wenn alles supergut läuft,
({2})
100 000 von ihnen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob
Sie mit Ihren Programmen 100 000 Menschen erreichen
können;
({3})
denn mit den Instrumenten Eingliederungszuschuss
und Entgeltsicherung haben Sie 2006 nur 19 000 Menschen erreicht. Sie müssten die Zahl also signifikant steigern. Wir sind gerne bereit, Sie dabei zu unterstützen.
Ich will deutlich sagen: Die Prognose ist zwar sehr positiv, aber gemessen an den Problemen, erreichen Sie nach
wie vor viel zu wenig Menschen.
({4})
Die Frage ist, ob diese Instrumente die richtigen sind.
Sie versuchen nämlich, mit ihnen angebliche Produktivitätsnachteile auszugleichen. Die Instrumente haben damit immer einen stigmatisierenden Charakter. Diese
Stigmatisierung unterstützen Sie - auch das muss gesagt
werden - mit Fehlanreizen, zum Beispiel mit der so genannten 58er-Regelung.
({5})
Diese Stigmatisierung gegenüber Ältern unterstützen
Sie, wenn Sie Altersteilzeitregelungen treffen. In besonderem Maße gilt das, wenn bei Post und Telekom jetzt
15 000 ältere Beschäftigte mit aktiver Unterstützung dieser Bundesregierung in den Vorruhestand gehen.
({6})
Sie fordern die Unternehmen auf, Vorurteile gegenüber
Älteren abzulegen, produzieren diese Vorurteile aber
durch Ihr eigenes Handeln immer wieder neu.
Gleichzeitig fehlt Ihnen leider völlig der Ehrgeiz, die
Beschäftigungsfähigkeit der älteren Menschen zu erhalten, sie zum Beispiel durch mehr und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten arbeitsfähig zu halten; denn mit
den 5 Millionen Euro, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
für die Weiterbildung von Beschäftigten einsetzen wollen,
({7})
erreichen Sie rechnerisch - jetzt hören Sie genau zu 790 Beschäftigte. So viel zur Dimension des Problems
und zur Lösung, die Sie hier vorschlagen.
Das Programm 50 plus ist nicht mehr als ein Tropfen
auf den heißen Stein. Es ist sogar weniger. Herr Grotthaus, Sie haben die Chance, die Ausweitung des Prinzips
des lebenslangen Lernens auf die Mitarbeiter kleiner und
mittlerer Betriebe grundlegend anzustoßen, vertan, obwohl Sie selbst genau das fordern. Angesichts von
790 geförderten Leuten kann man doch nicht allen Ernstes davon sprechen.
({8})
Ich komme zum Schluss. In Zeiten der großen Koalition gilt einmal mehr: Älterwerden ist nicht schwer, alt
zu sein dagegen sehr!
Danke schön.
({9})
Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“,
und mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Was hat uns der
frühe Prophet des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung, Udo Jürgens, zu sagen?
({0})
Wir leben länger, sind länger aktiv und bekommen auch
länger Rente. Das stimmt.
({1})
Mir fällt dazu ein Fall aus meiner Bürgersprechstunde
ein. Einem über 50-Jährigen, der einen Job suchte, habe
ich gesagt, welche Firmen in meiner Heimat bevorzugt
Ältere einstellen. Nach wenigen Wochen habe ich ihn
wieder getroffen. Er hatte einen Job.
({2})
Wieso?
({3})
Der Arbeitgeber suchte eine qualifizierte Kraft mit Erfahrung.
Ich weiß, dass jetzt viele mit Gegenbeispielen kommen. Natürlich haben sie Recht: Gerade Ältere ohne
Ausbildung haben am Arbeitsmarkt geringe Chancen.
Das wissen wir alle. Aber der Unterschied zu uns Sozialdemokraten ist: Wir sind der festen Überzeugung, dass
wir handeln können.
({4})
Denn mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 50 ist
noch lange nicht Schluss. Mit 50 Jahren gehört niemand
zum alten Eisen.
({5})
Deshalb bringen wir heute die Initiative „50 plus“
auf den Weg. Mit ihr werden wir den Arbeitsmarkt für
Ältere verändern. Sie wird nächstes Jahr starten. Mit der
Initiative „50 plus“ fördern wir lebenslanges Lernen,
schaffen finanzielle Anreize zur Beschäftigung Älterer
und entwickeln neue Methoden zur Verbesserung der
Arbeitsplätze, humanisieren also die Arbeitswelt. Denn
nur wer gesund ist, kann bis 65 oder 67 arbeiten.
({6})
Wir verbinden die Initiative „50 plus“ mit der Rente
ab 67. Die Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zukunftsfest zu machen und den Generationenvertrag fortzuführen. Mit der Initiative „50 plus“ liegen die Instrumente auf dem Tisch, mit denen für Ältere der
Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Hier und heute
will ich mit einigen Vorurteilen aufräumen.
({7})
Erstens. Rentnerinnen und Rentner - ich kann nur
hoffen, dass mir viele zu Hause vor den Bildschirmen
zuhören ({8})
sind von der Rente ab 67 nicht betroffen. Für sie ändert
sich nichts.
({9})
Zweitens. Erst ein heute 42-Jähriger ist voll von der
Rente ab 67 betroffen. Aber er lebt auch in der festen Sicherheit, dass er durchschnittlich drei Jahre länger Rente
bezieht als ein heutiger Rentner, und wahrscheinlich hat
er mit seinem Berufsleben später angefangen.
({10})
Drittens. Die Rente ab 67 hat mit den heutigen Arbeitslosenzahlen - sie sind zum Glück auf unter
4 Millionen gesunken - nichts zu tun.
({11})
Denn erst 2012 starten wir mit der schrittweisen Umsetzung der Rente ab 67, die nach 17 Jahren abgeschlossen
ist, also nachdem die Initiative „50 plus“ ihre Wirkung
entfaltet hat und wir in Deutschland händeringend Fachkräfte suchen werden.
({12})
Viertens. Es gibt schon heute Betriebe, die Ältere
gerne einstellen, zum Beispiel die Firma Härter aus Königsbach-Stein in meiner Heimat.
({13})
Denn gerade Ältere sind leistungsbereit und motiviert.
Mehr noch: Ältere bewahren in schwierigen Situationen
einen kühlen Kopf.
({14})
Die Firma Härter wurde deshalb letzte Woche von unserem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister, Franz
Müntefering, als Unternehmen mit Weitblick ausgezeichnet.
({15})
Ich bin der festen Überzeugung: Politik kann den Mentalitätswandel in den Köpfen beeinflussen. Nur wer gute
Beispiele kennt, kann diese nachahmen. Deshalb fordere
ich alle hier im Haus auf, gute Beispiele vor Ort immer
wieder bekannt zu machen.
Fünftens. Gerade ältere Arbeitnehmer haben Angst,
dass sie nach vielen Berufsjahren nicht mehr arbeiten
können, die Rente erst ab 67 bekommen und davor
schauen müssen, wo sie bleiben. In diesem Fall gibt es
schon heute die Erwerbsminderungsrente. Sie müssen
wir noch einmal unter die Lupe nehmen, um denen, die
nicht mehr können, eine echte Perspektive zu bieten.
Aber wir dürfen nicht vergessen: Das ist der nachsorgende Sozialstaat. Wir müssen den vorsorgenden Sozialstaat konsequent stärken. Es kann nicht sein, dass Arbeit
die Menschen krank macht. Deshalb muss die Arbeitsplatzqualität in den Betrieben verbessert werden. Teilhabe bis 67 ist dabei das Ziel aller. Alle, das sind: Betriebsräte, Arbeitgeber, jeder Einzelne und die Politik.
({16})
Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen arbeiten wollen. Sie wollen Teilhabe und das geht in der
Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit. Deshalb ist unsere
Strategie richtig: zuerst die Initiative „50 plus“, die mehr
Jobs für Ältere fördert, und dann im zweiten Schritt die
langsame Anpassung der Rente an die Bevölkerungsentwicklung. Bei steigender Lebenserwartung führen wir
damit den Generationenvertrag fort und verbessern die
Generationengerechtigkeit.
({17})
Älter werden wollen wir, Mitmachen fördern wir und
dass wir das können, dafür kämpfen wir.
({18})
Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im nächsten Monat, am 21. Januar 2007, feiert die
dynamische Rente in Deutschland ihren 50. Geburtstag.
Vor genau 50 Jahren ist die dynamische Rente, eine der
größten sozialpolitischen Leistungen unseres Landes,
beschlossen worden.
({0})
Wir wollen mit der Rentenreform, die wir heute in den
Bundestag einbringen, dafür sorgen, dass die Rente in
Deutschland nicht lahmt, sondern auch in Zukunft dynamisch bleibt. Darum geht es.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor 50 Jahren lag
die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern
bei 66 Jahren, die von Frauen bei 71 Jahren. Im
Jahr 2030, wenn die heutige Reform voll greift, liegt die
durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bei
fast 81 Jahren, die einer Frau sogar bei 86 Jahren. Das ist
eine erfreuliche Entwicklung.
Dabei muss man aber auch berücksichtigten, dass wir
uns in den kommenden Jahren auf ein Schrumpfen
unserer Bevölkerung einstellen müssen. Jede neue Generation wird um etwa ein Drittel kleiner sein als ihre Elterngeneration. Das ist übrigens die entscheidende Zahl,
die der Kollege Gysi in seinen Rechenbeispielen vergessen hat, weswegen sie von vorn bis hinten nicht stimmen.
({2})
Auf diese Fakten muss der Gesetzgeber reagieren, damit die Rentenversicherung für alle Generationen ein
verlässliches und leistungsstarkes Instrument der Alterssicherung bleibt. Ich behaupte: Egal wer regiert,
({3})
niemand kann der Notwendigkeit zur Anhebung der Regelaltersgrenze ausweichen, es sei denn, er will die gesetzliche Rente bewusst gegen die Wand fahren.
Die große Koalition handelt rechtzeitig. Wir beschließen jetzt die Anhebung der Regelaltersgrenze. Wie
Frau Kollegin Mast gesagt hat, sind die nächsten Rentnergenerationen davon aber überhaupt nicht betroffen.
Wir starten schrittweise ab dem Jahr 2012 und erreichen
die neue Regelaltersgrenze für die, die dann in Rente gehen, im Jahr 2029.
Peter Weiß ({4})
({5})
- Ja, 2029, Herr Tauss.
({6})
Wir stellen die Weichen also rechtzeitig und vorausschauend. Wer bei der Rente mit 67 nicht mitmachen
will, der steckt den Kopf in den Sand und flieht aus der
rentenpolitischen Verantwortung.
({7})
Die Polemik gegen die Rente mit 67 wird mit dem
Argument geführt, dabei handele es sich um eine verkappte Rentenkürzung.
({8})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte
es auf ganz drastische Weise formulieren: Diese Behauptung ist schlichtweg eine Lüge.
({9})
Fakt ist:
Erstens. Die Anhebung der Regelaltersgrenze um
zwei Jahre bis zum Jahr 2029 entspricht der Steigerung
der Lebenserwartung. Das heißt, die durchschnittliche
Rentenbezugsdauer desjenigen, der im Jahr 2029 in
Rente geht, ist nicht kürzer als die Rentenbezugsdauer
desjenigen, der heute in Rente geht, sondern sie ist eher
länger. Das, was wir beschließen, hat also nichts mit einer Rentenkürzung zu tun.
Zweitens. Man muss darauf hinweisen, dass durch die
Rente mit 67 das Verhältnis zwischen aktiven Erwerbstätigen einerseits und Rentnerinnen und Rentnern andererseits verbessert wird. Der in der Rentenformel enthaltene
so genannte Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt,
({10})
dass angesichts einer solch positiven Veränderung wieder Rentenerhöhungen ermöglicht werden. Um es klar
und deutlich zu sagen: Wer für die Rente mit 67 stimmt,
der macht Rentenerhöhungen erst wieder möglich.
({11})
Wer gegen die Rente mit 67 stimmt, gehört zur Fraktion
der potenziellen Rentenkürzer. Das sind die Fakten.
({12})
Wer lange gearbeitet hat und durch langjährige Beitragszahlung in besonderer Weise zur Leistungsfähigkeit
der Rente beigetragen hat, dem geben wir die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren schon mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Ich möchte betonen: Die
45-Jahre-Regelung ist keine Benachteiligung anderer,
({13})
sondern eine Belohnung für ein langes und aktives Berufsleben.
({14})
Daher ist die 45-Jahre-Regelung in meinen Augen ein
Schlüssel zur Akzeptanz des neuen Rentenrechts.
({15})
Zur Anhebung der Regelaltersgrenze gehört als
zweite Seite ein und derselben Medaille - deswegen die
beiden Gesetzentwürfe, die wir heute gemeinsam beraten - die Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Initiative „50 plus“. Auch wenn viele etwas anderes behaupten, haben wir da in den letzten Jahren schon gewisse Fortschritte erzielt. Im Jahr 2000 lag die Quote der
55- bis 65-Jährigen, die noch im Erwerbsleben standen,
bei nur 37,5 Prozent.
({16})
Im Jahr 2005 lag sie immerhin bei 45 Prozent. Das war
wenigstens eine kleine Verbesserung. Aber es ist immer
noch viel zu wenig. Deswegen wollen wir den positiven
Trend durch die Initiative „50 plus“ massiv verstärken.
({17})
Was unsere Nachbarländer, vor allen Dingen im Norden Europas, zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschafft haben, können wir auch in Deutschland schaffen.
Wir brauchen dafür einen Aktionsplan aller Akteure für
die nächsten zehn bis zwanzig Jahre, nicht nur der Politik - etwa in Form eines Gesetzentwurfes, wie wir ihn
heute beraten -, sondern auch der Tarifpartner, der Wirtschaft, der Medien. Wir brauchen eine Veränderung des
Bewusstseins dahin gehend, dass die Erfahrung und die
Kompetenz Älterer unsere Wirtschaft und unser Land
voranbringen können.
({18})
Ich finde, mit den beiden Gesetzesvorhaben zeigt die
Bundesregierung, dass sie vorausschauend handelt. Es
gehört in der Tat Mut dazu, in der Politik etwas zu tun,
was auf den ersten Blick bei vielen Bürgerinnen und
Bürgern nicht besonders beliebt ist. Diese große Koalition hat den Mut, das Notwendige vorausschauend zu
tun. Deswegen, behaupte ich, wird sie Erfolg haben.
Vielen Dank.
({19})
Nächster Redner ist nun der Kollege Anton Schaaf für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, die Diskussion über die Zukunft der Rente ist
immer eine verkürzte Diskussion; denn in der Regel
steht dabei die Finanzierbarkeit der Rente im Vordergrund. Ich glaube, die Diskussion ist verkürzt, weil die
Alterung der Gesellschaft, der demografische Wandel
auch eine gesellschaftliche und nicht nur eine finanzielle
Herausforderung ist.
({0})
Die finanziellen Fragen kann man sicherlich schlicht beantworten, indem man die Beiträge erhöht. Das kann
man machen. Oder man erhöht einfach den Steuerzuschuss.
Übrigens, Herr Gysi, hat es nicht nur Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deutschen Einheit gegeben. Wir lassen der Rentenversicherung jedes Jahr einen Zuschuss von 78 Milliarden Euro
für die Aufgaben zukommen, die über die reinen Rentenzahlungen hinaus zu leisten sind. In dieser Hinsicht
wird ja immer von versicherungsfremden Leistungen gesprochen. Ich finde, dass beispielsweise die Anerkennung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremde
Leistung ist.
({1})
Das ist eine sozialpolitische Leistung, die genau da angesiedelt gehört, wo sie es jetzt ist: bei der gesetzlichen
Rentenversicherung. Also: Wir führen eine verkürzte
Diskussion.
Dass wir in unserem Lande mehr ältere Menschen haben, ist kein Problem; da hat Gysi völlig Recht. Die
Frage ist aber, ob die Bevölkerungsentwicklung insgesamt mit der Alterung der Gesellschaft Schritt hält, ob
also genügend Junge nachwachsen. Da müssen wir
schlichtweg konstatieren: Die Gesellschaft wird im
Schnitt immer älter, und zwar deshalb, weil immer weniger Junge nachkommen. Das ist die gesellschaftliche
Herausforderung, auf die wir eine Antwort geben müssen.
({2})
Eines ist völlig klar: Jemand, der 50 oder 55 Jahre alt
ist, darf in diesem Land nicht als alt gelten und vor diesem Hintergrund aus den Erwerbsprozessen gedrängt
werden. Das ist der entscheidende Punkt.
({3})
Frau Pothmer hat gesagt, dafür reicht unser Programm
„50 plus“ nicht aus. In der Tat, Frau Pothmer: Es reicht
nicht aus, definitiv nicht. Die Erkenntnis, dass man mit
50 nicht alt ist, muss bei den Verantwortlichen in den
Betrieben wachsen.
({4})
Das ist eine Grundvoraussetzung, um die Beschäftigungsfähigkeit Älterer zu erhöhen. Übrigens haben wir
dafür in den letzten beiden Legislaturperioden im Rahmen der Betriebsverfassung enorme Möglichkeiten geschaffen, was den Gesundheitsschutz am Arbeitplatz
oder was Weiterbildung und Qualifizierung angeht. Die
Tarifpartner sind aufgefordert, diese Möglichkeiten auch
zu nutzen.
({5})
Es hieß, wir hätten in der Frage der Erwerbsminderung populäre Ausnahmen gemacht.
({6})
- „Populistische Ausnahmen“, haben Sie gesagt, Herr
Kolb, genau. - Als Antwort darauf sage ich sehr deutlich: Ich werde mich auf gar keinen Fall damit abfinden,
dass Arbeit dazu führt, dass Menschen wirklich krank
werden.
({7})
Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Realitäten anschaut, dann muss man feststellen, dass das oftmals leider noch so ist. Deswegen ist es völlig richtig: Solange
Arbeit Menschen tatsächlich krank und kaputtmacht,
müssen die bisherigen Regelungen zur Erwerbsminderung beibehalten werden.
({8})
Ich bin froh, dass unser Koalitionspartner in diesem
Punkt mitgemacht hat und wir die Regelungen zur Erwerbsminderung so belassen konnten, wie sie im Gesetz
sind, und nicht verändern mussten: Zugang mit 60 Jahren, abschlagsfrei mit 63 Jahren.
({9})
Das war unsere Leistung. Wir sprechen über die Menschen, die sich kaputt gearbeitet haben und die über die
Erwerbsminderung die Möglichkeit haben, zukünftig
mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen.
Es ist eine sozialpolitische Frage: Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen so
ändern, dass Menschen nicht durch Arbeit krank werden
- Herr Kolb, Sie könnten einiges bei Ihrer Klientel, den
Unternehmern, dafür tun -, dann bräuchten wir auch
keine Erwerbsminderungsrente mehr.
({10})
Das ist ganz klar. Dann kommen wir ohne weiteres voll
und ganz zusammen.
Ich möchte noch etwas zum Änderungsantrag der
FDP sagen. Die FDP schreibt, wir sollten hinsichtlich
der Annahmen - es sind keine Prognosen, sondern Annahmen -, die der Rentenversicherungsbericht zur
Entwicklung gibt, zurückhaltender sein. Der Sozialbeirat
hat uns durchaus ein gutes Zeugnis ausgestellt.
({11})
Sie sagen, unsere Annahme eines durchschnittlichen
Lohnzuwachses von 2,5 Prozent, den wir erwarten, sei
deutlich zu positiv.
Ich kann Ihnen auch sagen, wieso Sie das sagen: Ihr
Kollege Niebel hat in einer TV-Show auf die Frage, ob
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht partizipieren sollten, geantwortet: Ja, aber nicht über prozentuale Lohnerhöhungen. Wenn man keine prozentualen Lohnerhöhungen
haben möchte, dann ist auch die Annahme, die Prognose
falsch; das ist doch völlig klar.
({12})
Heute sind wir in einer Situation, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem wirtschaftlichen Erfolg,
den wir aufgrund der Arbeit, die die alte Regierung, aber
auch die neue Regierung gemacht hat, zu konstatieren haben, partizipieren müssen, und zwar vernünftig. Das entlastet die Sozialkassen, und zwar wirklich nachhaltig.
({13})
Zu der Frage, ob die Rente mit 67 nicht eine verkappte Rentenkürzung ist. Populistisch kann man so sicherlich argumentieren.
({14})
Allerdings müsste man dann gleichermaßen auch Folgendes sagen: In den 60er-Jahren hatten wir eine durchschnittliche Rentenbezugszeit von zehn Jahren, heute
sind es 17 Jahre. Das bedeutet im Prinzip eine gigantische Rentenerhöhung. Wir haben den Menschen viel
mehr gegeben, da sie viel länger Rente beziehen. Anders
kann man aus meiner Sicht nicht sauber argumentieren.
Das ist nicht redlich.
({15})
Damit macht man den Menschen schlichtweg Angst.
Zum Schluss möchte ich auf die Rede von Herrn Gysi
eingehen. Herr Gysi, in der Tat haben Sie Recht, wenn
Sie sagen, dass viele Menschen die Rente mit 67 ablehnen. Aus ihrer persönlichen Situation heraus ist das auch
völlig nachvollziehbar, schließlich ist es eine Belastung.
Das gilt übrigens nicht für die Rentner von morgen, auch
nicht von übermorgen. Wir sollten in unseren Statements
auch nicht so tun, als wäre das so, sondern sagen, was
tatsächlich absehbar ist, damit es planbar und für die
Menschen handhabbar ist. Dass es eine Belastung ist,
werde ich nicht negieren, an keiner Stelle. Dass viele
Menschen das nicht wollen, ist völlig klar. Aber das
heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der nachfolgenden Generationen handeln.
({16})
Dass das von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird,
heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der Menschen handeln. Das ist völlig widersinnig. Das sozialdemokratische Interesse gilt primär den sozialen Sicherungssystemen. Ich sage als Bekenntnis eindeutig: Uns
geht es bei den Maßnahmen, die wir nicht nur vor dem
Hintergrund des Koalitionsvertrages, sondern auch vor
dem Hintergrund der Erkenntnisse, die man selber gesammelt hat, ergreifen müssen, darum, die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer als paritätische und solidarische Sicherungssysteme zu erhalten.
({17})
Das bedingt, dass man bereit ist, sich selbst zu verändern. Vor dem Hintergrund der weltweiten, europaweiten, aber auch nationalen Entwicklung, vor dem Hintergrund der Globalisierung haben wir Handlungsbedarf.
Dieser Handlungsbedarf, dem wir jetzt Rechnung tragen,
ist allemal im Interesse der Menschen. So agieren wir.
Danke.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/3793, 16/3794, 16/3027,
16/3676, 16/3815, 16/3812, 16/3700 und 16/907 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 k
sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln ({0})
- Drucksache 16/3654 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität ({2})
- Drucksache 16/3656 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Technologie und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
- Drucksache 16/3657 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln ({5})
- Drucksache 16/3658 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport
- Drucksache 16/3712 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister
- Drucksache 16/3755 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Innenausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und -verbringungsregister vom 21. Mai
2003 sowie zur Durchführung der Verordnung
({9}) Nr. 166/2006
- Drucksache 16/3756 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Innenausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirksam, unbürokratisch und marktwirtschaftlich
gestalten
- Drucksache 16/3318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Jürgen Gehb, Norbert Geis, Ute Granold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf
Körper, Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian
Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Ächtung des Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933
- Drucksache 16/3811 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Börsengang der Bahn stoppen
- Drucksache 16/3801 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee
Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Deutsche Flugsicherung europarechtlichen
Rahmenbedingungen anpassen
- Drucksache 16/3803 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über
den Schutz und die Förderung der Vielfalt
kultureller Ausdrucksformen
- Drucksache 16/3711 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({15})
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit ermöglichen - Künstlerdienste sichern
- Drucksache 16/3779
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
ebenfalls der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a bis
30 s sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 j. Dabei handelt
es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
11. April 1997 über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region
- Drucksache 16/1291 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
- Drucksache 16/3669 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Uwe Barth
Cornelia Hirsch
Kai Gehring
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 16/3669,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft
- Drucksache 16/513 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 16/3837 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Christine Lambrecht
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3837, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes
- Drucksache 16/2857 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 16/3833 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Mechthild Dyckmans
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3833, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Budapester Übereinkommen vom
22. Juni 2001 über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt ({4})
- Drucksache 16/3225 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 16/3834 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3834,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit derselben Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen
- Drucksache 16/3250 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 16/3836 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des Haager Übereinkommens vom
13. Januar 2000 über den internationalen
Schutz von Erwachsenen
- Drucksache 16/3251 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 16/3836 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Barbara
Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN
Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen
von Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern
- Drucksachen 16/2079, 16/3213 Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Kranz
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
16/2079 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Ablehnung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({9}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({10}),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Qualität der Mauterfassung durch unabhängigen Versuch nachweisen und Kontrollverfahren zertifizieren
- Drucksachen 16/1680, 16/3264 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/1680 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den StimVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen über die Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette ({12})
KOM ({13}) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06
- Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554 Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Deittert
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu 44 gegen die Gültigkeit der Wahl zum
16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 16/3600 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Carl-Christian Dressel
Petra Merkel ({14})
Ulrich Maurer
Silke Stokar von Neuforn
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
- Drucksache 16/3625 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 144 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
- Drucksache 16/3626 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch Sammelübersicht 145 einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 146 zu Petitionen
- Drucksache 16/3627 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 147 zu Petitionen
- Drucksache 16/3628 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 147 einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 148 zu Petitionen
- Drucksache 16/3629 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 149 zu Petitionen
- Drucksache 16/3630 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 q:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 150 zu Petitionen
- Drucksache 16/3631 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 150 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltungen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 151 zu Petitionen
- Drucksache 16/3632 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 151 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDPFraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 s:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 152 zu Petitionen
- Drucksache 16/3633 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 152 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 153 zu Petitionen
- Drucksache 16/3817 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 154 zu Petitionen
- Drucksache 16/3818 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 154 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 155 zu Petitionen
- Drucksache 16/3819 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 5 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
- Drucksache 16/3820 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
- Drucksache 16/3821 Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
- Drucksache 16/3822 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 5 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
- Drucksache 16/3823 Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 h:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 16/3824 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 5 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
- Drucksache 16/3825 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 161 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit haben wir diesen Teil der Abstimmungen abgeschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit
({33})
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
das Wort.
({34})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer verheerenden Mixtur aus
grundrechtlicher Ignoranz, verfassungsrechtlicher Inkompetenz und gesetzgeberischem Aktionismus scheinen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Regierungsfraktionen, nach Kräften zu bemühen, unsere
rechtspolitische Kultur, die einmal als Glanzstück des
bundesrepublikanischen Parlamentarismus galt, in einen
Trümmerhaufen zu verwandeln.
({0})
Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht in engsten nächtlichen Koalitionszirkeln kurzfristig ausgebrütet worden
wäre!
({1})
Kaum ein wichtiges Gesetz, das mit der gebotenen Achtsamkeit und Sorgfalt hinsichtlich seiner Wirkungen, verfassungsrechtlichen Bezüge und Probleme erarbeitet und
beraten worden wäre!
({2})
Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht ohne Rücksicht
auf gute parlamentarische Gepflogenheiten im Eilverfahren durch den Bundestag und den Bundesrat gepeitscht worden wäre!
({3})
Die Liste der blamablen Folgen dieser hektischen
Politik ist lang. Das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl wurde vom
Bundesverfassungsgericht in toto für verfassungswidrig
erklärt. Ebenso drastisch urteilte das Bundesverfassungsgericht über das Luftsicherheitsgesetz, dessen § 14
Abs. 3, mit dem die Streitkräfte zum Abschuss ziviler
Flugzeuge ermächtigt werden sollten, verfassungswidrig
ist. Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung
scheitert wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit
bereits am Bundespräsidenten, der die Ausfertigung des
Gesetzes verweigert. Dem Verbraucherinformationsgesetz wird das gleiche Schicksal zuteil werden. Das Gesetz, das ihm als Entwurf vorgelegt wurde, sei, so der
Bundespräsident, ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz.
({4})
Noch peinlicher ist, dass sich der Bundespräsident in seiner Einschätzung genau auf jene grundgesetzlichen Regelungen bezieht, die im Rahmen der Föderalismusreform gerade erst vor wenigen Monaten von der Koalition
geändert wurden. Kennen Sie diese Gesetzesänderungen
gar nicht?
({5})
Nun erfahren wir, dass die Verfassungskonformität
des gerade erst von den Koalitionsfraktionen verabschiedeten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bundes an den Unterbringungskosten von ALG-II-Empfängern mittlerweile selbst in den Reihen der
Koalitionsparteien bezweifelt wird. Ähnliches gilt für
die mit riesigem publizistischem Aufwand gegen die
Opposition und gegen den Sachverstand fast aller Fachleute angekündigte Gesundheitsreform, an der - so muss
nun der Kollege Bosbach einräumen - erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel bestehen. Nicht um die politische Auseinandersetzung, sondern um die Inhalte geht
es hier.
({6})
Angesichts all dieser peinlichen Vorgänge ist es nur
ein arg dämmeriger Lichtblick, dass das ebenfalls mit
großem publizistischem Aufwand angekündigte Nichtraucherschutzvorhaben wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit gerade noch rechtzeitig auf Bundesebene aufgegeben wurde.
Man könnte diese traurige Bilanz großkoalitionärer
Rechtspolitik mit Zynismus quittieren, träfen die Folgen
dieser Art von Politik nicht uns alle. Als Oppositionspolitikerin würde ich mich über die offensichtliche
Überforderung der großen Koalition gerne freuen können, beförderten die Folgen dieser Art von Politik in der
Öffentlichkeit nicht genau jene Zweifel an der parlamen7262
tarischen Demokratie, die der politischen Apathie und
den äußersten Rändern des politischen Spektrums Auftrieb geben.
({7})
Verlässlichkeit - so hat heute Morgen Herr Ramsauer
gesagt - ist der Maßstab für Politik, damit Vertrauen entsteht. Halten Sie sich an diese Aufforderung!
({8})
Die Liste der gesetzgeberischen Fehlleistungen der
großen Koalition droht länger zu werden. Lassen Sie
mich nur auf ein bevorstehendes Vorhaben hinweisen,
das unter grundrechtlichen Gesichtspunkten unsäglich
ist, nämlich die Anbieter von elektronischen Kommunikationsdiensten zur Speicherung der bei ihnen anfallenden Kommunikationsdaten auf Vorrat zu verpflichten.
Mit der Übernahme der europarechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der von der Bundesregierung mitgetragenen Richtlinie zur Vorratspeicherung ergeben, geht die
Bundesregierung bewusst ein Risiko ein, nämlich das
Risiko eines schweren Verfassungskonflikts zwischen
Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof.
({9})
Ich kann Sie nur bitten: Lassen Sie im Interesse des
deutschen Parlamentarismus davon ab, die Verfassung,
unser Grundgesetz, als Feind, als Gefängnis zu sehen,
aus dem man nach Möglichkeit ausbrechen sollte. Lassen Sie davon ab, über den Bundespräsidenten und dessen pflichtgemäße Entscheidungen zu lamentieren und
in einer noch nie da gewesenen Form das Verfassungsorgan Bundespräsident zu beschädigen.
({10})
Seien Sie froh, dass wegen einer ernsthaften Prüfung
eine nächste Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht vermieden wird. Es stünde Ihnen besser an, dafür
Sorge zu tragen, dass das Bundesinnen- und das Bundesjustizministerium ihren einmal als vornehm angesehenen
Aufgaben als Verfassungsressorts, als Notare der Regierung, wieder gerecht werden können: Gründlichkeit vor
Schnelligkeit, Achtung und Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Bedenken vor einer schnell getroffenen
politischen Entscheidung! Fangen Sie damit an, dann haben Sie unsere Unterstützung.
({11})
Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Schmidt
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, die Art und
Weise, in der Sie hier gesprochen haben, wird dem
Thema nicht gerecht.
({0})
Auch unserer gemeinsamen Verantwortung in diesem
Haus sind Sie nicht gerecht geworden.
({1})
Das Thema ist ja nicht neu. Es ist meistens ein Thema
der Opposition. Die Opposition kritisiert, die Koalitionsfraktionen verteidigen, und jeder von uns war ja auch
schon einmal in jeder Rolle. Insofern ist auch die Debatte nicht neu.
({2})
Sie haben schon einmal in einer anderen Rolle hier
gesprochen; damals haben Sie mehr verteidigt.
({3})
- Hören Sie mir doch einmal zu. Wir wollen doch ein
gutes Bild in der Öffentlichkeit abgeben. - Wir sollten
die Debatte grundsätzlich führen. Die Geländegewinne,
die Sie vielleicht kurzfristig haben werden, werden nicht
sehr nachhaltig sein. Wir sollten zu diesem Thema über
unser Selbstverständnis sehr ausführlich sprechen, und
zwar nicht nur in einer Aktuellen Stunde, sondern etwas
länger.
({4})
Nichts ist so gut, als dass es nicht verbesserungsfähig
ist. Natürlich hat es Fehler gegeben. Ich finde, es steht
uns gut an, diese einzugestehen. Wir sollten aber nicht
den Eindruck erwecken, als hätten wir alle rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord geworfen. Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ist Ihr Debattenstil
ein anderer. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass
wir gestern im Rechtsausschuss von Ihnen sehr viele lobende Worte über Gesetzesvorhaben gehört haben.
({5})
Es ist nämlich so, dass wir im Ausschuss sehr sachlich reden, dass wir nicht alles übernehmen, was die Regierung sagt, sondern es wird verbessert, es finden Anhörungen statt, es sind langwierige Verfahren. Das haben
Sie gestern ausdrücklich gelobt. Dies hätte heute auch
einmal gesagt werden können.
({6})
Ich will einige grundsätzliche Ausführungen machen.
Wir als Parlament sind selbstbewusst genug, um zu sagen, dass wir eine bestimmte Verantwortung haben und
nicht der Gesetzgebungsvollstrecker der Bundesregierung sind. In einer parlamentarischen Demokratie sind
wir, das Parlament, der Chef. Das ist die Normalität. Ich
habe das gerade gesagt. Wie oft werden Gesetzesvorschläge der Regierung nach Anhörungen und nach einer
bestimmten Zeit - das geht alles sehr rechtsstaatlich und
Andreas Schmidt ({7})
sehr gründlich vor sich - gemeinsam verändert und dann
hier beschlossen? Es gilt auch bei uns der Grundsatz:
Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Jetzt möchte ich etwas zu der Verfassungsmäßigkeit
von Gesetzen sagen. Sie haben schon oft behauptet, ein
Gesetz sei verfassungswidrig, und das Bundesverfassungsgericht war anderer Meinung als Sie. Das Problem
ist, dass wir hier in einem Bereich arbeiten, der nicht zu
den Naturwissenschaften gehört. In den Naturwissenschaften können Sie etwas unter ein Mikroskop legen
und sagen: So ist das. - Bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit ist das etwas schwieriger.
({8})
Es hängt oft von der Meinung ab, ob etwas als verfassungswidrig betrachtet wird. Deswegen möchte ich etwas zum Verfassungsgefüge sagen. Ich beteilige mich
nicht an der Kritik des Bundespräsidenten. Das sollten
wir nicht tun. Dennoch darf man etwas zum Verfassungsgefüge sagen. Wir bilden uns im Parlament eine
Meinung darüber, ob etwas verfassungswidrig oder nicht
verfassungswidrig ist. Sie können anderer Auffassung
sein. Die Mehrheit bildet sich ihre Auffassung und
bringt ein Gesetz mit der Mehrheit durch. Der Bundespräsident kann die Unterschrift verweigern. Das ist sein
gutes Recht und das haben wir zu akzeptieren. Damit ist
aber nicht festgestellt, ob das Gesetz verfassungswidrig
ist.
({9})
Auch das ist richtig. Dem wird auch der Bundespräsident nicht widersprechen. Ob etwas verfassungswidrig
ist, kann nur durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden.
({10})
Das Problem ist, dass ein Gesetz, das der Bundespräsident nicht unterschreibt, gar nicht überprüft werden
kann. Das bedingt diese Entscheidung zwangsläufig.
Das darf man bei allem Respekt hier sagen.
Ich glaube, dass wir in Deutschland insgesamt das
Problem haben, dass wir zu viele Gesetze machen. Darüber sollten wir einmal sprechen. Wir glauben, dass wir
alle Lebensbereiche gesetzlich regeln müssen. Darüber
müssen wir einmal grundsätzlich sprechen. Ich will auch
davor warnen, in die Falle zu geraten, dass wir zu einem
Reflexgesetzgeber werden. Immer wenn etwas in
Deutschland passiert, erfolgt sofort der Ruf nach dem
Gesetzgeber. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht
von den Medien instrumentalisieren lassen. Auch das ist
ein wichtiger Punkt, was unser Selbstverständnis angeht.
Ich will die Beispiele nennen: Auch mir hat die Einstellung des Verfahrens im Mannesmann-Prozess nicht gefallen. Sofort kam der Ruf nach dem Gesetzgeber und es
wurde gefordert, die Strafprozessordnung müsse geändert werden. Im Fall des Schiedsrichters Hoyzer, der betrogen hat, sagte irgendein Staatsanwalt, dass der Tatbestand des Betrugs nicht erfüllt sei. Schon gibt es
Kollegen, die fordern, den § 263 StGB zu ändern. Wenn
wir immer nur reflexartig handeln, werden wir dem Hohen Haus keinen guten Dienst erweisen.
({11})
Deswegen, Frau Kollegin, sollten wir das Thema aufgreifen, wir sollten es aber nicht parteipolitisch instrumentalisieren. Wir sollten unserer Gesamtverantwortung
als Parlament gerecht werden. Dann, so glaube ich, sind
wir auf einem guten Weg.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Maurer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass sich der Kollege Schmidt bemühte, ein Stück weit
abzulenken und abzuwiegeln, war zu erwarten. Sie kommen aber nicht daran vorbei, dass es noch nie eine so
eindrucksvolle Kette von Fehlleistungen gegeben hat
wie die, die hier von der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger aufgezählt worden ist.
({0})
- Schauen Sie nach, Herr Kollege, wie oft in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland der
Bundespräsident in vergleichbaren Fällen interveniert
hat.
({1})
Dann merken Sie, was hier eigentlich los ist. Gegen eines, was ich beim Kollegen Schmidt herausgehört habe,
will ich mich ausdrücklich zur Wehr setzen. Er verfährt
offenbar nach dem Motto: Wir machen jetzt einmal Gesetze und dann wird sich in einem offenen Prozess beim
Bundesverfassungsgericht oder beim Präsidenten schon
herausstellen, ob sie nun verfassungswidrig sind oder
nicht.
({2})
So habe ich die Rolle des Parlaments bisher nicht interpretiert. Es darf nicht den permanenten Versuch unternehmen herauszufinden, ob die Gesetze, die es beschließt, verfassungswidrig sind oder nicht.
({3})
Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass neulich in der
Debatte über den Entwurf des Justizmodernisierungsgesetzes der Sprecher der SPD auf die Feststellung der
Kollegin von der FDP, dieser sei gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet, gesagt
hat: Die haben auch nicht immer Recht. Der Gesetzgeber
muss die Richter veranlassen, ihre Rechtsprechung zu
ändern, indem man ein Gesetz macht, das gegen das,
was die Richter bisher immer beschlossen haben, gerichtet ist. - Das ist eine Art von spielerischem Umgang mit
der Verfassungsmäßigkeit, die wir nicht akzeptieren
können. In diesem Bereich darf es keinen spielerischen
Umgang geben.
({4})
Man kann ja über die Frage rätseln, wie so etwas zustande kommt. Ich glaube, dass es etwas mit den Gesetzmäßigkeiten der großen Koalition zu tun hat. Bei vertieftem Nachdenken kommt man darauf.
({5})
Erstens haben Sie einen bestimmten Machtrausch; das
ist jedenfalls unser Eindruck. Ihre übergroße Mehrheit
führt offensichtlich dazu, dass Sie zum einen - der Kollege Gysi hat heute Morgen darauf hingewiesen - in
Ruhe permanent gegen die Mehrheit der Bevölkerung
entscheiden können. Das wird uns irgendwann in eine
Krise der repräsentativen Demokratie führen. Zum anderen haben Sie offensichtlich im Hinterkopf, dass Sie sich
bei einer so großen Mehrheit, durch die auch die Oppositionsrechte, etwa beim Thema Normenkontrolle, sehr
eingeschränkt sind, noch mehr leisten können. Das ist
eine Art doppelte Ignoranz.
Zweitens ist es bei Ihnen, glaube ich, so, dass Sie,
wenn Sie sich in der großen Koalition unter großen Mühen, unter Berücksichtigung machtpolitischer Erwägungen, unter wechselseitiger Gesichtswahrung, auf irgendetwas geeinigt haben, dann so angestrengt waren, dass
Sie auf das weitere parlamentarische Verfahren keine
große Lust mehr hatten. Sie müssen einmal überprüfen,
ob das bei Ihnen nicht der Fall ist.
({6})
Haben Sie so viel Anstrengendes hinter sich? Sie meinen, wenn alles so schwierig war, dann muss das, was
man gefunden hat, die Wahrheit sein - oder jedenfalls
das Einzige, was machbar ist.
Diese ganzen Vorgänge werfen verschiedene Fragen
auf: erstens - das hat die Kollegin zu Recht gesagt nach der Rolle der Ministerien, des Justizministeriums
und des Innenministeriums, die den Gesetzgebungsgang
eigentlich überprüfen müssten. Vielleicht sollten Sie das
Justizministerium immer sofort zu Ihren Koalitionsgesprächen auf höchster Ebene hinzuziehen,
({7})
damit dessen Überlegungen gleich mit einfließen. Das
wäre durchaus erwägenswert.
Zweitens werfen sie die Frage auf, inwieweit das Parlament sozusagen durch den Koalitionsausschuss ersetzt
wird. Wie groß ist Ihr Selbstbewusstsein
({8})
bei der Frage der verfassungsrechtlichen Überprüfung,
die in der Tat dem gesamten Parlament obliegt und nicht
nur der Opposition? Wann greifen Sie eigentlich unter
dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit in Ihre eigenen großkoalitionären Debatten ein?
({9})
Drittens und letztens; das will ich zum Schluss sehr
deutlich sagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in
die Rolle komme, den Bundespräsidenten gegen Angriffe aus der großen Koalition verteidigen zu müssen.
({10})
Ich will Ihnen sagen, was ich zu dem Thema gelesen
habe. Namhafte Leute haben sich zu der Aussage verstiegen, der Bundespräsident solle seine Prüfungskompetenz zurücknehmen und nur noch das zurückweisen,
was sozusagen Otto Normalverbraucher vor dem Fernseher zu dem Satz „Oh, das ist ja verfassungswidrig!“
veranlasst. Die Ermahnungen, die erfolgt sind, sind geradezu dazu geeignet, eine institutionelle Krise heraufzubeschwören.
({11})
- Ja, natürlich! Passen Sie einmal auf: Ich kenne meine
Landsleute ganz gut. Sie sind ziemlich nachhaltig, man
könnte auch sagen: stur, wenn man ihnen auf diese Art
und Weise kommt. Das kann man dem Herrn Bundespräsidenten nur empfehlen. Wollen Sie ihn im Ernst jetzt jedes Mal, wenn es Ihnen nicht passt, öffentlich zur Ordnung rufen? Was meinen Sie, wie das in der
Bevölkerung ankommt, in der das Urteil - oder Vorurteil; wie Sie wollen -, „die da oben“ machten sowieso,
was sie wollen, verbreitet ist, wenn die Menschen nun
auch noch die Erfahrung machen, dass „die da oben“
auch gegenüber dem Bundespräsidenten machen, was
sie wollen?
({12})
Was glauben Sie, was das in einer Demokratie auslöst?
Deswegen kann ich Ihnen nur raten: keine lauten
Töne mehr! Gehen Sie in diesem Punkt in sich; Sie erweisen uns dann allen einen Dienst!
({13})
Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das
Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In politischer Hinsicht verstehen wir, dass die FDP
eben, durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger sehr eindrucksvoll dargestellt, die apokalyptischen Reiter des
demokratischen Antichristen hat galoppieren lassen.
({0})
Ich höre den Hufschlag immer noch. Mehr allerdings haben Sie auch nicht zu bieten. Sie tragen sozusagen die
Schminke Ihrer eigenen Unfähigkeit sehr dick auf.
({1})
Lassen Sie mich zwei Bemerkungen vorausschicken.
Erste Bemerkung. Sie haben eben das Verbraucherinformationsgesetz angeführt. Ich glaube, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dieses Gesetz ist denkbar ungeeignet,
der Koalition eine Missachtung rechtstaatlicher Regeln
vorzuwerfen.
({2})
Denn die Oppositionsparteien haben zwar gegen das Gesetz gestimmt. Aber die verfassungsrechtlichen Einwände, die aus dem Bundespräsidialamt gekommen
sind, sind auch von Ihnen, der Opposition, damals bei
den Beratungen des Gesetzentwurfs nicht artikuliert
worden. Wir alle sitzen also in einem Boot. Wenn Sie
uns auf die Nase hauen, dann sollten Sie sich auch an die
eigene Nase fassen.
({3})
Zweite Bemerkung. Es ist für uns sicherlich nicht erfreulich, dass der Bundespräsident in kurzer Zeit zwei
Gesetze nicht ausgefertigt hat. Aber im Gegensatz zu
denjenigen, die den Parlamentarismus erst in den letzten
sechs Jahren oder vielleicht noch gar nicht entdeckt haben, weiß ich, dass solche Vorkommnisse wie die Nichtausfertigung eines Gesetzes in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon immer vorgekommen
sind.
({4})
Ich darf auch darauf hinweisen, dass in dieser Legislaturperiode eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet
worden sind.
({5})
- Seien Sie einmal ganz ruhig. Sie sollten lieber an Ihre
eigene Zeit im Justizministerium denken.
({6})
- Sie haben Ihre eigene Ministerin damals dazu getrieben, zurückzutreten. Seien Sie also ganz ruhig.
({7})
- Hören Sie einmal gut zu.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben uns
vorhin pauschal Vorwürfe zu jedem Gesetz gemacht. Die
Koalition hat 77 Gesetze auf den Weg gebracht. Sie wurden beraten, verabschiedet und ausgefertigt. Sie sind in
Kraft getreten und haben sich in der Praxis bestens bewährt. Auch das muss man einmal deutlich sagen.
({8})
- Ihr pennälerhaftes Gelächter zeigt mir, dass ich mit
meiner Einschätzung genau richtig liege.
({9})
Die Bundesregierung und hier insbesondere die Verfassungsressorts brauchen sich ihrer Arbeit nicht zu
schämen. Sie prüfen alle Entwürfe in rechtsförmlicher
und verfassungsmäßiger Hinsicht.
({10})
Dass diese Prüfung nicht selten unter erheblichem Zeitdruck erfolgen muss, haben diese Ressorts am wenigsten
zu verantworten. Es ist auch nichts wirklich Neues.
Jede Partei, die einmal Regierungsverantwortung getragen hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kompromissfindung innerhalb einer Koalition infolge des
Drucks von Interessenverbänden und Medien und nicht
zuletzt auch der Entscheidungsweg im Parlament selbst
unter erheblichem Zeitdruck stehen.
({11})
Dass es den Verfassungsressorts trotzdem gelingt, bedenkliche Passagen fast immer rechtzeitig zu identifizieren und auch dann zu entschärfen, wenn dafür politische
Kompromisse, für die nicht selten die Opposition verantwortlich zeichnet, neu justiert werden müssen, ist eine
Leistung, die auch im heutigen Kontext nicht übersehen
werden sollte.
({12})
Selbst wenn man von solchen äußerlichen Erschwernissen der Prüfung einmal absieht, bleibt eines unbestreitbar: Auch Verfassungsfragen sind Rechtsfragen.
Über Rechtsfragen kann man sehr schnell geteilter Meinung sein und trefflich streiten. Selbst vor dem Bundesverfassungsgericht gibt es Überraschungen. Denn selten
gibt es dort einstimmige Entscheidungen. Häufig können
die Verfassungsrichter, die eine abweichende Meinung
vertreten, mit beachtlichen Argumenten aufwarten.
({13})
Wer in einer juristischen Auseinandersetzung unterliegt, muss sich deshalb nicht automatisch vorwerfen
lassen, er habe fehlerhaft gearbeitet. Viele von uns, die
in juristischen Berufen tätig sind oder waren, haben das
am eigenen Leibe erfahren. Man sollte das auch in der
heutigen Diskussion nicht vergessen.
Zum Schluss möchte ich eines hervorheben: Schon
immer war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ein
beliebtes und gängiges Mittel in der Auseinandersetzung. Studenten, die keine schlüssige Antwort auf Probleme haben, nutzen diesen Begriff oft als Totschlagargument und sonnen sich dann in ihrer Größe. In der
Politik - ich will niemanden besonders ansprechen scheint mir das nicht anders zu sein.
Selten führt eine inflationäre Verwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeit zu Gutem. Ganz im Gegenteil: Ich könnte mir vorstellen, dass diese inflationäre
Verwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeit
auch diejenigen, die es angeht, desensibilisieren kann.
({14})
- Ach wissen Sie, Herr Kollege, ich bin schon dankbar
dafür, dass Sie sich ab und zu einmal zu Wort melden.
Seit Sie wieder im Deutschen Bundestag sind, habe ich
nämlich noch nichts von Ihnen gehört. Das ist heute
richtig erfreulich.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn Sie
ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit in Ihr politisches Denken bringen würden,
({15})
könnte diese Aktuelle Stunde vielleicht dazu führen,
dass wir uns, so wie es Herr Schmidt angeboten hat - ich
greife dies dankbar auf -, in aller Ruhe und sehr intensiv
über die Frage unterhalten, wie wir gemeinsam zu noch
besseren Gesetzen kommen können, als wir sie heute
schon haben.
Danke schön.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über
das Thema der heutigen Aktuellen Stunde hat das
Deutschlandradio vorgestern früh einen Vorbericht gesendet und dabei das Verhalten der Bundesregierung und
der großen Koalition mit einem Zitat aus einem Western
von Clint Eastwood zusammengefasst. Dieses Zitat will
ich Ihnen nicht vorenthalten. Es lautet: „Ich reite in die
Stadt und der Rest findet sich.“
({0})
Diese Haltung ist für die FDP zu Recht Anlass für diese
Aktuelle Stunde; wir kritisieren sie ebenso.
Herr Kollege Schmidt, das meiste von dem, was Sie
gesagt haben, unterschreibe ich. Es ist richtig: Wir sollten uns vor Populismus in der Gesetzgebung hüten. Wir
sollten uns nicht von der öffentlichen Meinung treiben
lassen. Aber worüber heute zu diskutieren ist, sind die
Wurschtigkeit und die Beliebigkeit, die sich bei der Bundesregierung bei der Prüfung verfassungsgemäßer Fragen in der Gesetzgebung breit machen.
({1})
Ich sage Ihnen: Wenn sich der Kollege Olaf Scholz
heute in der „Westfälischen Rundschau“ zu dem Thema
unserer Aktuellen Stunde mit dem Satz zitieren lässt: „Er
meint, ‚eine etwas lässigere Haltung’ würde dem
Rechtsstaat helfen“,
({2})
dann trifft er das Problem bzw. den Nagel auf den Kopf.
Darüber müssen wir uns unterhalten.
({3})
Den Beispielen, die von Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger umfassend dargestellt worden sind, will
ich keine weiteren hinzufügen; fast alle wichtigen sind
angesprochen worden. Einige wenige will ich aber aufgreifen und analysieren. Beim Verbraucherinformationsgesetz hatten wir folgendes Problem: In der Föderalismusreform hat die große Koalition das Grundgesetz
geändert; den Kommunen dürfen keine Aufgaben mehr
zugewiesen werden. Sie haben aber im Verbraucherinformationsgesetz den Kommunen Aufgaben zugewiesen.
({4})
- Aber selbstverständlich.
({5})
Sie hätten vom September bis heute die Möglichkeit gehabt, den Fehler, der aufgetreten ist, ganz leicht zu korrigieren, indem Sie in einem kurzen Änderungsgesetz die
Zuweisungen an „die Kommunen“ in Zuweisungen an
„die zuständigen Stellen“ umgewandelt hätten.
({6})
Wir werfen Ihnen vor, dass Sie, so stur und selbstzufrieden, wie Sie sind, monatelang im Nichtstun verharren und dann, wenn der Bundespräsident sagt, so gehe es
nicht, er stoppe dieses Gesetz, an ihm herummeckern,
({7})
statt in sich zu gehen. Genau dies hat Ihnen der Kollege
Wiefelspütz ins Stammbuch geschrieben.
Dieser Poltergeist der Innenpolitik hat sich zu dem
Thema der heutigen Aktuellen Stunde so geäußert: Es ist
Zeit, dass die große Koalition Selbstkritik übt und einmal in sich geht.
({8})
Das bezog er auf genau die Themen, die wir jetzt hier
besprechen. Wenn schon der Kollege Wiefelspütz das
sagt, meine Damen und Herren, dann sollten Sie das tatsächlich beherzigen.
Beim Gesundheitsschutz, beim Nichtraucherschutz
haben wir das gleiche Problem. Natürlich ist jedem klar:
Gaststättenrecht ist Landesrecht und der Gesundheitsschutz fällt unter das Bundesrecht. Die Bundesregierung
und die große Koalition insgesamt hätten Monate Zeit
gehabt, in dieser Diskussion, die für Hunderttausende
von Menschen wichtig ist, eine Position zu beziehen.
Aber Sie haben monatelang geschwiegen, die Debatte
laufen lassen und, als die Angelegenheit fast vor dem
Vollzug war, den Karren vor die Wand fahren lassen.
Das ist es, was man Ihnen vorwerfen muss.
({9})
Ich könnte auch aus der fachpolitischen Diskussion
des Rechtsausschusses und der Rechtspolitik zu dem
Thema dieser Aktuellen Stunde viele Beispiele anführen; ich will aber nur ein einziges bringen. Beim Stalking hat es die Bundesregierung geschafft, innerhalb von
wenigen Wochen bestimmte gesetzliche Formulierungen
als verfassungsrechtlich höchst bedenklich zu bezeichnen, die auf durchgreifende Bedenken stoßen müssten,
um dann sechs Wochen später zu dem gleichen Sachverhalt zu sagen: Es gibt null verfassungsrechtliche Bedenken; alles ist in Ordnung. Ein solches Hin und Her habe
ich in den vier Jahren, in denen ich im Bundestag bin,
nicht erlebt und niemand, der länger im Bundestag ist,
hat mir berichten können, dass es so etwas schon einmal
gegeben hätte.
Ich komme zum Schluss. Die Dirigentin der Bundesregierung hat an Sie die Noten für einen Regierungsdurchmarsch verteilt. Aber Sie spielen nicht die Musik
der Bundeskanzlerin, sondern völlig dissonante Melodien. Auf der rechten Seite spielen Sie deutsche Weisen;
auf der linken Seite spielen Sie den Blues und das Ganze
gerät zu einer verfassungsrechtlichen Chaos-Combo.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber auch in einer Aktuellen Stunde diskutieren, damit nämlich klar
wird, dass es mit der Überprüfung von Gesetzen auf ihre
Verfassungsmäßigkeit in der großen Koalition so nicht
weitergeht.
Es ist die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten. Sie
bekommen in dieser Frage von der Opposition keine
Weihnachtsgeschenke, sondern ein Jahreszeugnis. Dieses lautet ganz eindeutig: Sie können es nicht.
({10})
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Herrn
Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich
dem Kollegen Montag zuhörte, gewann ich den Eindruck, er hätte sich von der einen oder anderen exzellenten Rede inspirieren lassen, die wir von der CDU/CSU
zu den Hochzeiten von Rot-Grün gehalten haben, als Sie
damals mit Ihren Gesetzen aufgelaufen sind. Damals haben Sie unsere Reden mit dem Brustton ehrlicher Überzeugung und Empörung zurückgewiesen.
Es gehört zur Ehrlichkeit und zur Sachlichkeit in dieser Debatte, dass wir einige grundlegende Fakten zur
Kenntnis nehmen. Dazu gehört zunächst, dass für eine
gute Gesetzgebung, die im formellen und materiellen
Sinn dem Grundgesetz entspricht, alle beteiligten Verfassungsorgane gemeinsam die Verantwortung tragen,
nicht nur die Bundesregierung allein, sondern auch der
Bundesrat und das Parlament, der Bundestag. Ferner gehört dazu die Feststellung, dass, wenn wir uns die Zahl
der Gesetze ansehen, die in den letzten 57 Jahren, der
Zeit seit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, verabschiedet worden sind - der Kollege Schmidt hat, wie ich
meine, zu Recht gesagt: Wahrscheinlich waren es viel zu
viele; auch darüber muss man reden -, und diese Zahl
mit der Zahl derjenigen Gesetze vergleichen, die nicht
ausgefertigt wurden oder die vom Verfassungsgericht für
ganz oder teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz
erklärt worden sind,
({0})
wir einsehen, dass diese Zahl sehr gering ist und dass
diese Zahl, über die Jahre gesehen, im Wesentlichen
gleich geblieben ist. Es stimmt eben nicht, wenn gesagt
wird, dass es in den letzten Monaten oder Jahren einen
signifikanten Anstieg gegeben hat.
({1})
Diese Bilanz spricht - das will ich als Vertreter eines
Verfassungsressorts offensiv ansprechen - für die Qualität der Gesetzgebungsarbeit, für die Wirksamkeit der
verfahrensmäßigen Vorkehrungen und auch - das füge
ich ausdrücklich hinzu - für die Professionalität und die
Kompetenz der Beamtinnen und Beamten in den beteiligten Häusern, die oft unter erheblichem Zeitdruck arbeiten. Dieser Zeitdruck wird bisweilen auch von uns
Politikern verursacht, sowohl durch die Entscheidungen
der jeweiligen Koalition als auch durch die Opposition,
wenn sie sagt, dass eine notwendige Gesetzesmaßnahme
aus ihrer Sicht am besten schon vorgestern hätte verabschiedet werden sollen. Das müssen wir zur Kenntnis
nehmen, aber auch ansprechen.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie wissen
doch selbst, dass die verfassungsrechtliche Prüfung
laufender Gesetzesvorhaben notwendigerweise hoch
komplex ist, häufig von Wertungsfragen abhängig ist
und mit guten Argumenten so oder so entschieden werden kann. Tun Sie doch nicht so, als ob jedes Gesetz, das
vom Bundestag verabschiedet wird, ein Etikett trägt, auf
dem „verfassungsrechtlich unbedenklich“ oder „eindeutig verfassungswidrig“ steht. Das ist eine Unterstellung,
die mit der Praxis nichts zu tun hat.
({2})
Sie wissen doch genauso gut wie ich - jedenfalls die
Experten unter Ihnen, die im Rechtsausschuss tätig waren oder sind -, dass Sie häufig zu ein und demselben
Gesetzgebungsvorhaben genauso viele befürwortende
wie ablehnende Gutachten von herausragenden Verfassungsjuristen beibringen können.
