Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/30/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Morgen sowie gute Beratungen. Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herr van der Linden, Platz genommen. ({0}) Ich begrüße Sie, lieber Kollege van der Linden, und Ihre Delegation herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages. Herr Präsident van der Linden, wir freuen uns, dass Sie kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Gelegenheit zu einem offiziellen Besuch in Berlin gefunden haben. Wie Sie wissen, befasst sich der Deutsche Bundestag nicht allein dank der regelmäßigen Berichterstattung der Mitglieder der deutschen Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates mit den wichtigen und aktuellen Themen der Organisation. Bereits gestern ist Ihnen in den Gesprächen mit Mitgliedern verschiedener Ausschüsse deutlich geworden, wie eng die parlamentarischen Beratungen Ihrer Versammlung thematisch mit denen des Bundestages verknüpft sind. Als aktueller Beleg der engen Kooperation dient die Kampagne der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zum Thema „Parlamentarier vereint im Kampf gegen die häusliche Gewalt gegen Frauen“, die am Montag unter großer Medienbeachtung und in Ihrem Beisein im spanischen Parlament feierlich gestartet wurde. Häusliche Gewalt ist eine der unauffälligen, aber weit verbreiteten Verletzungen der Menschenrechte und muss in allen Mitgliedstaaten des Europarates bekämpft werden. ({1}) Nach den vom Europarat zusammengetragenen Daten haben in allen Ländern ein Viertel aller Frauen - völlig unabhängig von Alter und sozialen Milieus - mindestens einmal in ihrem Leben physische Gewalt erfahren. Die häufigsten Gewaltakte gegen Frauen geschehen von Männern in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld. Darum begrüßen die Mitglieder des Deutschen Bundestages das Ziel dieser Kampagne ausdrücklich, nämlich jede Form häuslicher Gewalt vorbehaltlos zu verurteilen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Problem der häuslichen Gewalt zu schärfen, die Maßnahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt auch auf Ebene der nationalen Regierungen, Parlamente und Regional- sowie Kommunalbehörden auf den Prüfstand zu stellen und ihr mit allen zu Gebote stehenden parlamentarischen Mitteln entgegenzutreten. ({2}) Lieber Kollege van der Linden, wir freuen uns, dass Sie trotz Ihres sehr dichten Programms Gelegenheit finden, unserer Sitzung beizuwohnen. Wir wünschen Ihnen weiterhin interessante Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in Berlin. Wir freuen uns auf die weitere intensive Zusammenarbeit. ({3}) Der Kollege Friedbert Pflüger hat am 25. November auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich herzlich den Kollegen Hans Peter Thul. ({4}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg und Kapital von Unternehmen ({5}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({6}), Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Glaubensfreiheit weltweit achten - Drucksache 16/3614 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7}) Auswärtiger Ausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 - Drucksache 16/3622 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 3 g und 33 a abzusetzen sowie die Tagesordnungspunkte 8 und 14 zu tauschen. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Die in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Finanzausschuss ({9}) zur Mitberatung überwiesen werden. Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Modernisierungsstrategie für die deutsche Wasserwirtschaft und für ein stärkeres internationales Engagement der deutschen Wasserwirtschaft - Drucksache 16/1094 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f und 3 h sowie Zusatzpunkt 2 auf: 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf ({11}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union - Drucksache 16/3607 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({12}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christel Riemann-Hanewinckel, Christoph Strässer, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten - Drucksache 16/3608 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13}) Auswärtiger Ausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention - Drucksache 16/3145 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({15}), Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht gebraucht - Drucksache 16/3621 Überweisung: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({16}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({17}), Rainder Steenblock, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU stärken - Mandat der Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten - Drucksache 16/3617 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({18}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({19}), Marieluise Beck ({20}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Pressefreiheit als Fundament für die Demokratie - Drucksache 16/3613 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({21}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Präsident Dr. Norbert Lammert h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter - Drucksachen 16/226, 16/2733 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Volker Beck ({23}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({24}), Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Glaubensfreiheit weltweit achten - Drucksache 16/3614 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({25}) Auswärtiger Ausschuss Herr Kollege van der Linden, Sie sehen, wir haben uns große Mühe gegeben, auch bei der Gestaltung der Tagesordnung den besonderen Schwerpunkten des Europarates Rechnung zu tragen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. ({26})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Dass die Debatte über die Lage der Menschenrechte heute in der Kernzeit der Parlamentswoche stattfindet, ist ein Signal, das in der Öffentlichkeit verstanden werden wird. Ich darf Ihnen versichern, dass es auch von der Bundesregierung und dem Bundesaußenminister verstanden wird. Kofi Annan hat vor kurzem versucht, eine griffige Formel für die Bedeutung der Menschenrechtspolitik zu finden. Er hat gesagt: ohne Sicherheit keine Entwicklung, ohne Entwicklung keine Sicherheit und weder Sicherheit noch Entwicklung ohne Beachtung der Menschenrechte. - Diese Zusammenhänge sind auch Leitund Richtschnur für die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung und des Bundesaußenministers. ({0}) Wir verfolgen als Vertreter unseres Landes die Förderung und die Verteidigung der Menschenrechte konsequent sowohl in unseren bilateralen Beziehungen als auch in multilateralen Gremien ebenso wie in der Europäischen Union; darauf komme ich gleich zurück. Wir dürfen miteinander feststellen: Im Laufe der Jahre hat die deutsche Menschenrechtspolitik durchaus unverwechselbare Markenzeichen entwickelt. Wir treten für die Universalität der Menschenrechte ein. Wir wenden uns gegen Versuche, diese mit Hinweisen auf kulturelle Traditionen oder niedrige Entwicklungsstände zu relativieren. Wir setzen uns für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, für politische, wirtschaftliche, soziale wie kulturelle, ein. Ein aktuelles Beispiel dafür ist etwa die deutsch-spanische Initiative zum Recht auf Wasser für alle Menschen, über die berichtet worden ist. Erst vor wenigen Tagen hat der neue Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen diese Forderung mit großer Unterstützung aus allen Weltregionen im Konsens angenommen. Wir treten darüber hinaus mit Nachdruck gegen Diskriminierungen jeglicher Art sowie gegen Rassismus und religiös bzw. anderweitig motivierte Intoleranz ein. Wir wollen konkrete Menschenrechtsprobleme so weit wie möglich auf dem Wege des Dialogs und der Zusammenarbeit lösen. Das funktioniert - das wissen Sie alle nicht immer auf dem Marktplatz. Aber klar ist natürlich ebenso: Schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen müssen wir offen beim Namen nennen. ({1}) Mit Übernahme der Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt Deutschland ab dem 1. Januar 2007 zum einen auch dort eine gewisse Leitfunktion im Rahmen des Menschenrechtsschutzes. Ich darf Ihnen versichern, dass wir alles dafür tun werden, damit die Europäische Union der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte beitritt, wie wir das im Rahmen der Diskussion um den europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen haben. Zum anderen geht es natürlich um die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Arbeit der neuen Europäischen Grundrechteagentur. Ich darf sagen: Es hat lange Diskussionen gegeben. Am Ende tragen wir, die Bundesregierung, die Entscheidungen zur Schaffung dieser Grundrechteagentur mit. Aber wir nehmen die Bedenken des Deutschen Bundestages sehr ernst - darum erwähne ich dies hier - und drängen in diesem Sinne auch in Brüssel darauf, dass sich keine Überschneidungen mit Menschenrechtsgremien anderer Herkunft ergeben und vor allen Dingen kein Wirrwarr an Zuständigkeiten entsteht. Ich bin der Meinung - ich weiß, dass viele hier im Hause dieselbe Auffassung vertreten -: Die Grundrechteagentur muss den Europarat sinnvoll ergänzen, ihn in seinen Zuständigkeiten aber nicht verdoppeln wollen. ({2}) Die internationale Menschenrechtspolitik der EU ist sichtbares Zeichen und sichtbare Auszeichnung europäischer Politik geworden. Die Europäische Union spricht heute fast überall gegenüber dritten Staaten mit einer Stimme in Menschenrechtsfragen. Das lässt sich glaubwürdig nur dann machen, wenn wir zunächst bei uns selbst um Menschenrechtsschutz bemüht sind. Darum schicken wir zum Beispiel bei Einsätzen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch Menschenrechtsbeobachter mit. Sie kümmern sich um die Beachtung der Menschenrechte nicht nur durch Dritte, sondern auch durch das europäische Personal. Wir werden im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft weiter für die Abschaffung der Todesstrafe, die Bekämpfung der Folter und gegen den Einsatz von Kindersoldaten eintreten. ({3}) Dazu gehört, dass wir auch in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung klare Positionen beziehen. Gerade weil wir den Terrorismus uneingeschränkt verurteilen, müssen wir bei seiner Bekämpfung auf die Einhaltung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahren achten. ({4}) Als deutscher Außenminister muss ich und werde ich im kommenden Halbjahr sehr viele Menschenrechtsdialoge, Konsultationen zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten führen. Dabei werden wir - das sage ich gerade mit Blick auf die Anträge, die heute behandelt werden - natürlich auch die Situation von Christen und religiösen Minderheiten auf den Tisch zu bringen und zu verhandeln haben. Ich jedenfalls werde mich darum bemühen - wir wollen dafür arbeiten -, dass wir nach dem Menschenrechtsdialog der EU mit China, der jetzt im Gange ist, einen solchen Dialog auch mit anderen Staaten zustande bringen, vielleicht am Ende auch mit dem Iran, einem Staat, mit dem uns im Augenblick eher Konflikte und tiefe Probleme verbinden. Bei den hoffentlich doch stattfindenden Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft mit Russland - darüber wird im Augenblick in Europa gesprochen; das wissen Sie - wird das Thema Menschenrechte ebenfalls nicht ausgespart und nicht ausgespart werden können. Wir werden natürlich aussprechen, dass zu einem Ausbau der strategischen Partnerschaft zwischen Europa und Russland auch der Ausbau von Demokratie und Rechtsstaat gehört. Dasselbe gilt - das sage ich mit Blick auf meine zurückliegende Zentralasienreise - natürlich auch für die Initiative, die Europa im Bereich seiner Zentralasienpolitik vorhat. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft dazu kommen werden, einen Menschenrechtsdialog mit Usbekistan aufzunehmen. Ich kann Ihnen versichern: Ich habe bei meiner Zentralasienreise selbst erlebt, wie schwierig solche Gespräche sind und wie hartnäckig man sie führen muss. Aber ich habe auch festgestellt, dass sich solche Gespräche lohnen können. Die usbekische Regierung hat nach meinem Besuch immerhin einen Journalisten, um den wir uns bemüht haben - er war zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt -, freigelassen. Sie hat jetzt angekündigt, dass das Internationale Rote Kreuz wieder Zugang zu den usbekischen Gefängnissen erhalten soll. Schließlich hat sie der Aufnahme eines Menschenrechtsdialoges mit der EU zugestimmt. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Das mindert nicht die Vorwürfe hinsichtlich der Ereignisse von Andischan, aber immerhin: Wenn sich bewahrheitet, dass aus diesen Ankündigungen Politik wird, dann wäre das ein Schritt nach vorn. ({5}) Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe steht uns bei dem neu gegründeten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen bevor. Sie wissen, dass Deutschland auf den Wunsch vieler „Mitglied der ersten Stunde“ geworden ist und damit die Rahmenbedingungen der Arbeit des Menschenrechtsrates mit gestalten kann. Dann kann die Chance bestehen, dass sich dieses neue Gremium mehr Glaubwürdigkeit erarbeitet, als die alte Menschenrechtskommission, die aufgelöst worden ist, zum Ende ihrer Arbeit hin hatte. Ich will mit aller Vorsicht sagen, dass sich bei der jetzigen Arbeit im Menschenrechtsrat zeigt, wie viel Überzeugungsarbeit wir für unser Verständnis der Menschenrechte noch zu leisten haben. Im Augenblick erleben wir, wie eine Gruppe von Staaten, bei denen wir eher Defizite im Bereich des Schutzes der Menschenrechte sehen, zunehmend selbstbewusst auftritt und damit unser Verständnis von Menschenrechten herauszufordern versucht. Für unser Verständnis der Menschenrechte haben wir im Menschenrechtsrat - das müssen Sie mit Blick auf die zurückliegenden Abstimmungen klar sehen - häufig ganz einfach keine Mehrheit. An dieser Entwicklung sehen Sie, dass mit der Globalisierung Machtverschiebungen einhergehen, wodurch die Arbeit zum Schutz der Menschenrechte gerade in internationalen Gremien nicht leichter geworden ist. Das schränkt unsere Bemühungen aber nicht ein, sondern veranlasst uns eher dazu, mit den anderen europäischen Staaten, die Mitglied des Menschenrechtsrates sind - sie gehören ihm allesamt an -, noch konkreter für den Schutz der Menschenrechte zu arbeiten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Däubler-Gmelin?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesaußenminister, Sie beobachten wahrscheinlich mit der gleichen Sorge wie wir, dass eines der Probleme des neuen Menschenrechtsrates im Abstimmungsverhalten liegt: Es wird stärker nach Regionen abgestimmt, wobei sich die Regionen an dem im Sinne unseres Verständnisses der Menschenrechte „Langsamsten“ und nicht an den Menschenrechten selbst, gleich ob es um unsere oder eine globale Definition geht, orientieren. Nun stellen wir fest, dass die Europäische Union dieses blockweise Abstimmungsverhalten ebenfalls praktiziert. Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Verfahren innerhalb der EU-Präsidentschaft Deutschlands im kommenden halben Jahr etwas aufzulockern, zu etwas mehr europäischem Selbstbewusstsein in der Menschenrechtspolitik zu kommen? Sehen Sie, wie beispielsweise bei der Aushandlung des Römischen Statutes, eine Möglichkeit, mit like minded, mit ähnlich gesinnten Ländern aus anderen Kontinenten zu einer Abstimmung zu kommen, die sich an den Menschenrechtsfragen und nicht an der Politik einzelner Regionen orientiert?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Abgeordnete, das war ein zentraler Anker meiner Rede zur Eröffnung des Menschenrechtsrates, die ich in Genf gehalten habe. Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in dem nächsten Halbjahr deutscher Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union sehr darum bemühen werde. Ich hoffe, dass es gelingt, die manchmal auftretende Nähe einzelner europäischer Staaten zu einigen Regionen, die eine geschlossene Abstimmung der europäischen Staaten im Menschenrechtsrat verhindert, aufzubrechen und in Zukunft eine geschlossenere Haltung der europäischen Staaten hervorzubringen. Das ist eine der Voraussetzungen; es gibt aber noch andere. Frau Abgeordnete, wir müssen auch dafür kämpfen, dass das System der Sonderberichterstatter erhalten bleibt, damit wir durch diese Sonderberichterstatter eine verlässliche Beschreibung der Menschenrechtssituation in einzelnen problematischen Ländern bekommen. Wir müssen ein verlässliches Verfahren für eine regelmäßige Beschreibung der Menschenrechtslage in allen Staaten entwickeln. - Ich danke Ihnen. ({0}) Wenn ich noch eine letzte Bemerkung machen darf: In dem Menschenrechtsrat müssen wir gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten die Voraussetzungen dafür schaffen. Das kann nur dann gelingen - das betrifft auch die letzte Frage -, wenn die Tagesordnung nicht vorsieht, dass wir in jeder Menschenrechtsratssitzung dauerhaft und ausschließlich über den Nahostkonflikt streiten. Wir müssen das Spektrum der Befassung des Menschenrechtsrats in den nächsten Wochen und Monaten deutlich erweitern. Bei all diesen Bemühungen - das gilt auch für die Bemühungen um die Etablierung geeigneter Rahmenbedingungen für die Arbeit des Menschenrechtsrates - setze ich auf Ihre, auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages. Ich danke Ihnen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Toncar, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, das wir heute diskutieren, ist ein wichtiges. Ich möchte hinzufügen: Es ist nicht nur für das heimische Publikum, das gewisse Erwartungen hegt, ein wichtiges Thema, sondern für viele Menschen auf der Welt. Wir artikulieren Menschenrechtsthemen manches Mal - so habe ich das Gefühl - stark mit Rücksicht auf das heimische Publikum, auf aktive Nichtregierungsorganisationen und wir konzentrieren uns zu wenig darauf, Ergebnisse zu kontrollieren und zu hinterfragen. ({0}) Menschenrechte sind universelle Werte, die wir vertreten und in deren Rahmen wir international an Mindeststandards festhalten wollen. Sie sind aber auch in unserem Interesse. Denn es ist doch jedem einsichtig, dass Flüchtlingsströme und politische Instabilität, die durch schlechte Menschenrechtssituationen in vielen Ländern auf der Welt entstehen, uns sehr schnell einholen können. Das Beispiel der USA mit deren Unterstützung der Taliban oder anderer sehr fragwürdiger Organisationen zeigt, dass eine menschenrechtlich blinde Politik die eigenen Sicherheitsinteressen schnell gefährden kann. Auch das sollte uns eine Lehre sein. ({1}) Wir diskutieren in Deutschland zu wenig über die Konsequenzen, die sich durch globale Veränderungen der jüngeren Zeit für unsere Menschenrechtspolitik ergeben. Diese Veränderungen bieten große Chancen für die Menschenrechte. Das will ich gar nicht bestreiten. Das Internet, der globale Informationsaustausch, macht es Diktaturen schwerer, die eigene Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken. Der internationale wissenschaftliche Austausch funktioniert auf dem Prinzip der Freiheit. Auch das ist weltweit ein großer Fortschritt. In vielen Ländern, die wirtschaftlich aufstreben, beispielsweise China, entsteht eine Art Mittelschicht, die Freiheit heute noch nicht so artikuliert und so versteht, wie wir das in Europa tun. Sie braucht noch Entfaltungschancen und wird diese auch einfordern. Das sind ermutigende Entwicklungen. Ich glaube auch, dass sich Machtverschiebungen ergeben haben, die unsere heutigen Einflussmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen schmälern. Es handelt sich um wirtschaftliche Machtverschiebungen, wie wir sie beispielsweise in China erleben. Früher war es so, dass China bei der technischen Partnerschaft und Zusammenarbeit eindeutig auf Europa angewiesen war. Das ist immer weniger der Fall und wird sich in einigen Jahren komplett geändert haben. Dies betrifft aber nicht nur China, sondern beispielsweise auch Afrika, wo viele Rohstoffe vorhanden sind. Länder wie der Sudan haben Interesse an technischer Zusammenarbeit. Hier ist es so, dass mit China eine Alternative zur Verfügung steht, die technisches Know-how liefern kann, die investiert und keine lästigen Fragen zu den Menschenrechten stellt. Das schmälert den europäischen Einfluss dort. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir noch keine Lösung für dieses Problem gefunden haben. ({2}) Wenn man sich Deutschland anschaut, muss man eines feststellen: Unsere Rohstoffabhängigkeit von anderen Ländern nimmt zu. Wir sind hinsichtlich unserer Rohstoffimporte beispielsweise von Russland und vielen zentralasiatischen Ländern abhängig. Das ist eine Region, in der sich bezüglich der Menschenrechte auch im Jahr 2006 vieles dramatisch verschlechtert hat. Gerade in Russland ist es so, dass der dortige Präsident nun wahrlich kein lupenreiner Demokrat ist, sondern dass er bei jeder Gelegenheit alles tut, um auch nur die kleinsten Ansätze von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft zu zerstören. ({3}) Die jüngsten Mordfälle müssen aufgeklärt werden. Man sollte sich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber es ist unbestreitbar, dass kritische Geister in Russland nicht sicher sind. Wer auch immer dahintersteckt, es ist zumindest so, dass Teile der Staatsgewalt, Teile des Geheimdienstes offensichtlich eine Eigendynamik entwickeln, die schädlich ist und auch nur Ansätze einer freiheitlichen Kultur in Russland zerstört. Wenn wir das sehen, müssen wir gleichzeitig zugeben: Wir können aufgrund unserer Rohstoffabhängigkeit weniger dazu sagen, als nötig wäre. Auch das ist ein strategisches Problem für unsere Menschenrechtspolitik, das wir angehen müssen. Wir müssen uns einfach einmal über das, was wir kennen, hinaus unterhalten. Es ist immer gut, Resolutionen zu verabschieden, die Lage anzusprechen oder zu verurteilen. Aber wenn man am Ende keinen politischen Druck entfalten kann, dann haben all diese Deklarationen nicht den Wert und nicht den Effekt, den sie haben sollten. Insofern müssen wir uns damit beschäftigen. ({4}) Ich glaube, dass es drei Ansatzpunkte gibt, wie man diesem Problem begegnen kann. Erstens. Die deutsche Menschenrechtspolitik muss endlich Schwerpunkte setzen. Das tut sie bisher nicht. Wenn man den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung liest, stellt man fest, dass er ein Gemüsegarten ist, in dem alle Themen gleichrangig abgehandelt werden und keine Priorisierung stattfindet. Zweitens. Wir müssen uns stärker auf Europa konzentrieren. Ich glaube, unilateral ist immer weniger möglich. Drittens. Ein Aspekt wird für unsere Menschenrechtspolitik immer wichtiger, über den oft nur im wirtschaftspolitischen Zusammenhang diskutiert wird: Wenn wir es nicht schaffen, unsere Rohstoffabhängigkeit, unsere Abhängigkeit von Importen von Öl und Gas zu verringern, dann werden wir nicht den politischen Einfluss haben, den wir in Menschenrechtsfragen gerne hätten. Insofern ist die Entwicklung anderer Energien, aber allerdings auch - das muss man im Hinblick auf die Grünen sagen ein Festhalten an Technologien wie der Kernenergie wichtig, damit wir den Schritt weg vom Öl und weg vom Gas gehen können und außenpolitisch und menschenrechtspolitisch Fortschritte erzielen können. ({5}) Ich will abschließend auf einen Antrag eingehen, über den heute abgestimmt werden soll. Es geht um die Begleitung von VN-Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter. Der Bundesaußenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Rahmen der ESVP bereits Menschenrechtsbeobachter zum Einsatz kommen. Dabei handelt es sich um Zivilisten, die die Mission begleiten und darauf achten sollen, dass das Thema Menschenrechte bei einem Militäreinsatz im Ausland angemessen berücksichtigt wird und dass die Truppen, die im Ausland eingesetzt werden, die Menschenrechte einhalten. Ich glaube, das ist ein sehr sinnvoller Ansatz. Denn egal, ob wir Truppen im Rahmen der VN oder im Rahmen der EU ins Ausland schicken, so ist eindeutig: Wir haben ein vitales Interesse daran, dass sie sich einwandfrei verhalten. Allerdings frage ich mich: Wenn wir dann, wenn europäische Truppen zum Einsatz kommen, Menschenrechtsbeobachter mitschicken, warum können und sollen wir das nicht auch bei einem Einsatz im Rahmen der Vereinten Nationen tun? In diesem Zusammenhang wundert mich sehr, was der Menschenrechtsausschuss zu unserem Antrag auf Begleitung von VN-Missionen durch Menschenrechtsbeobachter beschlossen hat. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Der Verteidigungsausschuss stimmt unserem Antrag zu. Im Auswärtigen Ausschuss ist die Stimmung gemischt. Ausgerechnet der Menschenrechtsausschuss ist der Ausschuss, der den Einsatz von Menschenrechtsbeobachtern im Rahmen von VN-Missionen bremst. Ich glaube, das ist kein Ruhmesblatt für diesen Ausschuss und auch nicht für die deutsche Menschenrechtspolitik. ({6}) In der Beschlussempfehlung heißt es, dieser Antrag sei „von vorgestern“. Ich habe den Eindruck, diese Aussage verdeutlicht, dass manche Kollegen nicht auf der Höhe der Zeit sind. Denn all diejenigen, die sich mit solchen Einsätzen beschäftigen, machen immer wieder darauf aufmerksam, wie wichtig die Nutzung dieses Instruments wäre. Ich bitte Sie herzlich, in dieser Frage zu einer konstruktiven Menschenrechtspolitik zurückzukehren. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tag der Menschenrechte am 1. Dezember, also morgen, mahnt vor allem uns Politiker, sich an die Seite unterdrückter und verfolgter Menschen zu stellen. Der Bundesaußenminister hat das eben sehr eindrucksvoll getan und deutlich gemacht, wie die große Koalition Menschenrechtspolitik betreibt. Tagtäglich werden wir alle über die Bildschirme und in den Zeitungen mit fundamentalen Menschenrechtsverletzungen unterschiedlichster Art konfrontiert. In unserem vorliegenden Antrag widmen wir uns einer besonders verfolgten Gruppe: allen religiös verfolgten Menschen weltweit. Da die Situation der Christen heutzutage teilweise dramatisch ist, will ich mich heute in Solidarität mit unseren Glaubensgeschwistern in erster Linie ihrer Lage annehmen. ({0}) Die Religionsfreiheit ist ein Teil der individuellen Menschenwürde und daher ein in vielen internationalen Konventionen verankertes Menschenrecht. Die Religionsfreiheit ist ein zentrales Ziel der Charta der Vereinten Nationen. Sie ist festgeschrieben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Papier ist aber leider geduldig. Die Realität sieht oftmals völlig anders aus. Der traurige Alltag vieler Christen hat mit den schriftlich verankerten Garantien nicht mehr viel gemein. ({1}) Vielmehr ist er gekennzeichnet von Diskriminierung im privaten Umfeld, von Behinderung der Religionsausübung, von Bedrängnis, von Schikane und strafrechtlicher Verfolgung, die sogar in einem Todesurteil enden kann. Dies machte das Gerichtsverfahren gegen den zum Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman im März dieses Jahres deutlich. Religiöse Verfolgung findet heutzutage in vielen nicht demokratischen Gesellschaftssystemen statt; das gilt für alle Religionen, insbesondere allerdings für Menschen christlichen Glaubens. Aber sie lässt sich nicht auf eine bestimmte Staats- oder Gesellschaftsform begrenzen. Verfolgt wird sowohl in atheistischen Diktaturen als auch in religiös-totalitären Gesellschaften. In mindestens 50 der 200 Staaten der Welt werden heute Menschen christlichen Glaubens diskriminiert oder verfolgt. Unter den religiös Verfolgten macht allein die Gruppe der Christen 80 Prozent aus. Neueste Schätzungen gehen sogar von 90 Prozent aus. Mit der Kairoer Erklärung der Menschenrechte der Organisation der Islamischen Konferenz wurde der Schutz der Religionsfreiheit in islamischen Ländern völlig entwertet, indem die Einhaltung der Menschenrechte dort unter den Vorbehalt der Scharia gestellt worden ist. Mit Saudi-Arabien, dem Iran, Somalia, den Malediven und dem Jemen finden sich fünf islamische Länder auf den ersten zehn Plätzen des Weltverfolgungsindexes der Organisation „Open Doors“. Missionierungstätigkeit wird in ihnen selbstverständlich untersagt. In SaudiArabien, im Jemen und im Iran steht auf den Abfall vom Islam die Todesstrafe. Die christlichen Minderheiten werden als ein Sicherheitsrisiko für den Staat angesehen und daher durch Einschüchterung nach Möglichkeit zur Aufgabe ihres Glaubens oder aber zur Flucht gezwungen bzw. gedrängt. Es ist unübersehbar, dass in mehreren Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung die Radikalisierung des Islam zu einer sehr viel stärkeren Unterdrückung der dort lebenden Christen geführt hat und immer noch führt. Besonders erschütternd und so desolat wie in keinem anderen Land ist die Situation von Christen in der atheistischen Diktatur Nordkorea. Dieses Land steht das vierte Jahr in Folge an der Spitze des Weltverfolgungsindexes. Über 2 000 christliche Gemeinden mit 300 000 Gläubigen sind dort einfach spurlos verschwunden. Man weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Immer wieder sickern erschreckende Berichte über öffentliche Hinrichtungen von Gläubigen, Inhaftierung in Zwangserziehungslagern und auch über Folter durch verschiedene Kanäle zu uns durch. Allerdings sind die Informationen spärlich. Auch der Blick nach China kann nicht beruhigen. Insgesamt hat sich die Lage wohl etwas gebessert. Aber die Behörden unterdrücken weiterhin alle religiösen Aktivitäten, die über das hinausgehen, was das vom Staat kontrollierte religiöse System zulässt. Die Mehrheit der Christen, die sich nicht der Kontrolle der staatlich registrierten Kirche unterordnen will, muss ihren Glauben in der Illegalität, in so genannten Hauskirchen ausüben. Aber auch in unserer geografischen Nähe gibt es Handhabungen von Religionsfreiheit, die wir zumindest als problematisch werten müssen. Mit besonderer Aufmerksamkeit muss hier die Situation der Christen in der Türkei betrachtet werden. Innerhalb der letzten 90 Jahre ist der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung der Türkei durch Verfolgung und Genozid von 30 Prozent auf 0,2 Prozent geschrumpft. Die Religionsfreiheit wird zwar heute verfassungsrechtlich garantiert und ihre Behinderung im neuen Strafgesetzbuch sogar unter Strafe gestellt - was wir sehr begrüßen -; doch die alltägliche Diskriminierung von Christen, insbesondere der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei, wird dadurch nicht verhindert. Die Gewalttätigkeiten gegenüber katholischen Geistlichen nehmen sogar zu. Trauriger Höhepunkt war die Ermordung des katholischen Priesters Andrea Santoro im Februar dieses Jahres. Erzbischof Padovese hat berichtet - das konnte man gestern im Fernsehen sehen -, dass in diesem Jahr bereits ein zweiter Anschlag auf einen Priester verübt wurde. Der Besuch von Papst Benedikt machte deutlich, dass christenfeindliche Demonstrationen und christenfeindliche Töne an der Tagesordnung sind. Äußerst problematisch ist zudem, dass Kirchen in der Türkei keine Rechtspersönlichkeit haben, also in ihrem Handeln nicht unmittelbar gesichert sind. Sie müssen vielmehr als Stiftung oder Verein gegründet werden. In diesem Zusammenhang haben sie oft mit vielfachen bürokratischen Hindernissen zu kämpfen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es auch unabhängig von Beitrittsverhandlungen nötig ist, die Situation der Christen gegenüber der Türkei zu thematisieren. ({2}) Aktuelle Beispiele für den oft lebensbedrohlichen Alltag von Christen gibt es leider viel zu viele, als dass die Zeit ausreichen würde, sie alle aufzuzählen. Abschließend will ich den Fokus nach innen, auf uns in Deutschland richten. Dabei geht es um unser christliches Selbstverständnis. Wir leben in Deutschland auf dem Fundament des christlichen Abendlandes. Unsere Werte sind vom christlichen Glauben und von der Aufklärung geprägt und Toleranz gegenüber anderen Religionen ist bei uns selbstverständlich. Das Bekenntnis zu den eigenen Wurzeln gehört aber genauso nötig dazu. Deshalb gehören christliche Symbole unverzichtbar nicht nur in die Privatheit in unserem Land, sondern auch in das öffentliche Leben. ({3}) Das Verbot von Kreuzen in Gerichten oder Schulen widerspricht unseren eigenen kulturellen Wurzeln. Das Kreuz ist nicht politisch unkorrekt, sondern ein Symbol unserer eigenen Werteordnung und Kultur. ({4}) Durch diese Werteordnung ist uns auch aufgegeben, an der Seite verfolgter Christen weltweit zu stehen. Das diskriminiert andere Religionen überhaupt nicht. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert, Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Umfang des jetzt zu behandelnden Tagesordnungspunktes kann man sehen, dass uns allen die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte ein Herzensanliegen ist. Ich bin geneigt, etwas zu dem Antrag „Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten“ und Ihrer Rede, Frau Steinbach, zu sagen. Dies übernimmt allerdings mein Kollege, weil meine Redezeit leider sehr begrenzt ist. Ich möchte etwas zu den vorliegenden Anträgen zur Grundrechteagentur der EU sagen. Es geht um die Einrichtung einer neuen Institution im Bereich der Menschenrechte, in der immerhin 100 Mitarbeiter tätig werden sollen und die über ein Budget von 30 Millionen Euro verfügen soll. So weit, so gut. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich einer gewissen Skepsis nicht erwehren kann. Die FDP hat heute einen Antrag vorgelegt, mit dem sie versucht, diese Grundrechteagentur in letzter Minute zu verhindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr stärkstes Argument ist, dass diese Grundrechteagentur nicht unabhängig und letztendlich Teil der Exekutive sein wird. Dieses Argument könnte uns dazu verführen, Ihrem Antrag zuzustimmen. ({0}) Ihr schwächstes Argument ist allerdings, dass diese Grundrechteagentur zu teuer ist und dass doch alles viel preiswerter und effektiver mit anderen Institutionen zu haben ist. ({1}) Lassen Sie mich hier feststellen: Für eine Politik, die auf die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte ausgerichtet ist, sind uns auch 30 Millionen Euro nicht zu viel. ({2}) Ich komme nicht darum herum, hier noch einmal zu sagen, dass das Verhältnis betrachtet werden muss: 30 Millionen Euro sind nicht einmal 10 Prozent der Kosten für den derzeit laufenden Militäreinsatz in Afghanistan. Und dort geht es angeblich ja auch um Menschenrechte. Diese 30 Millionen Euro können für uns also nicht zu viel sein. ({3}) Aus dem Antrag der Grünen weht der Geist hervor: Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, nun müssen wir sehen, was wir noch verbessern können. Die Bundesregierung soll aufgefordert werden, sich für die Schaffung dieser Institution einzusetzen. In der Zeit, in der die Grundrechteagentur auf den Weg gebracht wurde, war die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Teil der Regierungskoalition. Ich frage, warum das damals nicht geschehen ist. Das ist für mich irgendwie typisch grün. Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir uns heute auf Folgendes einigen können - in diesen Punkten sehe ich einen Konsens zwischen allen Fraktionen -: Erstens ist es wichtig - darin stimmen wir mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte überein -, dass die Grundrechteagentur größtmögliche Unabhängigkeit besitzt. Zweitens ist es wichtig, dass sich die Befugnisse der Agentur auf die Kontrolle der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit erstrecken. Wir sollten uns außerdem dafür einsetzen, dass sichergestellt wird, dass die gesammelten Daten der Agentur dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Europäischen Gerichtshof zur Verfügung geMichael Leutert stellt werden. Darin stimmen wir ebenfalls mit den Grünen überein. Richtig ist letztlich auch - auch dafür sollten wir uns einsetzen -, dass der Europarat eine bessere Finanzausstattung im Bereich der Menschenrechte erhalten muss. Ich danke Ihnen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Volker Beck ist der nächste Redner für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus der Tagesordnung wird zweierlei deutlich: zum einen, dass das Thema Menschenrechte uns alle in diesem Haus fraktionsübergreifend umtreibt, und zum anderen, dass es weltweit mit den Menschenrechten nicht zum Besten bestellt ist. Wir müssen uns in dieser Debatte um sehr viele Themen gleichzeitig kümmern und keinem Thema kann man die Bedeutung absprechen. Menschenrechtsfragen betreffen ganze Länder und Regionen, aber auch Einzelpersonen. Deshalb will ich mit einem Einzelfall beginnen, der auf ein vergessenes Volk und ein vergessenes Menschenrechtsproblem verweist. Letzte Woche hatte ich meinem Büro Besuch von einer mutigen und tapferen Frau, Rebiya Kadeer, einer wichtigen Aktivistin der Uiguren, einem Volk im Osten Chinas - früher nannte man die Region Ostturkestan -, das seit Jahren verfolgt und unterdrückt wird. Im Namen der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wird ein ganzes Volk von der chinesischen Zentralregierung unterdrückt, gebrandmarkt und drangsaliert. Wir erleben es seit dem 11. September immer wieder, dass autoritäre Regime unter dem Vorwand der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ganze Bevölkerungen, Völker und Religionen stigmatisieren und unterdrücken. Das ist in China bei den Uiguren der Fall, in Russland bei den Tschetschenen und in Usbekistan beim Umgang mit dem Aufstieg von Andischan. Die mutige Frau, die mich in meinem Büro besucht hat, erzählte mir, dass die Chinesen sie aufgefordert hätten, sich zwischen ihrem Volk und ihrer Familie zu entscheiden. Ihre Familie lebt noch in China. Sie hat mit Tränen in den Augen gesagt, sie könne nicht anders, als für die Rechte ihres Volkes einzustehen. In der darauf folgenden Woche wurde sie zur Vorsitzenden der uigurischen Auslandsorganisation gewählt. Einen Tag nach der Wahl der Menschenrechtlerin Kadeer zur neuen Präsidentin des Weltkongresses der Uiguren wurde ihr Sohn in China verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, angeblich wegen Steuerhinterziehung. Ihre anderen Söhne sind ebenfalls in Haft. Herr Bundesaußenminister, ich bitte die Bundesregierung, in Peking zu demarchieren und sich nach dem Schicksal der Kinder von Frau Kadeer zu erkundigen. Denn so etwas darf der Weltöffentlichkeit nicht gleichgültig sein. Hier ist Solidarität gefragt. Oftmals besteht unser einziges Mittel, diesen tapferen Menschen zu helfen, darin, Öffentlichkeit zu schaffen und Anfragen an die Regierungen zur Situation von Menschenrechtsaktivisten und ihren Angehörigen zu richten. ({0}) Im Antrag der Koalition zur EU-Ratspräsidentschaft wird zu Recht festgestellt, dass die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart die Situation in Darfur im Sudan ist. Der Menschenrechtsausschuss hat sich gestern Abend damit beschäftigt und eine gemeinsame Resolution mit den Stimmen der Koalition und den Grünen verabschiedet, in der wir Folgendes fordern: Die Bundesregierung soll eine politische Führungsrolle im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft einnehmen, um die Situation in Darfur zu lösen, um das Regime in Khartum endlich dazu zu bewegen, eine internationale Schutztruppe in Darfur zu akzeptieren, die - anders als die heutige AMIS-Mission mit 7 000 Mann - sowohl zahlenmäßig als auch militärisch in der Lage ist, die Menschen in Darfur vor einer Fortsetzung des Völkermordes zu schützen. Wir haben außerdem gesagt: Die Bundesregierung soll, wenn es auf internationaler Ebene nicht anders geht, die Europäische Union auffordern, Sanktionen gegen das Regime in Darfur zu verhängen. Ich bin froh, dass diese Anregung meiner Fraktion aufgenommen wurde. ({1}) Die Koalition weist in ihrem Antrag darauf hin, dass die Stationierung von UN-Truppen wesentliche Voraussetzung für die Sicherheit in der dortigen Region ist; das ist richtig. Wenn die UN es auf der Grundlage eines sinnvollen Konzepts und in Verhandlungen mit der Regierung in Khartum schafft, UN-Truppen dorthin zu schicken, und Deutschland gefragt ist, hierzu seinen Beitrag zu leisten, dann dürfen wir uns nicht verweigern. Wenn die internationale Völkergemeinschaft in der Lage ist, einen Völkermord zu stoppen, dann kann Deutschland nicht beiseite stehen, wenn es gefragt ist. Deshalb bin ich über einige Aussagen aus der Koalition sehr verwundert, mit denen Bundesverteidigungsminister Jung und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul aufgrund ihrer mutigen und richtigen Worte angegriffen werden. ({2}) - Herr Ramsauer, Sie haben gesagt - und das kritisiert man solle sich nicht äußern, bevor man gefragt werde. Das ist richtig. Leider hat am 6. September dieses Jahres die Bundeskanzlerin, ohne gefragt zu sein, eine Beteiligung Deutschlands an einer solchen Schutztruppe verweigert. Das war das falsche Signal. Wir sollten vielmehr deutlich machen, dass wir die Vereinten Nationen bei der Beendigung dieses Völkermords nach Kräften unterstützen. ({3}) Volker Beck ({4}) Frau Steinbach, Sie haben zu Recht die Solidarität mit verfolgten religiösen Minderheiten angemahnt. Es gibt in der Tat in vielen Ländern keinen Respekt vor der Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit bedeutet, dass man seinen Glauben individuell praktizieren darf, dass man seinen Glauben in der Öffentlichkeit kollektiv, als Religionsgemeinschaft ausüben darf und dass man seine Glaubensüberzeugung wechseln und zu einem anderen Glauben übertreten darf. Die Verfolgung von religiösen Minderheiten ist weltweit ein großes Problem, aber nicht nur für Christen, sondern auch für Juden, Bahai, Aleviten sowie - je nachdem wer gerade Mehrheitsreligion ist - sunnitische und schiitische Minderheiten. Wir sollten uns auch wegen der Glaubwürdigkeit unserer Position international dafür einsetzen, dass alle religiösen Minderheiten ihren Glauben frei ausüben können, dass sie missionieren dürfen und dass Menschen ihren Glauben wechseln dürfen. Wir dürfen uns nicht allein auf die Christen fokussieren. Sie haben die Probleme mit der Türkei angesprochen. Meine Fraktion hat schon vor längerer Zeit in einer Kleinen Anfrage auf die Situation der Religionsgemeinschaften in der Türkei hingewiesen. In der Tat ist sie für bestimmte christliche Minderheiten besonders schwierig, wenn sie nicht unter den Lausanner Vertrag fallen. Für andere religiöse Minderheiten wie die Aleviten ist es ein Drama, weil sie noch nicht einmal als religiöse Gemeinschaft anerkannt werden. Vielmehr versucht man in der Türkei, sie im sunnitischen Mehrheitsglauben quasi unterzupflügen und sie zwangszuislamisieren, obwohl sie eine eigene religiöse Identität haben. Aber vor dieser hat der türkische Staat keinen Respekt. Wir müssen in den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft dafür sorgen, dass die Türkei allen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte wie der sunnitischen Glaubensmehrheit gibt. Das betrifft die Rechtspersönlichkeit, den Immobilienbesitz und die Artikulation der Glaubensgemeinschaften im öffentlichen Raum. ({5}) Frau Steinbach, Sie haben die Frage angesprochen, was das für unser Land heißt. Wenn Sie sagen, das Kreuz solle im öffentlichen Raum auch von Lehrerinnen und Lehrern und von Menschen, die im Staatsdienst stehen, gezeigt werden, dann müssen Sie in gleicher Weise auch den Musliminnen zugestehen, dass sie im öffentlichen Raum das Kopftuch als Ausdruck ihres Glaubens tragen. Das gehört nicht zu unserer Kultur und es mag uns fremd und unverständlich sein, was da geglaubt wird; aber wenn wir die öffentliche Artikulation von Glaubensbezeugungen im staatlichen Raum zulassen, dann muss das für alle Religionsgemeinschaften und religiösen Überzeugungen in gleicher Weise gelten. ({6}) Wenn wir zu Recht kritisieren, dass in der Türkei die christliche Religion nicht gleichgestellt ist, dann müssen wir darauf hinweisen, dass auch wir ein Stück Weges vor uns haben, um den Islam mit dem Christentum und dem Judentum gleichzustellen. Ich wollte noch eine ganze Reihe von Themen ansprechen, aber ich sehe, dass mich der Präsident wegen meiner Redezeit ermahnt. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun dem Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der größten deutschen Denker, dessen Geburtstag wir kürzlich gefeiert haben, Immanuel Kant, hat in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Folgendes formuliert: Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen. Ich glaube, dieser Gedanke der europäischen und deutschen Aufklärung ist nach wie vor Leitlinie und muss Leitlinie des Handelns der Politik in diesen Tagen sein, insbesondere weil auf diesen Werten die Werte der Europäischen Union und ihrer weiteren Vereinigungen gelten. Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft die Chance und die Pflicht, alles dafür zu tun, den Menschenrechten weltweit mehr Nachdruck zu verleihen; denn auch dies gehört in das Bewusstsein der Menschen in unserem Land: Brüssel, die EU, hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Brüssel, die Europäische Union, beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Ich glaube, dies in das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union zu rufen, ist aller Ehren und aller Auseinandersetzungen wert. ({0}) Gerade vor diesem Hintergrund bedauern wir es sehr, dass der Verfassungsprozess ins Stocken geraten ist, insbesondere nachdem sich der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit für die Verfassung ausgesprochen hat und weil die Übernahme der Charta der Grundrechte der EU in den Verfassungsvertrag aus menschenrechtlicher Sicht eine deutliche Stärkung des Menschenrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union bedeutet hätte. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass die Bundesregierung gestern offensichtlich bei der Festlegung ihres Programms für die Präsidentschaft klar gemacht hat, dass sie wesentliche Impulse zur Wiederbelebung des Verfassungsprozesses setzen wird. Ich glaube, das ist ein guter Schritt für die Zukunft der Europäischen Union. ({1}) Wenn wir im Deutschen Bundestag über Menschenrechte diskutieren, dann ist ein Thema - das muss es auch sein - die Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Terrorismus ist ganz ohne jeden Zweifel eine der großen Bedrohungen für die menschliche Entwicklung. Gerade in unseren hoch vernetzten Gesellschaften ist aber auch klar: Einen absoluten Schutz vor terroristischen Anschlägen kann und wird es nicht geben. Deshalb gilt für uns auch heute noch, nach 250 Jahren, die Einschätzung von Benjamin Franklin: „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.“ Auch der Deutsche Bundestag hat immer wieder bekräftigt: Terrorismusbekämpfung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie von der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. Von großer Bedeutung für alle europäischen Staaten - nicht nur für die Mitgliedsländer der EU - sind die Anerkennung und insbesondere die Implementierung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir haben im Deutschen Bundestag mehrfach deutlich gemacht - ich tue es an dieser Stelle erneut -: Die Entführung, die Folterung, auch die illegale Verbringung von Menschen an geheime Orte innerhalb Europas oder mit Wissen oder unter Mitwirkung von Mitgliedstaaten der EU außerhalb unseres Kontinents verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ist deshalb von uns nicht hinzunehmen. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle einige Sätze als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sagen. Der Europarat ist mit seinen mittlerweile 46 Mitgliedstaaten Hüter der Menschenrechte in und für ganz Europa, und dies mit einem Jahresbudget - Herr Kollege Leutert, ich möchte das jetzt nicht mit Afghanistan vergleichen, sondern mit einem für viele von uns viel näher liegenden Beispiel -, mit dem man in Deutschland oder in den Niederlanden - Herr Präsident van der Linden hat uns gestern darauf aufmerksam gemacht - vielleicht 30 oder 40 Kilometer Autobahn bauen könnte. Das zeigt, dass die Arbeit des Europarates zum Schutz der Menschenrechte nicht allzu viel Unterstützung erfährt. Ich meine, das ist verbesserungswürdig, auch während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. ({3}) Eine bedeutsame Institution ist nach wie vor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Nach meiner Überzeugung ist er der wichtigste Bestandteil des europäischen Menschenrechtsschutzsystems. Aber der Erfolg hat auch seinen Preis. Wenn man so will: 80 000 anhängige Verfahren sind nicht nur ein Beleg für eine beispiellose Erfolgsbilanz, sondern gleichzeitig auch eine enorme Belastung. Es wäre ein verdienstvoller Beitrag der Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft, die materiellen und die finanziellen Voraussetzungen für eine Verbesserung der Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutlich anzuheben. ({4}) Das ist ebenfalls eine wesentliche Aufgabe. Auch jenseits des Verfassungsprozesses ist der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention politisch erstrebenswert - ich begrüße außerordentlich, dass sich der Bundesaußenminister dazu klar geäußert hat -, damit das Handeln der EU als solches, das viele Bürgerinnen und Bürger nicht als Fortschritt empfinden, dem Menschenrechtsschutzsystem des Europarates zuzuordnen ist. Mit diesem Ziel sollten wir uns ebenfalls auseinander setzen. ({5}) Auch ich möchte gern in aller Kürze etwas zur geplanten EU-Agentur für Grundrechte sagen. Eine solche zusätzliche Institution im Menschenrechtsschutzsystem macht nach meiner Überzeugung nur dann Sinn, wenn mit ihr ein Mehrwert für den Menschenrechtsschutz in Europa erreichbar ist und wenn mit ihr eben keine überflüssige Konkurrenz zu existierenden und funktionierenden Institutionen des Europarates entsteht. Die im Vergleich zur bereits dargestellten Ausstattung aller Institutionen des Europarates üppige finanzielle und personelle Besetzung stimmt zumindest nachdenklich. Ich plädiere an dieser Stelle nochmals für eine sorgfältige Beratung im Europäischen Rat. Ich appelliere auch in diesem Sinne an die Bundesregierung, dafür einzutreten, dass es hier nicht zu einer Doppelung und damit zu einer Einschränkung der Wirksamkeit des Menschenrechtsschutzes kommt. ({6}) Nur dann macht die EU-Agentur für Grundrechte auch einen Sinn. ({7}) Ich möchte zum Schluss - mit einer gewissen Emotionalität, die sich dabei einstellt - zu einem Thema Stellung nehmen, das der Kollege Beck angesprochen hat: die Situation in Darfur. Für mich diskutieren wir hier nicht über einen Einsatz der Bundeswehr. Herr Kollege Beck, ich teile an dieser Stelle Ihre Auffassung nicht, dass es gut und richtig ist, sich vorab festzulegen und Dinge festzuzurren, die man anschließend begründen muss. Auf dem Spiel steht in der Tat die Glaubwürdigkeit aller internationalen Institutionen, die sich auf eine international wirksame Resolution der Vereinten Nationen beziehen müssen: Die Resolution 1706 muss durchgesetzt werden; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ansonsten wird nämlich das komplette Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen infrage gestellt. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Lieber Herr Außenminister, setzen Sie sich mit aller Kraft und unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, die der internationalen Staatengemeinschaft zur Verfügung stehen, dafür ein, dass das Morden, das Plündern und das Vertreiben in Darfur aufhören! Das sind wir den Menschen dort schuldig. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Markus Löning für die FDP-Fraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Steinmeier, Sie haben in Ihrer Rede die EU-Agentur für Grundrechte erwähnt und gesagt, Sie wollten den Bedenken des Deutschen Bundestages Rechnung tragen. Tun Sie das! Wenn Sie das tun, dann müssen Sie die Schaffung dieser Agentur stoppen. ({0}) Die Debatten in diesem Saal und in den Ausschüssen sind eindeutig gewesen; Entsprechendes haben Sie gerade aus Ihrer eigenen Fraktion gehört. Das ist die Meinung dieses Hauses. Wir alle gemeinsam haben Ihnen damals einen Brief geschrieben, in dem wir das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Selbst wenn man Absprachen getroffen hat nach dem Motto „Du bekommst dieses und du bekommst jenes; die Österreicher bekommen jetzt eine Grundrechteagentur“, muss gelten - ich denke, dass das auch auf europäischer Ebene wichtig ist -: Wenn man zu der Überzeugung gekommen ist, dass ein Beschluss überholt ist - es spricht alles gegen die Grundrechteagentur! -, dann muss man den Mut haben, auch auf europäischer Ebene solche Beschlüsse zu kassieren und eben nicht zu sagen: Nur weil wir einen Deal haben, schaffen wir eine sinnlose weitere Verwaltung. - Die Grundrechteagentur muss gestoppt werden. ({1}) Von den vielen guten Gründen, die es gibt, die Grundrechteagentur zu stoppen, möchte ich zwei besonders ausführen: Der eine Grund ist folgender: Der ursprüngliche Beschluss beruhte auf der Annahme, dass die Grundrechtecharta mit der Verfassung in Kraft tritt. Wie wir nun wissen, tritt die Verfassung zurzeit leider nicht in Kraft - wir als Liberale würden uns das sehr wünschen -, aber damit entfällt auch die Grundlage für die Arbeit der Grundrechteagentur. Es gibt keine rechtsverbindliche Grundrechtecharta in Europa und damit bedarf es auch keiner Verwaltung, die sich um die Umsetzung und um die Einhaltung dieser Grundrechtecharta kümmert. Der andere Grund ist schon genannt worden - es ist schade, dass der Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung nicht mehr hier ist -: Der Europarat leistet herausragende Arbeit im Bereich des Menschenrechtsschutzes. ({2}) Der Europarat bedarf all unserer Unterstützung, was diese Frage angeht. Unser Antrag zielt darauf ab, dass eben nicht sinnlos 100 Stellen in einer Grundrechteagentur geschaffen werden und sinnlos 30 Millionen Euro für diese Agentur ausgegeben werden. Sie machen es im Übrigen noch schlimmer dadurch, dass Sie den Wirkungskreis eingrenzen. Wenn die Agentur nur noch innerhalb der EU irgendetwas beobachten soll, wird es ja nicht besser, sondern noch sinnloser. Wir brauchen das Geld und die Stellen für die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit im Europarat. Das würde Sinn machen. Das wäre ein klares Zeichen für die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit. ({3}) Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch etwas anführen, was ich skandalös finde. Das richtet sich insbesondere an die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch an Sie, Herr Beck. Hier hätten wir als Deutscher Bundestag die Chance gehabt, der Bundesregierung ein klares Mandat für die Verhandlungen mitzugeben. Wir als FDP haben gesagt: Lassen Sie uns über das Thema Grundrechteagentur heute hier abstimmen! Es wird in wenigen Tagen im Rat abschließend behandelt. - Aber bei der Koalition herrscht ganz offensichtlich Feigheit vor der eigenen Courage. Dieser Antrag soll in die Ausschüsse verwiesen werden. Damit äußert sich der Bundestag nicht, bevor die Regierung handelt, und beraubt sich damit seiner Handlungsfähigkeit. ({4}) Wir brauchen nicht monatelang auszuhandeln, wie zu erreichen ist, dass der Deutsche Bundestag in EU-Dingen mehr zu sagen hat, wenn Sie sich die Möglichkeiten selbst so beschneiden, meine Damen und Herren. Was Sie hier machen, halten wir für einen Skandal. Es ist eine Beschneidung der Rechte des Parlaments und ein Verzicht auf die Nutzung eigener Möglichkeiten. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Alois Karl, CDU/CSUFraktion. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den heutigen Anträgen behandeln wir Themen, die weit über die Tagespolitik hinausAlois Karl gehen. Es ist gut, dass wir im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Menschenrechte hier im Bundestag behandeln. 2007 begehen wir auch das 50-jährige Bestehen der Römischen Verträge. Die europäische Einigung hat 50 Jahre lang einen dynamischen Prozess erlebt. Zunächst standen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund. Mittlerweile hat auch die Menschenrechtspolitik den gleichen Rang erzielt. Die europäische Einigung hat uns unendlich viel gebracht: wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Sicherheit, die Freiheit von äußeren Feinden, die deutsche Einheit. Wenn wir im nächsten Halbjahr die Menschenrechte in den Fokus nehmen, ist das richtig, weil sie in vielfältiger Weise gefährdet sind. Frau Steinbach hat darüber gesprochen, dass der Aspekt der Christenverfolgung vernachlässigt wird und die Religionsfreiheit geradezu mit Füßen getreten wird. Dass wir heute von der größten Christenverfolgung aller Zeiten sprechen, davon, dass 200 Millionen Christen in 50 Ländern verfolgt werden, ist ein Faktum, das uns nicht ruhen lassen kann. ({0}) Auch die Situation in der Türkei, auch die Situation in Afghanistan mit dem erwähnten Abdul Rahman zeigen, dass Religionsfreiheit dort oft nur auf dem Papier steht. Sie steht oft unter dem Vorbehalt der Scharia, ist also lediglich zweitrangig. Mit dem Nachrang der Menschenrechte dürfen wir uns allerdings nicht zufrieden geben. Menschenrechte sind unteilbar. Sie gehören zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen. Der Staat gewährt sie ihnen weder, noch nimmt der Staat Menschenrechte weg. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wissen, Menschenrechte werden häufig verletzt, werden häufig ignoriert. Gerade in militärischen Einsätzen ist das so. Junge Soldaten geraten oft in für sie unbekannte Grenzsituationen. Hierauf müssen sie vorbereitet sein. Wir wünschen ausdrücklich, dass junge Soldaten einem Ausbildungsprogramm unterzogen werden, in dem ihnen auch Verhaltensweisen und Verhaltensregeln antrainiert werden, die den Menschenrechten gerecht werden. Wir möchten auch, dass in künftige EU-Militärmissionen Menschenrechtsbeobachter integriert werden. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte sich zu den Leitlinien der Menschenrechte bekennen, was Kinder in bewaffneten Konflikten und was Todesstrafe und Folter betrifft. Die Existenz von ganzen Armeen aus Kindersoldaten ist ein unerträglicher Zustand, eine Beleidigung ihrer menschlichen Würde. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist für uns unerträglich, dass offensichtlich auch in europäischen Staaten über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird. Auch über die Lockerung des Folterverbotes im Antiterrorkampf wird nachgedacht. Dem sollten wir als Deutscher Bundestag, meine sehr geehrten Damen und Herren, entschieden entgegentreten. ({2}) Wir bestärken die Bundesregierung ausdrücklich in dem Bemühen, während der Ratspräsidentschaft den Menschenrechtsdialog mit dem Iran und China fortzuführen oder wieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang verdient der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel bei Bischof Aloysius Jin in Schanghai unseren ausdrücklichen Respekt. Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, dass wir die Arbeit dieses unerschrockenen Kämpfers für die Religionsfreiheit unter schwierigsten Bedingungen in besonderer Weise würdigen. ({3}) Wir wünschen auch, dass die Konsultationen mit Russland wieder aufgenommen werden. Der russische Präsident hat es in Tschetschenien selbst in der Hand, unter Beweis zu stellen, dass er gewillt ist, internationale Verträge mit ihren Menschenrechtsbindungen einzuhalten. Unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes finden weltweit schwerste Menschenrechtsverletzungen statt. Politisch missliebige Gegner, Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten werden oft unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes verfolgt. Abu Ghuraib und Guantanamo sind nur wenige Spitzen eines Eisberges, wo unter Missachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Gesichtspunkte Menschenrechte negiert und mit Füßen getreten werden. Wir danken der Bundeskanzlerin ausdrücklich, dass sie das Thema Guantanamo bei ihrem Besuch in den USA so offen angesprochen hat. ({4}) Neben der Feigheit vor dem Feinde, meine sehr geehrten Damen und Herren, gibt es immer noch auch die Tapferkeit vor dem Freund. Dies hat Angela Merkel gerade gezeigt. ({5}) Wir ermuntern die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft auch zur Zusammenarbeit mit Afrika. Wir freuen uns, dass ein EU-Afrika-Gipfel unter deutschem Vorsitz stattfinden soll. Wir alle kennen die ungeheuerlichen Probleme in Afrika. Die existenzielle Not von Millionen Afrikanern korrespondiert mit dem Entzug fundamentaler Menschenrechte. Auch der Beitritt von Rumänien und Bulgarien bringt neue Aufgaben. In der EU leben 10 Millionen Sinti und Roma. Förderprogramme alleine lösen die Probleme nicht. Es geht um die Integration in ihren eigenen Heimatländern. Unerträglich ist auch der Zustand einer großen Zahl von Flüchtlingen, die auf den Kanarischen Inseln oder bei Lampedusa ankommen. Sehr geehrter Herr Außenminister, wir bitten die Bundesregierung ausdrücklich, alles zu unternehmen, um diese Migrationsströme einzudämmen, um kriminellen Menschenhändlerbanden das Handwerk zu legen. Sie nehmen den Ärmsten alles und gaukeln ihnen lediglich die Illusion vor, Europa wäre ein mit offenen Armen aufnahmebereiter Kontinent. Gewiss sind Maßnahmen des Grenzschutzes, verstärkt auch durch FRONTEX, richtig. Repressive Maßnahmen lösen das Problem allerdings nicht. Es müssen auch die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge grundlegend verbessert werden. ({6}) In diesem Zusammenhang lobe ich auch den Einsatz der Bundeswehr im Kongo. Ein großer Bürgerkrieg dort hätte zu einem großen Exodus geführt. Die Folge wäre ein Flüchtlingsstrom auch nach Europa gewesen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht auf dem Feld der Menschenrechtspolitik vor vielen und großen Aufgaben. Vieles wäre zu sagen, doch kann nicht alles angesprochen werden. Menschenrechtspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, eine Aufgabe von besonderer Tragweite. Ob wir unsere deutsche Ratspräsidentschaft erfolgreich gestaltet haben werden oder nicht, das wird sich auch an den Fortschritten in der Menschenrechtspolitik erweisen. Wir wünschen der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin für ihre Arbeit auf diesem schwierigen Feld alles Gute, viel Glück, Fortune und Gottes Segen. Ich danke Ihnen herzlich. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin, Fraktion Die Linke.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Regierungsparteien fordern in einem der vorliegenden Anträge die Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten. Wer in diesem Haus sollte etwas dagegen haben? Aber es ist schon erstaunlich, mit welcher Unverblümtheit die Koalition bei ihrem Bekenntnis zur Religionsfreiheit zweierlei Maß anlegt. ({0}) In ihrem Antrag wird die Verfolgung aller anderen Religionsgemeinschaften systematisch unter „ferner liefen“ behandelt. ({1}) Nehmen wir Indien, wo der Wechsel zum Christentum in einigen Provinzen von Repressalien begleitet wird. Dieses Phänomen ist Begleitumstand hindu-nationalistischer Aktivitäten, die sich in der Masse auch und gerade gegen Moslems richten. Warum verschweigen Sie, dass in den 90er-Jahren ein Großteil der moslemischen Bevölkerung Bombays aus Angst vor mörderischen Übergriffen fliehen musste? Für China gilt dasselbe: Zu Recht wird ausführlich die Verfolgung der Kirche kritisiert. Doch die brutale Verfolgung der Gemeinschaft der Falun Gong, die die Hauptlast der Repression zu ertragen hat, ist Ihnen nicht mehr als einen Satz wert. Man kann die Verfolgung von Christen nur dann glaubwürdig anprangern, wenn man im eigenen Land die anderen Religionen auch respektiert. ({2}) Aber da hapert es bei der Union bekanntermaßen. ({3}) So brüstete sich im Berliner Wahlkampf die Neuköllner Baustadträtin der CDU offen, mit dem Baurecht die Errichtung einer Moschee im Stadtteil blockiert zu haben. ({4}) Spitzenkandidat Friedbert Pflüger unterstützte die Kampagne gegen den Bau einer Moschee im Bezirk Pankow, ({5}) eine Kampagne, die bequem von den Nazis gekapert werden konnte. Am 1. April mussten wir dann mit ansehen, wie der örtliche CDU-Schatzmeister Lasinski Seit an Seit mit der NPD marschierte. Die Kehrseite der Medaille ist die mangelnde Bereitschaft, Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren. Die Koalitionsparteien prangern wohl die Verfolgung von Christen in Pakistan an. Doch in Nordrhein-Westfalen verweigert das Land dem pakistanischen Christen Aziz Mirza politisches Asyl. Bekanntermaßen regiert dort die CDU. Die Innenbehörden erkennen ihn schlichtweg nicht als verfolgten Christen an. In ihrem Antrag ziehen die Regierungsparteien den so genannten Weltverfolgungsindex heran, um die Verfolgung von Christen in Nordkorea zu geißeln. Doch auf eine Kleine Anfrage der Linken antwortete die Bundesregierung, dass genau dieser Weltverfolgungsindex - ich zitiere im Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge … keine praktische Relevanz hat. Ich weiß nicht, wie Sie das nennen. Ich nenne es Heuchelei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({6}) Es ist schon erstaunlich, dass Sie mit dem vorliegenden Antrag hinter die Initiative des eigenen Innenministers zurückfallen. Herr Schäuble hat endlich den Dialog mit den Vertretern des Islam in Deutschland im Rahmen einer gemeinsamen Konferenz begonnen. Anstatt diese Initiative zu fördern und zu begrüßen, fällt den Antragstellern dazu nichts weiter ein, als - ich zitiere Hüseyin-Kenan Aydin den interkulturellen Dialog mit dem Islam … zu nutzen, um auch auf die Situation von Christen in Staaten mit muslimischer Mehrheit hinzuweisen. Mehr ist zu dem Thema nicht zu lesen. ({7}) Ich frage Sie: Reduziert sich ein Dialog auf das Erheben des eigenen Zeigefingers? Haben Sie den Moslems in Deutschland nicht mehr zu sagen? Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein weiteres Thema ansprechen, das den Antragstellern offenbar nicht der Rede wert war. Im Juli 1993 haben islamistische Fanatiker im türkischen Sivas ein gegen Aleviten gerichtetes Pogrom organisiert. 37 Menschen kamen dabei grausam ums Leben. Nach Kenntnis der Bundesregierung halten sich von den 76 in der Türkei verurteilten Attentätern elf in Deutschland auf, zum Teil als anerkannte Flüchtlinge. Bemühungen zu deren Ergreifung sind nicht zu erkennen, obgleich Auslieferungsbegehren vorliegen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Glaubensfreiheit heißt, sich weltweit für die verfolgten religiösen Minderheiten einzusetzen. Sie beginnt vor der eigenen Haustür. ({0}) Religionsfreiheit ist immer auch die Freiheit des Andersgläubigen, auch in der Türkei, meine Damen und Herren. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel, SPD-Fraktion. ({0})

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In jeder freien und friedlichen Gesellschaft ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit eines der wichtigsten Menschenrechte. Religion gestaltet und bestimmt das Leben von Menschen; sie gibt Sinn, Freiheit, Entlastung, Erklärungen, Geborgenheit und schafft auch Kunst und Kultur. Und, meine Damen und Herren, Religion engt ein, macht Angst, fördert Hass und Gewalt, kann den Tod bedeuten und führt zu Kriegen. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Entwicklungen, die durch Religionen möglich waren und möglich sind, zeigt aber auch, wie viele Kriege im Namen von Religionen oder eines Gottes geführt worden sind und hin und wieder noch geführt werden. Wir in Deutschland berufen uns oft auf das Erbe des christlichen Abendlandes. Durch den Blick in die Geschichte wird aber sehr schnell deutlich, dass auch das christliche Abendland davon nicht ausgenommen ist, dass auch im Namen des christlichen Gottes Kriege geführt und Menschen gefoltert und getötet worden sind. ({0}) Die Welt hat gelernt und Konsequenzen gezogen. Das wird deutlich in den verschiedensten Erklärungen zu den Menschenrechten, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie im Zivilpakt und in vielen anderen internationalen Vereinbarungen, die auch Deutschland angenommen, ratifiziert und gezeichnet hat. Dennoch werden immer noch Einzelne und Gruppen wegen ihrer Religion benachteiligt, diskriminiert, verfolgt und ermordet. Noch immer gibt es kriegerische Auseinandersetzungen, die im Namen eines Gottes angedroht oder geführt werden. Wir haben hier heute schon verschiedene Beispiele gehört. Das Hauptproblem dabei ist immer wieder, dass die Religion zur Ausübung von geistiger, politischer und ökonomischer Macht missbraucht wird. An Brisanz gewinnt das, wenn im Kampf um Ressourcen und politischen Einfluss jegliche Sachargumente an Bedeutung verlieren. Oft wird das religiös verbrämt. Konflikte um Interessen wandeln sich dann um in Auseinandersetzungen um Werte, Traditionen und Glaubensfragen. Damit bekommen politische Prozesse oft einen religiösen Anstrich. Eine friedliche Konfliktlösung wird dadurch erheblich erschwert. Denn das Thema Religion wird - im Gegensatz zu klar formulierten sozialen und wirtschaftlichen Forderungen - kaum zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel aus Nigeria deutlich machen, das schon die Medien beschäftigt hat und das vielleicht manche von Ihnen kennen. Im Süden des Landes leben vor allem Christen, deren Einkommensquelle der Ackerbau ist. Die Muslime im Land leben vor allem von Handel und Viehzucht; ihnen geht es wesentlich besser als den Christen. Die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen haben zugenommen, weil sich die Lebensverhältnisse der Ackerbauern, die Christen sind, wesentlich verschlechtert haben. Zum einen war dies die Folge von Wassermangel und zum anderen die Folge von Übernutzung der Böden. Hinzu kam, dass die Konsumgüter, die meist von den Muslimen angeboten werden, sehr viel teurer wurden. Außerdem sind sehr viele nigerianische Muslime aus dem wirtschaftlich schwachen Norden in das Zentrum bzw. in den Süden des Landes gezogen. Der Staat war nicht in der Lage, diese Konflikte zu regeln oder Perspektiven für eine gerechtere Zukunft zu schaffen. Stattdessen streuten Politiker Gerüchte, dass die jeweils andere Religionsgruppe an den Verhältnissen schuld sei und dass sie politisch und ökonomisch dominieren wolle. Diese Politiker haben die Menschen ihrer Religionsgruppe dazu aufgerufen, sich eindeutig hinter sie zu stellen. Die Abgrenzung zwischen Muslimen und Christen hat damit deutlich zugenommen. In Yelwa, einer Kleinstadt, ist es schließlich zum Ausbruch von Gewalt gekommen, als sich eine Jugendgruppe durch die Missachtung eines religiösen Festes durch andere Jugendliche provoziert fühlte. Sie wissen vielleicht alle, dass es in der Folge zu heftigen Auseinandersetzungen kam, einmal ausgehend von den Christen und einmal ausgehend von den Muslimen. Fast 1 000 Frauen und Männer verloren dabei ihr Leben. Geschäfte und Privathäuser, Kirchen und Moscheen sind niedergebrannt worden. Viele Familien sind aus Angst vor Verfolgung in andere Landesteile geflohen. An diesem Beispiel aus Nigeria zeigt sich sehr deutlich, wie ökonomische Probleme in einen religiösen Kontext gestellt werden und welche menschenverachtenden Folgen das haben kann. Gleichzeitig ist es aber auch ein Beispiel für eine gelungene Versöhnung. Geistliche beider Religionen haben die Bevölkerungsgruppen zu einem Gespräch über das Geschehene bewegt und so ein Minimum an gegenseitigem Vertrauen hergestellt. Gemeinsam wurden die ökonomischen, politischen und sozialen Probleme betrachtet und vor allem die Mitverantwortung des Staates benannt. Dann kam es zu einer öffentlichen Erklärung, die das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung sichern soll. Christen und Muslime verpflichteten sich dazu, alle religiösen Stätten zu schützen und die Mitglieder anderer Religionsgruppen nicht zu diffamieren. Der nigerianische Staat wurde aufgefordert, die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, die Zahl der Analphabeten zu senken, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern und der Jugend eine Zukunftsperspektive zu geben. Ich denke, dieses Beispiel macht sehr deutlich, wozu Religion auf der einen Seite missbraucht werden kann und wozu Religion auf der anderen Seite im besten Sinne dienen kann. Das heißt für mich, dass Religionsfreiheit unbedingt einen Dialog voraussetzt und dass er da, wo er nicht vorhanden ist, gefordert und gefördert werden muss. Sich daran zu beteiligen sind alle - Regierungen und Parlamente, Kirchen und andere Organisationen - aufgefordert. ({1}) Ich möchte noch auf ein ganz aktuelles Beispiel hinweisen: Der Besuch des Papstes in der Türkei macht ebenfalls sehr deutlich, dass Dialog und Respekt voreinander dazu führen können, anders miteinander umzugehen. Mir ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht nur deshalb am wichtigsten, weil ich evangelische Theologin und Pfarrerin bin, sondern auch, weil es ausgesprochen notwendig - eben Not wendend - ist, bei allen Konflikten immer wieder darauf zu achten, dass Religion nicht als Rechtfertigung von Gewalt missbraucht und als Deckmantel für andere Konflikte benutzt wird. Dazu gehört, dass jegliche Gewalt, die von Religion ausgeht - sei es psychische, sei es physische Gewalt -, geächtet werden muss. ({2}) Das bedeutet dann für jeden Einzelnen und jede Einzelne, immer und überall für Religionsfreiheit einzutreten, auch wenn er oder sie keiner Religion angehören sollte. Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion, die wir im Menschenrechtsausschuss zu den vorliegenden Anträgen führen werden. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenrechtsdebatte im Deutschen Bundestag nach dem Motto „same procedure as every year“? Nein, heute ist etwas anders: Wir diskutieren erstens in der Kernzeit und zweitens war der Bundesaußenminister - das habe zumindest ich während meiner vierjährigen Parlamentszugehörigkeit noch nicht erlebt - nicht nur zeitweilig anwesend, sondern hat auch gesprochen. Das ist ein gutes Zeichen für den Stellenwert der Menschenrechte nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch in der Bundesregierung. Dafür herzlichen Dank! ({0}) Wir beschäftigen uns mit einem großen Reigen an Themen. Das hat den Kollegen Toncar dazu geführt, davon zu sprechen, dass die Bundesregierung Menschenrechtspolitik sozusagen wie in einem „Gemüsegarten“ betreibe. Zu den Anträgen der FDP in den letzten Jahren muss ich allerdings sagen: Ich kann da keine besonders deutliche Konsistenz - Sie kritisieren ja, dass sie bei uns fehle - erkennen. Man sollte sich die Anträge, die Sie stellen, einmal ein bisschen genauer anschauen. Da geht es zum einen um die mandatsgebundene Begleitung der UN-Missionen durch Menschenrechtsbeobachter. Das ist ein Antrag - das wissen Sie genau -, den Sie schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben; dies ist eine bei der FDP inzwischen üblich gewordene Form des Antragsrecyclings. ({1}) Bedauerlicherweise haben Sie aber Ihre Ursprungsversion eingebracht und nicht die, auf die wir uns schon interfraktionell geeinigt haben. Wenn Ihnen dieses Thema so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie doch unseren gemeinsamen Antrag einbringen können und dann hätten wir vielleicht anders über dieses Thema gesprochen. ({2}) Insofern glaube ich, dass wir an dieser Stelle den Beratungen und der Abstimmung darüber relativ ruhig entgegensehen können. Im Übrigen will ich darauf hinweisen - denn dies ist ein guter Zeitpunkt -, dass Deutschland an dieser Stelle sehr viel tut. Deutschland hat mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze ein ganz hervorragendes Ausbildungszentrum und mit Botschafter Däuble jemanden, der sich im Auswärtigen Amt explizit mit Krisenprävention und ähnlichen Dingen beschäftigt. Auch das gehört an dieser Stelle einmal ganz deutlich gesagt. ({3}) Zur Grundrechteagentur ist heute schon viel gesagt worden; ich will nur wenige Bemerkungen dazu machen. Kollege Löning, natürlich ist es so, dass wir uns insgesamt im Deutschen Bundestag sehr kritisch mit dieser Angelegenheit auseinander gesetzt haben. Ich finde, das sollten wir nicht kleinreden. Ohne uns hätte es in Deutschland keine öffentliche Debatte über dieses Thema gegeben. ({4}) Es ist doch auch nicht so, dass wir in dieser ganzen Angelegenheit nichts erreicht hätten. Eine Debatte über das Mandat, das diese Agentur haben soll, und über das Personalvolumen ist doch zustande gekommen. Da kann man jetzt nicht sagen: Wenn man seine Ziele nicht erreichen kann, dann muss man die ganze Angelegenheit aufblasen. Im Übrigen, Herr Kollege Leutert, 30 Millionen Euro sind, gemessen an anderen Ausgaben, tatsächlich nicht viel Geld. Aber auch da besteht für mich die Frage: Wofür gibt man 30 Millionen Euro aus und wo lässt man dies? Ich glaube, dass das Geld für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wesentlich besser angelegt wäre als für diese Agentur. ({5}) Ich möchte ein paar Worte zum Thema Religionsfreiheit sagen. Herr Kollege Aydin, ich bin es wirklich langsam leid, andauernd diese Pauschalverurteilungen gegenüber der CDU/CSU zu hören. Ich will Ihnen dazu ein ganz konkretes Beispiel nennen: In meinem Wahlkreis steht die kleinste Moschee in Europa. Sie hat vor zwei Jahren gebrannt, weil Idioten diese Moschee angezündet haben. Die beiden einzigen Personen, die sich in der Öffentlichkeit zu diesem Thema geäußert haben, waren der christdemokratische Bürgermeister von Usingen und der christdemokratische Bundestagsabgeordnete Holger Haibach. Von Ihrer Fraktion habe ich zu diesem Thema nichts gehört. ({6}) Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich auf, uns kollektiv in die Ecke von Intoleranz und religiöser Unfreiheit zu stellen! Wir wissen ganz genau, dass Toleranz vor Ort beginnt. Aber zur Toleranz gehört eben auch, dass wir, wenn unsere Glaubensbrüder - ich spreche jetzt einmal als Christ - in der Welt verfolgt werden, dies deutlich benennen. Auch diese Sprachlosigkeit, die ich da manchmal erlebe, muss aufhören. ({7}) Deswegen bin ich auch ausgesprochen dankbar dafür, dass nicht nur wir als Koalition, sondern auch die Grünen einen Antrag zum Thema Religionsfreiheit eingebracht haben. Ihn halte ich an vielen Punkten durchaus für sehr beachtlich. Umso weniger, Herr Kollege Beck, kann ich dann verstehen, was Sie heute zum Thema „Gotteslästerung als Straftat“ in der „Berliner Zeitung“ geäußert haben. Ich zitiere: Ich persönlich finde, der Paragraf gehört auf den Misthaufen der Rechtsgeschichte. ({8}) Wir können doch nicht ernsthaft religiöse Intoleranz durch Rechtlosigkeit und Gesetzlosigkeit bekämpfen. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man an dieser Stelle sagt: Der Paragraf muss abgeschafft werden. ({9}) Abgesehen davon finde ich: Im Zusammenhang mit Gotteslästerung mit dem Begriff „Misthaufen“ zu operieren ist eine Unverschämtheit mit Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte. ({10}) Wenn wir darüber reden, wie wir uns in unserem Land und international verhalten sollen, dann ist natürlich die Frage „Wie engagiert sich Deutschland in der Welt?“ wichtig. Das Thema Darfur hat gestern im Ausschuss und heute während der Diskussion eine Rolle gespielt. Herr Kollege Beck, ich plädiere immer sehr dafür - Sie sind ja Jurist; daher wissen Sie, was das heißt -, dass wir zwar - ({11}) - Er ist kein Jurist? Gut, Entschuldigung. Sie wissen wahrscheinlich trotzdem, was es heißt, wenn ich sage: Wir müssen zwar in brennender Sorge und mit heißem Herzen, aber sine ira et studio handeln. Deshalb ist die Frage, wie wir uns in Darfur engagieren, zweitrangig. Die erste Frage ist vielmehr: Was wollen wir erreichen? Da sind wir uns doch einig: Wir wollen Frieden in diesem Land und wir wollen, dass das Morden an den Menschen dort aufhört. ({12}) Folgendes will ich zum Schluss auch noch sagen: Es macht mich schon besorgt, wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, heute sagt: Der Sicherheitsrat ist in der Lage, sich zu diesem Thema zu äußern. - Der Menschenrechtsrat, der ja gebildet worden ist, damit er sich zu solchen Themen äußert, ist nicht in der Lage, eine Resolution dazu vorzulegen. Ich finde das ausgesprochen bedenklich. Ich finde es ausgesprochen schädlich mit Blick auf die gesamte Situation, dass der Menschenrechtsrat, der die Vereinten Nationen in diesen Fragen eigentlich antreiben sollte, das Hindernis dafür ist, dass es eine klare Meinungsäußerung zu diesem Thema gibt. ({13}) Wenn die deutsche Politik die Chance hat, etwas zu ändern, dann ist es doch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und während der deutschen G-8-Präsidentschaft. Dann können wir entscheidende Schritte in diesen Dingen tun. Ich bin dem Außenminister dankbar dafür, dass er erwähnt hat, dass die Blockade im Menschenrechtsrat aufhören soll und dass der Menschenrechtsrat wieder der Hort des Schutzes der Menschenrechte innerhalb der Vereinten Nationen wird. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3607, 16/3608, 16/3145, 16/3621, 16/3617, 16/3613 und 16/3614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 h: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/2733 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für die mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/226 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Nein zur Rente ab 67 - Drucksache 16/2747 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort. ({1})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Rente mit 67“ bedeutet im Wesentlichen: Rentenkürzung für Ältere, zusätzliche Arbeitslosigkeit für Jüngere und den untauglichen Versuch, soziale Härten zu mindern, indem man neue Ungerechtigkeiten schafft. ({0}) Das Schlimmste ist aber, dass diese bittere Pille trotz solcher Risiken und Nebenwirkungen nahezu wirkungslos ist. Sicher, die Menschen werden älter und beziehen länger Rente. Da bietet es sich doch an, diese Menschen länger arbeiten zu lassen. An den Stammtischen im Sauerland ist das jedem klar und für jeden logisch. Seriöse Rentenpolitik würde aber die Frage „Was bringt das?“ stellen. Die Sozialverbände haben schon frühzeitig geschätzt: maximal einen halben Beitragspunkt. Immerhin fällt Ihnen noch auf, dass nicht wenige unter den 65-Jährigen aufgrund der physischen und/oder psychischen Belastungen ihres bisherigen Arbeitslebens kaum in der Lage sind, zwei weitere Arbeitsjahre anzuhängen. Dieses Problem glauben Sie ganz einfach lösen zu können, indem Sie denjenigen, die auf 45 Beitragsjahre kommen, weiterhin erlauben, mit 65 Jahren in Rente zu gehen. Ein einfacher Blick in die Rentenzugangsstatistik hätte Sie warnen können, nein, warnen müssen. Er hätte Ihnen gezeigt, dass Sie sich mit dieser Überlegung auf dem Holzweg befinden. Herr Müntefering, der Maurer, von dem Sie annahmen, dass er weiterhin mit 65 Jahren in Rente gehen kann, da er auf 45 Beitragsjahre kommt, ist schlicht ein Phantom. Statistisch betrachtet hätte dieser aufgrund der durchschnittlichen Erwerbslosigkeitszeiten sein Berufsleben mit neun Jahren beginnen müssen, um die erforderlichen Beitragsjahre zu erreichen. ({1}) Eine Studie der Deutschen Rentenversicherung zeigt die tatsächlichen Ergebnisse der geplanten Ausnahmen. Ihr Plan lindert nicht Härten, er verschärft sie. Dass Arbeitnehmer mit mehr als 45 Beitragsjahren auch künftig im Alter von 65 Jahren eine Rente ohne Abschläge beantragen können, bedeutet nach dieser Studie - ich zitiere „eine Umverteilung von unten nach oben, das heißt, von den Schwächeren zu den Stärkeren.“ In den Genuss dieser Regelung werden nur selten Frauen und Geringverdiener kommen. Profitieren werden die männlichen Gutverdiener. Zudem dürfte diese Regelung verfassungswidrig sein, weil gleiche Beitragszahlungen zu deutlich unterschiedlichen Rentenansprüchen führen können. ({2}) Volker Schneider ({3}) Dank der Ausnahme bleiben noch bescheidene 0,2 bis 0,3 Beitragspunkte Ersparnis, rechnet Ihnen die Deutsche Rentenversicherung vor. Weil Sie bei dieser Reform eine Politik aus dem Bauch bevorzugen, anstatt Ihren Verstand zu benutzen, ignorieren Sie auch die arbeitsmarktpolitischen Folgen dieses Projektes: Genau dann, wenn das Renteneintrittsalter vollständig bei 67 Jahren liegt, kommen die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre ins Rentenalter. Wenn zu wenig Ältere aus dem Arbeitsleben ausscheiden, bedeutet das für viele Jüngere die Arbeitslosigkeit; es sei denn, dass an anderer Stelle gleichzeitig neue Jobs entstehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat einen Bedarf von 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen errechnet. Ihre bescheidenen Einsparungen in der Rentenversicherung werden Sie in der Arbeitslosenversicherung unmittelbar verfrühstücken müssen. ({4}) Fazit: Die Rente mit 67 wird die Probleme der Rentenversicherung nicht lösen, belastet künftige Rentnergenerationen und schafft himmelschreiende Ungerechtigkeiten und Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung steht daher zu Recht einer breiten Ablehnungsfront gegenüber. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und folgen Sie unserem Antrag. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz Müntefering. ({0})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Alterssicherung in Deutschland ist vorbildlich. ({0}) Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. All denjenigen, die jetzt aufstöhnen, sage ich: Schauen Sie sich einmal in anderen Ländern um. Es ist kein Zufall, dass diese auf Deutschland schauen. Das System der Alterssicherung in Deutschland ist vorbildlich und das wird auch so bleiben. ({1}) Wer das aber will, muss jetzt handeln. Verantwortungsvolle Politik ist kein Wunschkonzert. Sie fängt vielmehr damit an, dass man die Wahrheit sagt und die Situation beschreibt. Nur darauf aufbauend kann man für die Zukunft vernünftige Politik machen. Die veränderte demografische Entwicklung ist Realität. Daran kommt man nicht vorbei. In den 60er-Jahren wurde im Durchschnitt zehn Jahre lang Rente gezahlt, jetzt sind es 17 Jahre. Im Jahr 2030 würde, wenn nichts passiert, 20 Jahre lang gezahlt. Wir arbeiten aber nicht länger, sondern kürzer. Wir leben länger und relativ gesund; das ist gut. Deshalb ist die veränderte demografische Entwicklung im Prinzip etwas Gutes. ({2}) Aufgrund der Tatsachen, dass wir zu wenige Kinder haben und kürzer arbeiten, entstehen aber Probleme im sozialpolitischen Bereich. Deshalb hat das Kabinett gestern entschieden - diese Entscheidung wird von der Koalition mitgetragen -, die Stabilität der Alterssicherung durch drei Maßnahmen weiter zu gewährleisten: durch die Rentengesetzgebung, durch die Initiative „50 plus“ und durch eine Altersvorsorgeregelung, über die wir im Frühjahr noch genauer zu sprechen haben. Ich will erstens zum Rentenversicherungsbericht, den wir gestern unter anderem beschlossen haben, sagen: Wir hatten vor einem Jahr einen Puffer von 0,1 Monaten als Rücklage. Durch die Entwicklungen im Laufe des Jahres, nämlich mehr Einnahmen auch bei den Rentenversicherungsbeiträgen und durch die 13. Zahlung, haben wir inzwischen eine Rücklage von einem halben Monat. Wir haben eine neue zusätzliche Stabilität im Bereich der Rentenversicherung geschaffen. Aufgrund unseres Handelns wird der Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 19,9 Prozent bis zum Jahr 2020 stabil bleiben. Der Rentenniveausatz wird bei 46 Prozent oder mehr. Das sind die Ergebnisse der Politik dieses Jahres und der vergangenen Jahre. Darauf sind wir stolz. Diese Zahlen sind auch ansteigend für die Zukunft. Aber die Menschen sind belastbar. Wir sagen ihnen rechtzeitig, was uns die Zukunft bringt. Denn nur wenn man rechtzeitig über diese Dinge spricht, können die Menschen sich entsprechend darauf einstellen. ({3}) Was haben wir getan? Wir erhöhen das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre. Dieser Prozess beginnt im Jahre 2012 und ist bis zum Jahre 2029 abgeschlossen. Diejenigen, die 45 Pflichtbeitragsjahre haben, können unverändert mit 65 die Rente ohne Abschlag bekommen. Die, die 35 Versicherungsjahre haben, können mit 63 vorgezogen in die Rente gehen. Das heißt, es wird ein Renteneintrittsfenster - bisher lag es bei 60 bis 65 - von 63 bis 67 eröffnet. Das ist die Entwicklung. Angesichts der Alterung der Gesellschaft, angesichts der demografischen Entwicklung ist das eine vernünftige Größenordnung. Deshalb sind wir uns sicher, dass das, was wir machen, helfen wird, die Rente in Zukunft stabil zu halten, und dazu beiträgt, auch den zukünftigen Generationen eine größere Sicherheit zu geben. ({4}) Wir mussten in diesem Zusammenhang auch eine Entscheidung zur Altersteilzeit, zum Stichtag, treffen. Es geht um die Frage, bis wann individualisierte Altersteilzeitverträge abgeschlossen werden können, ohne dass das schon auch seine Wirkungen hat im Bereich des Anstiegs 2012 und in den Folgejahren. Die Fraktionsspitzen der Koalition haben sich gestern Morgen darauf verständigt, den 31. Dezember dieses Jahres als Stichtag zu nehmen. Dem sind wir gefolgt. ({5}) Wir haben im Kabinett festgelegt, dass die Frist zum 31. Dezember dieses Jahres abläuft. Zweitens haben wir gestern eine Entscheidung für einen Antrag zur Initiative „50 plus“ getroffen. Dieser Antrag gibt eine gute Gelegenheit, auf die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt zu sprechen zu kommen. Jetzt zur Stunde werden die aktuellen Zahlen veröffentlicht. Seit langer Zeit liegt die Zahl der Arbeitslosen wieder unter 4 Millionen; es sind 3,995 Millionen. ({6}) Das heißt, dass wir die Arbeitslosenzahl von Oktober auf November noch einmal um 90 000 gesenkt haben. Das ist für einen November eine völlig ungewöhnliche Entwicklung. Wir hatten schon öfter im Oktober und November gutes Wetter; ich kenne ja schon die Ausreden, woran das alles gelegen haben mag. ({7}) - Sie müssen sich nicht mitfreuen, Herr Kolb, aber wir freuen uns darüber. ({8}) Etwa 550 000 Menschen mehr als vor einem Jahr haben zurzeit Arbeit, sind nicht arbeitslos. Das ist eine kleine Großstadt in Deutschland. Eine solche Entwicklung beinhaltet natürlich auch, dass die Zahl der arbeitslosen Älteren deutlich reduziert ist. In der Entwicklung im November ist vor allen Dingen Folgendes interessant: Von den 90 000 weniger Arbeitslosen kommen 30 000 aus dem Bereich Arbeitslosengeld I und 60 000 aus dem Bereich der Langzeitarbeitslosen, der Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Und das ist die wichtigste und hoffnungsvollste Entwicklung, die wir überhaupt haben. ({9}) Wir können zwar über alle Möglichkeiten, wie man den Niedriglohnsektor organisieren kann, reden. Aber es ist im Wesentlichen immer „Linke Tasche, rechte Tasche“. Wirklich lösen kann man dieses Problem nur dadurch, dass man Arbeit schafft. Dass man den Menschen Gelegenheit gibt, ihr Leben selbst zu finanzieren. Dafür kämpfen wir. ({10}) Und dafür haben wir eine Menge erreicht - aus dem Jahr 2005 auch mit den Wirkungen der Arbeitsmarktreformen. ({11}) Sie können sagen, was Sie wollen: Das, was wir nun aufgestellt haben, führt dazu - und zwar zunehmend -, dass wir eine hochleistungsfähige Bundesagentur für Arbeit haben und dass die Argen und die optierenden Gemeinden ihre Probleme immer besser lösen können. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt. Diesen Weg werden wir in 2007 weitergehen. Im Jahre 2007 wird Deutschland ein relativ hohes Wachstum zu verzeichnen haben; für das letzte Quartal dieses Jahres wurden mehr als 3 Prozent Wachstum prognostiziert. Wir wollten mit dieser Entwicklung im nächsten Jahr in Deutschland zu einer weiteren Reduktion der Arbeitslosigkeit kommen. Das ist das erste Ziel dieser Koalition. Ich sage Ihnen: Wir werden es erreichen. Und das wird uns helfen an allen Stellen. ({12}) Mit der Initiative „50 plus“ schlagen wir vor, dass sowohl durch den Kombilohn als auch durch Eingliederungszuschüsse, Weiterbildung und befristete Beschäftigung zusätzliche Impulse gegeben werden. Jemand, der älter als 50 Jahre ist und arbeitslos wird, soll möglichst schnell wieder in Arbeit kommen und auch eine solche Arbeit annehmen, die möglicherweise schlechter als seine vorherige bezahlt wird. Denn wir müssen verhindern, dass die Menschen vom Arbeitslosengeld I in Arbeitslosengeldes II fallen. 50-, 55- und 60-Jährige, die einen oder zwei oder drei Monate arbeitslos sind, sind noch gut vermittelbar. Wenn sie ein oder zwei Jahre draußen sind, wird das immer schwieriger. Deshalb sagen wir: Nimm auch den Job, der dir netto weniger bringt. Wir zahlen im ersten Jahr 50 Prozent und im zweiten Jahr 30 Prozent dazu, damit du diese Brücke in neue Beschäftigung dann auch nimmst. Nach dem Senioritätsprinzip, das in unser aller Köpfe ist, hat ein Älterer immer die höhere Position und den höheren Lohn. Das wird es in Zukunft in dieser Form nicht mehr geben. Auch das müssen wir den Älteren signalisieren. Altersgerechte Arbeit wird nicht immer die am höchsten bezahlte Arbeit sein, sondern das wird sich stärker mischen zwischen den einzelnen Generationen. Und deshalb ist das - so wie die Eingliederungszuschüsse auch - ein vernünftiger Weg. Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die Weiterbildung. In Deutschland nehmen 9 Prozent der über 50-Jährigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil, in Skandinavien sind es 70 Prozent. Wenn die großen Unternehmensverbände darauf hinweisen, dass ihnen 15 000 oder 20 000 Ingenieure fehlen, und dann fordern, dass wir das Tor öffnen sollen, damit sie die fehlenden Ingenieure aus anderen Ländern holen können, dann sage ich: Nein, das will ich nicht. Ich weiß: In einer globalisierten Welt werden Deutsche im Ausland und Ausländer bei uns arbeiten. Das ist für beide Seiten sinnvoll. Aber wir müssen unsere Probleme mit den Menschen, die im Lande sind, lösen. ({13}) Die Unternehmen sollen 50- oder 55-Jährige nicht nach Hause schicken, sondern dafür sorgen, dass rechtzeitig qualifiziert und weitergebildet wird, damit die Menschen, die noch etwas leisten können, auch eine Chance haben, im Erwerbsleben zu bleiben. Wir wollen den Älteren Folgendes sagen - und die Arbeitslosenzahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen Weg. Das Renteneintrittsalter wird vom Jahre 2012 bis zum Jahr 2029 schrittweise auf 67 Jahre erhöht. Wir werden auf dem Weg alles dafür tun, dass die Älteren auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Wir wollen im Jahre 2009 so weit sein, dass nicht mehr nur 45 Prozent, sondern 50 Prozent der über 55-Jährigen wieder in Beschäftigung sind. Es ist doch unglaublich, dass heutzutage 55 Prozent derer, die 55 Jahre oder älter sind, in Deutschland nicht mehr in Beschäftigung sind. Das können wir uns nicht leisten. ({14}) Das ist deutsche Facharbeiterschaft. Die kann etwas. Und die muss auch in Zukunft eine Chance behalten. Dafür kämpfen wir in dieser Koalition. Der Finanzminister und ich haben gestern auch über die Altersvorsorge gesprochen. Zu diesem Thema kann ich jetzt nur noch wenige Anmerkungen machen. Es ist aber wichtig; denn es macht das Bild komplett. Wir müssen neben die gesetzliche Altersrente - das bleibt der Kern auch in Zukunft - die private Vorsorge setzen: die betriebliche Rente und die Riesterrente. Wenn klar geworden ist, was in den letzten Jahren erreicht wurde, werden die Deutschen Walter Riester ein Denkmal setzen. - Herr Gysi, hören Sie vielleicht einmal einen Augenblick zu. ({15}) Man muss neben die gesetzliche Altersrente auch die betriebliche Rente und die Riesterrente setzen. 75 Prozent der Beschäftigten tun dies. Herr Gysi, die Leute haben offensichtlich besser verstanden als Sie, dass man so etwas machen muss. ({16}) 17 Millionen haben eine betriebliche Altersvorsorge, 7 Millionen bauen eine Riesterrente auf. Die Wahrheit ist: Wir müssen dafür sorgen, dass immer mehr Menschen neben der gesetzlichen Rente auf betriebliche Rente und auf Riesterrente setzen. Dieses Ziel müssen wir bis 2030/2040 erreicht haben. Deshalb hat sich die Koalition vorgenommen, bei der Riesterrente den Kinderzuschlag zu erhöhen. Diejenigen, die riestersparen, werden für ab 2008 geborene Kinder einen höheren Zuschlag bekommen. Wir werden eine vernünftige Lösung - wir kämpfen noch miteinander; aber manchmal ist Streit gut: Er erzeugt Reibung, aber auch Fortschritt für die Einbeziehung von Wohneigentum in die Riestervorsorge finden. Denn preisgünstig Wohnen im Alter ist auch eine gute Vorsorge für das Alter. Wir werden die ganz Jungen einladen: Kommt dazu! Die Riesterrente und die betriebliche Altersvorsorge müssen so selbstverständlich werden, wie das früher das Bausparen gewesen ist. Neben der gesetzlichen Rente müssen die private und die betriebliche eine stabile, sichere Säule werden. In diesen Tagen sprechen manche über einen Investivlohn, über eine Beteiligung an Gewinn und Kapital. Ich bin völlig offen für so etwas; darüber kann man sprechen. Aber ich appelliere, zwei Dinge zu bedenken: Erstens. Anständige Löhne. ({17}) 3,18 Euro für Friseurinnen in Thüringen, das geht nicht. Zweitens. Beim Abschluss von Tarifverträgen darf nicht vergessen werden, diese zumindest teilweise auf die Altersvorsorge auszurichten. Wir müssen alle Kräfte bündeln, damit diese Säule der Altersvorsorge vernünftig ausgebaut wird. Wenn man bestimmte Verträge sieht, etwa bei den Metallern in Nordrhein-Westfalen, dann stellt man fest: Es wird ganz vernünftig gemacht. Unterm Strich sage ich: Auf dem Arbeitsmarkt findet eine gute, eine ungewöhnliche, eine schöne Entwicklung statt, die Mut macht, die aber auch zu noch mehr Anstrengungen herausfordert. Wir werden auch was die Alterssicherung angeht in dieser Koalition - da bin ich ganz sicher - ein rundes Bild entwickeln von dem, was nötig ist. Das wird anstrengend sein. Aber es wird erfolgreich sein. Und wir werden letztlich vor den Menschen bestehen, die kritisch nachvollziehen, was wir tun. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Müntefering, gestatten Sie mir zuvor zwei Bemerkungen zu Ihrer Rede: Auch wir freuen uns, dass die Zahl der Arbeitslosen in diesem Monat offensichtlich deutlich zurückgegangen ist. Wir sind weit davon entfernt, das schlecht zu reden. Aber ich bitte Sie, einen nüchternen Blick auf die Verhältnisse zu richten: Es ist jahreszeitlich untypisch, dass noch in diesem Maße Baustellen offen sind. Im letzten Jahr hatten wir bereits ab Mitte November deutliche Witterungseinbrüche. Das spielt natürlich in der Statistik eine Rolle. ({0}) Aber was mir noch wichtiger ist, Herr Minister: Auch wenn Sie da gerade noch die Kurve gekriegt haben, muss man leider sagen, dass dem Abbau der Zahl der Arbeitslosen kein entsprechender Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse gegenübersteht. ({1}) So haben wir gestern vom Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gehört, dass das Verhältnis etwa zwei zu eins beträgt. Das heißt, nur die Hälfte der vormals Arbeitslosen wird sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das ist etwas, was uns umtreibt. Das Zweite, Herr Minister: Sie haben gesagt, man muss den Menschen die Wahrheit sagen, man muss die Situation beschreiben, wie sie ist. Da kann ich nur sagen: Herzlich willkommen in der Realität! Leider haben Sie in der Vergangenheit Ihr politisches Handeln nicht an diesem Maßstab ausgerichtet. Ich will Ihnen das konkret an Zahlen belegen: Als Sie schon politische Verantwortung getragen haben, 2001, zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung, haben Sie in Ihrem Rentenversicherungsbericht für 2007 einen Rentenwert von 28,76 Euro prognostiziert. Je näher 2007 rückte, desto niedriger wurden die Werte: 2002 waren es 28,17 Euro, 2003 waren es 26,98 Euro. Im Rentenversicherungsbericht 2006 sind es noch 26,13 Euro. Das zeigt: Sie haben in der Vergangenheit - zumindest fahrlässig - Entwicklungen überschätzt und damit die Versicherten in diesem Land in einer Sicherheit gewogen, die es so nicht gegeben hat. Deswegen sind Sie an dem entstandenen Vertrauensverlust hinsichtlich der gesetzlichen Rente zu einem guten Teil selbst schuld. Das steht fest. ({2}) Aus dem gestern von Ihrem Kabinett beschlossenen Rentenversicherungsbericht für das Jahr 2006 geht im Übrigen hervor, dass der finanzielle Druck auf die Rentenversicherung in den nächsten Jahren sehr hoch bleiben wird. Wenn man den Einmaleffekt durch den 13. Monatsbeitrag herausgerechnet, beträgt das laufende Defizit der Rentenversicherung in diesem Jahr 4,5 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr - in 2007 - wird das Defizit 3,2 Milliarden Euro betragen. Nach den aus meiner Sicht realistischen Varianten im Rentenversicherungsbericht könnte der Rentenbeitrag schon 2008 auf über 20 Prozent steigen, was nach dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz frühestens für 2020 vorgesehen war. Schauen Sie sich das, was Sie gestern schwarz auf weiß abgeliefert haben, doch einmal an. Für vier von neun Varianten der Annahmen hinsichtlich der Lohnund der Beschäftigungsentwicklung sind in Ihrem Rentenversicherungsbericht Beitragssätze von über 20 Prozent - in der ungünstigsten Variante sind es 20,7 Prozent niedergeschrieben. Ich halte es schlicht und einfach für eine Irreführung der Öffentlichkeit, dass Sie sagen, dass Sie den Beitrag in diesem Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen, weil Sie dadurch den Beitragssatz für einen längeren Zeitraum konstant halten können. Sie glauben offensichtlich auch nicht in allen Fällen das, was Sie selbst sagen. Das will ich hier einmal festhalten. ({3}) - Ich möchte dafür sensibilisieren, dass aufgrund der schwierigen Situation der Rentenversicherung - ich sage gleich gerne noch etwas dazu - eine weitere Rentenreform absolut überfällig ist. Ich glaube, darüber besteht in diesem Hause auch weitgehend Einigkeit. Bei den Lösungsvorschlägen geht es aber doch sehr weit auseinander. Ich will nur ganz kurz etwas zu den Vorschlägen der Linkspartei sagen, deren Umsetzung wie so oft Kosten in Milliardenhöhe verursachen würde. Herr Schneider, Geld spielt bei Ihnen aber sowieso nie eine Rolle. Ich denke, aufgrund der beschriebenen defizitären Situation kann und darf die Rentenversicherung nicht noch mehr Geld ausgeben, sondern sie muss ihre Ausgaben reduzieren, um in den nächsten Jahren noch finanzierbar zu bleiben. Die Umsetzung Ihrer Vorschläge würde allein im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, für den schon jetzt 26 Milliarden Euro ausgegeben werden, zusätzlich über 4 Milliarden Euro kosten. Das ist unverantwortlich. Auch Ihr Vorschlag, die Rentenversicherung zu einer Bürgerversicherung zu entwickeln, geht fehl. Das zeigt nur, dass Sie das Prinzip der Rentenversicherung nicht verstanden haben, weil zusätzliche Beitragsleistungen natürlich auch zu zusätzlichen Rentenansprüchen führen und Sie damit in der Rentenversicherung finanziell überhaupt keinen Boden gewinnen würden. Ganz falsch wäre es, die Versorgungswerke, die richtigerweise Altersrücklagen aufbauen und damit übrigens demografiefester als das umlagefinanzierte System sind, in die Rentenversicherung einzubeziehen und damit den Aufbau von Kapitaldeckung im Bereich der Altersvorsorge sogar noch zu behindern. Daneben fordern Sie ein staatliches Einwirken auf die Einstellungs- und Personalpolitik in den Betrieben. Das ist aus unserer Sicht sowieso weit verfehlt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz kurz: Diese Vorschläge der Linken - das wird nicht weiter verwundern - finden unsere Zustimmung nicht. ({4}) Damit komme ich zu den Vorschlägen der Koalition. Herr Minister, die Rente mit 67 wurde in den Bilanzen anlässlich des ersten Jahrestages Ihrer Regierung mangels anderer vorzeigbarer Ergebnisse und obwohl diesbezüglich bis gestern nicht einmal eine schriftliche Gesetzesinitiative vorlag, als Ihr bislang größter politischer Erfolg dargestellt. Ich möchte allerdings darauf hinweisen dürfen, dass die Verständigung auf die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters - es war eine Absprache zwischen Ihnen und der Bundeskanzlerin, die Hals über Kopf vor einer Kabinettsitzung erfolgt ist - nicht ohne Not geschehen ist, sondern dass sie Anfang dieses Jahres erforderlich war, um in dem mit Verspätung vorgelegten Rentenversicherungsbericht 2005 den Korridor bzw. die Vorgaben des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes hinsichtlich der Beitrags- und Niveauziele auch nur einigermaßen einhalten zu können. Trotz dieses notwendigen Beitrags zur Konsolidierung der Rentenfinanzen darf die Finanzwirkung dessen, was Sie jetzt beschlossen haben, nicht überschätzt werden. Sie wissen, dass die Bruttowirkung 1,1 Prozentpunkte beträgt. Herr Minister, allein durch die Gegenwirkung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Rentenformel aufgrund der Veränderung des Zahlenverhältnisses der Rentenempfänger zu den Beitragszahlern wird am Ende nur noch ein Nettoeffekt von 0,8 Prozentpunkten übrig bleiben. Mit den von Ihnen vorgesehenen weit gehenden Ausnahmen für langjährig und besonders langjährig Versicherte reduziert sich die Entlastungswirkung aber weiter auf nur noch 0,5 Beitragspunkte. Das heißt, das, was Sie uns heute Morgen als mittelfristige Entlastung der Rentenversicherung verkaufen wollen, entspricht vom Volumen her in etwa dem Betrag, um den wir heute unter einem der weiteren Tagesordnungspunkte die gesetzlichen Rentenbeiträge ohne Not wieder anheben werden. Insgesamt betreiben Sie ein Nullsummenspiel. Problematisch an Ihrem Vorschlag ist meines Erachtens auch, dass die Lasten der Alterung unserer Gesellschaft nicht gerecht aufgeteilt werden. Der Sachverständigenrat weist in seinem aktuellen Jahresgutachten ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Vorschlag die Jahrgänge 1959 bis 1974 überdurchschnittlich stark belastet, weil für diese die Anhebung der Regelaltersgrenze größer ist als die Zunahme der Lebenserwartung. Ab dem Jahrgang 1975 ist es dann umgekehrt. Genau das ist bei einer festen Altergrenze und einer ständig weiter steigenden Lebenserwartung problematisch. Nicht besser, sondern ungerechter wird Ihr Vorschlag noch dadurch, dass er unsystematische Ausnahmen vom Regelrentenzugangsalter vorsieht. Wer mit 20 Jahren in das Berufsleben eingetreten ist und durchgängig 45 Jahre arbeitet, bekommt demnach seine Rente abschlagsfrei; wer mit 22 sein Berufsleben begonnen hat und ebenfalls durchgängig arbeitet, erhält bei gleicher Zahl von Entgeltpunkten eine niedrigere Rentenrendite. Das ist mit dem Versicherungs- und dem Äquivalenzprinzip nicht ein Einklang zu bringen. Es ist ein klarer Verstoß gegen Grundprinzipien der Rentenversicherung. ({5}) - Das ist wohl nicht so, Kollege Brauksiepe. An dieser Stelle ist zu fragen, wie der richtige Lösungsweg aussieht. ({6}) Ich glaube, dass wir anstelle eines starren Rentenzugangsalters eine flexiblere Regelung für den Übergang der Menschen aus dem Arbeits- und Erwerbsleben in den Ruhestand brauchen. Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass nur noch 41 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäftigung sind. ({7}) Aber viele in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte wollen ab 60 nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen über den Umfang ihrer Arbeitszeit und über den Bezugsbeginn ihrer Rente - als Voll- oder Teilrente selbst bestimmen können. ({8}) Sie wünschen sich für den Fall eines flexiblen Renteneintritts die Kombination von gesetzlicher Rente mit privater und betrieblicher Vorsorge und einen Zuverdienst ohne die engen Grenzen, die bisher bei der gesetzlichen Rente vorgesehen sind. Sie wünschen sich, dass ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und Beitragsvorteile bei der Sozialversicherung verbessert werden. Man muss doch nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass heute viele Markteintrittsbarrieren für Ältere in Gesetzen und Tarifverträgen hausgemacht sind. Das kann man ändern und das müssen wir ändern, wenn wir die Situation der Älteren verbessern wollen. ({9}) Ich kann Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in wenigen Wochen - noch vor der zweiten und dritten Beratung des von der Regierung einzubringenden Gesetzentwurfes - hier einen eigenen Vorschlag präsentieren wird, ({10}) der auf den eben genannten Prinzipien basiert und der damit eine auch den Erwartungen der Menschen entsprechende Antwort gibt. Das ist eben nicht die Anhebung eines bisher starren Renteneintrittsalters auf ein höheres starres Renteneintrittsalter, sondern der Beginn eines flexibleren Übergangs der Menschen vom Erwerbsleben in den Ruhestand unter Kombination von vielen Altersvorsorgebeiträgen, die man in seinem Erwerbsleben zusammengetragen hat. Das ist ein moderner Ansatz, den wir Ihnen vorschlagen werden. Wie gesagt, in wenigen Wochen können wir dieses Konzept gemeinsam mit Ihren Vorschlägen beraten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir warten mit Spannung auf den Vorschlag; denn bisher ist eines nicht klar, Herr Kolb: Sie vertreten die Rente mit 67; der FDP-Vorsitzende Westerwelle und Herr Niebel sind eher für die Rente mit 65. (Widerspruch des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb ({0}) Vielleicht finden Sie noch einen interessanten Kompromiss. Insofern warten wir das in Ruhe ab. ({1}) Wir diskutieren heute wieder einen Antrag der Linken. In den Volkseigenen Betrieben der DDR ({2}) - dann wissen Sie das sicherlich auch und können es bestätigen - gab es eine Straße der Besten. Das war eine Art Wandtafel oder Flur, wo die fleißigsten Arbeiter auf Porträts prangten. - Herr Gysi nickt. Herr Lafontaine weiß vielleicht nicht, wovon ich rede. ({3}) Manchmal wurden auch Bilder von verdienten Genossen - von Betriebskadern verordnet - dorthin gehängt. Dazu kann ich nur eines sagen: Wenn es in Ihrer Linksfraktion so etwas wie eine Straße der Besten gibt, dann hat es eine ganze Reihe von Ihnen verdient, porträtiert und dort ausgestellt zu werden; denn Sie sind unwahrscheinlich fleißig, wenn es um das Einbringen von Anträgen und das Formulieren von Papieren geht. ({4}) - Sie klatschen zu Recht. Sie müssen unbedingt eine Straße der Besten einrichten. - Aber alle Ihre Anträge haben eines gemeinsam: Sie sind nicht wirklich zielführend und lösen die Probleme nicht. Ihr Gesamtkonzept führt in alte Zeiten zurück, während wir auf dem Weg nach vorne in eine moderne Gesellschaft sind und dabei sind, in unserem ersten Regierungsjahr die Probleme zu lösen. ({5}) Obwohl ich nicht zu viel Zeit auf Ihren Antrag verwenden will, möchte ich Folgendes aufzeigen: Sie sehen an dem, was Minister Müntefering gerade gesagt hat, wie schnell vieles von dem, was Sie fordern, längst überholt und in Arbeit ist. Sie fordern unter Punkt 1 Ihres Antrags, es bei der geltenden Altersgrenze von 65 zu belassen. Das hört sich zwar toll an, ist aber nichts anderes als Populismus. Ich wäre überrascht gewesen, wenn Sie einen Antrag „Ja zur Rente ab 67“ gestellt hätten. Aber das hätte nicht zu Ihrer Argumentation gepasst. Sie betreiben lieber Populismus, um gut anzukommen. ({6}) Unter Punkt 2 Ihres Antrags fordern Sie eine sozial gerechte Rentenreform. Aber Sie werden nicht konkret. Unter Punkt 3 fordern Sie, den Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu erleichtern und diese ohne Abschläge zu gewähren. Sie sind sofort kategorisch gegen alles, was auch nur ansatzweise eine Zumutung für die Menschen darstellt - das ist nach meiner Überzeugung an vielen Stellen notwendig -, und nicht bereit, darüber nachzudenken. Sie bieten nur simple Lösungen an. Darauf muss ständig hingewiesen werden, so fleißig Sie auch sind, wenn es um das Einbringen von Anträgen geht. Unter Punkt 5 fordern Sie die Bundesregierung auf, „ihre Anstrengungen darauf zu richten, durch eine makroökonomisch fundierte Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit zu senken“. Da wir schon seit einigen Wochen über dieses Thema debattieren, sollten Sie eigentlich mitbekommen haben, dass wir das im Hinblick auf eine bessere Zukunft schon längst machen. Die Zahl der Arbeitslosen ist nun auf unter 4 Millionen gesunken. Sie fordern außerdem, den Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter zu stoppen. Die Trendwende ist längst geschafft. Es gibt fast 260 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als im Vorjahr. Ihre Forderungen sind also das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die Realität ist längst an Ihnen vorbeigegangen. Das ist der entscheidende Punkt. ({7}) Sie fordern des Weiteren mehr Wirtschaftswachstum. Vielleicht haben Sie zur Kenntnis genommen, dass im Herbstgutachten davon die Rede ist, dass die Trendwende nach sechs Jahren geschafft ist. Sie fordern außerdem, mehr für die Älteren zu tun. Aber auch hier sind wir längst dabei. Wir wollen mit der Initiative „50 plus“ - diese wurde gestern Abend im Kabinett beschlossen - die Beschäftigungsfähigkeit und die Beschäftigungschancen Älterer verbessern. Das ist das Entscheidende: Wir verbessern nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit, sondern auch die Chancen, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. Wir haben das Instrument der beruflichen Weiterbildung fortentwickelt. Darüber werden wir in den nächsten Wochen reden. Beschäftigte ab 45 Jahre, die in Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern tätig sind, sollen die Möglichkeit erhalten, sich weiterzubilden. Bislang werden nur Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten gefördert, wenn sie Arbeitnehmer über 50 Jahre qualifizieren. Wir machen dieses Instrument damit attraktiver. Auch den Kombilohn verbessern wir so, dass es für die betroffenen Menschen attraktiver wird, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Man sollte lieber eine Arbeit annehmen, auch wenn sie etwas schlechter bezahlt ist, als vom Staat und von dem Geld anderer zu leben. Das muss in Deutschland wieder Mentalität werden. Sie von der Linken wollen den betroffenen Menschen immer nur möglichst viel aus der Tasche anderer geben. Das ist aber auf Dauer nicht hilfreich. Wir müssen vielmehr so viele Arbeitslose wie möglich in den ersten Arbeitsmarkt bringen. So sieht eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik aus. Wir haben bei den Eingliederungszuschüssen Verbesserungen vorgenommen und wir verändern die Regelungen zu befristeten Arbeitsverhältnissen so, dass sie europarechtstauglich werden. Das heißt, wir haben die Instrumente, die es gibt, verbessert. Das wird helfen, dass ältere Menschen - es wird immer der Vorwurf erhoben, dass Menschen erst mit 67 in Rente gehen dürfen wirklich in Arbeit kommen. Warum also die Rente mit 67? Sie alle wissen, dass die Lebenserwartung und die Rentenbezugsdauer kontinuierlich steigen. Von 1960 bis heute ist die Rentenbezugsdauer um 70 Prozent angestiegen. Damals waren es zehn Jahre, heute sind es 17 Jahre. Wir erwarten, dass die Lebenserwartung bei Männern bis zum Jahr 2030 um 2,3 Jahre und bei Frauen um 2,8 Jahre ansteigt. Wenn die Menschen Gott sei Dank immer älter werden und immer fitter bleiben - das kann man sehr oft feststellen -, dann muss man auch bei der Rente konsequent sein. Wenn wir es schaffen, die Rente mit 67 umzusetzen, dann ist die Verlängerung der Lebenserwartung und der Rentenbezugsdauer von etwas über zwei Jahren finanzierbar. Ich will auch deutlich sagen: Die Geburtenrate hat sich seit 1975 in den alten Bundesländern bei nur 1,4 Kindern eingependelt. Vor diesem Hintergrund muss die Familienpolitik helfen, dass das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und denen, die in Rente gehen, ein bisschen korrigiert wird. Die Anhebung der Altersgrenze soll jetzt diskutiert werden. Es ist wichtig, dass wir das jetzt tun, weil das mehr Vertrauen in die Politik erzeugen und zu mehr Verlässlichkeit führen soll. Wir ändern das Renteneintrittsalter nicht schon morgen, übermorgen oder ab dem nächsten Jahr, sondern wir beschließen die Rente mit 67 jetzt, damit man in den nächsten Jahren weiß, wie es weitergeht. Wir reden, um das deutlich zu machen, über die Anhebung des Renteneintrittsalters ab dem Jahr 2012. Ich stelle in vielen Diskussionen fest, dass gerade die heutige Rentnergeneration die Rente mit 67 für problematisch hält, obwohl sie gar nicht betroffen ist. Ich sage denen, die heute im Rentenalter sind und insbesondere den Rentnern aus der ehemaligen DDR: Ihr habt verdammt gute Renten. Dafür habt ihr gearbeitet, aber wenn ihr auf die Kinder und Enkelkinder schaut, dann werdet ihr feststellen, dass diese es wegen der eben genannten demografischen Entwicklung schwerer haben werden. Deshalb wird über einen langen Zeitraum von 18 Jahren ab 2012 das Renteneintrittsalter stufenweise auf 67 angehoben. Wir sind dann im Jahr 2029 bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Das sage ich nur, damit alle wissen, wovon wir reden. Die Drohung, dass das am nächsten Tag schon geschieht und deswegen die Welt sofort untergeht, ist völlig fehl am Platz. Das ist langfristig angelegte Rentenpolitik, eine Rentenpolitik, die verlässlich sein will und deutlich die Richtung für die nächsten Jahre angibt. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rentenversicherung belastbar und solide weiterentwickeln und dass wir den gesetzlichen Beitrag und die Höhe der Rente auf dem beschlossenen Niveau halten. Wir haben festgelegt, dass der Beitragssatz im nächsten Jahr auf 19,9 Prozent steigt, aber nicht darüber hinausgeht. Damit haben wir ein Stück Beitragsstabilität für die nächsten Jahre erreicht. Die Politik hat lange Jahre daran gekrankt, dass das nicht möglich war. Wenn man auf die letzten Jahre von Rot-Grün zurückschaut, dann stellt man fest, dass häufig die Rücklagen der Rentenversicherung angegriffen wurden. Die Rücklage hat jedes Jahr ein Stückchen mehr abgenommen. Der letzte Schritt zur Stabilisierung war, einmalig einen dreizehnten Sozialbeitrag für ein Jahr festzulegen. Jetzt muss man entscheiden, wie man die richtigen Strukturen wiederherstellt. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg; denn die Rente hat seit dem ersten Jahr der neuen Koalition wieder eine Zukunft. Wir wollen das Rentensystem zukunftsfest machen. ({8}) - Man muss feststellen - das habe ich letzte Woche schon gesagt -, dass sich seit dem Wechsel von RotGrün zur großen Koalition etwas in Deutschland geändert hat. ({9}) Zum Schluss möchte ich noch einige Bewertungen der Anhebung des Renteneintrittsalters vortragen. Der Sachverständigenrat sagt: Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist der letzte noch ausstehende wichtige Schritt zur nachhaltigen Stabilisierung und Sicherung des Rentenversicherungssystems. Deshalb sind die Pläne der Bundesregierung ausdrücklich zu begrüßen. Das ist eine positive Begleitung. Die Rentenversicherung Bund sagt: Durch die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre erfolgt ein Einspareffekt von 0,6 bis 0,7 Beitragssatzpunkten bis zum Jahr 2030. Auch an dieser Stelle möchte ich deutlich machen: Dies bedeutet Zustimmung. Außerdem ist es ein Hinweis darauf, dass diese Maßnahme, langfristig gesehen, hilft, das Beitragssatzniveau zu stabilisieren. ({10}) Der Sozialbeirat unterstützt die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ebenfalls. Das sei „die richtige Antwort auf die höheren Kosten, die aus einer zunehmenden Rentenbezugsdauer als Folge einer steigenden Lebenserwartung erwachsen“, heißt es in dem entsprechenden Gutachten. Ich kann mir nicht verkneifen, deutlich zu sagen, dass der Sozialbeirat die Prognosen der Bundesregierung in seiner Stellungnahme ausdrücklich unterstützt. Er spricht mit Bezug auf diesen Rentenbericht nicht mehr von ambitionierten, sondern von realistischen Annahmen. Offensichtlich hat es dort eine Entwicklung zwischen 2005 und 2006 gegeben. Der Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich die mittelfristigen ökonomischen Grundannahmen, weil wir dort etwas vorsichtiger sind - wir sind nicht bis an die Kante gegangen ({11}) und damit für etwas mehr Verlässlichkeit sorgen. Was wir dringend brauchen, sind Verlässlichkeit - kein Hoppeln von Jahr zu Jahr -, Beständigkeit und die Rückgewinnung des Vertrauens der Menschen in unsere Sozialsysteme. Wir sind auf einem guten Weg. Ihr Antrag ist eigentlich Schnee von gestern: Ein Teil ist längst in der Mache und ein anderer Teil würde zu einem völlig anderen System führen. Es tut mir Leid, das jede Woche wiederholen zu müssen, Herr Gysi. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Rente ab 67 stellt hohe Anforderungen an unser Erkenntnisvermögen. Heute eine Entscheidung zu treffen, die erst in 23 Jahren voll wirkt, sich vorzustellen, wie im Jahr 2029 der Arbeitsmarkt aussehen wird, das ist schon eine Herausforderung. Sofort kommen Ihre Einwände, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze für Ältere. Das stimmt - heute. Aber heute gilt auch nicht die Rente mit 67. ({0}) Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken, die heutige Situation mit der im Jahre 2029 gleichsetzen, dann verschließen Sie die Augen vor der demografischen Entwicklung: ({1}) 2029 wird die Lebenserwartung im Vergleich zu heute um vier Jahre gestiegen sein. 2029 wird es 8 Millionen weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Aber was kümmert Sie schon die Realität, wenn Sie ein geschlossenes Weltbild haben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben eben „Aber was kümmert Sie …“ gesagt. Ich weiß nicht, ob Sie mir eben richtig zugehört haben. ({0}) Die Zahlen in Bezug auf den Arbeitsmarkt - es gibt einen Bedarf an 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen sind einer Studie der IAB der Bundesagentur für Arbeit entnommen. Aus dieser Studie habe ich zitiert. Das ist nicht auf dem Mist der Linken gewachsen. ({1})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diese IAB-Studie kenne ich selbstverständlich. In ihr werden Pro und Kontra der Rente mit 67 behandelt. Die Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, die Rente mit 67 sei akzeptabel, wenn der Arbeitsmarkt in Ordnung sei. ({0}) Wir wissen: 8 Millionen Menschen weniger im Erwerbsalter, das bedeutet natürlich eine enorme Entlastung für den Arbeitsmarkt. Für uns ist es schon ein Problem, dass immer weniger Junge immer mehr Älteren gegenüberstehen. Ich spreche vom Jahr 2029 mit circa 8 Millionen Erwerbsfähigen weniger. Ihre Zahlen sind so nicht in Ordnung. ({1}) Ihnen ist offensichtlich auch nicht aufgefallen, dass die Beschäftigung der über 55-Jährigen in den letzten sechs Jahren stetig gestiegen ist. Wir Grüne erwarten, dass dieser positive Trend anhält. Das ist für uns eine Voraussetzung der Rente mit 67. ({2}) Die in früheren Jahren gewachsene Unterbeschäftigung Älterer wird so nicht bleiben. Eine wichtige Ursache hierfür ist - das wissen auch Sie - die Frühverrentung in Deutschland gewesen, die zur Krise der Rentenversicherung wesentlich beigetragen hat. Lange Zeit zogen viele einen vermeintlichen Nutzen daraus: Beschäftigte, die die Freiheit des Ruhestands länger genießen konnten, Unternehmen, die sich auf Kosten der Rentenversicherten ihrer älteren Mitarbeiterschaft entledigten, Politik und Gewerkschaften, die ihr Gewissen beruhigten, weil sie glaubten, etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun und den Jüngeren eine Chance zu geben. Aber das Gegenteil war doch der Fall. Dieser Weg ist eine Sackgasse. ({3}) Es trifft nicht zu, dass das frühe Renteneintrittsalter Arbeitsplätze für Jüngere schafft. In Ländern, in denen mehr Ältere erwerbstätig sind, ist auch die Arbeitslosigkeit von Jüngeren niedrig. Besonders erstaunlich, Herr Schneider, ist die Behauptung der Linken, die Finanzkrise der Rentenversicherung habe nichts mit der Demografie zu tun. Sie machen es sich leicht! ({4}) Sie ignorieren, dass in den letzten 40 Jahren die Rentenbezugsdauer um sieben Jahre gestiegen ist. Sie ignorieren, dass der reale Wert der Rentenleistung dadurch um 74 Prozent erhöht ist. Erhielt 1960 ein Durchschnittsrentner Leistungen im Wert von 140 000 Euro, so sind es heute 244 000 Euro. Da stellt sich schon die Frage: „Wer soll und kann das bezahlen?“, zumal aufgrund der niedrigen Geburtenrate die Zahl derjenigen, die Beiträge zahlen, stetig sinkt, während die Zahl der Rentner und Rentnerinnen steigt. ({5}) Ein Weg, diese Kosten aufzufangen, ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters bei denen, die gesundheitlich dazu in der Lage sind. So können die Beiträge einigermaßen stabil gehalten werden. Je mehr Beschäftigte ihre Zeiten als versicherte Beschäftigte ausdehnen, desto günstiger wird das Verhältnis der Zahl der Rentenempfänger zur Zahl der Beitragszahler. Diese Chancen für zukünftige Rentner und Rentnerinnen hat die Linke offensichtlich nicht verstanden. Ich verweise auf ein Gutachten von Professor Bomsdorf. Er hat nachgewiesen, dass der Anstieg des gesetzlichen Rentenzugangsalters nicht zwangsläufig zu Rentenkürzungen führen muss; denn wer aufgrund eines unsteten Erwerbsverlaufs - davon gibt es viele - oder eines späteren Eintritts in das Erwerbsleben länger arbeiten kann und will, hat die Chance, eine höhere Rente zu erreichen. Der Grund dafür: Die Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors wird reduziert. Wir alle wissen: Ältere Beschäftigte sind heute im Durchschnitt gesünder und leistungsfähiger als Gleichaltrige in früheren Jahren. Der altersbedingte Rückgang der Leistungsfähigkeit kann durch Erfahrungswissen ausgeglichen werden. Viele Ältere wollen auch nicht aufs Altenteil gedrängt werden. Sie wollen einen flexiblen Renteneintritt. Diese Älteren - Herr Kolb, damit komme ich zu Ihrem Beitrag - empfinden die heutigen starren Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen als diskriminierend, wie die Klage der Lufthansa-Piloten zeigt. ({6}) Aber hier ist nicht die Politik gefordert. Hier sind die Tarifparteien gefordert, die Arbeits- und Tarifverträge zu ändern. ({7}) Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, früher mit Abschlägen und später mit Aufschlägen in Rente zu gehen. Was Sie wollen, gibt es eigentlich schon; die Tarifparteien müssen mitmachen. Auch im Interesse der Chancengerechtigkeit zwischen den Generationen ist es angemessen, dass die gewonnenen Jahre nicht allein zur Verlängerung des Rentenbezugs, sondern auch für eine längere Erwerbsphase genutzt werden. Das gilt umso mehr, als die abnehmende Zahl der Erwerbspersonen zu einem großen Mangel an qualifizierten Fachkräften führt. An dieser Stelle ist die Verantwortung der Unternehmen gefragt. Sie müssen sich auf einen längeren Verbleib von Älteren im Erwerbsleben einstellen. ({8}) Dennoch ist ein Umdenken in den Betrieben längst noch nicht verbreitet. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt: Der Arbeitskräftemangel droht zur Beschäftigungs- und Wachstumsbremse zu werden. Im Raum München fehlen Fachkräfte für Banken und Versicherungen. Der Verband deutscher Maschinenbauer beklagt einen Mangel an Facharbeitern. Auch in den Gesundheitsberufen bleiben Stellen 42 Tage unbesetzt, weil Fachkräfte fehlen. Das sind nur einige Beispiele. Dies ist in der branchenspezifischen Fachkräftepolitik zum großen Teil nicht berücksichtigt worden. Es ist die Frühverrentung, die den Betrieben das Know-how der Älteren genommen hat. Die Unternehmen sind künftig noch mehr auf qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen und müssen sich schnellstens auf eine ältere Belegschaft einstellen. Betriebliche Maßnahmen zur Förderung von lebenslanger Weiterbildung und zur Gesundheitsförderung müssen zum Selbstverständnis von Betrieben gehören. Die demografischen Veränderungen sind kein rein deutsches Phänomen. Darum nehmen am Wettbewerb um die klügsten Köpfe auch andere Länder teil. Es wäre zu kurz gedacht, in erster Linie nach jungen Fachkräften aus dem Ausland zu rufen. Da unterstütze ich insbesondere das, was Minister Müntefering vorhin gesagt hat. Aber wir brauchen beides: Wir brauchen Zuwanderung und wir brauchen Strategien der Betriebe zur längeren Beschäftigung von Älteren. ({9}) Die grüne Fraktion hat sich intensiv mit der Frage auseinander gesetzt, ob es nicht sinnvoll ist, zunächst für die bessere Integration von Älteren ins Erwerbsleben zu sorgen und erst danach ein höheres Rentenalter zu beschließen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn die schrittweise Anhebung der Rentenaltersgrenze planbar wird. ({10}) Die Unternehmen wissen: Sie müssen mehr für die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer Beschäftigten tun, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ältere Beschäftigte profitieren davon, wenn ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch sie müssen sich darauf einstellen, ihre individuelle Arbeitsfähigkeit länger zu erhalten - so weit, so gut. Und was tut die Bundesregierung? Sie verhält sich wie so oft widersprüchlich. Einerseits ist sie bereit, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen; andererseits setzt sie noch immer auf die falschen Signale. Ich nenne nur die Verlängerung der 58er-Regelung, ({11}) die Möglichkeit, dass 15 000 Beamte aus den ehemaligen Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können, ({12}) oder eine Stichtagsregelung für Altersteilzeitverträge, damit diese Personen nicht von der Anhebung der Altersgrenze betroffen sind. Gerade diese offene Flanke löste in den letzten Tagen in vielen Großunternehmen Hektik in Richtung Altersteilzeit nach dem Blockmodell aus. So wurden viele ältere Beschäftigte in den letzten Wochen dazu aufgefordert, kurzfristig einen Vertrag zur Altersteilzeit zu unterschreiben, um frühzeitig in Rente zu gehen. Und dieses „Dezemberfieber“ haben Sie, lieber Herr Minister Müntefering, zu verantworten. ({13}) Sie sind nicht glaubwürdig, wenn Sie auf der einen Seite den Anstieg des Rentenalters vorschlagen, aber gleichzeitig auf der anderen Seite die Türen für eine Fortsetzung der Frühverrentungspraxis weit öffnen. Akzeptanz erfordert auch Konsequenz, Herr Minister. Eine konsequente Abkehr von der Frühverrentungspraxis ist das beste Mittel, das Rentendurchschnittsalter ansteigen zu lassen. Schon jetzt hat sich durch den erschwerten Zugang zur Frühverrentung der Anteil von Männern, die mit 60 Jahren in Rente gehen, halbiert. Auch das tatsächliche Renteneintrittsalter für Altersrenten ist auf 63,2 Jahre angestiegen. Und das sollten Sie nicht aufs Spiel setzen. Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die Beitragssätze und entlastet die nachkommende jüngere Generation, die mit weniger Personen mehr Renten finanzieren muss. Die Linksfraktion ignoriert das Problem der gestiegenen Rentenlaufzeiten und gibt deshalb auch keine Antwort auf die Frage, wie die Belastung zwischen Jungen und Alten gerechter gelöst werden kann. ({14}) DGB, FDP und Linke verschließen die Augen vor der Zukunft. Meine Fraktion wird sich dieser Verantwortung stellen - und das auch in der Opposition. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ CSU-Fraktion.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, zunächst einmal Respekt: Sie haben in Ihrer Rede vieles angesprochen, für das Sie auch den Applaus unserer Fraktion bekommen haben. ({0}) - Ja, genau. Das zeigt: Die Grünen sind weit näher an der Realität - möglicherweise auch durch sieben Jahre Regierungsbeteiligung -, als es die Linkspartei nach wie vor ist. Meine Damen und Herren der Linkspartei, Sie haben da noch einen langen Weg vor sich. Das Bundeskabinett hat gestern den Gesetzentwurf zur Rente mit 67 beschlossen. Das geschieht nicht aus einer Laune heraus. Die Lage der gesetzlichen Rentenversicherung ist äußerst angespannt. Sie wird sich weiter verschlechtern, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden. Union und SPD haben die Ursachen erkannt und benannt. Zum einen ist da die bis vor etwa einem Dreivierteljahr stark gestiegene Arbeitslosigkeit, die mit einem Aderlass bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen einhergeht. Eine Rentenpolitik für die Zukunft muss deshalb immer auf mehr Wachstum und Beschäftigung zielen. Arbeitsminister Müntefering hat in seiner Rede vorhin ausgeführt: Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es uns gelingt, Arbeit zu schaffen. Kollege Lafontaine, Sie haben dazu heftig applaudiert. Das habe ich wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ich habe in Anspielung an das Musical „My Fair Lady“ gedacht: Mein Gott, jetzt hat er’s! Mein Gott, jetzt hat er’s! ({1}) - Bei Ihnen rötet es höchstens. Zum anderen steigt die Lebenserwartung kontinuierlich. Heute beträgt sie bei Männern circa 76 Jahre, bei Frauen 81 Jahre. Bis zum Jahre 2030 wird sie bei Männern voraussichtlich 83,4 Jahre, bei Frauen 87,6 Jahre betragen. Das heißt, im Schnitt wird sie um circa sechs Jahre höher als heute liegen. Das wirkt sich auch auf die durchschnittliche Rentenbezugsdauer aus. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer ist von 1960 bis heute um durchschnittlich 70 Prozent angestiegen. Wir werden sechs bis sieben Jahre älter als diejenigen, die 1960 vergleichbar alt waren. Wir arbeiten aber im Schnitt nicht sechs Jahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Setzt sich diese Entwicklung fort, wird der Rentenbeitrag ohne weitere Reformmaßnahmen langfristig die Grenze von 22 Prozent überschreiten. Die Probleme der Rentenkassen sind zum Teil aber auch hausgemacht. Obwohl die Rentenversicherung in den letzten Jahren massiv unterfinanziert war, wurde der Rentenbeitrag bei 19,5 Prozent stabilisiert. Das ging nur, indem die Rücklagen der Rentenkassen zwischen 2002 und Ende 2005 von knapp 14 Milliarden Euro auf rund 1,8 Milliarden Euro abgeschmolzen wurden. Zwischenzeitlich war die Finanzdecke so dünn, dass im September 2005 sogar erstmals ein 900-Millionen-Euro-Darlehen des Finanzministers nötig wurde. Wir werden deshalb den Beitragssatz zur Rentenversicherung wie geplant auf 19,9 Prozent heraufsetzen, obwohl die Beiträge wegen des Aufschwungs am Arbeitsmarkt zurzeit etwas reichlicher fließen. So können wir die Schwankungsreserve aufstocken, um für schwierigere Zeiten wieder besser gewappnet zu sein. Wir sehen, das Rentenproblem ist äußerst komplex. Weihnachten rückt zwar näher, aber eine Lösung lässt sich nicht von heute auf morgen auf den Gabentisch zaubern. Wir müssen sie schon selbst finden. Deshalb haben wir uns gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, darunter so vorausschauende Maßnahmen wie die Rente mit 67. Alles andere wäre verantwortungslos gegenüber den nachfolgenden Generationen. So möchte ich insbesondere die Schüler und die jungen Leute auf den Tribünen hier im Bundestagsplenum bitten, sich klar zu machen: Wenn wir nicht gegensteuern, wird Ihre Rente weniger als die Hälfte der Kaufkraft haben, die die heutigen Rentner noch zur Verfügung haben. Hier gilt es, ein Stück weit Generationenverantwortung zu zeigen. - Hier gilt es aber auch, gemeinsam gesamtpolitische Verantwortung wahrzunehmen, statt zu populistischen Parolen, die heute Anklang finden, zu greifen. Vielmehr muss für die nächste Generation vorausschauend auf Basis der vorliegenden Berechnungen geplant werden, um das System zu retten. ({2}) Mit kurzfristig positiv klingenden Parolen, lieber Herr Lafontaine, trägt man nur dazu bei, die Leute zu verdummen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie sagen dazu Nein, wie Sie zu fast allem Nein sagen, was unser Land voranbringt, und beweisen damit wieder einmal allenfalls den Horizont einer Käseglocke. Sie nutzen die Verunsicherung von Menschen aus, die sich auf neue Situationen einstellen müssen. Sie versprechen den Leuten sozialistische Wärmestuben, in denen bei möglichst wenig Eigenleistung alles so bleibt, wie es ist, lehnen sich in Ihrem Ohrensessel zurück und warten auf die Wähler, die da kommen sollen - und nachher die Zeche der Linken bezahlen müssen. Was wollen Sie denn wirklich? Wollen Sie höhere Beiträge? Dann haben wir zwar höhere Einnahmen in der Rentenkasse, aber auch höhere Lohnzusatzkosten. Wollen Sie niedrigere Renten? Dann hätten wir zwar weniger Ausgaben - ich habe es ausgeführt -, aber niedrigere Renten wollen Sie sicher genauso wenig wie wir. ({3}) Genau deshalb haben wir Rentenkürzungen ja gesetzlich ausgeschlossen. Ansonsten wäre dies jetzt zu prüfen, da faktische Lohnkürzungen aufgrund der an den Nettolohn gekoppelten Rente zwangsläufig zu Rentenkürzungen führen müssten. Oder wollen Sie noch mehr Staat, wollen Sie den Bundeszuschuss weiter anheben und damit künftige Generationen noch stärker belasten? Zugegebenermaßen habe ich diesen Eindruck bei Ihnen manchmal. Sie sehen also, so viele Werkzeuge, die Rentenkasse wieder ins Lot zu rücken, gibt es nicht. Genau da ist trotz all der Einschnitte, die das im Einzelfall mit sich bringen mag, die längere Lebensarbeitszeit das Mittel der Wahl. Es hilft nichts, darauf hinzuweisen, dass wir innerhalb der Europäischen Union das einzige Land sein werden, in dem das Eintrittsalter zur gesetzlichen Rente bei 67 Jahren liegen wird. Es geht hier nicht nach unseren Wünschen. Natürlich würde jeder liebend gerne mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Es geht vielmehr um die reale Notwendigkeit einer abgesicherten Rentenversicherung auf lange Sicht. ({4}) Sie haben im Schlusssatz Ihres Antrags ausgeführt: Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Damit geht die Rente mit 67 auch an den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. Ja, das muss sie leider. Natürlich würde auch ich liebend gern mit 50 Jahren in Rente gehen und mir diese vom Staat bezahlen lassen. Aber so geht es nicht. Wir sind hier nicht in einem Wunschkonzert, meine Damen und Herren. Politik ist die Kunst des Machbaren und nicht nur des Wünschenswerten. ({5}) Das Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2005 bescheinigt uns, dass durch die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters das zahlenmäßige Verhältnis der Rentner zu den Erwerbstätigen langfristig günstiger ausfallen wird. Über den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel ergibt sich eine höhere Rentenanpassung. Zudem erwerben die Versicherten wegen der längeren Lebensarbeitszeit zusätzliche Entgeltpunkte. Für Versicherte, die bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten, werden deshalb auf lange Sicht die Rentenansprüche steigen. Die Kollegen von der Linkspartei dagegen tun so, als würde die abschlagsfreie Rente mit 67 von jetzt auf gleich die soziale Gerechtigkeit im Lande dahinraffen. Erstens wird sie das nicht tun; im Gegenteil. Zweitens werden Sie nicht morgen damit aufwachen. Wir haben diese Maßnahme aus dem Grund so früh angekündigt, dass sich die Menschen darauf einstellen können. So ist für einen verfassungskonformen Vertrauensschutz gesorgt: In den Jahren 2007 bis einschließlich 2011 wird nichts passieren. Im Jahr 2012 beginnt der Anstieg um einen Monat pro Jahr. Wer dann 65 Jahre alt ist, bekommt seine Rente mit 65 Jahren und einem Monat. - Die große deutsche Tageszeitung mit den vier Buchstaben hat das in ihrer heutigen Ausgabe auf Seite zwei oben rechts berechnet - für all diejenigen, die das noch einmal nachlesen wollen. - Das wird so über zwölf Jahre gehen. Dann ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschließend geht es in schnellerem Tempo mit zwei Monaten pro Jahr weiter, bis zum Jahr 2029. Für die Geburtenjahrgänge ab 1964 gilt dann die Regelaltersgrenze von 67 Jahren. Die Regelaltersgrenzen werden grundsätzlich auch in den übrigen Rentenarten im Vergleich zur bisherigen Regelung entsprechend um zwei Jahre angehoben. Das gilt zum Beispiel für die Rente der Bergleute, bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen sowie für die Witwen- und Witwerrente. Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass diejenigen, die mindestens 45 Versichertenjahre durch Beschäftigung, Kindererziehungszeiten bis zum dritten Lebensjahr des Kindes und Pflege erreicht haben, auch in Zukunft abschlagsfrei mit 65 in Rente gehen können. Das heißt, der Maurer, der mit 18, 19 oder 20 Jahren seine Ausbildung beginnt und anschließend arbeitet ({6}) - rechnen können Sie ja offensichtlich nicht; das haben Sie schon als Finanzminister bewiesen, Herr Lafontaine; ({7}) gut, dass Sie damals als Finanzminister ausgeschieden sind; das war ein Segen für Deutschland -, ({8}) hat mit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungsjahre erreicht und bekommt jetzt und in Zukunft mit 65 Jahren seine unreduzierte Rente. Wer also mit 16 Jahren zu arbeiten beginnt, hat etwa 49 Jahre Zeit, um 45 Pflichtjahre zu erreichen. ({9}) Alle, die das gesundheitlich nicht schaffen, können die so genannte Erwerbsminderungsrente in Anspruch nehmen. Für erwerbsgeminderte Versicherte mit einer durchgängigen Erwerbsbiografie bleibt es beim Referenzalter 63 Jahre. Danach können 63-jährige Versicherte mit 35 Beitragsjahren bis zum Jahr 2023 weiter abschlagsfrei eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Ab dem Jahr 2024 gilt dies nur noch für 63-jährige erwerbsgeminderte Versicherte, die 40 Beitragsjahre erreicht haben. Dabei ist allerdings anzumerken: Wer Erwerbsminderungsrente erhält und mit 65 Jahren ausscheidet, muss von denen finanziert werden, die zu diesem Zeitpunkt arbeiten und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Deshalb müssen die, die es können, aus Gründen der Solidarität bis 67 arbeiten. Wir sind uns bei unseren Reformbemühungen natürlich immer bewusst, dass wir das Renteneintrittsalter nur dann anheben können, wenn, wie bereits ausgeführt, sich die Erwerbstätigenquote der Älteren erhöht. Wir hatten dieses Thema schon auf Antrag der Linken in einer Aktuellen Stunde am 9. Februar 2006 in diesem Hause. Kollege Klaus Ernst hat damals aus unserem Wahlprogramm zitiert - das ehrt uns natürlich - und ausgeführt: Nun zur Union: Im Wahlprogramm heißt es: „Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“ ({10}) Dann führt Kollege Ernst weiter aus: 5 Millionen Arbeitslose stellen wohl eine tolle Lage auf dem Arbeitsmarkt dar. Die haben wir nämlich gerade. ({11}) Aber jetzt beschließen Sie es. Sind Sie so prophetisch, um jetzt schon zu wissen, was in zehn Jahren los ist? Ich kann nur sagen: Wenn man so Politik macht und die Aussagen von vor zwei Jahren, vor einem Jahr und sogar drei Monaten nicht mehr ernst nimmt, dann kann ich nur noch sagen: Furchtbar. Herr Ernst, furchtbar ist, dass Sie im Frühjahr von 5 Millionen Arbeitslosen ausgegangen sind. Jetzt sind es aber 3,995 Millionen Arbeitslose; das hatten Sie nicht vorgesehen. ({12}) - Das sind die heutigen Zahlen; vielleicht können Sie sich diesbezüglich einmal kundig machen. Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Erst danach können Sie Entscheidungen treffen. - Wir haben aktuell eine Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent. Das sind 0,2 Prozentpunkte weniger als im letzten Monat und 530 000 weniger als im November 2005. Im Oktober 2006 hatten wir mit knapp über 4 Millionen Arbeitslosen noch eine Quote von 9,8 Prozent. Nun zur FDP. Sie hatten vorhin ausgeführt, dass diese Zahlen nicht nur auf unsere erfolgreiche Arbeit zurückzuführen sind. Es fällt aber auf, dass es in den letzten beiden Jahren von Oktober auf November sinkende Arbeitslosenzahlen gab: Für das Jahr 2006 waren es im November 90 000 Arbeitslose weniger als im Oktober und für das Jahr 2005 waren es 25 000 Arbeitslose weniger. Letztmalig war dies 1994 der Fall. Da gab es im November 17 000 Arbeitslose weniger als im Oktober. - Es fällt ebenfalls auf, dass in diesen Jahren die Union mitregiert hat. Jetzt kann man natürlich sagen, dass man uns die Zahlen für 2005 nicht „anlasten“ kann. Das mag sein. Ich will auch nicht so weit gehen und sagen: Wenn im November die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht. ({13}) Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, die sozialen Sicherungssysteme - insbesondere die Rente mit der Einführung der Rente mit 67 - berechenbar zu machen, damit die junge Generation eine Aussicht auf eine entsprechende Rente hat. Gestern hat sich der Kollege Schui von der Linksfraktion vehement gegen den Investivlohn ausgesprochen. ({14}) - Ja, das war gestern. So schlecht ist Ihr Gedächtnis. Wir prüfen alles, was eine vernünftige Alterssicherung der jetzigen und der zukünftigen Arbeitnehmer ermöglichen kann. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner sind unzufrieden, weil sie nicht mehr akzeptieren können, dass in immer größerem Umfang in ihre Besitzstände eingegriffen wird. Das geht schon seit vielen Jahren so. Nach den Prognosen haben sie fünf Jahre lang Nullrunden zu erwarten. Aber hier kann man den Eindruck gewinnen, als gebe es überhaupt kein Problem, als sei alles in bester Ordnung. ({0}) Auf diese Weise kann man völlig über die Köpfe der Bevölkerung hinwegreden und von der Wirklichkeit abheben. ({1}) Es sind nicht nur die vielen Rentnerinnen und Rentner, die Sorgen haben, sondern es sind auch die aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie haben folgende Perspektive: Sie können nur immer geringer werdende Rentenzahlungen erwarten und haben die Sorge - die Arbeitsmarktzahlen sind nun einmal so, wie sie sind -, dass sie mit 55 keine Arbeit mehr finden und unter Hartz IV fallen. Das ist eine sehr schlechte Zukunftsperspektive. Sie wundern sich hier, dass die Hälfte der Bevölkerung sagt, dass sie mit dem Funktionieren unserer Demokratie nicht mehr zufrieden ist, und dass zwei Drittel der Bevölkerung sagen, dass es ungerecht zugeht. In diesem Hause ist alles eitel Sonnenschein. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die ganze Debatte nicht mehr. ({2}) Was wir heute hier diskutieren, hat eine Vorgeschichte. Da ist zunächst einmal die Finanzierung der deutschen Einheit. Ich möchte für die Rentnerinnen und Rentner, die jetzt zuhören - nicht für Sie; bei Ihnen habe ich die Hoffnung aufgegeben -, daran erinnern, dass man die deutsche Einheit über die Abgaben finanziert hat. Damit hat man drei Beitragssatzpunkte zusätzlich in Kauf genommen. Das DIW hat es ausgerechnet: Das sind pro Jahr mehr als 25 Milliarden Euro. In der Summe hat man 400 Milliarden Euro auf diese Weise umverteilt. - Es wäre richtig gewesen, die Vermögenden der Republik heranzuziehen und die Finanzierung nicht den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufzubürden, die in dieser Republik ihre Knochen hinhalten. ({3}) Das zweite Fummeln an der Rentenkasse war die Einführung der Riesterrente, die hier wieder gelobt worden ist. Ich kann diese Lobeshymnen nicht verstehen; denn es wurde hier vorgetragen: Die Riesterrente war notwendig, weil sonst die Beiträge nicht mehr bezahlbar gewesen wären. - Alle Redner haben aber vergessen, hinzuzufügen, dass es hier um die Bezahlbarkeit der Beiträge für die Unternehmer gegangen ist, also um eine Begrenzung der Arbeitgeberbeiträge, und dass der Schwindel mit der Riesterrente darin besteht, dass man den Rest den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgebürdet hat ({4}) und dass nur diejenigen die Riesterrente in Anspruch nehmen können, die das Geld für die Beiträge haben. Die Menschen mit einem Niedriglohn von 3,15 Euro, von denen vorhin der Arbeitsminister gesprochen hat, können die Beiträge für die Riesterrente nicht bezahlen. Auch das blenden Sie aus. Ein weiterer Punkt. Sie haben zugelassen, dass es in diesem Land Minijobs in ausufernder Weise gibt. Das Ergebnis ist, dass die Sozialkassen immer leerer geworden sind. Jetzt wundern Sie sich, dass Druck auf der Rentenkasse lastet, und wollen mit Rentenkürzungen reagieren. Sie haben die Probleme doch sozusagen herbeibeschlossen, die es jetzt zu lösen gilt. Aber Sie wollen sie wieder auf eine falsche Art lösen. ({5}) Ich muss sagen: Die Arroganz und die Selbstgefälligkeit, mit der hier vorgetragen und auf die demografische Entwicklung verwiesen wird, ist deshalb unerträglich, weil Sie die relevante Größe, die hier zu behandeln ist, schlicht und einfach völlig ausblenden. ({6}) Die relevante Größe, die es hier zu behandeln gilt, ist das Realwachstum auf der einen Seite und das Wachstum der Produktivität auf der anderen Seite. Wer diese beiden Kennziffern nicht nennt, soll den Mund halten, wenn er über die Rentenkassen spricht. ({7}) Sie sind schlicht und einfach nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Ich will ausführen, wie es in den letzten Jahren war. Wir hatten in den letzten Jahren ein Realwachstum von 1,4 Prozent und einen Produktivitätsanstieg von 1,9 Prozent. Die Frage, die jeder zu beantworten hat, ist: Wie kann man auf ein Realwachstum von 1,4 Prozent und ein deutlich stärkeres Anwachsen der Produktivität mit einer Verlängerung der Arbeitszeit antworten? Wer das tut, muss schon bescheuert sein; das muss ich in aller Klarheit sagen. ({8}) Auch wenn Sie die Grundrechenarten nicht mehr beherrschen, sollten Sie sich mit den relevanten Daten der ökonomischen Entwicklung beschäftigen. Dann kommen Sie zu anderen Ergebnissen. Sie werden mit einer Verlängerung der Arbeitszeit - ob es die tägliche oder die Lebensarbeitszeit ist - die Probleme nicht lösen, weil relevante ökonomische Daten schlicht dagegensprechen. Nur, Sie nehmen sie nicht zur Kenntnis; das ist Ihr Problem. ({9}) Es wird immer wieder gefragt: „Was ist Ihr Gegenmodell?“ Ich möchte darauf verweisen, dass die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die Arbeitseinkommen zu einer Zeit eingeführt wurde, als die Einkommen zu 90 Prozent aus Arbeitseinkommen und zu 10 Prozent aus Vermögens- und Unternehmenseinkommen bestanden. Mittlerweile hat sich die Welt total verändert. Mittlerweile bestehen die Einkommen zu 60 Prozent aus Arbeitseinkommen und zu 40 Prozent aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen; das sind die groben Zahlen. In einer solchen Situation gibt es nur eine einzige Antwort: Man kann die sozialen Sicherungssysteme nicht allein und in erster Linie über die Arbeitseinkommen finanzieren. Wir müssen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen endlich in entsprechendem Umfang zur Finanzierung der Sozialkassen heranziehen. ({10}) Wenn Sie wissen wollen, wo das funktioniert, dann sollten Sie in die Schweiz fahren und das dortige Gesetz abschreiben. Dort ist vor vielen Jahren eine Bürgerversicherung eingeführt worden ist, die Umverteilungselemente enthält und eine vernünftige Basisversorgung der Bevölkerung sicherstellt. Genau das ist unser Vorschlag. Das, was Sie jetzt versuchen, wird letztendlich zu nichts anderem als zu Altersarmut führen. Eine letzte Bemerkung. Es ist immer davon die Rede, dass Sie große Sorgen in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit haben. Diese hat auch etwas mit dem Anwachsen des Rechtsradikalismus zu tun. Wenn man aber Lösungen vorlegt, die dazu führen, dass die Älteren gezwungen werden, länger auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, und dies zum Ergebnis hat, dass die Jüngeren später auf den Arbeitsmarkt kommen, dann ist das keine adäquate Antwort. Eine Diskussion, die wir mit Schichtarbeitern geführt haben, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Ein Schichtarbeiter hatte sich während dieser Diskussion gemeldet und gesagt: Wenn man uns zwingt, länger zu arbeiten, bedeutet das eine Verkürzung unserer Lebenszeit. - Darüber sollten Sie einmal nachdenken. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gregor Amann, SPDFraktion. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal beneide ich die Kollegen der Linksfraktion. ({0}) Wenn unser einer hier im Plenum reden soll, dann muss er Zahlen und Daten ermitteln, Argumente sammeln und überlegen, wie er den Rest des Hauses überzeugen kann. Bei der Linksfraktion ist es anders. Ihre Kollegen gehen in die Fraktionsgeschäftsstelle und sagen: Gib mir einmal die Rede zur Rente mit 67! Gib mir einmal unsere Rede zur Gesundheitspolitik! - Dann wird dieselbe Rede wieder und wieder in diesem Hause vorgetragen; ich kenne sie alle schon auswendig. ({1}) Dabei ist es egal, ob der Redner Schneider oder Lafontaine heißt. Es ist immer wieder dasselbe. Das war auch so bei Ihrer Rede zur Rentenpolitik. Der vorliegende Antrag ist Ihre Standardrede zur Rente; nur, dieses Mal steht eine Drucksachennummer des Bundestages darüber. Es steht nichts Neues drin. Sie reden wieder von Rentenkürzungen, Altersarmut und ArbeitsloGregor Amann sigkeit. Das hat mit der Realität so viel zu tun wie die Seifenopern im Privatfernsehen. ({2}) Worum geht es bei der Rente mit 67? Die Schlüsselwörter sind: Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. ({3}) Unser Rentensystem ist ein Solidarvertrag zwischen den Generationen. Eine Generation bezieht die Rente, während die andere Generation sie mit ihren Beiträgen finanziert, bis sie dann selbst aus dem Arbeitsleben ausscheidet und von der nachfolgenden Generation eine Rente bezieht. Bundesminister Müntefering hatte Recht: Das deutsche System der Alterssicherung ist vorbildlich. Aber dieser Generationenvertrag funktioniert nur, wenn es für alle Beteiligten fair und gerecht zugeht. Wenn das System nicht fair und gerecht ist, wenn also zum Beispiel das Rentenniveau so sinkt, dass Altersarmut doch ein Thema wird, oder wenn die Beitragszahlungen für die arbeitenden Menschen so exorbitant steigen, dass ihnen keine Luft zum Atmen bleibt, dann ist die Folge: Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Rentenversicherung und der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr. Genau diese Entwicklung war vorhersehbar. Konrad Adenauer sagte einmal im Bundestag: Kinder bekommen die Leute immer. - Heute, nach wenigen Jahrzehnten, wissen wir: Adenauer irrte sich. Zwei demografische Entwicklungen nehmen die Rentenversicherung nämlich in die Zange - ich muss es nicht lange ausführen; meine Vorredner haben das schon getan -: Die Geburtenrate sinkt dramatisch und die Lebenserwartung, und damit die Rentenbezugsdauer, steigt an. Diese beiden Entwicklungen würden in absehbarer Zeit dazu führen, dass der Generationenvertrag nicht mehr funktioniert, weil er für die eine bzw. die andere Seite unfair oder ungerecht werden würde. Genau darauf hat die große Koalition reagiert. Wir haben das gemacht, was eigentlich logisch ist: Wenn die Lebenserwartung und damit die Rentenbezugsdauer ansteigen, dann muss der mittlere Block, die Lebensarbeitszeit, ebenfalls verlängert werden. Das ist nicht unbedingt populär, aber es ist sinnvoll, notwendig und eine wichtige Entscheidung, mit der die Generationengerechtigkeit in unserem Alterssystem erhalten werden kann. Übrigens - das ist in dieser Debatte bisher noch gar nicht erwähnt worden und in Ihrem Antrag schon gar nicht - enthält der Gesetzentwurf, ({4}) der noch eingebracht wird, auch eine Bestandsprüfungsklausel: Ab dem Jahr 2010 hat die Bundesregierung dem Parlament alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung der älteren Arbeitnehmer zu berichten. Sollten Ihre Befürchtungen dann doch eintreten, könnte rechtzeitig gegengesteuert werden. Der Kollege Lehrieder hat zu Recht auf den letzten Satz Ihres Antrags verwiesen. Ich werde ihn deswegen noch einmal vorlesen: Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Ich kann Ihnen noch eine weitere Erkenntnis mitteilen: 96 Prozent aller Menschen essen lieber Schokoladeneis als Lebertran. ({5}) Das ist Ihre Politik; es ist eine Politik nach Meinungsumfrage. Sie reden den Menschen nach dem Mund, ({6}) blenden aber die Realität aus. ({7}) Wir sagen den Menschen die Wahrheit, auch wenn sie bitter schmeckt. ({8}) Aber wir sorgen so dafür, dass der Solidarvertrag der Rentenversicherung für alle Generationen gerecht und fair bleibt. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPDFraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Lafontaine, was wirklich unerträglich ist, das kann ich Ihnen deutlich sagen: dass Sie so plakativ, so populistisch daher kommen wie die Zeitung mit den großen Buchstaben, für die Sie gearbeitet haben. Das ist unerträglich. ({0}) Damit verunsichert man die Menschen, damit schürt man Ängste und Sozialneid - in dieser Beziehung sind Sie übrigens großartig, ohne Zweitel -, aber das bindet die Gesellschaft nicht zusammen, es bildet keine Klammer, sondern differenziert weiter aus. Genau das finde ich unerträglich und das haben Sie ohne Zweifel hier heute wieder gemacht. ({1}) In solchen Anträgen geht die Linksfraktion immer davon aus, dass es sich dabei ausschließlich um eine finanzpolitische Frage handelt, also um die Frage: Wie finanzieren wir Systeme? ({2}) Die gesellschaftspolitische Frage, die hinter dem demografischen Problem steckt, blenden Sie permanent aus. Diese Gesellschaft wird älter, Gott sei Dank. Franz Müntefering sagt an dieser Stelle immer: Hoffen wir, wir sind dabei. - Ich hoffe es besonders für dich, Franz. Du bist ja noch dabei, Gott sei Dank. ({3}) Mit Blick auf die Initiative „50 plus“ - zu ihr komme ich gleich - kann man wirklich „Gott sei Dank“ sagen, weil wir mit dieser Initiative wirklich Herausragendes geleistet haben, vor allen Dingen Franz Müntefering. Die Gesellschaft wird immer älter; diejenigen, die nachkommen, werden immer weniger. Wir haben die Systeme nie angepasst; die Beispiele sind eben genannt worden. In den 60er-Jahren ist die Rente im Schnitt zehn Jahre lang ausgezahlt worden; mittlerweile sind wir bei 17 Jahren angekommen. Dazu haben übrigens all die Maßnahmen beigetragen, die wir gemeinsam gefeiert haben, wie Vorruhestand, Altersteilzeit und ähnliche. Sie haben bewirkt, dass sich die Lebensarbeitszeit verkürzt und sich die Rentenbezugszeit verlängert hat. Meine Tochter, die im Januar geboren ist, hat gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. ({4}) Ich freue mich für sie; das ist wunderbar. Wenn wir an dem System aber nichts verändern, wenn wir es nicht zukunftsfest machen, kann folgende Situation eintreten: Ich hoffe, sie wird schlauer als ihr Vater und geht studieren. Mit 25 oder 26 Jahren wird sie vielleicht fertig sein. Mit 65 schicken wir sie spätestens in Rente, mit den Instrumenten, die wir gegenwärtig haben, vielleicht sogar etwas früher. Das heißt, sie wird in den ersten 25 und den letzten 30 Jahren ihres Lebens Leistungen aus unseren sozialen Systemen erhalten. Die Zwischenzeit ist schlichtweg viel zu kurz, um das zu finanzieren. ({5}) Wir können den nachkommenden Menschen nicht sagen: Wir lassen alles so, wie es ist. - Sie haben gesagt, dass Sie alle in die Finanzierung der Erwerbstätigenrente einbeziehen wollen. Nach unserem System, dem Äquivalenzprinzip, werden alle, die Beiträge leisten, vor dem Hintergrund ihrer Beiträge Leistungen erhalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass derjenige, der im Alter Leistungen erhält, zuvor eigene Beiträge geleistet haben soll, übrigens auch Abgeordnete. Würden jetzt alle Beiträge in die Rentenkasse zahlen, würde das zwar eine kurzfristige Erhöhung der Liquidität bedeuten, langfristig aber neue Probleme verursachen. ({6}) Sie ignorieren dieses Problem schlichtweg und sagen, man könne das anders gestalten. Ihre Umverteilungspolitik ist schlicht: Wir nehmen denen, die jetzt gut verdienen, viel weg und wenn sie hohe Ansprüche erworben haben, nehmen wir ihnen die hohen Ansprüche ebenfalls weg. ({7}) Das werden Sie verfassungsrechtlich nie sauber hinbekommen, zumindest nicht in den bestehenden Systemen. Die bestehenden Systeme haben sich in der Tat bewährt. Wir müssen sie jetzt zukunftsfest machen und wir tun dies. Dass das relativ unpopulär ist, ist mir völlig klar. Niemandem von uns macht es Freude, solche Botschaften zu übermitteln. Wir setzen aber die richtigen Signale. Ich nenne hier die Initiative „50 plus“. Ich hatte gestern das Vergnügen, bei der Auftaktveranstaltung sein zu können, die der Minister organisiert hat. Diese Initiative verdeutlicht den Zweiklang, den wir immer betont haben: Auf der einen Seite steht die Zumutung, auf der anderen Seite müssen wir Chancen bieten. Die große Koalition hat sich mit der Initiative „50 plus“ auf den Weg gemacht, die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr deutlich und nachhaltig zu verbessern. ({8}) Gestern wurden Beispiele dafür angeführt, wie sich das auswirkt. Viele Unternehmen sagen bereits: Wir müssen altersgerechte Arbeitsplätze schaffen bzw. vorhalten. Wir können auf das Know-how, auf die Qualität der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der hoch qualifizierten Facharbeiterschaft in unserem Land zukünftig nicht verzichten. Wir können sie nicht vorzeitig gehen lassen. - Es ist ein positives Signal, wenn gesagt wird: Wir brauchen euch auch noch, wenn ihr älter seid; dieses Land ist auf euch angewiesen. Ich finde, das ist ein gutes Signal. Ein schlechtes Signal ist es, zu sagen: Geht mit 50 Jahren! Wir brauchen euch nicht mehr; wir alimentieren euch höchstmöglich. - Das ist ein schlechtes Signal für die Menschen und für die Gesellschaft. Wir senden ein anderes Signal. ({9}) Die Rente mit 67 ist bei uns nicht unumstritten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Schaaf, im Wahlprogramm der SPD - das ist noch gar nicht so lange her - wurde die Rente mit 65 noch vehement verteidigt. Es gab einen dramatischen Umschwung in der Meinung der SPD: Jetzt ist die Rente mit 67 das Richtige. Auf Grundlage welcher Erkenntnisse ist dieser Meinungsumschwung in der SPD innerhalb eines Jahres zustande gekommen? Könnte das damit zusammenhängen, dass die SPD bei den Wahlen ein anderes Bild zeichnen wollte? ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen, Herr Kollege Ernst. Ich wollte gerade auf diesen Punkt zu sprechen kommen. Jetzt kann ich ihn außerhalb meiner Redezeit behandeln. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass die Rente mit 67 in der SPD und in der SPD-Bundestagsfraktion nicht unumstritten ist. Die Frage, ob es vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung notwendig ist, zu handeln, ist bei uns allerdings unumstritten. ({0}) Ich sage Ihnen sehr gerne, wie die Situation aussieht. Der Kompromiss mit der Union wurde an vielen Stellen zwar relativ geräuschlos vollzogen, er war aber nicht einfach. Wir müssen schon ehrlich miteinander sein. Jeder dieser Streitpunkte hat aber wesentlich mehr Qualität als Ihr Antrag. ({1}) Diese Auseinandersetzung führen wir dann gerne gemeinsam und zielgerichtet. Lassen Sie mich zum Schluss die Altersteilzeit und den damit verbundenen Stichtag ansprechen. Ich bin Klaus Brandner für seine Initiative ausdrücklich dankbar. Sehr dankbar bin ich auch den beiden Fraktionsvorsitzenden Peter Struck und Volker Kauder, dass wir eine solche Regelung geschaffen haben. Dies gibt Zeit, alles vernünftig und vertrauensvoll abzuarbeiten. Der Zeitraum bis zum 29. November dieses Jahres war zu kurz bemessen. Wir haben diese Erkenntnis gewonnen und gehandelt. Deswegen bin ich den Akteuren sehr dankbar. Das schafft Verlässlichkeit in den Betrieben. Hier geht es um Vertrauensschutz und darum, wie man mit Kollegen umgeht. ({2}) Übrigens, Kollege Ernst, wie schnell man das Vertrauen der Kollegen verlieren kann, haben Sie in den letzten Tagen leider Gottes - ich sage ausdrücklich „leider Gottes“, weil Sie in Ihrer Funktion als Gewerkschafter betroffen sind - erfahren. Wir müssen weiter Vertrauen gewinnen. Mit den verlässlichen Übergangszeiten, die wir hinsichtlich des Renteneintritts mit 67 eingeräumt haben, und der begleitenden, vom Minister angestoßenen Initiative „50 plus“ sind wir auf einem richtigen und guten Weg. Ich freue mich auf die Debatten im Dezember zur Einbringung der Gesetze, die damit einhergehen. Dann werden wir diese Diskussion noch einmal und dann deutlich ausführlicher führen. Dann werde ich mit genau derselben Überzeugung sprechen, mit der ich jetzt dazu gesprochen habe. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2747 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung - Drucksache 16/3303 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie - Drucksache 16/3439 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie - Drucksache 16/3440 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Nach dem Wiener Gipfel - die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika solidarisch gestalten - Drucksache 16/2602 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN Verbesserung der Statistik zur Lohn- und Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Erbschaftund Schenkungsteuer - Drucksache 16/3025 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Michael Leutert, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für einen europäischen zivilen Friedensdienst - Drucksache 16/3620 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Illegitime Schulden von Entwicklungsländern streichen - Drucksache 16/3618 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6}) Finanzausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Zugriff von Geheimdiensten auf das Schengener Informationssystem der zweiten Generation verhindern - Drucksache 16/3619 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der unabhängigen Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ Der Weg in die Zukunft - Drucksache 15/3636 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der unabhängigen Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ - Der Weg in die Zukunft - Drucksache 15/3636 - Drucksache 15/5427 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 b bis 33 m auf. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 33 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ({10}) - Drucksache 16/3270 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({11}) - Drucksache 16/3634 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({12}) Maik Reichel Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3634, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der GesetzVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 33 c: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes 2007 ({13}) - Drucksachen 16/3437, 16/3651 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14}) - Drucksache 16/3643 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Simone Violka - Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/3647 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Carsten Schneider ({16}) Otto Fricke Anja Hajduk Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3643, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung angenommen. Tagesordnungspunkt 33 d: Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlTheodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Rolf Mützenich, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schutz vor Biowaffen verbessern - das Biowaffenübereinkommen stärken - Drucksache 16/3612 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 33 e bis 33 m: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 33 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 135 zu Petitionen - Drucksache 16/3527 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 135 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 33 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 136 zu Petitionen - Drucksache 16/3528 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 136 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 33 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 137 zu Petitionen - Drucksache 16/3529 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 137 ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 33 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 138 zu Petitionen - Drucksache 16/3530 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 138 ist bei Enthaltung der Fraktion der FDP mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 139 zu Petitionen - Drucksache 16/3531 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 139 ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und bei Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 33 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 140 zu Petitionen - Drucksache 16/3532 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, angenommen. Tagesordnungspunkt 33 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 141 zu Petitionen - Drucksache 16/3533 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 33 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 142 zu Petitionen - Drucksache 16/3534 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 33 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 143 zu Petitionen - Drucksache 16/3535 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Sammelübersicht 143 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung ({5}) - Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen, den Saal verlassen haben, kann ich die Aussprache eröffnen. - Darf ich Sie bitten, Ihre Gespräche vor dem Saal fortzusetzen, damit wir dem ersten Redner in der Aktuellen Stunde aufmerksam folgen können? Ich danke Ihnen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. ({6})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hat in den letzten zwei Wochen eine Reihe verwirrender und widersprüchlicher Aussagen zur Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung gegeben. Die FDP-Fraktion will Ihnen von SPD und Union und natürlich auch der Frau Ministerin heute die Gelegenheit geben, hierzu klärende Worte zu sagen. Die Bürger warten geradezu darauf. Ich darf an die Ausgangslage erinnern: Die schwarzrote Koalition hat vor einem Jahr versprochen, im Sommer des Jahres 2006 einen Gesetzentwurf zur Reform der Pflegeversicherung vorzulegen. Dieses Versprechen hat sie nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat auch Verbesserungen bei den Leistungen für Demenzkranke angekündigt. Doch auch dieses Versprechen steht auf tönernen Füßen. Denn die Ministerin hat in diesem Monat einen Beirat eingerichtet, der - nach dann zweijähriger Arbeit - Ende 2008 einen Vorschlag für einen neuen, überarbeiteten Pflegebedürftigkeitsbegriff unterbreiten soll. Gleichzeitig werden für das nächste Jahr, für 2007, großzügig Leistungsverbesserungen versprochen, auch für Demenzkranke. Allerdings haben 100 000 Demenzkranke in Deutschland nach der jetzt gültigen Definition keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, weil sie nicht einmal die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllen. Diese Kranken könnten bei der für 2007 versprochenen Reform nur dann Leistungen erhalten, wenn der Pflegebedürftigkeitsbegriff sofort verändert wird. Das soll aber - Sie haben es gehört - erst Ende 2008 geschehen. Es bleibt das Geheimnis der Gesundheitsministerin, wie sie diesen Demenzkranken helfen will. ({0}) Das Versäumnis der Ministerin liegt auf der Hand: Sie ist mehr als fünf Jahre im Amt, und die Probleme - sowohl der Finanzierung als auch der Inhalte, der Frage der Definition der Pflegebedürftigkeit, der Einstufung, der Organisation, des Bürokratieabbaus, der Transparenz und des Verhältnisses zwischen ambulanter und stationärer Pflege - sind seit langem bekannt. Das heißt, Sie hätHeinz Lanfermann ten schon vor Jahren eine Reform der Pflegeversicherung angehen müssen. ({1}) Die erneute Verschiebung, ins nächste Jahr, wird damit begründet, man müsse erst die Gesundheitsreform abwarten. Das ist natürlich nur eine Ausrede. Denn die Schubladen im Ministerium sind voll, sie quellen geradezu über - sonst würden nicht dauernd Papiere irgendwo landen, wo sie die Hausleitung nicht sehen will. In Wirklichkeit will die Ministerin die Union bei der Gesundheitsreform weich kochen, um anschließend bei der Pflegeversicherung ihrem Traum von der Bürgerzwangsversicherung ein Stück näher zu kommen. ({2}) Jetzt haben die B-Länder im Bundesrat einen Vorschlag präsentiert, wonach eine ergänzende Kapitaldeckung eingeführt werden soll: Zu den 1,7 Prozent Beitrag soll eine zusätzliche Pauschale von einigen Euro im Monat treten, die dann anwachsen soll. Dieser Vorschlag ist noch zu prüfen und zu diskutieren; aber er wäre wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung. Und sofort gibt es heftigen Streit, kommt die reflexhafte Reaktion von Frau Ferner, dass ihre Partei die Einführung einer Kopfpauschale nicht mitmachen werde. Der Kollege Zylajew sagt völlig korrekt: Im Koalitionsvertrag steht doch, dass die Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Säule ergänzt wird. Sie und die anderen Kollegen von der Union können uns gleich noch einmal bestätigen, dass es auch so kommen soll. Frau Schmidt teilt dann Ihnen mit - über die „Wirtschaftswoche“ -, dass sie von dem Modell der Unionsländer überhaupt nichts hält: Prämie? - Nein danke! Kapitaldeckung? - Teufelszeug! Alle sollen in einen Fonds einzahlen, der „Pflegefonds“ lässt grüßen. Das ist natürlich kein Zufall. Denn als Hauptanteil dieses Fonds sollen die 13 Milliarden Euro einfließen, die die private Pflegeversicherung als Vorsorge für die Zukunft zurückgelegt hat. ({3}) - Natürlich, Frau Ferner: Wenn Umverteilung zum beherrschenden Politikprinzip wird - wie bei Ihnen -, dann schreckt man offensichtlich auch nicht vor dem Zugriff auf fremde Rücklagen zurück. ({4}) Die Union übernimmt eine tragische Rolle. Nach dem Verhandlungsfiasko bei der Gesundheitsreform wird jetzt der Vorschlag, den Sie bringen, von der Ministerin sofort vom Tisch gewischt. Allerdings heißt es im Koalitionsvertrag: Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt. Ich sage Ihnen: Wer sich auf so einen Satz einlässt, der darf anschließend nicht überrascht sein, wenn das zum Einfallstor für die Bürgerzwangsversicherung wird. ({5}) Dabei ist die Pflegeversicherung die demografieanfälligste Sozialversicherung überhaupt. Hier geht die Schere zwischen den immer weniger werdenden Jüngeren - also fallendem Beitragsaufkommen - und den immer mehr werdenden Älteren und ganz Alten - also steigendem, immer schneller steigendem Finanzbedarf - am weitesten auseinander. Hier wirkt sich das falsche Konstrukt der Bürgerversicherung am verheerendsten aus. Das Wort ist eine schöne Verpackung, der Inhalt fault schnell. ({6}) Frau Ferner, die jüngere Generation erwartet gerade von der SPD-Ministerin ein klares Bekenntnis zum Prinzip der Kapitaldeckung. Denn nur so können die Kosten in der Zukunft getragen werden. ({7}) Sie werden Ihrem Koalitionspartner doch zumindest bestätigen, was im Koalitionsvertrag steht: dass es keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung geben wird, mit dem nicht zumindest in Teilen eine Kapitaldeckung der Pflegeversicherung eingeführt wird. ({8}) - Über die Privatversicherung unterhalten wir uns ein anderes Mal, Frau Ferner. Nachdem ich bei der DGBVeranstaltung mit Freuden gehört habe, dass auch Sie privat versichert sind, ({9}) sollten Sie sich jetzt nicht beschweren. Danke schön. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Grunde genommen haben die Menschen doch nur zwei Wünsche: alt zu werden und dabei jung zu bleiben. Heute werden die Menschen tatsächlich immer älter. Das ist kein Methusalem-Komplott, sondern schlichtweg schön. Wir wissen aber: Alt zu werden, ist kein reines Vergnügen. Nachlassende körperliche und geistige Kräfte, Krankheit, Angst und Tod werden mit zunehmendem Alter immer bestimmendere Lebensthemen. Als sei dies für den Einzelnen nicht schon gravierend genug, kommt diese Lebensproblematik mit vielfacher Wucht nun zusätzlich auch noch auf unsere Gesellschaft als Ganzes zu. Sicher, die demografische Entwicklung ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen, sondern sie wird immer mehr auch zum versicherungsmathematischen Problem in unserem Land. ({0}) Die Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit bei den über 80-Jährigen mit mehr als 30 Prozent fast zehnmal höher als in der Altersgruppe der Menschen zwischen 60 und 80 Jahren ist. Pflegebedürftig zu sein, heißt also, auf die Hilfe und Unterstützung durch die Familie oder andere angewiesen zu sein. Damit stellt sie immer auch ein finanzielles Risiko dar. ({1}) Die Pflegeversicherung als eine soziale Sicherung für dieses elementare Lebensrisiko ist im Übrigen - das darf an dieser Stelle einmal erwähnt werden - von einer unionsgeführten Bundesregierung eingeführt worden. Man darf durchaus nochmals sagen: Das Ziel, die Menschen mit dem Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht allein zu lassen, ist erreicht worden. Deshalb ist diese Pflegeversicherung ein wichtiger Bestandteil, auch wenn die Ausgaben die Einnahmen seit 1999 übersteigen. Trotzdem wird die Pflegeversicherung erst im Jahre 2009 an ihre Grenzen stoßen. Deshalb haben wir die soziale Pflegeversicherung auch auf die politische Agenda gesetzt. Herr Lanfermann, das, was Sie heute hier wieder von sich gegeben haben, ({2}) entspricht überhaupt nicht den Tatsachen. ({3}) Sie reden zum Beispiel von Verschleppung, obwohl Sie genau wissen, dass wir mit der Umsetzung der Roadmap für die Pflegeversicherung bereits begonnen haben. Sie wissen, dass die Pflegeversicherung zur Mitte dieses Jahres nach langer Zeit der Defizite sogar wieder einen Überschuss hatte, weil sich die Einnahmen durch die Beitragspflichtigen so gut entwickelt haben, was mit der erhöhten Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zusammenhängt. Die Konjunktur schlägt hier auf der Einnahmeseite ebenfalls durch. Das ist wichtig und richtig. ({4}) Deshalb ist das kein Verschleppen. Im Gegenteil, wir arbeiten an dieser Reform. ({5}) Dass dies nicht nur leere Worte, sondern auch Taten sind, können Sie an unserem derzeitigen Entwurf für eine Gesundheitsreform sehen. Dieser enthält viele Aspekte, die den Pflegebedürftigen in diesem Land helfen. Ich nenne nur folgende Stichworte: Reha vor Pflege, Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung, Veränderung des Häuslichkeitsbegriffs in der ambulanten Krankenpflege, Präzisierung des Anspruchs auf Hilfsmittel in stationären Einrichtungen, verbessertes Entlassmanagement der Krankenhäuser. Das alles kommt den Menschen zugute. Sie haben auch die Koalitionsvereinbarung angesprochen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, was dazu drin steht. ({6}) Zum Ersten wollen wir die Erwerbstätigen mit der Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung nicht überfordern. Deshalb müssen wir die Einnahmen und Ausgaben der Pflegeversicherung sehr sorgfältig überprüfen und seriöse Antworten geben. Wer die Einnahmeseite unberührt lassen will, der muss den Menschen auch offen sagen, dass die Leistungen auf Dauer gekürzt oder sukzessive immer mehr Menschen wieder in die Sozialhilfe abrutschen werden. Das ist nicht unser Ziel. Deshalb ist dies auch keine Lösung. ({7}) Zum Zweiten wollen wir die Generationengerechtigkeit ausbauen, und zwar in zweifacher Hinsicht: innerhalb der Generationen und zwischen den Generationen. Mit der Abgrenzung zwischen Familie und Menschen ohne Kinder ist der erste Schritt in der Beitragsbemessung bereits erfolgt. Aber für die dauerhafte Akzeptanz des Systems werden wir zukünftig ohne Ergänzung des Umlageverfahrens ({8}) durch kapitaldeckende Elemente zum Aufbau einer Demografiereserve nicht auskommen. Das steht wörtlich in der Koalitionsvereinbarung, an die wir uns gemeinsam halten werden. ({9}) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung das klare Ziel formuliert, die bestehenden Versicherungssysteme - Soziale Pflegeversicherung und private Pflegeversicherung - beizubehalten. Insofern sage ich auch Ihnen, Herr Lanfermann: Man darf Zitate nicht verkürzen. Lesen Sie den Menschen doch einfach den Abschnitt vor! Wenn Sie das nicht mehr konnten, weil Ihre Redezeit abgelaufen war, möchte ich den letzten Satz zitieren, um ihn dem Auditorium nicht vorzuenthalten. Im Koalitionsvertrag heißt es: Der Kapitalstock wird dafür - nämlich für einen Ausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung nicht angegriffen. ({10}) All Ihr Schüren von Ängsten ist also grundlos. Wir werden die Rücklagen in der privaten Pflegeversicherung nicht angreifen und dennoch einen Kapitalstock bilden. ({11}) Das sind wir den künftigen Generationen schuldig und das gehört zur Generationengerechtigkeit. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In diesem Lande sterben jeden Tag Menschen wegen skandalöser Pflegezustände. Aber Sie von der FDP stellen keine andere Frage als die, wie es mit der Finanzierung weitergeht. Für Frau Widmann-Mauz handelt es sich nur noch um ein versicherungsmathematisches Problem. ({0}) Wir müssen darüber reden, wo die eigentlichen Probleme liegen. Sie liegen in den Inhalten dessen, was heute Pflege genannt wird, zum Beispiel auch im Pflegebegriff, der mit dem SGB XI eingeführt wurde und weit hinter dem Bundessozialhilfegesetz zurückgeblieben ist, in dem der Pflegebegriff wesentlich weiter gefasst war. Wir müssen es endlich schaffen, von der Satt-SauberTrocken-Pflege - selbst die ist ja nicht garantiert - wegzukommen. Was wir brauchen, ist die begleitende Assistenz, sodass auch diejenigen Menschen, die nicht mehr alle Tätigkeiten des täglichen Lebens - angefangen beim Aufstehen und Waschen bis hin zur Essenzubereitung alleine ausführen können, dennoch aktiv am Leben der Gesellschaft teilhaben können. Die Aktivierungsmöglichkeiten können sehr unterschiedlich sein, aber es muss wenigstens angestrebt werden, dass die Betroffenen die vorhandenen Möglichkeiten wahrnehmen können. Aber nicht einmal das ist zurzeit gegeben. Sie aber reden ausschließlich über die Frage, ob es einen Kapitalstock gibt - als ob dies das Problem wäre! ({1}) Wir machen einen ganz anderen Vorschlag. ({2}) Wir schlagen Ihnen vor, die private Pflegeversicherung abzuschaffen, sie zu schließen. Überführen Sie alle privat Pflegeversicherten in die gesetzliche Pflegeversicherung und sorgen Sie dafür, dass den Menschen die bereits erworbenen Ansprüche - als Bestandsschutz - aus dem Kapitalstock, der inzwischen 13 Milliarden Euro beträgt, ausgezahlt werden! Das reicht völlig und lässt sich leicht umsetzen. ({3}) Dann hätten wir endlich eine solidarische Versicherung, die auf allen Schultern ruht, statt der bisherigen Zweiteilung der Reichen, Guten und Gesunden einerseits und der Armen, Schwachen und Kranken andererseits. ({4}) Vor diesem Problem stehen wir und das können wir lösen. ({5}) Zu Ihrer aktien- und börsenfixierten Orientierung bei jeglicher Finanzierung gibt es solidarische Alternativen, die den Menschen zugute kommen müssen. ({6}) Aber, wie gesagt, ich will nicht in erster Linie über Geld reden. Ich will vielmehr darüber reden, was wir damit machen. Das Problem ist, dass Sie sich seit einem halben Jahr weigern, eine Enquete-Kommission einzurichten, die sich damit befasst, welche ethischen, welche rechtlichen und welche finanziellen Fragen gelöst werden müssen, damit Menschen mit begleitender Assistenz leben können. Sie weigern sich, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen. Der Bericht über die Situation der Heime, der dem Ministerium vorliegt, wird verstohlen auf einer Internetseite veröffentlicht, nicht aber dem Bundestag vorgelegt, weil Sie Angst haben, darüber zu reden. Dort steht nämlich drin, dass jeden Tag Menschen sterben, weil die Pflege zum Teil grausam missbraucht oder in vielen Fällen gar nicht geleistet wird. So sterben in diesem reichen Land Menschen an Dekubita - das sind Druckgeschwüre - oder deshalb, weil sie nicht genügend zu trinken oder zu essen bekommen. Wie kann das denn sein? Darüber müssen wir reden und nicht darüber, ob irgendwelche Versicherungen oder Kapitalstöcke aufgebaut werden müssen, die angeblich krisensicher sein sollen. Darüber lache ich mich tot. Wo ist denn das Geld der Kapitalstöcke, wenn es zu einem Börsencrash kommt? ({7}) - Ich habe nicht gesagt, dass der Börsencrash morgen oder übermorgen kommt. Wenn man vorher wüsste, wann er kommt, hätte man ja die Möglichkeit, vorzusorgen. Das ist aber nicht der Fall. Ich brauche doch Ihnen nicht zu erklären, wie der Kapitalismus funktioniert. ({8}) Das wissen Sie doch besser als ich. ({9}) Lassen Sie uns einen vernünftigen Pflegebegriff einführen, der von Assistenz und Begleitung ausgeht und der die Menschen aktiviert, anstatt sie zu passiven Objekten irgendwelcher Verrichtungen zu machen! Lassen Sie uns im Parlament, in einer Enquete-Kommission, darüber beraten, wie wir von den starren Pflegestrukturen hin zu ambulanten, wirklich freien Strukturen kommen, in denen sich Menschen entwickeln können, auch wenn sie auf Hilfe angewiesen sind! ({10}) Dabei geht es nicht nur um alte Menschen, sondern auch um Menschen, die schon in jungen Jahren auf Unterstützung angewiesen sind. Ich bin gespannt, wann wir endlich - ohne ideologische Diskussionen über Kapitalstöcke zu führen - über dieses Thema debattieren und Entscheidungen fällen, die den Menschen wirklich helfen Ich danke Ihnen. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Dr. Carola Reimann. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Baustein der sozialen Sicherungssysteme und hat sich seit ihrer Einführung 1995 bewährt. Gut 2 Millionen Pflegebedürftige erhalten heute Leistungen aus der Pflegeversicherung. Davon werden gut zwei Drittel ambulant und ein Drittel stationär versorgt. Es ist davon auszugehen - das ist schon angeklungen -, dass mit der demografischen Entwicklung die Zahl der Pflegebedürftigen weiter ansteigen wird. Damit die Pflegeversicherung dieser Entwicklung standhalten kann, müssen wir sie weiterentwickeln. Es geht dabei nicht nur um die Frage nach einer nachhaltigen und verlässlichen Finanzierung, sondern auch um Verbesserungen und Anpassungen auf der Leistungsseite. Aus diesem Grund haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, eine umfassende Reform der Pflegeversicherung durchzuführen. Im nächsten Jahr werden wir das in Angriff nehmen. Das hat nichts mit Verschleppung zu tun, Herr Lanfermann. Der Zeitplan ist sinnvoll, weil die Gesundheitsreform, über die wir aktuell debattieren, auch Auswirkungen auf die Pflegeversicherung hat. Dies gilt es zu berücksichtigen; denn wir haben in der Tat schon im GKV-WSG vorgesehen, Maßnahmen zu ergreifen, die sich positiv auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen auswirken werden. Zu nennen sind hier beispielsweise die geriatrischen Rehabilitationsleistungen, die zu Pflichtleistungen der Krankenkassen werden - damit stärken wir den Grundsatz „Reha vor Pflege“ -, ({0}) und die Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung. Das ist im Hinblick auf die demografische Entwicklung konsequent. Auch die Anpassung und Neudefinition des Haushaltsbegriffs ist im Zusammenhang mit der Erbringung der häuslichen Krankenpflege nicht gering zu schätzen. Das ist etwas, was die Leute im täglichen Leben sehr schnell erreichen wird. Das sind wichtige Elemente der aktuellen Gesundheitsreform, die auch vielfach beklagte Abstimmungs- und Schnittstellenprobleme bei der Kranken- und der Pflegeversicherung lösen werden. Vor allem auf der Leistungsseite besteht Handlungsbedarf; denn seit der Einführung im Jahre 1995 sind die Leistungen der Pflegeversicherung unverändert geblieben. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre wurden somit von den Pflegebedürftigen getragen. Deshalb ist, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, eine Dynamisierung der Pflegeleistungen notwendig. Wir werden mit der Pflegereform dafür sorgen, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ stärker als bisher zur Geltung kommt. ({1}) Nicht zuletzt - auch das ist heute schon angemerkt worden - müssen mit der Pflegereform Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Verbesserung der Situation demenzkranker Menschen führen. Es bedarf dabei mittelfristig auch einer Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, gerade im Hinblick auf den besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf der Demenzkranken. Darüber hinaus sind neue gesellschaftliche Entwicklungen, zum Beispiel neue Wohnformen im Alter, zu berücksichtigen und aufzugreifen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Einsetzung des Beirates zur Entwicklung eines neuen Pflegebegriffs durch die Gesundheitsministerin. ({2}) Ich habe schon gesagt, dass sich die Reform der Pflegeversicherung nicht auf den Leistungsbereich beschränken können wird. Wie eingangs erwähnt, wollen wir mit dieser Reform eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung erreichen. Grundlage muss eine gerechte Verteilung der Lasten auf alle Bevölkerungsgruppen sein. Im Koalitionsvertrag - die Stelle ist schon zitiert worden haben wir vereinbart, dass zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt wird. Eine gerechte Verteilung der Lasten bedeutet auch, dass Menschen mit geringem Einkommen nicht den gleichen Betrag wie Spitzenverdiener bezahlen können. Eine gerechte Verteilung der Lasten heißt für uns Sozialdemokraten, dass sich die Beiträge nach der finanziellen Leistungsfähigkeit richten. Auch in der Pflegeversicherung gilt für uns der Grundsatz, dass die starken Schultern mehr tragen müssen als die schwachen. ({3}) Nach der Gesundheitsreform in diesem Jahr werden wir im nächsten Jahr das Projekt Pflegeversicherung angehen. ({4}) Natürlich gibt es in der Koalition einige offene Punkte, gerade was die Finanzierungsfragen anbelangt. Ich bin aber sicher, dass es uns gelingt, für die Pflege ein tragfähiges und überzeugendes Konzept vorzulegen. Ziel muss es sein, die Pflegeversicherung auf eine stabile und verlässliche finanzielle Basis zu stellen, dabei die Lasten gerecht zu verteilen und auf der Leistungsseite die notwendigen Anpassungen umzusetzen, die den Pflegebedürftigen zugute kommen. Ich danke. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung der finanziellen Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung im ersten Halbjahr 2006 ist zweifellos sehr erfreulich. Das wollen wir überhaupt nicht bestreiten. Dennoch unsere Botschaft an die große Koalition: Ruhen Sie sich bloß nicht auf diesen Zahlen aus! ({0}) Begehen Sie nicht den kapitalen Fehler, die Pflegereform vor sich herzuschieben! ({1}) Nun wurde hier und heute von der Koalition bekräftigt - gerade noch von Frau Widmann-Mauz und auch von der Kollegin Reimann -, dass die Reform nächstes Jahr wirklich angepackt werden soll. Das begrüßen wir und wir werden Sie kräftig daran erinnern; denn inzwischen kennen wir Ihre Versprechen ganz gut. Ich erinnere gerne an Ihren eigenen Koalitionsvertrag. Danach sollten wir zu diesem Zeitpunkt nicht in einer Aktuellen Stunde debattieren, sondern wir sollten uns hier im Plenarsaal eigentlich um die Pflegereform kümmern. ({2}) Dieses Versprechen haben Sie also schon gebrochen. In den Hinterzimmern werden im Moment zum Teil irrwitzige Vorschläge aus Ihren Reihen diskutiert. Da fordert zum Beispiel die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union, man solle die Pflegeversicherung komplett auf Kapitaldeckung umstellen. ({3}) - Ich stimme Ihnen zu. - Dazu soll man auch noch die Pflegestufe I völlig abschaffen; dadurch würden unterm Strich 4 Milliarden Euro gespart. Es ist schlimm genug, dass ein großer Teil der Union offenbar überhaupt keinen Wert auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit legt. So viel sage ich zu den leeren Parolen, die Sie in Dresden gepredigt haben. ({4}) Aber noch schlimmer ist: Die Koalition verheddert sich schon wieder - genau wie bei der Gesundheitsreform - in Finanzdebatten. Damit reden Sie auf ganzer Linie an unseren wirklichen Problemen vorbei. ({5}) Genau das will kein Mensch in diesem Land mehr hören. ({6}) Ich höre von Ihnen nichts darüber, was für eine Pflege Sie eigentlich wollen. Ich höre von Ihnen nichts über Inhalte und Strukturen. Ich höre von Ihnen auch nichts über die Sorgen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. ({7}) Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte eine nachhaltige und gerechte Finanzierung der Pflegeversicherung für sehr wichtig. Wir Grünen plädieren mit der Bürgerversicherung und der kollektiven Demografiereserve für ein sozial gerechtes und nachhaltiges Modell. ({8}) Aber glauben Sie denn allen Ernstes, dass sich die Probleme der pflegerischen Versorgung in Luft auflösen, wenn Sie hier irgendein Konsensmodell zur Finanzierung auftischen? Wir brauchen ein Konzept, aus dem hervorgeht, wie Pflege in unserer älter werdenden Gesellschaft aussehen kann. Jeder, auch Sie hier, stellen sich doch die Frage: Wie kann ich in dieser Gesellschaft in Würde altern und wie werde ich später Pflege erfahren? Dazu brauchen wir geeignete Strukturen: Wir brauchen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Wir brauchen Case- und Care-Management. Wir müssen viel mehr Angebote für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf machen. Meine lieben Herren Abgeordneten, in diesem Bereich sind ausdrücklich die Männer angesprochen. Machen wir uns nichts vor: Die Töchter und Schwiegertöchter sind momentan der größte Pflegedienst der Nation. ({9}) Wir brauchen keine Wiederholung der Parole „Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen“. Transportieren Sie dies endlich bitte auch in Ihre Reihen! Pflegende Angehörige brauchen dringend Entlastung. Wir müssen die Trennung zwischen „ambulant“ und „stationär“ beseitigen. Wir müssen die Verbraucherrechte stärken usw. Es gibt viel zu tun; wir müssen es nur endlich anpacken. Unsere Vorschläge liegen offen auf dem Tisch. Wir haben unser Eckpunktepapier „Pflege menschenwürdig gestalten“ im September vorgelegt. Darin sind einige sehr gute Vorschläge enthalten. ({10}) Wir hatten letzte Woche ein öffentliches Fachgespräch - ich betone: öffentlich -, in dem zahlreiche Expertinnen und Experten uns bestätigen konnten, dass wir Grünen uns auf den richtigen Weg begeben haben. Wir werden weiter diskutieren und wir werden an der Verbesserung unserer Vorschläge arbeiten. Außerdem werden wir nicht rasten und nicht ruhen, wenn es darum geht, Ihnen unsere Erkenntnisse mitzuteilen. Setzen Sie sich mit einer umfassenden Reform der Pflegesicherung endlich auseinander! Hier nur von „Pflegeversicherungsreform“ zu sprechen, greift einfach zu kurz. ({11}) Kommen Sie endlich aus den Hinterzimmern heraus! Führen Sie endlich eine offene Diskussion und tauschen Sie sich mit den entsprechenden Akteuren aus! Frau Widmann-Mauz, Sie haben eben so schön von einer Roadmap gesprochen. Gehen Sie mit dieser Roadmap endlich auf öffentliche Plätze und Straßen und erzählen Sie den Menschen, was Sie wollen! ({12}) Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir haben überhaupt kein Interesse an einer weiteren Show wie bei der Anhörung zur Gesundheitsreform: Alles ist abgekartet und wir werden im Grunde genommen nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt. ({13}) Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir fordern Sie auf, dafür endlich zu sorgen. ({14}) Danke. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Willi Zylajew für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzierung der Pflegeversicherung war bereits 20 Jahre vor ihrer Einführung ein - vor allen Dingen für die FDP-Fraktion - wichtiges Thema. Herr Lanfermann, wir, die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP, haben dies in den Jahren 1993/94 gemeinsam auf einen vernünftigen Weg gebracht. ({0}) - Dazu muss ich Ihnen sagen, Herr Lanfermann: Ein Koalitionspartner, mit dem ich ordentlich verhandeln kann, ist mir natürlich lieber als jemand, der sich erpressen lässt. Sie enttäuschen mich. ({1}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt enttäuschen Sie mich ein bisschen und bringen mich aus dem Konzept. Ich habe bisher gedacht, dass Sie zu dem stehen, was wir seinerzeit vernünftig verabredet haben. ({2}) - Ich kenne die Unkenrufe. Wir müssen sehen, dass die Pflegeversicherung für die Menschen im Lande qualitativ und quantitativ Enormes erreicht hat. ({3}) Ohne diese Pflegeversicherung hätte es weder den guten fachlichen Ausbau noch den Aufbau von Strukturen und Netzen gegeben, wie wir sie heute haben. ({4}) Ohne die Pflegeversicherung wäre das undenkbar gewesen. Ich frage mich, liebe Bedenkenträger aus den 90erJahren: ({5}) Wo wären wir heute, hätten wir nicht mit der Pflegeversicherung Beispielhaftes geschaffen? Keine Frage: Wir müssen die Pflege weiterentwickeln; ganz eindeutig. Nach elf Jahren ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Wir müssen auch mehr tun, als nur über die Finanzierung nachzudenken. Wir haben letztlich die Aufgabe, die Standards zu erhalten und weiterzuentwickeln. Heute ist die Situation teilweise eine andere. Wir haben noch keine Antwort auf das Problem des Umgangs mit Dementen gefunden. Wir haben noch keine Antwort mit Blick auf neue Wohnformen gefunden. Wir haben noch keine abschließende Antwort auf die Frage gefunden, wie wir ambulante und stationäre Angebote vernünftig kombinieren. All dies werden wir angehen. In einem Jahr werden wir hier stehen und Ihnen eine Antwort dazu anbieten. Der können Sie dann zustimmen oder Sie können wieder blockieren. Es war Frau Dr. Babel, ({6}) die am 21. Oktober 1993 gesagt hat: Die Umlagefinanzierung ist nicht der Weg der FDP. ({7}) - Aber ihr habt zugestimmt! ({8}) Der verehrte Graf Lambsdorff hat am 22. April 1994 dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss nicht zugestimmt und gesagt: Das funktioniert nicht. ({9}) Kollegen, elf Jahre haben wir die Pflegeversicherung! Das ist die einzige Versicherung, die ohne weitere Bundesmittel, ohne höhere Bundesmittel auskommt. ({10}) Die Pflegeversicherung ist neben der Unfallversicherung auch die einzige Versicherung, die keine Beitragssatzerhöhung erlebt hat. Bei allen anderen gab es das. Über elf Jahre also eine prächtige Leistung! ({11}) - Kollegen, vorsichtig! Ihr habt doch selbst gesagt, dass die Entwicklung in diesem ersten Halbjahr 2006 positiv war. Nun haben Sie doch einmal Geduld! Liebe Kollege Bahr, wir möchten letztlich - da ist die Koalitionsvereinbarung ganz klar - eine solidarische Versicherung, die in den nächsten Jahren die Grundleistungen solidarisch finanziert. Wir möchten, dass gerade Ihre Generation, Herr Kollege Bahr, zusätzlich eine Versicherungspolice in der Hand hat, die einen Beitrag zur Absicherung der Kosten im Pflegefall leisten kann. Darauf werden wir hinarbeiten. Ich hoffe sehr, dass uns die FDP dabei ein Stück begleiten wird. Herr Dr. Seifert, bei allem Respekt vor Ihrer Person ich habe mich in Deutschland im Pflegebereich ein bisschen umgeschaut. Sozialistische Modelle, die etwas erbracht haben, was mit dem, was wir haben, auch nur vergleichbar wäre, habe ich nicht gefunden, auch in keinem Nachbarland. Seien Sie mir also nicht böse, wenn ich sage: Ihr Weg kann uns schlichtweg nicht begeistern. ({12}) Ich will zum Schluss sagen, dass sich die Kollegin Scharfenberg und die Grünen keine Sorgen zu machen brauchen. Wir ruhen uns nicht aus. Wir werden hier Besseres leisten. Die FDP kann ich nur bitten, in den Ländern, wo sie noch Mitverantwortung trägt, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Pflege besser wird. In einem Jahr, denke ich, werden wir dazu Vernünftiges vorlegen. Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit bis zu diesem Zeitpunkt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Daniel Bahr für die FDP-Fraktion. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! So richtig es ist, dass es in Deutschland eine Pflegeversicherung gibt, so verfehlt war es, eine solche Versicherung noch im Jahr 1995, als bereits alle Konsequenzen der Bevölkerungsalterung für die umlagefinanzierten Systeme bestens bekannt waren … als ein … nach dem Umlageverfahren finanziertes System zu etablieren. ({0}) Das ist ein wortwörtliches Zitat aus dem Gutachten des Sachverständigenrats. Meine Damen und Herren, das war die Befürchtung, die die FDP damals, im Jahre 1994, hatte. Natürlich war das damals eine Erpressung durch die CDU/CSU, eine Erpressung ihres damaligen Koalitionspartners FDP. ({1}) - Sie können jetzt alle protestieren. - Man sollte sich einmal damit beschäftigen und überlegen, ob man da möglicherweise einen Fehler gemacht hat. 1994 gab es mahnende Worte, übrigens aus Ihrer Partei genauso. Fragen Sie einmal den Kollegen Herrn Biedenkopf! ({2}) Damals wurde befürchtet, dass wir genau das erleben werden, was wir jetzt erleben, dass nämlich zehn Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung die Defizite so zunehmen werden, dass wir vor der Frage stehen: Muss der Beitragssatz nicht weiter erheblich steigen? Herr Blüm hat damals gesagt: Nein, das müsse nicht passieren. Das sei kein Problem. Es gab große Versprechen, was die Pflegeversicherung alles leisten würde. Wir wussten schon damals, dass es angesichts der Alterspyramide der Bevölkerung ein Fehler ist, auf ein Umlageverfahren zu setzen. Das haben wir jetzt auch. Sie retten sich, Frau Widmann-Mauz, nur mit Einmaleffekten. ({3}) - Natürlich. Ich erinnere an die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils aus dem letzten Jahr, den Zusatzbetrag für Kinderlose. Das bringt einen Sondereffekt, eine Zusatzeinnahme von 700 Millionen Euro jedes Jahr. Das verbessert die Finanzen kurzfristig. Ohne das wären die Defizite viel höher. ({4}) Das Zweite: Der 13. Sozialversicherungsbeitrag, den Rot-Grün eingeführt hat, verbessert in den ersten beiden Quartalen dieses Jahres die Finanzlage der gesetzlichen Pflegeversicherung um etwa 800 Millionen Euro. Das wird sich aber im Laufe des Jahres ausgleichen. So kommt der Bericht der Bundesbank zu dem Schluss, dass damit zu rechnen ist, dass zum Ende des Jahres das Defizit in der Pflegeversicherung, um diesen Einmaleffekt bereinigt, genauso hoch sein würde wie im letzten Jahr, nämlich 365 Millionen Euro. Das heißt, all das, was Sie machen, hilft allenfalls kurzfristig, das Defizit einigermaßen zu dämpfen, aber es löst überhaupt nicht die finanziellen Probleme der Pflegeversicherung. ({5}) Die Rücklagen, lieber Kollege Zylajew, die zu Beginn der Pflegeversicherung gebildet worden sind - die Leistungen wurden ein halbes Jahr ({6}) später ausgezahlt -, schmilzen wie das Eis in der Sonne. Denn wir werden voraussichtlich schon Ende des Jahres 2007 ein Unterschreiten der Mindestreserve haben. Dann werden wir wieder vor der Frage stehen, was wir machen müssen. Muss man die Beiträge erhöhen? Da hilft auch die Idee, die von der linken Seite dieses Hauses immer kommt, jetzt müsse man nur die Einnahmebasis verbreitern, indem man die Privaten verpflichte, auch in die soziale Pflegeversicherung einzuzahlen, nicht weiter. Das würde Ihnen kurzfristig wieder helfen, keine Frage. Kurzfristig würden Sie die Defizite damit senken. Aber was machen Sie denn in ein paar Jahrzehnten, wenn wir eine Verdreifachung der Anzahl der Pflegebedürftigen gegenüber heute, ({7}) aber nur noch zwei Drittel der Beitragszahler im Vergleich zu heute haben? Da kommen Sie um die Wahrheit nicht herum. Natürlich werden die Kosten steigen. Natürlich wird für jeden Einzelnen von uns in Deutschland - ich finde, wir sollten alle so ehrlich sein - der Aufwand für Vorsorge für Pflege, für Vorsorge für Gesundheit und für Vorsorge für das Alter steigen müssen. ({8}) Die Altersentwicklung werden Sie auch nicht wegreformieren können, wenn Sie immer mehr Ältere und immer weniger Junge haben. Aber da liegt der Unterschied. Dann sollten wir uns darüber Gedanken machen, jetzt Vorsorge zu treffen, heute einen Kapitalstock für die steigenden Kosten im Alter aufzubauen, heute den Einstieg zu wagen. ({9}) - Ich möchte einmal die Vorschläge sehen. - Meinen Sie ernsthaft, Frau Widmann-Mauz, dass mit diesen 6 Euro Zusatzbeitrag wirklich der Aufbau eines Kapitalstocks erreicht wird? Glauben Sie wirklich, dass Ihr Vorschlag, einen Finanzausgleich zwischen dem System der Privatversicherten, das immerhin einen Kapitalstock von 13 Milliarden Euro für die Pflege aufgebaut hat, ({10}) und der sozialen Pflegeversicherung vorzunehmen, nachhaltiger ist? Mitnichten ist das eine nachhaltigere Finanzierung. Sie bedienen sich derer, die einen Kapitalstock aufgebaut haben, um aufgrund der aktuellen Probleme der Umlageversicherung Löcher zu stopfen, meine Damen und Herren. ({11}) Jetzt wird von Verbesserungen auf der Leistungsseite gesprochen. Natürlich müssen wir mehr tun angesichts der steigenden Kosten durch Demenz bei älteren Menschen. ({12}) Natürlich müssen wir zu einer Dynamisierung der Leistung kommen. Sonst würde das die Pflegeversicherung gänzlich infrage stellen. Aber, meine Damen und Herren, eines darf man nicht machen: Vollmundig Leistung versprechen und sich keine Gedanken darüber machen, wie sie finanziert wird. Der Schritt muss andersherum gehen: Zunächst muss geklärt sein, wie die Finanzierung für die leistungsfähige Pflege aussieht. ({13}) Erst danach können wir uns über Leistungsverbesserungen unterhalten. Man kann nicht vollmundig Leistungen versprechen und nicht sagen, wie man sie finanzieren will. Das ist unseriös und unehrlich, meine Damen und Herren. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von der FDP beantragte Aktuelle Stunde trägt den Titel „Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung“. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass Sie auch die wahren Zahlen zur finanziellen Situation der Pflegeversicherung genannt hätten, Herr Bahr. ({0}) Ich möchte sie an dieser Stelle noch einmal nennen, damit wir auch wissen, worüber wir reden: Aus der augenblicklichen Situation ergibt sich, dass wir bis Ende des Jahres einen Überschuss in Höhe von circa 300 bis 400 Millionen Euro haben werden. Das ist auf drei Effekte zurückzuführen: Erstens auf den Einmaleffekt, dass in diesem Jahr 13 statt zwölf Beiträge gezahlt wurden. ({1}) Zweitens auf das Anziehen der Konjunktur; diesen Effekt sieht man ja zurzeit sehr deutlich. Das heißt, wir haben über das ganze Jahr verteilt systematisch jeden Monat einen Überschuss von über 1 Prozent in der Pflegeversicherung erzielt, weil endlich wieder die Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zunimmt. ({2}) Das ist doch ein positives Zeichen, dass die sozialen Sicherungssysteme ein Stück weit entlastet werden. Der dritte Effekt, der zur positiven Situation in der Pflegeversicherung beigetragen hat, liegt darin begründet, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich geringer als prognostiziert angestiegen ist. Mitte dieses Jahres hatten wir nur rund 23 000 Pflegebedürftige mehr als ein Jahr zuvor. Diese Zahl liegt niedriger als prognostiziert. Deshalb sind die Ausgaben in diesem Jahr in den ersten neun Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum auch nur um 1,2 Prozent angestiegen. Die Aktuelle Stunde, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wäre also gar nicht nötig gewesen, ({3}) denn eigentlich haben wir bis zum Jahresende eine gute Situation. ({4}) - Herr Kollege Lanfermann, Gott sei Dank braucht dazu die Bundesregierung Ihre Zwischenrufe nicht. ({5}) Wir haben uns bereits in der Koalitionsvereinbarung darauf verständigt, eine Reform der Pflegeversicherung vorzunehmen. Wir haben dabei auch die Steigerung der Ausgaben und Leistungsverbesserungen erwähnt. Die Kolleginnen und Kollegen haben es Ihnen in ihren Reden doch aufgezeigt: Wir wollen Verbesserungen für Demenzkranke. Wir werden sie umsetzen. ({6}) Wir wollen eine Dynamisierung der Leistungen. Auch diese werden wir umsetzen. ({7}) Wir wollen eine „Pflegezeit“ einführen. Hierzu haben wir bereits die ersten Vorgespräche geführt und haben uns darauf geeinigt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Pflegezeit einführen. Frau Kollegin Scharfenberg hat ja Recht: Natürlich leisten vor allen Dingen die Frauen, die Töchter und Schwiegertöchter, die häusliche Pflege. Um diese zu stärken, ist die Einführung einer Pflegezeit überfällig. ({8}) Auch das ist eine richtige Maßnahme, auf die sich die Koalition schon in der Koalitionsvereinbarung verständigt hat. Wir geben auch Antworten darauf, wie das Ganze finanziert werden soll. Auch das haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, nicht dargestellt. Wir wollen nämlich erstens eine Demografiereserve aufbauen - das steht in der Koalitionsvereinbarung und wurde Ihnen von der Kollegin Widmann-Mauz noch einmal erläutert - und zweitens wollen wir, dass vonseiten der privaten Pflegeversicherung ein Ausgleich bezahlt wird. Wir machen das nicht, um anderen etwas wegzunehmen, sondern deshalb, weil das Pflegerisiko in den beiden Systemen unterschiedlich verteilt ist, obwohl am Ende genau die identischen Leistungen erbracht werden. ({9}) Wenn diese Feststellung im Prinzip stimmt, dann kommt man nicht umhin, einen Ausgleich vorzunehmen. Es ist aber ausdrücklich festgehalten worden, dass man nicht an die Reserve, die aufgebaut wurde, herangeht. Deswegen ist es unredlich, wenn von Ihrer Seite immer wieder die Unwahrheit gesagt wird. ({10}) Trotz der günstigen Finanzentwicklung, aufgrund der der Beitragssatz bis 2008 für das derzeitige Leistungsspektrum ausreichen würde, haben wir gesagt, eine Pflegereform ist überfällig. ({11}) Deswegen werden wir sie im Zeitplan umsetzen. Es war immer verabredet, dass die Pflegereform der Reform in der Krankenversicherung folgt. ({12}) Das macht ja auch Sinn, weil wir uns mit vielen Schnittstellen bereits jetzt auseinander zu setzen haben. Ich will Ihnen an dieser Stelle noch eines ins Stammbuch schreiben: Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das Sie so sehr bekämpfen, ({13}) enthält bereits ganz konkrete Verbesserungen zur Schnittstelle Pflege. Wenn Sie also eine Verbesserung der Pflege wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, müssen Sie dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eigentlich zustimmen. ({14}) Vorhin wurde so schön gesagt, wir sprächen gar nicht über die Inhalte der Pflege, sondern nur über die Finanzierung. Hier geht es jetzt um die Inhalte. Erstens. Wir haben ernst gemacht: Rehabilitation soll vor Pflege gehen. Die geriatrische Reha wird eine Pflichtleistung. Das bedeutet eine konkrete Verbesserung der Pflegesituation; das ist etwas, worauf die Pflegebedürftigen lange gewartet haben. ({15}) Wir haben zweitens - damit greifen wir eine langjährige Forderung aus der Pflegeszene auf - vorgesehen, dass auch Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sich in Zukunft an der integrierten Versorgung beteiligen können. Auch das bedeutet eine konkrete Verbesserung. Drittens verbessern wir das Entlassmanagement nach Krankenhausaufenthalten klar. Denn es ist doch ein Ärgernis, wenn das Krankenhaus nicht mit den pflegerischen Einrichtungen kooperiert und wir dadurch vielerorts Drehtüreffekte haben. Wir sorgen hier für eine erneute Klarstellung und schaffen einen Rechtsanspruch. Aber, Kolleginnen und Kollegen, da sind wir alle gefordert; das muss vor Ort auch umgesetzt werden. ({16}) Hier gibt es vieles, was im Moment im Argen liegt. Deshalb müssen wir einfordern, dass die Krankenhäuser sich schon bei der Einweisung der Patientinnen und Patienten darum kümmern, was nach der Entlassung mit ihnen geschieht, und ein vernünftiges Entlassmanagement organisieren. Wir sollen viertens, dass - das wurde vorhin vom Kollegen Seifert angesprochen - Wohngemeinschaften und betreutes Wohnen in vielen Fällen dazu genutzt werden können, zum Beispiel eine Heimunterbringung zu ersetzen. Bislang war es so, dass der Häuslichkeitsbegriff nicht in jedem Fall häusliche Krankenpflege und andere Leistungen ermöglichte. Da machen wir jetzt ernst und verändern den Häuslichkeitsbegriff so, dass in Zukunft auch betreutes Wohnen häusliche Krankenpflege organisieren kann. Auch das ist eine Schnittstelle, an der Handeln überfällig ist. Das finden Sie ebenfalls in unserem aktuellen Gesetzentwurf. Eine fünfte Verbesserung. Mit unserem Gesetzentwurf werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Heimbewohner mit einem besonders hohen behandlungspflegerischen Bedarf, zum Beispiel Wachkomapatienten, den Anspruch auf häusliche Krankenpflege im Heim behalten. Auch das ist eine wichtige Schnittstellenverbesserung. ({17}) Der sechste Punkt bezieht sich auf eine alte Forderung der Hospizbewegung, nämlich dass Betäubungsmittel in Hospizen und Heimen weiterverwendet werden können. Wir leisten uns in diesem Land bei Arzneimitteln und Medikamenten eine unglaubliche Verschwendung. Auch da nehmen wir jetzt Veränderungen an der Schnittstelle vor, und zwar in der richtigen Reihenfolge. Siebtens korrigieren wir die Rechtsprechung im Sinne der schwerst geistig behinderten Heimbewohner. Ich finde es, Kolleginnen und Kollegen, wirklich nicht in Ordnung, dass das Bundessozialgericht in seinem Urteil schwerst geistig behinderten Heimbewohnern, die nicht mehr am Gemeinschaftsleben teilnehmen können, wie es so schön formuliert ist, den Rollstuhl verweigert hat. ({18}) Dadurch sind Menschen zum Objekt der Pflege geworden. Es ist eigentlich schlimm, dass es nötig ist, das gesetzgeberisch klarzustellen. Wir tun das; denn für uns sind Menschen kein Objekt der Pflege. ({19}) Sie sind nicht Betreute, sondern müssen auf gleicher Augenhöhe wahrgenommen werden. Deswegen: ganz konkrete Leistungsverbesserungen für die Pflege im aktuellen Gesetzentwurf, die klare finanzielle Prognose für dieses Jahr, dass wir mit einem Plus zwischen 300 und 400 Millionen Euro abschließen, und die Pflegereform im nächsten Jahr. Ich freue mich auf Ihre konstruktiven Beiträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP; ({20}) denn dazu hört man im Moment noch sehr wenig. ({21})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung hat sich insgesamt bewährt. Dennoch steht sie vor großen Herausforderungen. Herr Kollege Bahr, deswegen führen wir eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung durch. ({0}) Eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ist notwendig, nicht nur wegen der Finanzierung, sondern auch wegen der Leistungsseite. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die bürokratischen Regelungen, gegen die scharfe Trennung zwischen Pflegekasse und Krankenkasse und gegen Qualitätsmängel. Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass im Rahmen einer zukunftsgerechten Gestaltung der Pflegeversicherung zwei Punkte im Vordergrund stehen: erstens Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung, Herr Kollege Bahr, und zweitens Verbesserungen auf der Leistungsseite. Dabei soll der Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gestärkt werden. Mit der Gesundheitsreform werden bereits wesentliche Verbesserungen für Pflegeleistungen erreicht. Der Leistungsanspruch auf Palliativversorgung aus der Krankenversicherung und der Ausbau der integrierten Versorgung für die Pflege schwerstkranker Menschen sind besonders wichtig. Damit wird eine ganzheitliche pflegerische und medizinische Begleitung und Unterstützung von sterbenden Menschen und deren Angehörigen ermöglicht. So ist es auch möglich, den Wunsch vieler Menschen zu erfüllen, bis zum Tod in ihrer vertrauten häuslichen Umgebung bleiben zu können. ({1}) Mit der Gesundheitsreform wird in Form der integrierten Versorgung auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung sowie zwischen Pflegekräften und Hausärzten möglich. Der künftige Anspruch auf geriatrische Reha kann Pflegebedürftigkeit vermeiden oder zumindest eine Verschlechterung des Zustandes verhindern. Wer alt ist und einen Unfall erleidet, muss nicht pflegebedürftig werden. In der Vergangenheit gab es zahlreiche Klageverfahren, weil Krankenkassen die Bezahlung von Hilfsmitteln für Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen verweigerten. Dank der Gesundheitsreform werden in Zukunft auch an Demenz erkrankte und schwerstpflegebedürftige Heimbewohner einen Anspruch auf einen Rollstuhl oder andere individuell benötigte Hilfsmittel haben. Ich bin sehr froh darüber, dass es entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts von 2004 Menschen durch diesen künftigen Leistungsanspruch ermöglicht wird, am Leben der Gemeinschaft, soweit es noch geht, teilzunehmen. Gerade bei Demenzkranken war die Ablehnung der Kostenübernahme für Rollstühle entwürdigend und diskriminierend. ({2}) Im Übrigen wird es aufgrund der Pflegereform in Zukunft möglich sein, dass der Betreuungsbedarf Demenzkranker durch die Pflegeversicherung besser berücksichtigt wird. Wer sich mit dem Thema Pflege auseinander setzt, stellt fest: Es besteht dringender Handlungsbedarf zur Entlastung der Leitungs- und Pflegekräfte in den Heimen. Die Altenheime wurden überwiegend zu Pflegeheimen. Es gibt dort kaum noch Rüstige. Die Bürokratie muss abgebaut werden, damit die Qualität von Betreuung und Pflege in der Zukunft gesichert ist. Arbeitszeitmessungen zeigen, dass lediglich 40 bis 55 Prozent der Arbeitszeit von Pflegekräften direkt für und mit den Heimbewohnern verbracht werden. Die übrigen Zeiten müssen für Kontroll-, Verwaltungs- und Dokumentationspflichten aufgewendet werden. Das muss geändert werden. ({3}) Angesichts der berechtigten Klagen hat die Unionsfraktion in der letzten Legislaturperiode unter Führung der Arbeitsgruppe Familie wichtige Forderungen zum Bürokratieabbau in Heimen in den Bundestag eingebracht. Die große Koalition hat sich diese Forderungen zu Eigen gemacht und im Koalitionsvertrag eine Novellierung des Heimgesetzes vereinbart. Durch die Föderalismusreform ist es nun Sache der Länder, diese Forderungen umzusetzen. Es gibt aber genügend Punkte, wo auch der Bund gefragt ist, zum Beispiel bei der Harmonisierung widersprüchlicher Regelungen zwischen Heimgesetz und SGB XI. Dies müssen wir anpacken. Eine gute Pflege hängt nicht davon ab, wie viele Formulare ausgefüllt werden, sondern ob sich die Menschen wohl fühlen. ({4}) Zum Schluss danke ich allen, die hilfsbedürftige Menschen pflegen; dies ist keine leichte Aufgabe. Herr Kollege Seifert, sie wird überwiegend gut gemacht und verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung. Anerkennung verdienen auch die vielen Ehrenamtlichen, die den Pflegebedürftigen zum Beispiel in Besuchsdiensten das Leben erleichtern und lebenswerter machen. Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Baustein der sozialen Versicherungssysteme. Mit der kommenden Reform werden wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Sie alle sind aufgefordert, dabei mitzumachen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Solange ich im Bundestag über Pflege und Pflegeversicherung diskutiere, höre ich von der FDP immer nur die Schlagworte „Entbürokratisierung“ und „kapitalgedeckte Pflegeversicherung“. ({0}) Beides ist, glaube ich, nicht zielführend. Das Thema Entbürokratisierung ist zwar wichtig; aber Ihre Vorschläge beinhalten immer einen bürokratischen Wust. ({1}) Das Thema Finanzierung geht für Sie immer mit Entsolidarisierung einher. Sie rücken von dem solidarischen Gedanken deutlich ab und meinen, mit der Kapitaldeckung ein Sicherungssystem zu haben, das für die kommenden Generationen ein Gewinn sei. ({2}) Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie entsprechende Gutachten nachlesen, stellen Sie fest, dass das einzig Stabile ein umlagefinanziertes System ist. ({3}) Das wollen wir auf jeden Fall ausbauen. ({4}) Wir wollen die Pflegeversicherung reformieren. Es geht um Strukturreformen; wichtige Punkte sind in diesem Zusammenhang genannt worden. Wir wollen ({5}) den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ umsetzen. Wir wollen ({6}) eine Dynamisierung der Leistungen; denn es ist klar, dass die Leistungen, die man beanspruchen kann, seit Einführung der Pflegeversicherung deutlich - um weit mehr als 13 Prozent - gesunken sind. ({7}) Wir wollen selbstverständlich Leistungen für Menschen mit Demenz. Das alles ist, glaube ich, unstrittig hier im Haus. Das habe ich aber von Ihrer Seite noch nie gehört. ({8}) Von daher bitte ich Sie einfach, sich an der Diskussion über Strukturreformen zu beteiligen. Wir müssen deutlich machen, dass es dabei darum geht, die Lebensqualität der Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, deutlich zu stärken. ({9}) Selbstverständlich geht das nur über eine Finanzierungsreform. Dazu finden Sie in unserem Koalitionsvertrag deutliche Hinweise. Da Sie die private Pflegeversicherung immer wieder anführen, muss man sagen, dass die private Pflegeversicherung natürlich wesentlich geringere Risiken versichert. ({10}) Sie wissen, dass in der privaten nur 1,3 Prozent der Versicherten Leistungen beanspruchen; ({11}) in der gesetzlichen sind es mehr als doppelt so viele. Von daher sind die Ausgaben der privaten Pflegeversicherung deutlich geringer. Was die gesetzliche Pflegeversicherung anbelangt, beträgt der durchschnittliche Leistungsanspruch pro Versicherten 240 Euro. Dieser Betrag liegt bei den privaten Pflegeversicherungen deutlich darunter. Vollversicherte bekommen ungefähr 85 Euro. ({12}) Dieser Punkt darf aber nicht zu dem Schluss führen, alles auf eine private Säule zu stellen, sondern darauf, dass die Risiken ordentlich zu verteilen sind ({13}) und dass es einen Ausgleich zwischen den privaten Versicherungen und der solidarisch gesetzlichen Pflegeversicherung geben muss. Ich bin davon überzeugt, dass wir, die große Koalition, den richtigen Weg einschlagen werden. Es geht darum, die Finanzierung auf so sichere Beine zu stellen, dass das unterstrichen wird, was die Pflegeversicherung heute auszeichnet. Sie hat eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. ({14}) Warum? Weil die Leute genau wissen, dass sie sich in einer Situation, in der sie abhängig sind, weil sie nämlich pflegebedürftig sind, der Unterstützung und Solidarität der Gemeinschaft sicher sein können. Dieser Punkt zeichnet die soziale Pflegeversicherung aus und deswegen sagen die Menschen: Es lohnt sich, da einen Beitrag zu bezahlen. Wir werden in der großen Koalition im Anschluss an die Gesundheitsreform die Pflegereform angehen. ({15}) Das bedeutet nicht, dass wir bisher dazu nichts unternommen hätten. Ich begrüße es sehr, dass das Ministerium einen Beirat einberufen hat, der sich um eine wichtige Grundlage kümmern soll: Er soll nämlich die Pflegebegriffsdefinition überarbeiten, weil bisher nur unzureichende Pflegebegriffsdefinitionen vorliegen, die ein weites Spektrum der sozialen Betreuung nicht abdecken. ({16}) Von daher begrüße ich das sehr. ({17}) Ich bin davon überzeugt, dass wir in der großen Koalition, was die Finanzierungsreform anbelangt, den Menschen Sicherheit verschaffen und, was die Strukturreform anbelangt, wichtige Dinge auf den Weg bringen können. Vielen Dank. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hermann-Josef Scharf. ({0})

Hermann Josef Scharf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003876, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einführung der Pflegeversicherung vor elf Jahren hat viele pflegebedürftige Menschen vor der Sozialhilfe bewahrt. Das ist ein Erfolg, der Tenor unserer weiteren Verhandlungen sein muss. ({0}) Die auch damals schon längst überfällige Entscheidung, eine Versicherung für den Pflegefall im Alter abzuschließen, werden wir weiterhin fördern. Wir werden jedoch die finanzielle Belastung auf breitere Schultern verteilen müssen. Die rein umlagefinanzierte Pflegeversicherung muss durch eine kapitalgedeckte private Zusatzversicherung ergänzt werden. ({1}) Wir als Union schlagen ein Modell vor, das einen monatlichen Beitrag unabhängig vom Einkommen vorsieht. Der deutsche Schriftsteller Peter Bamm hat einmal formuliert - ich zitiere -: Im Grunde genommen haben die Menschen nur zwei Wünsche, alt zu werden und jung zu bleiben. Wenn man die Altersstruktur unserer Bevölkerung betrachtet, sieht man: Es geht zumindest einer der Wünsche in Erfüllung, nämlich älter zu werden. ({2}) Was den zweiten Wunsch, nämlich jung zu bleiben, anbelangt, so bedarf es dazu noch erheblicher politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen. Der im Recht der Pflegeversicherung beschriebene Grundsatz „Prävention und Rehabilitation vor Pflege“ muss noch stärker berücksichtigt werden. Denn auch wenn wir uns Gedanken über die Einnahmeseite machen müssen, darf die Ausgabenseite nicht weiter steigen. Eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen ist die stark zunehmende Altersdemenz. In Deutschland leben heute allein etwa 1 Million, im Jahr 2030 voraussichtlich über 2 Millionen Menschen unter uns, bei denen die Diagnose Demenz zutrifft. ({3}) Die Grundlagenforschung ringt darum, zu verstehen, wie Demenz entsteht. Wir hoffen auf wirksame Medikamente, die uns vor Demenz schützen, ihre Symptome beeinflussen oder gar eine Heilung versprechen. Noch allerdings ist dies eine sehr vage Hoffnung. Eine frühzeitige Diagnose wird als entscheidende Voraussetzung für eine längerfristig erfolgreiche Therapie angesehen. In diesen Fällen kann die Behandlung früh einsetzen und der Eintritt der Pflegebedürftigkeit hinausgeschoben werden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die medizinischen Dienste in ihren Gutachten nicht nur Auskunft über die Pflegestufe erteilen; die Gutachten sollten auch Aussagen dazu enthalten, welche geeigneten Rehabilitationsmaßnahmen im Einzelfall anzuwenden sind. Den Krankenkassen obliegt dann die Pflicht, das Verfahren zur Einleitung einer Rehamaßnahme in Gang zu setzen. Die meisten pflegebedürftigen Menschen wünschen, in ihrer häuslichen Umgebung bleiben zu können. Um beide Komponenten miteinander zu verbinden, haben wir die gesetzliche Krankenversicherung im Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform verpflichtet, Leistungen der geriatrischen Rehabilitation als Pflichtleistung zu erbringen. ({4}) Dieser Schritt wird die Situation vieler älterer Menschen erheblich verbessern. Diese Versorgungsstrukturen stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn die Pflegebedürftigkeit ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Dann kommt es meist zur Übernahme intensiver Pflegeaufgaben durch die Familie. Zwei von drei Pflegebedürftigen werden von Familienangehörigen betreut. ({5}) Viele pflegen ihre Angehörigen oft bis an die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit. Deshalb freue ich mich, dass die schon im Jahr 2002 vom Saarland gestartete Initiative zur Einführung einer Pflegezeit nun auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Mit der Einführung einer Pflegezeit wird die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wesentlich verbessert. Das dient den Frauen. ({6}) Auch bei der Reform der Pflege werden wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreifen müssen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass wir die Pflegeversicherung auf eine nachhaltige Finanzierungsgrundlage stellen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Pflege von bedürftigen Menschen immer auch eine Aufgabe unseres Herzens bleiben wird. Ich danke Ihnen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Margrit Spielmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind es mittlerweile schon gewohnt: Die FDP malt nicht nur in ihren Leitlinien zur Reform der sozialen Pflegeversicherung ein Untergangsszenario, nein, auch heute preist sie den Wettbewerb und die eigene Vorsorge wieder als Allheilmittel an. Herr Bahr und Herr Lanfermann, Sie sagen uns aber nicht, was passieren müsste. ({0}) - Nein, heute jedenfalls haben Sie es nicht getan. Diese verengte ökonomische Sichtweise lässt meiner Ansicht nach etwas ganz Entscheidendes außer Acht - das ist in der heutigen Debatte überhaupt noch nicht genannt worden -, ({1}) nämlich die pflegebedürftigen Menschen, die Qualität und die Inhalte der Pflege. ({2}) Ich gebe Herrn Dr. Seifert Recht: Über die Inhalte müssten wir reden. Welches sind die dringendsten Probleme, vor denen die Pflegeversicherung steht? Wie kann die bestmögliche Qualität für pflegebedürftige Menschen ({3}) auch zukünftig gewährleistet werden? Was ist zu tun? Ich meine, als wichtigsten Punkt die Dynamisierung von Leistungen nennen zu müssen. Wir wissen, dass die Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung nicht mehr erhöht worden sind. Die Folge ist, dass das Finanzvolumen zur Finanzierung der Leistungen zunehmend geringer wird und wir einen Prozess der schleichenden Leistungsentwertung erleben, wie Sie, Herr Bahr, übrigens richtigerweise festgestellt haben. Ohne eine Dynamisierung der Leistungen droht diesem wichtigen Sozialversicherungszweig längerfristig der Verlust der Qualität und der Akzeptanz. Es führt also kein Weg daran vorbei, die Einnahmesituation der Pflegeversicherung zu verbessern. Damit muss - das wurde von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen schon genannt - eine neue Definition der Pflegebedürftigkeit verbunden werden. Wir alle wissen, dass der Pflegebedürftigkeitsbegriff zu somatisch ausgerichtet ist. Menschen mit so genannter eingeschränkter Alterskompetenz, also die Dementen, sowie die Behinderten und deren besonderer Betreuungsbedarf werden derzeit noch nicht ausreichend berücksichtigt. ({4}) Ein weiterer wichtiger Punkt, den ich nennen möchte, ist die Gestaltung des Grundsatzes „Ambulant vor stationär“. Das kommt den Wünschen der Mehrheit der Pflegebedürftigen entgegen und - das wissen wir alle - ist auch kostengünstiger. Damit aber - dieser Punkt wurde heute noch nicht genannt - der Grundsatz „Ambulant vor stationär“ qualitativ hochwertig umgesetzt werden kann, muss die Ausbildung der Pflegekräfte verbessert werden. Wir sollten nicht nur im stationären Bereich ausbilden, sondern uns insbesondere der ambulanten häuslichen Pflege zuwenden. Das ist die Herausforderung der Pflegeausbildung. Wir haben mit der Neuformulierung der Alten- und Krankenpflegeausbildung einen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Ich denke, dass eine verstärkte Ausrichtung der Aus- und Fortbildung von Pflegekräften erfolgen muss. Deshalb steht im Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform unter anderem die bessere Vernetzung von Hausärzten mit IVVerträgen usw., die sich mit der Pflege befassen. ({5}) Der wichtigste Punkt - er wurde heute von Frau Widmann-Mauz, von Frau Reimann und von der Staatssekretärin genannt - ist die stärkere Vernetzung. Ich sage immer: Pflege muss aus einer Hand erfolgen. Wir brauchen einen besseren Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege und die geriatrische Rehabilitation. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten und Pflegeheimen. Auf unserer Agenda steht auch eine bessere Verzahnung zwischen Rehaeinrichtungen und Wohnformen. Nicht zuletzt sollten wir den Grundsatz „Prävention vor Rehabilitation“ stärker in den Fokus unserer Überlegungen nehmen. Wir haben ein Problem; ich denke, das ist deutlich geworden. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ist die Zahl der Leistungsempfänger doppelt so hoch wie in der privaten Pflegeversicherung. Das schlägt sich - wie soll es auch anders sein - in den höheren Leistungsausgaben der Versicherten nieder. ({6}) Herr Bahr, deshalb muss sich die private Pflegeversicherung unbedingt an einem solidarischen Risikostrukturausgleich beteiligen. ({7}) Ich habe eine Vision: Eine wesentlich bessere und gerechtere Lösung wäre aus meiner Sicht eine Bürgerpflegeversicherung. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Christian Kleiminger für die SPD-Fraktion. ({0})