({3})
Dass der politische Meinungskampf über die Frage, welches Gesetz gewollt ist, zunehmend mit juristischen
Fachgutachten ausgetragen wird, ist eine Modeerscheinung, die wir einmal gemeinsam hinterfragen sollten.
({4})
Ich wundere mich bisweilen über die Bandbreite verfassungsrechtlicher Auffassungen, je nachdem, wer der
Auftraggeber für ein bestimmtes Gutachten im politischparlamentarischen Raum ist.
({5})
Die verfassungsrechtliche Prüfung vollzieht sich oftmals vor dem Hintergrund politischer Debatten, bei denen der Wünschbarkeit einer bestimmten Regelung Vorrang vor ihrer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit
eingeräumt wird.
({6})
Das Thema Nichtraucherschutz ist genannt worden.
Dazu kann man stehen, wie man möchte. Wenn uns aber
das Argument entgegengehalten wird, eine politisch gewollte Regelung dürfe nicht an den Ergebnissen der Föderalismusreform scheitern, dann sind selbstverständlich
die Verfassungsressorts der Bundesregierung gefordert.
Dieser Aufgabe werden sie gerecht, auch wenn das nicht
auf allen Seiten des Hauses ausschließlich zur Freude
gereicht.
({7})
Vor diesem Hintergrund ist es die wichtigste Aufgabe
der Verfassungsressorts - Justizministerium und Innenministerium -, anerkannte und nachvollziehbare Maßstäbe für die Prüfung der Verfassungskonformität aufzustellen. Diese Maßstäbe dürfen nicht von Gesetz zu
Gesetz neu festgelegt werden, sondern müssen generell
gültig sein. Wir müssen uns in allen Fällen von ihnen leiten lassen, unabhängig von der politischen Wünschbarkeit eines Vorhabens.
Ich meine, immer dann, wenn eine Gesetzesvorlage
verfassungsrechtlich mit guten Argumenten vertretbar
ist, sollten von der Regierung keine Einwände erhoben
werden, sondern die politischen Entscheidungen des
Parlaments respektiert werden. Wenn wir uns auf diesen
Grundsatz einigen könnten, wären wir schon wesentlich
weiter. Dann könnten wir sachlich darüber diskutieren,
was bei der technischen Ausgestaltung des Prüfungsprozesses vielleicht noch verbessert werden kann. Ich bin
im Übrigen der Auffassung, dass das Vorgehen der Bundesregierung dem von mir formulierten Prüfungsmaßstab in den beiden von Ihnen zuletzt angesprochenen
Fällen durchaus gerecht geworden ist.
Wenn Sie sich die Ausgestaltung unseres Gesetzgebungsverfahrens ansehen - von der Prüfung durch die
Bundesregierung über die Prüfung im Rechtsausschuss
des Bundesrates im so genannten ersten Durchgang, der
Aufbereitung der verfassungsrechtlichen Fragestellungen für den Bundestag, der es dann seinerseits in Ausschussberatungen und Sachverständigenanhörungen vertiefen und weiter erörtern kann -, dann meine ich, dass
wir verfahrensmäßige Garantien dafür haben, dass die
Prüfung mit einem Höchstmaß an Seriosität und Gründlichkeit vorgenommen wird.
Wir tragen für das, was zustande kommt, gemeinsam
die Verantwortung. Ich möchte für die Mitglieder des
Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung
- wer auch immer sie stellt - in Anspruch nehmen, dass
wir alle gleichermaßen ausschließlich im Rahmen der
Verfassung handeln wollen. Dieser Maßstab gilt für unsere Arbeit. Wir sind auch bereit, das in jedem einzelnen
Fall konkret zu belegen.
Für die Legitimität und die Glaubwürdigkeit unserer
politisch-demokratischen Institutionen ist es schon wichtig, liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
wie wir miteinander umgehen.
({8})
Das war der Grund, warum mich der Stil Ihres Vortrags
zu Beginn Ihrer Rede - auch wenn man über einzelne
Argumente diskutieren kann ({9})
berührt hat. Ich glaube, dass wir ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend damit sein sollten, uns gegenseitig
sach- und verfassungsfremde Motive oder unsachgemäße Arbeit zu unterstellen.
({10})
Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Auch
zu Zeiten, als die FDP oder die Grünen an Bundesregierungen beteiligt waren, sollen einzelne Gesetze vor dem
Bundesverfassungsgericht keinen Bestand gehabt haben.
Es ist also keine neue Erscheinung, die Sie hier beklagen.
Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die
Funktionsfähigkeit unserer verfassungsmäßigen Ordnung ist es wichtig, dass sich alle Verfassungsorgane, die
in diesem oder einem späteren Stadium am Zustandekommen von Gesetzen beteiligt sind, gegenseitig mit
Respekt begegnen. Dies gilt selbstverständlich auch für
Entscheidungen des Bundespräsidenten. Soweit es im
Laufe dieses Prozesses unterschiedliche Auffassungen
zwischen den beteiligten Verfassungsorganen gibt, sind
wir aufgerufen, gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine Lösung zu finden, die vor dem
Grundgesetz und vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. In den wenigen Fällen, in denen die unterschiedlichen Auffassungen durch eine Entscheidung des
Bundespräsidenten oder durch Entscheidungen in einem
bestimmten Verfahrensstadium deutlich werden, sind
wir aufgerufen, schnellstmöglich, nachvollziehbar und
transparent einen neuen überzeugenden Vorschlag zu
machen. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies auch im
vorliegenden Fall gelingen wird.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Aktuelle Stunde dient dazu, Themen, die die Bevölkerung aktuell bewegen, hier im Disput darzustellen und
Meinungen darüber auszutauschen. Herr Staatssekretär
Hartenbach, Ihr Beitrag diente nicht diesem Zweck und
war dieses Hauses nicht würdig.
({0})
Herr Staatssekretär Hartenbach, es ist für mich nicht
nachvollziehbar, wie Sie sich hier hinstellen und so tun
können, als sei überhaupt nichts gewesen. Sie vertreten
ein Verfassungsministerium. Sie haben Gesetze auf Verfassungskonformität zu prüfen. Sie aber stellen sich hierher, sagen, es sei überhaupt nichts gewesen, und lesen
vor, was man Ihnen aufgeschrieben hat. Dieser Stil ist
dieses Hauses nicht würdig.
({1})
Ich darf, damit die Kritik nicht nur von uns kommt,
eine kurze Zeitungspassage vorlesen. Ich könnte viele
Zeitungen dafür nehmen. In der heutigen Ausgabe der
„Stuttgarter Zeitung“ steht:
Die beiden Volksparteien haben im ersten schwarzroten Jahr viel Pfusch produziert. Sie schaffen bei
der Gesetzesarbeit nicht weniger schlampig als die
darob zu Recht gescholtene Vorgängerregierung.
Das ist der Stand. Darauf haben Sie hier einzugehen.
({2})
Herr Kollege Schmidt, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass in der parlamentarischen Demokratie das Parlament der Chef ist; das ist richtig. Aber ein Betrieb läuft
nur dann, wenn der Chef seine Arbeit verantwortungsvoll ausführt und darauf achtet, was er zu tun hat. Mein
Vorwurf an Sie lautet: Das haben Sie nicht getan.
Für diejenigen, die das nicht tagtäglich verfolgen können, möchte ich dies an einem Beispiel deutlich machen:
Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Einführung einer Antiterrordatei beschlossen. Wir von der FDP - ich denke,
das gilt auch für die Grünen - hatten Ihnen signalisiert,
dass wir bereit wären, mit Ihnen in einen Dialog zu treten und Sie dabei zu unterstützen. Aber Sie haben uns
nicht einmal die Chance dazu gegeben. Warum? Weil
Sie sich in der großen Koalition bis zum Dienstagabend
nicht über den Gesetzentwurf einig wurden und der zuständige Ausschuss am Mittwoch darüber abstimmen
musste. Das Problem dieser Regierung ist: Sie legen Gesetzentwürfe auf den Tisch, an denen Sie, weil Sie keine
Einigkeit erzielen, bis zur letzten Minute feilen müssen,
und so weder dem Parlament noch anderen die Möglichkeit geben, Ihre Gesetzentwürfe zu prüfen.
({3})
Wir werden morgen eine Debatte über die Einsetzung
der Föderalismuskommission II führen. Die Ergebnisse
der ersten Föderalismusreform sind aus sehr verschiedenen Blickwinkeln kritisiert worden. Aber auf eines,
meine Damen und Herren von der großen Koalition,
wäre wohl niemand gekommen: dass die Föderalismusreform daran scheitern könnte, dass Sie nicht verstehen,
was Sie überhaupt beschlossen haben. Das ist das eigentliche Problem.
({4})
Wenn man sich anschaut, welche Themen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, wird deutlich, dass Sie offenbar noch nicht verinnerlicht haben, in welchen Bereichen Sie Kompetenzen haben und in welchen nicht.
({5})
Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, dass
zum Beispiel mein Kollege Goldmann in seiner Rede
zum Verbraucherinformationsgesetz auf das Problem
hingewiesen hat.
({6})
Aber daraus wurden Sie nicht schlau. Das zeigt sich jetzt
bei der Gesundheitsreform. Kollege Lanfermann hat des
Öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass auch sie Verfassungsbrüche beinhaltet.
({7})
Aber Sie hören nicht auf uns. Das verstehen wir nicht.
({8})
Lassen Sie mich nun auf das SGB XII zu sprechen
kommen. Sie haben den Gemeinden gesagt, dass sie eine
Weihnachtsgratifikation zu zahlen haben, zum Beispiel
an die Heimbewohner. Die Gemeinden hingegen weisen
darauf hin, dass Sie das nicht dürfen. In der Neufassung
von Art. 84 des Grundgesetzes heißt es - so haben Sie es
wörtlich formuliert -:
Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.
Wir hatten immer angemahnt - das war übrigens ein
wesentlicher Grund, warum wir die Föderalismusreform
abgelehnt haben -, dass das Problem dadurch nicht gelöst wird. In genau dieser Situation befinden wir uns
jetzt. Hätten wir das Konnexitätsprinzip in das Grundgesetz aufgenommen,
({9})
könnten Sie diese Aufgaben übertragen; man müsste nur
das Geld zur Verfügung stellen.
({10})
Das aber haben Sie nicht gewollt. Die Verfassungskonflikte werden jetzt auf dem Rükken derer ausgetragen,
die gehofft haben, die 35 Euro zu bekommen. Nach dem
aktuellen Stand der Diskussion können sie sich dessen
aber nicht mehr sicher sein. Das ist keine solide Politik.
Dagegen wehren wir uns.
({11})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einer
Bitte aus dem Gebet eines Pfarrers aus dem Jahre 1864
schließen, das heute allerdings mindestens genauso aktuell ist wie damals - ich zitiere nur zwei Zeilen -:
Lieber Gott und Herr! Gib den Regierenden ein
besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere
Regierung.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch für
die SPD-Fraktion.
Ich vertrete die bessere Regierung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Anschluss an die Ausführungen des Kollegen Schmidt betone ich für die heutige Debatte und für alle künftigen
Debatten dieser Art: Gesetzgebung ist keine Naturwissenschaft. Sie folgt nicht den Prinzipien der Mathematik,
liebe FDP.
Gerne trage ich zur Wahrheitsfindung bei - dazu hat
die FDP aufgerufen - und sage etwas zu den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit. Diese Anforderungen lassen sich sehr
schnell aufzählen. Von Bedeutung sind die folgenden
Gebote: Gesetze müssen bestimmt sein, was direkt aus
dem Gebot der Rechtssicherheit folgt.
Gesetze müssen so eindeutig in ihren Regelungen
sein, dass jeder die Rechtsfolgen seines individuellen
Handelns voraussehen kann. Gesetze müssen außerdem
klar sein, das heißt, sie müssen unmissverständlich und
rational nachvollziehbar sein. Gesetze müssen notwendig sein, außerdem verhältnismäßig und sie dürfen den
Vertrauensschutz der Bürgerinnen und Bürger nicht verletzen.
({1})
Wenn wir jetzt, nach einem Jahr großer Koalition,
eine erste Bilanz ziehen, dann stellen wir fest:
97,8 Prozent der Gesetze, die wir erlassen haben, erfüllen diese Voraussetzungen. Das Glas ist nicht etwa halb
voll, es ist bis oben voll.
({2})
Reden wir also über die 2,2 Prozent, die bleiben. Es
gibt einen übergeordneten Gesichtspunkt, der bei allem
eine Rolle spielt, die Verfassungsmäßigkeit. Ich folge
dem Gewohnheitsrecht: Niemand darf diesen Bundespräsidenten kritisieren;
({3})
darin gibt es Übereinstimmung in diesem Saal. Aber
auch dieser Bundespräsident hat ein Recht auf Irrtum. Es
ist ihm wie allen Bundespräsidenten unbenommen, sich
auch einmal zu irren, wie uns als Gesetzgeber auch.
Wer Jura studiert hat, hat schon vor dreißig, vierzig
Jahren den Streit darüber mitbekommen - Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wir haben das während unserer
juristischen Ausbildung erlebt -, welches Prüfungsrecht
der Bundespräsident nach Art. 82 Grundgesetz hat. Wir
haben aus dem Maunz/Dürig und wie sie alle heißen
über all die Jahre unverändert erfahren: Er hat ein formelles Prüfungsrecht; das heißt, er muss nach Art. 82
prüfen, ob ein Gesetz formell ordnungsgemäß zustande
gekommen ist.
({4})
Außerdem hat er - das ist Meinung der überwältigenden
Mehrheit derer, die sich dazu geäußert haben - ein eingeschränktes Recht sowie die Pflicht zu prüfen, ob ein
Gesetz evident verfassungswidrig ist. Es gibt nach unserem Prinzip der Gewaltenteilung, liebe FDP, nur eine Instanz, die aufgerufen ist, die Verfassungsmäßigkeit oder
die Verfassungswidrigkeit festzustellen: das Bundesverfassungsgericht.
({5})
Dieser Bundespräsident ist zu dem Ergebnis gekommen, das Verbraucherinformationsgesetz entspreche
nicht Art. 84 Grundgesetz. Dieses Gesetz ist aber nachweisbar in allen Regierungsinstanzen, die dazu aufgerufen waren, im Bundestag und im Bundesrat, geprüft worDr. Michael Bürsch
den und man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es
sich nicht um neue Aufgaben handelt.
({6})
Man mag diese Auffassung nicht teilen. Wenn es aber
über etwas Streit gibt, ist dieses Gesetz noch lange nicht
evident, auf der Stirn tragend, verfassungswidrig.
({7})
Der Bundespräsident hat an dieser Stelle das Recht
auf Irrtum. Er muss aber nicht unbedingt die Unterzeichnung eines Gesetzes verweigern, wenn er der Meinung
ist, es sei nicht der Verfassung gemäß. Er kann das auch
wie Johannes Rau elegant machen und sagen: Ich unterzeichne es, aber ich gebe euch den zarten Hinweis, das
Verfassungsgericht möge es noch einmal überprüfen.
({8})
Ich will aus diesem Anlass einen weiteren Hinweis
geben - das ist aus meiner Sicht in der Kommentierung
etwas zu kurz gekommen -: Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung hat der Bundespräsident ebenfalls zurückgewiesen. Ich will mich nicht darüber auslassen, ob zu Recht oder zu Unrecht. Ich sehe den
Bundespräsidenten in der Funktion eines Staatsnotars,
der darauf hinweist, ob ein Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen ist oder so evident verfassungswidrig
ist, dass es zurückgenommen werden muss. Das ist bei
diesem Gesetz meiner Ansicht nach auch nicht der Fall.
Dieser Fall wirft aber höchst interessante Fragen für
das Parlament auf, die ich hier gern einmal diskutieren
würde, Herr Schmidt: Welche Aufgaben gehören zu den
Kernaufgaben des Staates? Wie viel von seiner Hoheit
darf der Staat abgeben? Welche Aufgaben soll der Staat
in Zukunft noch übernehmen? Wenn er Aufgaben abgibt: mit welcher Gewährleistung? - Ich bin bekanntlich
ein großer Anhänger der öffentlich-privaten Partnerschaften. Für mich ist ein Gefängnis eine Einheit, in der
der Staat die Verantwortung für die Sicherheit trägt.
Aber dass diese Dienste von Privaten erbracht werden,
ist kein Verstoß gegen das Gebot, dass der Staat diese
Aufgabe innehat. Diese Fragen sollten wir einmal durchdiskutieren.
Zum Schluss komme ich zu den Jahreszeugnissen,
Kollege Montag. Ich habe immer gehört: Die Opposition
ist die Regierung von morgen. - Mit platter Polemik, mit
künstlicher Aufgeregtheit und Diffamierung des Gesetzgebers ist dieses Ziel noch weit entfernt von euch.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP möchte sich mit dieser Aktuellen Stunde
wieder einmal als Rechtsstaatspartei und parlamentarische Hüterin der Verfassung darstellen; das haben Sie ja
auch früher schon immer wieder für sich in Anspruch
genommen. Deshalb haben Sie für diese Aktuelle Stunde
einen Titel gewählt, der einer Dissertation oder, ich
möchte fast sagen, einer Habilitation alle Ehre machen
würde.
({0})
Aber ich denke, wir sollten auf dem Boden bleiben.
Das sage ich vor allem zu Ihnen, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger. Ihre maßlos überzogene Polemik wird diesem Thema ganz gewiss nicht gerecht.
({1})
Sie haben so getan, als wären die beiden Ausnahmefälle
in dieser Wahlperiode, in denen der Bundespräsident ein
Gesetz nicht ausgefertigt hat, die Regel. Damit stellen
Sie die Dinge auf den Kopf.
({2})
Diese Koalition hat bei allen Gesetzesvorhaben die Verfassung im Blick und nimmt verfassungsrechtliche Bedenken selbstverständlich immer ernst. Treten verfassungsrechtliche Zweifel auf, dann werden diese geprüft.
Dass dabei auch einmal Fehleinschätzungen vorkommen
können, bestreitet niemand.
Dass es in der Beurteilung von verfassungsrechtlichen Fragen unterschiedliche Meinungen gibt und man
zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, ist für
Juristen, insbesondere für Verfassungsjuristen, weiß Gott
nichts Neues oder gar Ungewöhnliches. Wer das Verfassungsrecht kennt, der weiß, dass es nahezu nichts gibt,
wozu es unter Verfassungsrechtlern nicht unterschiedliche Auffassungen gibt und was unstrittig ist.
({3})
Das gilt übrigens auch für die Frage, ob dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht zusteht, was aber
nach herrschender Meinung der Fall ist und von der
Staatspraxis anerkannt wird. Aber es gibt, wie gesagt,
fast nichts, was unstrittig ist.
Dass der Bundespräsident in dieser Wahlperiode nunmehr bereits zum zweiten Mal ein Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet hat, ist
bedauerlich. Gleichwohl respektieren wir diese Entscheidung. Wir tun dies, obwohl man mit guten Argumenten durchaus darüber streiten könnte, ob gerade
beim Verbraucherinformationsgesetz ein Verfassungsverstoß seitens des Gesetzgebers vorliegt.
Die betreffende Verfassungsnorm ist erst kürzlich im
Rahmen der Föderalismusreform umgestaltet worden.
Art. 84 des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung bestimmt, dass Gemeinden durch Bundesgesetz Aufgaben
nicht mehr übertragen werden dürfen. Man kann sehr
wohl der Auffassung sein, dass es sich im vorliegenden
Fall nicht um die Übertragung einer Aufgabe im Sinne
des Art. 84 Grundgesetz handelt.
({4})
Es geht nämlich um die Schaffung eines Rechts der Bürger auf Zugang zu einschlägigen Daten von Behörden,
eben auch zu solchen von Gemeinden.
({5})
Ob hier also ein Verfassungsverstoß vorliegt, noch dazu
ein so evidenter, der die Ablehnung der Ausfertigung unumgänglich macht, daran kann man gut begründete
Zweifel haben.
Bundesregierung und Parlament haben die Rechtslage
geprüft und sind zu einem anderen Ergebnis gekommen
als das Bundespräsidialamt.
({6})
- Ja, auch der Bundesrat. Vielen Dank für den Hinweis,
Herr Kollege Stünker. - Wer sagt denn, dass die Rechtsauffassung des Bundespräsidialamtes die einzig richtige
ist?
({7})
Dass wir immer in besonderem Maße die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im Auge haben, zeigen
die aktuellen Beratungen über ein Nichtraucherschutzgesetz. Die Unionsfraktion hat die Probleme hinsichtlich
der Zuständigkeit des Bundes für eine umfassende
Nichtraucherschutzregelung klar gesehen und angesprochen. Deshalb ist der Vorschlag der damit befassten Arbeitsgruppe gestoppt worden, und zwar in einem sehr
frühen Stadium, lange vor den parlamentarischen Beratungen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Ich kann Ihnen
versichern: Es wird eine Regelung geben, die mit der
Verfassung im Einklang steht. Dieselbe Vorgabe gilt übrigens auch für die Gesundheitsreform.
({8})
Lassen Sie mich abschließend zwei Punkte festhalten:
Erstens. Die Koalitionsfraktionen werden ihre legislative
Arbeit auch in Zukunft sehr ernst nehmen. Zweitens. Für
die verbindliche Klärung der Frage, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist, ist einzig das Bundesverfassungsgericht zuständig.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet: „Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit“. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
ich komme, wie Sie vielleicht wissen, aus Niedersachsen.
Seit ein paar Jahren regiert die FDP in Niedersachsen an
vorderster Stelle mit.
({0})
Wenn wir uns einmal anschauen, was in Niedersachsen
in den letzten Jahren passiert ist, dann stellen wir fest,
dass es
({1})
für diejenigen, die einer Partei angehören, die dort Regierungsverantwortung hat, geboten wäre, eine solche
Kritik hier gemäßigter vorzutragen.
({2})
Liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
schauen wir uns einmal die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Möglichkeit der Telefonüberwachung
an. Es ist nicht so, dass sich nur ein Organ geweigert hat,
etwas auszufertigen bzw. zu unterschreiben. Vielmehr
haben Sie verfassungsgerichtlich verbrieft bekommen,
dass das, was Sie getan haben, als Sie mit an der Regierung waren, in einem sehr zentralen Punkt verfassungswidrig gewesen ist.
({3})
Jeder, der den Rechtsstaat verkörpern will, muss hier
aufheulen. Ich denke, deswegen steht es uns allen gut an,
sehr vorsichtig Kritik zu üben, die Dinge sehr behutsam
miteinander zu besprechen und nicht polemisch aufeinander einzuhauen.
({4})
Heute ist in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ nachzulesen, dass der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Niedersächsischen Landtags das geplante
Gesetz zur Privatisierung der Landeskrankenhäuser in einer Art und Weise verrissen hat, wie es das jedenfalls für
viele Landespolitiker zuvor noch nie gegeben hat.
({5})
Auch das ist ein Beispiel dafür, dass man sehr ruhig sein
sollte, wenn man woanders Verantwortung übernommen
hat und hier sagt, man bewahre die Verfassungsmäßigkeit bzw. man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Ich glaube, so geht das nicht.
({6})
Herr Kollege Maurer, es hat mich schon erstaunt, dass
der Kollege Nešković neulich im Rahmen der Debatte
über § 153 a StPO, bei dem es um die Einstellung bei
Erfüllung von Auflagen und Weisungen geht, als BunDr. Matthias Miersch
desrichter vorgeschlagen hat, bei einer gerichtlichen Entscheidung unter Umständen noch eine Prüfungskompetenz einzuführen, die der Legislative zugerechnet
werden soll. Das halte ich wirklich für Verfassungsunfug
und einen Vorschlag, durch den alles auf den Kopf gestellt würde.
({7})
Ich glaube also, dass wir gut beraten sind, zu akzeptieren, dass es immer unterschiedliche Auffassungen geben wird, dass auch die Verfassungsorgane unterschiedliche Meinungen vertreten. Die Vorredner haben schon
darauf verwiesen, dass man bezüglich der Verfassungsmäßigkeit bzw. der Verfassungswidrigkeit unterschiedlicher Meinung ist. Ich glaube auch, dass wir es aushalten
müssen, dass ein Bundespräsident so agiert, wie er
agiert.
Das, was der Kollege Schmidt hier vorgetragen hat,
war aus meiner Sicht ein sehr guter Vorschlag.
({8})
Wir sollten daran anknüpfen. Als Mitglied der AG Recht
meiner Fraktion kann ich nur sagen: Wir nehmen das
dankend an.
Wir werden uns auch die Frage stellen müssen, wie
wir künftig eine noch bessere Arbeit machen können. An
zwei Punkten will ich ganz konkret werden.
Erstens. Ich glaube, wir müssen uns überlegen - dieses Problem ist hier an vielen Stellen vorgetragen worden -, wie wir dem Zeitdruck begegnen. Das bezieht
sich vor allem auf die Umsetzung europäischen Rechts.
Wie oft sind wir in den letzten Monaten aufgrund anhängiger Verletzungsverfahren unter enormen Zeitdruck geraten? Ich glaube, wir brauchen hier ein Frühwarnsystem
zwischen der Bundesregierung und dem Bundestag, sodass der Bundestag nicht mehr unter einen solchen Zeitdruck gerät. Wir müssen überlegen, wie wir das hinbekommen.
({9})
Zweitens. Ich glaube, wir sollten uns die Geschäftsordnung einmal sehr aufmerksam anschauen. Als jemand, der jetzt seit einem Jahr Mitglied des Bundestages
ist, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir in den
Ausschussberatungen oft unter großen Zeitdruck geraten
und federführende und mitberatende Ausschüsse zum
großen Teil parallel beraten. Deshalb sollten wir uns
überlegen, ob wir die Geschäftsordnung nicht dergestalt
ändern, dass der federführende Ausschuss stets mindestens eine Sitzungswoche nach den mitberatenden Ausschüssen tagt. Ich glaube, es ist wichtig, dass ein federführender Ausschuss die Voten richtig beraten kann.
Daran haperte es an der einen oder anderen Stelle.
({10})
Ich glaube, es wäre gut, wenn wir daran arbeiten und
uns dieser Aufgaben annehmen würden. Herr Schmidt,
ich bin mir sicher, dass Sie diese zwei konkreten Vorschläge mit aufnehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wachstumsschädliche Mehrwertsteuererhöhung rückgängig machen
- Drucksache 16/2520 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Volker Wissing das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Macht Geld glücklich?
({0})
Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon lange.
Wenigstens unser Bundesfinanzminister hat eine Antwort darauf. Er sagt: „Es hilft“ und fährt fort: „Das
Glücksgefühl, Geld zu haben, ist allerdings weitaus weniger intensiv als die beklemmende Erfahrung, keines
oder wenig zu haben.“
({1})
Aber dann fragt man sich, meine Damen und Herren,
warum ausgerechnet dieser Bundesfinanzminister so
viele Menschen dieser beklemmenden Erfahrung aussetzt.
({2})
Die SPD hatte es in ihren Wahlprospekten ja schön
aufgelistet: 21,8 Millionen Rentner, 1,4 Millionen Pensionäre und Versorgungsempfänger, 1,8 Millionen Beamte, 4,7 Millionen Arbeitslose,
({3})
2 Millionen Studenten, 3,8 Millionen Selbstständige sie alle zahlen ab Januar nicht nur 2, sondern dank
effektiver Unterstützung durch die SPD sogar 3 Prozentpunkte mehr beim Einkaufen.
Dabei weiß es die SPD genau: Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer ist sozial ungerecht, weil sie vor allem
Familien sowie kleine und mittlere Einkommen massiv
belastet.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zu?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Niebel.
Vielen Dank, Herr Kollege Wissing. - Wir debattieren hier ja über die zu erwartende Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr, die nicht nur politisch, sondern
vor allem in der Bevölkerung zu vielen Ängsten führt.
Finden Sie es vor diesem Hintergrund angemessen, dass
das Finanzministerium bei dieser Debatte nicht zugegen
ist?
({0})
Ich finde das äußerst unangemessen. Es zeigt, dass
sich der sozialdemokratische Finanzminister für die Interessen der Menschen, denen er in die Tasche greift,
längst nicht mehr interessiert.
({0})
So sagt Peer Steinbrück auch: „Wir treten vielen auf
die Füße, aber wir tun dies gleichmäßig.“ Aber wenn ich
bei der SPD bleibe und dies nach ihrer eigenen Darstellung weiterspinne, dann muss man sagen: Mit der Mehrwertsteuererhöhung treten Sie Beziehern größerer Einkommen mit der flachen Sohle und denen mit geringen
Einkommen mit der Hacke auf die Füße.
Auch das Deutsche Institut für Wirtschaft gelangt zu
dem Ergebnis, dass die geplante Mehrwertsteuererhöhung Nichterwerbstätige wie Arbeitslose und Rentner
besonders belastet. Während Ihre Politik die Bevölkerung insgesamt um 0,8 Prozent ihres verfügbaren Einkommens bringt, ist das obere Zehntel mit 0,6, das untere mit knapp 1,4 Prozent dabei.
({1})
- Ich hatte es gerade gesagt. Wenn Sie zugehört hätten,
wüssten Sie es. Es ist das Deutsche Institut für Wirtschaft.
Wo SPD draufsteht, ist eines jedenfalls nicht mehr
drin, und das ist soziale Gerechtigkeit, meine Damen
und Herren.
({2})
Ich muss Ihnen auch sagen: Was die SPD heute für
ganz konkret falsch hält, hält sie morgen für ganz konkret richtig. Ich will Ihnen noch einmal Franz Müntefering zitieren, weil Sie das ja schon langsam verdrängen:
({3})
Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer erhöhen, also
Produkte und Dienstleistungen spürbar teurer machen, würde das die Binnennachfrage noch weiter
abwürgen. Das kann niemand ernsthaft wollen.
Deswegen sind wir fest entschlossen, das zu verhindern.
({4})
So sieht es also aus, wenn Sie fest entschlossen sind,
etwas zu verhindern: Dann zahlen die Bürger nicht
2 Prozentpunkte mehr, sondern gleich 3 Prozentpunkte.
Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Mehrwertsteuer schwächt die Konjunktur. Daran ändert auch
die Einschätzung von Herrn Finanzminister Steinbrück
nichts, dass es sich nur um eine „leichte Delle“ handeln
wird. Man kann nicht bestreiten, dass das Ganze unter
dem Strich Arbeitsplätze kostet und nur eines fördert,
nämlich die Schwarzarbeit.
({5})
Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Was
ist denn eigentlich eine leichte Delle? Sind das 100, sind
es 1 000 oder 100 000 verloren gegangene Arbeitsplätze? Wir wissen es heute nicht. Fest steht aber: Sie
schwächen unser Land mit einer Steuererhöhung nach
der anderen. Und es wird keinen trösten, der seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er vom Bundesfinanzminister
erklärt bekommt, dies geschehe nur aufgrund einer kleinen Delle.
({6})
Diese leichte Delle wird für viele Menschen einen herben und bitteren Einschnitt bedeuten. Finanzpolitik findet nicht im leeren Raum statt. Was wir hier beschließen,
hat für die Menschen konkrete Auswirkungen. Das sollten wir nicht vergessen.
Es wirkt geradezu grotesk, wenn sich die Bundesregierung im Hinblick auf die größte Steuererhöhung in
der Geschichte unseres Landes mit einer sensationell
niedrigen Nettokreditaufnahme rühmt. Sie greifen den
Bürgerinnen und Bürgern schamlos in nicht gekanntem
Ausmaß in die Taschen und wollen dann auch noch ein
Lob für Ihre geringe Nettokreditaufnahme haben. Das
grenzt an Lächerlichkeit.
({7})
Wenn man bedenkt, dass durch die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte die Ausgaben entsprechend steigen, dann ist die Grenze zum Grotesken weit
überschritten. Hätten Sie die im Haushalt verfolgten
Ziele durch Sparanstrengungen erreicht, dann wäre Ihnen der Respekt in unserem Land und - davon bin ich
überzeugt - auch des gesamten Hauses sicher gewesen.
({8})
Aber den Menschen das Geld wegzunehmen und sich
dann dafür zu loben, dass die Kreditaufnahme niedriger
ausfällt, ist ein starkes Stück.
({9})
Aber wie der Bundesfinanzminister so schön festgestellt
hat: Man kann sich auch totsparen. Das Finanzministerium ist ja auf der Regierungsbank im Augenblick nicht
vertreten.
({10})
Ich sehe aber auch sonst niemanden, der kurz davor
wäre, sich totzusparen. Wenn Sie endlich erkennen würden, dass Sparen für den Staat keine Bedrohung darstellt, sondern dass Einsparungen - das heißt, nicht mehr
Ausgaben, sondern weniger - eine Chance für unser
Land sind, dann würden Sie vielleicht statt von Totsparen von Gesundsparen sprechen und endlich damit anfangen.
({11})
Die FDP hat die Mehrwertsteuererhöhung von Anfang an abgelehnt und wir fordern Sie heute auf, diese
Maßnahme auszusetzen. Sie schadet der Konjunktur und
gefährdet Betriebe und Arbeitsplätze in Deutschland.
Genau das haben auch Sie vor den Wahlen verkündet.
Jetzt wollen Sie aber nicht mehr daran erinnert werden.
Ich bin im Übrigen schon gespannt, was Sie den Menschen vor der nächsten Bundestagswahl erzählen werden.
({12})
Fest steht nur, dass Sie sich nach der nächsten Wahl frei
fühlen werden, das krasse Gegenteil zu tun.
({13})
Geld mag vielleicht glücklich machen oder nicht, aber
wenn der Finanzminister unter dem beklemmenden Gefühl leidet, zu wenig zu haben,
({14})
dann sollte er ernsthaft sparen, sparen und nochmals sparen, bevor er sich am Geld der Bürgerinnen und Bürger
bedient.
({15})
Wir wissen genauso gut wie Sie, dass bei Steuermehreinnahmen in Höhe von 19,4 Milliarden Euro in diesem
Jahr und 20,1 Milliarden Euro im nächsten Jahr die
Mehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist.
({16})
Sie können auf diese Erhöhung verzichten, ohne sich totzusparen. Sie können vor allen Dingen unserem Land eines ersparen, nämlich dass das kleine Pflänzchen des
konjunkturellen Aufschwungs, den wir in den letzten
Monaten erlebt haben - es ist wirklich nur ein kleines
Pflänzchen -, nicht zertreten wird. Wenn Sie etwas für
Arbeitsplätze in diesem Land tun wollen, dann stimmen
Sie unserem Antrag zu, die Mehrwertsteuererhöhung
rückgängig zu machen! Die Menschen in unserem Land
werden es Ihnen danken. Dann können wir die Chance,
die sich durch die Belebung der weltweiten Konjunktur
zum Teil auch in Deutschland bietet, in großem Maße
nutzen. Die FDP steht in diesem Sinne an Ihrer Seite.
({17})
- Sie mit Ihren klugen Zwischenrufen! Ich gehe davon
aus, dass sich die SPD weigern wird, das zu tun, wofür
Sie gewählt worden sind. Sie haben den Menschen gesagt, Sie seien gegen die Mehrwertsteuererhöhung.
({18})
Sie werden sich heute aller Voraussicht nach weigern,
das zu tun, wofür Sie gewählt wurden. Aber wundern Sie
sich nicht, wenn sich die Menschen in Deutschland dann
beim nächsten Mal weigern, Sie zu wählen.
({19})
Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die
Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wissen, dass die Finanzpolitik der großen Koalition
({0})
zwei Ziele gleichzeitig anstrebt: erstens die Stärkung der
Wachstumskräfte der Wirtschaft und zweitens die nachhaltige Sanierung der öffentlichen Finanzen. Wenn man
zwei Ziele gleichzeitig anstrebt, weil beide sehr wichtig
sind, dann kann man leider nicht maximieren, sondern
nur optimieren.
Mit einem Drittel der Einnahmen aus der geplanten
Mehrwertsteuererhöhung leisten wir einen Beitrag zur
Stärkung der Beschäftigung; denn 7 Milliarden Euro
- das entspricht etwa den Einnahmen aus einem Mehrwertsteuerpunkt - sind für uns ein durchlaufender Posten. Diesen Betrag nehmen wir den Mehrwertsteuerzahlern und geben ihn den sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten. Hier wird netto gegen netto ausgetauscht.
Konjunkturpolitisch können Sie diese 7 Milliarden vernachlässigen. Aber mit diesem Betrag leisten wir wie gesagt einen Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung.
Das ist eines unserer Ziele.
({1})
Die 14 Milliarden Euro aus dem Aufkommen der beiden anderen Mehrwertsteuerpunkte sind hälftig für die
Sanierung der Finanzen der Bundesländer und des Bundeshaushalts bestimmt. Dies wird dazu führen, dass die
öffentliche Hand im nächsten Jahr 14 Milliarden Euro
weniger Schulden aufnehmen muss. Das bedeutet selbst
bei günstigen Zinssätzen langfristig eine Ersparnis in
Höhe von 500 Millionen Euro im Jahr. Wir machen also
endlich mit dem Schuldenabbau ernst und handeln damit im Interesse zukünftiger Generationen.
({2})
Nun gibt es die beiden berühmten Argumente, die Sie
heute wieder gegen eine Mehrwertsteuererhöhung vorgetragen haben. Diese werden durch Wiederholung nicht
glaubwürdiger. Das eine Argument lautet: Ihr könntet
doch mehr sparen. - Meine Damen und Herren, was hat
diese große Koalition nicht bereits alles an unpopulären
Entscheidungen zum Subventionsabbau durchgesetzt!
Ich erinnere nur an die Abschaffung der Eigenheimzulage und die Kürzung der Pendlerpauschale. Beim Sparen haben wir mehr gemacht als fast alle vorangegangenen Regierungen, und das in sehr unpopulären
Bereichen. Das hat die große Koalition durchgestanden.
({3})
Wenn Sie 7 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einsparen wollen, dann müssen Sie an Positionen wie die
Rente, das Kindergeld oder die Infrastruktur herangehen.
Ich sage sehr deutlich: Dazu sind wir nicht bereit. Mit
uns, der großen Koalition, wird das mit Sicherheit nicht
geschehen.
({4})
Das zweite Argument gegen eine Mehrwertsteuererhöhung lautet: Die Steuereinnahmen sprudeln. Wir machen offenbar eine gute Politik und deshalb steigen die
Steuereinnahmen; darauf sind wir stolz. Aber wer die
Zahlen kennt, der wird mir zustimmen, wenn ich sage:
Wir stehen bei der Sanierung der Staatsfinanzen leider
noch ganz am Anfang. Wir werden den ohnehin viel zu
hohen Schuldenberg trotz der sprudelnden Steuereinnahmen in diesem Jahr um 30 Milliarden Euro und trotz der
Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr um 20 Milliarden Euro neue Schulden erhöhen. Das eigentliche
Ziel der Finanzpolitik muss aber sein - nur so darf man
den Maastrichtvertrag und Art. 115 des Grundgesetzes
interpretieren -, dass man in wirtschaftlich „normalen“
Jahren gar keine neuen Schulden macht, dass die Nettoneuverschuldung in schlechten Jahren maximal 3 Prozent beträgt und dass man in guten Jahren beginnt
- wenn man die momentane wirtschaftliche Entwicklung sieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass wir
uns in wirtschaftlich guten Jahren befinden -, Schulden
zurückzuzahlen. Wer vor diesem Hintergrund die sprudelnden Steuereinnahmen als Argument gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung anführt, der ist entweder nicht bereit - das ist bei vielen so - oder nicht
willens, die Zahlen zu verarbeiten.
Auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen sind
zwei Bundesländer schon deutlich weiter als wir im
Bund. Ich kann den Bayern nur wieder Lob zollen. Sie
haben in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt. Es
ist eine sehr positive Meldung, dass Sachsen offensichtlich im nächsten Jahr genauso weit sein wird.
({5})
Wenn wir uns in Europa umschauen, dann stellen wir
fest, dass inzwischen fünf EU-Länder dabei sind, Schulden zurückzuzahlen; das sind die skandinavischen Länder und im nächsten Jahr offensichtlich Spanien. Das
muss unser Ziel sein.
Ich höre immer wieder den Vorwurf, die Mehrwertsteuererhöhung sei nicht sozial verträglich. Ich sage Ihnen: Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch sozial verträglich. Wer die Fakten kennt, der weiß, dass
wesentliche Positionen, zum Beispiel Nahrungsmittel,
unverändert mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz
von 7 Prozent belegt werden.
({6})
Das zeigt, dass unsere Politik sozial ist.
Ein weiterer entscheidender Posten, die Mieten, wird
gar nicht mit Mehrwertsteuer belegt. Von daher stelle ich
die These auf, dass zwei Drittel der Ausgaben der viel
zitierten Empfänger unterer Einkommen von der Mehrwertsteuererhöhung überhaupt nicht tangiert werden.
Wenn Sie sich einmal in Europa umsehen, dann werden Sie feststellen, dass wir mit 19 Prozent noch in der
unteren Hälfte liegen.
({7})
Es gibt einige, die weniger haben, aber die Mehrzahl der
Länder innerhalb der EU hat eine höhere Mehrwertsteuer, sodass Sie auch unter diesem Gesichtspunkt nicht
davon reden können, dass wir mit überzogenen Positionen arbeiten.
({8})
Ich sage sehr deutlich: Wem die Sanierung der öffentlichen Haushalte ein ernstes Anliegen ist - der großen
Koalition ist es ein ernstes Anliegen; deshalb haben wir
ja die vielen unpopulären Entscheidungen getroffen -,
({9})
der kommt nicht um die Mehrwertsteuererhöhung herum.
Interessant ist, dass die Einstellung von Wissenschaft,
Wirtschaft und inzwischen auch von weiten Teilen der
Bevölkerung zur Mehrwertsteuererhöhung eine andere
geworden ist. Es ist richtig, dass zu Beginn manches
wissenschaftliche Institut gesagt hat, es bestehe die Gefahr, dass die Konjunktur erschlagen werde. Solche Meldungen gab es vor einem Jahr. Lesen Sie heute einmal
nach! Das Ifo-Institut schreibt schon in der Überschrift:
Der Aufschwung ist inzwischen so robust, dass sich die
Nachfrageseite von der Mehrwertsteuererhöhung nicht
mehr ablenken lässt. - Gott sei Dank! Das ist Ergebnis
unserer Politik.
Der Antrag der FDP ist nicht mehr aktuell. Sie müssen sich andere Themen einfallen lassen. Das Thema
Mehrwertsteuererhöhung ist abgehakt.
({10})
Wir haben ganz andere Probleme. Ich bin froh, dass die
Bevölkerung und insbesondere die wissenschaftlichen
Institute und die Wirtschaft erkannt haben, dass die Sanierung der Staatsfinanzen etwas ganz Wichtiges ist. Vor
diesem Hintergrund - das wird Sie von der FDP nicht
überraschen - werden wir natürlich Ihren Antrag ablehnen. Wir freuen uns, dass die Zustimmung zur Mehrwertsteuererhöhung immer größer wird. Sie sollten sich
aktuellere Themen einfallen lassen.
Danke.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Herbert Schui das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Zweck der höheren Mehrwertsteuer soll sein, zu ausgeglichenen Haushalten zu kommen. Gegen eine Haushaltskonsolidierung ist an sich ja gar nichts einzuwenden, nur das Mittel taugt nichts.
({0})
Die Defizite und die zu niedrigen Steuereinnahmen
sind im Wesentlichen eine Folge der anhaltenden Senkung der Besteuerung von Gewinn- und Vermögenseinkommen. Als grober Anhaltspunkt kann gelten: Im
Jahre 1960 hat die Steuerbelastung dieser Einkommen in
Westdeutschland 20 Prozent betragen. Bis 1980 ist diese
auf 15 Prozent abgefallen. Im darauf folgenden Jahrzehnt, bis zur deutschen Vereinigung, ist sie auf rund
8 Prozent gesunken, und gegenwärtig haben wir gerade
einmal 6 Prozent.
Wie Sie wissen, hat sich das Wachstum des Bruttoinlandprodukts in derselben Periode verringert. An diesem Trend ändert auch das gegenwärtige Wachstum von
2,4 Prozent nichts. Die Investitionskonjunktur wird im
kommenden Jahr abflachen; ebenfalls wird sich das
Wachstum der Exporte verlangsamen. Wen wollen Sie
vor diesem Hintergrund noch davon überzeugen, dass
weniger Gewinnsteuern zu mehr Wachstum und zu mehr
Beschäftigung führen?
Reden Sie sich nicht mit der Globalisierung heraus,
die wie eine biblische Plage über uns gekommen sei.
Vielmehr ist diese Form der Globalisierung das Ergebnis
von Politik.
({1})
Gerechtfertigt haben Sie diese Politik mit dem Versprechen von mehr Wohlstand. Den aber haben wir
nicht. Nachdem nun nichts daraus geworden ist, drehen
Sie das Argument um. Nun sind es auf einmal fremde
Völkerschaften, die unseren Lebensstandard bedrohen,
weil sie billiger arbeiten. Wenn sich die Vorstellung,
mehr Lohn besonders für gering Qualifizierte sei wegen
der Auslandskonkurrenz nicht möglich, endgültig im allgemeinen Bewusstsein eingefressen hat, dann werden
erste Plakate mit der Losung „Das Ausland ist unser Unglück“ nicht auf sich warten lassen.
Die höhere Mehrwertsteuer wird die wirtschaftliche
Lage der großen Mehrheit der Bevölkerung weiter verschlechtern. Der Wachstumsverlust wird je nach Schätzung 0,7 bis 1,0 Prozent betragen. Dieser Wachstumsverlust als Folge der Mehrwertsteuererhöhung wird so
lange anhalten, wie aus Gründen der Konsolidierung des
Haushalts die projektierten Staatsausgaben langsamer
ansteigen als das geschätzte Wirtschaftswachstum. Bekanntlich sollen die Ausgaben des Bundes laut Finanzplanung bis 2010 im Durchschnitt nominal um rund
1,3 Prozent jährlich wachsen, das Bruttoinlandsprodukt
dagegen um durchschnittlich 2,5 Prozent. Für diesen
ganzen Zeitraum also entzieht die hohe Mehrwertsteuer
anhaltend dem privaten Sektor Kaufkraft, ohne dass der
Staat entsprechend mehr ausgeben würde.
Gibt es eine Alternative für die Konsolidierung?
Ohne Zweifel ja. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen, die hohen Vermögen und Erbschaften müssen
wieder stärker besteuert werden. Damit es sich einprägt:
Allein die Steuerbelastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen ist seit 1960 - Westdeutschland - von
20 Prozent auf jetzt - Gesamtdeutschland - 6 Prozent
gesunken.
({2})
Würde sich die Koalition entschließen können, diesen
Steuersatz auch nur etwas anzuheben, dann gäbe es genug Staatseinnahmen, um die Kreditaufnahme zu mindern.
({3})
- Darauf kommen wir gleich. - Im Jahr 2005 beträgt das
Unternehmens- und Vermögenseinkommen vor Steuern
555 Milliarden Euro, 2002 waren es 452 Milliarden
Euro; in kurzer Zeit eine Steigerung um 100 Milliarden
Euro. Jeder Prozentpunkt mehr Steuern auf dieses Einkommen bringt 5,5 Milliarden Euro. Das ist das Alphabet, nach dem soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit buchstabiert wird.
({4})
Glauben Sie denn wirklich, dass Unternehmen massenhaft aus Deutschland flüchten, wenn das Unternehmens- und Vermögenseinkommen um zusätzliche 4 Prozentpunkte - das wären 22 Milliarden Euro - besteuert
würde? Beachten Sie das Beispiel Schweden, das gerne
auch von Ihnen zitiert wird. Dort beträgt die Staatsquote
57,1 Prozent, in Deutschland dagegen sind es 45,7 Prozent. Die schwedische Wirtschaft wächst heuer um real
4 Prozent, die deutsche um 2,4 Prozent. Im Globalisie7278
rungsindex, den „Foreign Policy“ in seiner Dezemberausgabe erneut ausgewiesen hat, belegt Schweden den
Rang 19, Deutschland dagegen nur den Rang 41. Schweden ist also international viel mehr eingebunden als
Deutschland. Sein höheres Wachstum und seine niedrigere Arbeitslosigkeit stammen nicht von niedrigeren
Löhnen und Gewinnsteuern und nicht von einer geringeren Staatsquote. Wenn aber Schweden noch auf der
Landkarte ist und trotz seiner hohen Einbindung in die
Globalisierung ökonomisch die besseren Erfolge hat,
warum sollen wir in Deutschland nicht dasselbe wagen?
({5})
Wandern die Unternehmen einfach ab, wenn sie wieder höhere Steuern zahlen müssen? Finanzminister
Steinbrück behauptet das in einem „Spiegel“-Interview.
Ich will mich gerne auf Ihre Überlegungen einlassen.
Die höhere Mehrwertsteuer kostet ein Wachstum von
0,7 bis 1 Prozent. Welcher Wachstumsverlust wäre denn
tatsächlich durch Abwanderung von Unternehmen
eingetreten, wenn Ihr theoretischer Ansatz überhaupt
richtig wäre? Mehr oder weniger als bei einer höheren
Mehrwertsteuer? Haben Sie das je durchgerechnet, bevor Sie darangegangen sind, die Mehrwertsteuer zu erhöhen?
({6})
Selbst wenn der Verlust an Wachstum und Arbeitsplätzen genauso groß wäre - wenigstens wäre das verfügbare Realeinkommen der Lohnbezieher nicht um die Belastung durch die Mehrwertsteuer gesenkt worden.
Dies ist umso fataler, als beispielsweise die Einkommen der Arbeitnehmerhaushalte von 1991 bis 2005 real
um 10 Prozent gesunken sind. Müssen eigentlich immer
die Arbeitnehmer zahlen, wenn die Staatshaushalte konsolidiert werden?
({7})
Oder haben Sie sich schon einmal durch den Kopf gehen
lassen, dass das vielleicht auch die Aufgabe von
Gewinn- und Vermögenseinkommensbeziehern sein
müsste?
({8})
Es bleibt nur ein vernünftiger Weg: Die Mehrwertsteuererhöhung ist zurückzunehmen. In diesem Punkt
hat die FDP Recht. Allerdings darf der Arbeitsmarkt
nicht weiter dereguliert und der Unternehmeranteil an
der Finanzierung der sozialen Sicherheit nicht weiter abgesenkt werden. Dieser Vorschlag der FDP ist abzulehnen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ja, ich bin sofort so weit. - Stattdessen sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen wieder höher zu
besteuern, um den Staatshaushalt auszugleichen.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Obwohl Sie von der FDP die derzeitige Wirtschaftslage
in Ihrem Antrag so positiv geschildert haben, Herr Wissing, und mit Ihrem Eingeständnis natürlich auch die Politik unserer Koalition loben,
({0})
dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Herr Bernhardt hat das schon ausgeführt. Die Finanzpolitik in unserem Land steht immer noch vor den größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte.
({1})
Wir als Volksvertreter müssen angesichts des sich
vollziehenden demografischen Wandels die Leistungsfähigkeit des Staates und der Volkswirtschaft sichern.
Das ist unsere Pflicht. Immer mehr alte Menschen werden immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen.
Das bedeutet, dass wir gemeinsam - das ist eine viel
spannendere Aufgabe, als einen solchen Antrag zu
schreiben - entscheiden müssen, wie und in welchem
Umfang wir uns staatliche Tätigkeit in Zukunft noch
leisten können und wollen. Das ist eine ganz wichtige
Frage für unser Volk.
Das Ziel der damaligen rot-grünen Bundesregierung
wie auch der jetzigen großen Koalition ist es, auch für
die künftigen Generationen einigermaßen Wohlstand
und einen finanziell leistungsfähigen Staat zu sichern,
({2})
der auch ihren Kindern und ihren Enkeln gute Lebensgrundlagen bescheren wird.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Wissing? - Bitte.
Frau Kollegin Westrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass Sie das Ziel, das diese Regierung mit
der Mehrwertsteuererhöhung verfolgt hat, nämlich etwa
19,4 Milliarden Euro mehr einzunehmen, durch den
konjunkturellen Aufschwung bereits ohne Mehrwertsteuererhöhung erreicht haben und damit die Mehrwertsteuererhöhung nach Ihrer eigenen Logik überflüssig ist?
Sind Sie ebenfalls bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich in meinen Ausführungen vorhin gesagt habe, dass
die leichte konjunkturelle Belebung in Deutschland
Folge eines weltweiten konjunkturellen Aufschwungs
ist? Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
Deutschland von diesem weltweiten konjunkturellen
Aufschwung unterdurchschnittlich profitiert und es infolgedessen nicht logisch ist, die Belebung den Erfolgen
und der Arbeit der Bundesregierung zuzuschreiben?
({0})
Das ist ganz einfach: Unsere Reformen haben mit
dazu beigetragen, dass die Wirtschaft in Deutschland
zurzeit so floriert
({0})
und dass die Zuversicht überall wächst. Ich denke, dass
unsere Arbeit die richtigen Grundlagen dafür schaffen
wird, dass wir in Deutschland an der prosperierenden
Wirtschaft in Europa und der Welt teilhaben können. Jetzt habe ich Ihre letzte Frage vergessen; wahrscheinlich waren es zu viele.
({1})
- Herr Kollege, wenn Sie mir weiter zuhören, werden
Sie das, was Sie wissen wollen, noch erfahren. Sie müssen nur jeden Tag die Zeitung aufschlagen, um etwas
ganz anderes zu lesen als das, was Sie hier dargestellt
haben. Wahrscheinlich sind die Verfasser dieser Zeitungsartikel mindestens genauso schlau, wie die FDP
meint, beim Schreiben ihres Antrags gewesen zu sein.
({2})
Sie haben in Ihrem Antrag die Frage nicht beantwortet, wie Sie die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und
Enkel sichern wollen.
({3})
Um diese Lebensgrundlagen zu sichern, haben wir in
den letzten Jahren eine Reihe von Reformen eingeleitet
und durchgeführt, die jetzt ihre Wirkung zeigen. An
diese Reformen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, haben Sie sich in Ihrer langen Regierungszeit nicht
ansatzweise herangetraut. Das muss man einmal ganz
deutlich sagen.
({4})
Das Ergebnis unserer Reformen ist: Die Bundesagentur für Arbeit zahlt Geld zurück, anstatt abzukassieren.
Die Kommunen können wieder durchatmen. Für uns Sozialdemokraten - für die FDP vielleicht weniger - ist
ganz wichtig, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt. Die Steuerquote wird selbst mit der Mehrwertsteuererhöhung unter dem Durchschnitt der europäischen Staaten liegen.
Das Wirtschaftswachstum ist robust. Wir werden die
Maastrichtkriterien einhalten. Das haben Sie nicht geschafft.
Herr Kollege Wissing, auch Sie sind schon länger
Mitglied des Finanzausschusses. Ich weiß nicht mehr genau, wie oft wir im Finanzausschuss über die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert
haben. Es ist die vornehme Aufgabe der Opposition, den
Finger in die Wunde zu legen, wenn sie der Meinung ist,
es laufe irgendetwas falsch. Aber angesichts der vielen
Diskussionen, die wir geführt haben, könnte man von Ihnen ein bisschen mehr Stringenz mit Blick auf die zukünftige Politik erwarten.
({5})
Entweder ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt ein
wichtiges Instrument für die kontinuierliche Weiterentwicklung unseres Landes, für eine harte Währung und
für eine prosperierende Wirtschaft - dann müssen wir alles dafür tun, die Einhaltung der in ihm festgelegten Bedingungen nachhaltig zu sichern, wie wir das jetzt mit
der Erhöhung der Mehrwertsteuer tun - oder wir hängen
wie Sie in Ihrem Antrag unser Fähnchen nach dem
Wind, egal von welcher Seite er auch weht.
({6})
Was ich von dem Verantwortungsbewusstsein solcher
Politiker halte, brauche ich wirklich nicht auszuführen.
Ihr Antrag ist - das hat Herr Bernhardt schon gesagt vollkommen unnötig; er geht von falschen Prämissen
aus. Hätten Sie schon im Mai die Prognosen des Ifo-Instituts und die Aussagen der EU-Kommission aufmerksam gelesen, dann hätten Sie sich nicht eine solche
Mühe mit diesem Antrag machen müssen. Denn die EUKommission hat schon im Mai gesagt, dass diese Steuererhöhung dazu beitragen wird, dass Deutschland den
Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten kann, ohne die
Konjunktur abzuwürgen.
Der Generaldirektor für Wirtschaft und Währung,
Klaus Regling, hat das damit begründet, dass die Haushaltskonsolidierung - entgegen Ihren Aussagen - ausschließlich auf sinkende Staatsausgaben zurückginge,
während die Staatseinnahmen - die Mehrwertsteuererhöhung schon eingerechnet - praktisch konstant blieben.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ulrich zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Liebe Kollegin Westrich, entweder ich oder Sie sind
im falschen Film. Denn Sie sagen heute das Gegenteil
von dem, was Sie noch vor 14 Monaten gesagt haben.
({0})
Ich möchte Sie daher fragen: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie noch im Wahlkampf gegen die MerkelSteuer zu Felde gezogen sind? Nehmen Sie zur Kenntnis,
dass Sie persönlich damals genau die Gründe angeführt
haben, die heute die Opposition anbringt? Nehmen Sie
zur Kenntnis, dass wir zwar Exportweltmeister sind, dass
aber unsere Wirtschaft aufgrund der schwachen Binnennachfrage Probleme hat? Glauben Sie nicht auch, dass
die Mehrwertsteuererhöhung kontraproduktiv ist?
Glauben Sie nicht auch, dass Sie ein bisschen Wahlbetrug machen, wenn Sie jetzt sagen, dass die Mehrwertsteuererhöhung richtig ist?
({1})
Herr Kollege Ulrich, obwohl wir benachbarte Wahlkreise haben, haben wir keinen gemeinsamen Wahlkampf gemacht. Für keinen von uns ist also erkennbar,
was der jeweils andere im Wahlkampf gemacht hat.
Ich gebe zu, dass ich mich im Wahlkampf gegen die
Erhöhung der Mehrwertsteuer eingesetzt habe. Ich
bin aber der Meinung, dass die Stabilität unserer Finanzen Vorrang haben muss und dass die Mehrwertsteuererhöhung keineswegs bedeutet, dass es eine Delle bei der
Konjunktur geben wird. Vielmehr besagen alle Prognosen, dass unsere Konjunktur auch im nächsten Jahr gut
laufen wird und dass es eine Steigerung bei den Löhnen
gibt. Damit wird die Mehrwertsteuererhöhung, zumal
der ermäßigte Steuersatz auf Lebensmittel erhalten
bleibt, erträglich sein.
({0})
- Ja, dies gilt auch für Rentner und Familien.
Wichtig ist - das muss auch die Linke lernen -, dass
man irgendwann einmal damit beginnt, Schulden, die
man in Zeiten aufgehäuft hat, in denen dies notwendig
war, zurückzuzahlen. Die EU-Kommission hat ausgerechnet, dass wir die Staatsausgaben zurückgeführt haben und dass die Staatseinnahmen im europäischen Vergleich auf einem niedrigen Niveau bleiben werden. Die
Steuer- und Abgabenquote sei in den letzten fünf Jahren,
das heißt während der rot-grünen Regierung und der großen Koalition, bezogen auf das BIP, um 3,5 Prozent gesunken und werde 2007 trotz Mehrwertsteuererhöhung
nicht höher sein, während die Ausgabenquote weiterhin
sinken werde. Vor diesem Hintergrund - so sagt die EUKommission - sei die Mehrwertsteuererhöhung ökonomisch vertretbar.