Christian Kleiminger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der medizinische Fortschritt ermöglicht uns heute ein sehr viel längeres Leben als unseren Eltern und Großeltern. Das ist - man sollte es ruhig so sagen - in erster Linie sehr erfreulich. Aber mit zunehmender Lebenserwartung steigen die Zahlen der Pflegebedürftigen und zwangsläufig auch die Kosten. Damit die Pflegeversicherung in Zukunft leistungsfähig und finanzierbar bleibt, muss sie weiterentwickelt werden, und zwar, wenn es allein nach uns Sozialdemokraten ginge, zu einer von breiten Schultern solidarisch getragenen Bürgerversicherung. ({0}) Auch in der Pflegeversicherung sollten wir - dies ist meine persönliche Ansicht - aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit eine steuerfinanzierte Säule aufbauen. Doch die Kosten sind nur die eine Seite, die wir vor Augen haben müssen. Auf der anderen Seite sollten vor allen Dingen die Wünsche und Ansprüche, die Pflegebedürftige berechtigterweise haben, Maßstab für unser Handeln sein. ({1}) Deshalb möchte ich auf strukturelle Veränderungen, die wir bereits jetzt einwandfrei wollen, eingehen. Wir wollen zum Beispiel nicht, dass Patienten nach einer Operation ohne Perspektive auf eine Anschlussbehandlung aus dem Krankenhaus entlassen werden. Bei zu vielen ist dann der Weg ins Pflegeheim vorprogrammiert. Das entspricht nicht dem Wunsch der Betroffenen und den heutigen medizinischen Möglichkeiten ({2}) und ist - auch darüber muss man sprechen - vergleichsweise kostenintensiv. Ein besonders wichtiger und außerordentlich positiver Aspekt der Reformpläne ist deshalb die Schaffung des Leistungsanspruchs für Ältere und Pflegebedürftige auf geriatrische Rehabilitation. ({3}) Denn alte Menschen benötigen eine spezielle Form der Rehabilitation, die ihrer körperlichen und geistigen Konstitution entspricht und qualitativ hochwertig ist. Die Mehrheit der Menschen möchte im Alter oder bei Krankheit am liebsten zu Hause bleiben und von Angehörigen oder Pflegekräften unterstützt werden. Deshalb halte ich das Beschreiten neuer Wege in der ambulanten Versorgung für besonders wichtig. ({4}) Wir müssen Versorgungsformen schaffen, die die Patientinnen und Patienten zu Hause erreichen und aufwendige stationäre Leistungen - sei es im Krankenhaus, sei es im stationären Pflegeheim - möglichst vermeiden helfen. Dazu gehören auch die neuen und bereits angesprochenen Wohnformen für Ältere, etwa die Wohngemeinschaften für Demenzkranke. Dabei geht es immer um ein Nebeneinander von bestmöglicher ambulanter und stationärer Versorgung, höchstem medizinischen Standard und ehrenamtlichem Engagement. Das gilt auch für die Pflege Sterbenskranker. Damit komme ich auf eine weitere wichtige Säule der Strukturreformen zu sprechen: Es muss allen ermöglicht werden, ohne unnötiges Leiden und in Würde - entweder zu Hause, im Pflegeheim oder wo auch immer gewünscht - bis zum Tode betreut zu werden. Deshalb sollen Sterbenskranke erstmals einen eigenständigen Leistungsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung erhalten. ({5}) Die bisherigen ambulanten Betreuungsmöglichkeiten sind insgesamt leider noch unzureichend. Deshalb wollen wir in Deutschland flächendeckend Palliativ-CareTeams schaffen, bei denen spezialisierte Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte sowie Fachkräfte der psychosozialen Betreuung und Seelsorge im Sinne eines multidisziplinären Teams zusammenarbeiten. Dabei müssen wir die ehrenamtliche und die professionelle Sterbebegleitung, auch in stationären Altenpflegeheimen, besser miteinander vernetzen. Damit die Menschen in den stationären Pflegeheimen optimal versorgt werden, sollten die Palliativ-Care-Teams ihre Leistungen auch in diesen Einrichtungen erbringen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind wichtige Strukturmaßnahmen, ({6}) die bereits jetzt geregelt werden und auf denen die Reform der Pflegeversicherung aufbauen kann. Mit diesem Thema sollte sich auch die FDP ernsthaft auseinander setzen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der gestrigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Arbeitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Frank-Walter Steinmeier.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa ist eine Erfolgsgeschichte und dennoch in der Krise. Das ist - wenn man so will: am Vorabend der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland - die kurz gefasste Beschreibung der gegenwärtigen Situation in Europa. Nachdem die Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert sind, haben wir es in Europa nicht nur mit einer Verfassungskrise zu tun, sondern wohl auch mit etwas, das wir als Vertrauenskrise umschreiben dürfen. Die Menschen sind gegenüber dem gemeinsamen Projekt Europa skeptischer geworden. Sie sehen Europa nicht mehr in jedem Fall als Teil der Antwort auf viele Fragen und als Teil der Lösung von Problemen, sondern vielleicht sogar als Teil der Probleme. In dieser Situation befinden wir uns, wenn wir in wenigen Tagen, am 1. Januar 2007, die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Angesichts dieser Vorbemerkungen ist es relativ einfach, unsere Hauptaufgaben im kommenden Halbjahr zu beschreiben. Zunächst geht es wohl darum, Wege aus der Krise zu finden. Welche Fragen dabei im Vordergrund stehen, werde ich gleich noch ansprechen, und darum wird es natürlich auch in den Fragen gehen, die Sie stellen werden. Dann müssen wir die Menschen wieder für Europa gewinnen und wir müssen dem Einigungsprozess neuen Schwung geben. Wir müssen bei all dem den Menschen in unserem Lande klarer machen: In der heutigen, globalisierten Welt können wir Europäer nur gemeinsam bestehen. Deshalb brauchen wir eine handlungsfähige Union, um unsere Interessen - unsere deutschen wie unsere europäischen Interessen - in dieser globalisierten Welt nachhaltiger, erfolgreicher vertreten zu können. Das ist alles in allem, die Vorbemerkungen im Gedächtnis, natürlich keine ganz leichte Aufgabe. Deshalb können wir uns ihr nur widmen, wenn wir gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten handeln, wenn wir gemeinsam mit der Europäischen Kommission handeln, wenn wir gemeinsam mit dem Europäischen Parlament handeln, und das alles natürlich in engster Abstimmung mit der gegenwärtigen finnischen Ratspräsidentschaft sowie mit der portugiesischen und der slowenischen Ratspräsidentschaft, die auf uns folgen. In einem Punkte ist Europa klüger geworden: Ich freue mich, dass es in den letzten Tagen und Wochen gelungen ist, das Programm einer so genannten Trio-Ratspräsidentschaft zu beschließen. Wir gehen nicht mehr davon aus, dass sich jede Ratspräsidentschaft den Schwerpunkt für ihre sechs Monate jeweils neu setzen kann. Aus Erfahrung klug geworden, wissen wir, dass es kaum noch europäische Fragen gibt, die sich innerhalb von sechs Monaten beantworten lassen. Deswegen ist es sehr richtig, dass wir jetzt ein auf 18 Monate angelegtes Arbeitsprogramm einer Dreierpräsidentschaft Deutschland, Portugal, Slowenien verabredet haben. Auch das bringt geradezu sinnfällig zum Ausdruck, was wir uns als Motto der deutschen Ratspräsidentschaft gegeben haben: Europa gelingt gemeinsam. Was wir konkret tun wollen, erschließt sich aus dem Arbeitsprogramm, das das Kabinett gestern Abend verabredet hat. Doch vermutlich wird es so sein wie bei den vorangegangenen Ratspräsidentschaften: Erinnern Sie sich an die österreichische Ratspräsidentschaft, die an ihrem erstem Tag mit dem Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland konfrontiert war. Mit der Suche nach einer Lösung für diesen Konflikt ergab sich für sie ein völlig neuer Schwerpunkt ihrer Arbeit. Die finnische Ratspräsidentschaft war keine 14 Tage alt, als im Nahen Osten der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ausbrach. So hat sich die finnische Ratspräsidentschaft mit einem großen Teil ihrer Arbeitszeit und ihrer Möglichkeiten diesem Konflikt zuwenden müssen. Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, dass auch während unserer Ratspräsidentschaft unerwartete Konflikte auftreten werden, um die wir uns zu kümmern haben werden. Doch welche das sein werden, kann man mit noch so ehrgeiziger Planung nicht voraussehen. Was wir voraussehen können, ist das, was wir selbst gestalten können. Wir werden in der ersten Märzhälfte einen Frühjahrsgipfel abhalten, auf dem es traditionell um Arbeit und Wirtschaft gehen soll. Wir haben in unserem Arbeitsprogramm entsprechende Vorschläge aufbereitet. Mit dem Thema Energie haben wir in diesem Jahr einen zweiten wichtigen Schwerpunkt. Sie wissen aus der Vorberichterstattung, dass die Europäische Kommission gerade mit der Entwicklung eines Bündels von Vorschlägen für die Energiepolitik beschäftigt ist. Das alles muss zusammengefasst werden und mit den MitgliedBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier staaten bis zum Frühjahrsgipfel ausdiskutiert werden, damit wir dort, wie wir es im Arbeitsprogramm ehrgeizig vorformuliert haben, einen gemeinsamen europäischen Aktionsplan zu den Energieaußenbeziehungen und der Energieversorgungssicherheit verabschieden können. Bei all dem Bemühen darf allerdings - so unsere deutsche Überzeugung - keine europäische Überregulierung zustande kommen. Der Frühjahrsgipfel findet während dieser Ratspräsidentschaft auch deshalb so früh statt, weil wir am 24. und 25. März 2007 die Staats- und Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge in Berlin zu Gast haben werden. Nach unserer Auffassung soll das ein Tag sein, an dem sich nicht nur die Regierungschefs der Öffentlichkeit präsentieren, sondern an dem wir auch eine gemeinsame europäische Erklärung abgeben, die nicht nur Rückblick und Bilanz enthält, sondern durch die auch etwas über die Zukunft und die Zukunftsaufgaben der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht wird. Allein die gemeinsame Erklärung innerhalb der wenigen Monate bis Ende März zustande bringen zu lassen, ist schon ein schwieriger Prozess. Sie ahnen, dass die Erwartungen an diese gemeinsame Erklärung hoch sind. Mit dieser europäischen Erklärung wird Ende März zu einem noch schwierigeren Projekt übergeleitet, nämlich zu der erneuten Ingangsetzung des Ratifikationsverfahrens zur Europäischen Verfassung, durch die transparentere und demokratischere Verfahren gesichert werden sollen, mit denen die Handlungsfähigkeit gestärkt wird. Sie wissen, dass wir deshalb für sie kämpfen und ihre Substanz erhalten wollen. Bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft wollen wir ein klares Verfahren und einen klaren Zeitplan zustande bringen, mit dem möglichst sichergestellt wird, dass wir die Substanz der Verfassung bis zum Jahre 2009 ratifiziert haben werden. Ich habe mich nach all dem bei Ihnen dafür zu bedanken, dass Sie in der Phase der Erarbeitung des Arbeitsprogramms mitgeholfen haben und dass die Bundeskanzlerin, viele andere Mitglieder der Bundesregierung und auch ich in den Ausschüssen zu Gast sein durften und erklären konnten, was wir auf den Weg bringen wollen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem angesprochenen Themenbereich zu stellen. - Als Erstes erteile ich dem Kollegen Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke das Wort.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Außenminister, Sie haben am Schluss die EUVerfassung erwähnt. Es werden sehr große Erwartungen an die deutsche Bundesregierung hinsichtlich der Beantwortung der Frage gestellt, wie man eine Roadmap gestalten könnte, um die EU-Verfassung möglicherweise zu retten. Viele Wochen und Monate sind mittlerweile verstrichen und auch Sie haben zu diesem Thema heute wieder nur lapidar gesagt, dass man am Ende der Ratspräsidentschaft etwas vorlegen will. Es muss aber doch irgendwelche Vorstellungen darüber geben, wie man mit dem Nein in Frankreich und in den Niederlanden umgehen will. Andere Länder trauen sich gar nicht an eine Ratifizierung heran und auch Deutschland hat noch nicht abschließend ratifiziert. Meine Frage lautet konkret: Wie will Deutschland damit umgehen, dass alle Länder Ja dazu sagen müssen, wir aber wissen, dass die Franzosen diese Verfassung auf keinen Fall mehr zur Abstimmung vorlegen werden?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Meine erste Teilantwort auf Ihre Frage lautet: Wir werden einen klugen Vorschlag unterbreiten. ({0}) Herr Abgeordneter, damit das möglich bleibt, ist es in einer solch schwierigen Konfliktlage sehr ratsam - das kennen Sie aus anderen Arbeitszusammenhängen auch -, nicht mit Teilvorschlägen oder Lösungsansätzen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zweite Teilantwort: Ich stimme auch nicht mit der in Ihrer Frage formulierten Bewertung überein, dass die letzten eineinhalb Jahre sinnlos verstrichen sind. Ganz und gar nicht. Die europäischen Außenminister haben Diskussionen darüber geführt, die mir dabei geholfen haben, das Spektrum möglicher Lösungen etwas zu verengen. Damit sind wir noch nicht bei der einzigen Lösung, die am Ende übrig bleiben wird. Durch die Erwähnung dieses Arbeitsprozesses will ich aber andeuten, dass wir während unserer Ratspräsidentschaft und in den ersten Monaten im kommenden Jahr intensiv versuchen werden - ohne dabei das Thema Verfassung über alles andere hinwegstrahlen zu lassen -, im bilateralen Gespräch mit vielen europäischen Partnern zu erspüren, wo am Ende die Lösung liegen wird, mit der wir unserem Anspruch gerecht werden, dass die Substanz der Verfassung erhalten bleibt und dass sie gleichzeitig die Zustimmung aller Mitgliedstaaten finden kann. Ich glaube, dass das gelingen kann. Es gelingt aber nur, wenn alle Mitgliedstaaten bereit sind, dem Grundsatz zu folgen, den ich in meinen öffentlichen Reden gerne immer wieder erwähne: Wenn das Projekt gelingen soll, dann müssen sich alle bewegen. Angesichts der Tatsache, dass am Jahresende zwei Drittel der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Verfassungsvertrag ratifiziert haben - das heißt, ein Drittel hat dies noch nicht getan -, werden sich aber einige etwas mehr bewegen müssen als andere.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie noch eine Nachfrage? - Bitte sehr.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Außenminister, wenn Sie sagen, dass Sie die Substanz erhalten wollen, dann heißt das möglicherweise, dass es einige Änderungen geben wird, was normalerweise zur Folge hat, dass der Verfassungsvertrag dann von neuem zur Ratifizierung vorgelegt werden muss. Teilen Sie unsere Auffassung, dass man dann in allen Ländern zu Volksabstimmungen kommen muss, um Europas Bürgerinnen und Bürger dafür zu gewinnen?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Nein. Die Auffassung kann ich schon deshalb nicht teilen, weil es ein völlig unrealistisches Vorhaben ist. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister, Sie sprachen von den großen Erwartungen, die im Vorfeld der Ratspräsidentschaft an Deutschland gerichtet werden. Sie sind sicherlich auch deshalb so groß, weil wir 1999 eine ausgesprochen erfolgreiche Ratspräsidentschaft absolvieren konnten, an der Sie in Ihrer damaligen Funktion auch schon haben mitwirken können. Sie sprachen zu Recht die Berliner Erklärung an. Wir als Bundestagsabgeordnete würden Sie gerne dabei unterstützen, eine Berliner Erklärung zu formulieren, die die gesamte Verfassungsgebung in ein noch positiveres Fahrwasser bringt. Meine Frage an Sie lautet, Herr Bundesaußenminister: Wie könnten Sie sich eine aktive Mitwirkung auch von Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorstellen? Wo brauchen Sie noch Rückenwind? Wie könnten wir dazu beitragen, dass die Berliner Erklärung zukunftsweisend wird? Ich möchte noch eine zweite Frage anschließen. Das wachsende Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger an dem europäischen Integrationsprozess fußt auch auf der Erwartung vieler Menschen, dass die Europäische Union einen stärkeren Beitrag zur Lösung sozialer Probleme zu leisten vermag. Ich weiß, dass das auch ein wichtiger Punkt auf der Agenda der Bundesregierung ist. Wie könnten die Beiträge Deutschlands zur Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Union aussehen, Herr Außenminister?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Um mit der letzten Frage zu beginnen: Es hülfe schon Wahrheit weiter. Denn manche der Befürchtungen haben ihren Urgrund darin, dass Erwartungen hinsichtlich der Zuständigkeiten auf europäischer Ebene bestehen, die nicht gerechtfertigt sind. Kraft der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union auf der einen Seite und ihren Mitgliedstaaten auf der anderen Seite haben wir gegenwärtig die Situation, dass der große Schwerpunkt der sozialen Gestaltungszuständigkeiten bei den Mitgliedsländern verbleibt, sodass manche Befürchtung, dass über die Europäische Union in den nächsten Jahren in wichtigen sozialen Politikbereichen europaweit eine Nivellierung stattfinden wird, nicht berechtigt ist. Diese Gefahr droht aus meiner Sicht nicht. Gleichwohl gibt es die Erwartung - ich will nicht verhehlen, dass das auch in den Volksabstimmungen in Frankreich und in geringerem Maße, glaube ich, in den Niederlanden zum Ausdruck gekommen ist -, dass sich nach einem Verfassungskonvent, der das Thema soziales Europa aus den eben genannten Gründen - weil es auf europäischer Ebene weitgehend an Kompetenzen fehlt nicht zu einem prägenden Schwerpunkt erhoben hat, die europäischen Regierungschefs zu dieser Verantwortung bekennen. Ich gehe davon aus - damit leite ich gleich zu der Antwort auf Ihre erste Frage über -, dass es in den nächsten Wochen und Monaten aus verschiedenen Mitgliedstaaten viele Anregungen für die Aufnahme eines solchen Textes geben wird. Ich will Ihnen versichern, Herr Abgeordneter, dass wir die in den bisherigen Verfahren aus meiner Sicht gute Zusammenarbeit auch in Zukunft beibehalten sollten. Deshalb biete ich Ihnen an, immer dann, wenn es gewünscht wird, im Ausschuss mit Ihnen über Ihre Erwartungen zu diskutieren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Außenminister, für die Möglichkeit der Befragung. Für die Fraktionen ist es eine schwierige Situation, wenn sie erst heute Morgen das Dokument bekommen, dann zusammen mit den Europapolitikern zwei Stunden mit dem Präsidenten der Europäischen Union, Herrn Barroso, diskutieren und nun in die Regierungsbefragung kommen. Wir hätten uns ein bisschen mehr Zeit gewünscht. Trotzdem ist es begrüßenswert, dass wir heute Gelegenheit haben, in einer ersten Runde mit Ihnen zu diskutieren. Ich wäre mir nicht so sicher, ob die Geheimdiplomatie der Regierungen ein erfolgsträchtiger Weg ist, um bei der Verwirklichung des Verfassungsprojekts voranzukommen. Nach meiner Erfahrung in den letzten Jahren brauchen wir eine sehr viel größere Öffentlichkeit, wenn wir über die Verfassung diskutieren. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger aller europäischen Länder mitnehmen. Ich glaube, wir brauchen eine größere Offenheit in der Zieldarlegung. Sie haben unsere Ziele im VerRainder Steenblock fassungsprozess zwar kurz angesprochen, aber aus meiner Sicht nicht mit der notwendigen Klarheit. Darüber dürfen nicht nur die Regierungen hinter verschlossenen Türen diskutieren. Vielmehr müssen wir die Bevölkerung einbeziehen. Das, was Sie zum Energiebereich gesagt haben, unterstützen wir in vielen Bereichen. Herr Barroso hat im Europaausschuss sehr deutlich gesagt: Wir brauchen klare, quantifizierbare Zielstellungen bei den Emissionen von Treibhausgasen und den erneuerbaren Energien. Ich finde, das Programm der Bundesregierung ist an dieser Stelle zu wenig ambitioniert, weil es auf Konkretisierungen verzichtet, insbesondere wenn es um Wettbewerb geht. Wenn Wettbewerb im Energiebereich in Europa erreicht werden soll, dann ist - um es einmal krass und platt zu formulieren - die Zerschlagung der Energiemonopole notwendig. Die jetzige Struktur wirkt nicht wettbewerbsfördernd, sondern wettbewerbsverhindernd. Das hat Herr Barroso unterstrichen. Deshalb lautet meine Frage: Wie wollen Sie im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft dafür sorgen, dass im Energiebereich Wettbewerb realisiert wird? Meine letzte Frage in diesem Zusammenhang ist: Sie haben die Kooperation mit Russland im Energiebereich angesprochen. Ich will zwar nicht auf die aktuellen Schwierigkeiten eingehen. Wenn ich mir aber den Text betreffend die Kooperation mit Russland genau anschaue, dann stelle ich fest, dass Energie ein zentraler Punkt ist. Nach meiner Meinung reicht es nicht aus, zu sagen: Wir wollen die Zusammenarbeit mit Russland im Energiebereich verstärken. Vielmehr kommt es darauf an, Russland dazu zu bringen, internationales Recht - am besten wäre eine Energiecharta - und insbesondere die Durchleitungsrechte einzuhalten sowie für Investitionssicherheit zu sorgen. Das muss Ziel der Verhandlungen sein. Es darf nicht nur um eine allgemeine Verstärkung der Zusammenarbeit gehen, unter der sich jeder etwas anderes vorstellen kann. Ich bitte Sie als einen der zentralen Entscheider im Hinblick auf die Ratspräsidentschaft, deutlich zu sagen, welches die Ziele der Kooperation mit Russland im Energiebereich sein sollen.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Steenblock, um mit der Beantwortung der letzten Frage zu beginnen: Sie wissen vermutlich, dass Sie hier offene Türen bei mir einrennen. Ich habe mich im Sommer öffentlich kritisieren lassen müssen, dass ich gewagt habe, zu sagen: Wenn wir momentan nicht das wünschenswerte Ergebnis erzielen, dass Norwegen und Russland die Energiecharta ratifizieren, dann müssen wir die europäischen und insbesondere die deutschen Energieinteressen langfristig auf andere Weise zu sichern versuchen - was nicht die gleiche Qualität haben wird wie die von uns erwünschte Energiecharta. Dann müssen wir versuchen, bei der anstehenden Fortentwicklung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland die tragenden Elemente von mehr Versorgungssicherheit dort zu integrieren. Wir brauchen Vereinbarungen über langfristige Versorgungssicherheit sowie über Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgungsleistungen. Herr Steenblock, ich wünschte, wir wären weiter, aber im Augenblick diskutieren wir unter uns darüber, ob das der richtige Platz ist und, wenn ja, mit welchen Konkretisierungen wir in die Verhandlungen gehen sollen. Wir sprechen überhaupt noch nicht mit einem Partner, den wir noch davon überzeugen müssen, dass das der richtige Platz für die Verortung solcher Grundsätze ist. Sie rennen bei mir offene Türen ein. Ich glaube, wenn wir den Weg nach der Beilegung der Streitigkeiten mit Polen freibekommen, dann sollten wir versuchen, dieses zu einem wichtigen Bestandteil des Kooperationsabkommens zu machen. Dass wir den Weg freibekommen, hoffe ich immer noch. Was wir in Gesprächen mit Polen dafür tun können, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen gerne tun. Im Augenblick allerdings zeigt sich bedauerlicherweise an dem Punkt noch keine Bewegung. Zum Verfassungsvertrag. Herr Steenblock, ich würde gerne vermeiden, dass wir eine Verhandlungsstrategie als Geheimdiplomatie bezeichnen und eine andere einen transparenten und offenen Prozess. Worum geht es denn wirklich? Wir starten doch jetzt in eine Phase, in der sich viele Mitgliedstaaten zum ersten Mal festlegen müssen. Bislang war das im zurückliegenden Jahr eine öffentliche, mehr politische Kommentierung, die man mit Blick auf die eigene Home Consumption vorgenommen hat. Wir befinden uns aber noch nicht in einem Prozess, an dessen Ende in sieben Monaten ein gemeinsamer Vorschlag stehen muss. Deshalb hoffe ich schon, dass es - nicht im Wege einer Geheimdiplomatie, sondern im Wege eines ernsthaften und seriösen Gesprächs mit allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - schon gelingen kann, zu erspüren, wo das Maß des gemeinsamen Ganzen liegen kann. Darum bemühen wir uns. Das ist nicht intransparent; denn wenn wir diesen Zeitpunkt erreicht haben, von dem wir meinen, dass wir mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit gehen sollten, dann wird das Ganze ein öffentlicher und transparenter Vorschlag, der nicht nur nicht vor der Öffentlichkeit geheim zu halten ist, sondern über den wir die öffentliche Diskussion mit der Bevölkerung suchen. Jetzt habe ich die dritte Frage von Ihnen unterschlagen. Wie lautete sie? ({0}) - Ich weiß nicht, wie dicht Sie heute an Herrn Barroso waren und ob Sie Gelegenheit hatten, mit ihm über die Einzelprobleme zu sprechen. ({1}) Es gibt eine sehr große Bereitschaft nicht nur der Kommission, sondern fast aller Mitgliedstaaten, sich im Bereich der Förderung regenerativer Energien strikteren Vorgaben zu unterwerfen. Es gibt weitgehende Einigkeit unter den Mitgliedstaaten, so etwas wie eine europäische Energiesolidarität untereinander zu vereinbaren. Es gibt Schwierigkeiten, Vorgaben zu einem bestimmten Energiemix oder, genauer gesagt, Vorgaben zur Nutzung der Kernenergie in einem europäischen Energieaktionsplan zu machen. Weiterhin ist das Maß einer europäischen Regulierung umstritten. Darin, dass die Zerschlagung volkswirtschaftlicher Einheiten nötig ist, damit ein europäischer Wettbewerb in Gang kommt, bin ich - das muss ich ganz ehrlich sagen - nicht mit Ihnen einig.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Markus Löning für die FDP-Fraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Außenminister, herzlichen Dank. - Ich möchte zwei Punkte des Kollegen Steenblock unterstreichen. Das eine ist die Rüge an Ihr Haus, was die Zustellung des Regierungsprogramms angeht. Sie haben es gestern beschlossen. Ich habe es heute einmal von der Presse und einmal von der Europa-Union bekommen. Auf Nachfrage erklärte Ihr Haus, wir könnten es gegen 13 Uhr haben. Es tut mir Leid: Ich finde, dass das kein angemessener Umgang mit dem Parlament ist. Wir haben noch einmal nachgefragt und es dann um 11 Uhr bekommen. Insofern lag es vor. Dennoch: Der Dank an Sie, dass Sie es hier im Parlament vorstellen, ist selbstverständlich. Sie schreiben in Ihrem Papier - soweit konnte ich es schon lesen -, dass Sie zum 1. Juli 2007 den Energiebinnenmarkt vollständig herstellen wollen. Dafür haben Sie ausdrücklich die Unterstützung der FDP. Das hörte sich jetzt hier ein bisschen anders an. Man muss aber sagen, dass der Kollege Steenblock nicht völlig daneben liegt. Wir haben in Deutschland eine Oligopolsituation. Das wissen auch Sie. Wie die aufzulösen ist, ist Aufgabe einer Regulierungsbehörde bzw. der Bundesregierung. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie auch da politisch Druck machen. Herr Barroso hat großen Wert darauf gelegt, dass es möglichst bald einen europäischen Binnenmarkt gibt. Ich möchte von Ihnen gerne erfahren, wie die Bundesregierung voranzuschreiten gedenkt. Andere sind da sehr viel weiter als wir. Die Deutschen zahlen deutlich mehr, gerade beim Strom. Das könnte längst anders sein. Zum Thema Verfassung haben Sie gesagt, Sie möchten, dass die Substanz 2009 ratifiziert ist. Auch da haben Sie unsere volle Unterstützung. Ich finde die Formulierung in Ihrem Papier allerdings sehr unglücklich. Dort ist von einem ins Stocken geratenen Ratifizierungsprozess die Rede. Das widerspricht meiner Auffassung als Demokrat. Die Regel ist eindeutig: Alle Länder müssen ratifizieren; wenn ein Land nicht ratifiziert hat, ist nicht ratifiziert. ({0}) Ich finde, das Ergebnis einer Volksabstimmung ist diesbezüglich eindeutig. Es hat Volksabstimmungen in Luxemburg und in Spanien gegeben; dort war man dafür. Aber es hat eben auch zwei Volksabstimmungen gegeben, bei denen man Nein gesagt hat. Damit ist der Verfassungsvertrag in dieser Form - so Leid uns das tut nicht zu halten. Ich wünsche mir, dass das auch im Wording klar zum Ausdruck kommt. Man muss akzeptieren, was in diesen beiden Ländern passiert ist. Ich möchte von Ihnen etwas zum Thema Außenpolitik hören. Die Behandlung dieses Themas ist mir zu kurz gekommen. Notwendig ist, dass Europa gegenüber dem Iran initiativ wird. Was passiert da? Was ist da geplant? Wir sind noch nicht einmal im Ansatz da, wo wir sein müssten. Was wird aus der politischen Initiative im Nahen Osten? Wir Europäer haben einen Waffenstillstand erreicht. Das ist sehr gut und das war ein Erfolg. Aber dieser Erfolg wird uns wie Sand durch die Finger rinnen, wenn es nicht zu einem politischen Prozess kommt, wenn wir keine politische Perspektive aufzeigen. Ich möchte Sie nach einem weiteren außenpolitischen Komplex fragen: Wie möchte die EU ihre Beziehungen zu den asiatischen Ländern außer China gestalten? Dort liegt unser größtes Potenzial, was Handel und was strategische politische Allianzen angeht. Welche Initiativen planen Sie während Ihrer Präsidentschaft?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Zunächst einmal muss ich - ohne dass ich jetzt Möglichkeiten der Aufklärung habe - um Entschuldigung dafür bitten, dass Ihnen das Programm zu spät zugegangen ist. Ein kurzer Anruf bei mir oder eine Ansprache heute Morgen - wir saßen uns gegenüber - hätte gereicht, um diesen Streitpunkt, wenn es denn einer war, aus der Welt zu räumen. Was die Energie angeht: Sie haben das in dem kleinen Schlagabtausch mit Herrn Steenblock eben schon richtig interpretiert. Das Beispiel, das Sie genannt haben, ist schon ein Argument dagegen, dass der Zeitpunkt für einen europäischen Regulierer schon gekommen ist. Die Regulierung kann dann greifen, wenn wir ein einigermaßen gleiches Level Playing Field haben. Solange das Feld so unterschiedlich ist, wie es in Ihrer Frage zum Ausdruck gekommen ist, erscheint ein europäischer Regulierer problematisch, jedenfalls für uns. Deshalb bin ich persönlich etwas skeptisch. Ich glaube, im Wirtschaftsministerium denkt man ähnlich. Was die Verfassung angeht: Ich sehe jetzt nicht, warum in den von uns gebrauchten Formulierungen mangelnder Respekt gegenüber den Parlamenten oder den Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt. Was allenfalls zum Ausdruck kommt, ist, dass wir den Prozess, der mit den Ergebnissen der Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden ein vorläufiges Ende genommen hat, noch nicht für endgültig abgeschlossen halten. Das scheint in Europa überwiegend so gesehen zu werden; sonst fände das Bemühen um die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses gar nicht statt. Wenn in unserem Präsidentschaftsprogramm von „ins Stocken geraten“ die Rede ist, dann ist das noch keine Missachtung der nationalen Parlamente und insbesondere nicht der Ergebnisse von Volksabstimmungen. Im Übrigen weiß ich natürlich - halten Sie mich für realistisch genug; aber so haben Sie meine Worte auch in der Vergangenheit immer verstanden -: Wenn man das Schiff wieder auf Kurs bringen will, dann muss man auf diejenigen hören, die man dazu braucht. Ich weiß, dass man Flexibilität, also die Bereitschaft, sich zu bewegen, braucht. Verstehen Sie bitte so den von mir geprägten Satz: Alle müssen sich bewegen, aber einige müssen sich mehr bewegen als andere. Außerdem haben Sie nach unseren Partnerschaftsbeziehungen mit Asien gefragt. Wonach haben Sie noch gefragt? ({0}) Die politische Initiative im Nahen Osten verstehen Sie bitte nicht so, dass wir alle auf den Zeitpunkt warten, zu dem wir unter einer neuen Überschrift noch einmal aufschreiben, was die wesentlichen Elemente der Roadmap sind. ({1}) Die Bemühungen um ein Wiederingangbringen des Gesprächsprozesses, der dann hoffentlich irgendwann in einen Friedensprozess mündet, insbesondere zwischen Israel und Palästina, laufen. Sie sind sehr intensiv. Wir haben das in den vergangenen Tagen am Rande des Euromed-Gipfels in Tampere miteinander behandelt, aus meiner Sicht sogar in einer ganz zufrieden stellenden Art und Weise. Denn zum ersten Mal seit vielen Wochen und Monaten ist wieder sichtbar geworden, dass es Gesprächsbereitschaft zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde, gegebenenfalls auch der palästinensischen Regierung, und der israelischen Regierung gibt. Ein sehr fragiler Waffenstillstand zwischen Israel und dem Gazastreifen hält immerhin den fünften Tag an und auch einzelne Beschüsse mit Kassam-Raketen sind nicht als Bruch des Waffenstillstands insgesamt interpretiert worden. Deshalb ist meine Bitte eigentlich nur die, das, was im Augenblick stattfindet, nicht als Unterbrechung der europäischen Bemühungen zu begreifen, sondern eher so zu verstehen, dass im Augenblick ein neues Papier oder eine neue Überschrift dem Problem nicht abhilft. Aus meiner Sicht müssen wir zwei Dinge tun - wir sind sehr engagiert dabei -: Zum einen müssen wir mit beiden Seiten, der israelischen und der palästinensischen, arbeiten, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen, und zum anderen brauchen wir eine Ertüchtigung und Ermutigung des internationalen Quartetts - VN, Europäische Union, USA und Russland -, weil wir glauben, dass ohne die Autorität dieser Partner am Ende über den ersten Schritt hinaus Entscheidendes im Nahen Osten nicht zu bewegen sein wird. Wir müssen jetzt vielleicht ein paar Tage Geduld haben. Ich stehe vor einer Reise in die USA, um dann nach Vorlage des Baker-Hamilton-Berichts vielleicht auch zu erfahren, ob das auf die Haltung der amerikanischen Regierung mit Blick auf den Nahen Osten Einfluss haben wird, ob wir neue Initiativen zu erwarten haben, die wir mit den europäischen Bemühungen koordinieren oder an die wir uns anschließen können. Das müssen wir in den nächsten Tagen sehen. Darum kümmern wir uns sehr intensiv. Sie haben nach Asien außerhalb Chinas gefragt. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie dabei an die Region „Vietnam und Nachbarstaaten“ denken oder möglicherweise an die Regionen in Zentralasien, die ich im Herbst bereist habe. ({2}) Mindestens von der Region wissen Sie, dass wir während unserer Ratspräsidentschaft dem langjährigen Nachdenken darüber, ob Europa eine Zentralasieninitiative starten sollte oder könnte, eine Initiative folgen lassen werden. Darüber hinaus wird es während unserer Ratspräsidentschaft einen EU-Japan-Gipfel geben, auf dem wir mindestens die Beziehungen zwischen der EU und Japan neu diskutieren werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Herr Minister. - Die nächste Frage hat die Kollegin Dr. Schwall-Düren von der SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Außenminister, mit dem Hinweis auf die Zentralasienstrategie haben Sie schon einen Teil der EUOstpolitik angesprochen. Neben der Energieaußenpolitik kommt es hier vor allem darauf an, in unseren Nachbarregionen eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des demokratischen und marktwirtschaftlichen Transformationsprozesses in Gang zu setzen. Ich würde Sie bitten, uns hier kurz einige Hinweise dazu zu geben, inwiefern bei der Nachbarschaftspolitik durch die deutsche EURatspräsidentschaft neue Akzente gesetzt werden sollen.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Ich habe vor einiger Zeit einmal zum Ausdruck gebracht, dass wir in der nach dem 1. Januar 2007 größeren Europäischen Union eine neue unmittelbare Nachbarschaft in Europa haben. Die Länder der gesamten Schwarzmeerregion, die bislang sozusagen die übernächsten Nachbarn sind, werden dann unsere unmittelbaren Nachbarn sein. Daraus ergeben sich neue Fragen. Das ist einer der Punkte, die einfließen werden in die Fortentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik, zu der ich allerdings eine Vorbemerkung machen muss. Ich habe auf meiner Reise durch die Maghreb-Staaten eines immer deutlich unterstrichen: Es wird in Europa nicht dazu kommen und nicht dazu kommen dürfen, dass wir unsere Nachbarstaaten im Osten und im Süden völlig unterschiedlich behandeln. Wir werden eine gleichgewichtige, ausgewogene Partnerschaftspolitik der Europäischen Union haben, gegebenenfalls auch fortentwickeln. Um das sicherzustellen und mit Glaubwürdigkeit gegenüber den südlichen Nachbarländern zu verbinden, weise ich immer darauf hin, dass wir unsere Bemühungen mit der portugiesischen Ratspräsidentschaft abgleichen, die vor ihrem geografischen Hintergrund ihren Blick natürlich stärker in Richtung südliche Anrainerstaaten des Mittelmeers richtet. Was sich aber für beide Nachbarschaften aus der Berichterstattung der Europäischen Kommission am Jahresende als Ergebnis destillieren lässt, ist, dass wir uns vermutlich stärker darauf konzentrieren müssen, nicht über das gesamte Politikfeld hinweg, sondern in bestimmten Sektoren Nachbarschaften zu intensivieren. Wir haben das im Bereich der Energiepolitik erfolgreich etwa mit den Staaten des westlichen Balkans getan, wobei wir auch gesagt haben: In einer Situation, in der zeitlich nicht absehbar ist, dass diese Staaten schon zur Europäischen Union gehören, kann es sinnvoll sein, in einzelnen Politikbereichen zu versuchen, den europäischen Acquis so weit wie möglich zu erreichen. Dies ist ein Modellfall, bei dem man überlegt, ob man ihn auch auf andere Regionen überträgt. Man könnte daran denken, dass man eine solch gezielte Politik auch gegenüber der Ukraine oder anderen Nachbarstaaten, auch gegenüber südlich gelegenen Staaten erreicht. Es kommt hinzu, dass die Kommission überlegt, ob man jenseits der bisherigen Praxis der Nachbarschaftspolitik auch darüber nachdenkt, dass man Belohnungselemente mit in diese Nachbarschaftspolitik einbaut, also die Staaten, die sich, was Rechtsstaat, Demokratie und Pluralismus angeht, schneller entwickeln, mit einer entsprechenden fördernden Nachbarschaftspolitik stärker untersützt. Das sind Elemente, die sich nach einem Bericht der Kommission ergeben werden, aus dem wir zusammen mit der Kommission einen neuen Verhandlungsvorschlag für die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Halbjahr entwickeln werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Die Zeit ist eigentlich abgelaufen. Wir haben noch eine Frage. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich dem Kollegen Rainder Steenblock noch die Gelegenheit zu einer kurzen Frage geben.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich mache es ganz kurz. Das Thema, das ich gerne ansprechen möchte, ist die Türkei. Herr Minister, die Grünen haben Ihre besonne- nen Äußerungen zu den Verhandlungen mit der Türkei immer unterstützt. Wir hören aus den Reihen Ihres Ko- alitionspartners sehr unterschiedliche Positionen zu die- sen Verhandlungen mit der Türkei. Das ist ein wichtiges Thema auch für die Zeit unserer Ratspräsidentschaft. Wir kennen die Situation, dass Koalitionspartner un- terschiedlich in der Öffentlichkeit agieren. Deshalb lesen wir mit besonderer Aufmerksamkeit das, was in den Pa- pieren zur Vorbereitung des Rates steht. Ich bin über- rascht. Auf der einen Seite steht dort: Der Beitrittspro- zess soll - ich sage es jetzt einmal frei - nach dem Kriterium der Aufnahmefähigkeit erfolgen. Auf der an- deren Seite heißt es zur Türkei und zu Kroatien sinnge- mäß: Er wird je nach Fortschritt weitergeführt. Meine Frage lautet: Soll neben den geltenden Kopen- hagener Kriterien dieses unklare Kriterium der Aufnah- mefähigkeit auch in die Verhandlungen mit der Türkei und Kroatien implementiert werden? Oder gilt das für zukünftige Prozesse? Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund ihrer anstehenden Ratspräsident- schaft den jetzigen Vorschlag der Kommission, was die Verhandlungen mit der Türkei und die Fortführung an- geht?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Was die so genannte Absorptions- oder Aufnahmefä- higkeit angeht, so ist nach dem Antrag, den Frankreich während des europäischen Gipfels vor einem Jahr ge- stellt hat, klar: Es soll sich hier kein neues Kopenhage- ner Kriterium entwickeln. Sie können im Grunde genommen, ohne dass ich der Diskussion im Rat der Außenminister und erst recht der auf dem Gipfel vorgreifen will, aus dem Bericht der Kommission schon jetzt ungefähr ableiten, wie sich die Diskussion entwickeln wird. Im Bericht wird Skepsis geäußert - diese teile ich ausdrücklich -, ob sich der Grad der Aufnahmefähigkeit Europas in irgendeiner Art und Weise mathematisieren lässt. Ich habe von jeher ge- sagt, man müsse sich wahrscheinlich von der Vorstel- lung verabschieden, dass es irgendwann einmal gelingt, den Grad der Aufnahmefähigkeit Europas aus statisti- schen Erhebungen über die Entwicklung des durch- schnittlichen Wirtschaftswachstums und der Arbeitslo- sigkeit oder aus demografischen Kurven abzuleiten. Ich glaube, das wird nicht gehen. Ein gewisses Maß an Er- nüchterung bringt ja auch der Bericht der Europäischen Kommission zum Ausdruck. Hinsichtlich des nun vorliegenden Kommissionsvor- schlages zur Fortführung des Beitrittsverfahrens mit der Türkei habe ich gestern zum Ausdruck gebracht, dass ich ihn für angemessen und verantwortungsvoll halte. Sie wissen, niemand hätte es lieber als ich gesehen, wenn es der finnischen Ratspräsidentschaft gelungen wäre, auf Basis ihrer, wie ich finde, kreativen Kompro- missbemühungen eine Lösung zu erreichen. Das ist lei- der nicht gelungen. Daher bleibt es dabei: Einerseits kann man im weiteren Prozess die Nichtratifizierung des Ankaraprotokolls und damit die Nichtöffnung der Häfen und Flughäfen auf türkischer Seite für zypriotische Schiffe und Flugzeuge nicht ignorieren. Andererseits bringt der Kommissionsvorschlag zum Ausdruck, dass es nicht im europäischen Interesse sein kann, den Pro- zess der Annäherung der Türkei an Europa abzubrechen oder zu unterbrechen, und macht operative Vorschläge, wie dieser Prozess auf einem minderen Niveau aufrecht- zuerhalten ist. Das ist schon schwierig genug, weil es nicht ganz einfach sein wird, über die Fortführung der Verhandlungen über Kapitel, die die Kommission im Prinzip für diskussionsfähig hält, Einigkeit unter allen Mitgliedstaaten zu erzielen. Diesen politischen Prozess müssen wir jetzt aber angehen. Eine weitere Frage ist, ob man Kompromissvor- schläge der finnischen Ratspräsidentschaft, die nicht zum Erfolg geführt haben, noch einmal aufgreifen soll. Ich bin der Meinung, solange der Abstand zu entschei- denden Wahlen in der Region, insbesondere zu der türki- schen Parlamentswahl, groß genug ist, sollte man den Versuch noch einmal unternehmen. Zugleich sollte man aber keine unrealistischen Erwartungen an weitere Kom- promissbemühungen stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Herr Bundesminister Steinmeier. Ich beende die Befragung der Bundesregierung. Die vorgesehene Zeit ist schon deutlich überschritten. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/2581 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - Drucksache 16/3635 Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Otto ({1}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Bärbel Höhn, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mehr Wettbewerb und Verbraucherschutz auf dem Telekommunikationsmarkt - Drucksachen 16/2625, 16/3635 Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Otto ({3}) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. ({4})

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes werden die Rahmenbedingungen auf den Kommunikationsmärkten weiter verbessert. Ich glaube, es ist uns damit gelungen, einen Ausgleich zwischen den vielschichtigsten Interessenlagen zu finden. Wir verfolgen ja mit dem Gesetz zwei Zielrichtungen: einerseits die Stärkung der Verbraucher und andererseits die Schaffung eines günstigen Innovations- und Investitionsklimas für den Auf- und Ausbau einer modernen Infrastruktur. Ich denke, dass wir in den vergangenen Jahren mit der sektorspezifischen Regulierung in unserer Telekommunikationspolitik den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir haben gute Erfolge für die Wirtschaft und für die Verbraucher erzielt. Es gibt inzwischen mehr Anbieter, eine größere Angebotsvielfalt und vor allem niedrigere Preise, und zwar in allen Bereichen, ob Mobilfunk, Festnetz oder Internet. ({0}) Wenn man merkt, dass man den richtigen Kurs eingeschlagen hat, dann sollte man auf diesem Kurs weiterfahren. Für uns ist sehr wichtig, dass investiert wird und Innovationen sich lohnen, vor allem in der breitbandigen Infrastruktur. Wir alle kennen und schätzen die Breitbandtechnologie in ihrer Bedeutung für die Entstehung neuer, innovativer Informations- und Kommunikationsdienste. Der Grundsatz unserer Regelungen, die wir sehr abstrakt und technikneutral gestaltet haben, heißt Nichtregulierung neuer Märkte. Nur wenn die Wettbewerber nicht in der Lage sind, diesem Grundsatz zu folgen und sich zu ökonomisch vertretbaren Bedingungen Zugang zum Markt zu verschaffen, kommt die Bundesnetzagentur ins Spiel und trifft die Entscheidung über die Regulierung bestimmter Märkte oder Produkte, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission. Wir wissen, dass dieses Thema sehr kontrovers diskutiert worden ist, auch bei uns intern und in der Öffentlichkeit. Aber nun ist eine Lösung gefunden worden, von der ich glaube, dass sie den berechtigten Interessen aller Beteiligten und vor allem der investitionswilligen Unternehmen Rechnung trägt sowie den Wettbewerbsaspekten Rechnung tragen kann, und bei der wir, auch nach intensiven Überprüfungen, das Gefühl haben, dass sie europarechtskonform ist. Aber man muss auch klarstellen, dass die Forderungen nach einer generellen Freistellung von neuen Märkten über einen gewissen Zeitraum, die in der Branche erhoben worden sind, nach unserer Auffassung nicht mit dem Europarecht vereinbar sind, auch nicht mit dem Ziel, wettbewerbsrechtliche Verzerrungen zu vermeiden, das wir immer gehabt haben. ({1}) Wir wollen - ich glaube, alle hier im Haus -, dass möglichst viele Unternehmen in diese Infrastruktur investieren und dass es in dem Zusammenhang zu einem nachhaltigen Wettbewerb kommt. Nun ist bei der Diskussion dieses Gesetzes oft von einem Spannungsverhältnis zwischen der Wirtschaft auf der einen Seite und den Verbrauchern auf der anderen Seite gesprochen worden. Ich glaube, das ist eine oberflächliche Betrachtungsweise. Wie ich schon erwähnt habe, hat der Verbraucher gerade von der ausgeprägt wettbewerbsorientierten und wirtschaftsfreundlichen Politik in der Vergangenheit sehr profitiert. Deswegen sind diese zwei Komponenten auch kein Widerspruch. Aber wir müssen auch sehen, dass der Markt ein sehr technikorientierter Markt mit einer sehr hohen Dynamik ist, bei dem allerdings auch Intransparenz und missbräuchliches Verhalten festzustellen sind. Unsere Aufgabe ist, diesem missbräuchlichen Verhalten entgegenzuwirken und entsprechende Gesetze zu erlassen. Gerade zum Schutz der Jugend müssen wir neue Bestimmungen in das Gesetz aufnehmen. Ein wichtiger Punkt war für uns die Überschuldung von jungen Menschen, die gerade in diesem Bereich sehr stark zugenommen hat. Denken Sie allein an das Thema Klingeltöne; jeder, der Kinder hat, weiß, wovon ich spreche. Es wird nicht nur ein Klingelton, sondern es werden meistens komplette Charts heruntergeladen. Ehe man sich versieht, ist man an ein Abonnement gebunden. Am Ende des Monats kommt dann das böse Erwachen in Form einer Rechnung, die ins Haus flattert. Wir werden dafür sorgen, dass ein Kündigungsrecht gesetzlich verankert wird. Wir werden ebenfalls dafür sorgen, dass zukünftig eine Warn-SMS gesendet werden muss, wenn ein Betrag von 20 Euro aufgelaufen ist. ({2}) Wichtig ist, mehr Transparenz für die Verbraucher zu schaffen, indem wir Vorgaben über Preisangaben und Preisansagen verbessern. Es ist wichtig, dass wir damit das Vertrauen in den Bereich der elektronischen Dienstleistungen zukünftig stärken. Der Endverbraucher muss sich darauf verlassen können, dass er bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen über elektronische Medien vor Missbräuchen geschützt ist. Wenn dieses Vertrauen gegeben ist, dann werden diese Mehrwertdienstleistungen auch mehr in Anspruch genommen, was wiederum einen gewissen Impuls für die Wirtschaft gibt. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang den Verhaltenskodex, den sich die Wirtschaft auferlegt hat. Wir werden sie darin unterstützen. Ich glaube, mit diesem Gesetz werden wir das Ziel erreichen, dass wir einen sehr leistungsfähigen Telekommunikationsmarkt mit einem optimalen Angebot von Diensten schaffen. Es ist ein wichtiger Industriezweig, der den erhofften Impuls für die Gesamtwirtschaft geben wird. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto von der FDP-Fraktion. ({0})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit den Gemeinsamkeiten beginnen. Die Telekommunikationsbranche ist in der Tat der Innovationsund Wachstumstreiber mit einem durchschnittlichen Wachstum pro Jahr von 3,5 Prozent und 25 000 neuen Arbeitsplätzen in 2006 und 2007. Ich weiß nicht, woher die Linken ihre Zahlen bekommen. Uns liegen sehr viel positivere Zahlen vor. Ein Drittel des Produktivitätsfortschritts in Europa wird durch die Informations- und Kommunikationstechnologie getrieben. Uns alle eint der Wille, Rahmenbedingungen zu schaffen, die weiteres Wachstum und insbesondere den Ausbau der Infrastrukturen fördern. Der Wille eint uns; leider eint uns noch nicht der Weg. Ich komme gleich darauf zurück. Uns eint auch das Ziel, Frau Staatssekretärin, den Verbraucherschutz zu stärken. Im Interesse des Verbraucherschutzes und einer höheren Transparenz hätten wir uns allerdings eine einheitliche Preisgrenze von 3 Euro gewünscht. Sie haben mit zwei Preisgrenzen von 2 Euro bzw. 3 Euro der Transparenz nicht gerade gedient. Das trägt sicherlich ein wenig zur Verwirrung der Verbraucher bei. ({0}) - Ganz ruhig. - Insgesamt, lieber Herr Kollege, halten wir die Verbraucherschutzregeln aber für einen Fortschritt, den wir mittragen können. Wir tragen durchaus auch Ihre Auffassung mit, Investitionen in neue Märkte durch Anreize zu ermutigen. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir aber Investitionen im Wettbewerb stärken, nicht wie Sie unter Ausschaltung des Wettbewerbs. ({1}) Die Geschichte der Telekommunikationsbranche in Deutschland und darüber hinaus ist eine einzige Erfolgsstory. Keine andere Branche hat einen solchen Produktivitätsfortschritt, solche Innovationskraft, so viele neue Arbeitsplätze und so starke Preissenkungen hervorgebracht. Sie haben schon darauf hingewiesen: Für Telefongespräche ins Festnetz gab es in den letzten zehn Jahren Preissenkungen von 94 Prozent. Was war das Erfolgsrezept? Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb. Liebe Frau Wöhrl, Sie haben davon gesprochen, den erfolgreichen Kurs weiterzufahren. Das ist auch unsere Auffassung. Wir denken aber, dass Sie gerade beginnen, den erfolgreichen Kurs zu verlassen. Was wir brauchen, ist weiterhin eine behutsame Regulierung oder, wie es mein Vorsitzender gesagt hat, eine Regulierung mit Augenmaß. Aber was wir nicht gebrauchen können, ist Hans-Joachim Otto ({2}) die Ausschaltung von Wettbewerb - Regulierungsferien -, wie Sie es jetzt vorschlagen. ({3}) Wir brauchen eine Balance zwischen den Investoreninteressen und der Förderung von Wettbewerbsdynamik. ({4}) - Liebe Frau Kollegin Dr. Krogmann, dies könnte zum Beispiel dadurch geschehen, dass wir die Möglichkeit der Netzagentur erhalten, dem Investor Pioniergewinne in Form von erhöhten Netzzugangsentgelten zuzubilligen. Das Erfolg versprechende Rezept für mehr Investitionen ist „Mut zum Wettbewerb“ und „Vertrauen zu den Wettbewerbsbehörden“. Aber in Ihrem Gesetzentwurf tun Sie im entscheidenden Punkt genau das Gegenteil. Es hätte überhaupt keiner Gesetzesbestimmung zu den neuen Märkten bedurft. Die Netzagentur verfügt schon bisher über alle Möglichkeiten, behutsam und zurückhaltend neue Märkte zu regulieren oder sich sogar ganz einer Regulierung zu enthalten. Stattdessen wollen Sie eine Gesetzesdefinition des neuen Marktes; das ist überflüssig. Aber wenn Sie eine solche schon in das Gesetz schreiben, dann bitte doch nicht in Abweichung vom bewährten Bedarfsmarktkonzept der EU. Jetzt kommen wir zu den entscheidenden Punkten. Sie legen der Netzagentur eine Stahlkugel ans Bein. Sie verbieten der Netzagentur, tätig zu werden, und zwar selbst dann, wenn die Entwicklung eines Marktes durch die Deutsche Telekom unzweifelhaft behindert wird. Einschreiten dürfen die Wettbewerbshüter nämlich erst dann, wenn der Markt dauerhaft behindert wird, also erst dann, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist und Deutschland Tausende Arbeitsplätze verloren hat. Der zentrale Kritikpunkt an Ihrem Gesetz ist somit das Wort „langfristig“ in § 9 a. Das ist die faktische Entmachtung der Netzagentur durch den Gesetzgeber. ({5}) Genau an dieser Stelle besteht der Kern Ihres Konfliktes mit der EU. Nicht nur die Medienkommissarin Reding, sondern auch die Wettbewerbskommissarin Kroes und die gesamte EU-Kommission werfen Ihnen wegen dieser langfristigen Ausschaltung des Wettbewerbs Protektion eines Staatsunternehmens vor. Die Kommission wird - das hat sie angekündigt - ein Eilverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Übrigens sind dieser Auffassung auch die Wirtschaftsminister im Bundesrat; denn, nebenbei gesagt, das Gesetz ist ja zustimmungspflichtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie mögen vielleicht eine andere Rechtsauffassung haben als die EU-Kommission. Das bewahrt Sie aber nicht davor, dass die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren an den Hals bekommt und unsere Nachbarländer uns mit langen Fingern Protektionismus vorhalten. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Verfahren unsere EU-Ratspräsidentschaft nicht besonders beflügelt und das alles wegen eines Wortes, des Wortes „langfristig“. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie streichen dieses eine Wort aus Ihrem Entwurf. Sie bekommen die Zustimmung der Opposition ({6}) und - das ist viel wichtiger - Sie vermeiden das peinliche Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Sie vermeiden dadurch das Risiko von Schadensersatz in Milliardenhöhe und schaffen - das will ich hier besonders betonen - zugunsten der Deutschen Telekom Rechtssicherheit. Die Deutsche Telekom ist nach unserer Auffassung viel stärker, als Sie selbst vermuten. Dort nämlich, wo die Deutsche Telekom in vollem Wettbewerb agiert hat, wie zum Beispiel im Mobilfunkbereich, hat sie sich erfolgreich behauptet. Wir trauen der Deutschen Telekom und insbesondere dem neuen Vorstandsvorsitzenden Obermann mehr zu als Sie. Wir sind der Auffassung, dass er keine Protektion benötigt. Wir sind der Auffassung, dass sich die Deutsche Telekom und Obermann auf dem Markt behaupten werden. ({7}) Zum Abschluss möchte ich feststellen: Mehr Vertrauen in den Markt stärkt nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland. Mehr Vertrauen in den Markt stärkt - zumindest langfristig - auch die Deutsche Telekom. Das sollten Sie sich vor Augen halten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Dörmann von der SPD-Fraktion.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes verfolgt die große Koalition vor allem zwei übergeordnete Ziele: Erstens: Wir verbessern die Schutzvorschriften für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Zweitens: Wir schaffen Anreize für zusätzliche Investitionen in neue Märkte. Beim Verbraucherschutz führen die neuen Regelungen beispielsweise zu mehr Preistransparenz, Jugendschutz und Kostenkontrolle. Hierauf wird mein Fraktionskollege Manfred Zöllmer nachher noch ausführlicher eingehen. Das zweite zentrale Anliegen der Gesetzesnovelle ist die Stärkung des Investitionsstandortes Deutschland. Es wurde schon erwähnt: Die IT- und Telekommunikationsbranche ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor für unser Land. In den letzten zehn Jahren stieg ihr Anteil am Bruttosozialprodukt von 4,7 auf fast 7 Prozent. Wir wollen, dass auch in Zukunft Investitionen in diesem Bereich Wachstum und neue Arbeitsplätze schaffen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei Investitionen in innovative Produkte, durch die neue Märkte entstehen. Es stellt sich nun jedoch die Frage - sie haben wir heute zu beantworten -, inwieweit diese neuen Märkte reguliert werden sollen. Grundsätzlich hat sich die Regulierung im Telekommunikationsbereich - da sind wir uns alle einig - durchaus bewährt. Der Wettbewerb funktioniert. Wir alle profitieren von deutlich gesunkenen Preisen. ({0}) Der Anteil der Wettbewerber am Gesamtmarkt für Telekommunikationsdienste liegt nach aktuellen Zahlen des Branchenverbandes VATM in diesem Jahr bei rund 51 Prozent gegenüber der Telekom mit 49 Prozent. Die Regulierung greift dort zu Recht ein, wo ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung hat und hierdurch ein deutliches Ungleichgewicht gegenüber den Wettbewerbern besteht. Im Bereich neuer Märkte haben wir jedoch eine besondere Situation vor Augen, die wir berücksichtigen müssen. Hier sieht sich nämlich ein Marktführer, der in neue Techniken und Produkte investieren will, einem doppelten Risiko ausgesetzt. Zum einen weiß das Unternehmen zum Zeitpunkt der Investition ja noch gar nicht, ob und inwieweit sich die neuen Produkte am Markt überhaupt etablieren und durchsetzen. ({1}) Das ist bei einem neuen Markt ein spezifisches Risiko. Bereits hieraus ergibt sich also ein spezifisches Investitionsrisiko. Wird der neue Markt auch noch von Anfang an reguliert und damit den Wettbewerbern die Möglichkeit eröffnet, ein Vorleistungsprodukt zu regulierten Bedingungen in Anspruch zu nehmen, können diese unter Umständen die neuen Produkte zu vergleichbaren oder sogar zu geringeren Konditionen am Markt anbieten. Das investierende Unternehmen würde aber so von vornherein seine Pioniervorteile verlieren. ({2}) Es wird sich also sehr genau überlegen müssen, ob es angesichts hoher Investitionskosten dieses doppelte Risiko wirklich eingeht. Insoweit besteht sogar ein zusätzliches Ungleichgewicht zulasten des zuerst investierenden Marktführers. Denn die Wettbewerber können ja zunächst in Ruhe abwarten, ob die Produkte am Markt überhaupt angenommen werden, und möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt nachziehen, um ihr eigenes Risiko gering zu halten. Dieses spezifische Investitionsrisiko und Ungleichgewicht bei neuen Märkten kann dazu führen, dass ein Unternehmen bei frühzeitiger Regulierung auf seine Investition ganz verzichtet. Das aber wäre schädlich, und zwar sowohl für den Standort Deutschland, für Arbeitsplätze, als auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Aus diesem Grund sieht das neue TKG in § 9 a eine spezielle Regelung für neue Märkte vor. ({3}) Diese sollen vorübergehend von der Regulierung ausgenommen werden, um Anreize für zusätzliche Investitionen in Innovationen zu setzen. Der neue § 9 a setzt hierfür gleichzeitig aber auch eine klare Grenze: Die Regulierung greift dann ein, wenn ansonsten die nachhaltige Entwicklung eines wettbewerbsorientierten Marktes langfristig behindert würde. Damit stellen wir sicher, dass keine dauerhaften Monopole entstehen können. Wir haben zudem großen Wert darauf gelegt - Herr Otto hat ja gerade etwas anderes suggeriert -, dass die Bestimmung auch europarechtskonform ausgestaltet wird. Die EU gibt hinsichtlich der Telekommunikationsmärkte einen Rechtsrahmen für die Regulierung vor, in dem wir uns bewegen können. Darin ist ausdrücklich vorgesehen, dass neue Märkte vorübergehend von der Regulierung freigestellt werden können, um Investitionen nicht zu gefährden. ({4}) So kommen beispielsweise nach Erwägungsgrund 15 der Märkte-Empfehlung der EU-Kommission neue und sich abzeichnende Märkte, auf denen Marktmacht aufgrund von Vorreitervorteilen besteht, grundsätzlich für eine Vorabregulierung nicht in Betracht. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Otto.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte dem Präsidenten nicht vorgreifen. Aber die 10 Sekunden schreiben Sie mir bitte gut.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Uhr wird angehalten. ({0}) Schauen Sie auf die Uhr, dann sehen Sie es.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Dörmann, es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass auch meine Rede sehr differenziert war und ich nicht von vornherein gegen § 9 a gesprochen habe, dass ich mich vielmehr gegen die Tatsache gewandt habe, dass hier eine dauerhafte Behinderung des Marktes verlangt wird. Das genau ist der Punkt, der europarechtswidrig ist. Mich würde interessieren, wie Sie zu der Auffassung kommen, dass das alles in Ordnung sei, obwohl die EU-Kommission beabsichtigt, ein Verfahren gegen Deutschland einzuleiten.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Otto, ich bin ein bisschen enttäuscht. Wir haben uns gestern im Wirtschaftsausschuss sehr ausführlich über diese Frage unterhalten. Ich habe Ihnen dort den Hinweis gegeben, dass seitens des Wirtschaftsministeriums eine Drucksache vorgelegt wurde, in der genau diese Fragen erörtert werden. Darin wird eindeutig festgestellt, dass die jetzt gefundene Regelung europarechtskonform ist und insbesondere das Wort „langfristig“ an vielen Stellen des EU-Rechtsrahmens aufgeführt wird. Der EU-Rechtsrahmen berücksichtigt also das Kriterium, ob ein Wettbewerb dauerhaft behindert wird. Nichts anderes macht der deutsche Gesetzgeber in diesem Zusammenhang. In Ihrer Rede haben Sie gesagt, dass die EU-Kommissarin Reding Zweifel an der Rechtmäßigkeit nach EURecht geäußert hat. Ich will darauf hinweisen, dass die EU-Kommission keine Rechtsprechung betreibt, sondern selbst eine politische Rolle spielt. Sie wissen ebenso wie ich, dass dieser Versuch der EU-Kommission darauf abzielt, auf europäischer Ebene für die EU-Kommission mehr Kompetenzen in Regulierungsfragen zu etablieren. Zu Recht hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme klargestellt, dass sie das anders sieht. Wir haben immer noch nationale Märkte. Ich interpretiere die Äußerungen der zuständigen EU-Kommissarin als einen politischen Versuch, Druck auf den deutschen Gesetzgeber auszuüben, damit er den vorgesehenen Rechtsrahmen nicht ausfüllt. Das können wir doch wohl nicht mitmachen. ({0}) Wir können doch aufgrund einer politischen Stellungnahme einer Kommissarin nicht von unseren Grundsätzen und von dem, was wir als politisch richtig erachten, abgehen. ({1}) - Nein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Frage ist beantwortet. Fahren Sie bitte in der Rede fort.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Otto, ich will Ihnen noch einen zweiten Hinweis geben, der in den Dokumenten ebenfalls enthalten war. In Erwägungsgrund 27 der Rahmenrichtlinie wird anerkannt, dass auf Märkten, die neu sind, der Marktführer zwar über einen beträchtlichen Marktanteil verfügen dürfe, ihm in diesen Konstellationen jedoch keine unangemessenen Verpflichtungen auferlegt werden sollten. Ich gehe davon aus, dass sich die EU-Kommission auch in Zukunft an diesen Rahmen halten wird. Genau dieser grundsätzlichen Überlegung entspricht der neue § 9 a nämlich. Deshalb bewegen wir uns europarechtlich auf sicherem Grund. ({0}) Der deutsche Gesetzgeber kann einen Rahmen vorgeben, jedoch selbstverständlich keine Einzelfallentscheidungen treffen. Die Regulierungsbehörde, also die Bundesnetzagentur, wird in konkreten Fällen zu entscheiden haben, inwieweit eine langfristige Behinderung des Wettbewerbs droht, und das Marktgeschehen genauer beobachten. Herr Otto, Sie sollten Vertrauen in die Bundesnetzagentur haben. ({1}) Auch spezielle Zugangsfragen zu nicht ohne weiteres nachzubildenden Teilen der Infrastruktur sind von der Bundesnetzagentur gegebenenfalls zu prüfen. Wir lassen ihr den Ermessensspielraum, den sie braucht. Ich will darauf hinweisen, dass die Bundesnetzagentur in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses - Herr Otto, Sie wissen das - die Europarechtskonformität des neuen § 9 a ausdrücklich bestätigt hat. ({2}) - Die alte Regelung ist materiell identisch mit der neuen. Vor diesem Hintergrund sind manch kritische Anmerkungen zu diesem Thema sachlich kaum noch nachzuvollziehen. ({3}) Was aber sind „neue Märkte“? Auch hierüber hat sich in den vergangenen Monaten eine kontroverse Debatte entwickelt. Sie findet vor einem konkreten Hintergrund statt; wir wissen das. Die Deutsche Telekom hat angekündigt, ihr Glasfasernetz auszubauen; dank VDSL-Technik können deutlich vergrößerte Bandbreiten und Geschwindigkeiten für Datenübertragungen angeboten werden, die wiederum neue Nutzungsmöglichkeiten schaffen. In zehn Städten erfolgt dieser Ausbau bereits, weitere 40 könnten in einer nächsten Ausbaustufe folgen. Hierfür sind insgesamt 3 Milliarden Euro Investitionen und 5 000 zusätzliche Arbeitsplätze vorgesehen. Die aktuelle Diskussion hat also einerseits einen konkreten Hintergrund. Andererseits kann es jedoch nicht darum gehen, eine Lex Telekom zu schaffen und eine bestimmte Technik regulierungsfrei zu stellen. Bei der gesetzlichen Definition, wann es sich um einen neuen Markt handelt, haben wir uns vielmehr von folgenden Kriterien leiten lassen: Eine gesetzliche Definition muss technikneutral formuliert sein, sie darf den Beurteilungsspielraum der Bundesnetzagentur nicht unangemessen einengen und sie ist selbstverständlich ebenfalls europarechtskonform auszugestalten. Die von uns gewählte Definition eines neuen Marktes entspricht diesen Kriterien. Sie ist im Übrigen aus dem anerkannten Bedarfsmarktmodell entwickelt. Danach setzt ein neuer Markt neue Dienste und Produkte voraus, die sich von den vorhandenen aus Sicht eines verständigen Nachfragers erheblich unterscheiden und diese nicht lediglich ersetzen. Es werden zugleich verschiedene qualitative Eigenschaften genannt, die geprüft werden müssen. In der Gesetzesbegründung ist ebenfalls ausführlich hervorgehoben, dass es bei dieser Prüfung selbstverständlich um eine Gesamtbetrachtung geht. Durch die gewählte Definition ist klargestellt, dass reine Infrastrukturen nicht ohne weiteres für sich regulierungsfrei gestellt werden, ohne dass damit neue Produkte verbunden wären. Auch insofern sind die von manchen Wettbewerbern vorgebrachten Bedenken unbegründet. Es wäre gut - ich will das ausdrücklich betonen -, wenn möglichst viele Unternehmen - nicht nur die Telekom - selbst in neue Infrastrukturen investierten. In meiner Heimatstadt Köln beispielsweise plant Net-Cologne den Ausbau eines eigenen VDSL-Netzes und will hierfür gut 200 Millionen Euro in die Hand nehmen. Es ist also möglich, dass man selbst investiert. ({4}) Ich bin von daher sehr zuversichtlich, dass wir auf dem VDSL-Markt in einigen Jahren mehrere Anbieter und einen regen Wettbewerb haben werden. ({5}) Dauerhafte Monopolstrukturen schließen wir durch das neue Gesetz aus. Aber ohne Vorreiter werden andere nicht nachziehen. Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz geben wir grünes Licht für mehr Verbraucherschutz und zusätzliche Investitionen in neue Märkte. Dies liegt im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher und im Interesse einer guten wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Herbert Schui von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besonders bedeutend beim Entwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften ist der § 9 a. Er legt fest: Neue Märkte unterliegen grundsätzlich nicht der Regulierung. Zweierlei ist dazu zu fragen. Erstens. Regelt das Gesetz einen Aspekt der Telekommunikation allgemein oder ist es eine spezielle Lex Telekom? Die Koalitionsparteien müssen den folgenden Verdacht entkräften: Der Kurs der Telekomaktie ist gegenwärtig niedrig. Das Gesetz ermöglicht der Telekom für eine bestimmte Zeit einen höheren Gewinn. Das steigert den Aktienkurs. Damit erzielt der Bund, wenn er denn privatisieren sollte, für seinen restlichen Anteil einen höheren Erlös. Schwer abzuschätzen ist, ob die höheren Preise, die die Verbraucher zahlen, den zusätzlichen Privatisierungserlös übertreffen oder unterschreiten. Das Gesetz ermöglicht auf diesem so genannten neuen Markt eine Art Sondersteuer, die den Privatisierungserlös des Bundes steigern soll. ({0}) - Sind Sie denn nicht darüber informiert, dass die Telekomaktie einen niedrigen Kurs hat, und darüber, dass der Bund weiter privatisieren will und das nur dann erlösgünstig tun kann, wenn die Aktienkurse hoch sind? Das ist doch trivial. ({1}) Das sollte auch Ihnen aufgefallen sein, selbst wenn Sie in der Koalition sind. ({2}) Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch dieses Gesetz aus dem alten Staatsmonopol ein neues privates Monopol wird. Immerhin ist das der Verdacht der EU-Kommission. Zweitens. Um Frieden zu stiften, Herr Kollege, kommen wir der Koalition entgegen und verstehen das Gesetz als eine allgemeine Norm, also nicht als ein spezielles Telekomgesetz. Dann ist der Grundgedanke des Gesetzes folgender: Geregelt wird die Position des Pionierunternehmers in einem speziellen Bereich. Er entwickelt im Allgemeinen neue Produkte, Produktionsverfahren oder erschließt einen neuen Markt. Geregelt wird offenbar dort, wo der Markt versagt und wo die Politik lenken soll. An der Idee eines privaten Pionierunternehmers wird aus so genannten ordnungspolitischen Vorstellungen festgehalten. Wenn Schumpeter in diesem Zusammenhang Ihr Gewährsmann ist, sage ich Ihnen ganz nebenbei: Seiner Auffassung nach konnte auch ein öffentliches Unternehmen Pionierunternehmer sein. ({3}) - Sie haben das Regulierungsgesetz selbst auf den Weg gebracht. Reden Sie doch jetzt nicht über den Automarkt. ({4}) Aber ich muss gestehen: Mit Ihren espritvollen Bemerkungen kann ich, selbst wenn ich mir Mühe gebe, nicht mithalten. ({5}) Ganz allgemein wird an Ihrem Gesetzentwurf deutlich, dass die Fragen der neuen Märkte und des innovativen Unternehmers, für den Investitionsanreize zu schaffen sind, sehr gründlich erörtert werden müssen. Die Idee des privaten Pionierunternehmers, also die Idee ordnungspolitischer Prinzipien, könnte in einen Konflikt mit wesentlichen ethischen Grundsätzen geraten. Ein Beispiel: „Focus Money“ stellte dem BB-Biotech-Manager Müller die Frage: Was macht den Krebs-Markt so attraktiv? Die Antwort von Herrn Müller lautete: Es lassen sich wegen der hohen Sterblichkeit deutlich höhere Preise für Behandlungen durchsetzen. Sicherlich können wir den Telekommunikationsmarkt viel gelassener angehen. Aber das Telekommunikationsgesetz muss in einen allgemeinen Normenkontext passen. Ein Gesetz soll ja stets eine spezielle Regelung auf der Basis allgemeiner Grundsätze sein. Deswegen ist Sorgfalt am Platz. Diese Sorgfalt vermisse ich bei der Formulierung von § 9 a des Telekommunikationsgesetzes, wonach neue Märkte grundsätzlich keiner Regulierung unterliegen. Auch wenn sich dieses spezielle Gesetz auf den Kommunikationssektor bezieht, besteht die Gefahr, dass es zum Vorbild für andere Gesetze wird, zum Beispiel für Gesetze im Bereich der Pharmaindustrie, die noch zu beschließen wären. ({6}) - Dies könnte dazu führen, dass der Pharmamarkt weiter reguliert wird. ({7}) - Es gibt auf diesem Markt eine ganze Menge Regulierungen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass weitere Regulierungen erforderlich sind. ({8}) Wenn Sie den Geist des neuen § 9 a des Telekommunikationsgesetzes auf andere Politikbereiche übertragen, dann sind Sie sehr schnell an dem Punkt, an dem auch BB-Biotech-Manager Müller war. Dieses Problem müssen wir aufgreifen. ({9}) - Das alles kenne ich. Zurück zum Speziellen: Sie bemühen sich, die Regeln der privaten Wettbewerbswirtschaft in Ihrem Gesetzentwurf dort zur Geltung zu bringen, wo der Markt versagt. ({10}) Das gelingt Ihnen in Ihrem Gesetzentwurf allerdings nicht. Lassen Sie mich das wie folgt begründen: Erstens. Der Gesetzgeber soll bestimmen, wer Pionierunternehmer ist; dabei soll es sich um die Telekom handeln. In einer privaten Wettbewerbswirtschaft entscheidet allerdings die Konkurrenz darüber, wer Pionierunternehmer ist. Zweitens. Der Gesetzgeber soll festlegen, für welche Dauer die Regulierung ausgesetzt wird. Aber normalerweise werden so lange Extraprofite als Lohn für eine neue Idee erzielt, wie die Nachahmer dies zulassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schui, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nachahmer sind wichtig, damit sich eine neue Idee allgemein durchsetzt. Zusammengefasst: Der Gesetzgeber kann offenbar nicht die Grundlage schaffen, auf der dann die Marktkräfte das ihre tun. Die einzige Möglichkeit, die aus diesem Dilemma herausführt, besteht darin, die Netze für Telekommunikation aus der Privatwirtschaft herauszunehmen und zu öffentlichem Eigentum zu machen, wie es auch im Hinblick auf die Deutsche Bahn geplant war. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich gut daran, dass die ehemalige Bundesverbraucherministerin Renate Künast die Einführung von Verbraucherschutzstandards im Bereich der Telekommunikationsdienstleistungen angemahnt hat. Dieses Thema war damals sehr umstritten. Selbst im Zusammenhang mit dem Problem, dass sich junge Menschen durch die Nutzung ihres Handys überschulden, wurde noch vor drei Jahren eine Grundsatzdiskussion darüber geführt, ob der Staat überhaupt in Märkte eingreifen sollte oder ob dadurch nicht die Marktwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert würde. ({0}) Gemessen daran zeigt der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf, dass wir erhebliche Fortschritte erzielt haben. In diesem Gesetzentwurf sind gute Verbraucherschutzstandards formuliert. Auch wenn es an der einen oder anderen Stelle noch ein bisschen mehr hätte sein können, besteht in der Sache inzwischen Konsens darüber, dass dieser Markt nur wachsen kann, wenn die Verbraucher darauf vertrauen können, dass sich die Abzocker am Markt nicht mehr durchsetzen können. Damit befassen sich viele Punkte in diesem Gesetzentwurf. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich sagen, dass wir besonders die Punkte, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen betreffen, positiv sehen; das wollen wir hier würdigen. ({1}) Das Problem liegt dort, wo dieser Gesetzentwurf sein anderes Gesicht zeigt: wo er eine Lex Telekom ist. Die lange Linie vom Koalitionsvertrag über den Regierungsentwurf zu dem jetzt vorliegenden, im Ausschuss von den Koalitionsfraktionen geänderten Gesetzentwurf zeigt eindeutig, dass die große Koalition beabsichtigt, die große Telekom in besonderer Art und Weise zu pampern. ({2}) Ich denke, dass Sie diesem Unternehmen damit einen Bärendienst erweisen. ({3}) Ron Sommer war kein schlechter Manager; das zeigt auch der Erfolg, den er jetzt als Berater hat. Herr Ricke war kein schlechter Manager, er war relativ erfolgreich. Auch Herr Obermann ist kein schlechter Manager. ({4}) Doch wenn wir nicht aufhören, die Telekom als ein Staatsunternehmen anzusehen, ({5}) wenn wir nicht aufhören, zu versuchen, der Telekom dort, wo es möglich ist, die Marktwirtschaft zu ersparen, dann werden die Manager der Telekom es nicht schaffen, das Unternehmen auf den Erfolgspfad zu führen. ({6}) Wenn erst einmal die Kunden weggelaufen sind, werden die Beschäftigten des Unternehmens in umso härterer Form die Zeche zahlen müssen. ({7}) Ich bin davon überzeugt, dass dieser Gesetzentwurf eine entscheidende Schwäche hat. Er erschwert es den Wettbewerbern, in die Technik zu investieren. Das sagen die Wettbewerber sehr deutlich. ({8}) - Der Kollege Barthel fragt: Wieso? - Sie können die Magenta-Kappe wieder abziehen. ({9}) Das passiert einfach deshalb, weil die Leitungen, zu denen Sie den Wettbewerbern den Zugang verwehren wollen, Leitungen sind, auf denen „Deutsche Bundespost“ steht. Das sind Leitungen und Ressourcen aus Zeiten des Monopols, die der Telekom durch Ihr Wirken und das Wirken vieler anderer in diesem Parlament gesichert wurden. Wenn sie auf denen jetzt wie der Gralshüter sitzen darf, ist die Folge, dass in diesem Bereich kein Wettbewerb entsteht. ({10}) Wenn kein Wettbewerb entsteht im Bereich des VDSL, dann haben wir eine Form der Planwirtschaft, ist im Markt zu wenig Dynamik, gibt es letzten Endes zu wenige preisgünstige Angebote für einen superschnellen Internetzugang, sodass viele Bürgerinnen und Bürger und viele Unternehmerinnen und Unternehmer diese Technik nicht nutzen werden. ({11}) Das ist das Problem. Deswegen ist Ihr Entwurf wachstumsfeindlich. ({12}) Frau EU-Kommissarin Reding tut, was die Regulierung betrifft, nicht etwa ihre Privatmeinung kund, sozusagen zwischen Kaffee und Mittagessen, sondern die Meinung der EU-Kommission. Zu argumentieren, die Bundesregierung vertrete da eben eine andere Meinung als die EU-Kommission, ist entweder ziemlich kühn oder naiv. Ich vermute, dass es kühn ist, dass folgendermaßen auf Zeit gespielt werden soll: Wir verschaffen der Telekom jetzt Regulierungsferien. Ein Verfahren vor Gericht, das klären soll, ob dies dem EU-Recht widerspricht, dauert seine Zeit. So lange hat die Telekom ihren Vorsprung und die Wettbewerber bleiben schön verunsichert. Selbst wenn wir am Ende verlieren - ich sage einmal: die Tabakwerbung lässt grüßen -, hat das Unternehmen, das wir fördern wollen, in der Zwischenzeit den Pioniervorsprung, den wir beabsichtigt haben. Ich halte das für falsch, weil ich glaube, kurz vor Beginn unserer EU-Ratspräsidentschaft wäre es gut gewesen, wenn die Bundesregierung hier ein klares Signal gesetzt hätte, dass sie für den Binnenmarkt eintritt, ({13}) dass sie den Wettbewerb und den Binnenmarkt fördern will und nicht fußkranke Exmonopolisten wie die Telekom pampert und in einer Art und Weise vor dem Wettbewerb schützt, die allen Beteiligten schaden wird. Ich will noch einmal sehr deutlich sagen: Die Telekom ist in der Tat wirtschaftlich erfolgreich, wo sie sich dem Wettbewerb stellt. Doch das Vertrauen, dass das UnternehMatthias Berninger men im Wettbewerb besteht, wird ihm entzogen, wenn die Politik ihm einen Pioniergewinn verschaffen will. Herr Dörmann, Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten Vertrauen in die Bundesnetzagentur. Die Bundesnetzagentur hat mit diesem Gesetzentwurf ein ernstes Problem. Denn Sie geben der Bundesnetzagentur sozusagen eine Bedienungsanleitung an die Hand. Sie haben an dieser Stelle den Gesetzentwurf verschärft. Das heißt, Sie trauen Herrn Kurth und seinen Experten nicht zu, im Sinne des Marktes und des Wettbewerbes zu entscheiden. ({14}) Warum nicht? Weil Herr Kurth im Laufe des Verfahrens deutlich gemacht hat, dass die Regulierungsferien nicht so einfach vonstatten gehen können, wie sich das die Manager der Telekom vor einigen Monaten gewünscht haben. ({15}) Vor diesem Hintergrund vertrauen Sie der Bundesnetzagentur nicht, sondern Sie legen sie leider an die Kette, was ich sehr bedauerlich finde. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Martina Krogmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf ist ein klares Signal für Investitionen und für Wettbewerb. ({0}) Ich möchte gerne den Gesamtzusammenhang darstellen, um den es geht. Es geht um die Frage, wie wir in Deutschland bei den modernen Breitbandinfrastrukturen wieder vorankommen. Uns allen ist klar, dass schnelle Datennetze in der Informationsgesellschaft eine Grundvoraussetzung dafür sind, dass wir die Vorteile - auch die wirtschaftlichen Vorteile - nutzen können. Die Wahrheit ist, dass wir in Deutschland in den letzten Jahren zurückgefallen sind. ({1}) Wir sind bei der Leistungsfähigkeit der Datennetze, also bei der Geschwindigkeit, zurückgefallen und wir liegen insbesondere in den ländlichen Räumen bei der Flächendeckung zurück. Deshalb müssen wir uns doch fragen, was wir als Politiker tun können, damit die Unternehmen in Deutschland wieder in Infrastrukturen investieren und wir wieder an die Spitze in Europa kommen. ({2}) Ich habe mir angehört, was in dieser Debatte von der Opposition kam: Die FDP streitet um ein einziges Wort in diesem Gesetzentwurf mit einem Umfang von 13 Seiten, ({3}) die Grünen reden von Frau Künast und der Bundespost und die PDS kreiert den Ausdruck „private Pionierunternehmer“ und möchte am liebsten wieder verstaatlichen, was nun wirklich völlig absurd ist. ({4}) Um bei den Breitbandinfrastrukturen voranzukommen, müssen wir zwei Dinge tun: Erstens müssen wir den Wettbewerb - vor allem den Wettbewerb der Infrastrukturen - stärken und zweitens müssen wir dafür sorgen, dass sich die Investitionen für die Unternehmen, die investieren und etwas Neues schaffen wollen, auch lohnen. Deshalb sagen wir: Es ist genauso einfach wie klar, dass wir Anreize für Investitionen in neue Märkte schaffen müssen, wenn wir vorankommen und Innovationen in unserem Land schaffen wollen. Es bleibt dabei: Wir haben ein ausgewogenes Verhältnis geschaffen und wir haben ein Signal für Investitionen in neue Märkte auf der einen Seite und Wettbewerb auf der anderen Seite gesetzt. ({5}) Das liegt mir besonders am Herzen: Wir wollen Investitionsanreize und keinen Investitionsschutz schaffen. ({6}) Herrn Berninger, ich bin hier völlig bei Ihnen: Ein Investitionsschutz hat mit der sozialen Marktwirtschaft wirklich nichts zu tun. Deshalb wollen wir entsprechende Anreize schaffen. ({7}) Es ist falsch, ständig von Regulierungsferien zu reden. ({8}) Sie alle waren in der Anhörung der Sachverständigen doch anwesend. ({9}) Ihnen dürfte also nicht entgangen sein, dass sich nicht nur der Vertreter der Deutschen Telekom - er tat das logischerweise -, sondern auch namhafte Sachverständige gewünscht haben, dass man Zeiträume für Regulierungsfreistellungen ins Gesetz geschrieben hätte. ({10}) Diese Absurditäten haben wir natürlich nicht mitgemacht, weil wir keinen Schutz wollen - dieser hat in der Marktwirtschaft keinen Platz -, sondern weil wir Anreize für etwas Neues geben wollen. ({11}) Es ist auch deshalb völlig falsch, von Regulierungsferien zu sprechen, weil die Zugangsregulierung im bisherigen Telekommunikationsgesetz, also die Regelung über den Zugang der Wettbewerber, mit § 9 a TKG überhaupt nicht außer Kraft gesetzt wird. All das, was in den §§ 9 bis 13 und § 21 des Telekommunikationsgesetzes steht, bleibt, wie es bisher war. Das heißt: Wenn der Wettbewerb langfristig behindert wird, dann greift natürlich die Zugangsregulierung. Es gibt dann also zum Beispiel einen Zugang zu den Kabelverzweigern, es gibt die Möglichkeit des Bitstromzugangs und es gibt auch den Zugang zu den Leerrohren. ({12}) Wie bisher auch hat das die Bundesnetzagentur gemeinsam mit der EU-Kommission zu bestimmen. Deshalb sage ich hier ganz klar: Wir schaffen Anreize und mehr Wettbewerb. Wir wollen keine neuen Monopole schaffen. Deshalb ist es völlig falsch, von Regulierungsferien zu reden. ({13}) Selbstverständlich wollen wir, dass die Deutsche Telekom in das deutsche Glasfasernetz investiert. Sie, meine Herren von der Opposition, tun so, als gäbe es zwei Klassen von Investitionen: die Investitionen der Telekom, die böse und gefährlich sind, und die Investitionen der anderen, die gut sind. ({14}) Diese Ansicht ist für die Volkswirtschaft gefährlich. Wir wollen alle Investitionen - von jedem Unternehmen, von wem auch immer - in Deutschland. ({15}) Gerade weil wir das wollen, haben wir ein zentrales Anliegen der Wettbewerber aufgenommen, nämlich klarzustellen, dass es bei neuen Märkten um Dienste und Produkte geht und nicht etwa nur um ein Stück Glasfaser oder Infrastrukturen. Herr Otto, ich habe mich daran erinnert, was Sie in der ersten Beratung des Telekommunikationsgesetzes ausgeführt haben. Sie haben gesagt: Wenn Sie klarstellen, dass Infrastrukturen an sich keine neuen Märkte sind, dann sind wir uns einig und können zustimmen. ({16}) Dass Sie sich jetzt an einem einzigen Wort festhalten, zeigt, dass Sie nur ein Haar in der Suppe suchen. Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Otto: Geben Sie sich doch einen Ruck und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu, wie es Ihr Vorsitzender schon vor sechs Wochen in seinem Artikel getan hat! ({17}) Wir müssen uns in diesem Zusammenhang auch eine Grundsatzfrage stellen. In der sozialen Marktwirtschaft kann die Regulierung immer nur eine neu zu begründende Ausnahme sein. Sie darf nie zum Dauerzustand werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch auf europäischer Ebene als Bundesregierung und auch als deutsches Parlament ein klares Signal geben, dass es unser Ziel sein muss, dass die Märkte, die jetzt noch reguliert sind, in das Wettbewerbsrecht überführt werden. Wir leisten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen entscheidenden Beitrag dazu, weil wir mutig nach vorne gehen und Vorreiter innerhalb der Europäischen Union sind. Dieses Gesetz ist ein klares Signal für Investitionen, Innovationen und auch für Wettbewerb. ({18}) Vielen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer, SPD-Fraktion. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man die heutige Debatte, dann hat man den Eindruck, der vorliegende Gesetzentwurf würde nur aus einem einzigen Paragrafen - nämlich § 9 a - bestehen. Die Bedeutung des Verbraucherschutzes ist bisher in der Debatte etwas zu kurz gekommen. Über 90 Prozent des Gesetzentwurfs betreffen aber den Verbraucherschutz. Deswegen will ich darauf eingehen. Die Bedeutung dieses Bereichs zeigt sich unter anderem daran, dass es in Deutschland inzwischen mehr Handys als Einwohner gibt. Pro Jahr gibt es über 100 Milliarden Telefonate. Mit diesem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften verbessert sich der Verbraucherschutz in Deutschland in erheblichem Maße. ({0}) In der Vergangenheit waren die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr oft mit undurchsichtigen Tarifkonstruktionen konfrontiert. Versteckte Abodienste ließen insbesondere junge Menschen in die Schuldenfalle tappen und so manche Nutzung eines Mehrwertdienstes wurde zum Kostenrisiko. Mit dem novellierten Gesetz schaffen wir nun mehr Preistransparenz, Kostenkontrolle und Jugendschutz. So wird die Pflicht zur Preisinformation in der Werbung ausgeweitet und bezieht sich auf die unterschiedlichsten Dienste. Preisinformationen müssen zukünftig gut lesbar, deutlich sichtbar und in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rufnummer stehen. Wir führen eine Pflicht zur Preisangabe vor Abschluss eines Vertrages bei Kurzwahldatendiensten - zum Beispiel bei Klingeltönen ein. Dies schützt insbesondere junge Verbraucherinnen und Verbraucher vor erheblichen Kosten oder gar Überschuldung. In die gleiche Richtung zielt der Anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Erhalt einer kostenlosen Warn-SMS bei Erreichung eines Betrages von 20 Euro innerhalb eines Monats durch Kurzwahldienste im Abo. Die Grenzen zwischen Mobilfunk und Festnetz verschwinden immer mehr. Wir haben deshalb dafür gesorgt, dass 2 Euro die einheitliche Grenze für verpflichtende Preisinformationen darstellen. Auch bei der Preishöchstgrenze gibt es eine einheitliche Schwelle von 3 Euro. Das schafft Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher und gibt der Wirtschaft den Spielraum, neue Dienste zu entwickeln. Dieses Gesetz schafft einen sehr vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie den berechtigten Interessen seriöser Anbieter. ({1}) - Das war schon ganz gut, lieber Kollege Otto. ({2}) Maximalpositionen, wie sie zum Beispiel von den Grünen vertreten werden, helfen hier nicht weiter. Ich bin im Übrigen dem Kollegen Berninger für seine - wie ich finde: sehr gute - Bewertung unserer Verbraucherschutzregelungen in diesem Gesetz dankbar. Man kann sicherlich eine generelle Preisansage bei Call-by-CallGesprächen fordern. Wenn aber in der Anhörung herauskommt, dass es sich um einen Betrag von circa 2,50 Euro pro Monat und Telefonrechnung handelt, dann wird deutlich, dass es wenig Sinn macht, diesen Markt durch Überregulierung zu zerstören. Die Branche braucht das Vertrauen ihrer Kunden. Nur so haben die vielfältigen Angebote eine Chance. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben in der Vergangenheit sehr stark vom Wettbewerb profitiert. Umso bedauerlicher ist, dass wir uns in einigen Bereichen erneut mit Problemen konfrontiert sehen, die uns als Gesetzgeber in Zukunft fordern werden. Die zunehmende Telefonwerbung außerhalb von Kundenbeziehungen ist belästigend, störend und verboten. Wir müssen hier intensiv über Sanktionen nachdenken. So manche kostenpflichtige Warteschleife bei einer Hotline wird zum Ärgernis der Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn man nur Dudelmusik hört und gleichzeitig der Gebührenzähler tickt. Diese Probleme zeigen: Verbraucherpolitik in der Telekommunikation bleibt eine dauernde Aufgabe. Dieser Herausforderung werden wir uns auch in Zukunft stellen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften, Drucksache 16/2581. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3635, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3661. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/3635 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Wettbewerb und Verbraucherschutz auf dem Telekommunikationsmarkt“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/2625 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen ({0}) - Drucksache 16/575 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines StalkingBekämpfungsgesetzes - Drucksache 16/1030 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 16/3641 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Joachim Stünker Sevim Dagdelen Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin, der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort. Bitte schön. ({2})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