({1})
Außerdem führt sie - das ist eine alte Forderung von Ihnen - zu einer Verlagerung von direkten zu indirekten
Steuern und zu einer Senkung der Lohnnebenkosten.
Das, was die EU-Kommission als Tatsache beschrieben hat, nämlich die Senkung der Staatsausgaben durch
den Abbau von Subventionen und durch hohe Sparsamkeit sowie die Senkung der Lohnnebenkosten zur Entlastung der Arbeitsplätze, waren immer auch Ihre Forderungen. Das alles haben wir während der rot-grünen
Regierungszeit und in der großen Koalition geleistet, allerdings ohne Ihre Mithilfe, da Sie sich jeder - wirklich
jeder - schwierigen Reform verweigert haben. Sie kommen mir so vor, als hinkten Sie der Zeit hinterher. Sie
fordern Reformen, die teilweise schon erledigt sind oder
gegen die Sie - das ist schon jetzt absehbar - kämpfen
werden, statt sie mitzutragen. Was sollen wir uns aber
darüber aufregen, da Sie sowieso nicht unser Partner
sein werden!
Ich will, dass dieser Staat handlungsfähig bleibt, damit wir die zukünftigen Risiken auffangen können.
Wenn wir jetzt auch mit der Mehrwertsteuererhöhung
dafür sorgen, dass der Schuldenberg, den Sie während
Ihrer Regierungszeit mit angehäuft haben, endlich Stück
für Stück abgebaut wird, dann gewinnen wir Vertrauen
zurück. Wir bieten dem Staat eine gute Basis für die Zukunft.
({2})
Die Bürger wollen einen starken Staat, der jetzt und in
Zukunft den Anspruch hat, gleichmäßige Lebensbedingungen für seine Einwohner zu schaffen und zu sichern.
Das ist eine Aufgabe, der sich die große Koalition voll
stellt. Ihr Vertrauen, dass das der freie Markt allein durch
noch tiefer greifende Deregulierung besser schafft, wird
von den Bürgern kaum geteilt, zumal unsere Manager
zurzeit nicht gerade durch ihre Vorbildfunktion glänzen.
({3})
Wir, die große Koalition, haben gerade heute wieder
eine der für die Zukunft notwendigen Reformen auf den
Weg gebracht. Auch die Unternehmensteuerreform ist
auf einem sehr guten Weg. Das heißt, Sie fordern und
wir tun es bzw. haben es schon lange getan. Sie machen
es sich sehr leicht und betrachten bei Ihrer jetzigen Art,
Politik zu machen, nur den Tag.
({4})
Das gilt auch für die Linke.
Die große Koalition kann die 1 500 Milliarden Euro
Schulden nicht verdrängen, an deren Anhäufung Sie in
außerordentlichem Maße mitgewirkt haben. Den Glauben, dass sich Schulden in Luft auflösen, teilen wohl nur
weltfremde Illusionisten. Das sind Sie, denke ich, nicht.
Ich frage Sie, wann Sie den Zeitpunkt für gekommen
halten, die Konsolidierung der Staatsfinanzen endlich
in Angriff zu nehmen.
({5})
In einem ungebrochenen Aufwärtstrend, in einer robusten Konjunkturlage oder dann, wenn die nächsten Risiken auf uns zu kommen und wir Schuldenaufbau statt
Schuldenabbau betreiben müssen? Sie müssten doch
wissen, wie es Ihnen ergangen ist.
Daraus schließe ich - ich wiederhole es -, dass Ihr Interesse an den Zukunftschancen unserer Kinder traurig
unterentwickelt ist.
({6})
Ich weiß, dass Sie eigene Sparvorschläge unterbreitet
haben.
({7})
Die Vorschläge der Damen und Herren von der Linken
hinsichtlich anderer Steuererhöhungen haben wir jetzt
wieder gehört. Sie machen sich erfolglose Illusionen,
was Sie damit alles finanzieren können. Sie müssten
vielleicht einfach einmal mit Ihrem Finanzbeamten darüber sprechen, wie das im Endeffekt ausgeht.
Aber wenn Sie von der FDP glauben, dass der sofortige Wegfall der Steinkohlesubvention die Zukunft der
Kinder in den betroffenen Regionen nachhaltig verbessern wird,
({8})
dann sind Sie wirklich auf dem Holzweg. Dazu kommt
noch: Ein verschuldeter Staat - weil Sie es uns nicht erlauben, Schulden abzubauen - kann bei der Umstrukturierung nicht helfen. Die Forderung nach Wegfall der
Steinkohlesubvention ist einfach ein Mantra, das Sie
ständig vortragen, das Sie aber meiner Ansicht nach eigentlich kaum ernsthaft meinen.
({9})
Ich verstehe nicht, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten
können, dass Sie mit dem Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung zu einer Lösung der Lohnkostenproblematik beitragen können. Arbeit gibt es in Deutschland ja
sicher genug. Die Menschen wollen aber, unbescheiden
wie sie sind, von ihrer Arbeit leben können.
({10})
Frau Westrich, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja. - Lohnkosten sind die Summe aller Löhne, die Arbeitgeber an Arbeitnehmer zahlen. Was bedeutet das
Wort „Problematik“ im Zusammenhang mit Lohnkosten? Die Löhne haben sich die Arbeitnehmer doch verdient. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie meinen,
dass dann, wenn wir die Mehrwertsteuererhöhung zurücknehmen, im Gegenzug die Löhne gekürzt werden
könnten. Oder haben Sie Angst, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.
- auch einen Anteil an der guten Konjunkturentwicklung haben wollen? Ich finde, Ihr Antrag ist total veraltet
und ist sehr merkwürdig. Das müssten Sie jeden Tag sehen, wenn Sie die Zeitungen aufschlagen und die sich
überschlagenden Prognosen lesen.
({0})
Ziehen Sie diesen Antrag lieber zurück,
Frau Westrich!
-, damit Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in den
Augen der Öffentlichkeit nicht weiter leidet.
({0})
Jetzt hat das Wort Christine Scheel für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Wissing, ich kann es Ihnen nicht ersparen:
Wenn Sie ehrlich und nicht so scheinheilig wären, wie
das in Ihrem Redebeitrag wieder zum Ausdruck kam,
müssten Sie zugeben, dass die Länder - darauf hat Herr
Bernhardt zu Recht hingewiesen - von dieser Mehrwertsteuererhöhung mit 7 Milliarden Euro profitieren, dass
die Regierungen, an denen die FDP beteiligt ist, bereits
im Frühjahr dieses Jahres die Einnahmen aus dieser
Mehrwertsteuererhöhung in ihren Haushaltsberatungen
berücksichtigt und im Bundesrat zugestimmt haben.
({0})
Sie können diese Forderung nach Verzicht auf die
Mehrwertsteuererhöhung von Ihrer Homepage nehmen.
Denn das Jahr ist ja fast vorbei.
Wenn man das realistisch betrachtet, glaube ich, dass
die Bürgerinnen und Bürger weder daran glauben noch
es erwarten, dass die große Koalition diese Mehrwertsteuererhöhung zurücknimmt oder kurzfristig aufgibt.
Die Bürger verhalten sich in dieser Beziehung sehr realistisch. Sie ziehen Anschaffungen teilweise einfach
vor; wir sehen, dass das Weihnachtsgeschäft brummt.
Die Konjunktur läuft. Es ist richtig, dass man im
Frühjahr mit Blick auf diese Mehrwertsteuererhöhung
größere Befürchtungen vonseiten der Wirtschaftsverbände und der Institute gehabt hat, dass man aber jetzt
sagt, dass die Mehrwertsteuererhöhung keinen erheblichen Konjunktureinbruch bewirken wird. Es werde
zwar eine Delle geben; danach setze aber eine Verstetigung ein.
Dennoch ist es natürlich so - da gebe ich Ihnen wieder Recht -, dass die Mehrwertsteuererhöhung für die
Bezieher kleinerer Einkommen und viele Konsumenten
ein Problem darstellt. Denn die Leute haben ja ab dem
nächsten Jahr nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung mit
3 Prozentpunkten zu tragen; vielmehr steigt auch die
Versicherungsteuer - sie ist damit gekoppelt - um
3 Prozentpunkte. Dazu kommt, dass bis zum
20. Kilometer die Pendlerpauschale entfällt, der Sparerfreibetrag halbiert wird und das Benzin wohl teurer wird,
weil der durch die Mehrwertsteuererhöhung und andere
steuerliche Veränderungen erhöhte Mineralölsteueranteil
zu einer Anhebung von ungefähr 5 Cent führt. Dies wird
das Problem des Tanktourismus, das wir beispielsweise
in Bayern sehr stark haben, verschärfen. Diese Probleme
darf man nicht unter den Tisch kehren; vielmehr muss
man sie benennen.
({1})
Es ist schade - das muss ich wirklich sagen -, dass
die große Koalition, wenn sie schon eine Mehrwertsteuererhöhung macht, die Chance nicht genutzt hat, die
Sozialversicherungsbeiträge nachhaltig unter 40 Prozent zu senken.
({2})
Wir haben Vorschläge dazu unterbreitet. Es ist schade,
dass Sie das nicht gemacht haben; denn das hätte die Beschäftigungschancen arbeitsloser Menschen in diesem
Land um einiges verbessert. Wir hätten es richtig gefunden, wenn man strukturell zielgenauer vorgegangen
wäre.
Die Kollegin Thea Dückert hat in diesem Zusammenhang das so genannte Progressivmodell entwickelt. Man
hätte dieses Modell mit der Erhöhung finanzieren können. Gerade für Menschen mit einem Einkommen bis
2 000 Euro hätte man die Sozialversicherungsbeiträge
auf hervorragende Art und Weise senken und damit
gleichzeitig für die Arbeitgeber Anreize setzen können,
insbesondere im unteren Lohnbereich mehr Menschen
einzustellen.
({3})
Das wäre der richtige Weg gewesen. Sie sind ihn leider
nicht gegangen. Vielleicht kommt in diesem Jahr ja noch
etwas Positives, was in diese Richtung zielt.
Die Konjunktur brummt
({4})
- ich sage das bewusst an dieser Stelle -, weil in den vergangenen Jahren, noch unter Mitwirkung der Grünen,
Reformen gemacht worden sind, die jetzt zum Tragen
kommen. Sie tragen dazu bei, dass unsere konjunkturelle
Entwicklung besser ist. Die Konjunktur brummt, weil
sich die Lohnstückkosten im Vergleich zum Ausland
günstig entwickelt haben. Die Terms of Trade haben sich
letztendlich zugunsten von Deutschland entwickelt.
Vielleicht hat die PDS die aktuellen Berichte noch nicht
gesehen. Bei der Argumentation der PDS bekommt man
manchmal das Gefühl, sie hätte noch immer die Berichte
von vor zehn Jahren im Kopf.
({5})
Wir sehen die Notwendigkeit für weitere Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen. Wir haben jetzt zwar einen Konjunkturaufschwung. Wenn man
vonseiten des Staates jetzt aber nicht vernünftige Rahmenbedingungen setzt, besteht die Gefahr, dass es sehr
leicht wieder zu einem Abschwung kommt. In diesem
Zusammenhang sehen wir deswegen die Notwendigkeit,
vernünftige Reformen durchzuführen.
({6})
Diese Reform ist aber nicht vernünftig. Sie ist ein
Torso und wird Chaos verursachen. Die Pflegeversicherungsreform ist nicht in Sicht und die Arbeitsmarktreform ist strittig. Die Umstellung auf eine stärkere Steuerfinanzierung ist in den Bereichen, wo sie dringend
notwendig wäre, in weiter Ferne.
Frau Kollegin Scheel, der Kollege Schui würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Bitte.
Sind Sie bereit, die folgende, sehr aktuelle Information zur Kenntnis zu nehmen: Um die drohende Inflationsgefahr zu bändigen, steigert die US-Zentralbank
den Zins. Der Zweck ist, das Wachstum etwas zu drosseln, damit man den Inflationsgefahren entgeht. Das
wird zur Folge haben, dass das Volumen der deutschen
Exporte absinkt, weil die Konjunkturlokomotive USA
ebenfalls ihre Fahrt verlangsamen wird. Sind Sie bereit,
das zu würdigen und daraus den Schluss zu ziehen, dass
uns eine Verbesserung der Terms of Trade zugunsten von
Deutschland nicht weiterhelfen wird, wenn das Wachstum unserer Handelspartner nachlässt?
Ich bin bereit, das zu würdigen. Sie haben mich nach
der Weltmarktsituation gefragt und Vergleiche mit dem
Dollar angestellt. Dazu will ich sagen: Die Bedeutung
des Dollars für unseren Wirtschaftsraum ist bei weitem
nicht mehr so groß, wie es beispielsweise vor zehn oder
20 Jahren der Fall war, weil sich unsere Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern verändert haben. Die damit verbundenen Risiken wirken sich auf uns, was den
Handel anbelangt, bei weitem nicht mehr so stark aus,
wie es vor vielen Jahren der Fall war.
Da Sie so schön stehen, gebe ich Ihnen noch eine andere Antwort. Sie haben vorhin die konjunkturelle Situation in Schweden angesprochen.
({0})
Dazu möchte ich Ihnen klar sagen: In Schweden finanzieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das
hohe Steueraufkommen. Die Kapitaleinkünfte werden
aufgrund der Tatsache, dass Kapital sehr flüchtig ist, was
die Schweden zu Recht erkannt haben, mit einer sehr geringen Abgeltungsteuer bedacht.
Ich finde, man kann nicht immer bei bestimmten Ländern das herausziehen, was einem gefällt, und alles andere, was dort vonstatten geht, nicht zur Kenntnis nehmen.
({1})
Sie müssen, wenn Sie schon einen Vergleich mit dem
skandinavischen Raum anstellen, auch die andere Seite
der Medaille sehen und nicht immer nur das, was Ihnen
passt.
({2})
- Ja, das kann ich mir vorstellen.
({3})
Ich wollte noch einmal kurz auf das Stimmenchaos in
der großen Koalition eingehen. Wir sehen: Wenn es um
Steuererhöhungen geht, ist sich die große Koalition sehr
schnell einig. Wenn es darum geht, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, kommen Sie nur millimeterweise
voran, wenn Sie nicht sogar ein Stück zurückfallen.
Wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung ansieht, erkennt man, dass sie nicht wegen, sondern trotz
der großen Koalition so gut ist.
({4})
Das muss man in diesem Kontext deutlich sagen. Trotz
Ihrer verkorksten Politik haben Sie der Wirtschaft zum
Glück nicht geschadet. Diese Perspektive sollte man zur
Kenntnis nehmen.
Ich finde, dass die Diskussion, die über die Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen
am Produktivkapital geführt wird, bei den Tarifparteien anzusiedeln ist.
({5})
Politik kann Rahmenbedingungen setzen. Sie kann auch
vieles andere tun. Aber generell ist es so, dass Sie sich
Themen zu Eigen machen, die Sie gar nicht unbedingt
auf der politischen Ebene zu lösen haben, sondern die an
anderer Stelle gelöst werden müssen. Über sie wird an
anderer Stelle diskutiert und dort werden sie angegangen.
Letztendlich kann man sagen, dass wir Grüne sehr
gute Vorschläge gemacht haben zur Haushaltskonsolidierung, zum Abbau der Neuverschuldung und zu Einsparungen im Haushalt. Hier sitzt Frau Hajduk, die die
große Koalition mit 350 Anträgen im Haushaltsausschuss malträtiert - das ist positiv gemeint - und Vorschläge gemacht hat. Wir haben zu den sozialen Sicherungssystemen Vorschläge gemacht.
({6})
Wir hätten auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten
können. Aber wenn man sie schon macht, dann sollte
man die Mittel sinnvoll verwenden und nicht so, dass sie
versacken.
({7})
Wir befürchten, dass das der Fall sein wird.
Danke schön.
({8})
Georg Fahrenschon hat als nächster das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lieber Kollege Wissing, Sie erleben
gerade das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man
in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten noch
schnell einen Schaufensterantrag stellt. Im Ergebnis
springt Ihnen nur noch Die Linke bei, allerdings garniert
mit der für Sie mit Sicherheit zielführenden Forderung
zur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung der Vermögensteuer. Ich gratuliere Ihnen zu diesem
strategischen Zug.
({0})
Man kann sich die Mühe machen, nach besonderen
Kronzeugen zu suchen. Ich habe einen gefunden. Ich bin
stolz darauf, das Konzept eines ehemaligen Mitbürgers
meines Wahlkreises, des Landkreises München, anzuführen; er ist aktiver Politiker. Er schreibt, dass sich die
Haushalte von Bund und Ländern in einem desolaten
Zustand befinden:
Die Haushalte sind zu konsolidieren und die Schuldenberge abzubauen.
Er schreibt weiter:
Um diese Ziele zu erreichen, kann unter folgenden
restriktiven Bedingungen eine Mehrwertsteuererhöhung herangezogen werden: …
Ich fasse die Bedingungen wie folgt zusammen: Erstens muss es eine Unternehmensteuerreform geben.
Zweitens muss es Subventionskürzungen und Sparmaßnahmen geben. Drittens müssen Steuerbegünstigungen
reduziert werden.
All diese Punkte hat die große Koalition abgearbeitet. Die Eckpunkte einer Unternehmensteuerreform, die
auf die Bedürfnisse eines internationalen Wettbewerbs
der Steuersysteme eingehen, liegen vor und werden bis
Mitte 2007 in ein Gesetz gegossen.
({1})
Wir haben konsequent den Abbau von Subventionen
und Steuervergünstigungen betrieben, sowohl im Bundeshaushalt 2006 als auch im Bundeshaushalt 2007. Bereits zum 1. Januar 2006 trat das Gesetz zur Abschaffung
der Eigenheimzulage in Kraft. Ebenfalls zum 1. Januar
2006 trat darüber hinaus das Gesetz zur Beschränkung
der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen in Kraft.
Außerdem trat zum 1. Januar 2006 das Gesetz zum
Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm in Kraft,
mit dem eine ganze Reihe weiterer Ausnahmetatbestände abgeschafft wurde. Dies umfasst die Beseitigung
der Möglichkeit, Mietwohnungen degressiv abzuschreiben für Neufälle, die Streichung der Steuerfreiheit für
Heirats- und Geburtshilfen, die Abschaffung der begrenzten Steuerbefreiung für Abfindungen sowie für Übergangsgelder und Übergangsbeihilfen und die Abschaffung
des Sonderausgabenabzugs von Steuerberatungskosten.
Im Übrigen wird ebenfalls mit Wirkung für das Jahr 2006
im Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen darauf abgezielt, dass Gestaltungsmissbrauch
und der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzeslücken im Steuerrecht entgegengewirkt wird.
Schlussendlich wurden im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 2007 eine Reihe von Abzugspositionen
und weiterer Sonderregelungen mit Wirkung ab dem
1. Januar 2007 eingeschränkt.
({2})
Dabei handelt es sich um eine ganze Reihe von Maßnahmen, durch die wir direkte Steuersubventionen und anderweitige steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten abgeschafft haben.
Letztlich kommen wir, um die öffentlichen Haushalte
zu sanieren und den Schuldenberg abzubauen, allerdings
nicht an einer Mehrwertsteuererhöhung vorbei, die wir
jedoch mit einer gleichzeitigen Senkung des Beitrags zur
Arbeitslosenversicherung um mehr als 2 Prozentpunkte
verbinden. All das ist also ganz im Sinne des soeben von
mir zitierten, in Grünwald, also im Landkreis München,
geborenen Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses,
Dr. Martin Lindner, seines Zeichens Vorsitzender der
FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus.
({3})
Der Kollege Lindner hat in seinem Papier mit dem Titel „Steuerpolitische Vorschläge der FDP-Fraktion im
Abgeordnetenhaus“ vom 16. Juni 2005, wahrscheinlich
vor allem in Kenntnis der dramatischen Lage des Berliner Haushalts, das Problem wie folgt auf den Punkt gebracht:
Um langfristig die Staatsfinanzen nachhaltig zu
konsolidieren, kommen wir trotz aller Sparanstrengungen und Subventionskürzungen
({4})
nicht um eine Mehrwertsteuererhöhung herum.
Diese Tatsache scheint Ihnen, meine Damen und Herren
der FDP-Bundestagsfraktion, allerdings nicht bewusst
zu sein. Daran, dass nur noch drei aufrechte Liberale anwesend sind,
({5})
wird deutlich, wie intensiv Sie diesen Antrag in Wahrheit verfolgen.
({6})
Sie bleiben unter Ihren Möglichkeiten, wenn Sie eine
Diskussion, die wir erst in der letzten Sitzungswoche im
Rahmen der Beratungen des Haushalts 2007 sehr ausführlich geführt haben, jetzt aufwärmen. Gulasch wird
beim Aufwärmen besser, eine Debatte, die wir bereits
sehr intensiv durchgekaut haben, aber mit Sicherheit
nicht.
({7})
Übrigens geben mittlerweile, nach angemessener Verdauungszeit, auch die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute zuversichtlichere Prognosen ab.
Heute Vormittag um 10 Uhr - diese Meldung ist also
sehr aktuell - hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft
seine Wachstumsprognose für das kommende Jahr um
mehr als das Doppelte nach oben korrigiert: Statt
1 Prozent Wachstum erwartet das IfW für das Jahr 2007
einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,1 Prozent. Zugegebenermaßen ist die Kieler Prognose damit
am optimistischsten. Andere Institute sind zurückhaltender. Allerdings sagt uns der Sachverständigenrat bzw. sagen uns die fünf Wirtschaftsweisen ein Wachstum in
Höhe von 1,8 Prozent voraus
({8})
und das Ifo-Institut prognostiziert - übrigens auch am
heutigen Tag - immerhin ein Wachstum von 1,9 Prozent.
Im Übrigen sind sich alle Konjunkturexperten in einem
Punkt einig: Der Wirtschaftsaufschwung ist robust und
beständig und er wird im kommenden Jahr trotz der
Mehrwertsteuererhöhung nicht zum Stillstand kommen.
({9})
Das können Sie nicht vom Tisch wischen.
({10})
Ihr Antrag ist daher nicht nur fantasielos, sondern er geht
schlicht und einfach an der Realität vorbei.
Im Interesse der Sache sollte man sich aber auch damit auseinander setzen, was die Damen und Herren von
der FDP-Fraktion unternehmen würden,
({11})
wenn sie selbst Verantwortung hätten. Dazu sagen Sie
zweierlei: Erstens würden Sie ein neues Steuersystem
auf den Weg bringen, das sich durch niedrige Steuersätze
auszeichnet und einfach und gerecht ist.
({12})
Zweitens sagen Sie, Sie würden sparen.
({13})
Niedrige Steuersätze schlagen Sie zwar vor,
({14})
zur Gegenfinanzierung äußern Sie sich aber nicht. Auf
den ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag, das Steuersystem zu vereinfachen, spannend. Das ist bei unserem
Steuersystem allerdings keine große Schwierigkeit. Ihr
Steuerkonzept ist schlicht und einfach weder gerechter
noch realistischer.
({15})
Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern bitte einmal, wie, wenn man Ihr Steuerkonzept umsetzen würde,
die Entlastung in Höhe von 15 bis 19 Milliarden Euro
gegenfinanziert werden soll. Ich kann nur festhalten: Im
Rahmen des „Liberalen Sparbuchs“, das Sie heute schon
gar nicht mehr dabei haben, haben Sie Einspar- und Umschichtungsvorschläge von rund 8,3 Milliarden Euro gemacht. Das bedeutet, dass Sie die Hälfte der Gegenfinanzierung nicht aufbringen. Daher besteht nicht die
Möglichkeit, Ihre Steuerpolitik umzusetzen.
Abschließend möchte ich gerne noch einmal den Kollegen Lindner aus dem Berliner Abgeordnetenhaus zitieren.
({16})
Er sagte:
Wenn es nach den drei Bedingungen
- Sie erinnern sich: Unternehmensteuerreform, Subventionskürzungen und Abbau von Steuervergünstigungen höheren Finanzbedarf wegen der enormen Haushaltsnotlage bei Bund und Ländern sowie des notwendigen Umbaus der sozialen Sicherungssysteme
gibt, brauchen wir eine höhere Mehrwertsteuer.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({17})
Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der
Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn: Herr Dr. Wissing, seien Sie so nett
und richten dem Herrn Kollegen Niebel aus, der diese
Debatte wohl auch nicht für so interessant hält, dass seit
dem Ende Ihrer Rede mit Frau Barbara Hendricks eine
Staatssekretärin aus dem Finanzministerium selbstverständlich anwesend ist.
({0})
- Er war bei der Rede von Herrn Dr. Wissing anwesend,
aber dann nicht mehr. Ich wollte Sie nur bitten, das auszurichten.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wissing zulassen?
Von Herrn Dr. Wissing immer gerne. Sagt er mir jetzt,
wo sich der Herr Kollege Niebel aufhält? Das möchte
ich gar nicht wissen.
Frau Kollegin, Sie haben gerade betont, dass die
Staatssekretärin des Finanzministeriums seit dem Ende
der Eröffnungsrede der Opposition an der Debatte teilnimmt. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es, gerade
in Zeiten einer großen Koalition, sinnvoll wäre, dass
schon zu Beginn der Debatte Regierungsvertreter da
sind, um die Meinung der Opposition zur Kenntnis zu
nehmen?
({0})
Herr Dr. Wissing, ich denke, dass sich die Frau
Staatssekretärin sicherlich in voller Absicht, dieser Debatte beizuwohnen, aus dem Finanzministerium hierher
begeben hat, völlig unerheblich, ob hier Sie sprechen
oder ob hier die Kollegin Scheel von den Grünen oder
der Herr Kollege Schui von der Linken spricht. Da gibt
es keine Wertung, Herr Dr. Wissing. Frau Dr. Hendricks
ist da und das sollten Sie bitte Herrn Niebel ausrichten.
({0})
Zu Ihrem Antrag fällt mir ein Zitat von Wilhelm
Busch ein:
Wofür sie besonders schwärmt,
Wenn er wieder aufgewärmt.
Die Witwe Bolte meinte damit den Sauerkohl - was ich
nachvollziehen kann -, Sie meinen damit die Mehrwertsteuererhöhung. In so ziemlich jeder Debatte, die hier
geführt wird, bringen Sie dieses Thema unter, heute sogar mit einem eigenen Antrag. Das erinnert mich auch
ein bisschen an Cato den Älteren, der jede Rede im Senat beendete mit: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass
Karthago zerstört werden muss. - So ungefähr machen
Sie das mit der Mehrwertsteuererhöhung. Hier befinden
Sie sich in guter Gesellschaft mit Ihren - und unseren Kollegen von der Linken, über deren Antrag wir vor kurzem in diesem Haus beraten haben. Unabhängig davon,
wer von wem abschreibt, bleibt es purer Populismus.
({1})
- Sie werden es gleich hören, Herr Dr. Wissing. Ein bisschen Geduld oder eine Zwischenfrage, so viel Fairness
muss sein: wegen meiner Redezeit.
Ich nehme das Thema sehr ernst. Ich weiß, dass die
Menschen unsicher sind, dass überall Kassandras und
Unken alles tun, damit diese Verunsicherung bleibt.
({2})
Es stimmt - darüber können, dürfen und sollen wir uns
freuen -: Die Konjunktur brummt, Deutschland gilt wieder als Wachstumsmotor, und die Steuereinnahmen sprudeln. Aber reicht das? Während die einen glauben, auf
die Mehrwertsteuererhöhung verzichten zu können, und
der Vermögensteuer neues Leben einhauchen wollen,
versuchen es die anderen auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({3})
Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ist ein unrealistischer Wunsch; das wissen Sie selber. Sie können
das zwei, drei Mal fordern und bekommen vielleicht
auch Applaus dafür. Doch Sie werden sich beim dritten
Mal eingestehen müssen, dass es wieder gescheitert ist.
Dann mag auch der Letzte merken, dass es sich bei diesem durchsichtigen Manöver um Populismus handelt.
Die FDP fordert in ihrem Antrag, stattdessen den Arbeitsmarkt zu deregulieren und beschäftigungsfeindliche
Regelungen abzubauen. Das hört sich gar nicht so wild
an, so verklausuliert, wie das geschrieben ist. Aber man
muss dahintersehen: Sie wollen einen Abbau des Kündigungsschutzes, eine Einschränkung der Tarifautonomie,
die Versteuerung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen und eine Aufkündigung der Flächentarifverträge. Herr Westerwelle bezeichnet ja gerne die Gewerkschafter als die wahre Plage Deutschlands. Das heißt, Sie
wollen im Sog Ihres Antrags Ihr eigentliches Anliegen
umsetzen, nämlich die Rechte der Arbeitnehmer zu
schleifen. Sie haben dazu kein Wort gesagt. Ich verschweige diese beiden Punkte in Ihrem Antrag nicht. Ihr
dritter Punkt bedeutet, dass Sie die Sozialsysteme nach
Ihrem Gusto reformieren wollen. Was das heißt, kann
man in Ihrem Wahlprogramm nachlesen. Dort steht: Wir
wollen, dass jeder sich gegen sein eigenes Risiko der Arbeitslosigkeit versichert und entsprechend passgenaue
Beiträge zahlt. Dazu gehört auch die eigenverantwortliche Einschätzung, ob man eine Zeit lang mit einer beitragsmindernden - ich wiederhole: beitragsmindernden Karenzzeit ohne Leistung auskommen kann.
Das bedeutet doch wohl: Wer genug Geld auf der hohen Kante hat, muss weniger Beitrag bezahlen, wer sich
dagegen eine Zeit ohne Einkommen nicht leisten kann,
also zum Beispiel ein allein verdienender Facharbeiter
mit Kindern, muss höhere Beiträge bezahlen.
({4})
Also: Diejenigen mit weniger Geld müssen mehr bezahlen, damit diejenigen mit mehr Geld weniger bezahlen
müssen. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um
das richtig auszusprechen. Wenn man darüber nachdenkt, wird es ganz absurd.
({5})
Bei Ihnen heißt Reform: Wenn jeder an sich denkt, ist an
alle gedacht. Das lassen wir so nicht stehen.
Im Haushalt des Landes NRW, dem ja immerhin rund
20 Prozent von einem Mehrwertsteuerpunkt zustehen,
wurde die Einnahme wie selbstverständlich verfrühstückt. Falls es jemand verdrängt haben sollte: Dort ist
die FDP mit am Ruder. Trotz der Mehreinnahmen wurden Zuschüsse in fast allen sozialen Bereichen extrem
gekürzt oder gänzlich gestrichen. Allein in meiner Gemeinde waren dies rund 50 000 Euro bei der Kindergartenfinanzierung.
({6})
Ich muss schon sagen, das ist die komfortabelste Situation überhaupt: Aus Populismus im Bundesrat dagegen
sein, das Geld natürlich einsacken und am Ende auch
noch die Kommunen und die Eltern schröpfen. Dieses
Verhalten ist nicht schlüssig.
({7})
Dr. Hermann Otto Solms hat in seiner Haushaltsrede
gesagt:
Denn die Steuereinnahmen, die aufgrund der konjunkturellen Entwicklungen in diesem Jahr stärker
sprudeln, kompensieren das erwartete Mehraufkommen bereits.
Bei aller Wertschätzung für den Herrn Kollegen
Dr. Solms: Das nenne ich Politik von der Hand in den
Mund. Wir haben ein strukturelles Defizit von rund
40 Milliarden Euro und Sie meinen, wir könnten das mit
8 Milliarden Euro durch sprudelnde Mehreinnahmen ändern? Was ist das für eine schwache Rechnung?
Die Mehreinnahmen aus der Erhöhung gehen zu gleichen Teilen an den Bund, an die Länder und an die ArGabriele Frechen
beitslosenversicherung, deren Beitrag 2007 insgesamt
um 2,3 Prozentpunkte gesenkt wird. Die Belastung
durch die Mehrwertsteuererhöhung liegt bei rund
0,8 Prozent. Somit wird trotz einer Erhöhung der anderen Beiträge eine weitgehende Entlastung der Arbeitnehmerhaushalte stattfinden; da kann mir niemand etwas anderes sagen. Keine Entlastung - auch das weiß
ich - erhalten Rentnerhaushalte, Studenten und Menschen, die Arbeit suchen. Das ist mir wohl bewusst.
Aber alle profitieren mittelfristig von höheren Ausgaben
in Bildung und von mehr Arbeitsplätzen.
Ich verschweige auch nicht, dass es zu einer Konjunkturdelle kommen kann. Aber die führenden Wirtschaftsinstitute, die sich im Frühjahr noch eher skeptisch gezeigt haben, sagen voraus, dass es eben nicht zu einem
Konjunktureinbruch kommen wird.
Auch ich habe mich mit dieser Erhöhung schwer getan. Aber wir haben zuvor ein Konjunkturprogramm
mit Entlastungen und Impulsen in Höhe von 25 Milliarden Euro bis 2009 verabschiedet, das Wirkung auch auf
dem Arbeitsmarkt zeigt. Wer zu diesem auf Vorschuss,
auf Pump finanzierten Programm Ja gesagt hat, der
musste auch zur Mehrwertsteuererhöhung Ja sagen. Alles andere wäre feige und unehrlich gewesen.
({8})
Dieses Programm umfasst: Investitionen in Forschung und Entwicklung; verbesserte Abschreibungsbedingungen; ein Programm zur energetischen Gebäudesanierung, was bisher zu Investitionen in Höhe von
20 Milliarden Euro geführt hat; die Fortsetzung der Zahlung der Investitionszulage in den neuen Bundesländern;
die Aufstockung der Verkehrsinvestitionen; die steuerliche Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen,
von Kinderbetreuungskosten und von Kosten für die
Modernisierung der eigenen Wohnung. Durch die Einführung des Elterngeldes stehen den Familien
3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Betreuung
von Kindern unter drei Jahren, 100-prozentige Bedarfsdeckung bei Kindertageseinrichtungen, offene Ganztagsschulen und staatliche finanziellen Hilfen sind der richtige Weg, sowohl Eltern als auch Kinder optimal zu
fördern. Ich denke, dieses Konzept ist schlüssig. Familien, Handwerksbetriebe und Dienstleistungsunternehmen bekommen mehr Geld in die Hand, um die zunehmende Binnennachfrage weiter zu stärken.
Das Anziehen der Konjunktur bewirkt die Schaffung
neuer Arbeitsplätze, was gleichzeitig zu weniger Ausgaben aus den sozialen Sicherungssystemen und mehr Einnahmen in die sozialen Sicherungssysteme führt. Es gibt
gute Chancen dafür, dass sich der eingeschlagene Kurs
so positiv auswirkt, dass wir die Konjunkturbremse verkraften können. Das Mehr an Arbeitsplätzen kommt
dann den Menschen zugute, die heute keine Arbeit haben. Ich denke, das muss unser vorrangiges Ziel sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wird ein
Teil auch in den Schuldenabbau bzw. - besser gesagt in eine niedrigere Neuverschuldung gesteckt. Auch das
halte ich für lauter.
({9})
- Aber selbstverständlich.
Ich möchte mit einer Beurteilung der Schweizer Konjunkturexperten von BAK Basel Economics schließen.
In der „NZZ Online“ steht dazu: „Schweizer Wirtschaft
soll nächstes Jahr um 2,1 Prozent wachsen“. Jetzt werden Sie fragen, warum ich ausgerechnet die Schweizer
heranziehe. Ich sage es Ihnen. Es heißt nämlich weiter:
Den grösseren Optimismus für 2007 erklärt BAK
mit höheren Wachstumserwartungen für die deutsche Wirtschaft, dem wichtigsten Schweizer Handelspartner. Die Konjunkturindikatoren seien dort
- also hier bei uns „unerwartet gut“, und die Zeichen für einen „selbst
tragenden Aufschwung“ verdichteten sich.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Wir sollten uns dem Schweizer Optimismus anschließen; denn Wirtschaft hat ja bekanntlich auch etwas mit
Zutrauen und mit Gefühl zu tun.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, die
Vorlage auf Drucksache 16/2520 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit
sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm
in der Umgebung von Flugplätzen
- Drucksache 16/508 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/3813 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Michael Kauch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Eva Bulling-Schröter
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3814 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Petra Hinz ({2})
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Anna Lührmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Friedrich ({4}), Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm
wirksam verbessern
- Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! Ich
freue mich, dass wir in dieser letzten Sitzungswoche vor
Weihnachten die Beratung der Gesetzesnovelle zum
Fluglärmschutz mit der zweiten und dritten Lesung endlich abschließen werden.
({0})
Wir haben den Gesetzentwurf unserer rot-grünen Vorgängerregierung in ganz wesentlichen Punkten verbessern können. Um dies zu erreichen, haben wir sowohl
mit Vertretern der Lärmschutzverbände als auch mit Vertretern der Luftverkehrswirtschaft diskutiert. Wir saßen
mit Vertretern der Länder, mit Sachverständigen und mit
betroffenen Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Republik zusammen. Dabei sind die unterschiedlichsten
Vorstellungen heftig aufeinander getroffen.
Es war ein hartes Stück Arbeit, dies alles so unter einen Hut zu bekommen, dass nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern ein belastbarer Interessenausgleich herausgekommen ist. Niemand weiß dies besser
als meine Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter aus
allen Fraktionen, bei denen ich mich an dieser Stelle für
die hervorragende Zusammenarbeit ausdrücklich bedanken möchte. Insbesondere möchte ich mich bei meinem
Kollegen Petzold recht herzlich bedanken.
({1})
In vielen Punkten - naturgemäß nicht in allen - haben
wir uns einigen können. Deshalb kann ich die Ablehnung der beiden Anträge von FDP und Bündnis 90/Die
Grünen für meine Fraktion auch mit gutem Gewissen
vertreten und um Ihrer aller Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf werben.
({2})
Ich meine, mit den intensiven Beratungen der letzten
Wochen sind wir der Bitte unseres Bundesumweltministers Sigmar Gabriel um Sorgfalt und Kompromissbereitschaft, die er bei der Einbringung der Novelle vor beinahe
genau zehn Monaten hinsichtlich der Ausschussberatung
gestellt hat, vorbildlich nachgekommen.
({3})
Ebenso vorbildlich war dabei die Unterstützung durch
die Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums. Meinen herzlichen Dank dafür.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Lärm
- seiner Entstehung, seiner Wahrnehmung und seinen
Auswirkungen - haben wir es mit einer ausgesprochen
komplexen Materie zu tun.
Dennoch werden wir auf Schritt und Tritt damit konfrontiert. Sind wir in einem Moment noch Erzeuger von
Lärm, sind wir im nächsten Moment schon wieder selbst
davon betroffen.
Zweifellos ist in unserer modernen, auf Mobilität und
wirtschaftliche Flexibilität existenziell angewiesenen
Gesellschaft Lärm nicht immer und überall vermeidbar.
Wenn wir davon ausgehen, dass Schall erst in dem Augenblick zu Lärm wird, wenn er unangenehm, störend
und gesundheitsschädigend wirkt, dann haben wir es
nicht mit einem physikalischen, sondern vielmehr mit einem psychologisch-medizinischen Phänomen zu tun.
Obwohl die Wahrnehmung von Lärm daher stark vom
subjektiven Empfinden abhängt, ist dennoch objektiv
nachgewiesen, dass Lärm krank macht. Darüber hinaus
lassen sich auch im psychischen, ökonomischen und sozialen Bereich negative Auswirkungen belegen.
Was bedeutet das nun alles ganz konkret für den Fluglärm? Die dynamische Entwicklung des Flugverkehrs
hat zu einer immens gestiegenen Anzahl der Flugbewegungen geführt. Die Dauerschallpegel konnten bis heute
nur konstant gehalten werden, weil die technischen Verbesserungen an den Flugzeugen den Pegelanstieg im
Durchschnitt noch kompensierten. Die ermittelten Pegelwerte geben allerdings keine Auskunft über die empfundenen Lärmbelastungen und erheblichen materiellen
Verluste infolge des Wertverlustes von Grundstücken.
Dies tun aber die vielen Eingaben, Petitionen und Proteste gegen Fluglärm, die uns regelmäßig erreichen. Die
Berichte der von Fluglärm betroffenen Menschen und eigene Erfahrungen machen deutlich, dass das Leben unter
Fluglärm zu gravierenden Verschlechterungen der Lebensqualität führt.
Wie ich bereits vorhin angedeutet habe, bewegen wir
uns mit der Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes innerhalb eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Interessen. So sind wir uns selbstverständlich darüber im Klaren, dass wir den wirtschaftlichen Aufschwung unseres
Landes unter anderem auch dem hervorragend aufgestellten Luftverkehrsstandort Deutschland verdanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Exportweltmeister
wird man nicht zu Fuß. Von Flughäfen und deren Infrastruktur hängen zudem viele tausend Arbeitsplätze direkt
und indirekt ab. Ein wohlüberlegter Ausgleich zwischen
den Bedürfnissen lärmgeplagter Menschen auf der einen
Seite und einer der dynamischsten Wachstumsbranchen
unseres Landes auf der anderen Seite ist eine große Herausforderung. Deren Bewältigung ist nichtsdestotrotz
unsere Pflicht.
({5})
Vor diesem Hintergrund lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf eingehen, was das Fluglärmschutzgesetz denn nun künftig leisten wird, und vor
allem, wo die Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf, ganz zu schweigen von dem bisher noch gültigen Gesetz von 1972, liegen.
Grundsätzlich ermöglicht das neue Gesetz mehr passiven Schallschutz für Anwohner durch eine Ausweitung der Schutzzonen. Erstmals wird auch eine Nachtschutzzone eingeführt und damit dem Schutz des
Schlafes besonders Rechnung getragen. Konkret heißt
das: Mit der Neufassung des Fluglärmschutzgesetzes
werden künftig wesentlich mehr Menschen in der Umgebung der Flughäfen Ansprüche auf Schallschutz haben.
Definiert werden die beiden Tagschutzzonen 1 und 2
und die Nachtschutzzone durch die Lärmgrenzwerte.
Erfreulicherweise ist uns die Absenkung der bisherigen
Grenzwerte um 10 bis 15 dB - ich wiederhole: 10 bis
15 dB - gelungen.
({6})
Wenn wir dabei berücksichtigen, dass die Senkung des
Schallpegels um 10 dB die subjektive Wahrnehmung
des Lärms um die Hälfte reduziert, ist dies, denke ich,
ein großer Schritt in die richtige Richtung.
({7})
Die neuen Grenzwerte gelten künftig für alle Verkehrsflughäfen mit regelmäßigem Fluglinien- und Pauschalreiseverkehr. Grundlage des Berechnungsverfahrens ist die so genannte Drei-Sigma-Regelung. Das
bedeutet: Drei Sigma am Tag, drei Sigma in der Nacht.
Ich habe vorhin von der subjektiven Schallwahrnehmung gesprochen. Die Aufgabe war, einen subjektiven
Eindruck, der nicht zuletzt von psychologischen Faktoren abhängt, mittels eines physikalischen Berechnungsverfahrens abzubilden.
Wir haben uns die Diskussion um die Berechnungsgrundlage wahrlich nicht einfach gemacht, hängt doch
davon die Gesundheit vieler Menschen ab. Im Übrigen
muss die Berechnungsgrundlage auch für Flughafenbetreiber wirtschaftlich darstellbar sein.
Im Zusammenhang mit der Festsetzung der Grenzwerte gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen den
neuen bzw. wesentlich baulich erweiterten zivilen sowie
militärischen Flugplätzen unterschieden wird. Dies ist
dem bereits beschriebenen Unterschied in der Wahrnehmung von Schallereignissen unterschiedlichen Charakters geschuldet. Die Lärmsituation eines Militärflughafens unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der
eines zivilen Flughafens. So findet beispielsweise an einem Militärflughafen in den lärmsensiblen Zeiten wie
morgens oder abends, in der Nacht und am Wochenende
kein Flugverkehr statt.
Ich freue mich ganz besonders, dass es gelungen ist,
im Interesse der Anwohner eine wesentliche bauliche
Erweiterung eines Flugplatzes so zu definieren, dass
eine Erweiterung dann gegeben ist, wenn diese zur Erhöhung des äquivalenten Dauerschallpegels an der Grenze
zur Tagschutzzone 1 oder des LAeq Nacht an der Grenze
der Nachtschutzzone um mindestens 2 dB führt.
Durch das Instrument der vorausschauenden Siedlungsplanung wird überdies von vornherein Konflikten vorgebeugt. In einem Lärmschutzbereich dürfen keine Krankenhäuser, Altenheime, Erholungsheime und ähnliche
Einrichtungen gebaut werden. In den Tagschutzzonen
des Lärmschutzbereiches gilt das beispielsweise auch für
Schulen und Kindergärten. Ich denke, das ist besonders
wichtig.
Die Bedenken, dass Einrichtungen wie Alten- und
Pflegeheime in Lärmschutzbereichen künftig keine baulichen Erweiterungen vornehmen dürfen und damit von
der Schließung bedroht wären, sehe ich nicht, Herr
Kauch. Denn im Bedarfsfall können Ausnahmen durch
die zuständige Landesbehörde genehmigt werden. Änderungen ohne Kapazitätserweiterungen fallen zudem
nicht unter das Bauverbot. Des Weiteren werden Ansprüche auf passiven Schallschutz für Wohngebäude in
hochgradig fluglärmbelasteten Gebieten festgesetzt.
Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen,
möchte ich nochmals ausdrücklich darauf hinweisen,
dass im Fluglärmschutzgesetz Fragen zum aktiven
Lärmschutz nicht geregelt werden sollten.
({8})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Verkehrslärm entsteht von selbst. Ruhe und damit der
Schutz lärmgeplagter Menschen müssen hingegen gewollt und bewusst herbeigeführt werden. Ich habe den
Eindruck, dass wir unsere Handlungsfähigkeit in dieser
Angelegenheit erfolgreich unter Beweis gestellt und bei
dieser schwierigen Ausgangssituation ein belastbares
Etappenziel erreicht haben.
Herr Kollege.
Dennoch meine ich: Aktiven Lärmschutz auch im
Flugbetrieb umzusetzen, bleibt eine wichtige Forderung,
der die Politik zukünftig gerecht werden muss.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr
lange - man könnte auch sagen: zu lange - haben die
Anwohnerinnen und Anwohner auf ein neues Fluglärmgesetz gewartet.
({0})
Seit der ersten Ankündigung durch das BMU hat es
sechs Jahre gebraucht, um den Gesetzentwurf heute zur
Abstimmung im Deutschen Bundestag vorzulegen. Es
ist aber zu begrüßen, dass es endlich so weit ist. Denn
das alte Gesetz verdiente den Titel „Fluglärmschutzgesetz“ schon lange nicht mehr; die Anforderungen, die an
den Lärmschutz gestellt wurden, gehen in der Regel
nicht mehr auf dieses Gesetz, sondern auf Betriebsgenehmigungen und Richterrecht zurück.
Insofern möchte ich vor den Erwartungen warnen, die
auch durch die Rede von Herrn Mühlstein geweckt werden. Dass die Grenzwerte um 15 dB gesenkt werden,
ist nach dem Gesetzentwurf theoretisch zwar richtig;
aber an den Flughäfen wird sich kaum etwas ändern. An
den allermeisten Flughäfen wird sich zumindest kurzfristig und im Bestandsfall nicht viel ändern, weil dieses
Schutzniveau bereits erreicht wird. Es wird allerdings
Standorte geben, an denen es tatsächlich zu erheblichen
Verbesserungen kommt. Das erkennen wir ausdrücklich
an; denn nun liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm vor, das - das kann
man mit Fug und Recht sagen - einen Ausgleich zwischen den Interessen der Anwohner auf der einen Seite
und den Interessen der Nutzer und der Betreiber der
Flughäfen auf der anderen Seite schafft.
({1})
Es ist ein ausgewogener Kompromiss zum Lärmschutz
an zivilen Flughäfen. Auch wir haben uns - das sage ich
an die Adresse der anderen Oppositionsfraktionen - an
der einen oder anderen Stelle sicherlich mehr gewünscht. Aber im Ergebnis stellt das Gesetz eine deutliche Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Rechtslage
dar. Deshalb stimmen wir - Sie hätten sich also Ihren
Zuruf sparen können - dem Gesetzentwurf in der Konsequenz zu.
({2})
Neue niedrige Schutzzonengrenzwerte werden eingeführt. Insbesondere erhalten Anwohner neuer oder
auszubauender Flughäfen - das ist interessant, auch mit
Blick auf die Rechtssicherheit - ein besseres Schutzniveau. Für die Anwohner von Flughäfen mit Nachtbetrieb
wird es eine Regelung geben, die sehr stark auf Einzelereignisse abstellt. Das sind in der Tat diejenigen, die für
das Aufwachen in der Nacht verantwortlich sind. Auch
hier ist man im parlamentarischen Verfahren zu einem
vernünftigen Kompromiss gekommen. Ich sage ausdrücklich: Wir, die Liberalen, haben immer ein klares
Bauverbot - gerade für Wohnungen - in den Schutzzonen gefordert. Dieses Verbot war bislang sehr löchrig. Es
gibt zwar noch immer ein paar Hintertüren. Aber das hat
sich im Vergleich zum bisherigen Fluglärmschutzgesetz
deutlich verbessert.
({3})
Wir sind dafür, dass schutzwürdige Einrichtungen
in diesen Zonen nicht gebaut werden. Nun komme ich
auf den Fall zu sprechen, der hier schon angesprochen
wurde. Um es gleich vorweg zu sagen: In meinem Wahlkreis ist das Problem gelöst. Dort liegt eine Baugenehmigung bereits vor. Uns geht es darum, dass die Altenheime, die vor der Entscheidung stehen, ausgebaut oder
geschlossen zu werden, aufgrund pflegerechtlicher Voraussetzungen, die der Gesetzgeber geschaffen hat, auch
nach dem In-Kraft-Treten des novellierten Fluglärmschutzgesetzes die Möglichkeit haben, ihren Bestand zu
sichern. Hier reicht es nicht aus, das in das Ermessen der
Behörden zu legen. Vielmehr muss man an dieser Stelle
ein Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung vorsehen.
Das haben wir im parlamentarischen Verfahren gefordert. Das wurde von der Koalition aber leider abgelehnt.
Ich denke, an dieser Stelle ist das Gesetz noch nachbesserungsbedürftig.
({4})
Das Gesetz muss noch in einem anderen Punkt verbessert werden, und zwar im Bereich der Militärflughäfen. Ich finde, das hier gewählte Verfahren ist ausgesprochen ärgerlich. Sie von der Koalition setzen für zivile
Flughäfen bestimmte Grenzwerte an, weil von da an eine
Gesundheitsschädigung nicht auszuschließen ist. Aber
Sie sind nicht bereit, die Anwohner von Militärflughäfen, also dort, wo nicht die Bundesländer, die Kommunen oder Private zahlen müssen, sondern Sie selber, mit
dem gleichen Schutz auszustatten. Vielmehr wollen Sie
diesen Bürgern ein deutlich höheres Lärmniveau zumuten, bevor Sie die Kosten für den Schallschutz erstatten.
Das finde ich ehrlich gesagt unanständig.
({5})
Hier kann man nicht argumentieren, die Lärmbilder an
den Militärflughäfen seien anders. Das stimmt zwar. Ihre
Zahl ist geringer. Dafür ist es aber lauter. Deshalb muss
der Schutz aus meiner Sicht eher höher sein als niedriger. Die Argumentation der Koalition ist daher völlig abstrus.
({6})
In dem von uns in den Bundestag eingebrachten Entschließungsantrag weisen wir darauf hin, an welchen
Stellen der vorliegende Gesetzentwurf nicht optimal ist
und wo wir noch einmal darüber nachdenken müssen, ob
das, was hier entschieden wurde, richtig ist.
Dennoch stimmen wir heute zu, denn wir müssen
endlich Rechtssicherheit für die Anwohner, für die Flughäfen und für die Menschen, die den Flugverkehr nutzen, schaffen. Wir dürfen nicht weiterhin über Jahre eine
unendliche Diskussion führen, sondern wir müssen zu
einer Entscheidung kommen, die zumindest für die Anwohner an den Verkehrsflughäfen ein Fortschritt ist.
Vielen Dank.
({7})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Petzold,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Kauch, Sie müssen uns
zugestehen, dass wir die Möglichkeit für Ihr Alten- und
Pflegeheimprojekt eröffnet haben. Aber wir wollen eben
nicht die Scheunentore öffnen.
Zu den Militärflughäfen bzw. Bestandsflughäfen
komme ich später. Es ist allerdings anders, als Sie ausgeführt haben.
Im Jahre 1997 hat sich der Deutsche Bundestag in einer Anhörung erstmalig mit der Novellierung des Fluglärmgesetzes befasst. Lassen Sie mich deshalb mit Befriedigung feststellen, dass sich diese Koalition erneut
als handlungsfähig erwiesen hat und dass sie es gerade
nicht zu einem zehnten Jahrestag einer Anhörung hat
kommen lassen, ohne eine Gesetzesnovelle vorzulegen.
({0})
- Wir waren nun einmal zwischendurch sieben Jahre
lang leider nicht an der Regierung.
({1})
Wir haben einen Konsens zum Schutz vor Fluglärm
nicht nur zwischen den Regierungsfraktionen und den
Ministerien, sondern auch mit den Bundesländern und
den kommunalen Spitzenverbänden hinbekommen, sodass sich die Ministerpräsidenten, die sich noch vor wenigen Wochen gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen
haben, heute mit Vehemenz für die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes einsetzen.
({2})
Sie wissen, das war nicht von vornherein so. Noch in
der ersten Lesung musste ich davor warnen, dass das Gesetz am Bundesrat scheitern könnte; denn leider fühlte
sich eine ganze Reihe von Landesregierungen bei der ursprünglichen Formulierung des Gesetzentwurfes mit ihren Bedenken etwas außen vor gelassen. Nun könnte
man davon ausgehen, dass der Kompromiss dadurch erzielt wurde, dass wir an dem eingebrachten Gesetzentwurf Abstriche gemacht haben. Mitnichten, das Gegenteil ist der Fall. In jedem der neun Punkte des CDU/
CSU-SPD-Antrages, der mit dem heutigen Tag Teil des
Gesetzes wird, ist eine Ausweitung des Lärmschutzes
bzw. der Rechte der Lärmbetroffenen formuliert, wie ich
im Rahmen der Berichterstattung Punkt für Punkt nachgewiesen habe. Ich möchte jetzt nur kurz einige Beispiele nennen.
Es wurde das Wesentlichkeitskriterium für den
Ausbaufall am Rande der Nachtschutz- und Lärmschutzzone 1 auf 2 Dezibel herabgesetzt. Der Geltungsbereich
des Fluglärmgesetzes wurde auf alle Flughäfen mit
Linien- und Pauschalreiseverkehr ausgeweitet. Die Siedlungsentwicklung in den Lärmschutzzonen wurde auf
ein vernünftiges Maß begrenzt. Die Erstattungsverfahren
für Lärmschutzaufwendungen der Lärmbetroffenen werden wesentlich vereinfacht und verkürzt. Der Bestand
von freiwilligen Vereinbarungen zum Lärmschutz ist gesichert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines ist mir
jedoch besonders wichtig: Lärmmedizinische Gutachten zur Feststellung von zulässigen Lärmpegeln im Rahmen von luftrechtlichen Zulassungsverfahren stellten
bisher immer eine große Unwägbarkeit für alle Seiten
dar. Durch unser Fluglärmgesetz werden die Pegelwerte
des Gesetzes als echte Grenzwerte eingeführt, sodass
diese zeit- und nervenaufreibenden Gutachten nicht mehr
erforderlich sind. Allerdings werden lärmmedizinische
Gutachten, die sich speziellen Problemen im Rahmen
von lufttechnischen Zulassungsverfahren widmen, auch
weiterhin gesondert in diese Verfahren eingeführt werden können.
({3})
Unter der Maßgabe der großen Vorbehalte, die es zu
Verhandlungsbeginn gegenüber den höheren Anforderungen des Gesetzentwurfes an die Flugplatzbetreiber
gab, muss das in langen Verhandlungen erzielte Ergebnis
in jedem Fall als Erfolg für den Lärmschutz gewertet
werden.
({4})
Erlauben Sie mir noch einige grundsätzliche Anmerkungen aufgrund der Diskussionen in den letzten Tagen
und Wochen. Da ist zum einen die Frage: Ist auf Dauer
die Unterscheidung zwischen Bestandsflughäfen auf
der einen Seite und neuen und ausgebauten Flughäfen
auf der anderen Seite bei der zugemuteten Lärmbelastung haltbar? Dazu muss man rechtssystematisch bemerken, dass bei allen Verkehrsträgern bei der zulässigen
Lärmbelastung der Anwohner eine Unterscheidung zwischen Neu- und Ausbau auf der einen Seite und Bestand
auf der anderen Seite gemacht wird.
Auch die unterschiedliche Behandlung von zivilen
und militärischen Flugplätzen bei den zulässigen Schallpegelwerten kann nur mit den sich wesentlich unterscheidenden Bewegungszahlen in den einzelnen Tagesabschnitten und Wochenabschnitten gerechtfertigt
werden.
Auf militärischen Flugplätzen sind die Flugbewegungen stark an Dienstzeiten gebunden, die eher eine
Abend-, Nacht- und Wochenendruhe gewährleisten. Außerdem kann ich hier auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen verweisen, welches
diese unsere Auffassung bestätigt.
Dem Gesetzgeber ist es im Jahr 2015 unbenommen,
diese Fragen erneut aufzugreifen; denn dann muss er unser Gesetz auf seine Wirksamkeit überprüfen. Meine
Fraktion erwartet jedoch, dass auch in Zukunft Flugplatzbetreiber im Sinne des nachbarschaftlichen Friedens weiterhin freiwillige Leistungen des aktiven und
passiven Lärmschutzes erbringen. Ganz besonders erwarten wir dieses bei der Erstattung von Aufwendungen
für bauliche Schallschutzmaßnahmen und bei der Entschädigung für die Beeinträchtigung des Außenwohnbereichs im Hinblick auf die so genannten Bestandsflugplätze.
Grundsätzlich ist zu dem Gesetz anzumerken, dass es
gegenüber dem bisher geltenden Gesetz aus dem Jahr
1971 zu einer deutlichen Reduzierung der zulässigen
Schallpegelwerte kommt, wie es mein Kollege
Mühlstein schon ausgeführt hat. Zusätzlich werden fluglärmbedingte Maximalpegel mit einem Häufigkeitsfaktor gesetzlich eingeführt, mit denen der Tatsache Rechnung getragen wird, dass insbesondere die
Maximalpegel als besonders belästigend empfunden
werden.
Die Ausweitung von ursprünglich nur einer Schutzzone auf jetzt zwei Tagschutz- und eine Nachtschutzzone trägt der Entwicklung in der Rechtsprechung Rechnung. Es ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass wir
mit den im Gesetz gefassten Schallschutzwerten insbesondere für den Neu- und Ausbaufall nicht hinter der
jüngsten Rechtsprechung zum Schutz vor Fluglärm zurückbleiben.
({5})
Bei der Außenwohnbereichsentschädigung gehen wir
sogar deutlich über alles, was bisher in der Rechtspraxis
existiert, hinaus.
Die Forderung einiger Fluglärmschutzverbände, im
Fluglärmgesetz auch den aktiven Schallschutz zu regeln, läuft rechtssystematisch ins Leere. Das Fluglärmgesetz bezieht sich ausdrücklich auf den so genannten
passiven Schallschutz. Der so genannte aktive Schallschutz, zu dem technische Anflugregelungen, aber auch
Regelungen zum Flugverkehr zu festgelegten Tageszeiten gehören, wird im Luftverkehrsgesetz erfasst, das
aber nicht Teil dieser Gesetzesinitiative sein kann.
({6})
Lassen Sie mich aber bitte feststellen: Es bleibt einer Genehmigungsbehörde auch nach unserer Novellierung des
Fluglärmgesetzes im Rahmen eines luftrechtlichen Zulassungsverfahrens unbenommen, begründet höhere Anforderungen auch an den aktiven Schallschutz festzuschreiben.
Dieses Gesetz ist mit Sicherheit nicht der Schlusspunkt für den Schutz gegen den Fluglärm, aber es ist ein
wesentlicher Schritt, der deutlich mehr Rechtssicherheit
für alle Seiten schaffen wird. Lassen Sie uns diesen
Schritt heute gehen.
Auch ich möchte noch einige Worte des Dankes loswerden. Am Anfang gab es einige Irritationen. Wir haben aber dann mit dem Umweltministerium eine hervorragende Zusammenarbeit gefunden. Lieber Kollege
Mühlstein, ich glaube, es war ein hartes Stück Arbeit,
das wir gemeinsam geleistet haben. Ich danke auch allen
anderen Berichterstattern. Auch sie haben sich eingebracht, sodass wir ein Gesetz geschaffen haben, das zwar
nicht allen Bedenken Rechnung trägt. Aber es besteht
doch so weit Konsens zwischen uns, dass wir als Bundestag ein bisschen stolz auf dieses Gesetz sein können.
({7})
Den Vorwurf - der in einigen Medien gegen das Ministerium erhoben worden ist -, dass die Luftverkehrswirtschaft einen unzulässigen Einfluss auf dieses Gesetz
genommen habe, weise ich nachdrücklich zurück. Was
behauptet wurde, zeugt von Unwissenheit, Ignoranz;
man könnte fast sagen: von Böswilligkeit. Deswegen
glaube ich, dass wir hier durchaus einmal hinter diesem
Ministerium stehen können.
Herzlichen Dank.
({8})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Lutz
Heilmann für Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung die Novellierung des Fluglärmgesetzes. Herr Kollege Mühlstein, Sie sprachen davon, dass wir uns in der
letzten Sitzungswoche vor Weihnachten befinden. Ich
habe Ihren Ausführungen entnommen, dass Sie der Meinung sind, dass dieses Fluglärmgesetz für die Anwohnerinnen und Anwohner sozusagen ein Weihnachtsgeschenk sei. Wenn wir jetzt vor Ostern stünden, würde ich
eher sagen, es ist ein komisches Osterei, das Sie den
Leuten ins Osternest legen wollen.
({0})
Als Weihnachtsgeschenk würde ich das wahrlich
nicht bezeichnen; denn ein effektiver Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner vor Fluglärm ist mit diesem Gesetz nicht möglich.
({1})
Kein Flughafen - das haben Sie selbst gesagt - wird
leise. Aktiver Lärmschutz - Fehlanzeige.
Da muss ich auch an die FDP einmal ein paar Worte
richten. Herr Kauch, bei der Bahn sind Sie nicht so zögerlich, für aktiven Lärmschutz zu sorgen. Warum tun
Sie das nicht auch beim Flugverkehr?
({2})
- Das ist ein anderes Gesetz. Dann haben Sie ja die
Möglichkeit, dem Änderungsantrag unserer Fraktion,
der ebenfalls vorliegt, zuzustimmen. Dann können wir
aktiven Lärmschutz in dieses Gesetz integrieren.
({3})
Fluglärm wird ebenso wie der Flugverkehr zunehmen
und somit einen noch größeren Beitrag zum weltweiten
Klimawandel leisten. Wir debattieren in diesem Hause
momentan ja auch viel über den Klimawandel. Beim
Thema Fluglärm können wir aktiv etwas gegen den Klimawandel tun; zumindest können wir versuchen, ihn zu
meistern.
Dieses Gesetz bietet allenfalls den Flughäfen Schutz
vor den Anwohnerinnen und Anwohnern; denn diese
werden mit Peanuts abgespeist.
({4})
Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs. Wir reden in
diesem Hause viel davon, mehr für unsere Kinder tun zu
müssen. Aber wenn unsere Kinder, nachdem sie bis zum
Mittag in geschlossenen Räumen gesessen haben, am
Nachmittag, wenn sie zu Hause sind, vielleicht auf die
Idee kommen, im Garten zu spielen, wird ihnen durch
Ihr Gesetz zugemutet, dass dort eine 747 über sie hinwegrauscht. Damit wird ihnen das Spielen ordentlich
verdorben.
Doch nun noch ein paar Gedanken zu dem Gesetzentwurf. Er hat eine lange Geschichte. Es gab vier rot-grüne
Entwürfe, von denen jeder letztendlich schlechter war
für die Anwohnerinnen und Anwohner als sein Vorgänger. Das ist auch kein Wunder; denn - eine Frage meines
Kollegen Roland Claus an die Bundesregierung brachte
es ans Licht und am 19. Oktober war es in einem „Monitor“-Bericht in der ARD zu sehen - einige Mitarbeiter
von Fraport und des Flughafens Köln sind im Verkehrsministerium tätig, und zwar in der Abteilung, die für den
Flugverkehr zuständig ist. Ein Schalk, der Schlechtes dabei denkt.
Nun habe ich nichts gegen Lobbyarbeit. Wir alle holen uns auf parlamentarischen Abenden Rat von Sachverständigen, von Leuten, die tiefere Kenntnisse haben
als wir. Aber die Vorgehensweise, dass Vertreter der
Flugwirtschaft Gesetzentwürfe schreiben, halte ich ganz
einfach für skandalös. Forderungen, das Gesetz komplett
neu zu kodifizieren, sind nicht unbegründet.
Nun zu dem Änderungsantrag der Koalition - auf den
Änderungsantrag meiner Fraktion komme ich gleich zu
sprechen -: Die Verkürzung der Fristen zur Zahlung
von Erstattungen und Entschädigungen begrüßen wir.
Jedoch sind die vorgesehenen fünf Jahre ganz einfach zu
lang. Lieber Kollege Petzold, es gibt eine ganze Menge
Leute, die schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren darauf warten, dass überhaupt etwas passiert. Sie jetzt noch einmal
fünf Jahre warten zu lassen, wäre nicht richtig.
Die Definition der baulichen Erweiterung ist in Ordnung. Aber die Lex Fraport haben Sie nicht gestrichen.
Das wäre ein echter Fortschritt gewesen. Sie wollten mit
Ihrem Änderungsantrag für mehr Rechtssicherheit sorgen. Das begrüßen wir ausdrücklich. So sollen gemäß
§ 8 Abs. 1 des Luftverkehrsgesetzes Grenzwerte des
Fluglärmgesetzes beachtet werden. In der vorhergehenden Fassung hieß es aber, dass diese Werte zugrunde zu
legen sind. Was ist nun die schärfere Regelung: „zu beachten“ - dann muss man nicht so genau hinschauen oder „zugrunde zu legen“? Nach unserer Meinung ist der
zweite Fall die schärfere Regelung. Sie haben also Ihr
Gesetz wesentlich entschärft. Somit kann ich nur sagen:
Die Änderungen, die Sie im letzten halben Jahr vorgenommen haben, reichen nicht aus. Es fehlen klare Vorgaben zur Begrenzung von Lärm und es fehlt insbesondere
der aktive Lärmschutz.
Nun möchte ich Ihnen die wichtigsten Punkte aus unserem Änderungsantrag vorstellen. Wir plädieren für die
Aufnahme des aktiven Lärmschutzes in das Gesetz.
Wir sind in diesem Lande der Gesetzgeber und wir haben jederzeit die Möglichkeit, Gesetze so zu gestalten,
wie wir es für richtig halten. - Herr Kollege Petzold, es
ist unhöflich, dass Sie jetzt nicht zuhören. Drehen Sie
sich doch bitte um! - Wenn wir es für notwendig halten,
den aktiven Lärmschutz in das Gesetz aufzunehmen,
dann sollten wir das auch tun. Wir sind der Souverän und
können eine entsprechende Maßnahme beschließen. So
weit meine staatsrechtliche Bemerkung.
({5})
Als zweiten wichtigen Punkt möchte ich noch einmal
die Frist ansprechen. Wir fordern, dass die Frist für Erstattungs- und Entschädigungsansprüche auf zwei Jahre
verkürzt wird.
Kollege Kauch, Sie haben richtigerweise die Privilegierung der Militärflughäfen angesprochen, die wir
genauso wie Sie für absurd und für nicht gerechtfertigt
halten. Deswegen ist dieser Punkt in unserem Änderungsantrag enthalten. Neben der Aufnahme des aktiven
Lärmschutzes wäre die Ablehnung der Privilegierung
der Militärflughäfen der zweite Grund für Sie, unserem
Änderungsantrag zuzustimmen. Wir kommen uns also
relativ nahe.
({6})
Des Weiteren fordern wir, die Grenzwerte zu senken.
Denn die Grenzwerte, die Sie in dieses Gesetz hineingeschrieben haben, richten sich beileibe nicht an den aktuellen Ergebnissen der Lärmwirkungsforschung aus. Sie
müssen gesenkt werden; so können sie nicht bleiben.
Der letzte Punkt, den ich nennen will, ist die Berichtspflicht der Bundesregierung. Da die Forschung schnell
voranschreitet, fordern wir, dass die Bundesregierung
alle fünf Jahre und nicht alle zehn Jahre Bericht erstatten
muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Denn nur so können wir den Anwohnerinnen und Anwohnern einen effektiven Lärmschutz gewährleisten. Ansonsten könnten
wir das alte Fluglärmgesetz beibehalten, frei nach dem
shakespeareschen Motto: Viel Lärm um nichts.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein
frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch.
({7})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wir Grüne begrüßen es, dass es nach
35 Jahren heute wohl gelingen wird, das Fluglärmgesetz
zu novellieren.
({0})
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, will ich sagen,
dass dieses Gesetz schon 1998, als es 27 Jahre alt war,
veraltet war. Wir haben damals unter Rot-Grün eine Altlast übernehmen müssen. Es ist mir leider nicht vergönnt
gewesen - das bedaure ich; ich habe es schon einmal öffentlich bekundet -, in den sieben Jahren rot-grüner Regierung ein neues Gesetz durchzubringen. Dieses Gesetz
hätte viel früher kommen müssen.
({1})
Ich muss aber auch sagen, dass ich immer wieder von
der Leistung der großen Koalition überrascht bin. Insbesondere überraschen mich die Genossinnen und Genossen, weil sie nämlich erst die CDU/CSU brauchen, um
das zu machen, was sie schon sieben Jahre vorher mit
uns hätten machen können.
({2})
Im Wesentlichen, was die Grundzüge betrifft, stammt
dieser Gesetzentwurf aus der Zeit der rot-grünen Regierung und insbesondere aus dem Hause Trittin. Damit ist
er nicht per se gut. Ich will aber deutlich sagen: Ich bin
froh, dass Sie nicht hinter dieses Projekt zurückgefallen
sind. Ich will Ihnen durchaus zugestehen, dass Sie das
Gesetz im parlamentarischen Verfahren nicht schlechter
gemacht haben, sondern an verschiedenen Stellen sogar
noch nachgebessert haben. Dafür mein Kompliment.
({3})
Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass es eine deutliche
Absenkung der Grenzwerte um 10 Dezibel gibt. Aber
es ist natürlich keine Kunst - an dieser Stelle fängt die
kritische Betrachtung an -, nach 35 Jahren einen Grenzwert um 10 Dezibel abzusenken, wenn die Technologie
in derselben Zeit die Verringerung der Lärmemissionen
bei Verkehrsflugzeugen um 20 Dezibel möglich gemacht
hat. Das heißt, im Grunde genommen hinken auch dieser
Gesetzentwurf und damit seine Grenzwerte der technischen Entwicklung hinterher. Er ist auf keinen Fall sehr
ambitioniert. Sie tun aber Folgendes: Sie retten sozusagen die Ehre des deutschen Parlaments, damit wieder
Gesetzesrecht des Parlaments und nicht Richterrecht
gilt, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist.
({4})
Aus Sicht der Grünen ist der Gesetzentwurf nicht optimal und an einzelnen Stellen nicht wirklich ausgewogen. Ich will dies an drei Punkten aufzeigen. Erster
Punkt: die Grenzwerte. Ich halte es für nicht gut, dass
Sie der Besonderheit der Nachtschutzzonen und der
Schlafbedrohung durch Fluglärm nicht angemessen
Rechnung tragen. Alle Experten sagen, dass aus gesundheitlichen Gründen in der Nacht ein Grenzwert von
45 Dezibel festgelegt werden muss. Sie sind deutlich
darüber geblieben. Sie hatten nicht den Mut, so weit zu
gehen.
Sie haben meines Erachtens unnötigerweise eine Lex
Fraport beschlossen. Sie führen zwar neue Grenzwerte
ein, lassen aber genügend Zeit, damit die geplanten Ausbaumaßnahmen noch im Rahmen der alten Grenzwerte
erfolgen können. Das ist nicht ausgewogen. Da haben
Sie die Interessen eines bestimmten Flughafens einseitig
berücksichtigt.
Zweiter Punkt: der Charakter von Grenzwertfestsetzungen. Wir können anhand der Geschichte dieses Gesetzes erkennen, dass es kein modernes Umweltrecht ist,
wenn man Grenzwerte auf ewig festsetzt. Man muss sich
einmal übertragen vorstellen, was wäre, wenn heute für
Autos die gleichen Emissionsgrenzwerte wie vor
35 Jahren gelten würden. Da gibt es selbstverständlich
eine dynamische Fortschreibung der Grenzwerte, also
alle fünf Jahre eine neue Euronorm mit deutlich abgesenkten Werten. In diesen Zeiträumen geht es nicht um
eine Senkung um 10 Dezibel, sondern um die Absenkung der Werte um 80 bis 90 Prozent.
Wir müssen also auch im Lärmbereich zu einer regelmäßigen kritischen Überprüfung und Anpassung der
Grenzwerte kommen. In Ihrem Gesetzentwurf wird nur
die Überprüfung festgelegt, aber keine sichere Konsequenz formuliert. Wir fordern, dass es eine regelmäßige
Anpassung im Sinne der Lärmwirkungsforschung gibt.
({5})
Dritter Punkt: Auch wir schätzen es so ein - dies
wurde von meinen Kollegen von der Opposition schon
angesprochen -, dass die besondere Privilegierung des
militärischen Fluglärms und damit die Benachteiligung
der Anwohner von Militärflughäfen nicht zu rechtfertigen ist.
({6})
Sie brauchen mir da nichts vorzumachen; denn schon zu
unserer Regierungszeit hat sich sofort der Verteidigungsminister gemeldet und gesagt, das koste zu viel Geld.
Das war auch jetzt wieder ein Argument. Weil man die
Kasse des Verteidigungsministers nicht quälen und dem
Ministerium nichts zumuten wollte, obwohl es sich, gemessen an diesem großen Etat, um eine kleine Summe
handelt, müssen die Anwohner von Militärflughäfen auf
Schallschutzmaßnahmen verzichten. Das ist nicht fair;
das ist nicht gerecht. Das finden wir nicht gut und das ist
korrekturwürdig.
({7})
Ich will zum Ende meiner Rede deutlich machen, dass
das Fluglärmgesetz natürlich nicht das Ende des Lärmschutzes an Flughäfen sein kann. Kollege Heilmann, das
ist ein Konzept des passiven Lärmschutzes; das ganze
Gesetz ist so konzipiert. Man soll es nicht überfordern,
sondern klar sehen, dass es andere Gesetzesfelder gibt,
wo man den aktiven Lärmschutz angehen muss, etwa bei
der europäischen Richtlinie zur lärmbedingten Betriebsbeschränkung, die nicht ambitioniert in deutsches Recht
umgesetzt wird. Hier gibt es Spielräume, aktiv einzugrenzen und zu sagen: Wenn zu viel Lärm entsteht, dann
können Flughäfen anders als bisher eingreifen und Einschränkungen vornehmen.
Ein weiteres Feld ist schon eröffnet. Wir werden demnächst europaweit Daten darüber sammeln, wie sich
Lärm in Ballungsräumen ausbreitet, und sie kartieren.
Dabei müssen natürlich die Zonen um Flughäfen in besonderer Weise berücksichtigt werden. Wir werden dann
wahrscheinlich sehr beeindruckende Lärmkarten bekommen und daraus abgeleitet die Aufforderung, aktive
Lärmschutzpläne auszuarbeiten und Maßnahmen bzw.
Strategien vorzuschlagen, damit es in diesem Bereich
insgesamt zu weniger Lärm kommt.
Sie sehen, es ist noch viel zu tun. Wir sollten uns nicht
gleich auf die Ruhebank setzen und sagen: Jetzt warten
wir 35 Jahre. Es wäre bedauerlich, wenn erst im Jahre
2040 kurz vor Weihnachten wieder einmal ein Deutscher
Bundestag über ein solches Gesetz beraten würde. Ich
hoffe, wir kommen zu einer früheren Novellierung und
zu einer rechtzeitigen Anpassung der Grenzwerte an das,
was die Forschung uns immer wieder sagt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Man
merkt, dass Weihnachten bevorsteht. Sehr geehrter Herr
Hermann, ich möchte in diesem Stil weitermachen und
mich bei Ihnen für die Anerkennung der Leistungen der
großen Koalition auf der einen Seite und die Ehrlichkeit
auf der anderen Seite, mit der Sie dieses Thema eben behandelt haben, bedanken.
Bevor es zu diesem Fluglärmgesetz kommen konnte,
gab es einen langen Landeanflug, stellenweise etwas Getöse, einige Turbulenzen. Das liegt natürlich an den vielen Piloten und Fluglotsen, die an diesem Prozess beteiligt waren. Herr Heilmann, wenn man das, was Sie uns
gerade gesagt haben, auch noch berücksichtigen wollte,
wäre die Angelegenheit nebulös geworden und die ganze
Angelegenheit wäre zu einem Blindflug geworden.
Ich möchte das aufgreifen, was Herr Hermann gerade
mit seinem Wort von der Lex Fraport angedeutet hat,
nämlich dass der eine oder andere behauptet hat, es habe
bei diesem Prozess auch noch ein paar blinde Passagiere,
nämlich Lobbyisten, gegeben, die an entscheidender
Stelle ihren Einfluss ausgeübt hätten. Wenn wir im Deutschen Bundestag einer solchen Behauptung das Wort reden, dann begehen wir einen entscheidenden Fehler,
({0})
weil wir uns selber damit bei dem infrage stellen, was
wir hier, unabhängig und nur unserem Gewissen unterworfen, tun.
({1})
Weil ich selber nicht zu den Berichterstattern gehöre,
möchte ich an der Stelle - wie es viele Vorredner auch
getan haben - den Berichterstattern nicht nur für die
viele Arbeit, sondern auch ganz entscheidend dafür
danken, dass sie diese Arbeit in großer Unabhängigkeit
und in der Abwägung verschiedener Interessen getan haben.
({2})
Wir sind mit der zweiten und dritten Lesung dieses
Gesetzentwurfs heute auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Tatsache ist: Der Verkehrslärm nimmt zu. Die
Belastung, die die Bevölkerung trägt, muss man beachten und man muss als Gesetzgeber etwas dagegen tun.
Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen auch auf die Gefahr
hin, missverstanden zu werden, ganz klar: Umweltschutz
ist in erster Linie auch Menschenschutz.
({3})
Tatsache ist: Es wollen viele fliegen; die wenigsten
wollen aber einen Flughafen vor der Haustür. Auch dafür habe ich Verständnis. Aber wir müssen auch Folgendes sehen: Wir sind eine Exportnation. Güter und Menschen müssen wir wettbewerbsfähig transportieren
können.
Ich möchte auch noch hinzufügen: Dieses Gesetz bürdet - je nachdem, wie man es berechnet - den zivilen
Flughäfen, den Kommunen und den Ländern Kosten bis
zu einer Höhe von 738 Millionen Euro auf. Das sage ich
nur, damit wir wissen, um welche Größenordnung es
sich hier handelt. Ich möchte noch eine weitere Zahl
nennen: Es sind 400 Millionen Euro in diesen Bereich
als Vorleistungen auf Basis des alten Gesetzes und auf
freiwilliger Basis geflossen. Auch das sollte man einmal
anerkennen.
({4})
Tatsache ist natürlich: Es handelt sich um einen Kompromiss, um keine Punktlandung. Das ist aber sehr viel
besser, als dieses Thema permanent in der Luft zu halten, wie wir es über Jahre und Jahrzehnte getan haben.
({5})
Ich möchte jetzt etwas zum Thema Richterrecht sagen. Wir haben im Unterschied zum anglofonen Bereich
kein „case law“, es also nicht mit der Situation zu tun,
dass mithilfe von Präzedenzfällen für Rechtssicherheit
gesorgt wird. Deshalb sind wir als Gesetzgeber aufgerufen, diesen Sachverhalt nicht schleifen zu lassen und
Rechts- und Planungssicherheit zu schaffen. Das tun wir
mit diesem Gesetz.
Eines ist aus meiner Sicht ganz klar: Wir schaffen
Mindeststandards - ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen, weil viele ja sagen, das sei alles kritisch zu sehen -, über die man hinausgehen kann. Denjenigen, die Bau- bzw. Ausbaumaßnahmen durchführen,
sei geraten, über diese Mindeststandards hinauszugehen.
Das verbessert die Akzeptanz. Es gibt ja auch nicht nur
den passiven Lärmschutz, sondern auch den aktiven
Lärmschutz. Das sollte man entsprechend berücksichtigen.
({6})
Von uns wurde die Tatsache kritisch gewürdigt - insbesondere in der CSU wurde darüber diskutiert -, dass
wir ohne zeitliche Begrenzung zwischen zwei Klassen
differenzieren, nämlich zwischen denjenigen, die an bestehenden Flughäfen wohnen, und denjenigen, die an
neu zu errichtenden Flughäfen wohnen. Das ist unbefriedigend.
({7})
Wir akzeptieren hier Unterschiede von 5 dB, und
zwar über die im Gesetz vorhandene Schwelle des
Jahres 2011 hinaus. Das ist bedauerlich. Wir haben aber
für das Jahr 2015 eine Überprüfung geregelt. Es ist im
Übrigen eine gute Idee, das in einem Gesetz festzuschreiben. Solche Regelungen sollten wir immer wieder
treffen. In diesem Rahmen haben wir die Chance, diese
Differenzierung zu korrigieren. Aus der Sicht der CSU
wäre das wünschenswert.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollegen Christian
Carstensen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gemerkt:
Das Thema Fluglärm und die damit verbundene Diskussion über den notwendigen Schutz der Anwohnerinnen
und Anwohner bewegt die Gemüter heute ebenso wie
früher.
Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verzeichnete für das damals geteilte Deutschland im Jahr 1970
rund 8,8 Millionen Fluggäste bei rund 630 000 Flugbewegungen. Der Umweltschutz war in dieser Zeit gerade
erst auf der bundespolitischen Tagesordnung aufgetaucht.
({0})
Der damals zuständige Bundesinnenminister Genscher
- ein eigenes Umweltressort war damals noch gar nicht
denkbar - brachte eine Grundgesetzänderung auf den
Weg, die dem Bund erstmals volle Gesetzgebungskompetenz für den Umweltbereich bringen sollte.
({1})
- Mit Recht natürlich und mit einem sozialdemokratischen Koalitionspartner. - Gleichzeitig wurde ein Gesetzentwurf zum Schutz vor Fluglärm in der Umgebung
von Flughäfen eingebracht. Der Bundestag brauchte
zwei Legislaturperioden, um das Gesetz um 16. Dezember 1970 endlich in dritter Lesung beschließen zu können.
Heute, in der letzten Sitzungswoche des Jahres 2006,
also bis auf zwei Tage genau 36 Jahre später, kommt es
endlich zu einer umfassenden Erneuerung des Gesetzes.
Viel hat sich seitdem verändert. Auf manchen Feldern
gibt es aber überraschende Parallelen. Die Zahl der
Fluggäste und -bewegungen im zum Glück längst vereinten Deutschland hat sich dramatisch verändert. 2005
wurden nicht mehr wie damals 8,8 Millionen, sondern
rund 146 Millionen Fluggäste gezählt. Die Zahl der
Flugbewegungen erhöhte sich von den genannten
630 000 auf über 2 Millionen. Es wird also wirklich Zeit,
die gesetzlichen Regelungen für den Schutz vor Fluglärm auf eine neue Grundlage zu stellen.
Aber auch diesmal hat der Bundestag - das ist angesprochen worden - lange dafür gebraucht. Da die nachfolgende Generation ja immer steigerungsfähig ist, haben wir nicht zwei, sondern drei Wahlperioden
gebraucht. Umso besser ist es, dass wir uns dieses Mal
darauf verständigt haben, die Bundesregierung schon
jetzt auf eine Überprüfung nach zehn Jahren zu verpflichten. Damit legen wir bereits heute die Grundlage
dafür, dass nicht erst wieder dreieinhalb Jahrzehnte ins
Land gehen müssen, ehe das Gesetz den aktuellen Gegebenheiten angepasst wird. Kollege Hermann, aus dieser
Regelung folgt, dass, wenn Bedarf besteht, nach zehn
Jahren entsprechend gehandelt wird.
({2})
Herr Kollege Nüßlein, das ist im Übrigen ein Grund,
warum wir heute noch keine Vereinbarung für das
Jahr 2020 - Sie und einige andere haben das angesprochen bzw. gefordert - in das Gesetz hineinschreiben
müssen. Für Versprechungen gegenüber den Anwohnerinnen und Anwohnern, die sich bei einer Überprüfung
in zehn Jahren möglicherweise als unerfüllbar herausstellen werden, sind jedenfalls wir Sozialdemokraten
nicht zu haben; das sollte aber für uns alle gelten.
Nach den Diskussionen der letzten Wochen liegt uns
ein Gesetzentwurf vor, der sich sehen lassen kann. Das
Gesetz wird den notwendigen und wichtigen Schutz der
Anwohnerinnen und Anwohner verbessern und den
Flughäfen Planungs- und Rechtssicherheit bieten.
({3})
An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten herzlich
danken. Dieser Dank richtet sich natürlich an die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition für die gute und
vertrauensvolle Zusammenarbeit, aber eben auch an die
Vertreter der Opposition für kritische Anmerkungen und
Fragen, die dann koalitionsintern für konstruktive Diskussionen gesorgt haben. Kollege Hermann hat das gerade von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich gewürdigt.
Nicht nur deswegen geht bei dem Dank an die Opposition ein besonderer Dank an die Grünen, weil - Sie erwähnten das schon - wichtige Vorarbeit in der letzten
Wahlperiode für den letztendlich rot-grünen Gesetzentwurf geleistet wurde. Daher wussten Sie - das haben Sie
im Februar bei der Debatte zur ersten Lesung erwähnt um die vorhandenen Schwächen. Aber ich hoffe, dass
Sie heute auch um die Stärken des Gesetzentwurfs wissen und es am Ende so machen werden wie die FDP und
dem Gesetzentwurf gemeinsam mit uns zustimmen.
({4})
- Sie haben noch ungefähr zehn Minuten Zeit zum
Nachdenken.
Der Dank geht - das Umweltministerium wurde ganz
oft angesprochen - an den Umweltminister, aber auch an
den Bundesverkehrsminister und die entsprechenden
Häuser für die Begleitung der parlamentarischen Arbeit
und nicht zuletzt an die Vertreter der Anwohnerinnen
und Anwohner und auch der Luftverkehrswirtschaft für
ihre - es war nicht anders zu erwarten - höchst unterschiedlichen Hinweise. Natürlich konnten wir nicht alle
aufgreifen; denn es galt, einen fairen Interessenausgleich herzustellen. Aber alle Hinweise wurden sehr
ernst genommen und ausführlich beraten. Mein Kollege
Mühlstein hat schon auf zahlreiche Verbesserungen im
Interesse der Anwohnerinnen und Anwohner hingewiesen.
Nun werden Sie sicherlich Verständnis dafür haben,
dass ich als Verkehrspolitiker mich auf die Situation und
Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft konzentrieren
möchte. Das tue ich, nicht obwohl, sondern gerade weil
ich selbst vom Lärm betroffener Anwohner - in diesem
Fall des Flughafens Hamburg - bin. Ich weiß nicht, ob
hier noch der eine oder andere Flughafenanwohner anwesend ist.
({5})
Wir Flughafenanlieger kennen nicht nur den Lärm,
sondern wir kennen fast alle auch Freunde, Nachbarn
oder Verwandte, die am Flughafen oder im unmittelbaren Umfeld arbeiten. Zurzeit sind das rund 770 000
Menschen. Glücklicherweise gehen die Erwartungen dahin, dass diese Zahl noch steigt. Das geschieht aber nicht
automatisch. Die neuen Arbeitsplätze entstehen nur,
wenn unsere Luftverkehrswirtschaft im internationalen
Wettbewerb bestehen kann. Einen wichtigen Schritt zur
Verbesserung der Wettbewerbssituation gehen wir heute
mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Denn wir schaffen damit die seit langem von allen
Seiten geforderte Rechts- und Planungssicherheit. Es
war einfach ein unhaltbarer Zustand, ein so altes Gesetz
zu haben, dass Richterrecht das geschriebene Recht
längst korrigierte. Gleichzeitig sichern wir letztlich im
Interesse aller durch abgestufte Bauverbote und -beschränkungen den Flughäfen notwendige Freiräume und
vermeiden zukünftige Nachbarschaftskonflikte.
Natürlich reicht das nicht aus. Gerade im Bereich der
Luftfahrt sind weitere Anstrengungen notwendig, um die
Zukunft dieser Wachstumsbranche zu sichern. Die notwendigen Ausbauvorhaben in München und Frankfurt
zeigen, wie wichtig die Verkürzung der Planungszeiträume in unserem Land ist. Zahlreiche EU-Vorhaben und
die allgemeine Entwicklung in der Branche - nicht zuletzt mit neuen Konkurrenten im Nahen Osten - bedürfen
der Begleitung. Auch im industriellen Bereich ist zum
Beispiel bei der Ingenieurausbildung regelmäßige Unterstützung wichtig.
Ein neuer Luft- und Raumfahrtkoordinator könnte dabei ausgesprochen hilfreich sein. Ich hoffe sehr, dass,
nachdem wir die Einführung der neuen maritimen Koordinatorin erleben konnten, hier nun bald ein entsprechender Ansprechpartner für die Luft- und Raumfahrt
zugegen sein wird.
Sicherlich ist nicht jeder mit diesem Gesetz rundherum zufrieden. Es bleibt die Frage, ob es nicht auf der
einen oder anderen Seite etwas weniger und auf der einen oder anderen Seite etwas mehr hätte sein können.
Tatsächlich - das haben wir gerade schon wieder erlebt versuchen einige, einen derartigen Wettbewerb zu starten. Sie fordern die Überprüfung schon nach fünf statt
nach zehn Jahren, hier ein paar Dezibel weniger und dort
ein paar Ausnahmen bei den Siedlungsbeschränkungen
mehr.
({6})
Wir werden uns - das sage ich Ihnen ganz deutlich - an
diesem Spiel nicht beteiligen. Zur Begründung möchte
ich Sie noch einmal kurz zu den Anfängen des Fluglärmschutzgesetzes entführen.
({7})
Vor 36 Jahren fasste der SPD-Abgeordnete Konrad die
Beratungen laut Protokoll wie folgt zusammen:
Das Fluglärmgesetz berücksichtigt in seiner heutigen Form die Gesichtspunkte, die ein solches Gesetz nun einmal berücksichtigen muß. Die gesundheitspolitischen und die wirtschaftspolitischen
Interessen sind vernünftig koordiniert, was politisch durchsetzbar und finanziell möglich ist, haben
wir beschlossen.
Vieles hat sich geändert, aber diese Zusammenfassung
galt damals und gilt heute. Deswegen bitte ich Sie alle:
Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich das Wort
dem Kollegen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
könnte sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir
haben lange, 35 Jahre lang, praktisch seit der letzten gesetzlichen Regelung, immer wieder über dieses Thema
diskutiert und in den letzten Monaten hart miteinander
gerungen, galt es doch, die Quadratur des Kreises schaffen zu müssen.
Ich glaube, dass sich das Ergebnis unserer Beratungen
sehen lassen kann. Es ist ein vernünftiger Kompromiss,
ein fairer Ausgleich zwischen dem Anliegen der Menschen nach Schutz vor übermäßigem Fluglärm und den
legitimen ökonomischen Interessen der Luftverkehrswirtschaft. Herr Kollege Carstensen hat schon darauf
hingewiesen, dass immerhin mehr als eine dreiviertel
Million Menschen direkt oder indirekt in der Luftverkehrswirtschaft beschäftigt sind. Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt.
({0})
Drei zentrale Ziele werden wir mit dieser Gesetzesnovelle erreichen: Das 35 Jahre alte Fluglärmgesetz - zuletzt Richterrecht - wird grundlegend modernisiert, der
Schutz der Menschen vor Fluglärm wird erheblich verbessert und es wird Rechts- und Planungssicherheit für
zukünftige Neu- und Ausbaumaßnahmen geschaffen.
Die Kollegen Dr. Nüßlein und Carstensen haben bereits
darauf hingewiesen, dass wir weg vom Richterrecht
wollten.
Ich will nicht all das wiederholen, was bereits vorgetragen worden ist, sondern zwei Aspekte ansprechen, die
in dieser Diskussion, wie ich glaube, von besonderer Bedeutung sind. Zum einen geht es um die vielfach kritisierte Ungleichbehandlung von bestehenden und neu gebauten bzw. wesentlich ausgebauten Flughäfen.
({1})
Hier gelten unterschiedliche Lärmgrenzwerte.
Richtig ist - das muss man sehen -: Die Lärmbelastung der Menschen ist in beiden Fällen gleich groß.
Wenn dennoch unterschiedliche Werte gelten, dann muss
man berücksichtigen, dass Flughäfen, die neu gebaut
oder wesentlich erweitert werden, die Möglichkeit haben, sich auf die damit verbundenen Kosten einzustellen
und diese Gelder zu erwirtschaften. Für bestehende
Flughäfen ist das aufgrund der Kapazitätsgrenze, die es
nun einmal gibt, so schnell nicht möglich.
({2})
Diese unterschiedliche Ausgangslage rechtfertigt eine
unterschiedliche Behandlung.
Bei Straßen und Schienen herrschen - auch das ist
schon gesagt worden - ähnliche Unterschiede: Der Neubau von Autobahnen und Schienenwegen erfolgt mit
Lärmschutz, an bestehenden Straßen und Schienen haben die Bürger darauf keinen Anspruch. Wir haben dazu
ein freiwilliges Programm aufgelegt. Im Übrigen sind
die Grenzwerte bei Schienenwegen und Straßen erheblich höher als die, die demnächst für bestehende Flughäfen gelten werden.
({3})
- Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie wie ich
neben einem alten Schienenweg wohnen würden, auf
dem nachts ein Güterzug fährt, dann hätten auch Sie
Spaß.
({4})
Der zweite Gesichtspunkt, den ich erwähnen möchte,
wurde in der letzten Zeit schon häufig angesprochen: Es
geht um die Frage, ob die Verlängerung einer bereits bestehenden Nachtfluggenehmigung als neues Kriterium
für eine weitere Verschärfung der Lärmgrenzwerte eingeführt werden sollte.
Man muss in der Tat sagen: Der entsprechende Vorschlag ist bedenkenswert. Denn Nachtflugverkehr
bringt, was ja niemand leugnen kann, zusätzliche Belastungen. Wenn man das durch schärfere Grenzwerte
mildern könnte, wäre das mehr als einen Gedanken wert.
Nur, wir haben auch zu sehen, dass diese Verschärfung
wegen der notwendigen Maßnahmen zu erheblichen
Mehrkosten führen würde. In Hannover-Langenhagen
werden diese Kosten auf 50 Millionen Euro geschätzt. In
Köln wäre der Betrag mit Sicherheit gleich hoch. Die
Folge wären höhere Gebühren und wegen der Kostensteigerungen bestünde die Gefahr einer Abwanderung
von Logistik- und anderen Unternehmen. Wir haben hier
eine schwierige Abwägung zu treffen. Nachtflugverbote
und -erlaubnisse sind Ländersache. Wir haben die Ministerpräsidenten gefragt. Ihr Votum war, sich für die
Arbeitsplätze zu entscheiden, gegen eine zusätzliche
Verschärfung der Grenzwerte. Das haben wir dann aufgegriffen und berücksichtigt. Aber ich gebe gerne zu,
das ist ein Thema, das auf der Tagesordnung bleibt.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
({0})
Ich kann es ganz kurz machen, Frau Präsidentin: Ich
bin mir sicher, dass wir dieses Thema weiter verfolgen
und spätestens in zehn Jahren erneut eine Diskussion haben werden. Wir werden in diesem Hause mit Sicherheit
noch viel über Lärm sprechen, vielleicht demnächst über
den Lärm an bestehenden Schienensträngen, der die
Bürger ähnlich quält. Ich hoffe, dass wir genauso kooperativ und konstruktiv zusammenarbeiten, und möchte
meine Rede beschließen mit einem Dank an alle, die
mitgearbeitet haben in der großen Koalition: Herr
Mühlstein und Herr Carstensen natürlich, bei uns Frau
Dött und Herr Dr. Lippold.
Herr Kollege!
Auch ein Dank an das Ministerium! Mein letzter
Dank geht an die Präsidentin, dass sie mit mir so viel
Geduld gehabt hat.
({0})
Damit sind wir am Ende dieser Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen auf Drucksache 16/508.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3813, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen, Drucksache 16/3863. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Prostimmen der
Linksfraktion, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
und Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses
abgelehnt.
Zum Gesetzentwurf liegen persönliche Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor von Michael
Hartmann ({0}), Elisabeth Winkelmeier-
Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Siegfried Kau-
der.1)
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diesem Gesetzentwurf zugestimmt haben die Abgeordneten
der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
({1})
- Bei Enthaltung eines Abgeordneten der CDU/CSU-
Fraktion.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Ge-
setzentwurf mit dem gleichen Abstimmungsverhältnis
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/3862? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der
FDP-Fraktion ist bei Zustimmung der FDP-Fraktion und
Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
tion Die Linke abgelehnt.
1) Anlagen 2 und 3
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3860? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke ist bei Zustimmung der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/3861. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/3813 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/263 mit dem Titel „Das
Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht modernisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Linksfraktion angenommen.
Unter Nr. III empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/551 mit dem Titel „Den Schutz der
Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist
bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2005 ({3})
- Drucksachen 16/850, 16/3561 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({4})
Elke Hoff
Paul Schäfer ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich hoffe, die Präsidentin sieht es
mir nach, wenn ich ausnahmsweise auch die Soldaten
auf der Zuschauertribüne herzlich willkommen heiße.
({6})
Seit meinem Amtsantritt im vergangenen Jahr bin ich
häufiger gefragt worden, was die gravierendsten Probleme bei der Bundeswehr seien. Anders gefragt: Wo
drückt den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr am meisten der Schuh? Manche erwarten auf derartige Fragen eine Zusammenfassung dessen, was aus
den etwa 6 000 Eingaben hervorgeht, die ich als Wehrbeauftragter Jahr für Jahr auf den Tisch bekomme. Eine
solche Zusammenfassung würde zumindest aus meiner
Sicht aber nur einen Teil der Realität widerspiegeln.
Meine Antwort auf diese doch recht komplizierte
Frage nach der Stimmung in der Truppe sieht sehr viel
einfacher und schlichter aus. Aus meiner Sicht bewegt
die Soldatinnen und Soldaten am meisten die Tatsache,
dass im soldatischen Alltag Anspruch und Wirklichkeit nicht selten weit auseinander klaffen. Zum Beispiel
wird bei der mit aller Kraft vorangetriebenen Transformation der Bundeswehr nicht ausreichend im Auge behalten, welche enormen Folgewirkungen sich aufgrund
der zusätzlichen Einsatznotwendigkeiten in den letzten
zehn Jahren für das Personal, für das Material und vor
allen Dingen für die Finanzausstattung ergeben haben.
Anspruch und Wirklichkeit liegen auch dann ein
Stück auseinander, wenn von den Verantwortlichen in
Politik und Bundeswehr die Leistungen der Soldatinnen und Soldaten zwar in höchsten Tönen gelobt werden, auf der anderen Seite gerade diese hoch gelobten
Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger im Portemonnaie haben und außerdem die Tatsache unerwähnt
bleibt, dass zwei Drittel aller Soldatinnen und Soldaten
zu den unteren Einkommensgruppen in unserer Gesellschaft gehören.
Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat einmal den ebenso schlichten wie eindrucksvollen Satz gesagt: „Sagen, was man tut, und tun, was man sagt“. Das
ist nicht nur eine Aufforderung zu mehr Glaubwürdigkeit in Politik und Gesellschaft, das ist im Grunde auch
eine wichtige Säule der so genannten inneren Führung
- „so genannt“ sage ich nur für diejenigen, die nicht jeden Tag mit der Bundeswehr zu tun haben -; denn aus
Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit erwächst Vertrauen. Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage für
die Menschenführung, für die Motivation, für die Einsatzbereitschaft und auch für die soldatische Kameradschaft.
Das Prinzip, sein Denken und Handeln immer an der
Glaubwürdigkeit auszurichten, gilt selbstverständlich
und in ganz besonderer Weise auch für mich als Wehrbeauftragten. Deshalb habe ich mir unmittelbar nach meiner Vereidigung einige Grundsätze vorgenommen, die
für meine Amtsführung bestimmend sein sollen und aus
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
meiner Sicht auch dazu beitragen können, Vertrauen und
Glaubwürdigkeit zu stärken.
Zu diesen Grundsätzen gehört, dass ich möglichst
nahe bei unseren Soldatinnen und Soldaten sein möchte.
Deshalb habe ich die Zahl der Truppenbesuche ausgeweitet und bin ich zwischenzeitlich dazu übergegangen,
in den Heimatstandorten fast nur noch unangemeldete
Truppenbesuche durchzuführen.
({7})
Darüber hinaus bin ich darum bemüht, einmal im Jahr
alle Einsatzgebiete aufzusuchen. Dies entspricht meinem
Verständnis von Basisnähe. Vor allem aber entspricht
das auch den Erwartungshaltungen der Soldatinnen und
Soldaten.
Daneben möchte ich als „Hilfsorgan des Bundestages“, wie es im Grundgesetz heißt, sehr gerne dabei helfen, die besonderen Themen der Bundeswehr in unser
Parlament hineinzutragen. Der Bundespräsident hat dankenswerterweise mehr Anteilnahme für die Soldatinnen
und Soldaten eingefordert, die ihre Gesundheit und ihr
Leben für unser Land einsetzen. Ich finde, das gilt erst
recht für den Deutschen Bundestag. Insofern verstehe
ich meine Aufgabe durchaus auch als eine Art Dienstleister, dessen Auftraggeber das Parlament ist. Meine gewonnenen Erkenntnisse, meine Erfahrungen und meine
Einschätzungen stehen deshalb selbstverständlich nicht
nur dem Fachausschuss und den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, sondern auch allen anderen Parlamentariern in sämtlichen Bereichen zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, dem Plenum liegt heute
mein Jahresbericht für das Jahr 2005 zur abschließenden
Beratung vor. Im Juni dieses Jahres konnte ich Ihnen
diesen ersten von mir verfassten Bericht bereits vorstellen. Das Aufzeigen der Mängel und Probleme in dem
Bericht stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse aus
rund 60 Truppen- und Informationsbesuchen.
Zum anderen liegen dem Bericht aber auch rund
5 600 Eingaben von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zugrunde. Das sind etwa 10 Prozent weniger als
im Jahr zuvor, also als im Jahr 2004. Heute, wenige Wochen vor dem Jahreswechsel, kann ich Ihnen berichten,
dass sich die Gesamtzahl der Eingaben im laufenden
Jahr deutlich erhöht hat; sie wird sich wieder bei etwa
6 000, auf das ganze Jahr bezogen, einpendeln.
Welche besonderen Probleme sich aus den Einschätzungen und der Transformation für die Truppe im
Jahr 2005 ergeben haben, konnte ich bereits im Rahmen
der ersten Beratungsrunde schildern. Ich erinnere an dieser Stelle nur kurz an einige wichtige Stichworte wie Beförderungsprobleme, Defizite in der Personalbearbeitung, Ausbildungs- und Ausrüstungsmängel oder an die
dienstlichen Belastungen im Inland, insbesondere im Sanitätsdienst.
Abgerundet hatte ich die Zusammenfassung meines
Berichtes mit dem notwendigen Hinweis, dass es den
Streitkräften nach wie vor an Finanzmitteln fehle. Vor
diesem Hintergrund registrieren es die Soldatinnen und
Soldaten mit Dankbarkeit, dass natürlich der Verteidigungsminister, aber insbesondere auch die Bundeskanzlerin und der Bundesminister der Finanzen in der
Haushaltsdebatte die Notwendigkeit einer besseren finanziellen Ausstattung der Streitkräfte unterstrichen haben. Für die Angehörigen unserer Streitkräfte wäre es zu
begrüßen, wenn das sowohl im nächsten Verteidigungshaushalt wie auch in der mittelfristigen Finanzplanung
seinen Niederschlag finden würde.
({8})
Meine Damen und Herren, sehen Sie es mir bitte
nach, wenn ich an dieser Stelle nicht auf aktuelle Themen eingehen möchte, die sich in jüngster Zeit oder im
Laufe dieses Jahres ereignet haben. Damit werden wir
uns im Rahmen des Jahresberichts 2006 naturgemäß zu
beschäftigen haben. Trotzdem mache ich keinen Hehl
aus meiner Freude über die Tatsache, dass alle Soldatinnen und Soldaten der jüngsten Kongomission bis zum
Weihnachtsfest wieder bei ihren Familien sein werden.
({9})
Die Soldatinnen und Soldaten dürfen wirklich stolz
auf ihren geleisteten Beitrag zur Friedenssicherung im
Zusammenhang mit den durchgeführten Wahlen im
Kongo sein. Das darf aber aus meiner Sicht nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mit Blick auf die Planung,
Errichtung und auch auf den Betrieb der Feldlager
sowohl in Kinshasa wie auch in Libreville in Gabun erhebliche Probleme gab, die es jetzt aufzuarbeiten gilt.
Deshalb bin ich außerordentlich froh, dass der Verteidigungsausschuss des Hohen Hauses sich gleich am Anfang des kommenden Jahres mit diesem Thema ausführlich beschäftigen wird.
Meine Besuche in den Einsatzgebieten haben aber
auch etwas anderes noch einmal sehr deutlich gemacht:
Die notwendige Debatte über den Sinn und Zweck der
Einsätze und die Transformation der Streitkräfte darf uns
nicht den Blick für die Sorgen und Nöte des einzelnen
Soldaten verstellen. Jede Entscheidung, die die Bundesregierung und das deutsche Parlament im Hinblick auf
die Streitkräfte treffen, hat am Ende ganz konkrete Auswirkungen auf den Auftrag und den Einsatz eines jeden
einzelnen Soldaten. Diese Auswirkungen ständig im
Blick zu behalten, ist Pflicht von uns allen. Wer hätte
mehr Grund, immer wieder darauf hinzuweisen, als der
Wehrbeauftragte, der nun einmal zum Schutz der Rechte
der Soldatinnen und Soldaten berufen ist.
({10})
Ganz ausdrücklich bedanken will ich mich an dieser
Stelle bei allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses für die ausgezeichnete Kooperation, beim Bundestagspräsidenten für seine persönliche Unterstützung und
eigentlich beim gesamten Parlament, bei Ihnen allen,
meine Damen und Herren, für die zumindest aus meiner
Sicht beispielhaft gute Zusammenarbeit und das ausgezeichnete Zusammenwirken. Mein Dank geht natürlich
auch an den Bundesminister der Verteidigung, Dr. Jung.
Der Dank geht ebenso an die politische und militärische
Führung seines Hauses und an alle nachgeordneten
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Dienststellen des BMVg. Nicht zuletzt danke ich allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Amtes für die
hervorragende Unterstützung, ohne die ich meine Arbeit
überhaupt nicht tun könnte.
({11})
In wenigen Tagen können wir das Weihnachtsfest feiern. Etwa 9 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten werden das Fest nicht bei ihren Lieben zu Hause, sondern irgendwo in der Welt, im Einsatz am Horn von Afrika, in
Afghanistan oder sonst wo, verbringen müssen. Lassen
Sie mich deshalb abschließend die Gelegenheit nutzen,
allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die in allen Teilen der Welt und auch an den Heimatstandorten für unser
Vaterland ihren wichtigen und oftmals auch gefährlichen
Dienst leisten, an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen.
Ich wünsche ihnen und ihren Angehörigen in der Heimat
ein friedvolles und gesegnetes Weihnachtsfest und für
das vor uns liegende Jahr das notwendige Soldatenglück
und stets eine gesunde Rückkehr in die Heimat. Ich bin
davon überzeugt, dass ich dies auch in Ihrer aller Namen
tun darf.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Anita Schäfer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Wehrbeauftragter, im Namen meiner Fraktion danke ich
Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre wichtige Arbeit,
die Sie im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Medienberichten der vergangenen Wochen musste die Bundeswehr viel Kritik über sich ergehen lassen. Es wäre jedoch falsch und verhängnisvoll, die Bundeswehr unter
Generalverdacht zu stellen. Die Vorgänge sind konsequent aufzuklären und nach individueller Verantwortung
zu beurteilen. Das Fehlverhalten Einzelner darf nicht
dazu führen, dass die überwiegende Zahl von Bundeswehrsoldaten, die höchst beachtliche Leistungen erbringen, diskreditiert wird.
Trotzdem zeigen uns die bedauerlichen Vorfälle in
Afghanistan, wie wichtig der Wehrbeauftragte als Frühwarnsystem ist. Seine Aufgabe gewinnt im Zeichen von
Transformation und Auslandseinsätzen erheblich an Bedeutung. Sie verlangt deswegen - auch und gerade in der
Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages - Fingerspitzengefühl.
Bedenken und Anregungen des Wehrbeauftragten
sollten zuerst in die parlamentarischen Gremien eingebracht werden, bevor es zu öffentlichen Stellungnahmen
kommt. Diese Reihenfolge sollte künftig wieder eingehalten werden. Ich denke, dass wir alle uns darüber einig
sind.
({0})
Herr Wehrbeauftragter, Ihr Jahresbericht 2005 zeigt
eindringlich auf, unter welchem enormen Druck die Soldaten durch den Transformationsprozess und die wachsende Zahl an Einsätzen stehen. Maßstäbe für menschliches Verhalten, wie sie die innere Führung setzt,
müssen für eine Armee im Einsatz Leitprinzip bleiben.
Die innere Führung ist unerlässlich, um den Soldaten ein
ethisches Rüstzeug zu vermitteln und sie für Fehlverhalten zu sensibilisieren. Sie ist ein dynamisches Konzept,
das den Soldaten unter sich wandelnden Bedingungen
Orientierung für menschliches Verhalten gibt. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Ankündigung von Minister Dr. Jung, dass die bundeswehrinterne Dienstvorschrift zur inneren Führung an die Herausforderungen
unserer Zeit angepasst werden soll.
Gerade im Auslandseinsatz brauchen wir mitdenkende und verantwortungsbewusst handelnde Soldaten.
Deswegen müssen den Soldaten rechtzeitig und gezielt
die politischen Hintergründe eines Einsatzes vermittelt
werden. Vor allem müssen sie mit den kulturellen, sozialen und religiösen Besonderheiten des jeweiligen Einsatzlandes vertraut gemacht werden.
Wir haben aber auch dafür Sorge zu tragen, dass die
innere Führung im multinationalen Einsatzverbund
Handlungsmaxime für die Bundeswehr bleibt. Sie darf
nicht auf Druck verbündeter Staaten ausgehöhlt werden.
({1})
Auf diese Verantwortung hat insbesondere die Deutsche
Bischofskonferenz in ihrer Denkschrift „Soldaten als
Diener des Friedens“ eindringlich hingewiesen.
Der EUFOR-Einsatz der Bundeswehrsoldaten im
Kongo geht fristgerecht zu Ende. Die ersten Soldaten
sind bereits heimgekehrt. Die Zielsetzung der Kongomission konnte bislang erreicht und ein neuer Bürgerkrieg verhindert werden. Für diese Leistung sind wir unseren Soldaten zu Dank verpflichtet.
({2})
In Afghanistan, auf dem Balkan, am Horn von Afrika
und an den Küsten des Libanon stehen deutsche Einheiten weiterhin in schwierigen Einsätzen. Gerade in
Afghanistan ist die sicherheitspolitische Situation gefährlich und unkalkulierbar. Das gilt auch für den Nordsektor und die Hauptstadt Kabul. Die Bundeswehr erfüllt
dort ihren Auftrag professionell und engagiert. Deswegen brauchen wir uns in Sachen Leistungsfähigkeit vor
keinem Verbündeten zu verstecken.
Der Bericht des Wehrbeauftragten macht allerdings
deutlich, dass der Sinn von Auslandseinsätzen den Soldaten besser vermittelt werden muss. Nur wenn die Soldaten von einem Einsatz überzeugt sind, bringen sie das
entsprechende Engagement mit. Wir müssen deswegen
vor jeder Entsendung transparent machen, für welche
Anita Schäfer ({3})
Werte, Ziele und Interessen unsere Soldaten notfalls
Leib und Leben zu riskieren haben. Dies haben Sie, Herr
Verteidigungsminister, in Ihrer Rede vor dem Zentrum
Innere Führung noch einmal klar herausgestellt:
Wir müssen die politischen Begründungen für Auslandseinsätze für den Staatsbürger mit und ohne
Uniform so einleuchtend wie möglich formulieren.
Denn die Überzeugungskraft der Begründung hat
unmittelbare Auswirkungen auf die Auftragserfüllung.
({4})
Wir sollten alles dafür tun, dass die Kommunikation mit
unseren Soldaten, aber auch mit der Bevölkerung diesem
Anspruch künftig gerecht wird.
Wenn die Entsendung in einen Einsatz beschlossene
Sache ist, müssen Ausrüstung, Versorgung und Schutzniveau der Soldaten stimmen. Das sollte an sich selbstverständlich sein.
({5})
Trotzdem sind in dem Bericht des Wehrbeauftragten
Beispiele für Ausstattungsmängel im Einsatz aufgelistet.
Darauf habe ich schon in meiner letzten Plenarrede deutlich hingewiesen. Die Stellungnahme des BMVg zu diesen Punkten wird dem Problem allerdings nicht immer
gerecht. Ich nenne exemplarisch die Verschleißerscheinungen am viel genutzten Einsatzfahrzeug Wolf und die
Klagen über die unzureichende Materialausstattung von
Kräften der NATO Response Force. Dieser Zustand ist
bedenklich. Ich hoffe, dass sowohl die politische als
auch die militärische Führung hier konsequenter Verbesserungsmaßnahmen treffen.
Auch mit Blick auf die EUFOR-Mission im Kongo
müssen wir die Kritik von Soldaten bezogen auf Unterbringungs-, Versorgungs- und Ausrüstungsmängel ernst
nehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass nach Beendigung dieses Einsatzes ein umfassender Evaluierungsbericht für den Verteidigungsausschuss erstellt wird. Nur
wenn wir die Schwachpunkte klar erkennen und die berechtigte Kritik unserer Soldaten aufgreifen, sind wir für
künftige Einsätze dieser Art gewappnet. So können wir
auch einem Vertrauensverlust bei den Soldaten entgegenwirken.
Der Bericht des Wehrbeauftragten lässt es an warnenden Hinweisen auf die Kluft zwischen Auftrags- und
Mittellage der Bundeswehr nicht fehlen. Ja, er sieht sogar die Bundeswehr an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Der Bericht liegt damit leider in Traditionslinie zu den Vorgängerberichten in den letzten
Jahren. Selbst im aktuellen Weißbuch ist von einem
„Spannungsverhältnis zwischen den verteidigungspolitischen Erfordernissen und dem finanziellem Bedarf für
andere staatliche Aufgaben“ die Rede. Dieses Spannungsverhältnis droht zu einem strukturellen Problem zu
werden. Wir sind, was die Haushaltslage angeht, keine
Illusionisten. Doch eines müssen wir klar herausstellen:
Es wäre fatal, wenn die deutsche Sicherheitspolitik ihre
Prioritäten nicht nach der Bedrohungslage, sondern nach
der Kassenlage setzt. Ich begrüße deswegen sehr, dass
die jetzige Regierung die knappe Mittellage bei der
Truppe erkannt hat und schon im Haushaltsjahr 2008
deutlicher gegensteuern will. Wir werden die Bundeskanzlerin hier beim Wort nehmen.
({6})
Die mittelfristige Finanzlinie ist sicherlich ein erster
wichtiger Schritt hin zur Stabilisierung des Einzelplans 14. Sie wird aber den vielfältigen Anforderungen
einer modernen Einsatzarmee nicht gerecht. Hier sind
neben dem Verteidigungsminister die Verteidigungspolitiker aller Fraktionen gefordert, konstruktive Vorschläge
einzubringen und gemeinsam mit den Haushaltspolitikern umzusetzen.
Die Einsatzrealität der Bundeswehr ist auch für die
Nachwuchssituation der Streitkräfte von zentraler Bedeutung. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird eindringlich festgestellt:
Insbesondere der Mangel an personellen Ressourcen erweist sich in zunehmendem Maße als Problem. Es betrifft den Bereich des Sanitätswesens
ebenso wie den der Operativen Information, der
Heeresfliegertruppe, der Feldjäger, Fernmelder oder
Pioniere.
Betroffen sind also gerade die Spezialisten, die das
Rückgrat bei Stabilisierungsoperationen bilden und gegenwärtige wie künftige Einsätze der Bundeswehr maßgeblich prägen.
Dies ist auch dem Weißbuch zu entnehmen. Dort wird
eine Zielgröße von maximal 14 000 Soldaten angegeben,
die gleichzeitig für Stabilisierungsoperationen einsetzbar
sein sollen. Angesichts der knappen Personalressourcen
bei Spezialisten wird diese Vorgabe nicht leicht zu erreichen sein. Fest steht: Das BMVg ist in der Personalfrage
sensibilisiert und leistet im Bereich der Nachwuchsarbeit
bereits Erhebliches.
Im Übrigen zeigt sich hier, meine Damen und Herren
von der Opposition, wie töricht Ihre Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht ist; denn ohne Wehrpflicht
müssten wir erhebliche Einbußen bei dem Gewinnen
von qualitativ hochwertigem Personal hinnehmen. Allein ein Drittel des länger dienenden Personals wird über
Wehrpflichtige gewonnen. Für die Qualitätsbasis der
Streitkräfte ist die Wehrpflicht also unverzichtbar. In diesem wichtigen Punkt schafft das neue Weißbuch endlich
Planungssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten.
({7})
Dabei ist allerdings für mich klar: Wir müssen noch
mehr in die Nachwuchswerbung und Möglichkeiten der
Weiterbildung bei den Streitkräften investieren. Sonst
kann die Bundeswehr in Konkurrenz zum zivilen Arbeitsmarkt nicht mithalten. Es wäre keine gute Entwicklung, wenn künftig die Truppe Abstriche bei ihrem Personal machen müsste, weil sie für Bewerber zu wenig
attraktiv ist. Gerade eine professionelle Einsatzarmee erfordert mehr denn je einen intelligenten, belastungs- und
leistungsfähigen Soldatentypus.
Anita Schäfer ({8})
Aus diesen Gründen ist es absolut inakzeptabel, dass
zwei Drittel der Soldatinnen und Soldaten zu den unteren Lohn- oder Einkommensgruppen gehören. Für ein
attraktives und konkurrenzfähiges Berufsbild Bundeswehr ist eine moderne Besoldungsordnung unverzichtbar. Am Ende der Debatte muss eine materielle Verbesserung der Soldaten stehen. Darüber hinaus müssen wir
die soziale Absicherung der Realität einer Einsatzarmee
anpassen. Dazu gehört insbesondere, im Einsatz versehrte Soldaten beruflich weiterzubeschäftigen. Selbstverständlich müssen wir auch eine Familienbetreuung
auf hohem Niveau gewährleisten. Herr Verteidigungsminister Dr. Jung, ich danke Ihnen im Namen unserer Fraktion ausdrücklich dafür, dass Sie in diesen wichtigen
Punkten beharrlich voranschreiten.
({9})
Soldat sein ist eben nicht irgendein Job. Wer für die
Sicherheit unseres Landes in gefährlichen Missionen den
Kopf hinhält, der verdient mindestens ein hohes Maß an
materieller und sozialer Absicherung. Er verdient darüber hinaus die besondere Anerkennung von Politik und
Gesellschaft.
({10})
Gerade wir Parlamentarier stehen hier in der Pflicht, uns
für ein neues Ethos des Soldatenberufes stark zu machen.
Meine Damen und Herren, all unseren Soldatinnen
und Soldaten wünsche ich an dieser Stelle ein gesegnetes
und vor allem ein friedvolles und friedliches Weihnachtsfest und ein gesundes, gutes neues Jahr 2007.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten abschließend im
Plenum. Deswegen, Herr Wehrbeauftragter Robbe, darf
ich Ihnen und besonders Ihren Mitarbeitern sehr herzlich
für die hervorragende Arbeit danken, die weit über die
Vorlage dieses Jahresberichts hinausgeht.
({0})
Ihr Amtsverständnis als ein öffentlich agierender Hüter der Interessen unserer Soldatinnen und Soldaten tut
zwar manchem in der Koalition hin und wieder weh,
aber bleiben Sie unbeirrt. Denn Ihr Kontrollauftrag und
Ihr Bericht sind auch deshalb glaubwürdig, weil Sie sich
durch zahlreiche unangekündigte Truppenbesuche ein
authentisches Bild verschaffen konnten.
Ich möchte diese Debatte am Ende des Jahres wie
meine Vorredner auch dazu nutzen, den Soldatinnen und
Soldaten zu danken, die für den Schutz unserer Freiheit
ihren hochverantwortlichen Dienst verrichten. Wir sollten den heutigen Tag auch zum Anlass nehmen, an diejenigen Soldatinnen und Soldaten zu denken, die das
Weihnachtsfest fern von der Heimat verbringen müssen.
({1})
Herr Robbe, Sie haben einen Brief an den Verteidigungsausschuss geschrieben, in dem Sie erneut auf
schwere Ausrüstungsmängel im Rahmen des Kongoeinsatzes aufmerksam gemacht haben. Die Bundesregierung müsste daraus Konsequenzen ziehen. Das Problem
scheint aber zu sein, dass sich der Verteidigungsminister
hinsichtlich der Ausbildungs- und Ausrüstungssituation in einer anderen Realität wähnt. Herr Jung, Sie haben mir gegenüber am 22. November behauptet, dass
wir unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich in riskanten Auslandseinsätzen befinden, eine optimale Ausbildung gewähren und eine optimale Ausrüstung mitgeben.
Glauben Sie das wirklich? Es müsste doch inzwischen
bekannt sein, dass gerade Personenschäden bei Anschlägen auf deutsche Soldaten hätten verhindert werden können, wenn Ihr Ministerium beispielsweise die am Markt
vorhandenen Jammer gegen Sprengfallen rechtzeitig beschafft hätte. Insofern waren die Ausrüstungsdefizite im
Kongo zwar ärgerlich, anderswo aber hatten sie unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Soldaten. Auch der nun endlich in Gang gesetzte beschleunigte Zulauf von 100 Dingo 2 im nächsten Jahr ist hier
nur ein nächster Schritt.
Sie schützen immer wieder fehlende Haushaltsmittel
vor. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Die Bundesregierung muss endlich deutlich machen, was ihr die zahlreichen Einsätze der Bundeswehr als Instrument der Außenpolitik wert sind. Die große Koalition hat im
Koalitionsvertrag vereinbart, dass sichergestellt werden
müsse, künftige Auslandseinsätze aus dem Einzelplan 60 zu finanzieren. Was haben Sie davon bisher umgesetzt? Nichts. Ähnlich inkonsequent zeigt sich die
Bundeskanzlerin: Ja, man brauche mehr Geld für die
Bundeswehr. Nein, 2007 gebe es noch keines. Wann
denn, bitte schön? Wie viel und wofür?
Besonders groß ist der Unmut derzeit im zentralen
Sanitätsdienst. Hier ist die Personalsituation derart angespannt, dass sich die Betroffenen auch öffentlich deutliches Gehör verschaffen. Die Bundesregierung verkauft
es schon als einen Erfolg, wenn die Beschaffung einer
Grundbefähigung geschützter Sanitätsfahrzeuge bis
2010 geplant ist. Andere Projekte muss sie sogar über
zehn Jahre hinweg strecken. Ich darf daran erinnern,
dass die Grundbefähigung lediglich die materielle Mindestanforderung für den Einsatz darstellt. Nach den eigenen Kriterien der Bundeswehr wäre der zentrale Sanitätsdienst nur bedingt einsatzfähig. Auch die personelle
Besetzung lässt bestenfalls diese Einschätzung zu: LeElke Hoff
diglich 55 Prozent der Truppenärzte stehen der truppenärztlichen Versorgung tatsächlich zur Verfügung. Statt
jedoch einzuräumen, dass es Probleme gibt und diese
ausgeräumt werden müssen, werden diejenigen, die den
Betrieb aus jahrelanger eigener Erfahrung gut kennen
und die Probleme artikulieren, als Einzelfälle gebrandmarkt, bei denen - wie es dann heißt - Inhalt und Ziel
der Transformation noch nicht in allen Köpfen angekommen sind.
Es muss beim Umgang mit der Bundeswehr bald zu
einem Paradigmenwechsel kommen; denn sonst verliert
sie als Arbeitgeber immer mehr an Attraktivität. Schon
heute müssen die Kriterien für diejenigen freiwillig länger Wehrdienst Leistenden herabgesetzt werden, die
nicht im Auslandseinsatz verwendet werden. Ich bin
froh, dass zumindest mit dem Weiterverwendungsgesetz nun hoffentlich der Anspruch auf Weiterbeschäftigung für im Einsatz zu Schaden gekommene Soldaten
geschaffen wird.
({2})
Ich hoffe, dass sich das Verteidigungsministerium hier
gegenüber dem Justizministerium durchsetzen wird. Der
aus diesem Bereich vorgebrachte Einwand, das Gesetz
verstoße gegen das Leistungsprinzip, ist aus meiner
Sicht unerträglich.
({3})
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, es bleibt für Sie
und uns alle im nächsten Jahr viel zu tun, um die Bundeswehr auf ihrem schwierigen Weg durch die Transformation zu begleiten. Dafür wünsche ich Ihnen und auch
uns weiterhin eine gute Hand. Bei allen Kollegen, insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen des Verteidigungsausschusses, darf ich mich für die gute Zusammenarbeit sehr herzlich bedanken.
({4})
Ich wünsche Ihnen ein frohes, ein glückliches, ein besinnliches Weihnachtsfest, einen guten Rutsch ins neue
Jahr und viel Gesundheit. Ich freue mich auf die weitere
Zusammenarbeit im nächsten Jahr.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Herr Minister! Meine Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Herr Wehrbeauftragter, recht herzlichen Dank Ihnen und Ihren Mitarbeitern für den Bericht und für die Arbeit. Aus der Fülle
der Themen, die in Ihrem Bericht auftauchen, werde ich
nur zwei oder drei Punkte herausgreifen.
Zitat:
Ohne die jungen Frauen ist in keiner Laufbahn eine
Bedarfsdeckung mehr zu erreichen.
Ein erstaunlicher Satz. Das war eine Feststellung, die wir
im Unterausschuss „Innere Führung“ zu hören bekommen haben;
({0})
siehe Protokoll vom 27. September 2006. Wer hätte sich
das vor einigen Jahren vorstellen können? Deshalb ist
die Frage des Umgangs mit Frauen und ihrer Integration
in die Bundeswehr immer ein besonderes Thema.
Nun kann man sagen: Immer das Gleiche; das haben
wir schon zigmal durchgekaut. - Aber so ist es eben und
auch im Bericht des Wehrbeauftragten ist das immer
wieder Thema.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Prozess der
Integration von Frauen in die Bundeswehr weiterhin
durch das Sozialwissenschaftliche Institut untersucht
und begleitet wird. Ich bin sehr gespannt auf den Bericht, der nächstes Jahr vorliegen soll.
Grundsätzlich geschieht die Integration von Frauen in
die Bundeswehr problemlos und störungsfrei. Das hat
der Wehrbeauftragte festgestellt und das ist auch unser
Eindruck, wenn wir die Truppe besuchen. Auch die Bundeswehr selber stellt es so dar.
Dennoch sind immer wieder auch Verbesserungen nötig, zum Beispiel beim Sprachgebrauch. Aus meiner
Sicht kommt es viel zu häufig zu verbalen Entgleisungen
und auch zu sexuellen Übergriffen, nicht nur von gleichrangigen Kameraden, sondern ebenso von Vorgesetzten.
Mangel in der Sprachdisziplin und im Führungsverhalten treten nicht nur im Umgang mit Frauen auf, was uns
der Bericht deutlich macht. Das Ministerium räumt hier
Handlungsbedarf ein. Ich erwarte allerdings, dass das
Ministerium nicht nur die Mängel, die im Bericht des
Wehrbeauftragten aufgeführt werden, einräumt, sondern
auch Vorschläge unterbreitet, wie diese abzustellen sind.
Zum Führungsverhalten noch ein Aspekt. Die Einrichtung, die Aufgaben, die Stellung und die Funktion
des Wehrbeauftragten finden meine volle Unterstützung.
Viele Länder holen sich Rat und Anregung zu dieser Institution. Trotzdem frage ich mich oft: Warum gehen die
Petenten mit ihren Problemen eigentlich nicht zu den
Vorgesetzten? Warum ist das Verhältnis offensichtlich
nicht so, dass sie davon ausgehen, ihre Vorgesetzten
würden sie anhören und etwas für sie tun?
Heute Morgen haben uns im Unterausschuss „Innere
Führung“ fünf Generäle zu dem Problem der grundsätzlichen Ausbildung und der einsatzbezogenen Ausbildung Rede und Antwort gestanden. Sie sind zu dem Vertrauensverhältnis gegenüber den Vorgesetzten und zu
Ausbildung und Supervision befragt worden. Der Generalinspekteur hat gesagt, die Persönlichkeitsbildung
müsse verbessert werden. Wir nehmen das so auf und
hoffen auf Besserung.
Darüber hinaus werfen natürlich die jüngst aufgetauchten Fotos von Soldaten Fragen auf: Sind unsere
Soldaten den psychischen Anforderungen und Belastungen gewachsen? Wären solche Vorkommnisse zu verhindern gewesen? Bestehen Defizite in der inneren Führung? Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass es sich hier
um Einzelfälle handelt. Nichtsdestotrotz müssen wir die
Fragen beantworten und gegebenenfalls Abhilfe schaffen.
Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass wir nicht
vorschnell Urteile fällen dürfen. Die Einstellung des
Verfahrens belegt, dass kein Straftatbestand vorliegt. Geschmacklos und blöde war diese Handlung trotzdem.
Mir haben die Bilder noch etwas gezeigt: Kameradschaft
hin oder her, wenn es einigen passt, geben sie Bilder
weiter, von denen man vorher gedacht hat, dass sie nur
ein Kamerad hat, dass es ein Jux ist und das Ganze unter
den Kameraden bleibt.
Meine Herren und Damen, wir Abgeordneten sind
uns der wachsenden Belastung durch Transformation
und eine steigende Zahl von Auslandseinsätzen durchaus bewusst. In unseren Wahlkreisen müssen wir uns
Diskussionen über Sinn und Unsinn, Zweck und Hintergründe von Auslandseinsätzen stellen. Viele, sehr viele
Bürger wollen diese Einsätze nicht. Sie verstehen sie
nicht und unterstellen uns Abgeordneten, dass wir leichtfertig und ohne uns der Konsequenzen bewusst zu sein
darüber entscheiden.
Wegen der Belastung liegt uns die psychologische
Betreuung während und nach dem Einsatz besonders
am Herzen. Der Einsatz von Truppenpsychologen gewinnt immer stärker an Bedeutung. Wir haben auch einige Psychologen in unserem Unterausschuss „Innere
Führung“ angehört.
Ich habe aber bedauerlicherweise den Eindruck, dass
wir es mit einem Verschiebebahnhof zu tun haben. Denn
die Gesamtzahl der dringend benötigten Psychologen
nimmt nicht zu; sie werden nur von einer Stelle zur anderen versetzt. Es ist sicherlich richtig, die Truppen im
Einsatz verstärkt zu betreuen. Gleichzeitig kann es aber
nicht sein, dass die psychologische Beurteilung zum
Beispiel bei der Einstellung von Zeitsoldaten wegfällt,
weil die Psychologen im Auslandseinsatz sind. So verschieben wir nur ein mögliches Problem und müssen
nachher unangenehme Folgen beklagen.
Hier sind wir Abgeordneten, insbesondere die Haushälter gefragt - ich sehe eine Haushälterin in unseren
Reihen -, sich des Problems anzunehmen. Vielfach handelt es sich um Probleme bei der Finanzierung.
Lassen Sie mich noch einmal zum Thema Frauen in
der Bundeswehr zurückkommen. Ich zitierte eingangs
die bemerkenswerte Feststellung, dass wir die Frauen in
der Bundeswehr brauchen. Eine ebenso bemerkenswerte
Erkenntnis ist, dass die Frauen bei ihrer Einstellung
nicht so ergebnisoffen sind, weil sie genau wissen, was
sie wollen. Dass Zielstrebigkeit ein Problem sein könnte,
ist schon ein bemerkenswerter Wandel in der Wahrnehmung. Ich weiß aber sehr wohl, wie das gemeint ist,
nämlich dass Frauen offensichtlich nicht jede Verwendung wollen. Die Aussage hat einen zweiten Aspekt,
nämlich dass Frauen bei der Bewerbung zurückhaltender
sind, weil sie bestimmte Vorstellungen hinsichtlich Angebot und Nachfrage haben.
Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
stellt sich immer wieder. Viele junge Frauen haben ganz
klare Vorstellungen von Teilzeit und Kinderbetreuung.
Wir wünschen uns natürlich, dass das nicht nur ein
Thema für Frauen ist. Wir wissen auch, dass sich viele
Männer über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Gedanken machen.
Mit dem Attraktivitätsprogramm haben wir versucht,
die Lage zu verbessern. Es bleibt jetzt abzuwarten, ob es
Wirkung zeigt.
Zum Schluss noch ein Wort an Sie, Herr Wehrbeauftragter. Herzlichen Dank für den Bericht! Wir danken für
die Empathie und die Hinweise. Aber ein Hinweis war
überflüssig. Denn Beschlüsse und Entscheidungen des
Bundestages hat der Wehrbeauftragte eigentlich nicht zu
kommentieren. Sie, Herr Robbe, waren immer ein sehr
autarker und unabhängiger Abgeordneter. Sie können
sich sicherlich in unsere Lage versetzen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Katrin Kunert, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste! Sehr geehrter Herr Robbe! Bundespräsident Köhler beklagt, dass die Deutschen ihrer Bundeswehr mit einem freundlichen Desinteresse begegnen.
Er wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes.
Das wünschen wir uns auch.
Sie, Herr Robbe, wollen diese Debatte fördern. Ich
darf Sie zitieren:
Die Soldatinnen und Soldaten sollen nicht allein gelassen werden mit ihrem unverzichtbaren Auftrag,
unser Land zu verteidigen sowie für Frieden, Freiheit und Menschenrechte auch außerhalb Deutschlands einzutreten.
Viele Menschen in unserem Land wollen mit Sicherheit eine solche Debatte führen. Aber wie, frage ich Sie,
soll das gehen, wenn sich diese Regierung ständig gegen
die Interessen der Mehrheit der Menschen im Land verhält?
({0})
So beschließt die übergroße Mehrheit von Rot-Schwarz
ständig mehr Auslandseinsätze, obwohl die Mehrheit der
Menschen mehr Sinn in humanitärer Hilfe sieht. Wer definiert eigentlich, was unverzichtbare Aufträge sind?
Ich stelle nach zwei Berichten des Wehrbeauftragten
fest: Nichts Neues in der Bundeswehr. Jahr für Jahr gibt
es die gleichen Probleme. Trotz eines Gesamtvolumens
in Höhe von 28 Milliarden Euro für den Verteidigungsetat im Bundeshaushalt gibt es erhebliche Defizite in der
Ausstattung und in der Betreuung der Soldatinnen und
Soldaten.
Skandalös ist für uns nach 16 Jahren deutscher Einheit die immer noch unterschiedliche Besoldung in Ost
und West,
({1})
die schrittweise bis 2009 aufgehoben werden soll. Entscheidungen für Auslandseinsätze werden in diesem
Haus schneller getroffen.
Die Kürzung des Weihnachtsgeldes wurde nicht zurückgenommen. Die Kasernen, insbesondere im Westen,
sind in einem schlechten Zustand. Hier braucht es einen
Aufbau West. Der Beförderungsstau macht immer noch
jedem Ferienstau Konkurrenz.
Schaut man sich die Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zum Bericht an, findet man dehnbare
Formulierungen wie „geeignete Maßnahmen“, „sind
fortwährend bemüht“ oder „verstärkt einfordern“.
Einschätzungen des Wehrbeauftragten, dass Erhebungen der Bundeswehr über das Gesamtausmaß des Syndroms der posttraumatischen Erkrankungen von Soldatinnen und Soldaten im Einsatz fehlen, müssen wir leider bestätigen. Das Verteidigungsministerium widerspricht dieser Aussage und verweist auf Daten aus dem
Jahre 1999. Diese Daten seien Grundlage für die umgesetzten Betreuungs- und Versorgungskonzepte.
Den wiederholten Hinweis, dass diese Erkrankung
auch bei der Feuerwehr und der Polizei auftrete, nehmen
wir nicht hin. Posttraumatische Erkrankungen treten in
der Bundeswehr seit Beginn der Auslandseinsätze auf.
Das ist genau der Punkt. Es darf nicht sein, dass ein junger Mann aus Afghanistan zurückkommt und ein halbes
Jahr nicht mehr spricht. Wissen Sie wirklich um die Bedingungen und Gefahren, wenn Sie deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland schicken? Wir bezweifeln
das sehr stark.
({2})
Der Wehrbeauftragte hat eine Bundesstiftung zur Entschädigung von Strahlenopfern angeregt. Das unterstützen wir.
({3})
Das Verteidigungsministerium hingegen hält dies für
nicht vertretbar. Warum nicht? Das werden wir noch einmal auf die Tagesordnung setzen.
Ich meine, dass die im Bericht immer wieder aufgezeigten Mängel ein Beleg dafür sind, dass nicht ernsthaft
an der Beseitigung der Mängel gearbeitet und so manche
Beschwerde bagatellisiert wird.
Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der gerade
in der heutigen Zeit für uns sehr wichtig ist. Nach Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss „Kurnaz“ wurde vorgeschlagen, die
Arbeit des Unterausschusses „Innere Führung“ wegen der Arbeitsbelastung nach dem Frühjahr 2007 einzustellen. Ausgerechnet der Ausschuss, der solche Vorkommnisse wie die in Afghanistan aufzuarbeiten hat,
soll eingestellt werden? Der Ausschuss, der die Fragen
der Nachwuchswerbung begleiten muss, der sich mit den
Kriterien der Eignungsprüfung stärker zu befassen hat
und der in besonderem Maße Verantwortung für die politische Bildung und Vermittlung gesellschaftlicher Werte
trägt, muss weiterarbeiten - und dies in einer besseren
Qualität.
({4})
Wenn man eine Sitzung dieses Ausschusses in letzter
Minute auf 7.30 Uhr ansetzt und man verkehrstechnische Probleme hat, dann ist es wirklich schwierig, daran
teilzunehmen. Man muss diese Termine auch richtig planen.
({5})
Die im Bericht des Wehrbeauftragten aufgelisteten
Mängel stehen auch im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen. Das wiederholte Versagen der Verantwortlichen in der Bundeswehr im Rahmen der Ausbildung und
der Vorbereitung auf Auslandseinsätze sowie der psychische Stress für die Soldatinnen und Soldaten bei Auslandseinsätzen bestärken die Fraktion Die Linke in ihrer
Forderung, den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus
Afghanistan einzuleiten.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Reinhold Robbe! Kollegin Kunert, eine
Klarstellung, was das weitere Tagen des Unterausschusses „Innere Führung“ angeht: Schon vor Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss hatten wir vereinbart, dass der Unterausschuss
an sein Beratungsende gekommen ist. Wir stellen ihn
also nicht zugunsten des Untersuchungsausschusses ein,
sondern haben intensiv genug beraten und kommen jetzt
zu einem Ergebnis.
({0})
In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten
50 Jahre alt. Da trifft es sich sehr gut, dass vor wenigen
Tagen hierzu ein etwas weniger trockener Bericht, als es
eine Bundestagsdrucksache ist, vorgestellt wurde. Es ist
ein wirklich ansehnliches Büchlein über das Amt des
Wehrbeauftragten und nicht so voluminös wie manch
andere Bände aus diesem Hause, die möglicherweise
waffenscheinpflichtig sind. Es ist sehr zu empfehlen.
Ihm ist einiges über die Entstehung des Amts des
Wehrbeauftragten zu entnehmen. Die Idee ist von dem
SPD-Abgeordneten Ernst Paul in den Bundestag eingebracht worden. Man hat sich damals das entsprechende
Amt in Schweden als Vorbild genommen. Dort heißt es:
„Militie-Ombudsman“. Der damalige Bundeskanzler
Adenauer war massiv dagegen. Der Bundestag hat es
hinbekommen, diese Einrichtung zu installieren. Offensichtlich waren die meisten Fraktionen dafür.
Es wird in diesem Buch auch richtig festgestellt, dass
dieses Amt in der deutschen Verfassungs- und Militärgeschichte ohne Beispiel ist. Inzwischen ist es längst
selbstverständlich und unverzichtbar. Es ist also gut,
dass es dieses Amt gibt, und sehr gut, dass es so gut ausgefüllt wird. Danke schön Ihnen, Herr Robbe, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern!
({1})
Seit der Vorlage des letzten Berichtes im März haben
sich einige Grundprobleme verschärft. Dieser Bericht ist
ja überwiegend ein Mängelbericht. Es wird unter dem
Kapitel „soldatisches Fehlverhalten“ vermerkt, dass
es in diesem Bereich eine nicht unerhebliche Dunkelziffer gebe. Diese Aussage hat sich dann ja in unerwarteter
Weise mit den berühmt-berüchtigten Skandalfotos und
ihrer Veröffentlichung bestätigt. Die dort gezeigten makaber-obszönen „Spiele“ wurden vor sieben Wochen
einhellig verurteilt; ihnen wurde sehr genau nachgegangen und in der Sache wurde entschieden ermittelt. Die
befürchteten gefährlichen Reaktionen in Afghanistan
blieben glücklicherweise aus. Zugleich wurde aber auch
Folgendes deutlich, nämlich dass es in der Tat offensichtlich einzelne Fälle waren, dass es sich dabei also
nicht um die Spitze eines Eisbergs handelte.
Auch etwas anderes wurde hoffentlich noch etwas
deutlicher, dass nämlich die Anforderungen, die heutzutage an Soldaten in solchen Einsätzen gestellt werden,
enorm groß sind. So genannte Robustheit wird erwartet, auch Sensibilität und Verhaltenssicherheit - und das
alles von jungen Soldaten. Das sind Anforderungen, die
hierzulande so in normalen Berufen nicht gestellt werden. Eine enorme Herauforderung besteht darin, in der
Ausbildung darauf vorzubereiten und durch Menschenführung dazu anzuhalten. Ich habe den Eindruck - er
wird von den verteidigungspolitischen Kollegen bzw.
Kolleginnen weitestgehend geteilt -: Diese Herausforderung wird von der Bundeswehr insgesamt bemerkenswert gut gemeistert.
({2})
Verschärft haben sich in diesem Jahr die Zweifel am
Sinn von Einsätzen. In diesem Zusammenhang sind zu
nennen: die krisenhafte Entwicklung in Afghanistan, der
neue, zuerst sehr umstrittene Dauereinsatz vor der Küste
des Libanon und schließlich der EU-Einsatz im Kongo,
der ganz besonders umstritten war und dessen Rahmenbedingungen - Stichworte: Unterbringung, Feldlager auch wirklich unzumutbar waren. Umso erfreulicher ist,
dass der Eufor-Einsatz in der waghalsig knappen Zeit
von vier Monaten erfolgreich abgeschlossen werden
konnte. Zur Erinnerung: Der andere Kongoeinsatz, an
dem sich die Bundeswehr beteiligt hat - das war „Artemis“ im Jahre 2003 -, war ebenfalls sehr erfolgreich, allerdings ist er kaum in das öffentliche Bewusstsein gelangt.
({3})
Umso dringlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass
endlich eine Gesamtbilanzierung und Auswertung von
Auslandseinsätzen geleistet werden. Es ist gut, aber
nicht ausreichend, wenn die grüne Partei auf ihrem Parteitag beschlossen hat, das selbst vorzunehmen. Wir tun
das gern. Aber das sollte auch vom Parlament insgesamt
und von der Regierung geleistet werden.
({4})
Dass der Wahlprozess im Kongo so gut vonstatten
ging - manche sprechen hier sogar von einem irdischen
Wunder -, ist ein Gemeinschaftswerk von vielen. Es
wäre angemessen, öffentlich den Deutschen zu danken,
die dazu beigetragen haben, den Wahlbeobachterinnen
und Wahlbeobachtern, den Soldaten, Diplomaten, den
deutschen MONUC-Mitarbeitern. Das sollte, so meine
ich, im nächsten Jahr mit einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung von Bundesregierung und Parlament
geschehen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile das Wort Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Bericht des Wehrbeauftragten veranlasst mich, zunächst
einige grundsätzliche Anmerkungen zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zu machen, die von der
Mehrheit dieses Hauses gebilligt wird. Es ist eine Politik, die seit 1990 zunehmend auf die Bundeswehr als
Instrument zur Gestaltung der Außenpolitik setzt.
Dabei gerät total in Vergessenheit, dass die außenpolitischen Erfolge vor der Wende mit diplomatischen Mitteln
errungen wurden: nach Westen durch die europäische Integration, nach Osten durch die Politik Willy Brandts
und den KSZE-Prozess.
({0})
Beides basierte übrigens auf einem klaren Konzept.
Davon kann heute keine Rede mehr sein. Wie ihre
Vorgängerregierungen schwankt auch die große Koalition zwischen Großmannssucht und Vasallentreue zur
USA. Altkanzler Helmut Schmidt sieht das anscheinend
ähnlich - ich zitiere -:
Die NATO ist ein militärisches Verteidigungsbündnis,
- hören Sie gut zu dem der potenzielle Feind abhanden gekommen ist.
Und jetzt suchen die militärischen und diplomatischen Bürokraten des Bündnisses neue Aufgaben
… Die Aufgabe der Verteidigung im Notfall muss
bestehen bleiben. Aber deswegen muss ich mich
nicht verpflichtet fühlen, im Irak oder Syrien die
Demokratie zu verwirklichen …
({1})
Da würde ich zurückhaltend sein, auch bei den so
genannten friedenserhaltenden militärischen Missionen … Ich habe mich nie als politischer Zwerg gefühlt, aber auch keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat
angestrebt.
Zitiert nach „Focus“-Interview, 24. Kalenderwoche 2005.
({2})
- Ja, das ist eine Schande. Herr Tauss, wir müssen uns
aber auf ihn berufen, weil Sie sich von seiner Politik
vollkommen abgekehrt haben.
({3})
Diese Haltung stünde auch der Bundesregierung gut
zu Gesicht; stattdessen erklärt sich die Merkel-Regierung zum Hilfsweltpolizisten, wie man dem jüngsten
Weißbuch entnehmen muss. Hat diese Regierung aus
dem sich abzeichnenden Desaster in Afghanistan nichts
gelernt? Offensichtlich nicht. Sonst würde der Verteidigungsminister nicht öffentlich über einen Einsatz im Sudan nachdenken.
({4})
Die Soldaten unseres Landes müssen in nicht wenigen Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren. Ihnen dafür
auch noch das Weihnachtsgeld um 70 Prozent zu kürzen,
halte ich für unverschämt. Das zeigt die Wertschätzung,
die diese Regierung ihren Soldaten entgegenbringt, am
deutlichsten.
Was ich im Jahresbericht 2005 vermisse, sind klare
Aussagen zum Prinzip der inneren Führung und zum
Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Ich sage das,
weil ich mit Sorge sehe, dass im Kopf des einen oder anderen Spitzenmilitärs seit Jahren ganz andere Leitbilder
herumspuken. Immerhin wünscht sich der Inspekteur
des Heeres den „archaischen Kämpfer“ und den Hightechkrieger. Offensichtlich soll das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform entsorgt werden, weil es einigen in
einer Einsatzarmee lästig geworden ist.
({5})
Ich fordere den Wehrbeauftragten auf, diesen gefährlichen Tendenzen in der Bundeswehrführung mit größtmöglicher Schärfe entgegenzutreten; andernfalls könnten Bilder, wie wir sie seit Jahren aus dem Irakkrieg
kennen, zur Regel werden, allerdings dann mit Beteiligung deutscher Soldaten. Das kann niemand wollen.
Selbst auf die Gefahr hin, dass ich gleich unterbrochen werde, wünsche ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern ein friedvolles Weihnachtsfest, einen guten Rutsch
ins neue Jahr. Insbesondere wünsche ich den Mitgliedern
des Verteidigungsausschusses, dass ihrem Weihnachtsurlaub nicht durch irgendeinen unsinnigen militärischen
Auslandseinsatz unterbrochen wird.
Danke schön.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Fograscher,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend
den Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten. Eine Vielzahl von Problemen, die darin aufgelistet ist, wird uns
im kommenden Jahr und darüber hinaus beschäftigen
müssen.
Der Bericht zeigt auf, wo Handlungsbedarf besteht.
Vieles lässt sich nur lösen - das ist schon angesprochen
worden -, wenn die Bundeswehr in Zukunft die finanzielle Ausstattung erhält, die sie ihren Aufgaben entsprechend braucht. Dazu gehört neben der besten Ausrüstung - das haben die Vorrednerinnen und Vorredner
bereits angesprochen - auch die angemessene Besoldung und gute Aufstiegsmöglichkeiten für Soldatinnen
und Soldaten.
Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die unterschiedliche Besoldung in Ost und West immer noch
nicht beseitigt. Beim täglichen Dienst im In- oder Ausland spielt es keine Rolle, ob jemand aus den neuen oder
aus den alten Bundesländern kommt. Die Angleichung
der Besoldung im einfachen und mittleren Dienst soll bis
Ende 2007, für höhere Dienstgrade bis 2009 vollzogen
sein. Da es sich laut Stellungnahme der Bundesregierung
um eine überschaubare Anzahl von Betroffenen handelt,
wäre es ein gutes und richtiges Signal, diesen Zeitrahmen nicht auszuschöpfen.
Ein weiterer Punkt, der in der Truppe Frustrationen
und Enttäuschungen verursacht, sind die unzureichenden
Beförderungschancen. Es gibt in allen Dienstgradgruppen zu wenige Planstellen. Überall entstanden in der
Vergangenheit Wartezeiten, die je nach Teilstreitkraft
unterschiedlich ausfallen.
Das Attraktivitätsprogramm hat eine Verbesserung
bei Beförderung und Besoldung geschaffen. Allein in
den Jahren 2002 bis 2005 gab es zusätzliche Besoldungsverbesserungen für 34 600 Mannschaftsdienstgrade und
zusätzlich 35 100 Beförderungen für alle Laufbahnen,
davon allein rund 26 700 für Feldwebeldienstgrade. Natürlich löst das Attraktivitätsprogramm den langjährigen
Beförderungsstau nicht in kürzester Zeit auf. Aber es ist
notwendig - darüber freue ich mich -, dass das Attraktivitätsprogramm mit den im Haushalt 2007 vorgesehenen
Verbesserungen fortgesetzt wird. Damit werden rund
3 400 zusätzliche Beförderungen ermöglicht.
({0})
Weitere Probleme bei Besoldung und Laufbahn müssen im Rahmen der Novellierung des Öffentlichen
Dienstrechts unter Federführung des BMI gelöst werden.
Hier gilt es, sich rechtzeitig in die Diskussion einzuschalten, damit den besonderen Bedürfnissen der Soldatinnen und Soldaten Rechnung getragen wird. Wir haben
es vorhin schon gehört: Zwei Drittel von ihnen sind im
unteren und mittleren Dienst. Auch dem muss Rechnung
getragen werden.
Neben diesen und vielen anderen Problemen, die nur
zu lösen sein werden, wenn mit den Aufgaben auch die
finanzielle Ausstattung wächst, zeigt der Bericht auch
andere Missstände in der Truppe auf. Probleme der Gesellschaft machen auch vor der Bundeswehr nicht Halt.
Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft und
hat ähnliche Probleme wie die Zivilgesellschaft.
Der Bericht zeigt Beispiele von respektlosem Verhalten bis hin zu Körperverletzungen und Misshandlungen.
Missbrauch von legalen und illegalen Drogen wird
ebenso geschildert wie rechtsextremistische Vorkommnisse. Zwar ist die Zahl der Taten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen gering und in den
vergangenen Jahren fast gleich geblieben, doch jede einzelne rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motivierte Tat - sei es auch nur ein Propagandadelikt - ist
eine zu viel. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen weder in der Bundeswehr noch in der
Gesellschaft Platz haben.
({1})
Hier gilt es, weiterhin wachsam zu bleiben und präventive und erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Wo es
nötig ist, muss auch mit disziplinarrechtlichen Maßnahmen bis hin zum Ausschluss aus der Truppe reagiert
werden.
Bei Übergriffen und Fehlverhalten haben die Soldatinnen und Soldaten das Recht, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden. Sie nutzen es auch. Ich will sie auch
dazu ermutigen, Vorkommnisse direkt an den Vorgesetzten zu melden.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist eine Auflistung
von Problemen und Mängeln in der Truppe. Ich möchte
Ihnen, Herr Robbe, dafür danken, dass Sie auch Positives in den Bericht aufgenommen haben. Kameradschaft und Solidarität sind vor allem in den Auslandseinsätzen unverzichtbar. Sie haben diese Eigenschaften
der Soldatinnen und Soldaten an anschaulichen Beispielen in Ihrem Bericht eindrucksvoll beschrieben.
Ich möchte zum Schluss allen Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz danken. Mein Dank gilt auch dem
Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen und
Nöte der Truppeangehörigen haben.
Ich darf Ihnen das Buch „Zum Schutz der Grundrechte …“, das in dieser Woche vorgestellt wurde, empfehlen. Es enthält interessante Details zur Historie des
Wehrbeauftragten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 16/850 und 16/3561. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN
Aufhebung der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen
- Drucksache 16/2523 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Axel Troost, Fraktion Die Linke, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Nacht
aus dem Nichts zu Geld zu kommen, das ist - ich sage es
ganz vorsichtig - eine angenehme Vorstellung. Für die
meisten Menschen bleibt das ein unerreichbarer Wunsch,
bei einigen klappt es aber sehr gut, zum Beispiel beim Familienunternehmen Merck, das um 400 Millionen Euro
reicher geworden ist, als im Sommer dieses Jahres die
Übernahmeschlacht um die Schering AG tobte.
Was war passiert? Der Vorstand der Schering AG
hatte sich für eine Übernahme durch die Bayer AG ausgesprochen. Diese Situation nutzte das Familienunternehmen Merck aus und kaufte, ganz im Stile eines
Hedge-Fonds, massiv Schering-Aktien an der Börse. Um
die Übernahme wie geplant durchführen zu können,
musste die Bayer AG diese Aktien dann von Merck zurückkaufen, freilich zu einem deutlich höheren Preis.
Das Ergebnis dieses Spekulationsgeschäfts war ein Ertrag in Höhe von rund 400 Millionen Euro - über Nacht,
aus dem Nichts und vor allem steuerfrei.
({0})
Diese 400 Millionen Euro wurden, steuertechnisch
gesprochen, als Veräußerungsgewinn verbucht. Veräußerungsgewinne sind seit der rot-grünen Unternehmensteuerreform aus dem Jahre 2000 steuerfrei. Das, meine Damen und Herren, ist eine der größten steuerpolitischen
Ungerechtigkeiten, die den Bürgerinnen und Bürgern in
den letzten Jahren zugemutet wurde.
({1})
Dazu sagt die Fraktion Die Linke: Das muss geändert
werden und das kann auch geändert werden.
({2})
Wir müssen Veräußerungsgewinne wieder besteuern,
wie es auch in den meisten anderen westeuropäischen
Staaten üblich ist. Dadurch würde nicht nur mehr Steuergerechtigkeit geschaffen, sondern dadurch könnten
wir auch noch zwei weitere Ziele erreichen:
Erstens würden wir dafür sorgen, dass wir wieder mehr
Geld in die öffentlichen Kassen bekommen, nämlich rund
2 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will daran erinnern: Dieser Betrag entspricht in etwa der Größenordnung, die
durch die Abschaffung der Entfernungspauschale ab dem
Jahr 2007 für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
als Belastung bzw. für die öffentlichen Kassen als Mehreinnahmen entsteht.
Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt:
Leere öffentliche Kassen sind kein Naturgesetz. Leere
öffentliche Kassen sind das Ergebnis einer Steuerpolitik,
durch die an Unternehmen und Besserverdienende Steuergeschenke verteilt wurden.
({3})
Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt aber
auch: Diese Steuerpolitik kann geändert werden. Dafür
bräuchte man aber den politischen Mut, Entscheidungen
zu treffen, die die Besserverdienenden und die Unternehmen Geld kosten.
({4})
Würden wir Veräußerungsgewinne besteuern, könnten wir - das ist das zweite Ziel unseres Antrags - auch
den Einfluss von Hedge-Fonds und Private-EquityFirmen zurückdrängen. Eine Strategie dieser Finanzmarktakteure besteht darin, Firmen billig aufzukaufen,
sie anschließend zu „sanieren“ - so wird Arbeitsplatzvernichtung in den Chefetagen genannt - und dann teuer
zu verkaufen. Genau diese Strategie wird durch den
Steuerzahler bezuschusst, und zwar dadurch, dass die
entstehenden Gewinne steuerfrei sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, man
kann nicht immer wieder - auch auf sehr populistische
Weise -, fordern, dass das Problem der Heuschrecken
gelöst werden muss, und gleichzeitig darauf verzichten,
Steuern auf Veräußerungsgewinne zu erheben.
({5})
Wir brauchen eine Politik, die andere Schwerpunkte
setzt. Wenn man sich die Aussagen der Bundesregierung
vor Augen führt - wahrscheinlich werden diese Argumente auch in dieser Debatte angeführt -, dann stellt
man fest - ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage -, dass
durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen … althergebrachte Beteiligungsstrukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen
werden sollen.
({6})
Natürlich besteht in Einzelfällen, zum Beispiel bei
Umstrukturierungen und bei Entflechtungen von Unternehmen, die Notwendigkeit dazu; das stelle ich nicht infrage. Aber ich sage: Die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen ist ein untaugliches Instrument, um dieses
Ziel zu erreichen.
({7})
Denn es wird eben nicht im Einzelfall geprüft, was
gefördert werden sollte und was nicht. Stattdessen wird
nach dem Gießkannenprinzip verfahren: Jeder Veräußerungsgewinn wird subventioniert, auch wenn dahinter
kein sinnvolles Umstrukturierungsinstrument steht.
Dies heißt, in der Regel sind die Verlierer die Beschäftigten. Deswegen sind wir der Ansicht: Hier muss
eine Veränderung durchgeführt werden. Eine Steuerpolitik, die solche Praktiken auch noch subventioniert, ist
nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspolitisch falsch und finanzpolitisch abenteuerlich. Wir bitten
Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Wir brauchen
die Aufhebung der Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Ulrich Krüger,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die rot-grüne Bundesregierung hat im
Jahre 2000 mit dem Steuersenkungsgesetz ein modernes und international wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht für Deutschland auf den Weg gebracht, welches heute, unter der großen Koalition, fortbesteht und
den Bürgern und den Unternehmen in unserem Lande
viele finanzielle Erleichterungen verschaffen konnte.
Dieses Steuersenkungsgesetz hat einen wichtigen Beitrag zum heutigen Aufschwung geleistet und hat - daran
besteht für mich kein Zweifel - auch zu den jetzt spürbaren Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt beigetragen.
({0})
Mit diesem in der Geschichte der Bundesrepublik bis
dahin größten Steuerreformpaket mit einer Absenkung
der Steuerbelastung in Höhe von sage und schreibe
75 Milliarden DM ist der Grundstein für eine dringend
benötigte Finanzreform gelegt worden. Der Mittelstand
wurde mit 14 Milliarden DM entlastet. Die wichtigste
und für jeden Einzelnen spürbare Auswirkung dieses
Gesetzes war die Senkung der Steuersätze. So wurden
der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, der Körperschaftsteuersatz auf 25 Prozent und der Eingangssteuersatz, in
mehreren Stufen, von 26 Prozent auf gerade noch
15 Prozent abgesenkt, mithin um ein Drittel reduziert;
dieses Beispiel ist schon mehrfach angeführt worden.
({1})
Wenn wir heute sagen können, dass ein Familienvater,
verheiratet, mit zwei Kindern, bis zu einem Jahreseinkommen von 37 500 Euro bei Einbeziehung des Kindergeldes keine Steuern zahlt, dann ist das nach wie vor erwähnens- und bemerkenswert.
({2})
Das waren aber keine irrationalen Steuergeschenke;
das war vielmehr der notwendige Beitrag, die Steuern
bei Unternehmen und die Steuern bei Privaten gleichwertig zu senken. Dazu gehörten allerdings auch der
Wechsel zum so genannten Halbeinkünfteverfahren und,
logisch konsequent, die Steuerfreiheit von Dividenden
innerhalb der Unternehmensebene und von Gewinnen
aus der Veräußerung von Anteilen bei Kapitalgesellschaften. Diesen Zusammenhang bitte ich zur Kenntnis
zu nehmen; davon steht nämlich nichts in Ihrem Antrag.
Das Halbeinkünfteverfahren trat notwendigerweise
an die Stelle des eben nicht europatauglichen Vollanrechnungsverfahrens. Es bewirkt, dass nach Vorbelastung auf der Unternehmensebene auf der Ebene des Anteilseigners Einnahmen aus Beteiligungen nur zur Hälfte
in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer
eingestellt werden. Insgesamt ergab sich bzw. ergibt sich
durch diese Maßnahme eine Belastung der ausgeschütteten Gewinne, die der steuerlichen Belastung bei anderen
Einkunftsarten angenähert ist. Anders ausgedrückt: Die
Gleichbehandlung von Dividenden mit anderen Einkünften lässt sich nur erreichen, wenn Ausschüttungen zwischen Körperschaften nicht besteuert werden.
Für den vollzogenen Systemwechsel zum Halbeinkünfteverfahren sprachen und sprechen diverse Vorteile:
Das Halbeinkünfteverfahren ist klar und transparent,
weil die Ebene der Kapitalgesellschaft klar von der
Ebene der Anteilseigner getrennt wird. Das Halbeinkünfteverfahren ist wettbewerbsneutral und europatauglich. Demgegenüber war das Vollanrechnungsverfahren
nur ein nationales Mittel; es beseitigte lediglich die steuerliche Doppelbelastung bei einem Anteilseigner und
seiner Gesellschaft innerhalb Deutschlands. Last not
least: Das Halbeinkünfteverfahren hat gezeigt, dass es
konsequent kumulative Mehrfachbelastungen innerhalb
von Konzernen und Beteiligungsstrukturen vermeidet.
Wirtschaftlich gesehen stellt der Veräußerungsgewinn
den Wert der Rücklagen der veräußerten Kapitalgesellschaft dar. Diese setzen sich aus offenen Rücklagen und
stillen Reserven zusammen. Hier wird dann unterschieden: Offene Rücklagen sind mit 25 Prozent Körperschaftsteuer belastet, stille Reserven nur dann, wenn das
entsprechende Wirtschaftsgut, beispielsweise ein Grundstück, veräußert wird.
Damit eine Doppelbesteuerung vermieden wird, sind
bei der Anteilsveräußerung zwischen Kapitalgesellschaften im neuen System der Körperschaftsteuer Veräußerungsgewinne konsequenterweise steuerfrei. Eine Besteuerung bereits bei der Anteilsveräußerung, wie hier
gefordert wird, würde im aktuellen System eine nicht gerechtfertigte Doppelbesteuerung der offenen und stillen
Reserven auslösen.
Wir haben erreicht, dass durch die Steuerbefreiung
von Veräußerungsgewinnen althergebrachte Beteiligungsstrukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen worden
sind,
({3})
dass die Positionierung dieser Unternehmen im internationalen Wettbewerb optimiert wurde und dass das Steueraufkommen in Deutschland gesichert wurde. Wenn im
Jahre 2006, nach dem Systemwechsel, Kapitalertragsteuer in Höhe von 11 Milliarden Euro anfallen wird,
wenn wir nach der Senkung des Körperschaftsteuersatzes von 40 Prozent auf 25 Prozent heuer Einnahmen in
Höhe von 23 Milliarden Euro, also in gleicher Höhe wie
seinerzeit bei dem höheren Steuersatz haben werden, ist
dies ein Beweis dafür, dass der Ansatz, der beim Steuersenkungsgesetz 2000 gewählt wurde, in die richtige
Richtung ging und geht.
({4})
- Ich danke für den Zwischenruf, Frau Kollegin. Dies
wird leider vielfach vergessen, auch in diesem Antrag.
Stattdessen wird ausgeführt, es gäbe Fälle, in denen rein
spekulative Faktoren den Beteiligungswert bestimmten
und nach erfolgreicher Spekulation unversteuerte Gewinne gemacht würden. Dem ist entgegenzuhalten:
Ebenso wie ein erhöhter Börsenkurs eine Entsprechung
in den stillen Reserven des Firmenwerts haben kann und
eben nicht in einer Spekulation, ist es möglich, dass eine
entsprechende Spekulation nicht mit einem Veräußerungsgewinn, sondern mit einem Veräußerungsverlust
endet. Das heißt: Die rein spekulativ erhöhten Kurse sinken; die Beteiligung kann nur mit Verlust veräußert werden. Selbst wenn man dem Antrag der Linken folgen
und alle Schwierigkeiten des Einzelfalles hintanstellen
wollte, müsste man folgerichtig die Einnahmesituation
des Staates auch mit Veräußerungsverlusten behaften.
Damit wäre jedoch der Zockerei auf Unternehmensebene und auf Kosten des Staates Tür und Tor geöffnet,
also der berühmte „Schuss nach hinten“ vollzogen.
({5})
Gleiches gilt für die Idee, eine Mindestbeteiligungsgrenze oder Mindesthaltedauer bzw. ein umfassendes
Verbot des Betriebsausgabenabzugs für Aufwendungen
für Beteiligungen einzuführen. All diese Dinge sind gestaltungsanfällig und damit unpraktikabel. Sie würden
zu einem Nebeneinander von steuerfreien und steuerpflichtigen Beteiligungsveräußerungen führen und Unternehmen dazu ermuntern, Verluste in den steuerpflichtigen und Gewinne in den steuerfreien Bereich zu
verlagern. Im Übrigen gilt seit 1999 respektive seit 2004
die 5-Prozent-Klausel, sprich: ein pauschales Betriebsausgabenabzugsverbot.
Gerade im Zuge der Überlegungen zur Unternehmensteuerreform 2008 müssen wir uns auf die Fahne
schreiben, dass alles, was wir entwerfen, nicht missbrauchsanfällig und nicht gestaltungsanfällig ist. Wir
sollten gemeinsam nach Lösungen suchen - ich lade
auch Sie von der Linken dazu ein -, wie wir das Steuersubstrat des Staates sichern können. Wir sollten aber
nicht ein Verfahren diskreditieren, das in die richtige
Richtung gewiesen hat. Ich lade Sie daher herzlich ein,
die Umsetzung der Steuerreform konstruktiv zu begleiten.
Hierzu gehört auch die weitere Senkung der Körperschaftsteuer auf 15 Prozent und die Senkung der Gewerbesteuermesszahl von 5 Prozent auf 3,5 Prozent. Wir
alle wollen, dass zukünftig mehr von den Gewinnen, die
in diesem Staate erwirtschaftet werden, der Besteuerung
in diesem Staate zugeführt werden. Es geht darum, dies
ohne eine Komplizierung des ohnehin schon hinreichend
differenzierten Steuerrechtes zu schaffen.
Die Ansätze, die wir hierbei gefunden haben, sind ermutigend. Daher appelliere ich an Sie: Lassen wir uns
nicht von scheinbaren Argumenten der Steuergerechtigkeit verführen, vorschnell den Kopf auszuschalten, sondern überlegen wir, wie wir unser Steuerrecht auf
Grundlage des Steuersenkungsgesetzes 2000 vernünftig
fortentwickeln können. Dabei spielt sicherlich auch die
Abgeltungsteuer gelegentlich eine Rolle.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile Kollegen Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es war schon eine große Überraschung für uns
Oppositionspolitiker - dazu gehörte damals auch die
CDU/CSU -, als wir im Jahre 2000 die Vorschläge der
damaligen rot-grünen Regierung zur Steuerfreiheit von
Veräußerungsgewinnen bei Beteiligungsverkäufen zur
Kenntnis genommen haben. Das hatten wir nicht erwartet.
({0})
In den Diskussionen, die wir vorher in unserer Koalition
geführt hatten, hatten wir als FDP eine völlige Steuerfreiheit immer ausgeschlossen, weil das steuersystematisch nicht gerechtfertig war und auch bis heute nicht gerechtfertigt ist.
({1})
In diesem Punkt stimme ich dem Antrag der Linken zu.
Allerdings gilt das nicht für die Begründung, die Sie vorgebracht haben.
({2})
Der reine Appell an den Neidkomplex führt uns nicht
weiter. Die Frage lautet, was steuersystematisch richtig
ist.
({3})
Ich habe die Diskussion damals hier im Deutschen
Bundestag, bei der ich sogar die Ehre hatte, einen Beitrag zu leisten, noch einmal nachgelesen. Ich habe damals gesagt:
Das … führt zu einer einseitigen Begünstigung der
Kapitalgesellschaften gegenüber den Personengesellschaften und den Einzelkaufleuten.
Genau das ist der steuersystematisch entscheidende Gegenangriff. Es war nicht in Ordnung, dies nur für Kapitalgesellschaften einzuführen und die Personengesellschaften davon auszuschließen. Im Übrigen hat die
Steuerfreiheit natürlich dazu beigetragen, dass die so genannte Deutschland AG stärker entflochten worden ist.
Insofern hatte das volkswirtschaftlich auch einen positiven Effekt. Steuersystematisch aber war es nicht richtig,
die Kapitalgesellschaften auf diese einseitige Weise zu
begünstigen.
({4})
Deswegen haben wir als FDP hinsichtlich einer Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer einen
steuersystematisch einwandfreien Vorschlag gemacht.
({5})
Nach unserem Entwurf sind Veräußerungsgewinne bei
Beteiligungsverkäufen grundsätzlich steuerpflichtig. Der
Steuertarif ist dabei natürlich deutlich abgesenkt. Diese
Gewinne können aber in eine steuerfreie Reinvestitionsrücklage eingestellt werden, die für entsprechende Investitionen innerhalb von vier Jahren aufgelöst werden
muss. Wenn das nicht geschieht, dann muss die Besteuerung endgültig nachvollzogen werden. - Das ist ein steuersystematisch richtiger Ansatz.
Ein anderer richtiger Ansatz ist der, der in anderen
Ländern gefunden worden ist, beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo Veräußerungsgewinne mit einem eigenen Steuertarif belastet werden, der sehr viel niedriger
ist. Er lag einmal bei 12 Prozent und 15 Prozent; ich
weiß nicht, wie hoch er im Moment ist. Mir geht es aber
auch nur um das System.
Es stellt sich die Frage, was die Bundesregierung jetzt
tut.
({6})
Sie hat ja angekündigt, eine Unternehmensteuerreform
einzubringen. Noch im Januar wird sie einen Regierungsentwurf vorlegen.
Herr Krüger, ich habe mich etwas darüber gewundert,
dass Sie das Halbeinkünfteverfahren so gerühmt haben, obwohl Sie gerade dabei sind, es wieder abzuschaffen. Das macht ja wenig Sinn.
({7})
Nach dem, was bis jetzt von Ihren Vorschlägen und
Überlegungen bekannt ist, bleibt § 8 b Körperschaftsteuergesetz - also diese Ausnahme - erhalten.
({8})
Dadurch würden Sie den steuersystematischen Fehler
fortschreiben. Das wäre bedauerlich.
({9})
Sie haben aber noch Zeit, diese Frage zu überdenken und
einen steuersystematisch einwandfreien Vorschlag zu
machen.
({10})
Wenn es Ihnen hilft, stelle ich Ihnen unseren Entwurf zur
Verfügung. Sie müssen ihn nur abschreiben. Sie können
sich darauf verlassen, dass das sauber durchdacht, steuersystematisch konsequent und einwandfrei ist.
({11})
Sie brauchen sich also nicht mehr den Kopf darüber zu
zerbrechen und auch über das Halbeinkünfteverfahren
nicht mehr nachzudenken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Peter Rzepka, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erst vor kurzer Zeit, nämlich im Juli dieses Jahres, hat die Bundesregierung der Fraktion Die Linke das
System der deutschen Körperschaftsbesteuerung erklärt,
({0})
und zwar in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, die
das Thema des heute vorliegenden Antrages zum Inhalt
hatte. Deshalb habe ich die Vermutung, dass unsere Kollegen von der Linksfraktion nicht verstehen wollen oder
nicht verstehen können. Ich denke, beides ist gleich
schlimm. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es letztlich nur darum geht, die Komplexität des Unternehmensteuerrechts durch unzulässige Vereinfachung zu einem
populistischen Antrag zu nutzen.
({1})
Falsches, Herr Kollege Troost, wird nicht dadurch
richtig, dass es wiederholt wird.
({2})
Das gilt für die Ausführungen der Linken zur Unternehmensbesteuerung im Allgemeinen und zur Körperschaftsteuerbefreiung von Gewinnen aus Beteiligungsverkäufen im Besonderen.
Im so genannten Halbeinkünfteverfahren, das hier
schon angesprochen worden ist und das seit dem
1. Januar 2001 gilt, werden Gewinne von Körperschaften mit einem einheitlichen Steuersatz definitiv besteuert, unabhängig davon, ob sie ausgeschüttet oder einbehalten werden. Solange die Gewinne im Unternehmen
verbleiben, bleibt es bei diesem Steuersatz. Im Fall der
Ausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner
kommt es zur Nachbelastung. Dabei werden die Dividenden beim Anteilseigner nur zur Hälfte in die Bemessungsgrundlage seiner Einkommensteuer einbezogen.
Dies geschieht, um eine übermäßige Belastung ausgeschütteter Gewinne im Vergleich zu anderen Einkünften
zu vermeiden.
Diesem gleichen Ziel dient die Steuerfreiheit bei Ausschüttungen von Körperschaften an andere Körperschaften. Die gewollte steuerliche Gesamtbelastung wird dadurch hergestellt, dass die Gewinne einmal bei der
Körperschaft, die sie erzielt, und zum anderen bei der
Weiterausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner besteuert werden. Eine zusätzliche Besteuerung
der Dividenden innerhalb einer Beteiligungskette würde
zu einer mehrfachen Besteuerung des gleichen Gewinns
führen und kann deshalb nicht ernstlich gefordert werden.
Der Gewinn, den eine Körperschaft durch Veräußerung einer Beteiligung an einer anderen Körperschaft erzielt, wird wie eine Gewinnausschüttung in der Beteiligungskette steuerfrei gestellt. Das gilt sowohl für
Beteiligungen an inländischen als auch für solche an
ausländischen Gesellschaften. Diese Freistellung berücksichtigt, dass der Veräußerungsgewinn auf offenen
und stillen Reserven sowie auf zukünftigen Gewinnausschüttungen und Gewinnaussichten der Beteiligungsgesellschaft beruhen kann. ^
Offene Reserven sind bei der Beteiligungsgesellschaft
bereits versteuert. Stille Reserven sind bei ihr steuerlich
verhaftet und müssen bei Aufdeckung besteuert werden.
Gewinnaussichten unterliegen bei ihrer Realisierung naturgemäß auch in der Gesellschaft der Besteuerung.
Trotz der Freistellung der Gewinne aus Beteiligungsverkäufen ist also gesichert, dass alle Gewinne in vollem
Umfang im Halbeinkünfteverfahren besteuert werden,
einmal in der Gesellschaft, die sie erzielt, zum anderen
bei Weiterausschüttungen an natürliche Personen als Anteilseigner.
Die Steuerfreiheit dieser Veräußerungsgewinne korrespondiert mit der Steuerfreiheit von Dividenden in Kapitalgesellschaftskonzernen - das ist hier angesprochen
worden -; denn man kann die Veräußerung einer Beteiligungsgesellschaft mit Gewinn auch als Vollausschüttung
aller Gewinne betrachten.
Bei einer weiteren zusätzlichen Steuerpflicht des Veräußerungsgewinns käme es zu einer Doppelbesteuerung; da unterscheiden wir uns auch, Herr Kollege
Dr. Solms. Wer das will - Sie von der Linksfraktion wollen es ausweislich Ihres Antrages -,
({3})
legt die Axt an die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit - ein Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch
unsere Steuersystematik zieht und dessen Nichtbeachtung regelmäßig vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wird.
Aus der Steuerbefreiung der Veräußerungsgewinne
folgt, dass auch Veräußerungsverluste und Teilwertabschreibungen nicht berücksichtigt werden dürfen. Das ist
sozusagen die andere Seite der Medaille. Wer die Steuerbefreiung wieder abschaffen will, muss auch Veräußerungsverluste und Teilwertabschreibungen wieder anerkennen.
Nicht so die Linksfraktion: Sie will nur die süßen
Trauben der Gewinnsteuern für den Fiskus, vergisst dabei aber die sauren Trauben der Verluste. Führende Vertreter der PDS/Die Linke haben denn auch die Kehrseite
der Medaille bekämpft, das heißt die vor dem Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht bestehende Möglichkeit zu Teilwertabschreibungen. Sie ging Hand in
Hand mit der damaligen Besteuerung der Veräußerungsgewinne.
Ich darf in diesem Zusammenhang an die Rede der
Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch in diesem Hause anlässlich der Debatte über den Bundeshaushalt 2005 erinnern. Sie sagte damals:
Sie nehmen es … einfach hin, dass der weltgrößte
Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro außerplanmäßig abschreiben will,
- es ging um die zuvor erworbene Beteiligung an Mannesmann um 20 Milliarden an Steuern zu sparen.
Das wurde damals gegeißelt.
Ich will nicht entscheiden, ob die damalige Abschreibung von Vodafone steuerrechtlich zulässig war. Das
kann hier dahingestellt bleiben. Darüber werden letztlich
das zuständige Finanzamt und gegebenenfalls die
Finanzgerichte zu entscheiden haben.
Jedenfalls ist mit dem Übergang vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren in diesem Punkt
gehandelt worden. Mit dem Systemwechsel bei der Körperschaftsteuer ist die steuerliche Geltendmachung von
Veräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen bei
Beteiligungen abgeschafft worden.
({4})
Damit ist genau das geändert worden, was die Kollegin
Lötzsch damals angeprangert hat. Systemgerecht wurden dann allerdings auch die entsprechenden Veräußerungsgewinne freigestellt.
Noch einmal: Man kann nicht zugleich für die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen und gegen die
Geltendmachung von Veräußerungsverlusten sowie die
Möglichkeit zu Teilwertabschreibungen sein. Das verletzt nach meiner Auffassung wichtige steuersystematische Grundsätze und widerspricht dem gesunden Menschenverstand.
({5})
Der Standort Deutschland würde unattraktiver für große
Kapitalgesellschaften. Gewinner wären die Länder, die
dem geltenden deutschen Körperschaftsteuerrecht vergleichbare Regelungen hinsichtlich der Veräußerungsgewinne haben. Ich darf in diesem Zusammenhang Schweden, Irland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg
nennen. Frankreich übrigens will 2007 diese in unserem
Körperschaftsteuerrecht geltende Regelung bei sich einführen. So falsch kann sie dann wohl nicht sein, Herr
Kollege.
({6})
Zu Beginn meiner Rede bin ich auf die Dividendenfreistellung eingegangen und habe erklärt, warum Dividendenzahlungen von einer Körperschaft an eine andere
steuerfrei sind. Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem
Antrag behauptet, Beteiligungsaufwendungen dürften
systemwidrig von der Steuerschuld abgezogen werden,
dann irrt sie erneut oder - was noch schlimmer ist - unterschlägt einen Teil der Wahrheit, Herr Troost.
({7})
Denn zum einen sind die Dividenden, die eine Körperschaft erhält, zwar nicht bei der empfangenden, aber bei
der ausschüttenden Gesellschaft besteuert worden, und
zwar entweder mit inländischer oder - bei Auslandsbeteiligungen - mit ausländischer Steuer. Zum anderen
werden die Aufwendungen, die mit diesen Dividenden
in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, in pauschalierter Form nicht zum Abzug zugelassen.
Ursache für diese Regelung der Pauschalierung waren
die in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten, Aufwendungen im Zusammenhang mit Beteiligungen diesen zuzuordnen. Wer die Praxis kennt, weiß, dass die Probleme
in diesem Zusammenhang unlösbar erschienen.
Deshalb ist es zu der Pauschalierungsregelung gekommen, die im Übrigen auch der Mutter-Tocher-Richtlinie der Europäischen Union entspricht. - Übrigens stellen viele Länder Dividenden gänzlich frei, Herr Troost,
ohne Betriebsausgabenabzugsverbote vorzusehen.
Nach all dem wird es Sie nicht überraschen, dass die
Unionsfraktion den Antrag der Linken ablehnen wird. Er
ist unsystematisch, führt zur Übermaßbesteuerung, schädigt den Standort Deutschland - insbesondere den Holdingstandort, den es dann nämlich nicht mehr gäbe - und
gefährdet das Vertrauen in die Beständigkeit und Berechenbarkeit des deutschen Steuergesetzgebers. Letztlich
ist er ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen
und zur Verhinderung von Investitionen in Deutschland.
Wir werden den Antrag ablehnen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort nun Kollegin Christine Scheel,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß, dass das Thema „Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen“ sehr sensibel ist. Es ist vor allem dazu
geeignet, bei Veranstaltungen Neiddebatten zu führen
({0})
und mit einem gewissen Populismus so zu tun, als ob die
Unternehmen gänzlich steuerfrei wären, Arbeitsplätze in
Deutschland abbauten und auch sonst nur Unfug treiben
würden.
({1})
- Ich sage jetzt, was seit 2001 passiert ist.
Banken und Versicherungen zum Beispiel nehmen die
Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei ihren
Handelsbeständen gar nicht in Anspruch. Das heißt, sie
versteuern ihre Veräußerungsgewinne, und zwar deswegen, weil sie - sie haben damals die Option bekommen,
sich nach altem Recht steuerlich behandeln zu lassen die Veräußerungsverluste steuerlich geltend machen.
Die Kehrseite der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen ist die Nichtabziehbarkeit der Verluste. Man
muss sehen: Entweder geht beides oder es geht gar
nichts. Es gibt nicht das eine oder das andere. Wenn man
das eine zulässt, muss man auch das andere tun; das ist
eine klare Linie.
({2})
Ein Blick zurück zeigt, welche gravierenden fiskalischen Auswirkungen Beteiligungsverluste haben können. Ich erinnere an den Börsencrash 2001 und die damit einhergehenden hohen Beteiligungsverluste. Das
war der Hauptgrund, warum das Körperschaftsteueraufkommen völlig zusammengebrochen ist. Wir haben
heute noch Altfälle - und zwar aus der Zeit, bevor wir
das Gesetz geändert haben -, die vor Gericht ausgetragen werden. Vodafone zum Beispiel macht - das wurde
bereits angesprochen - 50 Milliarden Euro Buchverluste
aus dem Jahr 2001 steuerlich geltend. 50 Milliarden
Euro Buchverluste! Das wären umgerechnet circa
20 Milliarden Euro, die der Fiskus diesem Unternehmen
nachzahlen müsste, wenn sich Vodafone vor Gericht
durchsetzt. Solche Probleme gibt es heute nicht mehr,
weil es nicht mehr zulässig ist, solche Verluste steuerlich
geltend zu machen.
({3})
Ich bin gottfroh, dass wir damals die Entscheidung so
getroffen haben. Wenn ich an die Börsensituation im
Jahr 2001 und daran denke, wie die internationalen Firmen damals am Steuerstandort Deutschland aufgestellt
waren, und mir vorstelle, welche Verlustvorträge wir
heute noch hätten, wenn wir die Verlustverrechnung
nicht abgeschafft hätten, dann wird mir schlecht.
({4})
Es ist daher richtig, Vor- und Nachteile sehr sorgsam
gegeneinander abzuwägen. Herr Dr. Solms, man kann sicherlich über die Steuersystematik reden; das halte ich
für eine richtige und wichtige Debatte. Aber man darf es
nicht so platt, wie vorgeschlagen, machen und sagen:
Wenn die Veräußerungsgewinne besteuert werden, dann
haben wir 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen und die
Welt wird schön. - So einfach ist es leider nicht. Ich bitte
daher darum, im Ausschuss eine differenzierte Debatte
darüber zu führen, was Sinn macht.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2523 an die in der Tagesordnung aufgeVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/887Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/3843 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Hans-Christian Ströbele
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland gibt es rund 5 Millionen Wohnungseigentümer. Für sie alle ist heute ein guter Tag. Mit dem
vorliegenden Gesetz verbessern wir ihre Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit und wir vereinfachen das gerichtliche Verfahren, wenn es einmal zu Streitigkeiten
kommen sollte.
Das geltende Wohnungseigentumsgesetz aus dem
Jahre 1951 zeigte an einigen Punkten Reformbedarf. Wir
haben deshalb wesentliche Änderungen vorgenommen.
Die drei wichtigsten Ergebnisse will ich kurz aufzeigen:
Erstens. Wir verbessern die Willensbildung in der
Eigentümergemeinschaft. Wenn es um die Verteilung
von Betriebs- und Verwaltungskosten geht oder um
Maßnahmen der Modernisierung des gemeinschaftlichen
Eigentums, dann ersetzen wir das bisherige Einstimmigkeitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip. Wir kommen
damit einer alten Forderung aus der Praxis nach. Denn es
kam immer wieder vor, dass objektiv notwendige Baumaßnahmen von einzelnen Eigentümern blockiert worden sind. Allerdings stellen wir sicher, dass auch in Zukunft nicht unsachgemäß über den Kopf Einzelner
hinweg entschieden wird. Im Interesse des Minderheitenschutzes bleibt es dabei, dass Beschlüsse bei Gericht
angefochten werden können, und zwar insbesondere
dann, wenn sie einer ordnungsgemäßen Verwaltung des
Gemeinschaftseigentums widersprechen.
Die zweite wesentliche Änderung betrifft das gerichtliche Verfahren. Künftig gilt die Zivilprozessordnung
auch für die Wohnungseigentumssachen. Damit kommen wir wiederum einem Wunsch vieler Praktiker nach,
der Richterschaft und nunmehr sogar auch der Bundesrechtsanwaltskammer. 1951 hatte man die WEG-Sachen
der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen, und zwar
mit der Erwartung, dass dadurch die Verfahren zügiger
erledigt würden. Man muss ganz deutlich sagen: Gerade
diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Praxis hat bislang versucht, Schwächen des Verfahrens durch die
Übernahme einzelner Elemente aus der ZPO wenigstens
teilweise auszugleichen. Aber diese Anwendung zahlreicher Normen im Wege der Analogie hat zu einer ganz
beträchtlichen Rechtsunsicherheit geführt. Deshalb ist
hier der Gesetzgeber gefordert. Seit der ZPO-Reform im
Jahre 2002 hat sich auch der Zivilprozess verändert. Die
materielle Prozessleitung des Gerichts und die Mitwirkungsrechte und -pflichten der Verfahrensbeteiligten
sind erweitert worden. Es werden mehr Vergleiche geschlossen und weniger Rechtsmittel eingelegt. Wir glauben, dass sich hier das WEG-Verfahren nahtlos einfügen
lässt.
Mit der dritten Änderung greifen wir eine wegweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf. Er hat
im Juni letzten Jahres die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer als teilrechtsfähig anerkannt, wenn sie bei
der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums am
Rechtsverkehr teilnimmt. Ich halte es deshalb für richtig
und geboten, dass wir das Richterrecht jetzt in Gesetzesrecht überführen und dabei zugleich eine praktikable Regelung für die Haftung der Wohnungseigentümer schaffen.
Dieses Gesetz ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie
Rechtsprechung und Gesetzgebung bei der Weiterentwicklung des Rechts konstruktiv zusammenwirken.
Konstruktiv zusammengearbeitet haben bei diesem Projekt auch alle Fraktionen. Der Rechtsausschuss hat diesen Gesetzentwurf in einer sehr guten Sachverständigenanhörung und weiteren guten Berichterstattergesprächen
weiterentwickelt. Ich danke allen, die am Zustandekommen dieses guten Gesetzentwurfs engagiert mitgearbeitet haben.
({0})
- Ich muss so schnell sein, weil Dirk Manzewski sonst
keine Zeit mehr hat.
Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung sorgen
wir für eine praktikable Modernisierung des Gesetzes.
Wir stellen sicher, dass es den Bedürfnissen der Praxis
besser gerecht wird, und wir stärken zugleich die Attraktivität des Wohnungseigentums in Deutschland. Wenn
wir jetzt alle gemeinsam dem Gesetzentwurf zustimmen,
dann können wir sagen: Fröhliche Weihnachten!
Schönen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des Wohnungseigentumsgesetzes
ist eine Erfolgsgeschichte. Wir wollen, dass es dabei
bleibt. Das sind wir allen jetzigen und allen künftigen
Wohnungseigentümern schuldig. Ich bin optimistisch,
dass das Gesetz, das wir heute verabschieden werden,
diesem Anspruch gerecht wird. Die Änderungen werden
das Wohnungseigentum praktikabler und vielleicht auch
ein Stück gerechter machen. Sie werden helfen, die Attraktivität des Wohnungseigentums auch für die Zukunft
zu sichern. Das ist gerade in Anbetracht der Tatsache,
dass Wohnungseigentum immer mehr zur Alterssicherung dient, sehr wichtig.
({0})
Zu den entscheidenden Verbesserungen gehört - das
hat der Herr Staatssekretär schon gesagt - die Erleichterung der Willensbildung. Hier bestand spätestens seit der
Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum so genannten
Zitterbeschluss dringender Handlungsbedarf; denn die
durch diese Rechtsprechung erzwungene Rückkehr zum
starren Einstimmigkeitsprinzip ging an den Bedürfnissen
der Praxis vollkommen vorbei. Die Folge war, dass ein
einziger Wohnungseigentümer eine Maßnahme verhindern konnte, die alle anderen für gut und richtig hielten.
Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, die wir
heute beschließen - wir machen das meines Erachtens
vorsichtig und sinnvoll -, wird dazu beitragen, solche
Blockaden aufzubrechen. Sie wird in vielen Fällen den
Weg für Modernisierungs- und Energieeinsparungsmaßnahmen freimachen. Hiervon profitieren nicht nur die
Wohnungseigentümer, sondern das ist auch gut für das
Handwerk und für die Umwelt.
Als juristisch anspruchsvoll erweist sich der Versuch,
die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eigentümergemeinschaft, Wohnungseigentümern und Gläubigern klarer zu fassen. Auch hier bestand Handlungsbedarf. Die
Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfähigkeit hatte in der Praxis zu einer Reihe von Folgefragen geführt. Der Gesetzentwurf versucht, hierauf eine
Antwort zu geben. Ob dies in allen Punkten überzeugend
gelungen ist, kann heute noch niemand mit Gewissheit
sagen. Hier wird die Rechtsprechung noch einiges zu tun
haben. Gegebenenfalls wird auch der Gesetzgeber, werden wir nachsteuern müssen. Es wäre aber auch keine
Lösung gewesen, zum jetzigen Zeitpunkt vollständig auf
eine Regelung zu verzichten, wie dies von einigen Vertretern aus der Wissenschaft empfohlen wurde. Der Zustand der Rechtsunsicherheit hätte so möglicherweise
noch Jahre angedauert und die Eigentumswohnung als
besondere Rechtsform des Wohnens hätte Schaden genommen. Das wollten wir nicht.
({1})
Hingegen war es richtig, die Wohnungseigentümergemeinschaft für nicht insolvenzfähig zu erklären. Das
wäre die falsche Schlussfolgerung aus der Teilrechtsfähigkeit gewesen.
({2})
Die Gründe dafür sind in der Anhörung vorgetragen
worden. Wir hätten es aber begrüßt, wenn der Gesetzgeber den Weg zu Ende gegangen wäre und dem Gläubiger
die Möglichkeit gegeben hätte, einen unfähigen Verwalter durch einen fähigen zu ersetzen. Leider hat unser darauf gerichteter Änderungsantrag keine Mehrheit gefunden. Ich wage vorauszusagen, dass hier in absehbarer
Zeit gesetzgeberische Korrekturen vorgenommen werden müssen.
Kein Problem haben wir damit, dass sich das Verfahren in Wohnungseigentumssachen in Zukunft nach der
Zivilprozessordnung richten soll. Dies wird zu einer
Beschleunigung von Verfahren führen und dazu beitragen, dass Prozesshanseln die Lust am Streit vergeht. Die
Gefahr einer Überforderung einzelner Wohnungseigentümer sehen wir nicht. Auch im Anwendungsbereich der
Zivilprozessordnung hat das Gericht durch Hinweise
darauf hinzuwirken, dass sich die Parteien rechtzeitig
und vollständig erklären.
Erfreulich ist, dass es uns fraktionsübergreifend gelungen ist, den Gesetzentwurf um eine Vorschrift zu ergänzen, durch die die Bestellungsdauer für den ersten
Verwalter auf höchstens drei Jahre beschränkt wird. Auf
diese Weise wird der Gleichlauf von Bestellungsdauer
und Verjährungsfrist durchbrochen und die Gefahr von
Interessenkonflikten reduziert.
({3})
Wir hätten uns auch gefreut, wenn unser Vorstoß, die
Übertragung bestimmter Aufgaben auf Sachverständige
unmittelbar im Wohnungseigentumsgesetz zu regeln,
ebenfalls Unterstützer gefunden hätte. Auf diese Weise
hätte die damit verbundene Erleichterung für die Praxis
sofort eintreten können. So bedarf es erst der Umsetzung
durch die Länder, die sich hiermit möglicherweise Zeit
lassen werden.
Auch ich habe die unaufgeregte und an der Sache orientierte Beratung des Gesetzentwurfs als sehr wohltuend
empfunden und ich finde, dass wir zu guten Ergebnissen
gekommen sind. Dass unsere Änderungsanträge keine
Mehrheit gefunden haben, wird uns als FDP nicht daran
hindern, diesem guten Gesetzentwurf zuzustimmen.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Geis, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Weihnachtsstimmung breitet sich aus. Ich
hoffe, dass die Grünen nachher ebenfalls feststellen, dass
sie dem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen sollten,
({0})
zumal er bereits in der letzten Legislaturperiode grundgelegt
({1})
und die Fachwelt schon einbezogen worden ist. Nur ist
es so gewesen, dass durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2. Juni 2005 ein nochmaliges Überdenken dieses Gesetzentwurfes notwendig geworden ist,
und zwar vor allem aufgrund der Teilrechtsfähigkeit der
Wohnungseigentümergemeinschaft, die der BGH festgestellt hat.
Diese Teilrechtsfähigkeit ist juristisch gesehen ein
nicht ganz einfaches Feld. Schon der Name ist schwierig: Man meint, dass es sich hier nur um ein Teilrecht,
also nicht um eine Vollrechtsfähigkeit handelt. In Wirklichkeit ist dies aber nicht der Fall. Wir haben die Regelung so getroffen, dass - das wollte auch der BGH - die
Wohnungseigentümergemeinschaft da, wo sie verwaltend tätig wird, vollrechtsfähig ist, sich also voll verpflichten und Forderungen stellen kann. Der Verwalter
kann zum Beispiel selbstständig Öl kaufen, ohne vorher
alle Miteigentümer zu fragen. Er kann am Gesamteigentum Reparaturen vornehmen lassen, die dringend notwendig sind. Für das Wohnungseigentum des Einzelnen
bleibt der Eigentümer selbst zuständig. Aber für das Gemeinschaftseigentum kann die Wohnungseigentümergemeinschaft, weil sie vollrechtsfähig ist, selbst handeln,
durch den Verwalter. Dieser ist insoweit gesetzlicher
Vertreter.
Das ist zweifellos ein großer Vorteil; denn dadurch
wird die Verwaltung insgesamt leichter werden. Letztendlich, nach einer gewissen Zeit, wird Wohnungseigentum dadurch attraktiver. Das haben auch Sie gesagt, Frau
Dyckmans, und das war auch unser Wunsch, der
Wunsch der Koalition. Das Wohnungseigentum soll für
den einfachen Bürger eine Möglichkeit der Vermögensbildung darstellen. Darüber, dass es auch zur Altersvorsorge dienen kann, sind wir uns ebenfalls einig.
Dieses Gesetz will nun einen Beitrag dazu leisten. Ich
meine, das ist, soweit uns das im juristischen Bereich
möglich ist, auch gelungen.
Aber zurück zur Teilrechtsfähigkeit. Dieser Punkt ist
nicht ganz einfach. Es gibt und gab Stimmen, die dagegen sind, Stimmen aus der Wissenschaft und vor allen
Dingen von der Anwaltschaft, die davor gewarnt haben,
die Teilrechtsfähigkeit einzuführen. In der Tat ist es nicht
ganz einfach, eine Unterscheidung zwischen dem Verwaltungsbereich und dem übrigen Rechtsbereich, in dem
die Eigentümergemeinschaft immer noch als Bruchteilsgemeinschaft auftritt, zu treffen. Diese Unterscheidung,
die ja getroffen werden musste, ist nach meiner Auffassung in dem Regierungsentwurf nach den Beratungen in
der Koalition und mit allen Berichterstatterinnen und
Berichterstattern gut gelungen. Nun ist, so meine ich jedenfalls, klar geworden, was zum Verwaltungsbereich
und was zum übrigen Bereich gehört.
Dennoch glaube ich, dass wir in der Praxis Probleme
bekommen werden, weil mit diesem Gesetz nicht jeder
einzelne Fall so konkret geregelt werden kann, dass
keine Schwierigkeiten mehr auftauchen. Also werden
die Gerichte das am Ende glatt bügeln müssen und es
wird in den Einzelfällen eine gemeinsame Rechtsprechung zustande kommen, zumal wir im Gesetz vorsehen,
dass die Berufungsinstanz für Urteile des Amtsgerichts
nicht das gewöhnliche Landgericht ist, sondern das
Landgericht am Sitz des Oberlandesgerichtes.
({2})
- Ja, das habe ich schweren Herzens getan. Aber in diesem Fall macht das Sinn; denn so gelingt es, wenigstens
in einem Oberlandesgerichtsbezirk eine gemeinsame
Rechtsprechung herauszukristallisieren. Das war ein
wichtiger Punkt.
Eine weitere Neuerung ist die Stellung des Verwalters. Der Verwalter wurde eine Zeit lang als Zwitterfigur
dargestellt, als Mann mit einer Doppelfunktion. Er bleibt
nach wie vor der Verwalter der gesamten Wohnungseigentümergemeinschaft; das heißt, er ist bezogen auf das
Rechtssubjekt im Bereich der Verwaltungstätigkeit gesetzlicher Vertreter. Im übrigen Bereich ist er geschäftsführend tätig, bleibt aber für die gesamte Gemeinschaft
zuständig. Ich meine daher, dass es ebenfalls gelungen
ist, diese Zwitterstellung des Verwalters aus dem Zwielicht zu holen, seine Stellung gesetzlich eindeutig zu regeln und seine Kompetenzen klar abzugrenzen.
Ein weiterer Punkt, der nach meiner Meinung geregelt werden musste, betrifft die Insolvenzfähigkeit.
Frau Dyckmans hat es schon angesprochen. Wir haben
darüber lang beraten, auch koalitionsintern und zusammen mit der Regierung. Ich möchte an dieser Stelle die
gute Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär und seinen
Mitarbeitern ausdrücklich loben.
({3})
Sie hat dazu beigetragen, dass wir gemeinsam zu vernünftigen Ergebnissen gekommen sind.
Die Insolvenzfähigkeit war ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehen. Wir haben sie aber aus den Gründen, die Frau Dyckmans schon erwähnt hat, wieder
herausgenommen. Letztendlich soll die Insolvenz zur
Auflösung eines Rechtssubjektes führen. Das ist aber in
diesem Fall nicht vorgesehen und wird vom Gesetz verhindert. Schon deshalb kann man hier keine Insolvenz
vorsehen.
Im Übrigen ist es ohne weiteres möglich, dass die
Wohnungseigentümer selbst so lange Geld zuschießen,
bis die Ansprüche der Gläubiger befriedigt sind. Weil
das Insolvenzverfahren eine anteilsmäßige Befriedigung
der Ansprüche der Gläubiger vorsieht, es hier aber eine
vollständige Befriedigung der Ansprüche der Gläubiger
gibt, passt nach unserer Auffassung das Instrument der
Insolvenzfähigkeit an dieser Stelle nicht. Deswegen haben wir es gestrichen.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Umstellung der
Verfahrensregeln von der Freiwilligen Gerichtsbarkeit
auf die ZPO. Dieser Punkt war ebenfalls nicht unumstritten. Es gab durchaus Stimmen, die die Meinung äußerten, dass hier der einzelne Wohnungseigentümer in das
etwas stringentere Verfahren der ZPO gezwungen wird.
Aber ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Denn schon
jetzt ist in einem Verfahren nach der Zivilprozessordnung ein Richter in der ersten Instanz gehalten, die Parteien aufzufordern, ihren Vortrag zu bringen. Eine Benachteiligung eines Wohnungseigentümers, der sich
nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, kann ich
also nicht erkennen.
Ein wichtiges Argument betraf noch die Frage der
Kosten. Denn beim FGG-Verfahren, also bei einem Verfahren nach der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist es möglich, die Kosten variabel zu gewichten und nicht nach
dem Alles-oder-nichts-Prinzip der ZPO festzulegen.
Auch aufgrund der Beratungen im Rechtsausschuss haben wir hier eine wichtige Sperre eingezogen. Wir sehen
nämlich eine Sperre bei den Gerichtskosten und bei der
Errechnung des Streitwertes vor. Zum Schluss haben wir
noch die Regelung eingeführt, dass von einem Wohnungseigentümer, der gegen die anderen Wohnungseigentümer klagt, nur ein Rechtsanwalt bezahlt werden
muss, sodass die Gerichts- und Anwaltskosten nicht zu
hoch ausfallen.
Der letzte Punkt betrifft den Mehrheitsbeschluss bei
der Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen. Es
stellte sich die Frage, ob nicht derjenige Wohnungseigentümer, der nicht das Geld hat, um große Modernisierungsmaßnahmen bezahlen zu können, benachteiligt
wird. Unser Anliegen war es, dass der Wohnungseigentümer, der für sein Wohneigentum sozusagen seinen
letzten Pfennig ausgegeben hat, bei einer Modernisierungsmaßnahme nicht allzu sehr ins Hintertreffen gerät.
Dieses ist gelungen. Wir haben die Unbilligkeit einer
solchen Forderung eingeführt; außerdem haben wir die
Dreiviertelmehrheit vorgesehen.
Ich glaube, man kann diesem Gesetz alles in allem
wohl zustimmen.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! 1951 dankte der belgische König ab
und die USA und die UdSSR sondierten Möglichkeiten
für einen Waffenstillstand in Korea. In diesem Jahr,
1951, verabschiedete der Deutsche Bundestag auch das
Wohnungseigentumsgesetz, ein Gesetz, das dieses Haus
seitdem nur ganz unwesentlich geändert hat.
Der heutige Entwurf bezweckt dafür nun umso größere Änderungen. In all den langen Jahren seit 1951 waren es die Richterinnen und Richter, die das gute, alte
WEG auf dem Wege der Rechtsfortbildung stets an die
Erfordernisse der Gegenwart angepasst haben. Sie kümmerten sich also um die Lebenstauglichkeit eines Gesetzes, das der Gesetzgeber deshalb seit 1951 nicht mehr
anzufassen brauchte.
Genau aus diesem Grund hatte Ihnen meine Fraktion
Herrn Dr. Schmidt-Räntsch, einen amtierenden BGHRichter, in die Beratungen des Rechtsausschusses zum
WEG eingeladen. Herr Dr. Schmidt-Räntsch hatte in
seiner Stellungnahme ausdrücklich klargestellt, dass er
nicht nur für sich, sondern für den gesamten Senat, bei
dem die Zuständigkeit in WEG-Sachen liegt, sprechen
möchte. Die klare und detaillierte Stellungnahme des Senats aber kümmerte den Ausschuss in seiner Mehrheit
nicht.
({0})
Seine klare und detaillierte Stellungnahme wurde damit
auch nicht zum Maßstab Ihrer Gesetzgebung.
Für uns bleibt sie aber der Maßstab für die Fehlerhaftigkeit dessen, was Sie heute zur Änderung des WEG beschließen werden.
({1})
Sie werden ohne sinnvollen Grund beschließen, dass die
Regelung von Streitigkeiten in der Eigentümergemeinschaft zukünftig der ordentlichen anstelle der Freiwilligen Gerichtsbarkeit obliegt. Sie bürden damit den Wohnungseigentümern höhere Verfahrenskosten und ein
höheres Verfahrensrisiko auf,
({2})
nur weil Sie den Landeshaushalten deutlich höhere Einnahmen bescheren wollen.
({3})
Sie nehmen den Wohnungseigentümern eine Gerichtsbarkeit weg und erschweren ihnen damit den Weg, ihr
Recht unbürokratisch durchzusetzen.
({4})
Vor allem schwächen Sie damit solche Menschen, die
ihr Wohnungseigentum unter großer Anstrengung zur
Erleichterung der Altersvorsorge erworben haben und
nun im Streitfall vor allen finanziellen Hürden des ordentlichen Rechtsweges stehen. Wieder einmal, meine
sehr verehrten Damen und Herren insbesondere von der
SPD, vergessen Sie Ihre Wurzeln.
({5})
Sie haben es so weit gebracht, dass ein konservativer
BGH-Senat Ihnen die Vernachlässigung des Schutzes
der Schwachen vorwirft. Ich zitiere aus der erwähnten
Stellungnahme des BGH-Richters Dr. Schmidt-Räntsch:
Dieser Schutz Schwacher ist gerade bei größeren
Wohnungseigentümergemeinschaften unbedingt erforderlich und gerade deshalb auch [ursprünglich]
vorgesehen worden. Wohnungseigentum ist für die
„kleinen Leute“ gedacht.
({6})
Das Wohnungseigentum wird nach Ihrem Willen aber
zunehmend zu einer Privilegierung der gehobenen
Schichten werden.
({7})
Sie werden heute festlegen, dass Beschlüsse der Eigentümergemeinschaft in einem Beschlussbuch zu führen sind. Das macht ja sogar ein wenig Sinn angesichts
der durch den Entwurf zusätzlich eingeräumten Möglichkeiten der Eigentümergemeinschaft, den konkreten
Inhalt des Eigentums außerhalb des Grundbuches ändern
zu wollen. Ein wenig Sinn sorgt allerdings stets auch für
wenig Sinnvolles.
Richtig wäre es gewesen, die Wirksamkeit der Beschlüsse von der Aufnahme in das Beschlussbuch abhängig zu machen. Dann erst könnte sich die Gemeinschaft darauf verlassen, dass nur solche Beschlüsse
gelten, die auch dokumentiert sind. Da haben Sie also
das Richtige gemeint und doch das Falsche geschrieben.
Warum Ihnen dieses Missgeschick passierte, können Sie
nur selbst verstehen; denn Dr. Schmidt-Räntsch hat Ihnen in seiner Stellungnahme einen Formulierungsvorschlag geschenkt. Den hätten Sie nur abzuschreiben
brauchen.
Ich erinnere zum Abschluss daran, dass das ursprüngliche WEG im Jahre 1951 als echter Fraktionsentwurf in
die Beratungen gelangte und man viel Abgeordnetenverstand auf die Ausgestaltung des Wohnungseigentums
und dessen soziale Funktion verwandte. Das war seinerzeit ein zeitgemäßer und sehr moderner Entwurf.
Auch der aktuelle Entwurf ist zeitgemäß. Denn es entspricht leider den heutigen Gepflogenheiten der parlamentarischen Mehrheit, Entwürfe der Ministerien ohne
eigenen Gestaltungsanspruch gedankenlos durchzuwinken, selbst wenn der größte Unsinn dabei herauskommt.
Ist das aber auch modern? Ich sagte es schon: Es ist sehr
viel Zeit vergangen seit 1951.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe schon in meiner Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes darauf hingewiesen: Der
deutsche Wohnimmobilienmarkt steht in den nächsten
Jahren vor sehr großen Herausforderungen. Zwar scheint
zumindest die Frage der Einbeziehung von Wohnimmobilien in REITs - übrigens auch in meinem Sinne - gelöst zu sein; aber trotzdem gibt es eine ganze Menge
Druck auf die Kommunen und ihre Wohnungsbaugesellschaften. Die Begehrlichkeiten der Kämmerer auf eine
schnelle Mark durch die Veräußerungen ihrer Bestände
sind groß.
Wenn wir Verkäufe an Investoren vermeiden wollen,
dann müssen wir darüber diskutieren, ob und wie wir im
Rahmen von Privatisierungen von Mietwohnungen eine
gangbare Alternative sehen.
Zudem fordern viele die Einbeziehung der Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge. Die große Koalition hat dies auch in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Dann müssen wir uns konsequenterweise
auch mit den Problemen beschäftigen, die Wohnungseigentümergemeinschaften und ihre rund 15 Millionen
Wohnungseigentümer seit vielen Jahren bewegen. Unsere Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, begrüßt diese
Gesetzesänderung. Wir hatten sie schon in der letzten
Legislaturperiode gefordert und unterstützt. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde auch noch unter der rotgrünen Koalition am 25. Mai 2005 im Kabinett beschlossen.
Für uns ist es wichtig, für bestimmte Fälle das Einstimmigkeitsprinzip durch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss abzulösen. Das Einstimmigkeitsprinzip
ermöglichte bisher einzelnen Miteigentümern die Blockade von sinnvollen Modernisierungsmaßnahmen und
führte letztlich zu Ersatzvereinbarungen, den so genannten Zitterbeschlüssen, die nach der Rechtsprechung des
BGH auch ohne gerichtliche Anfechtung von Anfang an
unwirksam waren. In dem vorliegenden Gesetzentwurf
wird das Quorum für bestimmte Fälle auf drei Viertel der
Eigentümerstimmen abgesenkt. Das ist zwar immer
noch eine hohe, aber nicht unüberwindliche Hürde. Sie
erschwert auf jeden Fall Blockaden, sie erleichtert die
Willensfindung und sie stärkt die Handlungsfähigkeit
von Wohnungseigentümergemeinschaften.
Auch die getroffenen Regelungen zur Teilrechtsfähigkeit und zur Insolvenzfähigkeit finden unsere Zustimmung.
Wir hätten gerne noch einige Änderungen - aus unserer Sicht Verbesserungen - an dem Gesetzentwurf vorgenommen, die wir auch in unserem Änderungsantrag aufgeführt haben. Zum Beispiel hätten wir es für dringend
geboten gehalten, eine gesetzliche Verpflichtung zur Errichtung einer angemessenen Instandhaltungsrücklage
in das Gesetz aufzunehmen. Gerade die mangelnde
Höhe der Instandhaltungsrücklagen führt in vielen Fällen zu Streitigkeiten und kann gelegentlich sogar zu
Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, ja sogar zu Insolvenzen und Zwangsversteigerungsverfahren führen. Unser
Vorschlag, sich an § 28 der II. Berechnungsverordnung
zu orientieren, war sehr praktikabel und hätte hier eine
deutliche Klarstellung ermöglicht. Schade, dass Sie da
unserem Vorschlag nicht gefolgt sind.
Es ist positiv - Herr Geis hat es eben auch angemerkt -, dass eine Formulierung aufgenommen wurde,
die unbillige Belastungen von wirtschaftlich schwächeren Wohneigentümern abwenden soll.
({0})
Die interne Diskussion in unserer Fraktion über die
Frage „FGG oder ZPO?“ hat uns letztlich doch zu dem
Entschluss kommen lassen, dass wir die Freiwillige Gerichtsbarkeit einer Regelung in der ZPO vorziehen; denn
wir sehen durchaus mit Sorge, dass durch die vorgeschlagene Regelung in der Zivilprozessordnung Verfahren aufgrund von Kapazitätsengpässen bei den Gerichten
in die Länge gezogen werden. Ich glaube, das ist nicht
im Sinne des Erfinders und dieser Gesetzesinitiative.
Unsere Fraktion wird dem Gesetzentwurf dennoch zustimmen, auch wenn Sie - was zu erwarten sein dürfte unseren klugen Änderungsanträgen nicht zustimmen
werden; denn wir halten den überwiegenden Teil des Gesetzes für gelungen und im Sinne der Wohneigentümer
für eine deutliche Verbesserung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier heute abschließend über den Entwurf der
Bundesregierung zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes.
So sehr sich das WEG in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt hat, so hat sich im Laufe der Zeit doch
ein zunehmender Bedarf nach praktikableren Regeln gezeigt. Insbesondere die bereits angesprochene Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Juni 2005, mit der
der BGH zum ersten Mal klargestellt hat, dass die Wohnungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums selbst rechtsfähig ist, hat uns veranlasst, dies auch so ins Gesetz zu
schreiben.
Frau Kollegin Bluhm, es ist natürlich ärgerlich, wenn
man ins kalte Wasser geworfen wird, ohne vorher bei
den Debatten, insbesondere den Anhörungen, dabei gewesen zu sein.
({0})
Trotzdem, es ist schon ein bisschen traurig, wenn man
dann im Grunde genommen nur das abliest, was einem
vorgefertigt wird, und sich keine eigenen Gedanken
macht;
({1})
denn das, was Sie gesagt haben, war in den wesentlichen
Punkten falsch.
Wenn nämlich verlangt wird, dies nicht gesetzlich zu
verankern, Frau Kollegin Bluhm, dann bedeutet das
nichts anderes - das habe ich schon beim Kollegen
Nešković nicht so richtig verstanden -, als dass man die
Rechtsprechung des BGH ignoriert.
({2})
Dies wiederum hätte die Konsequenz, dass auch die aus
der Entscheidung des BGH weiter resultierenden Folgen
nicht vom Gesetz hätten aufgegriffen werden können.
Das neue WEG wäre damit im Grunde genommen schon
vom ersten Tag seiner Gültigkeit an veraltet und die Gerichte würden vermutlich aufgrund der dann herrschenden unsicheren Rechtslage von Verfahren überschwemmt werden.
({3})
Insbesondere waren in diesem Zusammenhang auch
die Rechte und Pflichten sowie das Verwaltungsvermögen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ebenso
wie die Stellung ihres Verwalters völlig neu zu definieren. Ich meine, dass das in diesem Gesetzentwurf gut gelöst wurde.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir zumindest in
einem Bereich die Stringenz verlassen haben, und zwar
in dem Punkt der Insolvenzfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft; denn eigentlich beinhaltet
Rechtsfähigkeit auch Insolvenzfähigkeit. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies hätte einfach keinen Sinn
gemacht; denn das Insolvenzrecht passt hier einfach
nicht. Das gilt insbesondere für das Ende eines Insolvenzverfahrens; denn eine Wohnungseigentümergemeinschaft kann zum Beispiel nicht aufgelöst werden.
Problematisch wären aber auch die Regelungen hinsichtlich des Anfangs eines Insolvenzverfahrens gewesen. Eigentlich hätte man nämlich den Verwalter verpflichten müssen, den Insolvenzeröffnungsantrag zu
stellen. Der Zeitpunkt hierfür ist bei einer Wohnungseigentümergemeinschaft aber relativ unklar. Die Bundesregierung hatte laut ihrer Gegenäußerung vor, den Verwalter deswegen von dieser Pflicht zu entbinden. Im
Gesamtkontext wäre das aber nicht schlüssig gewesen.
Aus all diesen Gründen ist es deshalb meiner Auffassung
nach richtig gewesen, von einer Insolvenzfähigkeit der
Wohnungseigentümergemeinschaft Abstand zu nehmen.
Ich persönlich halte es im Grundsatz für richtig und
dringend notwendig, dass in Teilbereichen eine Beschlusskompetenz und damit das Mehrheitsprinzip statt
der bisher erforderlichen Einstimmigkeit für Entscheidungen der Wohnungseigentümergemeinschaft eingeführt werden soll. Denn, Frau Kollegin Bluhm, das bislang geltende Einstimmigkeitsprinzip hat in der Praxis
sehr häufig wichtige, gebotene Entscheidungen zulasten
der anderen verhindert und Wohnungseigentum damit
unattraktiv gemacht. Der Einzelne ist im Übrigen - das
ist eine Kritik an Ihnen, Frau Bluhm - dadurch aber
nicht rechtlos gestellt. Es wurde nämlich ein Korrektiv
eingebaut, und zwar dergestalt, dass die einzelnen Mehrheitsentscheidungen für den Einzelnen nicht unbillig erscheinen dürfen. Ich meine, das ist ausreichend.
Die Einführung einer aktuellen Beschlusssammlung
zu einer umfassenden Information potenzieller Erwerber
wird weiterhelfen, weil diese sich über die von der Gemeinschaft gefassten Beschlüsse informieren können.
Begrüßt wird von mir auch, dass wir eine kürzere Frist
für die Berufung des Erstverwalters eingeführt haben.
Aufgrund der Entscheidung des BGH halte ich es für
folgerichtig, die Wohnungseigentümer nun nicht mehr
für die Verbindlichkeiten der Gemeinschaft gesamtschuldnerisch haften zu lassen. Zwar soll auch weiterhin
die Möglichkeit bestehen, nicht nur gegen die Gemeinschaft, sondern auch unmittelbar gegen den einzelnen
Wohnungseigentümer vorzugehen. Dessen Haftung soll
sich aber nunmehr - ich glaube, das ist ziemlich vernünftig - auf seinen Anteil am Gemeinschaftseigentum
beschränken.
Ich erachte es für gut, dass wir eine Verlagerung der
Verfahren vom FGG zur ZPO vornehmen. Abgesehen
davon, dass bereits bisher Grundsätze der ZPO im Wohnungseigentumsverfahren gegolten haben, bietet die
ZPO meiner Ansicht nach die effizientere und stringentere Verfahrensführung. Kollegin Bluhm, da ich Richter
bin, kann ich sagen: Da Gerichte stets auf Ausgleich bedacht sind, erwarte ich kein Nachlassen bei der Suche
nach einvernehmlichen Lösungen.
Dem Interesse des Einzelnen, sein Recht zu suchen
- auch das ist von Ihnen im Zusammenhang mit dem
Kostenrisiko kritisiert worden; ZPO-Verfahren sind tatsächlich in der Regel etwas teurer als FGG-Verfahren -,
wird aber durch die Beschränkung von Streitwert und
Kostenerstattung Rechnung getragen. Diese Veränderung ist an Ihnen offensichtlich vorbeigegangen.
Ich komme zum Schluss. Ich bin mir natürlich durchaus bewusst, dass wir in absehbarer Zeit vermutlich noch
einige Justierungen am WEG vornehmen werden; der
Kollege Geis hat das angesprochen. Nun aber alles auf
die lange Bank zu schieben und die weitere Rechtsprechung abzuwarten, halte ich aber wie die große Mehrzahl der Sachverständigen nicht für richtig.
({4})
Ich finde, dass uns ein guter Vorschlag zur Änderung des
WEG vorliegt. Ich bitte Sie hierfür um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Wohneigentumsgesetzes und anderer Gesetze,
Drucksache 16/887. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3843,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam
bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen
und ländliche Entwicklung fördern
- Drucksachen 16/3019, 16/3835 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Karl Addicks
Thilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir befinden uns in der Adventszeit, in
der Weihnachtszeit. Wenn wir durch die Straßen Berlins
gehen, dann sehen wir viele Menschen, deren größte
Sorge derzeit ist, wie sie noch schnell Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder und ihre anderen Liebsten kaufen können. Es ist etwas Schönes und Gutes, andere
Menschen zu beschenken. Weihnachten ist ein schöner
Brauch. Aber wir sollten bei alldem nicht aus den Augen
verlieren, dass jeden Tag 30 000 Menschen, vor allem
Kinder, an den Folgen von Hunger und Armut sterben.
Jeder Einzelne von ihnen hätte das Recht, zu leben. Diejenigen, die nicht verhungern, hätten das Recht, einen
solchen Tag mit Geschenken, Wärme, Liebe und einem
satten Bauch begehen zu können.
Deswegen finden wir die Zielsetzung des Antrags der
Grünen mit dem Titel „Den Hunger in den Entwicklungsländern wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ gut.
Wir alle sind uns, glaube ich, parteiübergreifend über die
Millenniumsentwicklungsziele, zu denen auch die
Halbierung der Zahl der Hungernden gehört - wir wol7324
len den Hunger schnellstmöglich ganz beseitigen - einig.
({0})
Dreiviertel der Ärmsten leben auf dem Land. Deswegen
hat ein Antrag, der sich auf den ländlichen Raum bezieht, große Bedeutung.
Aber trotzdem ist es so, dass der Antrag der Grünen
neben der guten Zielrichtung ein Verständnis von ländlicher Entwicklung hat, das unserer Auffassung nach zu
eng gefasst ist. Denn wir in der SPD-Bundestagsfraktion, aber auch unser Ministerium verstehen mehr darunter, als nur Traktoren zu kaufen und technische Hilfe für
die Landwirtschaft anzubieten. Wir haben einen umfassenderen Ansatz, der deutlich macht, dass wir Entwicklungszusammenarbeit und die Entwicklung ländlicher
Räume in Entwicklungsländern unter anderem als globale Strukturpolitik verstehen. Denn was nützt der
Kauf von Traktoren, wenn der Landwirt seine Ware
nicht verkaufen kann?
Der Grund dafür, warum viele Geberländer sich mit
ihren Investitionen zurückgezogen haben, liegt eher darin, dass es sich oft nicht lohnt, in Regionen zu investieren, in denen die Bauern ihre Produkte nicht mehr auf
den Märkten verkaufen können, weil sie mit agrarsubventionierten Dumpingprodukten der Industrieländer
konkurrieren müssen. Deswegen richten wir den Fokus
auf die globale Handelspolitik. Wir sind der Auffassung,
dass im Antrag der Grünen zu wenig darauf eingegangen
wird.
Die Punkte zum Ökolandbau im Antrag der Grünen
haben sicherlich ihre Berechtigung. Auch wir wollen,
dass Landwirtschaft nachhaltig betrieben wird. Sie muss
nachhaltig und standortgerecht betrieben werden. Es ist
der falsche Weg, eine Nischenproduktion in Entwicklungsländern besonders fördern zu wollen. Denn hier
geht es erst einmal darum, Menschen mit Nahrung zu
versorgen. Dabei kann es auch notwendig sein, die Menschen mithilfe von konventioneller Agrarwirtschaft - so
wie wir es tun - zu versorgen.
Der Antrag der Grünen fordert uns auf, den Entwicklungsländern keinerlei Hilfestellungen im Bereich der
Gentechnologie zu geben, zum Beispiel wie sie verantwortungsvoll damit umgehen können, sodass sich Saatgut nicht unkontrolliert verbreitet und Menschen in Entwicklungsländern nicht abhängig von Saatgut werden,
das von den Agrarmultis und den Chemiemultis der Industrieländer angeboten wird. Ich glaube, es ist wichtig,
dass mit der Gentechnologie in Entwicklungsländern
verantwortlich umgegangen wird und wir den Entwicklungsländern Hilfestellung geben und uns nicht zurückziehen, wie es der Antrag der Grünen fordert. Man muss
den Willen der Länder respektieren, auch wenn wir in
Deutschland dieses Thema anders handhaben. Jeder
kann seine eigene Meinung dazu haben. Aber man muss
respektieren, was die Entwicklungsländer wollen.
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass gute
Regierungsführung in den Entwicklungsländern wichtig ist. Wir unterstützen in einem Umfang von 350 Millionen Euro in 30 Ländern Programme zur ländlichen
Entwicklung. Diese und andere Programme beinhalten
allerdings auch die Förderung der Menschenrechte, von
demokratischen Strukturen und von Rechtssicherheit,
die Transparenz staatlichen Handelns, die Korruptionsbekämpfung, die Durchführung von marktwirtschaftlichen Reformen und von Landreformen sowie die Bildungs- und Gesundheitspolitik.
Da ich gerade über gute Regierungsführung spreche,
möchte ich betonen: Ich denke, es ist richtig, dass die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit bei diesem
Thema einen Schwerpunkt setzt. Denn es gibt viele Länder, die über einen ländlichen Raum verfügen. Allerdings leben in diesem ländlichen Raum häufig Arme und
Hungernde. Diese Länder wären durchaus in der Lage,
diese Menschen zu ernähren und ihnen ein gutes Einkommen bzw. Auskommen zu ermöglichen.
Aus besonderem Anlass möchte ich ein Land hervorheben, von dem ich glaube, dass es durchaus wohlhabend
sein könnte, nämlich Kuba. Kuba ist eine Karibikinsel,
die nahe an den USA liegt. Die dortigen klimatischen
Verhältnisse sind für die landwirtschaftliche Produktion
gut. Eigentlich könnte diese Insel blühen und gedeihen
und alle Menschen könnten in Wohlstand leben. Aber
Kubas Regierung nimmt ihre Bevölkerung in Geiselhaft
und will von Demokratie und Menschenrechten nichts
wissen.
An dieser Stelle muss ich auf etwas hinweisen, das
mich sehr empört hat: Eine Delegation des Deutschen
Bundestages, die Deutsch-Mittelamerikanische Parlamentariergruppe, wollte aus Solidarität mit der kubanischen Bevölkerung nach Kuba reisen, um einen Beitrag
zu Verständigung, Dialog und Demokratisierung zu leisten und den Menschen eine Perspektive zu geben.
({1})
Weil wir bei dieser Gelegenheit auch mit Oppositionellen reden wollten, hat die kubanische Regierung der Delegation des Deutschen Bundestags den Stuhl vor die
Tür gesetzt. Das darf sich dieses Haus nicht gefallen lassen.
({2})
Gute Regierungsführung ist eine Aufgabe, der sich
die Entwicklungsländer selbst stellen müssen. Nur dann,
wenn sie das tun, können wir auch im ländlichen Raum
den Hunger überwinden.
Als Industrienation müssen wir auch unsere eigenen
Hausaufgaben machen. Wie ich bereits vorhin sagte,
geht es dabei auch um die globalen Rahmenbedingungen
im Handelsbereich. In dieser Woche jährt sich das Scheitern der WTO-Konferenz in Hongkong. Damals ging es
bei der festgefahrenen Doha-Entwicklungsrunde darum - das steht nach wie vor im Mittelpunkt -, den Entwicklungsländern für ihre Produkte, auch für ihre Agrarprodukte, einen fairen Marktzugang zu ermöglichen.
Wir dürfen nicht weiterhin mit enormen Subventionen
Exportdumping betreiben, sodass die Bauern ihre Waren
nicht verkaufen können, weil zum Beispiel tiefgefroreDr. Sascha Raabe
nes Geflügelfleisch aus der EU in afrikanischen Regalen
liegt. Man kann die Hühnerfarm eines Bauern noch so
sehr unterstützen, auch mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Aber wenn man diese Situation nicht ändert, hat er davon nichts.
Das Europaparlament hat heute den Haushalt für
das Jahr 2007 beschlossen. Den größten Haushaltsposten
- er beträgt fast 50 Prozent; das entspricht knapp 55 Milliarden Euro - bilden die Subventionen für die Landwirtschaft. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich in der Debatte, die wir heute Morgen geführt haben, nicht nur
unsere Entwicklungsministerin, sondern auch die Bundeskanzlerin für gerechte Handelsbedingungen stark gemacht hat. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat die
enormen Agrarsubventionen der EU und der USA vehement kritisiert. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass
die Länder des Südens keine fairen Handelsbedingungen
vorfinden, und betont, dass er das ändern will. Ich denke,
hier hat er Recht.
({3})
- Ja. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das müssen auch wir
unterstützen.
Ich glaube, wir müssen auch bei den Verhandlungen
im Rahmen der Economic Partnership Agreements, also
der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den afrikanischen und karibischen Staaten, einfordern, dass den
Entwicklungsländern wirklich faire Handelschancen
eingeräumt werden.
Letztlich hilft die ländliche Entwicklung nicht nur
den Menschen in den Entwicklungsländern. Wie die Verleihung des Friedensnobelpreises am Sonntag letzter
Woche an Herrn Yunus gezeigt hat, besteht auch ein sehr
starker Zusammenhang zwischen Frieden und Entwicklung. Das eine bedingt das andere. Meiner Meinung nach
gibt es aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen
Entwicklung und Frieden, sondern auch einen Zusammenhang zwischen Entwicklung und Freiheit. Daher
möchte ich mit einem Zitat von Willy Brandt schließen.
Er hat gesagt:
Satte Menschen sind nicht notwendigerweise frei,
hungernde Menschen sind es in jedem Fall nicht.
Lassen Sie uns in diesem Sinne für die Freiheit kämpfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Addicks von
der FDP-Fraktion.
Danke. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
wir alle das Ziel verfolgen, den Hunger wirksam zu bekämpfen und die ländliche Entwicklung zu fördern, hätten wir wirklich einen interfraktionellen Antrag formulieren können.
Leider haben wir heute nicht über die Überschrift abzustimmen - wenn es so wäre, könnten Sie unserer Zustimmung sicher sein.
Es ist vieles richtig, was die Grünen in ihrem Antrag
schreiben und fordern. Doch leider ist es nicht so viel,
dass wir einfach so zustimmen könnten; ich habe das
gestern im Ausschuss begründet und ich will gleich noch
ein bisschen dazu sagen.
Es ist richtig: Es ist ein Riesenskandal, dass es auf
diesem Planeten immer noch Menschen gibt, die hungern müssen, dass Kinder wegen Nahrungsmangels
krank werden und sterben. Dieser Nahrungsmangel besteht nicht nur in qualitativer Hinsicht, er besteht ebenso
in quantitativer Hinsicht. Nach den Berichten der Weltgesundheitsorganisation haben 852 Millionen Menschen auf diesem Planeten nicht genügend Nahrung und
diese Zahl steigt sogar noch - und das, obwohl die Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit weltweit erhöht
werden. Offensichtlich geht die Gleichung „Mehr Geld
gleich mehr Hilfe gleich weniger Hunger“ nicht auf.
Gibt es etwas, was wir in der Entwicklungszusammenarbeit nicht richtig machen? Was können wir besser machen? Diese Fragen müssen immer wieder gestellt werden.
Damit komme ich zu den Punkten im Antrag der Grünen, die absolut nicht unsere Zustimmung finden können. Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine der
größten Herausforderungen; da sind wir völlig einer
Meinung. Doch die Frage lautet: Warum hungern die
Menschen ausgerechnet in den ländlichen Gebieten, woher die Nahrung doch kommt? Hat das vielleicht etwas
mit der Verteilung des Agrarlandes zu tun? Ja, sicher.
Aber das ist es nicht allein; es sind auch Krieg, Krankheit und Korruption. Kollege Raabe hat gerade schon
viele andere Gründe genannt; ich will das nicht noch einmal aufzählen. Jedenfalls gibt es dafür viele Ursachen.
Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmittelprogramme allenfalls punktuell. Natürlich helfen wir in akuten Notlagen, etwa bei Hungerkrisen. Aber auf die Dauer nutzen
nur Maßnahmen, die die Entwicklungsländer auf den
Weg von Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft und Pluralismus bringen. So lassen sich die Ursachen des Hungers bekämpfen. Das sind die Maßnahmen, die wir in
erster Linie fördern und fordern müssen.
({0})
Es ist nicht so, dass wir das nicht schon täten. Aber
wir können diese Maßnahmen besser bündeln, besser
synchronisieren und effizienter gestalten. Wir sind da an
einigen Punkten anderer Auffassung als die Grünen,
übrigens gemeinsam mit der Bundesregierung. Wer
Afrika kennt, der weiß, dass dieses Land - zumindest in
den tropischen und subtropischen Zonen - auch
2 Milliarden Menschen ernähren könnte. Gehen Sie hin
und stecken Sie eine Banane in die Erde - stecken Sie irgendetwas in die Erde! -, und Sie werden ohne viel Dazutun in kürzester Zeit die Ernte einfahren.
Allerdings fruchten diese Maßnahmen nur, wenn sie
ineinander greifen, wenn sie miteinander verzahnt sind sonst bleibt alles Stückwerk. Deshalb sollten wir in der
EZ nicht den großen Wurf versuchen, sondern den Ländern ganz kontinuierlich bei der Entwicklung helfen,
sprich: den Beginn der Wertschöpfungsketten stärken.
Da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die ländliche Entwicklung und die Landwirtschaft zu fördern, sehr richtig. Aber das ist es nicht allein. Wichtig sind auch Kleinhandel, Handwerk, Kleingewerbe und viele andere
kleine Dinge. Wir haben bei unseren Besuchen in Namibia und in anderen afrikanischen Ländern gesehen, wie
es funktioniert, Leute zum Beispiel mit Mikrokrediten in
die Selbstständigkeit zu bringen, wie Arbeitsplätze geschaffen werden und Menschen dadurch letztlich von
Hilfe unabhängig gemacht werden. Das ist die beste Entwicklungszusammenarbeit, das ist die Entwicklungszusammenarbeit aus einem Guss, die wir brauchen.
({1})
- Auch eine Form der Landwirtschaft; es gibt viele Formen.
({2})
Aber ich will darauf jetzt nicht näher eingehen. Haben
Sie schon einmal längere Zeit in Afrika gelebt, Herr Trittin?
({3})
Ich war jahrelang da, ich weiß genau, wovon ich rede.
Kommen Sie mir bitte nicht mit solch trivialen Zwischenrufen!
({4})
Die Forderung der Grünen, mit westlichem Bürokratismus die Dinge zu regulieren, mit Labels und Standards, das passt überhaupt nicht; so etwas können wir
irgendwann später einführen. Das brauchen die Entwicklungsländer jetzt nicht.
({5})
Sie brauchen eine Liberalisierung, einen Abbau von
Handelshemmnissen und Zöllen; Herr Raabe hat das gerade schon gesagt.
({6})
- Herr Trittin, also bitte! - Nur so erreicht man die Wertschöpfung in den Entwicklungsländern, die - ({7})
- Herr Präsident, jetzt müssen Sie aber langsam unterbrechen.
({8})
Verabschieden Sie sich bitte von den Dogmen, auch
vom Dogma der Ablehnung der Grünen Gentechnik.
Das ist nicht das Teufelszeug, als das Sie es immer
brandmarken. Die Grüne Gentechnik bringt auch sehr
segensreiche Dinge mit sich - das haben übrigens auch
Leute von Greenpeace erkannt -, sie eröffnet durchaus
Chancen und beinhaltet nicht nur hypothetische Risiken.
Herr Hoppe, auch Düngemittel können für die Landwirtschaft in der Dritten Welt eine sehr große Bedeutung haben. Man sollte das nicht einfach ablehnen. Die Pflanzen
brauchen nun einmal bestimmte Mineralien; fehlende
Mineralien begrenzen ihr Wachstum. Lassen Sie die
Dogmen hinter sich! Dann kommen wir zu gemeinsamen zustimmungsfähigen Anträgen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! In vielen Ländern
rund um den Globus ist die Bekämpfung des Hungers
die wichtigste Voraussetzung für eine positive Entwicklung. Letztendlich wollen wir alle eine positive Entwicklung erreichen; darum müssen wir kämpfen. Wir haben
die Zahl schon gehört: 850 Millionen Hungernde. Das ist
natürlich viel zu viel. Diese Zahl muss sinken. Wir haben auch von dem Millenniumsziel gehört: Bis 2015
wollen wir die Zahl der Hungernden halbieren. Das ist
ein hochgestecktes Ziel; aber wir müssen es erreichen.
Dabei stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass
auf der einen Seite in Ländern wie Ghana, Mosambik
und Brasilien erfreulicherweise beachtliche Fortschritte
bei der Bekämpfung des Hungers erzielt werden konnten, während auf der anderen Seite die Situation in ganzen Regionen unverändert dramatisch ist. Wir müssen
zunächst nach den Ursachen fragen und diese analysieren.
Bei der Sicherung der Ernährung sind drei Elemente von entscheidender Bedeutung:
Erstens: eine ausreichende Produktion guter Nahrungsmittel. Sie kann durch Veränderungen in vielen Bereichen erreicht werden.
Zweitens: der Zugang zu Nahrung. Damit meine ich
auch die fehlende Kaufkraft in vielen Ländern.
Drittens: die Verwertung der Nahrungsmittel.
Daraus wird ersichtlich, dass in den einzelnen Entwicklungsländern je nach Problemlage unterschiedliche
Handlungsfelder gewählt werden müssen. Wenn man
sich beispielsweise Afrika anschaut, stellt man fest, dass
im Unterschied zu anderen Regionen die Erträge pro
Kopf der Bevölkerung in den letzten Jahren dramatisch
zurückgegangen sind. Hier muss man mehr in die landwirtschaftliche Produktion investieren.
({0})
So können wir etwas erreichen.
In anderen Ländern, beispielsweise in Lateinamerika,
haben wir ein Problem mit der Kaufkraft. Dort müssen
wir der Bevölkerung eine ganz andere Form der Hilfe
zukommen lassen. Sozialprogramme wie „Fome Zero“
in Brasilien sind dabei sicherlich ein guter Ansatzpunkt.
Oftmals scheitert eine ausreichende Versorgung mit
Nahrungsmitteln am fehlenden Zugang von Bauern zu
Land und an mangelhaft durchgeführten Landreformen.
Eine umverteilende Landreform allein ist in den meisten
Fällen aber nicht ausreichend, um eine nachhaltige ländliche Entwicklung zu erreichen. Auch hier müssen wir
individuelle Lösungen finden.
Die Implementierung von Agrarreformen führt nicht
nur zu einer Umverteilung von Land, sondern auch dazu,
dass Bauern und Landlose in die Lage versetzt werden,
nachhaltig zu produzieren. Sie müssen am Markt und damit am Wettbewerb teilhaben können. Natürlich müssen
sie entsprechende Ressourcen wie auch Kapital zur Verfügung haben. Hierbei sind Aus- und Fortbildung mit Sicherheit ganz wichtige Punkte; beides müssen wir weiterhin fördern.
Die Bundesregierung - das muss man anerkennen unterstützt Agrar- und Bodenreformen, indem sie im
politischen Dialog mit den Regierungen der Partnerländer hierfür eintritt. Hierbei spielen die finanzielle Förderung des Aufkaufs von Land im Zuge von Landreformen,
das Angebot zur Beratung bei Landverfassungsreformen, die Hilfe bei Fragen sozialverträglicher Landverteilung, aber auch der Zugang von Frauen zu Ressourcen
neben vielen anderen Dingen eine wichtige Rolle.
In dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam
bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ wird kritisiert, dass sich die
internationale Agrarforschung zu sehr auf die Gebiete
konzentriert, die ertragsstark sind bzw. bewässert werden können. Ich kann das so nicht sehen und ich meine,
die Kritik ist nicht angebracht, weil dadurch auch wichtige Impulse und Beiträge geliefert werden, um gerade
dieses Problem bewältigen zu können.
({1})
Auch durch die in dem Antrag geforderte Ausrichtung auf die ökologische Landwirtschaft allein - das
haben wir eben schon gehört - kann nicht entscheidend
zur Linderung des Hungers beigetragen werden. Hier
müssen wir ebenfalls alle Möglichkeiten ausschöpfen,
die sinnvoll sind und uns weiterhelfen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns von ideologischen Präferenzen lösen
({2})
und nach vernünftigen, standortgerechten und nachhaltigen Lösungen suchen, sie finden und dann auch umsetzen.
({3})
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir den Entwicklungsländern - sozusagen unseren Partnerländern - nicht
vorschreiben können und wollen, was sie zu tun und was
sie zu lassen haben. Wir können nur gemeinsam und auf
gleicher Augenhöhe mit ihnen vernünftige Lösungen
finden, Programme entwickeln und die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen
vor Ort mit einbauen. Nur dadurch werden wir eine sinnvolle Arbeit leisten können.
Es ist auch schon angeklungen, dass die Partnerländer selbst natürlich ebenfalls in der Verantwortung sind.
Ich bin froh darüber - Sie von den Grünen verweisen in
Ihrem Antrag ja auch darauf -, dass es die freiwilligen
Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung gibt.
Sie sind ein großer und wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Hungers. Die jeweiligen nationalen Regierungen werden durch sie in die Pflicht genommen, dafür
Sorge zu tragen, dass die Bevölkerung einen ausreichenden Zugang zu Nahrung hat. Von dieser Verantwortung
werden wir die Regierungen auch nicht entbinden. Unsere Entwicklungszusammenarbeit kann nur subsidiär
sein. Daran müssen wir entsprechend arbeiten und das
müssen wir unterstützen.
Wir sollten dabei allerdings auch überlegen, wie wir
das bereits angesprochene Instrument der freiwilligen
Leitlinien weiterentwickeln können, damit dadurch noch
besser zur Bekämpfung des Hungers beigetragen werden
kann. Vorstellbar wäre ein effektives Monitoring-Instrument, um die Erfolge und auch Probleme der nationalen
Regierungen bei der Bekämpfung des Hungers zu dokumentieren und zu analysieren. Dazu liegt ja bereits eine
entsprechende Studie vor, die als Grundlage für die Beratung dienen kann.
Darüber hinaus ist die Erweiterung des Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte um die Möglichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens zu diskutieren. Derzeit arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe des
UN-Menschenrechtsrates daran. Vielleicht gelingt es uns
ja, die Möglichkeit einer Individualbeschwerde hinsichtlich des Rechts auf Zugang zu Nahrung auf internationaler Ebene vor dem entsprechend zuständigen UN-Ausschuss zu schaffen.
({4})
So könnten die Regierungen besser in die Verantwortung
genommen werden, die Verpflichtungen aus den jeweiligen freiwilligen Leitlinien einzuhalten und umzusetzen.
Dass wir all dies nicht im Alleingang bewältigen
können, liegt auf der Hand. Die Notwendigkeit einer
besseren internationalen Absprache und Arbeitsteilung wird von niemandem bestritten.
({5})
Ich befürchte aber, dass die FAO allein mit dieser Aufgabe möglicherweise überfordert ist. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Antrag auch auf andere wichtige
internationale Gremien, wie beispielsweise die Global
Donor Platform for Rural Development, verwiesen worden wäre.
Des Weiteren ist in dem vorgelegten Antrag zu lesen,
dass wir die marktverzerrenden Agrarsubventionen
senken sollen. Ich glaube, dass wir hier mutiger sein
müssen und auch wollen. Daher ist es unser Ziel, die
Agrarexportsubventionen nicht nur zu senken, sondern
langfristig ganz abzuschaffen.
({6})
Meine Damen, meine Herren, bei all diesen kritischen
Anmerkungen zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, die ich jetzt gemacht habe, möchte
ich ausdrücklich festhalten, dass er in vielen wichtigen
Teilen richtige Vorschläge enthält und dass wir seitens
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wesentliche Teile
auch unterstützen. Trotzdem ist uns der Antrag an vielen
Stellen - dies ist bereits kritisiert worden - zu pauschal
und zu tendenziös. Aus diesem Grunde müssen wir ihn
leider ablehnen.
Ich hoffe nur, dass wir bald zu einem gemeinsamen
Antrag kommen - das ist ja auch bereits mehrmals angesprochen worden - und dass wir hier einen vernünftigen
und guten Antrag verabschieden, mit dem wir alle unsere Ziele verwirklicht sehen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydin von der
Fraktion Die Linke.
({0})
- Kollege Aydin. Entschuldigung.
({1})
So sieht eine Kollegin aus. - Meine Damen und Herren! Herr Präsident! 1996 gab es das Versprechen der
Regierenden, den Hunger auf der Welt bis zum
Jahr 2015 zu halbieren. Die Bilanz ist erschütternd.
Nach Angaben der FAO hat sich die Zahl der Hungernden von 840 auf 854 Millionen erhöht. Ein Antrag, der
die Hungerbekämpfung ins Zentrum der Politik stellt,
findet selbstverständlich unsere Zustimmung.
Als zentrale Maßnahme zur Umsetzung des Rechts
auf Nahrung definieren die Antragsteller den Zugang zu
produktiven Ressourcen und Einkommensmöglichkeiten. Das ist richtig. Ein Beispiel: Im Sommer 2005 erreichten uns aus Niger Nachrichten über eine dramatische Hungerepidemie. Dürre und Heuschreckenbefall
sollen die Ursache gewesen sein. Tatsächlich betrug der
Rückgang des Ernteertrages aber nur 10 Prozent. Doch
das reichte aus, um die Preise für Getreide hochzutreiben, und das in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung pro Tag nicht mehr als einen Dollar zur Verfügung hat. Eine Katastrophe!
Während die Menschen im Niger hungerten, exportierten Nahrungsmittelhändler ihr Getreide ins Nachbarland Nigeria, wo mehr Menschen über das notwendige
Geld verfügen. Die Hungerepidemie von 2005 im Niger
war Ergebnis einfacher Marktmechanismen.
Der Hunger in der dritten Welt ist auch unser Problem.
({0})
Denn wer hungert, hat nichts mehr zu verlieren. Es ist
vollkommen verständlich, dass Menschen aus vielen
Ländern Afrikas dem Elend entfliehen wollen. Und was
macht die EU? Sie stellt Gelder für die Aufrüstung der
Grenzpolizei zur Flüchtlingsabwehr zur Verfügung.
Die Linke sagt Nein zu dieser Politik.
({1})
Das Übel muss an der Wurzel gepackt werden. Die
Menschen müssen einen Arbeitsplatz haben, der die
Existenz ihrer Familien sichert. Beschäftigung ist das
beste Mittel gegen Armut und Hunger. Dies erfordert in
vielen Ländern der Dritten Welt den Wiederaufbau staatlicher Strukturen, die seit den 80er-Jahren unter dem
Druck von IWF oder Weltbank systematisch zerstört
worden sind.
Die Antragsteller verweisen außerdem zu Recht auf
das Landproblem. Nach UN-Angaben sind die Hälfte
der weltweit Hungernden Kleinbauern und ihre Familien. Ein weiteres Viertel stellen Landlose. Es braucht
dringend Landreformen. Nur wenn Großgrundbesitzer
zugunsten der Landlosen enteignet werden, kann die extrem ungleiche Verteilung als eine der Hungerursachen
beseitigt werden.
({2})
Die Linke sagt: Wir müssen eine Politik der systematischen Armutsbekämpfung in den Ländern der Dritten
Welt unterstützen. Armutsbekämpfung heißt für uns die
Zurückdrängung ungesicherter Jobs in der Schattenwirtschaft durch die Schaffung staatlich garantierter Arbeitsplätze mit angemessenen Löhnen,
({3})
eine Umverteilung von Land zugunsten der Landlosen
und Kleinbauern in den Ländern der Dritten Welt, staatliche Eingriffe in den Markt, zum Beispiel zur Subventionierung von Getreide- und Milchprodukten.
({4})
Dies muss welthandelspolitisch flankiert werden
durch die Senkung der Zinslast durch Streichung illegitiHüseyin-Kenan Aydin
mer Schulden, die Stärkung von Zollschutzmechanismen
für die Landwirtschaft der Entwicklungsländer, um sie
vor der ruinösen Konkurrenz durch die großen Nahrungsmittelkonzerne der Industrieländer abzuschirmen.
Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, den Hunger zu bekämpfen, müssen Sie diese Vorschläge annehmen. Ihre Argumentation, Sie könnten 80 Prozent des
Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen,
aber da 20 Prozent nicht Ihre Zustimmung finde, müssten Sie ihn ablehnen, ist heuchlerisch.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wird schwierig, in vier Minuten auf all die Argumente
und Unterstellungen einzugehen. Ich möchte am Ende
dieser Debatte noch einige Zahlen und klare Fakten allgemeinverständlich darlegen.
Es gibt acht Millenniumsziele. Bei sieben Millenniumszielen gibt es - wenn auch bescheidene - Fortschritte. Bei dem wichtigsten Ziel - die Halbierung der
Zahl der Hungernden bis 2015 - gibt es aber keinerlei
Fortschritte, die Kurve verläuft vielmehr in die falsche
Richtung - das haben schon einige Redner festgestellt -:
Die Zahl der Hungernden steigt.
Das müsste doch zu einem Aufschrei und einer kritischen Selbstreflexion führen. Woran liegt das?
({0})
Zur kritischen Reflexion müssten die Regierungen der
vom Hunger betroffenen Staaten, aber auch die Akteure
der Entwicklungszusammenarbeit eigentlich einen Sonderkrisengipfel durchführen.
Es gibt noch eine zweite Kurve. Das hat heute noch
niemand deutlich gesagt. Herr Addicks, Sie haben festgestellt, dass die Mittel für die Entwicklungshilfe und
die Zahl der Hungernden zunehmen. Daraus haben Sie
geschlossen, dass die Entwicklungshilfe womöglich sogar eine Ursache dafür ist oder zumindest das Problem
nicht verbessert.
({1})
Erlauben Sie mir eine genauere Betrachtung. Nach
den neuesten Zahlen von UNDP - dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen - ist der Anteil der
Entwicklungshilfemittel, die für den ländlichen Raum
bzw. den Agrarbereich gedacht sind, von 1990 bis 2005
von 12 Prozent auf etwas mehr als 3 Prozent zurückgegangen.
Wir haben in der letzten Wahlperiode und in dieser
Wahlperiode im Entwicklungsausschuss zwei Anhörungen durchgeführt. Alle Sachverständigen aus den wissenschaftlichen Instituten haben übereinstimmend festgestellt, dass der Bereich ländliche Entwicklung
- speziell der Agrarsektor - sträflich vernachlässigt
wird. Das ist doch absolut widersinnig: Die Zahl der
Hungernden steigt, aber die Gelder für die Betroffenen
werden in diesem Bereich gekürzt.
({2})
Auf diesen Missstand - um nicht zu sagen: Skandal machen wir mit unserem Antrag aufmerksam.
Es reicht nicht aus, als Reaktion eine Träne darüber
zu vergießen, dass 30 000 Menschen pro Tag verhungern. Ich gebe zu, dass auch ich viele Reden mit Betroffenheitspädagogik oder mit aufrüttelnden Einzelschicksalen begonnen habe, die ich in den Notaufnahmelagern
in Niger selber kennen gelernt habe. Das allein reicht
aber nicht.
Es ist jetzt notwendig, auf den Missstand zu reagieren. Dazu fordern alle kirchlichen Hilfswerke und NGOs
wie Brot für die Welt, Misereor oder FIAN mehr Geld
und neue Konzepte für die ländliche Entwicklung,
und zwar besonders für die Landwirtschaft.
({3})
Ich begreife nicht, dass zwar in den Anhörungen viele
Fachpolitiker dieser Forderung zustimmen, dass aber im
Etat dieser Bereich nach wie vor in zunehmendem Maße
vernachlässigt wird.
({4})
Diesen Skandal prangern wir an. Ich bitte Sie, das endlich anzugehen.
Es gab einen Beitrag - und zwar von Herrn Dr. Bauer mit sehr viel Substanz auch zum Thema Recht auf Nahrung. Dafür möchte ich mich bedanken.
Damit komme ich zu meinem nächsten Punkt. Was
das Recht auf Nahrung angeht, müssen drei Voraussetzungen geschaffen werden. Erstens sind mehr Geld und
neue Konzepte für den ländlichen Raum in der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Aber das Gegenteil ist der Fall, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern international. Das muss zu einem Aufschrei führen.
Zweitens muss das Recht auf Nahrung einen sehr großen Stellenwert bekommen. Das stößt manchmal an die
Grenzen einer überstrapazierten Ownership. Wenn unser
Ministerium beispielsweise in Verhandlungen mit der
Regierung von Niger darauf hinweist, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt werden muss, um sich nicht zu verzetteln, und der Regierung die Auswahl dieser Bereiche überlässt, darf es
einem Land mit extrem vielen Hungertoten nicht möglich sein, dass die Regierung in diesem Fall der ländlichen Entwicklung eine geringere Bedeutung beimisst
und sich für andere Sektoren entscheidet.
({5})
In einem Land, in dem Menschen verhungern, dürfen
nicht andere Sektoren den ländlichen Bereich verdrängen.
Drittens. Wie der Kollege Sascha Raabe zu Recht
festgestellt hat, reicht eine Senkung der Agrarexportsubventionen nicht aus. Wir sind gerne bereit, den Antrag in diesem Punkt noch radikaler zu formulieren. Wir
fordern die Abschaffung aller marktverzerrenden Agrarsubventionen. Das ist völlig klar.
Wir brauchen gerechte Strukturen im Welthandel. Das
hat auch Herr Bauer festgestellt. Aber in einem Punkt
möchte ich ihm deutlich widersprechen. Es wurde das
Bild gemalt, dass mit einem freien Welthandel, mit Handelsliberalisierung und einem verbesserten Marktzugang
für die Entwicklungsländer das Problem des Hungers
überall gelöst werden kann.
Es gibt zwei weitere Kurven, die eigentlich kaum zusammenpassen. Es gibt Länder, die auf dem Papier Wirtschaftswachstum durch die Ausweitung der Plantagenexportwirtschaft haben. Trotzdem steigt dort die Zahl
der Hungernden. Warum? Wenn es keine flankierende
Sozialpolitik, kein progressiv gestaffeltes Steuersystem
und keine Umweltgesetzgebung in den betreffenden
Ländern gibt, dann führt eine Ausweitung der Plantagenwirtschaft zur Verdrängung von Kleinbauern, Familienbetrieben und Indigenen. Das kann man in vielen
Ländern mit einer starken Weltmarktintegration sehen.
Diese kann unter anderen Voraussetzungen sehr segensreich sein. Wir vertreten keine Abschottungstheorie.
Wenn es aber keine flankierende Gesetzgebung gibt,
dann führt die Weltmarktintegration zu noch mehr Hungernden, als wir heute bereits haben.
({6})
Herr Kollege Hoppe, kommen Sie bitte zum Schluss.
Auf die genannten drei Säulen gehen wir in unserem
Antrag ein. Es war in der alten Regierung mit der SPD
leichter, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Unser heutiger Antrag ist zu 80 bis 90 Prozent identisch
mit alten Anträgen betreffend die Bekämpfung des Hungers. Ich finde es schade, dass wir nun damit alleine stehen.
Herr Kollege Hoppe, Sie haben Ihre Redezeit weit
überschritten.
Vielleicht wird die Anregung aufgegriffen und wir
unternehmen den Versuch eines fraktionsübergreifenden
Antrags.
Danke sehr.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/3835 zu
dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Den Hunger in Entwicklungsländern
wirksam bekämpfen - das Recht auf Nahrung umsetzen
und ländliche Entwicklung fördern“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhard
Grindel, Wolfgang Börnsen ({1}), Peter
Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Jörg Tauss, Monika Griefahn, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Schaffung eines kohärenten europäischen Rechtsrahmens für audiovisuelle
Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher
Medien- und Kommunikationspolitik in
Europa machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph
Waitz, Hans-Joachim Otto ({2}), Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für einen zukunftsfähigen europäischen
Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste - den Beratungsprozess der EUFernsehrichtlinie aktiv begleiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle
Mediendienste
- Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977,
16/3791 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({4}), Christoph Waitz,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit
Internetanschluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
grundlegend reformieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - sofortige
Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias
Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793,
16/3792 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hans-Joachim Otto ({5})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Ich bitte die Kollegen, die dieser Aussprache nicht
folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen
dem Redner folgen können.
({6})
Bitte schön, Herr Kollege Grindel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat das Europaparlament in erster Lesung die
Neuregelung der EU-Fernsehrichtlinie beschlossen.
Heute verabschieden wir einen umfassenden Beschluss
des Deutschen Bundestages mit unseren Erwartungen an
die Beratungen im EU-Ministerrat. Ich finde, das ist ein
richtiges Signal auch an unseren Kulturstaatsminister
Bernd Neumann. Wir wollen als nationales Parlament
EU-Richtlinien nicht nur umsetzen, sondern auch Einfluss nehmen und mitgestalten.
({0})
Dabei verkennen wir nicht die Zuständigkeit der Bundesländer. Aber auch uns, dem Bundestag, kann es nicht
egal sein, wie sich das Fernsehen in Deutschland weiterentwickelt. Angesichts zunehmend schwieriger werdender politischer Prozesse brauchen wir ein qualitativ gutes
Fernsehen als Mittler zu unseren Wählern. Wir brauchen
das Fernsehen als ein Medium für den öffentlichen Diskurs. Es geht beim Fernsehen um ein Programmangebot zur Information, Bildung und Unterhaltung. Fernsehen ist für uns sowohl Kultur- als auch Wirtschaftsgut.
({1})
- Richtig, in dieser Reihenfolge, lieber Kollege Tauss.
Das verbindet uns in der großen Koalition.
Ich sage es einmal zugespitzt: Ziel des Fernsehens
kann es nicht sein, dass alle Zuschauer zu einer Infoelite
werden. Sie dürfen aber auch nicht in einem Unterhaltungsprekariat versinken - um es einmal so zu formulieren.
({2})
Demzufolge müssen wir mit der Umsetzung der EUFernsehrichtlinie beide Säulen unseres dualen Rundfunksystems stärken. Die große Koalition will so viel
Flexibilisierung wie möglich und so viel Regulierung
wie nötig. Beispiel Werbezeiten: So wie in unserem fraktionsübergreifenden Antrag grundsätzlich gefordert, hat
nun das Europäische Parlament eine Ausweitung der
Werbeunterbrechungen auf alle 30 Minuten beschlossen.
Gleichzeitig werden Einzelspots bei Sportsendungen zugelassen. Das ist ein sachgerechter Kompromiss. Dabei
weise ich darauf hin, dass sich die europäischen Liberalen, lieber Herr Kollege Otto, gerade gegen die Aufhebung des Blockwerbegebots ausgesprochen haben. Das
sage ich nur für den Fall, dass die FDP im Bundestag auf
dieses Thema näher eingehen sollte.
Zur Produktplatzierung wird unser Kollege Krummacher einiges sagen. Anders als von der EU-Kommission gewollt, beschränkt das EU-Parlament die Produktplatzierung auf Fernsehfilme und Serien. Das ist gut. Gut
ist vor allem, dass Dokumentationen, Ratgebersendungen und Kinderprogramme von Produktplatzierung frei
bleiben sollen
({3})
und dass es hier alle 20 Minuten zu einem Warnsignal
kommen soll, um die Zuschauer aufzuklären und zu informieren. Das geht in die richtige Richtung. Trotzdem,
Herr Staatsminister, haben Sie im Ministerrat unsere Unterstützung, wenn es darum geht, ganz auf Produktplatzierungen zu verzichten und damit auf eine klare Trennung von Werbung und Programm hinzuwirken.
({4})
Im Europaparlament haben die Versuche, das Fernsehen in Zukunft als reines elektronisches Wirtschaftsgut einzuordnen, keine Mehrheit gefunden, weil Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt nicht allein durch
das Wirtschaftsrecht geändert werden können.
Das Bekenntnis zu den zwei starken Säulen des dualen Rundfunksystems erfordert aber auch, dem - ich
sage es zugespitzt - Populismus zum Thema PC-Gebühren entgegenzutreten.
({5})
Das ist ja das zweite Thema dieser Debatte; deswegen
auch einige Anmerkungen dazu. Es geht mitnichten darum, für zusätzliche Gebühren oder für eine Belastung
der Wirtschaft in dreistelliger Millionenhöhe zu sorgen.
Es geht darum, dass nach dem Rundfunkrecht in
Deutschland für jedes Gerät, mit dem man Rundfunk
empfangen kann, eine Gebühr zu entrichten ist. Mit einem internetfähigen PC kann man Radio empfangen,
und rund 15 Prozent der Hörer machen das auch schon,
vor allem jüngere Leute. Nun ist aber nicht zu bestreiten
- das ist der entscheidende Punkt -, dass selbstverständlich die PCs nicht zum Radiohören angeschafft wurden.
Aber das hat die Rundfunkkommission der Länder auch
gesehen. Entscheidend ist deshalb - das ist seitens manches Wirtschaftsvertreters verschwiegen worden -, dass
für die neuartigen Geräte gerade im gewerblichen Bereich eine umfassende Zweitgerätefreiheit gilt, wie wir
sie für normale Radios und Fernseher aus dem privaten
Bereich kennen. Wenn also irgendwo - das muss man
verdeutlichen - in der Werkstatt, im Auto des Betriebsleiters oder im Ladengeschäft bereits ein Radio existiert,
dann braucht sich niemand über eine Gebühr für den PC
Gedanken zu machen, vorausgesetzt natürlich, dass das
Gerät angemeldet ist. Das bedeutet auch, wenn im gewerblichen Bereich mehrere Radios angemeldet waren,
dann können diese jetzt getrost abgeschafft und dann
kann Hörfunk über PCs gehört werden, und zwar für nur
noch eine Gebühr.
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Ja.
Lieber Herr Kollege Grindel, verstehe ich Sie richtig,
Sie halten die PC-Gebühr trotz aller Proteste für richtig
und widersprechen damit Ihrem in dieser Sache sehr viel
weiteren Kulturstaatsminister und dem Bundeswirtschaftsminister, der sich kritisch mit dieser Gebühr beschäftigt hat?
({0})
Das Entscheidende bei der Diskussion, lieber Kollege
Otto - ich will Ihnen das erklären -, war die Frage, ob es
angesichts der öffentlichen Debatte und des Umstands,
dass es hier um Gebühreneinnahmen von etwa
5 Millionen Euro geht - das ist ja keine große Summe -,
({0})
notwendig war, mehr oder weniger aus strategischen
Gründen jetzt diese Entscheidung in der Ministerpräsidentenkonferenz zu fällen. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Mit einem Stimmenverhältnis von
15 : 1 hat man sich in der Ministerpräsidentenkonferenz
für die Linie, die mit dem Rundfunkstaatsvertrag eingeschlagen worden ist, entschieden.
({1})
Ich halte das für richtig und habe die Anmerkungen
des Staatsministers auch nicht dem Grunde nach verstanden, sondern mehr formell, ob es notwendig ist, zu diesem Zeitpunkt diese Entscheidung zu treffen oder dafür
zu sorgen, mehr über die wahren Sachverhalte aufzuklären, dass es um keine zusätzliche Gebühr geht, sondern
um die Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags und einer
Regelung, die klar macht: Wenn man mit einem Gerät
Radio oder später einmal Fernsehen empfangen kann
und kein anderes Gerät angemeldet hat, dann muss man
eine Gebühr dafür zahlen. Um nicht mehr und nicht weniger ging es. Da sind der Kulturstaatsminister und unsere Fraktion völlig einer Meinung.
({2})
Herr Kollege Grindel, der Herr Kollege Börnsen
möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie
auch diese?
Ja, aber mit Bedenken.
({0})
Bitte schön, Herr Börnsen.
Herr Kollege Grindel, trifft es nicht zu, dass die Frage
um die Fernseh- und Rundfunkgebühr einen bestimmten
Prozesscharakter gehabt hat, nämlich dass erst am
24. Oktober 2006 die Ministerpräsidenten eine Entscheidung gefällt haben, die dazu geführt hat, dass man in der
Zweitgerätebesteuerung einen ganz neuen Weg beschritten hat und am Ende der Diskussion der Wirtschaftssenator von Hamburg, Gunnar Uldall, gesagt hat: Diese
Zweitgerätelösung ist ein Vorteil für alle Beteiligten, besonders für Mittelstand, Handwerk und Gewerbe?
Herr Kollege Börnsen, überraschenderweise kann ich
Ihnen das bestätigen.
({0})
Ich will auf einen Punkt hinweisen, weil das, was Sie gesagt haben, völlig richtig ist und meines Erachtens auch
den vielen besorgten Unternehmern im Land gesagt werden muss. Um das noch einmal ganz klar zu machen:
Wer herkömmliche Fernseher und Radios in größerer
Zahl hatte, musste jedes einzelne Gerät anmelden und
dafür eine Gebühr zahlen. Das wird jetzt anders sein.
Wegen der Regelung über die Zweitgerätefreiheit wird
es so sein, dass man für ein Gerät zahlt und alle anderen
Geräte von der Gebühr befreit sind.
({1})
Was der Kollege Uldall meint, ist, dass dann, wenn man
zehn oder 15 Radios oder Fernsehgeräte in seinem Betrieb hat - in manchen Betrieben werden das noch mehr
sein -, man all diese Geräte getrost abschaffen und dann
über Internet jetzt schon Radio und, wenn es in Zukunft
technisch möglich ist, Fernsehen empfangen kann.
({2})
Insofern wird es in diesem Bereich eine gewisse Entlastung für die Wirtschaft geben. Da haben der Kollege
Uldall und auch Sie völlig Recht.
({3})
Wir sollten jetzt die Empfehlung der Rundfunkkommission der Länder abwarten. Deshalb werden wir den
Anträgen, die es dazu gegeben hat, nicht zustimmen.
({4})
Ich will aber eines deutlich sagen. Wir sollten den jetzt
eingeschlagenen Weg noch präzisieren und zu der Lösung kommen: GEZ-Gebühr plus umfassende Zweitgerätebefreiung. Denn die manchmal sehr schneidig vorgetragenen Alternativen haben ihre Probleme. Denken Sie
an die personenbezogene Medienabgabe, die von Ihnen, Herr Kollege Otto, empfohlen wird. Die ist verfassungs- und abgabenrechtlich ausgesprochen problematisch und die Familien zahlen die Zeche. Auch das ist
wahr.
({5})
Eine haushaltsbezogene Abgabe ist in einer mobilen
Gesellschaft schwer zu kontrollieren. Eine Rundfunksteuer verstößt gegen das Gebot der Staatsferne.
Eines wird völlig übersehen. Das sage ich mit Hinweis auf die Diskussion, die wir gerade in diesen Tagen
über ARD und ZDF und die EU-Wettbewerbshüter haben. Jede Alternative zur herkömmlichen Rundfunkgebühr würde EU-rechtlich zu erheblichen Problemen führen. Die Rundfunkgebühr gibt es seit 1953. Das war vor
unserem EG-Beitritt. Sie ist eine Altbeihilfe. Würden
wir jetzt etwas ändern, würde es sich bei einer neuen Abgabe um eine Neubeihilfe handeln. Jede Gebührenerhöhung müsste in Brüssel notifiziert werden. Da kann ich
angesichts der Debatten, die wir in diesen Tagen haben,
Neugierige nur warnen. Eine Regelung auf der Basis einer großzügigen Zweitgerätefreiheit - das ist mein persönlicher Vorschlag - wäre dagegen europafest und relativ einfach zu machen. Dabei könnten - das will ich
betonen - Ungerechtigkeiten im Bereich des Hotelgewerbes oder bei Filialbetrieben angepackt werden.
Schlussgedanke: Ich habe ein Bekenntnis zum dualen
System und zur Qualität auch und besonders des öffentlich-rechtlichen Fernsehens abgelegt. Gerade die ARD
kann man aber auch von dieser Stelle aus - das möchte
ich tun - bitten, es den Unterstützern des öffentlichrechtlich Systems nicht schwerer zu machen, als es ohnehin manchmal schon ist. Wenn man auf Unterscheidbarkeit gegenüber den Privaten Wert legt und wenn man
der These der Konvergenz der öffentlich-rechtlichen und
der privaten Sender immer widerspricht, dann - das sage
ich ganz offen - passen Verträge wie die mit Jan Ullrich
und auch mit Günther Jauch nicht in die Medienlandschaft.
({6})
Wir können auf die Qualität unseres dualen Rundfunksystems in Deutschland stolz sein und wir sollten für
Rahmenbedingungen sorgen, damit das so bleibt. Mit ihrem Antrag zur EU-Fernsehrechtlinie leistet die große
Koalition, so glaube ich, einen überzeugenden Beitrag.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der gestrigen Entscheidung zur Fernsehrichtlinie im Europaparlament wird die Produktplatzierung aus der Schmuddelecke der Schleichwerbung herausgeholt. Eine geregelte Produktplatzierung ist für den
Verbraucher transparent und beseitigt Zweifel, wie Filmproduktionen zusätzlich finanziert werden können. Der
anrüchige Umweg über Produktbeistellung kann künftig
erspart bleiben. Außerdem ist in der letzten Minute erreicht worden, dass der Abstand für Werbeunterbrechungen auf 30 Minuten gesenkt werden konnte, wie es im
ursprünglichen Berichtsentwurf vorgesehen war.
({0})
Die im Kulturausschuss des Europaparlamentes gewünschte 45-Minuten-Regelung war zum Glück nicht
durchsetzbar.
({1})
Dieser Ansatz wäre ein fatales Signal
({2})
an die Wirtschaft und die Rundfunkanbieter gewesen.
Anstatt die Werberegelungen zeitgemäß zu liberalisieren, hätte die Richtlinie zu einer Verschärfung der Werbeabstandsregelungen geführt und die wirtschaftliche Situation der Rundfunkveranstalter unnötig verschlechtert.
Insgesamt müssen wir allerdings feststellen, dass die
jetzt im Europäischen Parlament verabschiedete
Fernsehrichtlinie leider ein ziemliches Flickwerk geworden ist. Das Parlament in Straßburg hat die Chance vertan, die Regelung der Werbezeit noch weiter zu liberalisieren und den Gegebenheiten eines veränderten
Werbemarktes anzupassen.
({3})
Die Bundesregierung muss jetzt die Ratpräsidentschaft nutzen, um hier noch Änderungen zu erreichen.
({4})
Denn starre Werberegelungen im audiovisuellen Bereich
benachteiligen die Rundfunkanbieter gegenüber den übrigen Medien, die im Wettbewerb um Werbekunden stehen. Ganz zwangläufig wird sich die Werbewirtschaft
immer stärker anderen Medien zuwenden. Damit wird
die finanzielle Basis der Rundfunkanbieter geschwächt
und die Qualität werbefinanzierter Programminhalte gefährdet.
Heute stehen zusätzlich drei Anträge zur Rundfunkgebühr für internetfähige Computer auf der Tagesordnung. Neben der absurden Rundfunkgebührenpflicht für
Universitäten ist die Computerrundfunkgebühr das deutlichste Anzeichen dafür, dass die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf eine neue Grundlage
gestellt werden muss. Wir Liberale treten für einen Paradigmenwechsel bei der Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks ein.
({5})
Die personenbezogene Medienabgabe ist das Modell,
das wir seit langem favorisieren.
Herr Grindel, natürlich kann man da über vieles diskutieren. Aber wir können nicht, wie es in der Vergangenheit der Fall war, dieses Problem ausblenden und so
tun, als ob nichts wäre. Wir müssen uns schon um die
Dinge kümmern. Das war im Zusammenhang mit dem
Moratorium über internetfähige PCs eigentlich auch angedacht. Das war der Grund für das Moratorium; das
wissen Sie. Deswegen finde ich es nicht in Ordnung, was
Sie hier von sich geben.
Wir dürfen bei der Diskussion um die Rundfunkgebühren jedoch nicht Halt machen. Wir müssen im Interesse qualitativ hochwertiger Angebote im Fernsehen
und Hörfunk die eigentlichen Probleme anpacken. Dazu
müssen wir neu bestimmen, wie der Rundfunkbegriff in
einer digitalisierten Medienwelt bestimmt und die Ausgestaltung des Grundversorgungsauftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geregelt werden kann.
In einschlägigen Aufsätzen ist von einer „Revolution
in der Medienwelt“ die Rede. Selbst wenn der Begriff
„Revolution“ zu drastisch sein mag, so glauben wir
doch, dass sich das System des deutschen Rundfunks an
einem Scheideweg befindet, an einer Stelle, die uns
zwingt, Stellung zu der Frage zu beziehen, wie der
Rundfunk in Deutschland zukünftig ausgestaltet werden
soll. Welche Aufgaben soll der öffentlich-rechtliche
Rundfunk zukünftig tatsächlich noch wahrnehmen?
Eines ist dabei ganz klar: Wenn es das Ziel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein sollte - da bin ich völlig
bei Ihnen, Herr Grindel -, im Kampf um Quoten die Privaten zu überflügeln, dann wäre das das Ende der Existenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
({6})
Einschaltquoten dürfen nicht die Messlatte für die Programmgestaltung sein. Dabei werden wir uns auch mit
der Frage auseinander setzen müssen, ob die Qualitätskontrolle bei ARD und ZDF von den internen Gremien
überhaupt geleistet werden kann oder ob wir nicht ein
System der externen Bewertung der Qualität der Programme benötigen und auf Basis dieser Bewertung zu
einer Verteilung der Gebührengelder kommen sollten.
({7})
Wir Liberale meinen, Grundversorgung in der
neuen Medienwelt muss nicht bedeuten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sämtliche Aufgaben erfüllen,
sämtliche Geschmacksrichtungen abdecken und auf
sämtlichen Verbreitungswegen präsent sein muss.
({8})
- Herr Tauss, Sie kommen auch noch dran. - Wir denken, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk insbesondere unter Verzicht auf Werbeeinnahmen und den
damit notwendig verbundenen Blick auf werberelevante
Zielgruppen darauf konzentrieren sollte,
({9})
eine erhebliche Qualitätsverbesserung des Programms
zu erzielen.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Grindel, die
Überlegungen sollten noch weiter gehen. Wir dürfen
nicht hinnehmen, dass wichtige kulturelle Inhalte und
Bildungsangebote aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in so genannte Spartenkanäle abwandern
({10})
und nur noch mit zusätzlichem Kostenaufwand für den
Zuschauer zu beziehen sind.
({11})
Es sollte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
nicht selbstverständlich sein, dass in einer beträchtlichen
Anzahl von Formaten das Niveau eines Boulevardjournalismus gepflegt wird. Damit wird der Unterhaltungsauftrag, für den auch ein Qualitätsmaßstab gilt, in miserabler und verantwortungsloser Weise erfüllt. Damit
sage ich nichts gegen Sendungen wie „Wetten, dass …“
am Samstagabend. Aber es wäre an der Zeit, dass sich
die Verantwortlichen in den Sendeanstalten und Rundfunkräten einer Aufgabenkritik sowie einer externen und
staatsfernen Qualitätskontrolle ihrer Sendungen stellen
würden.
Ich lade Sie und auch die Medienpolitiker in den Ländern ein, mit uns über diese Fragen zu diskutieren. Es
wird dafür höchste Zeit.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde es immer wieder erschreckend
- das muss ich ganz ehrlich sagen -, wie viel Unverständnis nicht nur auf europäischer Ebene, sondern
selbst bei uns in Deutschland herrscht, wenn es um die
Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht.
({0})
Dabei wird sein Wert spätestens dann deutlich, wenn wir
uns andere Länder wie Italien, Polen und Russland anschauen, in denen es keine oder nur eine stark eingeschränkte Unabhängigkeit des Rundfunks gibt.
Aus den Gründen unserer eigenen Geschichte wurde
der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach dem Krieg in
Deutschland zu einem Garanten für unabhängigen Journalismus gemacht. Damit ist er zu einem Grundpfeiler
unserer demokratischen Ordnung geworden, den wir
schützen müssen - auch vor übermäßigen Liberalisierungsbestrebungen in Europa.
Mit unserem heute vorliegenden Antrag unterstützen
wir grundsätzlich den gestern vorgelegten Vorschlag der
EU-Kommission für eine Neufassung der Richtlinie
„Fernsehen ohne Grenzen“. Ich will hier nur einige
Punkte herausgreifen; Herr Grindel hat schon viele andere erwähnt.
Wir begrüßen, dass die Kommission plattformunabhängige Regelungen formuliert hat und das mit einer
Unterscheidung von linearen und nicht linearen Mediendiensten verknüpft. Es sollen eben Inhalte und nicht die
Übertragungswege im Vordergrund stehen. Wir unterstützen ebenso das geplante europaweite Gegendarstellungsrecht und die Harmonisierung der Jugendschutzvorschriften, allerdings ohne dass die Standards gesenkt
werden. Darauf werden wir bestehen müssen.
({1})
Ganz grundlegend bleibt uns aber wichtig, dass die
Vorschriften zur Werbung möglichst stark formuliert
werden. Das bedeutet: Zumindest für den öffentlichrechtlichen Rundfunk wollen wir keine Produkt- und
Themenplatzierung. Schleichwerbung muss hier ausgeschlossen werden, damit sich die Programmgestaltung
allein an publizistischen Kriterien orientiert und die Programmfreiheit gewährleistet bleibt. Kollege Otto, ich
schlage vor, dass Sie sich in den USA einmal drei Stunden vor den Fernseher setzen. Danach werden Sie freiwillig aufhören, Fernsehen zu schauen. Denn die vielen
Werbeunterbrechungen sind nicht zu ertragen.
({2})
- Weil Sie davon gesprochen haben, dass Sie mehr Freiheit haben wollen.
({3})
Überhaupt scheint das der Knackpunkt der langen
Kontroverse mit der EU-Kommission zu sein. Immer
wieder wird die Unabhängigkeit der Sender angegriffen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss eigenständig
sein und muss selbst entscheiden, und zwar unabhängig
von Wirtschaft und Staat. Dieser Knackpunkt wird an
dem laufenden Beihilfeverfahren deutlich. Mit der Art
und Weise, wie hier mit unserem Rundfunksystem als
zentralem Bestandteil unserer Demokratie umgegangen
wird, überschreitet die Kommission meiner Ansicht
nach ihre Kompetenz.
({4})
Außerdem halte ich das für einen äußerst schlechten
Umgang. Denn es gab über zwei Jahre einen langen Prozess und sehr konstruktive Gespräche zwischen Bundesregierung, den Ländern und der Kommission. Wie ich
gehört habe, wurde am Montag nach achteinhalb Stunden Verhandlungen ein Konsens erreicht. Was aber ist
nun? Ärgerlicherweise stellt die Kommission am nächsten Tag in der Person von Frau Kroes neue Nachforderungen, was wirklich unerträglich ist.
({5})
Im Kern wird von der Kommission in diesem Fall
beispielsweise die unabhängige digitale Weiterentwicklung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisiert.
Das heißt, alle bestehenden und zukünftigen digitalen
Angebote sollen genehmigungspflichtig werden. Das
können wir doch nicht zulassen.
({6})
Wenn die Kommission in diesem Punkt mit ihrer Forderung durchkäme, hätten wir faktisch einen Staatsrundfunk. Das ist genau das, was wir eben nicht wollen.
({7})
Zudem ist es nicht nur eine Frage nach dem, was wir
wollen; wir dürfen es auch gar nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 45 Jahren in seinen Urteilen immer
wieder deutlich gemacht, dass der öffentlich-rechtliche
Rundfunk einen Grundversorgungsauftrag hat und für
diesen Programmautonomie genießt. Es ist spätestens
seit dem Rundfunkurteil aus dem Jahr 1991 klar, dass
dieses auch für die Übertragungswege gilt. Wir brauchen
die neuen digitalen Übertragungswege, wenn wir junge
Leute ansprechen wollen. Ansonsten gibt es für die ältere Generation das analoge Fernsehen und für die jungen Leute gibt es die privaten Sender. So kann es nicht
sein.
({8})
Ich bin der Meinung, im Notfall müssen wir für die Verteidigung der Rundfunkautonomie, und zwar auch für
die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bis zum Europäischen Gerichtshof gehen.
({9})
Dass unsere Ministerpräsidenten beim Abschluss des
letzten Rundfunkstaatsvertrags einerseits die autonome
Entscheidung der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, der KEF, unterlaufen haben und andererseits festlegten, dass für den Bereich des Internets maximal 0,75 Prozent des Etats ausgegeben werden dürfen,
ist natürlich ein Problem. Damit spielen sie der Kommission in die Hand. Ich denke, wir müssen von den Ministerpräsidenten eine eindeutig übereinstimmende Position
verlangen. Einzelne Ministerpräsidenten dürfen nicht
ausscheren. Dies wäre ein Problem im Hinblick auf die
Glaubwürdigkeit gegenüber der EU-Kommission.
({10})
Ich stimme Herrn Grindel unbedingt zu, wenn er sagt:
Wir dürfen bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht Konvergenz in Bezug auf die private Konkurrenz und die Quote
anstreben. Darin stimme ich mit ihm vollkommen überein. Wir alle müssen bei den Programmräten und den
Ministerpräsidenten anmahnen, dass Programmautonomie und Programmvielfalt das sind, was den öffentlichrechtlichen Rundfunk auszeichnet.
({11})
Wir müssen die bestehende Vielfalt erhalten - das haben
wir in unserem Antrag deutlich gemacht -, zum Beispiel
in Form des Rechts auf Kurzberichterstattung.
({12})
Es ist uns wichtig, dass im öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiterhin über alle Ereignisse, an denen ein öffentliches Interesse besteht, berichtet werden kann. Wir wollen keine Einschränkungen. Ich glaube, das ist etwas,
wofür wir gemeinsam streiten sollten. Dies ist schon in
unserem Antrag formuliert worden.
Wie gesagt, die Rundfunkanstalten müssen sich selber in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich auf ihren
Auftrag besinnen. Da denke ich an einen weiteren Bereich, den wir hier vor fast exakt zwei Jahren besprochen
haben. Am 17. Dezember 2004 haben wir nämlich im
Bundestag beschlossen, dass im Rahmen der Veröffentlichung von populärer Musik im Rundfunk Fördermaßnahmen für deutsche Produkte,
({13})
also für deutsche Sänger und deutsche Produktionen,
vorgesehen werden. Auch das haben die öffentlichrechtlichen Sender zugesagt. Aktuelle Zahlen zeigen
aber, dass die ersten Anstrengungen nicht von langer
Dauer waren und sich strukturell nichts geändert hat. Da
müssen die Öffentlich-Rechtlichen nachlegen, wenn sie
zeigen wollen, dass sie Wert darauf legen, von uns vehement verteidigt zu werden. Denn das ist für uns in
Deutschland auch ein Wirtschaftsfaktor.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Lothar Bisky von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Koalitionsantrag zur EU-Fernsehrichtlinie tragen wir Linken
aus inhaltlichen Gründen weitgehend mit. Maßgeblich
für unsere Zustimmung ist, dass Sie bei aller Notwendigkeit, die neuen Entwicklungen im Medienbereich auf
EU-Ebene zu revidieren, anerkennen, dass die Mitgliedstaaten weiterhin ihren Rundfunk in den für sie zentralen
Bereichen selbstbestimmt regulieren können. Das ist uns
ausgesprochen wichtig.
Lassen Sie mich das anhand von zwei Punkten erläutern. Erstens. Die Fernsehrichtlinie harmonisiert
zuallererst Geschäftsbeziehungen. Sie dereguliert Werbebeschränkungen und definiert Bedingungen der kommerziellen Kommunikation, also auch der Werbung, für
die Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf
dem europäischen Binnenmarkt.
In einem dürften wir uns alle einig sein: Den Anbietern geht es primär ums Geldverdienen und um Rendite
und zuvörderst nicht um den Jugendschutz, nicht um
Verbraucherrechte,
({0})
nicht um ein vielfältiges kulturelles Programmangebot
und schon gar nicht darum, die Autonomie journalistisch-redaktioneller Arbeit abzusichern.
({1})
Das aber sind für uns als Linke Kernpunkte einer guten Medienpolitik.
Deshalb gehören insbesondere der Jugend- und Verbraucherschutz, aber auch das Gebot der Trennung von
Werbung und Programm in den Verantwortungsbereich
der Politik. Diese sollten nicht nach dem Herkunftslandprinzip bewertet werden, sondern nach den jeweils
nationalen Schutzbestimmungen der Mitgliedstaaten.
Das Herkunftslandprinzip wird nämlich in den Ansiedlungsbemühungen um Medienunternehmen schnell zu
einem medienrechtlichen Unterbietungswettbewerb führen. Den lehnen wir eindeutig ab.
({2})
Die Verbraucherzentrale und andere Interessenverbände - darunter übrigens auch das Zentralkomitee der
deutschen Katholiken - befürchten zu Recht, dass Jugend- und Verbraucherschutz in Europa mit der Fernsehrichtlinie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert würden. Darum unterstützen wir ihre Forderung,
die etablierten Qualitätsstandards zu erhalten und das
Herkunftslandprinzip aus dem Richtlinienentwurf herauszunehmen. Dazu haben Sie sich leider nicht durchringen können.
Zweitens. Wir sind für den Erhalt eines öffentlichrechtlichen Medienangebots. Sicherlich müssen wir uns
die zentrale Frage stellen, wie dieses Angebot organisiert und finanziert werden soll, ohne beständig Gegenstand von Beihilfeverfahren der Europäischen Kommission zu sein und ohne sich den Privaten in Inhalt und
Form immer mehr anzunähern.
Was die Finanzierung betrifft, so sind wir gegen das
einfallslose „Weiter so“ der Ministerpräsidenten. Die beschlossene Ausweitung der Gebührenpflicht auf internetfähige PCs und Handys wird daher von uns abgelehnt. Für eine trag- und zukunftsfähige Grundlage ist
eine grundsätzliche Revision des Gebührensystems erforderlich.
Davon unbestritten bedarf es Regulierungen, die auf
der Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt sind und die
unterschiedliche nationale Verfassungen, kulturelle Traditionen und medienpolitische Konzepte nicht missachten. Gleiches gilt für die Deregulierungsbemühungen,
die die Bedingungen weiter zugunsten des privaten
Rundfunks und der kommerziellen Medienanbieter verschieben. Unsere Auffassung ist: Product Placement
soll die Ausnahme sein und nicht zur Regel werden. In
bestimmten Programmformaten, in denen es die Zuschauer und Zuschauerinnen erkennen können, wie etwa
bei Fernsehfilmen und -serien, sollte es maßvoll erlaubt
sein, als Themenplacement allerdings nicht. Themenbeiträge als bezahlte Marketingmaßnahmen lehnen wir
prinzipiell ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Wir brauchen ein vielfältiges und kulturelles öffentlich-rechtliches Medienangebot, das durch Werbung
angemessen begleitet sein kann. Darüber, wie dies konkret ausgestaltet werden muss, haben wir in diesem
Hause unterschiedliche Auffassungen. Darüber, dass wir
es erhalten sollten, hoffentlich nicht.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von Ihnen kennen wahrscheinlich die
Geschichte von Robinson Crusoe,
({0})
einem Seemann, der einige Jahre auf einer Insel als
Schiffbrüchiger verbringt. Vielleicht haben einige von
Ihnen aber auch den Film „Cast Away“ mit Tom Hanks
in der Hauptrolle gesehen.
({1})
Er spielt darin Robinson Crusoe, allerdings nicht im
18. Jahrhundert, sondern im Heute. Sein Freund Freitag
ist in diesem Film kein Mensch, sondern ein Ball. Der
Ball hat den Namen Wilson, nicht Freitag. Warum ist das
so? Weil der Ball von einer Firma ist, die den Namen
Wilson trägt.
Ich bin mir sicher, dass einige Menschen diesen Film
über alles lieben, vor allem die Vorstände des amerikanischen Paketdienstes Fed-Ex; denn der Film „Cast Away“
hebt vor allem die Pakete dieser Firma hervor. Ich weiß
nicht, wer von Ihnen sich daran erinnert, aber mir ist das
sehr eindeutig vor Augen geblieben: Er ernährt sich vom
Inhalt dieser Pakete.
Dieser Kinofilm macht nur zu deutlich, was auf uns
zukommt, wenn wir Produktplatzierungen oder auch
Produktionsbeihilfen ganz offiziell zulassen:
({2})
Das Fed-Ex-Logo zog sich durch den ganzen Film. Das
kann nicht das sein, was wir uns wünschen.
({3})
Ein anderes lustiges Beispiel ergab sich in einem
Fachgespräch zu dem Thema. Da sagte ein Produzent,
ein Schauspieler wollte bei einer Nacktszene seine Uhr
nicht abnehmen. Er hat sich die ganze Zeit gewundert,
warum der Schauspieler seine Uhr nicht abnimmt.
({4})
Dieser Schauspieler hatte - das stellte sich am Ende heraus - einen Werbevertrag mit der Uhrenfirma. Das war
in der Sache nicht besonders dramatisch,
({5})
aber man kann sich natürlich andere Beispiele vorstellen, wo das ein bisschen mehr Einfluss auf die Inhalte
des Programms nehmen kann.
({6})
Wir Grünen wollen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass auch in Zukunft ein qualitativ hochwertiges
und unabhängiges Programm sichergestellt werden
kann. Deshalb wollen wir, dass die gezielte Platzierung
von Produkten, gleich welcher Art, nicht erlaubt wird.
Unserer Meinung nach ist die große Koalition auf halber
Strecke stehen geblieben: Sie will zwar Produktplatzierungen verbieten, Produktionsbeihilfen aber nicht.
({7})
Der Film „Cast Away“ zeigt ganz eindeutig, dass auch
Produktionsbeihilfen das Bild und die Handlung dominieren können.
({8})
Eine besondere Gefahr sehen wir bei journalistischen
Formaten - zumindest hierbei sind wir uns, glaube ich,
alle einig -; denn die Unabhängigkeit der Redaktion
kann durchaus gefährdet sein. Die unzähligen Schleichwerbeaffären der letzten Monate zeigen, dass Produktplatzierung durchaus attraktiv ist und definitiv Einfluss
auf Drehbücher nehmen kann.
({9})
Wir müssen an der klaren Trennung von Werbung
und Programm festhalten. Deshalb bedauern wir, dass
im EU-Parlament gestern in erster Lesung für die Zulassung von Produktplatzierungen gestimmt wurde. Wir
können die Vorteile der Zuschauer durch Produktplatzierungen überhaupt nicht sehen.
({10})
Wir gehen davon aus, dass sich der Werbekuchen insgesamt nicht ausweiten würde, sondern die Stücke des
Werbeetats insgesamt nur anders verteilt würden, dass
die Verbraucher vom Fernsehen nur noch genervter wären und das Programm inhaltlich nicht besser würde, es
zum Beispiel nicht - was wir uns alle wünschen
würden - mehr investigativen Journalismus oder mehr
bessere Filme geben würde. Wir sehen da keinen direkten Zusammenhang und keine Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({11})
Für uns ist klar - das hat auch der Kollege Grindel
schon angesprochen -, dass Medien nicht nur ein Wirtschaftsgut, sondern auch Kulturgut sind.
({12})
- Für uns sind sie sicherlich in erster Linie Kulturgut.
Wir akzeptieren aber, dass es sich dabei natürlich auch
um ein Wirtschaftsgut handelt.
({13})
Bei der Fernsehrichtlinie gibt es viele Punkte, die
wir durchaus positiv finden. Im Zeitalter der Digitalisierung ist es natürlich notwendig, die Fernsehrichtlinie anzupassen. Wir brauchen europaweit einheitliche Regelungen für Fernsehen und Internet. Wir unterstützen das
abgestufte Regulierungsverfahren und die Regulierung
im Jugendschutzbereich. All das sehen wir sehr positiv.
Wir hoffen, dass die Bemühungen des Kollegen Neumann Erfolg haben und es im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft noch zu Veränderungen kommt. Allerdings
hat das Hoffen bei der großen Koalition bisher meist
sehr wenig genützt.
({14})
Wischiwaschikompromisse werden wir in diesem Bereich nicht unterstützen.
Leider habe ich nicht mehr viel Zeit. Deshalb zur PCGebühr nur so viel: Wir, die Grünen, haben hierzu ein
eigenes zukunftsfähiges Modell auf den Tisch gelegt,
weil wir die Einführung einer PC-Gebühr zum
1. Januar 2007 für nicht zukunftsfähig halten. Wir brauchen endlich eine geräteunabhängige, haushaltsbezogene Mediengebühr.
({15})
Für weitere Details reicht die Zeit hier und heute nicht
aus. In die Debatte, die im nächsten Jahr mit den Ländern geführt werden wird, werden wir uns natürlich konstruktiv und kritisch einbringen.
Im Parlament werden wir in einigen zentralen Fragen
der Medienpolitik, nämlich bei der Vielfaltsicherung,
dem Verbraucherschutz und der Qualitätssicherung, zusammenhalten müssen; sonst überrollt uns die EU-Kommission mit Verschlechterungen. Das können wir alle
nicht wollen. Deshalb hoffe ich, dass wir zu verschiedenen Punkten Diskussionen führen und zu positiven Lösungen kommen werden.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johann-Henrich Krummacher von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
bestehende Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ ist
gegenwärtig die Grundlage der EU-Politik im audiovisuellen Bereich. Sie stammt aus dem Jahr 1989. Nicht nur
die politische, auch die technologisch-mediale Situation
war damals eine völlig andere. Auch der Nutzungs- und
Verbreitungsgrad dieses Mediums ist gestiegen. In vielen Haushalten läuft der Fernseher im Schnitt drei bis
vier Stunden am Tag. Das mag man bewerten, wie man
will. Es zeigt aber, dass wir hier über einen gesellschaftlich höchst relevanten Lebensbereich sprechen.
({0})
Durch den bislang erreichten Stand der Diskussion
darüber, wie die notwendige Neufassung der Richtlinie
Gestalt annehmen könnte, ist - lassen Sie den Stuttgarter
Abgeordneten das so sagen - ein viel versprechendes
Pflänzle entstanden. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass
dies nun in die richtige Richtung wächst.
({1})
Ich darf nochmals unterstreichen: Fernsehen - egal
in welcher Form - ist in erster Linie - das haben wir
heute gewissermaßen zu einer gemeinsamen Überzeugung gemacht - ein Kulturgut.
({2})
Man kann und muss mit Kulturgütern gut wirtschaften.
Aber diese deswegen zu reinen Wirtschaftsgütern umzudeuten oder sie so zu behandeln, wäre im wahrsten Sinne
des Wortes kurzsichtig.
({3})
Das zu verstehen ist wichtig, weil sich bereits hier
entscheidet, ob das Vorhaben richtig eingefädelt wird.
Das hat Folgen für das, was letztlich entscheidend sein
wird, nämlich das Kleingedruckte. Zum Wesenskern öffentlicher Leistungserbringung im so genannten Informationszeitalter gehört, auch medial niemanden zurückzulassen. Wie Lesen und Schreiben werden auch
Medienkompetenzen immer mehr zur Res publica, zur
öffentlichen Angelegenheit: je größer diese Kompetenzen, desto besser für den Menschen selbst und desto besser für unser Gemeinwesen.
({4})
Um es etwas salopp, aber mit durchaus ernstem Kern
zu formulieren: Von der „Sendung mit der Maus“ oder
der ZDF-Produktion „Löwenzahn“ können auch viele
Erwachsene noch etwas lernen, während durch zu viele
andere Angebote aus Kindern eher lethargische, nicht
unbedingt lernbegierige Erwachsene werden.
({5})
Dies zeigt abermals die Notwendigkeit einer guten
Balance zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten
Anbietern. Wenn der freie Informationsfluss sozusagen
das Öl im Getriebe unserer Demokratie ist, dann leisten
beide - öffentlich-rechtliche wie private Anbieter - einen wichtigen Beitrag.
({6})
Aber durch die Privaten allein ist dieser Fluss nicht hinreichend gewährleistet.
({7})
Das heißt schlicht und einfach: ARD, ZDF und die dritten Programme der ARD-Familie senden auf sehr hohem
Niveau, wenn nicht sogar höchstem Niveau. Dafür sind
wir dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen
dankbar.
({8})
Deshalb gilt glasklar: Das muss auch im Rahmen einer
neuen Richtlinie so bleiben.
({9})
Ein weiterer wichtiger Punkt - er wurde bereits angedeutet - ist das Thema Werbung. Es ist nicht überzeugend, Art und Umfang der Werbemöglichkeiten lockern
zu wollen, aber den eigentlichen Kern, das heißt die
quantitative Werberegulierung, an sich beizubehalten.
Noch weniger überzeugend ist es vor diesem Hintergrund, bei einer anderen Art der Werbung die Schleusen
zu öffnen, nämlich bei der Produktplatzierung. Einen
positiven Weg weisen beispielsweise die Transparenzrichtlinien des Zweiten Deutschen Fernsehens auf, bei
denen die Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen wie
privaten Kooperationspartnern ein Controllingverfahren
durchläuft.
({10})
- Das ist sehr wirksam und wird bereits jedes Jahr abgefragt, dem Fernsehrat vorgetragen und von dort kontrolliert.
Der Vorschlag der Kommission hingegen würde eine
generelle Öffnung für Produktplatzierung ermöglichen.
Dass für bestimmte Sendungen wie Nachrichten oder
Kinderprogramme Ausnahmen gelten sollen, kann den
Wirkungsradius dieser fast schon als perfide zu bezeichnenden Form der Werbung nicht seriös eingrenzen. Darum sind Produktplatzierungen schlicht und ergreifend
abzulehnen. Sonst müsste es nach jeder Sendung heißen:
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Drehbuchautor oder Produzenten.
({11})
Gute Zeichen gibt es hingegen beim Jugendmedienschutz. Die Ausdehnung des Jugendmedienschutzes auf
nicht lineare, das heißt individuell abrufbare Dienste, ist
ebenso richtig wie wichtig. Jugendschutz hat viele Facetten. Eine solche Ausweitung des medialen Jugendschutzes ist ein wichtiger Teil des Ganzen.
({12})
Es macht wenig Sinn, Verrohungen und Orientierungslosigkeit bis hin zur Gefahr gewaltverherrlichender
Computerspiele zu beklagen und dann diese mediale
Flanke zu öffnen.
({13})
Nochmals: Wir begrüßen die Ausweitung des medialen
Jugendschutzes auf die nicht linearen Medien.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt
gibt es mit Blick auf den bisherigen Diskussionsstand
sowohl Licht als auch Schatten. Um dazu beizutragen,
dass das Licht mehr wird und die Schatten weniger werden, sollte die Debatte über audiovisuelle Dienste zu
einem Schwerpunkt der deutschen Medien- und Kommunikationspolitik auf europäischer Ebene werden. Sowohl die Landesregierungen als auch Kulturstaatsminister Neumann tragen dazu auf erfreuliche Weise bei.
Wenn dies dazu führt, dass ein kohärenter europäischer Rechtsrahmen geschaffen wird, dann ist das gut:
für die Medienlandschaft, für die Medienkultur und für
den Medienstandort, und zwar in Europa und in
Deutschland gleichermaßen.
Danke schön.
({14})
Herr Kollege Krummacher, ich gratuliere Ihnen im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion.
({1})
Das ist nicht wahr, Kollege Otto. Ich wurde heute sogar schon gefragt, warum ich so still bin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend wurden schon einige wichtige Punkte der vorliegenden Anträge angesprochen. Kollege Grindel hat auf die aktuellen Entwicklungen im Beihilfeverfahren hingewiesen.
Ich denke, es lohnt sich in der Tat, am Ende dieser Debatte noch auf einzelne Aspekte einzugehen und die eine
oder andere Aussage aufzugreifen, die in dieser Diskussion gemacht worden ist.
Lieber Kollege Waitz, mit Ihnen möchte ich beginnen. Sie haben gesagt, Sie wollen nicht, dass sich öffentlich-rechtliche Sender jedes Verbreitungsweges bedienen können. Über diese Position kann man diskutieren.
Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation ehrlicher sein.
Denn wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das,
was Sie eigentlich meinen, etwas anderes ist. Ihre Auffassung in dieser Frage entspricht übrigens nicht der Politik der Liberalen im Europaparlament,
({0})
die an dieser Stelle vernünftiger als die Liberalen in diesem Hause
({1})
und vernünftiger als die eine oder andere Landesregierung sind, wie das Abstimmungsverhalten im Bundesrat
gezeigt hat.
Wenn Sie wollen, dass sich öffentlich-rechtliche Sender nicht jedes Verbreitungsweges bedienen können,
müssten wir im Wege der Konvergenz dafür sorgen, dass
sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk des Verbreitungsweges Internet, des Rückgrats der Informationsgesellschaft, nicht mehr bedienen kann.
({2})
Man kann zu dieser Auffassung kommen. Ich allerdings bin anderer Meinung - die Kollegin Griefahn hat
in diesem Zusammenhang einige Argumente angeführt -;
({3})
denn genau diese Entwicklung würde auf eine Austrocknung durch Nichtweiterentwicklung hinauslaufen.
({4})
Wir waren uns bereits in der Enquete-Kommission,
die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998 eingesetzt worden ist, darüber einig, dass es auch in Deutschland die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geben muss. Das gehört zur
Fairness und zur Grundversorgung.
({5})
Zum zweiten Punkt, Kollege Waitz. Auch ich kenne
Sendungen im öffentlich-rechtlichen Bereich, die mir
keine große Freude bereiten. Die Zahl der Minuten, die
man mit Volksmusik gefoltert wird, nimmt auch im öffentlich-rechtlichen Bereich in erschreckendem Umfang
zu. Aber auch dadurch wird versucht, auf das Bedürfnis
eines Teils der Bevölkerung einzugehen. Es darf nicht
nur „Intellektuellenfernsehen“ geben, sondern es müssen auch solche Angebote gemacht werden, von denen
ein Teil der Bevölkerung sagt: Dabei kann ich mich entspannen. Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Form
gerechtfertigt wäre, diese Menschen zu bevormunden.
Wem eine Sendung nicht gefällt, der kann auf ein anderes Programm, zum Beispiel auf Arte - übrigens auch
ein öffentlich-rechtlicher Sender - umschalten.
({6})
Sie haben den Rückgang der Zahl solcher Sendungen
beklagt, die sich mit Themen aus dem Bereich Wissenschaft und Bildung beschäftigen. Ja, auch ich beklage,
dass es den einen oder anderen Programmbeitrag, der
früher gesendet wurde, nicht mehr gibt. Das gilt vor allem für den Rundfunk.
({7})
Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in diesem Bereich mehr tun können; das ist völlig klar.
Was Sendungen mit wissenschaftlichem Hintergrund
betrifft, erinnere ich mich an eine Sendung von Ranga
Yogeshwar, der damals in einer Nische des Dritten Programms begonnen hat.
Man hat gesagt: Das hat kaum eine Chance. - Es
wurde ein Renner im WDR, ist in die Primetime gehoben worden. Dem Yogeshwar gehört ein Bundesverdienstkreuz verliehen: zum einen für seine Verdienste
um Wissenschaft und Forschung und Bildung in diesem
Land und zum anderen für den Beweis dafür, dass die
Leute gar nicht so platte Sendungen sehen wollen, wie es
der eine oder andere öffentlich-rechtliche Intendant gelegentlich seinem Publikum unterstellt. Das sind erfolgreiche Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ich
finde das gut.
Sie haben die Grundversorgung angesprochen. Darüber muss man immer wieder reden, völlig klar. Die
Grundversorgung ist die Voraussetzung dafür, dass wir
überhaupt Gebühren erheben können - so das Bundesverfassungsgericht. Deswegen muss man sich sicherlich
Gedanken machen, wie die Grundversorgung in einer
Zeit, in der sich Entwicklungen gesellschaftlicher Art ergeben, möglicherweise neu zu definieren ist. Ich hätte
überhaupt kein Problem damit, eine solche Debatte zu
führen, auch mit den verschiedenen gesellschaftlichen
Kräften. Nur, eines ist auch klar - das ist Ihr Denkfehler,
Kollege Waitz -: Die Privaten haben deutlich erklärt,
dass sie eine Grundversorgung nicht anbieten wollen
und aus wirtschaftlichen Gründen auch nicht anbieten
können. Ich sage dies nicht als Vorwurf, nur als Feststellung. Die Privaten haben für sich einen anderen Auftrag
definiert, und zu diesem gehört nicht die Sicherstellung
der Grundversorgung. Wenn aber der private, kommerzielle, werbefinanzierte Bereich die Grundversorgung
nicht leisten kann, dann brauchen wir zur Sicherung der
Qualität von Hörfunk und Fernsehen in Deutschland parallel zu den Privaten einen gebührenfinanzierten Grundversorgungsauftrag.
({8})
Zur Richtlinie, zur Trennung in lineare und nicht lineare Dienste, ist das eine oder andere gesagt worden. Ich
will hier noch einmal unterstreichen, dass ich es für sehr
wichtig halte, dass unabhängig von Verbreitungsweg, unabhängig davon, wie das Programm abgerufen wird - sei
es programmorientiert oder individuell -, Mindeststandards im Jugendschutz, im Verbraucherschutz und im
Hinblick auf das Respektieren der Menschenwürde eingehalten werden. Das ist ein wichtiges Signal dieser
Richtlinie; das sollten wir bei aller sonstigen Kritik würdigen.
({9})
Ein Problem bleibt zweifellos die Schleichwerbung,
bleibt das Productplacement. Kollegin Bettin, ich habe
hier ein paar Ausführungen dazu gemacht. Aber Ihr
„nackter Schauspieler“ ist für mich nicht mehr zu toppen.
({10})
Deshalb will ich an dieser Stelle noch etwas anderes zur
Werbung sagen. Ich würde raten, über die Kritik an den
45 Minuten, die von Werbung nicht unterbrochen werden sollen, noch einmal nachzudenken. Auch ein Film
ist ein Kulturgut; darüber sind wir uns doch im Kulturausschuss einig, selbst mit der FDP. Aber wenn ein Film
ein Kulturgut ist, muss man einen Film ohne ständige
Unterbrechungen sehen können.
({11})
Ich finde, schon eine Unterbrechung alle 45 Minuten ist
Zumutung genug. Aber alle 30 Minuten, das ist problematisch.
Das Kurzberichterstattungsrecht ist gewährleistet.
Ich habe mich an dieser Stelle übrigens sehr gewundert
über die eine oder andere Einlassung von großen Sportverbänden in Deutschland, die sich dagegen gewandt haben, die erklärt haben: Das wollen wir nicht. - Ich
glaube, der Fußball tut sich keinen Gefallen damit. Der
Fußball lebt davon, dass freie Information über Fußballspiele möglich ist. Ich bin froh, dass die Richtlinie entgegen dem, was der DFB will, an dieser Stelle ebenfalls
klare Signale aussendet.
({12})
Zu den PC-Gebühren.
({13})
Wie gesagt, die Forderung nach der Abschaffung der
Gebühren, die demnächst auf PCs erhoben werden, ist
schon ein bisschen populistisch. Liebe Kollegin Bettin,
ich habe heute Abend gelesen, der Kollege Berninger
geht zu Mars. So weit dazu.
({14})
Außerdem stimmt nicht, was in eurem Antrag steht: dass
die Selbstständigen und die Hochschulen belastet werden. Denn Hochschulen, die schon bisher Gebühren zahlen, sind überhaupt nicht betroffen. Betroffen ist die eine
oder andere Hochschule, wo in der Vergangenheit
schwarzgesehen worden ist. Nur, die zu unterstützen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, kann unser Anliegen
auch nicht sein; das wäre unfair gegenüber denen, die
Gebühren gezahlt haben. Insofern gibt es kein riesengroßes Problem.
({15})
Es heißt, die Wirtschaft, die Selbstständigen würden besonders belastet. Dazu sage ich: Nein. Der Kollege
Grindel hat darauf hingewiesen, aber man muss es noch
einmal deutlich sagen: Es ist nicht die Wirtschaft, die
hier mehr bezahlen muss. Sie zahlt, weil PCs anders
behandelt werden als Fernsehgeräte, die in Firmen
- übrigens auch in Büros des Deutschen Bundestages 7342
aufgestellt worden sind, im Grunde genommen weniger als zuvor.
({16})
Der Präsident weist mich auf das Ende meiner Redezeit hin. Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir
haben, bei aller Kritik, das beste Rundfunk- und Fernsehprogramm der Welt, und zwar weil es gebührenfinanziert ist. Kollege Waitz, Kollege Otto, ich würde Sie
gerne gelegentlich zu 24 Stunden amerikanischem Fernsehen verurteilen. Ich glaube, dann kommen Sie zu einer
anderen Position als der, die Sie heute Abend vorgetragen haben.
Vielen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3791.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3297 mit dem
Titel „Die Schaffung eines kohärenten europäischen
Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem
Schwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikations-
politik in Europa machen“ in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Frak-
tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an-
genommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/2675 mit dem Titel „Für einen zukunftsfähigen euro-
päischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste -
den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv
begleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/2977 mit dem Titel „Für eine verbraucherfreundliche
und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle
Mediendienste“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3792.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/2970 mit dem Titel
„Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetan-
schluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlich-recht-
lichen Rundfunks grundlegend reformieren“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/3002 mit dem Titel „Moratorium für PC-
Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkge-
bührenstaatsvertrages“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/2793 mit dem Titel „PC-Gebühren-Moratorium
verlängern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthal-
tung der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen
- Drucksache 16/3344 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
debeiträge von Lena Strothmann, CDU/CSU-Fraktion,
Christian Lange, SPD-Fraktion, Birgit Homburger, FDP-
Fraktion, Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke, und
Matthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3344 an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und
zur Anpassung des Rechts der Insolvenzan-
fechtung
- Drucksache 16/886 -
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/3844 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP
sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Beiträge der Kolleginnen
und Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion,
Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, FDP-Fraktion, Wolfgang Nešković,
Fraktion Die Linke, und Irmingard Schewe-Gerigk,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, sowie des Par-
lamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Pfän-
dungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des
Rechts der Insolvenzanfechtung, Drucksache 16/886.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/3844, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei
Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/3865? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der
FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3864? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderen
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera-
tung mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
1) Anlage 5
15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Dr. Barbara Höll, Oskar Lafontaine,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN
Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassensektor - Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeichnungsschutz - Parlamentswillen respektieren
- Drucksache 16/3797 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard
Schultz ({1}), Bernd Scheelen, Ingrid
Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert
- Drucksache 16/3805 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Axel Troost von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Sparkassen-Bezeichnungsstreit gibt es eine gute
und eine schlechte Nachricht.
Die gute lautet: Das Vertragsverletzungsverfahren
wurde eingestellt und die privaten Markenrechte der
Sparkassen bleiben geschützt. Das ist sicherlich auch ein
Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit hier.
Die schlechte Nachricht lautet aber:
({0})
Was die Bundesregierung der EU-Kommission als Preis
für diesen Erfolg im Gegenzug zugesagt hat, weiß niemand so richtig. Fakt ist, dass die EU-Kommission in ihrer Presseerklärung zum Kompromiss schreiben kann:
§ 40 Kreditwesengesetz wird stets so angewendet, dass
EU-Recht nicht verletzt wird.
Das macht mich stutzig. Wir alle wissen doch: Für die
EU-Kommission heißt dieser Satz genau, dass auch privaten Banken erlaubt werden muss, sich Sparkasse zu
nennen. Stutzig werde ich auch, wenn ich in der „Financial Times Deutschland“ die Überschrift „Sparkassen Sieg für Brüssel“ oder im „Handelsblatt“ lese, dass die
EU-Kommission in der Auseinandersetzung im Grundsatz gewonnen hat. Mit Verlaub: Erfolgsmeldungen sehen anders aus.
Die entscheidende Frage ist: Hat die Bundesregierung
der EU zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass die
EU sagen kann, EU-Recht wird nicht verletzt? Hat die
Bundesregierung also zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass sich auch eine private Bank Sparkasse nennen
darf? Das ist die entscheidende Frage. Da müssen wir als
Parlamentarier sagen: Wir wissen es nicht. Wir kennen
nur die knappe gemeinsame Erklärung von Finanzministerium und EU-Kommission. Die entscheidenden Protokollnotizen und Interpretationshilfen haben wir schlicht
und einfach nicht.
Während der gesamten Verhandlungen fuhr die Bundesregierung einen undurchsichtigen Zickzackkurs. Am
Ende erfahren wir als Bundestag nicht einmal, was im
Detail vereinbart wurde. Das können wir uns doch nicht
gefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Parlaments, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Bei allem, was wir nicht wissen und was die Öffentlichkeit auch nicht weiß, ist aber eines sicher: Eine dauerhafte und eindeutige Sicherung des Bezeichnungsschutzes ist das nicht. Ganz offensichtlich lässt die
Vereinbarung wichtige Fragen offen. Ganz offensichtlich
bedarf die Vereinbarung weiterer juristischer Interpretationen.
Weil das so ist, kann die Vereinbarung ein Einfallstor
für eine faktische Aufgabe des Sparkassen-Bezeichnungsschutzes sein. Es ist doch unehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, davor die
Augen zu verschließen und in Ihrem Antrag heile Welt
zu spielen. Denn wir haben draußen auf den Finanzmärkten keine heile Welt. Draußen häufen sich die
Angriffe auf öffentlich-rechtliche Sparkassen. Die kommerziellen Großbanken haben sich doch gerade zum
Ziel gesetzt, den Sparkassensektor zu knacken.
Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank und
viele andere stört es natürlich, wenn Sparkassen im
Markt sind, die nicht Renditeforderungen von 25 Prozent anstreben und damit die Gewinnmargen kleiner halten. Genau diesen kommerziellen Großbanken haben
Sie, hat die Bundesregierung mit dem weichen Kompromiss mit offenen Formulierungen potenziell ein riesiges
Geschenk gemacht. Die kommerziellen Großbanken
sind mit ihrer Interpretation des Kompromisses doch
schon vorgeprescht. Die ist eindeutig. So wird gesagt:
Berlin ist kein Sonderfall. Dass sich auch Private künftig
Sparkasse nennen dürfen, gelte - ich zitiere den Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes - „auch in jedem
anderen Fall, wenn eine Kommune ihre Sparkasse privatisieren will“.
Vor alledem dürfen wir doch nicht die Augen verschließen. Wir müssen Sparkassen durch klare Rahmenbedingungen vor dem Zugriff kommerzieller Großbanken schützen und nicht Steilvorlagen für weitere
Angriffe liefern.
({2})
Deswegen sage ich auch: Mit diesem Kompromiss
hat die Bundesregierung den Parlamentswillen nicht eins
zu eins umgesetzt, wie wir ihn gemeinsam im September
formuliert haben. Das heißt ganz klar: Wir müssen uns
gemeinsam dafür einsetzen, hier keine faulen Kompromisse zu schließen. Deswegen fordere ich alle auf, sich
auch diesmal für den Sparkassen-Bezeichnungsschutz
stark zu machen. Sagen wir der Bundesregierung klar,
dass sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht hat.
Sagen wir ihr, dass sie noch einmal nachverhandeln soll.
Sagen wir ihr, dass eine mutige Verteidigung dieses
Sparkassenkompromisses nicht ausreicht, sondern dass
wir hier weitergehen müssen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Tage eines Jahres
sind die Zeit der Rückblicke und Resümees. Ein Thema
beim Rückblick auf die Finanzmarkt- und Bankenthemen dieses Jahres ist sicherlich die Auseinandersetzung
zwischen der Bundesregierung und der Europäischen
Kommission über den Bezeichnungsschutz der Sparkassen.
Seit einigen Tagen kennen wir das Resümee dieser
Thematik: Der Sparkassen-Namensstreit mit Brüssel,
also der Streit über den Bezeichnungsschutz, kann mit
Recht als ein Kapitel des Jahres 2006 bezeichnet werden, das sehr turbulent verlief, aber trotzdem letztendlich
positiv ausging. Diesen positiven Ausgang verdanken
wir der Bundesregierung. In der letzten Woche hat sie
nach einem wochenlangen Verhandlungsmarathon eine
erfreuliche Einigung mit der EU-Kommission über den
Bezeichnungsschutz der Sparkassen erzielt.
Entgegen Ihrer Auffassung, Kollege Troost und
meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, sind
wir in der Union davon überzeugt, dass die Bundesregierung damit sehr wohl den Bundestagsbeschluss vom
September dieses Jahres umgesetzt hat.
({0})
Sie hat in ihren Verhandlungen den Parlamentswillen
nicht nur respektiert, sondern sie ist ihm sogar ausdrücklich gefolgt.
({1})
Gerne erläutere ich Ihnen unsere Überzeugung kurz
anhand von drei Kernforderungen, die wir vor drei Monaten gemeinsam - Sie hatten sich daran beteiligt - im
Plenum formuliert haben.
({2})
Erstens sollte - so steht es im Antrag - der Bezeichnungsschutz der Sparkassen im Sinne des § 40 des KreLeo Dautzenberg
ditwesengesetzes grundsätzlich erhalten bleiben. Zweitens sollte in diesem Zusammenhang der Verkauf der
Bankgesellschaft Berlin als Sonderfall behandelt werden. Das ist die so genannte Insellösung. Drittens sollte
das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland
eingestellt werden.
Alle drei Forderungen sind aufgrund der Verhandlungen erfolgreich umgesetzt worden.
({3})
- Lieber Kollege Troost, wenn Sie nicht im Senat mitbeteiligt gewesen wären, als wir uns den Berliner Fall eingehandelt haben, dann wäre es gar nicht zum Vertragsverletzungsverfahren gekommen.
({4})
- Nein, Sie waren mit anderen in Berlin zusammen, die
ich als Koalitionspartner natürlich nicht ausdrücklich erwähnen möchte.
Allen drei Forderungen entspricht die Einigung mit
der EU-Kommission eindeutig. Ich sage daher sehr deutlich, dass die Vereinbarung ein Erfolg ist. Sie ist ein Erfolg für die deutschen Verhandlungsführer und - das ist
noch viel wichtiger - für den Sparkassensektor.
Ich kann daher nicht verstehen, warum diese Verhandlungen nicht anerkannt werden und sich schon wieder Nörgler und Kritiker aus der Deckung wagen.
({5})
Sie haben festgestellt, die Verhandlungslösung sei nicht
wasserdicht, und fragen, was passiert, wenn sich der
Berliner Fall an anderer Stelle wiederholt. Dürfen dann
wieder private Investoren den Namen Sparkasse fortführen? Wäre das nicht der Dammbruch für den öffentlichrechtlichen Sparkassensektor?
({6})
Diese Argumentation enthält mir zu viel Wenn und
Aber.
({7})
Zu der Frage, was dann passiert, Herr Kollege Troost:
Ehe private Investoren übernehmen können, muss zunächst einmal jemand bereit sein, zu verkaufen. So ist
das in unserem Rechtsstaat, der noch dem Eigentum verpflichtet ist. Das steht am Anfang der Gesamtsituation.
({8})
In den meisten Fällen gelten politische Entscheidungen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Ändern
sich diese, dann muss auch die Politik reagieren. Sollte
sich - dies sei nur am Rande bemerkt - der Berliner Fall
an anderer Stelle wiederholen, dann stehen wir in der
Politik und auch der Bankensektor - insbesondere diese
Organisation - vor schwerwiegenderen Fragen als der
des Bezeichnungsschutzes.
Zunächst einmal sehe ich aber unter den heutigen
Rahmenbedingungen nicht, dass der Bezeichnungsschutz für die Sparkassen durch die Verhandlungslösung
aufgeweicht wird. Vielmehr bin ich der Überzeugung,
dass diejenigen, die die Verhandlungslösung jetzt zerreden, die europäische Absicherung des Bezeichnungsschutzes tatsächlich gefährden.
Warum ich diese Befürchtung habe, macht ein Blick
auf den Verhandlungsverlauf in diesem Jahr sehr deutlich. Nicht ohne Grund sprach ich eingangs von einem
turbulenten Kapitel in Sachen Sparkassen-Bezeichnungsschutz. Wir alle wissen, dass in den letzten Wochen und Monaten nicht immer zu erwarten war, dass
Deutschland mit der EU-Kommission zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne des öffentlich-rechtlichen
Sparkassensektors gelangen würde.
Im Sommer standen vielmehr folgende Szenarien im
Raum: Ein Weg schien zwischenzeitlich darin zu bestehen, den Forderungen der EU-Kommission nachzugeben
und den § 40 KWG zu ändern, um die Einstellung des
Vertragsverletzungsverfahren zu erreichen. Die andere
Option war eine Beendigung der Verhandlungen ohne
einvernehmliche Lösung. Die Konsequenz wäre ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gewesen, dessen Ausgang völlig offen gewesen wäre.
Beide Szenarien konnten abgewendet werden. § 40
Kreditwesengesetz muss nicht geändert werden und das
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wird
eingestellt. Dass § 40 KWG nicht geändert werden
muss, ist auch ein Verdienst des Deutschen Bundestages.
Wir haben der Bundesregierung mit unserem Antrag im
September sehr deutlich gemacht, dass wir die zwischenzeitlich von ihr vorgeschlagenen Kompromissangebote zur Änderung des § 40 KWG für sehr problematisch halten und dass wir im Übrigen weder sachliche
noch europarechtliche Gründe für eine Änderung sehen.
Das Ergebnis haben wir jetzt, Herr Kollege Troost.
({9})
Damit haben wir der Bundesregierung für die Brüsseler
Verhandlungen letztlich den Rücken gestärkt. Mit Unterstützung durch eine große Parlamentsmehrheit konnten
sich die deutschen Verhandlungsführer hartnäckig für
den Erhalt des § 40 KWG in seiner heutigen Fassung
einsetzen, und zwar mit Erfolg, wie wir seit der letzten
Woche wissen.
Der Fraktion Die Linke reicht diese Lösung aber noch
immer nicht aus. Sie fordert eine Nachverhandlung mit
dem Ziel der dauerhaften Sicherstellung des Bezeichnungsschutzes. Das heißt, sie will eine Garantie für die
Ewigkeit. Aus der Historie betrachtet man die Ewigkeit
meistens von unten. Das ist im Grunde kein progressiver
Ansatz für die Zukunft.
({10})
Wir müssen vielmehr die Entwicklungen in der Kreditwirtschaft, der Landesgesetzgebung und der Europäischen Union weiterhin beachten. Wie absurd diese Forderung grundsätzlich ist und wie wenig sie mit
Realpolitik zu tun hat, brauche ich hier wohl nicht näher
zu erläutern.
({11})
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
wie bei so vielen Themen erliegen Sie auch beim Thema
Sparkassen wieder einmal dem Irrglauben, dass wir auf
einer Insel der Glückseligen leben. Das tun wir aber
nicht. Wir sind in die Europäische Union eingebunden,
ob wir das wollen oder nicht.
({12})
- Richtig, wir wollen das. - Die EU wird weiterhin - das
muss uns bewusst sein - ein Auge auf die Drei-SäulenStruktur der deutschen Kreditwirtschaft werfen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir von der
Union wollen den Bezeichnungsschutz für öffentlichrechtliche Sparkassen nicht nur kurzfristig retten. Wir
sind vielmehr von ihrer Bedeutung gerade mit Blick auf
die Gemeinwohlorientierung sehr wohl überzeugt und
haben ein langfristiges Interesse daran.
({13})
Aber wir sind als Realpolitiker vernünftig genug, um zu
wissen, dass die jetzt erreichte Vereinbarung mit der Europäischen Union das bestmögliche Ergebnis ist, das zu
erreichen war.
Deshalb lautet meine abschließende Bitte: Lassen Sie
uns gemeinsam das Ergebnis der Verhandlungen der
Bundesregierung mit der Europäischen Union über den
Bezeichnungsschutz der Sparkassen würdigen!
({14})
Lassen Sie uns auch in Zukunft die Entwicklung der
deutschen Kreditwirtschaft aufmerksam verfolgen und
politisch-konstruktiv begleiten! Richtschnur unseres
Handelns sollte dabei immer die qualitativ gute und flächendeckende Versorgung der Unternehmen und der Bevölkerung mit Bankdienstleistungen sein.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn ein Wort
an den Antragsteller richten. Herr Kollege Troost, Sie
müssen sich schon entscheiden, was Sie von der Linksfraktion wollen. Ihre Partei ist in Berlin - eigentlich sind
es hier noch zwei Parteien - in der Landesregierung.
Diese hat die Brüsseler Entscheidung ausdrücklich begrüßt. Im Deutschen Bundestag wettern Sie aber nun gegen die Einigung im Sparkassenstreit. In der Begründung Ihres Antrags verweisen Sie auf das in vielen
Bundesländern umgesetzte Girokonto für jedermann in
den dortigen Sparkassengesetzen. In Berlin, wo Sie in
der Landesregierung vertreten sind, gibt es kein Girokonto für jedermann im Sparkassengesetz. Wenn Ihnen
die Menschen, die kein Girokonto erhalten, wirklich am
Herzen liegen würden, dann hätten Sie längst das Girokonto für jedermann im Berliner Sparkassengesetz festschreiben können.
({0})
Sie brüllen in der Opposition, verkriechen sich aber in
der Berliner Landesregierung in den Regierungsdienstwagen. Das ist zutiefst verantwortungslos.
({1})
Wir als FDP können mit der Einigung im Sparkassenstreit sehr gut leben. Anders als jedoch von der Bundesregierung kurz nach der Einigung öffentlich verkündet, hat sich die Bundesregierung in Brüssel nicht
durchgesetzt, weder im Fall des Beihilfestreites um die
Berliner Sparkasse noch in der Auslegung des
§ 40 KWG. Insofern hat die Regierung tagelang die Öffentlichkeit über den wahren Inhalt der Einigung getäuscht:
Erstens. Das Land Berlin darf seine Landesbank Berlin Holding AG und damit seine Sparkasse auch an einen
privaten Investor verkaufen und dieser darf den Namen
„Sparkasse“ im Rahmen des Berliner Sparkassengesetzes weiter uneingeschränkt nutzen.
({2})
- Das ist ja Teil des Sparkassengesetzes in Berlin. - Die
BaFin musste sogar ihre bisherige Untersagung auf Weisung des Finanzministeriums zurücknehmen.
Zweitens. § 40 KWG wird in der Europäischen Union
in einer Weise angewandt, die nicht gegen die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr verstößt.
Dem Schutz der Bezeichnung „Sparkasse“ gemäß
§ 40 KWG geht das höherrangige, direkt anwendbare
Gemeinschaftsrecht vor und dies nicht nur im Beihilfestreit um die Berliner Sparkasse. Damit hat die Bundesregierung es nicht geschafft, die Auseinandersetzung auf
das Beihilfeverfahren zu reduzieren und Berlin als Sonderfall zu behandeln. Das war aber das eigentliche Ziel,
auch das Ziel des Entschließungsantrages der Koalition
Ende September.
({3})
Im Gegenteil: Nur weil die Bundesregierung akzeptierte, dass das höherrangige Gemeinschaftsrecht bei der
Anwendung des § 40 KWG generell gilt, konnte die EUKommission der Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens zustimmen.
({4})
§ 40 KWG ist nur noch eine formale Hülle, die in der
Praxis nicht mehr angewandt wird. Der Antrag von der
Union und der SPD mogelt sich um den Inhalt der Einigung herum. Sie schreiben im Antrag: „Es besteht kein
Erfordernis zur Änderung des § 40 KWG“ und suggerieren damit, dass sich nichts verändert hat. Tatsache ist
aber, die Bundesregierung hat klein beigegeben. Sie ist
als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Es
bedarf keiner Änderung des § 40 KWG, weil er künftig
keine Rolle mehr spielen wird.
Herr Schäffler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Ja.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Herr Kollege Schäffler, sind Sie bereit, dem Herrn
Kollegen Troost von der Linken zu sagen, dass die Verantwortlichen der Sparkassen in der Bundesrepublik
Deutschland mit dem gefundenen Kompromiss zufrieden sind, weil sichergestellt ist, dass dort, wo Sparkasse
draufsteht, auch Sparkasse drin ist?
({0})
Es mag sein, dass die Verbände das so interpretieren.
Die können das so interpretieren, wie sie wollen. Sie
werden die Einigung im Sparkassenstreit aber nicht verändern können. Die ist zwischen Bundesregierung und
Europäischer Kommission so verabredet, wie ich es gerade dargestellt habe. Das ist ja auch im Internet öffentlich einzusehen.
({0})
Natürlich können verschiedene Verbände unterschiedlicher Meinung sein, aber tatsächlich zählt, was in dieser
Einigung steht.
Damit sind die Länder in Deutschland künftig frei,
ihre Sparkassengesetze nach ihren Vorstellungen zu ändern, ohne dass der Bund über § 40 KWG dies verhindern kann. Aber auch die Kommunen können sich künftig auf europäisches Recht beziehen, ohne dass die
Länder ihnen die Veräußerung ihrer Sparkasse untersagen können. Von Bedeutung ist, dass in der Einigung
nichts mehr von einer vollständigen gemeinnützigen
Gewinnverwendung steht. Die Länder können den
Sparkassen lediglich bestimmte gemeinwirtschaftliche
Verpflichtungen auferlegen. Eine Veräußerung durch
eine Kommune können auch die Länder künftig nicht
verhindern.
Meine Damen und Herren, die FDP erkennt die Verdienste der Sparkassen für die Versorgung breiter Bevölkerungsschichten und des Mittelstandes mit Finanzdienstleistungen ausdrücklich an.
({1})
Gerade um dies auch zukünftig sicherzustellen, ist die
Einigung eine wichtige Grundlage für eine dynamische
Weiterentwicklung des Sparkassensektors und des Finanzstandortes Deutschland. Es ist aber auch eine gute
Nachricht für den Wettbewerbsföderalismus und eine
Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal glaubt man, man sei hier im falschen Film.
Dass Sie, Herr Troost, versuchen, Leute aufzuwiegeln
und in Angst zu versetzen, kann ich noch nachvollziehen,
({0})
aber Sie, Herr Schäffler, reden mit absolut gespaltener
Zunge. Sie haben sich nicht konstruktiv an dem Kompromiss des Bundestages beteiligt und Sie waren nicht
einmal in der Lage, sich in der eigenen Fraktion auf eine
Haltung zu verständigen, weil die eine Hälfte dafür war,
das Sparkassenprivileg aufrechtzuerhalten, und die andere Hälfte dagegen. Jetzt machen Sie sich zum Chefinterpreten der nun gefundenen Rechts- und Kompromisslage. Es ist geradezu albern und lächerlich, was Sie hier
abgezogen haben, um das in aller Deutlichkeit zu sagen.
({1})
Das Verhältnis zur EU ist nicht nur im Fall der Sparkassen, sondern auch auf anderen Gebieten, wie wir in
diesen Tagen merken konnten, außerordentlich schwierig. Die EU-Kommissare und die zuständigen Generaldirektionen wandeln häufig stark am Rande des eigentlich
geltenden Europarechts und versuchen, es durch praktisches Handeln, durch Faktensetzen in eine andere Richtung zu verschieben.
({2})
Dagegen muss man sich wehren, weil das Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit für die EU-Kommission genauso wie
für unsere Bundesregierung und unser gesamtes politisches Handeln gilt.
Reinhard Schultz ({3})
Darum ging es ausdrücklich bei der Findung eines
Sparkassenkompromisses. Es ist Einigung darüber erzielt worden, dass der historische Verstrickungen aufweisende Fall der Berliner Sparkasse isoliert behandelt
wird. Das war anders nicht möglich, weil eine beihilferechtliche Entscheidung der EU vorlag. Es sind öffentliche Subventionen geflossen, die an die Bedingung geknüpft gewesen sind, dass das Institut danach
diskriminierungsfrei verkauft werden kann.
({4})
Damit ist die Geschichte natürlich noch nicht zu
Ende. Ich bin einmal gespannt, wer die Berliner Sparkasse kauft. Ich kann sagen, wem ich die Daumen drücke. Die öffentlich-rechtliche Sparkassenfamilie ist gemeinsam auf dem besten Wege, das Geld in die Hand zu
nehmen, um das Problem elegant zu lösen,
({5})
sodass sich der Kreis wieder schließt. Ich fände gut,
wenn das dabei herauskäme. Das sage ich ganz offen.
Natürlich brauchen wir einen diskriminierungsfreien
Verkaufsvorgang, aber auch die öffentlich-rechtlichen
Institute haben das Recht und die Chance, dort mitzubieten. Vielleicht geht das auch gut.
({6})
- Wenn sie sich einig sind. Man kann nur an sie appellieren, dass sie sich einigen.
({7})
Der zweite Punkt betrifft § 40 KWG. Die EU hat versucht, der Bundesregierung Kriterien hinsichtlich des
Gemeinwohls und hinsichtlich der Frage, wann eine privatisierte Sparkasse eigentlich noch Sparkasse heißen
darf, aufs Auge zu drücken. Darüber hat man sich ausdrücklich nicht geeinigt. Die Tatsache, dass man sich
nicht geeinigt hat und trotzdem das Vertragsverletzungsverfahren eingestellt wird, bedeutet, dass § 40 KWG in
Deutschland uneingeschränkt weiter gilt.
({8})
- Nur nicht in Berlin; das ist nun einmal so. - Der Bundesfinanzminister hat dem Sparkassen- und Giroverband
ausdrücklich mitgeteilt, dass die Bundesregierung auch
künftig für den Fall, dass jemand versuchen sollte, eine
Sparkasse zu privatisieren und den Namen mitzugeben,
über die BaFin eingreifen und die Weiterführung des Namens Sparkasse untersagen wird. Das ist eine definitive
Zusage.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen sich ein Fall wie der der Berliner Sparkasse
wiederholen könnte. Natürlich ist in der fernen Zukunft
alles möglich, aber nach den Ereignissen um die Berliner
Sparkasse haben die Sparkassen einen solch starken
Sicherungsverbund geschlossen, dass sie Insolvenzen
oder Schieflagen problemlos innerhalb der Sparkassenfamilie auffangen können und auch auffangen werden.
Nicht zuletzt - auch darauf möchte ich verweisen - ist
der Sparkassensektor bei allen - auch internationalen Stresstests der stabilste von allen Sektoren, auch aufgrund seiner Verbundstruktur. Das heißt, eine Sanierungsprivatisierung, wie sie, um das einmal so zu interpretieren, in Berlin möglicherweise vorliegen wird, ist in
anderen Fällen weitgehend auszuschließen.
Dann bleiben lediglich die Fälle einer Privatisierung
nach dem Willen des Trägers der Sparkasse. Dazu bedarf
es allerdings Änderungen im Ländersparkassenrecht.
Diese sind nicht so einfach. Auch dort gilt das Rahmenrecht des Kreditwesengesetzes mit § 40. Natürlich gibt
es da Spielräume. Zum Beispiel könnte ein Stammkapital eingeführt werden, was einige Länder wollen. Ich
halte es allerdings nicht für besonders überzeugend,
wenn der Landesgesetzgeber einerseits erklärt, er denke
nicht daran, seine Sparkassen zur Privatisierung freizugeben, andererseits aber eine rechtliche Möglichkeit zur
Einführung von Stammkapital im engeren Sinne - es
geht ja nicht um Eigenkapital - mit gestückelten Beteiligungen fordert. Wenn nicht privatisiert werden soll und
die kommunalen Träger weiterhin für die Sparkassen zuständig sein sollen, besteht diese Notwendigkeit eigentlich nicht.
Insofern muss man auf Länderebene hinterfragen, warum eine Tür aufgemacht wird, die gleichzeitig wieder
zugemauert werden soll. Das ist nicht sehr überzeugend.
Da werden wir an anderer Stelle kämpfen. Das ist Landespolitik. Es wird nie so weit kommen, zumindest mit
uns nicht, dass § 40 KWG in der Form geöffnet wird, dass
die Länder einen Freifahrtschein dafür erhalten, privatisierte Institute weiterhin „Sparkasse“ nennen zu können.
Die Sparkassen müssen weiterhin öffentlich-rechtlich
bleiben und sie werden nach wie vor Gemeinwohlkriterien unterworfen sein.
Ich denke, das ist ein klares Ergebnis. Ich wundere
mich, Herr Kollege Troost, dass ausgerechnet Sie hier
die Deutsche Bank oder den Bankenverband als zuverlässigen Kommentator dieses Kompromisses darstellen.
Das ist nicht der Gesetzgeber oder etwas Ähnliches, sondern eine Interessengruppe, die die Situation, die jetzt einigermaßen gefestigt ist, wieder aufweichen will, um
den nächsten Angriff auf die Sparkassenfamilie vorzubereiten. Denen würde ich nicht die Hand reichen, indem
ich ihnen Recht gebe.
Die Pressemitteilung, die die Bundesregierung und
die Wettbewerbsbehörde gemeinsam verfasst haben, und
der Brief hinsichtlich Berlin, den Sanio geschrieben hat,
({9})
sind die beiden Grundlagen, die feststehen. Sie geben
genau das wieder, was wir in unserer Entschließung am
29. September dieses Jahres gesagt haben: Berlin isolieren und dafür den gesamten Rest retten.
Insofern kann ich nur sagen: Die Bundesregierung hat
meines Erachtens punktgenau - im Rahmen der Möglichkeiten - unseren Entschließungsantrag umgesetzt.
Dafür möchte ich mich beim Bundesfinanzminister und
bei der Verhandlungsgruppe ausdrücklich noch einmal
bedanken. Ich bin davon überzeugt, dass auch die EUReinhard Schultz ({10})
Kommission sich davon hat beeindrucken lassen, dass
sich der deutsche Gesetzgeber nicht durch eine EU-Behörde in seine Gesetzgebungskompetenz hineinpfuschen lässt. Denn das war das Begehr: dass ein deutsches
Parlament, der Vertreter des deutschen Volkes, durch
eine Behördenentscheidung gezwungen wird, ein Gesetz
zu verändern. Das hatte die EU-Kommission vor; es ist
aber abgewehrt worden und wird auch nicht geschehen.
Ich denke, es war gut, dass es in diesem Zusammenhang
einen engen Schulterschluss zwischen Parlament und
Bundesregierung gegeben hat.
Herr Kollege Schultz, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schäffler?
({0})
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Schäffler.
Herr Schultz, wenn es so ist, wie Sie das gerade beschrieben haben, wieso ist der Berliner Fall dann nicht
auf den Beihilfestreit reduziert worden, wieso hat man
dann in diesem Zusammenhang das Vertragsverletzungsverfahren mit abgeräumt?
Das war doch gerade die Kunst, lieber Herr Schäffler.
Die EU-Kommission hat einen Zweifrontenkrieg gegen
das deutsche Sparkassenrecht geführt und versucht, das
Beihilfeverfahren in Berlin als Hebel zu benutzen, um
die gesamte Veranstaltung auszubremsen. Gleichzeitig
hat sie ein lange ruhendes Vertragsverletzungsverfahren wieder aufleben lassen. Dass dieses Vertragsverletzungsverfahren jetzt eingestellt worden ist und gleichzeitig das Problem Berlin gelöst werden konnte, war
sozusagen der Hattrick, der uns alle gerettet hat. Es gab
von Anfang an einen politischen Zusammenhang und
das Problem ist auch im Zusammenhang gelöst worden.
Gab es noch eine Frage? - Nein.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in enger
Zusammenarbeit mit den Sparkassen die Interpretationshoheit über diesen Kompromiss behalten. Ich bedanke
mich für die gute interfraktionelle Zusammenarbeit im
Vorfeld und bis zum heutigen Tage. Trotzdem wird das
Holzauge selbstverständlich für den Fall wachsam bleiben, dass die EU-Kommission in der nächsten Zeit auf
dumme Gedanken kommen sollte.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Andreae vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben es gerade erlebt: Gegen Angriffe kann
man sich wehren; gegen Lob ist man machtlos. In diesem
Sinne will ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen, dass wir diesem Antrag der großen Koalition
zustimmen werden.
({0})
Wir wollen der Koalition an dieser Stelle ein Lob aussprechen; denn wir finden das vorliegende Ergebnis
richtig. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass es sich
um eine Umsetzung derjenigen Punkte handelt, die wir
am 29. September in größerer Runde verabredet haben.
Wie gesagt, § 40 des Kreditwesengesetzes bleibt erhalten. Der Erhalt der öffentlich-rechtlichen Sparkassen
ist vorerst gesichert. Außerdem gibt es kein Vertragsverletzungsverfahren. Wir wären damals Ihrem Antrag beigetreten; die Vorgeschichte kennen Sie. Aber diesmal
konnten wir Ihrem Antrag nicht beitreten. Der Grund ist,
dass wir Sorgen haben, was die Argumentation der EUKommission im bisherigen Verfahren betrifft. Denn es
ist schon so, dass die EU-Kommission weiterhin behauptet, dass der Grundversorgungsauftrag einer
Sparkasse unabhängig von ihrer Rechtsform erbracht
werden kann. Die EU-Kommission ignoriert auch weiterhin diesen unvermeidlichen Zielkonflikt zwischen der
Gemeinwohlverpflichtung der öffentlich-rechtlichen
Sparkassen und den Gewinninteressen privater Unternehmen. Sie stellt außerdem das Regionalprinzip infrage.
Brüssel insistiert auch weiterhin darauf, dass für zukünftige Fälle ein möglicher Verkauf einer Sparkasse in
Übereinstimmung mit dem EU-Recht erfolgen muss.
Daraus schließen wir, dass Brüssel seine Vorbehalte gegen § 40 des Kreditwesengesetzes nur zurückgestellt,
aber noch nicht aufgegeben hat.
({1})
Diesen Punkt sehen wir kritisch. Auch Sie sollten das
tun.
Herr Dautzenberg, ich würde mir wünschen, dass Ihnen klar ist, was hier passiert ist. Es ist vielleicht mit einem spielentscheidenden Tor zu vergleichen. Aber es ist
noch lange nicht so, dass das Spiel insgesamt gewonnen
ist.
Was bedeutet das für den Fall, dass ein Bundesland
sein Sparkassengesetz ändern und seine Sparkasse verkaufen will? Was bedeutet es, wenn Volksbanken und
Sparkassen regional fusionieren wollen oder wenn es gar
Fusionen von regionalen Sparkassen zu Großsparkassen
gibt?
({2})
Es könnte durchaus sein, dass die Kommission solche
Fälle als willkommenen Anlass sieht, den Rechtsstreit
über § 40 des Kreditwesengesetzes wieder aufzunehmen.
Wir wollen das Verhandlungsergebnis nicht kleinreden. Ich meine tatsächlich - mir ist es damit wirklich
ernst -, dass es angesichts der Tatsache, was in den Verhandlungen möglich war, ein gutes Ergebnis ist. Deswegen stimmen wir diesem Antrag und nicht dem Antrag
der Linken zu.
Wir wünschen uns, dass wir nicht nur heute Abend,
sondern auch in Zukunft von der Union, die bei diesem
Thema unterschiedliche Interessen verfolgt, hören:
({3})
Die Zukunft der Sparkassen ist noch nicht entschieden.
Wir erwarten schon, dass sich die Bundesregierung
weiterhin mit Umsicht und erhöhter Aufmerksamkeit für
eine dauerhafte Lösung im Sinne des Erhalts der Sparkassen und vor allem ihres Gemeinwohlauftrages einsetzt. Wir können sie dabei im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen.
({4})
Dieser Teilschritt war gut und richtig. Aber es ist weiterhin dringend notwendig, bei diesem Thema umsichtig
und aufmerksam zu sein.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3797 mit dem Titel „Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassensektor - Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeichnungsschutz - Parlamentswillen respektieren“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/3805 mit dem Titel „Bezeichnungsschutz
für Sparkassen gesichert“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Katherina Reiche ({1}), Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco
Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlich fortentwickeln
- Drucksachen 16/2502, 16/3143 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dirk Becker
Angelika Brunkhorst
Dr. Reinhard Loske
Es ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es hat nur ein Redner den
Anspruch gestellt, zu sprechen. Er muss in Anbetracht
der fortgeschrittenen Zeit auch nicht die ganze Redezeit
in Anspruch nehmen.
({2})
Es handelt sich um den ehrenwerten Kollegen Ingbert
Liebing von der CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren
heute zum zweiten Mal in diesem Jahr über das Thema
IKZM, über das Integrierte Küstenzonenmanagement.
Das ist wahrlich ein Wortungetüm, das erschrecken mag.
Aber das Thema ist wichtig. Es ist wichtig, dieses
Thema aus der Ecke der Fachexperten herauszuholen
und es viel mehr als bisher ins öffentliche Bewusstsein
zu rücken.
({0})
Das Thema ist wichtig, weil es um die Entwicklung unserer Küstenregionen geht. In kaum einer anderen Region prallen unterschiedlichste Nutzungsansprüche so
sehr aufeinander wie an unseren Küsten - und das in einem ökologisch besonders wertvollen Gebiet.
Deshalb ist es so wichtig, dass gerade hier Strategien
entwickelt werden, um die Küstenregionen als ökologisch intakten und wirtschaftlich erfolgreichen LebensIngbert Liebing
raum für die hier lebenden Menschen dauerhaft zu erhalten und nachhaltig zu entwickeln. Das ist die Aufgabe
des IKZM.
({1})
Es geht um Interessenausgleich und um Konfliktvermeidung. Da geht es um ökologische und ökonomische
Belange, um Küstenschutz, um Naturschutz, um Tourismus, um Schifffahrt, um Energiegewinnung, um Hafenwirtschaft, Landwirtschaft oder Fischerei. Es geht um
vernünftige Verkehrsanbindungen für die im Regelfall
nicht gerade zentral gelegenen Küstenregionen.
({2})
Immer wieder geht es dabei darum, diesen Interessenausgleich zu organisieren.
({3})
Das kann man nicht mit viel Theorie machen. Entscheidend ist die Praxis in den Küstenregionen.
({4})
Integriertes Küstenzonenmanagement muss mit Leben
gefüllt werden. Dafür ist es allemal sinnvoll, vorhandene
Strukturen zu nutzen.
Wir fangen ja nicht erst bei null an.
({5})
Ich selbst habe einmal als Vorsitzender der Euregio „Die
Watten“, eines Zusammenschlusses aller Gemeinden
und Städte auf den Inseln und Halligen im Wattenmeer
von Holland bis Dänemark, im Wattenmeerforum mitarbeiten dürfen.
({6})
Hier treffen sich bereits seit vielen Jahren Entscheidungsträger verschiedener staatlicher und regionaler
Ebenen mit nicht staatlichen Interessenorganisationen
von Holland bis Dänemark und arbeiten gemeinsam an
einer nachhaltigen Entwicklung der Wattenmeerregion.
Sie haben eine gemeinsame Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der Region erarbeitet. Das ist ein Beispiel für praktiziertes integriertes Küstenzonenmanagement. Solche Potenziale müssen auch in Zukunft genutzt
werden.
({7})
Die Bundesregierung hat im März der EU die nationale IKZM-Strategie vorgelegt. Gern möchte ich bei
dieser Gelegenheit den beteiligten Ministerien und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Dank der CDU/
CSU-Fraktion für die geleistete Arbeit aussprechen.
({8})
Wir haben einen schönen Bericht und eine ambitionierte
Strategie vorliegen.
Aber es muss jetzt auch weitergehen.
({9})
Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, eine nationale Koordinierungsstelle für Integriertes Küstenzonenmanagement einzurichten.
({10})
Dabei ist es wichtig, dass sie auch mit Praktikern besetzt
wird.
Zentraler Punkt des IKZM ist eine frühzeitige Konflikterkennung und -lösung. Dafür ist ein umfassendes
Verständnis für die wechselseitigen Verflechtungen maritimer Wirtschaft, mariner Ökologie sowie der Wechselwirkungen in den Küstenregionen wichtig. Geht man
dies nur mit einem fachspezifischen Tunnelblick an, landet man zwangsläufig in der Sackgasse.
({11})
- Genau, das ist viel zu eng, Herr Kollege Thiele.
Damit das nicht passiert, brauchen die Regionen umsichtige „Kümmerer“, die den Überblick bewahren und
sich auf höherer Ebene koordinieren. Dafür brauchen
wir auch die Unterstützung der staatlichen Ebene; denn
viele Rahmenbedingungen werden eben nicht in der Region selber, sondern von anderen außerhalb bestimmt.
Beim integrativen Ansatz von IKZM spielt auch der
Wirtschaftsraum Küste eine zentrale Rolle.
({12})
IKZM darf eben nicht, wie manchmal falsch verstanden
oder befürchtet, als rein ökologisches Planungsinstrument betrachtet werden. Es geht um eine ausgewogene
Regionalentwicklung - Küstenregionen sind auch Regionen, in denen Menschen leben und arbeiten - und es
geht um eine ökonomisch erfolgreiche und nachhaltige
Entwicklung,
({13})
die einen Beitrag zur Lissabonstrategie der EU leistet.
({14})
Integrativer Ansatz von IKZM bedeutet, dass wir benachbarte Politikbereiche einbeziehen. Das gilt insbesondere für die Verzahnung zwischen Küstenthemen und
Meerespolitik. Maritime Themen erfahren zurzeit eine
völlig neue Aufmerksamkeit. Wir diskutieren über das
EU-Grünbuch zur integrativen Meerespolitik, wir diskutieren über die EU-Meeresschutzstrategie, die in wenigen Tagen beim EU-Ministerrat zur politischen Einigung
ansteht. Es geht auch um die Zielsetzung, ein weltweites
Netz von Meeresschutzgebieten auszuweisen. Ich nenne
auch die boomende maritime Wirtschaft. Die Meeresforschung beschäftigt sich mit der Gewinnung von Energieressourcen aus dem Meer und neue marine Wirkstoffe
unterstützen den medizinischen Fortschritt. Es geht um
die Sicherung von Nahrungsquellen aus dem Meer, gerade für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es geht
auch um die Wechselwirkungen zwischen den Meeren
und dem Weltklima. Die Meere nehmen mehr als die
Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf und tragen damit eine wesentliche Last der globalen Klimaveränderung.
Alle diese Themen finden direkt vor unseren Küsten
statt und beeinflussen unsere Küstenregionen. Der Klimawandel ist längst angekommen. Das Ausmaß von
Katastrophen und Extremsituationen, die in den letzten
Jahren weltweit über Küstenregionen und deren Bevölkerung hereingebrochen sind, häufen sich auffällig. Wir
haben bis jetzt Glück gehabt, dass die deutschen Küsten
hiervon weitgehend weniger betroffen waren. Aber gerade in den Küstenregionen geht es jetzt auch um Anpassungsstrategien und nicht um die Vermeidung des Unvermeidlichen.
All diese Themen waren auch Gegenstand der
5. Nationalen Maritimen Konferenz in der vergangenen Woche in Hamburg, einer, wie ich finde, ausgesprochen erfolgreichen Veranstaltung, nicht zuletzt auch
dank der umsichtigen und kompetenten Leitung durch
die neue maritime Koordinatorin der Bundesregierung,
Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.
({15})
Wie geht es jetzt weiter? Die Europäische Kommission hat wieder zu Expertengesprächen eingeladen, die
im März stattfinden sollen. Wir müssen wachsam sein,
dass bei der EU kein neues Bürokratiemonster geschaffen wird. Mir ist wichtig - das sagt auch der Antrag der
Koalitionsfraktionen -, dass sich die Bundesregierung
im Rahmen der zukünftigen Weiterentwicklung von Integriertem Küstenzonenmanagement dafür einsetzt, den
unbürokratischen Charakter dieser Kooperation beizubehalten. Das ist auch wichtig, um die Menschen an den
Küsten mitzunehmen, die IKZM umsetzen und nutzen
sollen.
({16})
Wir gehen davon aus, dass auf dieser Basis eine weitere
EU-Richtlinie zu diesem Thema nicht kommt.
({17})
Die Bundesregierung hat mit der Vorlage der nationalen IKZM-Strategie einen wichtigen ersten Schritt getan.
Meine Fraktion begrüßt diesen Strategiebericht ausdrücklich. Jetzt stehen die Umsetzung und der Prozess
einer kontinuierlichen Fortentwicklung an. Dazu wollen
wir mit unserem Antrag der Koalitionsfraktionen einen
Beitrag leisten. Ich bin sicher, er wird bei den Beteiligten
seine Wirkung nicht verfehlen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für die
Geduld zu dieser späten Stunde.
({18})
Die Reden der Kollegen Dirk Becker, SPD, Angelika
Brunkhorst, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu
Protokoll.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/3143 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlich
fortentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 16/2502 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via
Satellit sicherstellen
- Drucksache 16/3545 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Reden sollen insgesamt zu Protokoll genommen
werden. Deswegen brauche ich die Aussprache nicht zu
eröffnen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Dorothee Bär und Philipp Mißfelder, CDU/CSU, Jörg
Tauss und Christoph Pries, SPD, Christoph Waitz, FDP,
Dr. Lothar Bisky, Die Linke, und Grietje Bettin,
Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3545 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
1) Anlage 6
2) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele
Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union ({1}) für
die Entwicklungszusammenarbeit der EU
- Drucksache 16/3807 -
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen
Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD,
Hellmut Königshaus, FDP, Heike Hänsel, Die Linke, Ute
Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/3807. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke sowie Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Ackermann, Hartfrid Wolff ({2}), Daniel
Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Dem Beruf des Rettungsassistenten eine
Zukunftsperspektive geben - Das Rettungsassistentengesetz novellieren
- Drucksache 16/3343 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.
Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Dr. Rolf
Koschorrek, CDU/CSU, Dr. Margrit Spielmann, SPD,
Jens Ackermann, FDP, Frank Spieth, Die Linke,
Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3343 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie Zusatz-
punkt 9 auf:
19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung -
Fährkonzept verbessern
- Drucksache 16/3668 -
1) Anlage 8
2) Anlage 9
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein
ökologisch und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept
- Drucksache 16/3798 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom-
men. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Gero
Storjohann, CDU/CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Pa-
trick Döring, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder
Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3668 und 16/3798 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt 10 auf:
20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck ({7}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung einer Polizeireformkommission
- Drucksache 16/3704 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Notwendigkeit einer Defizitanalyse des beste-
henden Sicherheitssystems
- Drucksache 16/3809 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom-
men. Es sind die Beiträge der Kollegen Günter
Baumann, CDU/CSU, Wolfgang Gunkel, SPD, Dr. Max
Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, und Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.4)
3) Anlage 10
4) Anlage 11
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/3704 und 16/3809 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 15. Dezember 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.