- So ist es, Herr von Essen. Vielen Dank, dass Sie das so freundlich bemerken. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den Opferschutz und ein schlechter Tag für Stalker. ({0}) Ich freue mich sehr, dass wir heute nach gründlicher Beratung - auch mit den Ländern - ein Gesetz beschließen werden, das die Strafverfolgung verbessert und den Schutz von Stalkingopfern noch effektiver machen wird, als es bisher der Fall war. Mit der Schaffung des neuen Straftatbestandes der „Nachstellung“ durch das Gesetz, das wir heute verabschieden wollen, senden wir ein eindeutiges Signal aus: Stalking ist keine Privatsache, keine Sache von verschmähten Liebhabern, sondern strafwürdiges Unrecht. ({1}) Wer solche Taten begeht, den wollen wir künftig mit dem Strafrecht belangen. Wer von Stalking betroffen wird, wird künftig vom Staat raschen und wirksamen Schutz erfahren. Dass wir mit der Ergänzung des Strafgesetzbuches, die Ihnen vorliegt, unser Ziel erreichen, haben uns die Experten bei der Anhörung im Rechtsausschuss bestätigt. Sie haben sich nahezu einhellig für einen eigenen Straftatbestand ausgesprochen. Zwar gab es die eine oder andere Differenz über die genaue Formulierung, aber unter dem Strich kann man sagen, dass der Kompromiss, den wir gemeinsam mit den Ländern ausgehandelt haben, eine gute Lösung ist. Die vier konkreten Handlungsalternativen, die wir vorgeschlagen hatten, sind jetzt um einen Auffangtatbestand ergänzt. Wie vom Bundesrat vorgeschlagen, werden dadurch auch andere vergleichbare Handlungen erfasst. Die Rechtsprechung kann also in Zukunft auch solche Nachstellungen erfassen, die wir heute noch gar nicht kennen. So kannten wir beispielsweise früher noch nicht die Möglichkeit, per SMS oder per Handyanruf Leute nachts aus dem Schlaf zu holen. Die Entwicklung digitaler Kommunikationsmittel kann man heute noch nicht voll absehen. Deswegen macht es Sinn, einen solchen Auffangtatbestand zu schaffen. Für schwere Fälle sind Qualifikationstatbestände vorgesehen. Wenn durch die Belästigung die Gefahr des Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder gar der Tod als solcher herbeigeführt wird, dann beträgt der Strafrahmen bis zu fünf bzw. zehn Jahren, wobei sich das nur auf das konkrete Stalking bezieht und nicht auf andere mögliche Straftatbestände, die selbstverständlich auch erfüllt sein können. Gerade für diese schweren Fälle erweitern wir auch das strafprozessuale Instrumentarium. Das heißt, künftig kann bei Wiederholungsgefahr Untersuchungshaft angeordnet werden. ({2}) - Darauf werden Sie sicherlich noch eingehen. - Ich halte das auch für richtig. Wir haben gerade in Berlin einen Fall gehabt, in dem vielleicht Leben gerettet worden wäre, wenn wir das Instrumentarium gehabt hätten. Bei der Ausgestaltung der Tatbestände haben wir auch die Belange der Presse berücksichtigt. Der Rechtsausschuss hat sich ausführlich damit befasst. Es ist völlig klar: Wer sich presserechtlich korrekt verhält, ist kein Stalker und er fällt auch nicht unter den neuen Straftatbestand. Es gibt deshalb gar keinen Grund, wie es teilweise gefordert wurde, Journalisten ausdrücklich von dem Tatbestand auszunehmen oder gar einen besonderen Rechtfertigungsgrund für sie zu schaffen. ({3}) Die neue Vorschrift berührt die grundrechtlich geschützte Pressefreiheit bei der Berichterstattung und bei der Informationsbeschaffung nicht; denn die Grenze zur Strafbarkeit wird erst dann überschritten, wenn sich ein Verhalten als Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person darstellt und das Opfer dadurch in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Wenn das aber die Folge von beharrlichen Nachstellungen durch Journalisten ist, dann verdient dieses Verhalten auch keinen Schutz. ({4}) Das muss man ganz klar sagen. Wir wollen keine Paparazziklausel. ({5}) - Da bin ich aber froh, Herr Kollege. Die vorgeschlagene Lösung ist also ein gutes Ergebnis unserer vielfältigen Beratungen und sie ist eine Regelung mit Augenmaß, auch soweit es um strafprozessuale Änderungen geht. Ich möchte mich deshalb sehr herzlich bei all den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die auf der einen oder anderen Seite an diesem Projekt mitgearbeitet haben. Das gilt sowohl für die Mitglieder des Rechtsausschusses als auch für die Vertreter der Länder. Unser gemeinsames Ziel ist klar: Wir wollen Opfer schützen und sicherstellen, dass die Täter bestraft werden. Deswegen ist die Änderung dieses Gesetzes ein ganz wichtiger Schritt. Aber mit der rechtlichen Änderung allein ist es nicht getan. ({6}) Jetzt muss auf der Ebene der Polizei und auf der Ebene der Staatsanwaltschaft nachvollzogen werden, was sich hier geändert hat. Man kann nur empfehlen, dass die Länder dem Best-Practice-Beispiel, zum Beispiel aus Bremen, folgen und so etwas wie Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Polizeidienststellen mit besonders geschultem Personal einrichten, wo die Opfer und die ganze Problematik richtig wahrgenommen werden. Ich habe vorhin gesagt: Es geht nicht um verschmähte Liebhaber. Wenn jemand auf diese Art und Weise verfolgt wird - in aller Regel sind es nach wie vor Frauen; es gibt allerdings auch Männer - und zur Polizei geht, dann wird häufig mit den Worten reagiert: Nun stellen Sie sich mal nicht so an; der liebt Sie doch bloß. Das ist keine adäquate Reaktion. Es muss sichergestellt werden, dass zwischen einer rechtmäßigen Verfolgung - auch das mag es geben - und einer unrechtmäßigen Verfolgung unterschieden wird. Dort, wo Hilfe erforderlich ist, muss geholfen werden. Von den Polizeien und Staatsanwaltschaften hängt deswegen ganz besonders viel ab. Ich wünsche mir, dass man diesen Tatbestand zum Anlass nimmt, Schulungen und Fortbildungen anzubieten, damit man über mehr Verständnis für die Lage der Opfer zu einem besseren Schutz der Betroffenen kommt. ({7}) Dies ist mein Wunsch für die nächste Zeit. Ich möchte noch einmal besten Dank dafür sagen, dass wir dieses Gesetz so im Konsens verabschieden können. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manches, was gut gemeint ist, ist nicht auch tatsächlich gut. Dieser Satz ist mir eingefallen, als ich gerade die Rede der Bundesjustizministerin gehört habe. Ich will zunächst einmal auf das Gemeinsame eingehen. Es hat lange gedauert, bis wir uns im Bundestag mit dem Problem des beharrlichen Nachstellens befasst haben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Einstieg zustande gebracht. Wir haben schon in der ersten Debatte festgestellt, dass vieles, was wir uns vorgestellt haben, durch die bisherige Gesetzgebung leider nicht erreicht wird. Das liegt daran, dass es im rechtlichen Bereich zum Teil Lücken gibt; aber es liegt auch daran - darauf hat die Ministerin, wie ich finde, zu Recht hingewiesen -, dass diejenigen, die sich mit der Bitte um Hilfe an die Polizei wenden, immer wieder auf Unverständnis stoßen. Die Konsequenzen dieses Unverständnisses gehen so weit - auch davon konnten wir lesen -, dass Opfer ihr Leben verloren haben, zum Beispiel weil sie umgebracht worden sind. Das kann uns hier im Bundestag natürlich nicht ruhig lassen. Deshalb müssen wir darüber reden. Ich habe es schon am Anfang gesagt: Die jetzt vorgeschlagene Lösung halten wir nicht für den richtigen Weg. ({0}) Ich will auch sagen, warum. Sie haben das Delikt als erfolgsqualifiziertes Delikt ausgestaltet. ({1}) - Ich habe mir gedacht, dass Sie das sagen würden. Sie haben schon im Rechtsausschuss deutlich gemacht, warum das so ist. Sie sehen sehr wohl, welche rechtlichen Probleme durch eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen entstehen. Hinzu kommt dann noch ein Auffangtatbestand. So wie Sie im Rechtsausschuss formuliert haben, wollen Sie das verfassungsrechtliche Risiko, das damit verbunden ist - der Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz stellt das Bestimmtheitsgebot auf; der Bürger soll vorher genau wissen, was verboten ist, weil ihm nur dann ein Vorwurf gemacht werden kann -, dadurch minimieren, dass ein bestimmter Erfolg eingetreten sein muss. ({2}) Das Besondere beim Stalking ist aber doch, dass es permanent kleine Nadelstiche gibt und die Opfer auch dann schon Hilfe erwarten. Insofern gibt man den Opfern bei der Lösung, die jetzt angestrebt wird, Steine statt Brot. ({3}) Das ist genau das, was nach unserer Vorstellung nicht sein sollte: Auf der einen Seite besteht ein hohes verfassungsrechtliches Risiko und auf der anderen Seite wird den Frauen - die Ministerin hat zu Recht gesagt, dass es fast immer Frauen sind, die in besonderer Weise zu leiden haben - keine wirkliche Hilfe angeboten. Wir sind auch der Meinung, dass die Rolle, die die Presse in einer Demokratie hat, hier nicht richtig gewürdigt wird. ({4}) Die Ministerin hat gesagt: Wer sich ordentlich verhält, wird mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten. - Ja. Aber die Presse braucht sich nicht immer ordentlich zu verhalten. Sie hat sich zwar an Recht und Gesetz zu halten - das ist ganz selbstverständlich -, ({5}) aber das, was wir „ordentlich“ finden, darf die Presse auch mal durchbrechen. ({6}) Sie darf jemanden stellen. Sie darf jemanden mehrfach ansprechen. Sie darf jemanden zu Stellungnahmen auffordern. Alles das ist möglich. ({7}) Wenn jemand so empfindlich ist, dass es bei ihm zu Konsequenzen kommt, ({8}) dann darf das nicht dazu führen, dass sich die Presse strafbar macht; das können jedenfalls wir so nicht akzeptieren. ({9}) Wer Kritik übt, der hat die Verpflichtung, hier auch vorzutragen, was er sich stattdessen vorstellt. Ich komme gern auf einen Vorschlag zurück, den der frühere rheinland-pfälzische Justizminister Mertin schon sehr früh in der Debatte gemacht hat. Das ist aus meiner Sicht der sehr viel bessere Weg. Er hat eine Ergänzung des Gewaltschutzgesetzes um weitere Tatbestände vorgeschlagen. ({10}) - Wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt, Herr Kollege. Lesen Sie ihn! Sie können darin unsere Vorschläge finden. ({11}) Unser Vorschlag ist also, das Gewaltschutzgesetz zu ergänzen. Das führt nämlich dazu, dass es klare richterliche Anordnungen für denjenigen gibt, der einer anderen Person nachstellt, sodass er genau weiß, was er nicht tun darf. Dann ist es selbstverständlich und richtig, dass er bestraft wird, wenn er dagegen verstößt. ({12}) Das heißt, hier kann früh angesetzt werden, hier kann dem Opfer wirkliche Hilfe gegeben werden und hier kann auch die strafrechtliche Ahndung erfolgen; sie ist sogar notwendig. Die Strafvorschriften im Gewaltschutzgesetz müssen dann natürlich etwas ergänzt werden; das findet sich allerdings - das gebe ich zu - auch in Ihrem Gesetzentwurf. Wenn schwer wiegende Folgen eingetreten sind, muss sich das ganz selbstverständlich auch schwer wiegend bei der zu verhängenden Strafe niederschlagen. Das ist aus unserer Sicht ein verfassungsrechtlich einwandfreier Weg. Das ist ein Weg, der dem Opfer von Stalking früh hilft und der dem Opfer deshalb sehr viel besser und sehr viel wirksamer hilft, als es bei dem Vorschlag der Koalition der Fall ist. Ich würde gern noch etwas zu einem anderen Aspekt sagen. Wie auch immer die Lösung aussieht - ich unterstreiche mit Nachdruck das, was die Bundesjustizministerin gesagt hat -: Wir brauchen eine bessere Schulung der Polizei und eine bessere Schulung der Staatsanwaltschaften, damit die Opfer dort auf sachkundige Personen treffen, die ihnen helfen, die Verständnis für sie haben und die auch auf sie eingehen. Wenn sich das Opfer an die Behörden wendet, soll es nicht das Gefühl haben, weil es etwa abweisend behandelt wird, noch einmal zum Opfer zu werden. Wie auch immer wir die verschiedenen Vorschläge beurteilen - wir sind gemeinsam, denke ich, in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass dort eine wesentliche Verbesserung eintritt; denn wir wissen aus der Praxis, dass da noch eine Menge zu tun ist. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/ CSU-Fraktion.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den Opferschutz. Ich muss wirklich sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir haben lange beraten und gemeinsam eine Fassung vorgelegt, die, denke ich, gut ist und insbesondere auch verfassungskonform ist. Der neue § 238 StGB hat die Überschrift „Nachstellung“ und nicht „Stalking“, weil wir im deutschen Gesetzbuch einen deutschen Begriff verwenden wollen. ({0}) Das Phänomen Stalking gibt es bei uns seit einigen Jahren. Es betrifft nicht nur Prominente, sondern es kann nahezu jeden Menschen, jede Berufsgruppe, jede Schicht betreffen. Täter sind nicht nur Exliebhaber, Kollegen oder Bekannte, Nachbarn; es kann jeder sein. Forscher haben festgestellt, dass es sich hierbei mittlerweile um ein Massenphänomen handelt und dass die derzeitigen Gesetze die Opfer nicht ausreichend schützen. Lassen Sie mich einige kurze Beispiele nennen, damit Sie wissen, worum es geht. Ein Beispiel aus Bremen: Ein Ehepaar trennt sich. Der 41-jährige Mann terrorisiert seine 39-jährige Ehefrau monatelang durch Telefonate und Auflauern. Er macht ihr das Leben zur Hölle und schließlich ersticht er sie an ihrem Arbeitsplatz. Ein weiteres Beispiel aus Weimar, letztes Jahr geschehen: Eine 44-jährige Frau erhält anonym unzählige Male am Tag, manchmal acht- bis zehnmal, Paketlieferungen, Möbel, Anmeldungen zu Kreuzfahrten, Klappräder, Erotikartikel, einen LKW mit 100 Bürostühlen etc. Der Frau fallen die Haare aus, sie leidet unter Depressionen, nimmt ab und bekommt eine Nervenentzündung. In Münster wird eine Schülerin von ihrem Mitschüler gestalkt, weil sie seine Liebe nicht erwidert. Es wird Telefonterror betrieben, ihr Name, ihre Telefonnummer wird ins Internet gestellt mit eindeutigen Sexangeboten. Die Schülerin ist in psychiatrischer Behandlung und in ihren Leistungen in der Schule abgesackt. In Rheinland-Pfalz tyrannisiert jemand ein komplettes Dorf. Manche werden im Monat mit 800 bis 900 Telefonanrufen terrorisiert. Es kam hier zu schwersten Magen-Darm-Entzündungen, zu Herzinfarkten, zu ganz großen Problemen in Familien. Nach den Ergebnissen aus der Forschung ist festzustellen, dass jeder Achte in Deutschland unter Stalking leidet oder schon gelitten hat, dass jedes vierte Opfer länger als ein Jahr gestalkt wird, dass jedes dritte Opfer verprügelt und angegriffen wird, dass jeder vierte Betroffene einen Arzt oder einen Therapeuten aufsuchen muss und dass die Hälfte aller Gestalkten unter Schlafstörungen und Angstzuständen leidet. Vielfach muss der Arbeitsplatz oder auch der Wohnort gewechselt werden. Zu 85 Prozent - wir haben es eben gehört - sind Männer die Täter. Welche Möglichkeiten bietet das Gesetz heute? Da haben wir das Zivilrecht, Herr van Essen. Das Gewaltschutzgesetz reicht bei weitem nicht aus. Wir hatten eine umfassende Anhörung. Es wurde eindeutig festgestellt, dass ein Straftatbestand vonnöten ist. ({1}) Wenn Sie das Gewaltschutzgesetz zugrunde legen - ich spreche hier aus meiner Erfahrung als Anwältin -, dann gehen Sie in der Regel zu einem Anwalt und stellen vor Gericht einen Antrag, Sie müssen Prozesskostenhilfe beantragen oder einen Kostenvorschuss zahlen. Sie müssen selbst vortragen, was geschehen ist. Sie müssen das an Eides statt versichern. Sie sind gehalten, sich gegebenenfalls mit dem Täter vor Gericht auseinander zu setzen. Das ist alles sehr, sehr belastend. ({2}) Sie müssen, wenn der Täter die einstweilige Verfügung nicht beachtet, als Opfer erneut initiativ werden und dafür sorgen, dass ein Zwangsgeld festgesetzt wird und vieles andere mehr. Das ist nach unserer Auffassung für das Opfer nicht zumutbar. Deshalb brauchen wir einen Straftatbestand. ({3}) Auch das Strafrecht ist derzeit nicht geeignet, dem Opfer Hilfe zu leisten. Ein Straftatbestand ist nur dann gegeben, wenn eine Verletzung der Gesundheit, des Lebens, des Hausfriedens oder des Eigentums vorliegt. Erst dann kann eingeschritten werden. Wir wissen alle, dass Stalking ein Dauerdelikt ist. Das heißt, der Täter ist permanent in Aktion. Seine Aktionen steigern sich, werden immer intensiver und nicht selten kommt es zu einer Eskalation. Deshalb brauchen wir einen Straftatbestand, der genau auf dieses Täterverhalten zugeschnitten ist. Derzeit können nur Einzelakte bestraft werden. Vielleicht reicht es für eine Bestrafung - wegen Hausfriedensbruchs, Körperverletzung usw. -, ({4}) das ist aber nicht das, was strafrechtlich bewertet werden soll. Deshalb muss Stalking als ein Straftatbestand ins Gesetz aufgenommen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass es nicht zur Eskalation kommt. In vielen Fällen - die Ministerin hat es angesprochen - sind Menschen zu Tode gekommen. Wenn wir ein gescheites Gesetz mit der Möglichkeit zur Inhaftierung gehabt hätten, hätte vieles schon vermieden werden können. ({5}) Der derzeitige Zustand ist nicht länger haltbar. Ich erinnere daran - wir haben es auch im Ausschuss besprochen -: Im Ausland gibt es zum Teil seit über zehn Jahren Stalkingtatbestände. In Amerika, Australien, Skandinavien und Österreich wurden gute Erfahrungen gemacht. In der letzten Legislaturperiode wurden wir auch in Deutschland aktiv. Der Bundesrat hat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Bayern und Hessen waren hier federführend. All das ist aufgrund der Neuwahlen der Diskontinuität anheim gefallen. Nach den Neuwahlen haben wir es wieder aufgelegt. Im Mai dieses Jahres haben der Bundesrat und die Bundesregierung entsprechende Gesetzentwürfe neu in die Beratungen eingebracht. Da die Vorstellungen bezüglich der Einfügung eines Auffangtatbestandes und von Qualifikationstatbeständen sowie der Einführung von Deeskalationshaft ziemlich weit auseinander gingen, wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat, gebildet. In dieser Arbeitsgruppe sind wir zu guten Ergebnissen gekommen - dafür bedanke ich mich nicht nur bei der Bundesregierung, sondern auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesrat - und nun können wir einen Gesetzentwurf vorlegen, der gut ist und den Opfern hilft. Dass es etwas länger gedauert hat, hat sich, wie ich meine rentiert; denn dafür ist das Gesetz nun umso besser. ({6}) Bei der Auswahl der Sachverständigen zur Anhörung, die wir durchgeführt haben, haben wir Wert darauf gelegt, dass sowohl Vertreter von Opferverbänden, von Beratungsstellen - die Vertreter der Interventionsstellen aus Mainz und Bremen waren da -, Professoren, Praktiker wie der Richter Nack vom BGH und auch Pressevertreter ({7}) zu Wort kamen. Ein Vertreter des Presseverbandes ({8}) - zwei Vertreter des Presseverbandes waren da, um uns zu informieren, ob das Gesetz auch wirklich praxistauglich ist. Es wurde einhellig begrüßt, die vorgelegten Regelungen ins Gesetzblatt aufzunehmen. Wie sieht nun der Gesetzentwurf aus, der als Kompromiss vorgelegt wurde? Es gibt einen Grundtatbestand mit einer Auflistung von einzelnen Stalkingfällen. Dazu kommt der Auffangtatbestand, der sich auf die einzelnen, konkret ausgeführten Stalkingfälle bezieht und mit den unter den Ziffern 1 bis 4 aufgelisteten Fällen vergleichbare Fälle unter Strafe gestellt werden. Damit wollen wir vermeiden, dass eine Strafbarkeitslücke entsteht; die Ministerin hat es ausgeführt. Die Technik schreitet ja rapide voran und das Täterverhalten ist teilweise so unglaublich, dass man nicht alle Sachverhalte in diesem Gesetz auflisten kann. Deshalb war die Einfügung eines Auffangtatbestandes notwendig. ({9}) Etwas Ähnliches gibt es bezüglich des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Auch hier wird von ähnlichen, ebenso gefährlichen Fällen gesprochen, die unter Strafe gestellt werden können. § 315 b Abs. 1 Ziffer 3 StGB enthält genau das Gleiche. Damit gibt es keine Probleme. Ich weiß nicht, warum hier nun dem Bestimmtheitsgebot nicht Genüge getan werden sollte. ({10}) Für den Grundtatbestand haben wir einen Strafrahmen von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe festgelegt. Für besonders schwere Fälle, wenn der Unrechtsgehalt sehr groß ist, also für das Opfer die Gefahr des Todes oder der schweren Gesundheitsverletzung bestand, ist eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren vorgesehen. In dem Fall, dass das Opfer zu Tode kommt, ist eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zehn Jahren vorgesehen. Uns war es auch ganz wichtig, dass in die Qualifikationstatbestände nicht nur das Opfer einbezogen wird, sondern auch die nahen Angehörigen des Opfers, weil sie in der Regel durch die Stalkingfälle mit betroffen sind. Deshalb ist es gut, dass wir auch diese im Tatbestand berücksichtigt haben. Der Grundtatbestand wurde darüber hinaus als ein relatives Antragsdelikt ausgestaltet. Das heißt, in den leichteren Stalkingfällen geht das Opfer zur Polizei oder Staatsanwaltschaft und erstattet Anzeige, es sei denn, das öffentliche Interesse ist tangiert. Dann werden die Ermittlungsorgane von sich aus tätig. Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Deeskalationshaft - das war für die Union ein wesentlicher Kernpunkt dieser Reform - aufgenommen wird. Wir haben es getan, weil es nicht nur in der jüngsten Vergangenheit, sondern auch schon in früheren Zeiten zu Todesfällen gekommen ist, da nicht die Möglichkeit bestand, den Täter zu inhaftieren. Es musste zunächst eine Verletzung eines Rechtsgutes erfolgt sein - der Täter musste geprügelt haben, jemanden schwer verletzt haben oder es musste jemand zu Tode gekommen sein -, ({11}) bevor man überhaupt initiativ werden konnte. Deshalb haben wir festgelegt, dass es dann, wenn eine konkrete Gefahr für die Gesundheit oder für das Leben des Opfers besteht, möglich ist, den Täter in Haft zu nehmen. Selbst laufende Strafverfahren haben in der Vergangenheit Täter nicht davon abgehalten, gegen ihr Opfer vorzugehen. Das ist ein unerträglicher Zustand, für den kein Opfer Verständnis hat. Dem konnte nur Abhilfe geschaffen werden, indem eine Inhaftierung, wenn Wiederholungsoder Rückfallgefahr besteht, möglich ist. Von daher erklärt sich die Erweiterung des § 112 a Abs. 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung. Die Ausführungen der Experten aus der Anhörung haben uns bestätigt, dass wir das Instrument der Deeskalationshaft brauchen. Das haben auch die Strafverfolgungsbehörden, die in der Praxis mit der Gesetzesmaterie befasst sind, so dargestellt. Die Anordnung der Deeskalationshaft muss natürlich verhältnismäßig sein; so prüft ein Richter im Einzelfall, ob die Haftgründe ausreichen oder ob es mildere Mittel gibt, das Opfer zu schützen. Noch einige Sätze zur Pressefreiheit. Die Ministerin hat hier völlig zu Recht ausgeführt, dass wir zwischen der verfassungsrechtlich geschützten Pressefreiheit einerseits und der Privatsphäre der Betroffenen andererseits abwägen müssen. Solange sich die Presse innerhalb der Gesetze bewegt, gibt es überhaupt keinen Grund, Sondertatbestände für sie zu schaffen. Der Gesetzentwurf sorgt für einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den Privatinteressen einerseits und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit andererseits. Am Ende meiner Rede schließe ich mich voll und ganz den Ausführungen der Ministerin an: Wir werden als Bundesgesetzgeber ein Gesetz auf den Weg bringen, auf das die Opferschutzverbände, die Menschen, aber auch die Ermittlungsorgane schon lange gewartet haben. Nun ist es an den Ländern, mit dem Gesetz zu arbeiten, wobei es in der Länderhoheit liegt, wie die Staatsanwaltschaften ausgestaltet sind und wie die Polizei arbeitet. Das Bremer Modell wurde angesprochen. Hier gibt es beim Landeskriminalamt Sonderdezernate, die sich mit Stalking befassen. Die Mitarbeiter sind geschult. Aber nicht nur die Polizeibeamten und die Staatsanwälte, sondern auch die Richter müssen Fortbildungen machen. Nur dann, wenn diejenigen, die handeln müssen, informiert sind, können sie das Gesetz in der Praxis gut anwenden. Wir können am heutigen Tag sagen, dass wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das für den Opferschutz gut ist und auf das lange gewartet wurde. Ich würde mich freuen, wenn wir in diesem Haus zu einer klaren Meinungsbildung kämen und das Gesetz sehr schnell in Kraft treten könnte. Wir werden sehen, dass es der richtige Weg ist, da das Gesetz ausgewogen ist und alle Interessen berücksichtigt wurden. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Ein guter Tag für den Opferschutz“, hieß es eingangs. Das ist richtig. Opfer von Gewalt, seien es Männer, Frauen oder Kinder, brauchen Schutz. Ihn in solchen Fällen zu gewährleisten, ist Aufgabe moderner Politik. Wir begrüßen ausdrücklich den Versuch - ich wiederhole: den Versuch - der Bundesregierung, den Opfern des unter dem Begriff Stalking bekannten Verhaltens wirksamer als bisher zu helfen. Ich denke, wir sind über die Fraktionsgrenzen hinweg einig, dass den Opfern Hilfe zuteil werden muss. Meinungsverschiedenheiten gibt es allerdings hinsichtlich des Weges zu einem besseren Opferschutz. In diesem Punkt sind wir mit der FDP d’accord; ({0}) denn die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes, wie im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, lehnen wir ebenfalls ab. Dafür sprechen folgende Punkte: Schwerpunkt einer Gesetzesänderung ist für uns ein effektiver Opferschutz. ({1}) Das Gewaltschutzgesetz gewährleistet, wenn man unserem Antrag folgt, der mit dem der FDP inhaltlich nahezu gleichlautend ist - das muss man einmal feststellen -, ({2}) einen wirksamen Opferschutz. Die Argumente gegen das Gewaltschutzgesetz sind, dass man einen Antrag bei Gericht stellen müsse, dass man konfrontiert werde, dass es ein Hin und Her sei usw. Aber - da spreche ich aus eigener beruflicher Erfahrung - wie ist es denn beim strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das ja auch auf einen Erfolg abzielt? Anzeige bei der Polizei, polizeiliche Ermittlungen, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, ({3}) möglicherweise Anklageerhebungen nach den Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten, der dann zum Angeklagten wird, usw. Ich kenne aus eigener Erfahrung Fälle, in denen das strafrechtliche Verfahren Monate länger dauert als eine gerichtliche Anordnung im Falle von Stalking nach Gewaltschutzgesetz. Das habe ich selber so erlassen. ({4}) Das Gesamtziel, durch die Strafbewehrung eine bessere Verfolgbarkeit der Stalker zu erreichen und damit letztlich den Opfern zu helfen, wird durch diesen Gesetzentwurf jedenfalls nicht erreicht. Denn nach Meinung der Bundesregierung muss das Opfer schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt sein, damit die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten wird. Dann ist es für einen wirksamen Opferschutz in aller Regel zu spät. ({5}) Da hilft auch die von den Grünen beantragte Änderung in den RiStBV, den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, nichts; denn das meiste steht bereits in diesen Richtlinien, gerade hinsichtlich des öffentlichen Interesses. Während in Wissenschaft und Praxis der Versuch unternommen wird, wirksamen Opferschutz auf Grundlage der tatsächlichen Interessen der Betroffenen und einer verlässlichen empirischen Forschung durchzusetzen, dominiert in der Politik immer wieder strafrechtlicher Aktionismus. Gerade die Interessen der Opfer, die hier im Vordergrund stehen sollten, verbieten es, ein öffentlichkeitswirksames Vorgehen einer wirklichen Problemlösung vorzuziehen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist jedenfalls aus Opfersicht weitgehend nutzlos und aus rechtsstaatlicher Perspektive wohl verfassungswidrig. Herr van Essen hat es schon gesagt: Es gibt in dem Gesetzentwurf eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe und einen Auffangtatbestand. - Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes dürfte allen hier anwesenden Juristen ein Begriff sein. Es stellt sich die Frage, wie zu erklären ist, dass die Bundesregierung zum Entwurf des Bundesrats zunächst wie folgt Stellung genommen hat: Der Entwurf enthält neben einer Vielzahl wenig bestimmter Rechtsbegriffe einen Auffangtatbestand, der nach der Begründung der Tatsache Rechnung tragen soll, dass sich der durch den „Stalker“ vollführte Terror einer abschließenden gesetzlichen Bestimmung entziehe. Der vorgelegte Entwurf begegnet durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 des Grundgesetzes. ({6}) Jetzt wird ein ebenso unbestimmter Auffangtatbestand vorgeschlagen. Das ist für mich nicht nachzuvollziehen. Das Spektrum des Nachstellens - darin sind wir uns einig - kann nicht komplett erfasst werden. ({7}) Das ist auch von der Ministerin ausgeführt worden. Mit einem unbestimmten Straftatbestand können also nicht sämtliche denkbaren Handlungen erfasst werden. Wie weit wollen Sie da gehen? ({8}) Der Vergleich mit § 315 c StGB hinkt. Da gibt es ganz konkrete Tatbestandsmerkmale, die sehr scharf formuliert sind. ({9}) - Nein, das haben Sie hier nicht. ({10}) - Sie kennen Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht. ({11}) - Schauen Sie einmal in den Gesetzentwurf. Ich denke - in diesem Punkt sind wir, wie gesagt, mit der FDP d’accord -, dass das Gewaltschutzgesetz gemäß unserem Antrag ausgebaut werden sollte; denn mit Strafen allein kann man das Ziel nicht erreichen. Sie können auch so weitermachen, wie Sie es vorhaben. Für diesen Fall will ich den Schriftsteller Martin Kessel zitieren: „An der Härte der Strafen erkennt man die Schwächen des Regimes.“ ({12}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welch schwer wiegende Folgen Stalking für die seelische und körperliche Gesundheit der Opfer haben kann, stellt heute niemand mehr infrage. Es ist auch bekannt, dass beim Stalking über 80 Prozent der Opfer weiblich sind und dass es sich bei den Tätern meistens um ehemaligen Partner handelt. Wir hatten deshalb bereits im Gewaltschutzgesetz einen zivilrechtlichen Schutz verankert. Für die Opfer war das damals ein wichtiger Schritt. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass dies gerade aus Opferschutzgründen - und das sehe ich anders als Sie, Herr Kollege Wunderlich - nicht ausreicht. Das Zivilrecht geht von prozessual gleichberechtigten Parteien aus, ein Gleichgewicht, das zwischen Stalker und Gestalkter nur selten zu finden ist. Die Opfer müssen - das ist gerade schon gesagt worden - selbstständig einen Antrag stellen, Beweise erbringen und die Kostenlast tragen. Das überfordert sie meistens in ihrer sehr belastenden Situation. Für uns Grüne ist der Opferschutz zentral. Deshalb haben wir uns - anders als die Linksfraktion und die FDP für einen Straftatbestand entschieden. ({0}) Allerdings ignoriert der hier vorliegende Vorschlag der Koalition ausgerechnet dieses Anliegen. Die Bundesregierung hat nämlich den Grundtatbestand als Privatklagedelikt ausgestaltet. Damit sind die Opfer bei der Klage wieder auf sich selbst gestellt. ({1}) Privatklagedelikte sind Delikte wie Beleidigung oder Sachbeschädigung. Dass die Koalition das Stalking mit diesen Delikten auf eine Stufe stellt, zeigt, dass Sie trotz der Anhörung vieler Expertinnen und Experten die spezifische Situation der Stalkingopfer nicht verstanden haben. ({2}) Dem Entwurf fehlt auch eine Ausnahmeregelung für Journalisten und Journalistinnen - in diesem Punkt bin ich mit Ihnen einig, Herr Kollege van Essen -, damit nicht jede intensive Recherche sofort als Stalking diffamiert wird. Wie oft war es gerade in der Vergangenheit die Presse, die Missstände aufgedeckt hat. Darum haben wir in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen, dass für die Presse andere Regelungen gelten, wenn sie in der Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen handelt. ({3}) Entscheidender ist aber: Nach wie vor bezweifeln wir, dass Ihr Kompromissvorschlag in der jetzigen Form vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte, was die geplante Ausweitung der Untersuchungshaft angeht. ({4}) Denn die sehr hohen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestellt hat, können von den weit gefassten Qualifikationstatbeständen in Ihrem Entwurf unseres Erachtens keineswegs erfüllt werden. ({5}) - Herr Stünker, das ist Ihnen jetzt unangenehm; das tut mir Leid. Ursprünglich hatte die Bundesregierung dies im Entwurf des Bundesrates kritisiert. Hier hat die SPD ihre Meinung offensichtlich um 180 Grad gedreht. Es tut mir Leid, dass Ihnen das jetzt peinlich ist; aber so ist es. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der Union, was die Opfer viel besser schützt als eine so genannte Deeskalationshaft, sind effektive Interventionsmaßnahmen vor Ort und ein besseres Verständnis der Behörden für diese Form von Gewalt. Ein Straftatbestand ohne diese flankierenden Maßnahmen wird ins Leere laufen. Ich bin mit Ihnen, Herr Kollege Wunderlich, einig: Allein einen Straftatbestand zu schaffen, reicht nicht. Ich erinnere an die Studie der Technischen Universität Darmstadt, derzufolge fast 70 Prozent der befragten Stalking-Opfer Schwierigkeiten hatten, der Polizei den Ernst ihrer Situation zu vermitteln. Dass es vor den Gerichten ähnliche Probleme gibt, wissen wir von den Beratungsstellen. Ganz wichtig ist daher die Schulung aller Beteiligten, sowohl die der Justiz als auch die der Polizei. Auch die Einrichtung von Sonderzuständigkeiten ist nötig. ({6}) - Nein, das haben Sie nicht. ({7}) In unserem Entschließungsantrag haben wir zahlreiche notwendige Maßnahmen aufgelistet. Für besonders wichtig halten wir Änderungen der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren. Festgeschrieben werden soll unter anderem, dass gerade bei engen persönlichen Beziehungen regelmäßig das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung anzunehmen ist. Als besonders erfolgreiche Maßnahme hat sich im Bremer Modellprojekt die direkte Ansprache von Stalkern durch die Polizei in einem möglichst frühen Stadium erwiesen. Das muss elementarer Bestandteil jedes Vorgehens gegen Stalking werden. ({8}) - Ich war hier. ({9}) - Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann sollten Sie dies auf ordentliche Weise tun und hier nicht so dazwischenrufen. ({10}) Viele dieser Forderungen fallen nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Aber der Aktionsplan „Häusliche Gewalt“ bietet uns die Möglichkeit, hieran anzuknüpfen und ein gemeinsames Konzept zu erstellen. Ich finde, gerade diese Vorschläge in unserem Entschließungsantrag zur Stärkung der Rechte der Opfer könnten wir konsensual angehen. Da sind die FDP- und die Linksfraktion unserer Meinung; dazu gibt es ähnliche Vorschläge. Auch die Bundesregierung kann ihre Augen vor diesen Notwendigkeiten nicht verschließen, wenn sie ein Gesetz schaffen will, das wirklich nützt. Recht herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich das Wort der Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerin habe ich die nette Aufgabe, auf einige der vorgebrachten Scheinargumente einzugehen, ({0}) mit denen versucht wird, den vorliegenden Gesetzentwurf zu diffamieren, wofür ich - so muss ich sagen wenig Verständnis habe. ({1}) Es wurde hier unglaublich gesetzestechnisch diskutiert; dazu komme ich gleich. Wir sollten aber nicht außer Acht lassen, worum es hier geht. Wir haben vor vielen Jahren unter Rot-Grün ein Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Es war gut und richtig gemeint; es ist in die richtige Richtung gegangen. Aber wir mussten feststellen, dass es in vielen Bereichen nicht ausreichend ist, dass wir Ergänzungen bzw. Flankierungen brauchen. Das Gewaltschutzgesetz wird nicht außer Kraft gesetzt, ({2}) sondern bleibt für die einfachen Fälle bestehen und eröffnet die Möglichkeit, sowohl danach als auch nach dem nunmehr zu verabschiedenden Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vorzugehen. ({3}) - Richtig. - Es bleibt jedem überlassen, auf welchen Weg er sich machen möchte. Frau Schewe-Gerigk, es ist nicht so, dass es ein reines Antragsdelikt ist, ({4}) wenn ich mich in Zukunft gegen solche Vorkommnisse wehren möchte. Natürlich kann ich einen solchen Antrag stellen. Aber da hilft ein Blick in den Gesetzentwurf, so wie er auf dem Tisch liegt; denn in Abs. 6 des neu zu schaffenden § 238 StGB steht: In den Fällen des Absatzes 1 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, ({5}) dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. In genau diesen Fällen braucht man keinen Antrag zu stellen. Dann wird die Strafverfolgungsbehörde tätig. ({6}) Ich möchte Ihnen einen Teil eines Briefes vorlesen, damit wir einmal wissen, über welche Fälle wir reden. Ich glaube, Sie, Herr van Essen, haben gesagt, dass Sticheleien von dem neuen Gesetz nicht erfasst würden. Selbstverständlich sollen Sticheleien nicht von diesem Gesetz erfasst werden, sondern Tatbestände bzw. Sachverhalte wie der folgende. Ihn hat uns eine Mutter mit einem Schreiben vom Oktober dieses Jahres zur Kenntnis gegeben. Ihre Tochter ist Opfer eines Stalking-Täters geworden. Sie ist 44 Jahre. In dem Brief steht: Seit 2003 ist das Leben der Familie total aus den Fugen geraten. Weiter schreibt sie: Seit dem 15. Dezember 2004 lebe ich nicht mehr, sondern funktioniere ich nur noch. - Die Tochter wurde zwei Jahre gedemütigt, misshandelt, belästigt, vergewaltigt, verfolgt, terrorisiert, mit Fäusten geschlagen und am Ende umgebracht. Es geht nicht um Sticheleien; es geht um genau solche Vorfälle. Dafür reicht ein Gewaltschutzgesetz auch in veränderter Form nicht. ({7}) Wenn wir zu dem Zeitpunkt, als diese Taten geschahen, die hier kritisierte Deeskalationshaft, den Haftgrund nach § 112 a StPO, gehabt hätten, dann hätte dieser Täter schon in Haft genommen werden können, weil die Gefahr bestand, dass er schwere Straftaten begehen wird. Vielleicht hätte das Leben dieser jungen Frau gerettet werden können. Mit Verlaub, dieses Vorgehen wäre verhältnismäßig, wenn man die entsprechenden Rechtsgüter gegeneinander abwägt. ({8}) Es ist viel kritisiert worden, dass die Begriffe nicht bestimmt genug seien und deswegen große Probleme auf uns zukämen. Herr van Essen hat hier den Reigen der Bedenkenträger und Kritiker eröffnet. Herr van Essen, ansonsten lassen Sie uns in solchen Diskussionen immer gern an Ihrem reichem Erfahrungsschatz aus Ihrer Zeit als Oberstaatsanwalt teilhaben. Ich habe die Stellungnahme eines Leitenden Oberstaatsanwaltes bekommen. ({9}) Ich will jetzt gar nicht auf die Hierarchie abheben oder das in irgendeiner Form bewerten. Nur, dieser Mann hat mit einem solchen Gesetz überhaupt keine Probleme, im Gegenteil. Er sagt ganz klar: Das ist so formuliert, dass die Gerichte sehr wohl in der Lage sein werden, es auszulegen. Es ist hinreichend bestimmt und auslegungsfähig. - Er fordert allerdings, genau wie Sie, ein Gefährdungsdelikt. ({10}) Sie haben Recht: Wir haben uns für etwas anderes entschieden, nämlich für ein Erfolgsdelikt, mit dem wir dem Bestimmtheitsgebot in diesem Punkt Rechnung tragen können. Herr van Essen, Sie müssen sich entscheiden: Soll es hinreichend bestimmt sein? Oder wollen Sie, dass das nur ein Gefährdungsdelikt ist? ({11}) Beides geht nicht. Wasch mich, aber mach mich nicht nass - das funktioniert im Strafrecht nicht. ({12}) Wenn man sich die Kritik an diesem Gesetz anschaut, merkt man, dass diese Kritik überhaupt nichts Substantiiertes enthält. Es spricht nicht für Ihre Erfahrung und Ihre Erkenntnisse als ehemaliger Oberstaatsanwalt, ({13}) wenn Sie vortragen, dass ein Strafverfahren genauso aufwendig sei wie ein Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz. Das trifft natürlich besonders mit Blick auf den Betroffenen nicht zu. Er wird in einem Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz viel mehr in die eigene Verantwortung genommen. Hinzu kommt, wie gesagt: Wir hätten keine Möglichkeit, jemanden, bevor es zum Schlimmsten kommt, aus dem Verkehr zu ziehen. Dieser neue Haftgrund eröffnet die Möglichkeit dazu. Ich möchte nicht, dass es zu weiteren Fällen kommt, wie sie in diesem Brief beschrieben wurden. Vielmehr möchte ich den Menschen Brot und keine Steine geben; ich möchte einen wirksamen Schutz vor solchen Übergriffen. Deswegen bedarf es dieses Gesetzes. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen, Drucksache 16/575. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3641, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3663? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Mehrheitsverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3662? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3665? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3664? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung des Bündnisses 90/ Die Grünen sowie Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Abstimmung über den Entwurf eines StalkingBekämpfungsgesetzes des Bundesrates auf Drucksache 16/1030. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3641, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Margareta Wolf ({0}), Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Partnerschaftliche Unternehmenskultur stärken - Mitarbeiterbeteiligung fördern - Drucksache 16/2653 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen. Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, bitten, den Saal zu verlassen, sodass die übrigen der Rednerin folgen können. - Bitte schön, Frau Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, über das wir bereits gestern in der Aktuellen Stunde diskutiert haben. Wir haben Ihnen einen Antrag dazu vorgelegt, weil wir glauben, dass wir hier nach dem, was Sie gestern dazu gesagt haben, vielleicht Einigkeit erzielen können. In Großbritannien haben 30 Prozent der Betriebe mit mehr als 200 Beschäftigten Mitarbeiterbeteiligungsmodelle. Bei uns sind es etwa 3 600 Betriebe. Es ist also festzustellen, dass die Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland seit etwa 30 Jahren in einer Art Dornröschenschlaf gefangen ist. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir dieses Dornröschen wachküssen; ({0}) denn die Mitarbeiterbeteiligung ist ein Baustein einer modernen, offenen Unternehmenskultur. Dazu gehören auch eine bessere Corporate Governance und Maßnahmen zur Förderung von Frauen in Chefetagen, die wir voranbringen müssen. Das gehört alles zusammen. Arbeitnehmerbeteiligung ist „Mitbestimmung plus“. Das sage ich vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP ganz deutlich. Ich habe nämlich immer wieder den Eindruck, dass Sie Arbeitnehmerbeteiligung als Alternative zur Mitbestimmung diskutieren. Das ist ein falscher Ansatz. Es geht um beides: um mehr Mitbestimmung und Mitsprache, aber eben auch um Arbeitnehmerbeteiligung. Mitarbeiterbeteiligung birgt Chancen. Wir haben kürzlich ein Fachgespräch mit Betrieben geführt, die auf diesem Gebiet Pioniere sind. Dort konnte man uns deutlich belegen, was schon in der gestrigen Debatte angedeutet wurde: Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung haben Produktivitätsvorteile. Dies zeigt auch folgendes Beispiel: Mit einer Maschine, die mit „Eigentum der Mitarbeiter“ gekennzeichnet ist, wird sehr viel sorgsamer umgegangen. Mitarbeiterbeteiligung kann zudem zu einer Stärkung der Eigenkapitaldecke führen, was gerade in kleinen und mittleren Unternehmen vorteilhaft ist. Auch in Betrieben, bei denen es um die Unternehmensnachfolge geht - im Schnitt pro Jahr 71 000 -, kann Mitarbeiterbeteiligung ein Projekt sein, diese Betriebe in die Zukunft zu führen. - Um all dies geht es und jeweils sind unterschiedliche Ansätze nötig. Ansätze von der Stange führen nicht weiter. Deshalb müssen wir darüber reden. Wir sollten auch - das ist mir wichtig - über die Risiken reden, die mit der Arbeitnehmerbeteiligung verbunden sind: Wenn ein Arbeitnehmer neben seiner Arbeitskraft auch noch Kapital einbringt, hat er für den Fall, dass sein Unternehmen in Schwierigkeiten kommt, ein doppeltes Risiko zu tragen. Wir haben in unserem Antrag zu diesem Thema deshalb folgenden Vorschlag unterbreitet: Dort, wo Steuergelder gebunden sind, sollte eine Insolvenzsicherung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbindlich vorgeschrieben sein. ({1}) Für KMUs, kleine und mittlere Betriebe, muss die Lösung an dieser Stelle aber noch anders aussehen. Auf Landesebene, in Berlin und Thüringen, gibt es für Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung Programme mit Garantieübernahme von Bürgschaftsbanken. Das sind gute Stützen für kleine und mittlere Betriebe, in denen Mitarbeiterbeteiligung noch Neuland ist. ({2}) Arbeitnehmer brauchen gewisse Sicherheiten. Wenn sie ihre Arbeitskraft plus ihr Kapital zum Einsatz bringen, haben sie schon ein doppeltes Risiko zu tragen. Wenn dann noch das hinzukommt, was Sie von der Union, aber auch von der SPD in der aktuellen Debatte vorschlagen - ich habe das heute beispielsweise von Herrn Müntefering gelesen -, nämlich dass diese Modelle zur Altersvorsorge genutzt werden könnten, dann wird aus dem doppelten Risiko der Arbeitnehmer gar ein dreifaches Risiko. Jemanden, der seinen Job in einem Betrieb hat und auch sein Kapital dort bindet, sollte man nicht auch noch dazu überreden, seine Altersvorsorge in dem gleichen Betrieb zu platzieren. Man sollte ihn darauf aufmerksam machen, dass es besser wäre, das Risiko zu streuen, indem er einen Vertrag zur kapitalgedeckten Altersvorsorge bei einer privaten Gesellschaft abschließt. Ich finde Ihren Vorschlag sehr gefährlich. Sie sollten ihn noch einmal überdenken. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Redezeit ist überschritten. Deswegen komme ich zum Schluss. Ich hoffe auf eine faire Beratung. Wir haben viele Vorschläge gemacht, die über das hinausgehen, was ich jetzt in der Kürze der Zeit vortragen konnte. Zum Schluss vielleicht noch Folgendes: Bevor wir über eine weitere Ausdehnung von Subventionen reden, sollten wir lieber noch einmal über die Halbierung des Sparerfreibetrages sprechen, die Sie gerade beschlossen haben. Auch das schadet nämlich der Vermögensbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns schon in der gestrigen Aktuellen Stunde sehr intensiv über die Mitarbeiterbeteiligung unterhalten. Trotzdem halte ich es für gut, dass wir auch heute noch einmal über dieses Thema sprechen. Frau Kollegin Dückert, Ihr Antrag geht im Prinzip in die richtige Richtung. ({0}) An einigen Stellen wird aber sicherlich noch darüber zu diskutieren sein. Heute fangen wir damit an. Dass Mitarbeiterbeteiligung notwendig ist, zeigt sich schon daran, dass man sich in Deutschland seit mehr als 30 Jahren permanent mit diesem Thema beschäftigt, dass aber noch keine zufrieden stellende Lösung auf den Weg gebracht worden ist. Untersuchungen zufolge - eine solche Studie hat das IAB durchgeführt - werden bei nur 2 Prozent der Unternehmen in Deutschland Formen der Mitarbeiterbeteiligung praktiziert. Im Hinblick auf die Gewinnbeteiligung sieht die Situation besser aus: Rund 9 Prozent der Unternehmen in Deutschland wenden solche Methoden an. Auch das ist mir allerdings viel zu wenig. Ich persönlich bin Unternehmer und habe dieses Instrument immer genutzt. Denn Mitarbeiter sind viel motivierter, wenn sie am Erfolg des Unternehmens, in dem sie arbeiten, beteiligt werden. Das Problem ist natürlich, dass diese Möglichkeit in den Tarifverträgen nicht vorgesehen ist. Es wäre wünschenswert, wenn die Bereitschaft bestünde, daran etwas zu ändern. Darüber müssen wir nachdenken. Im internationalen Vergleich steht Deutschland ziemlich schlecht da. Denn im Ausland - in Großbritannien und Frankreich wie auch in den skandinavischen Ländern - ist die Mitarbeiterkapitalbeteiligung viel stärker verbreitet als bei uns. In diesen Ländern wird sie allerdings in großem Umfang durch Steuern gefördert, Frau Dückert. Unter Umständen müssen auch wir diese Möglichkeit ins Auge fassen. Es geht uns nicht darum, dass hier und heute ein fix und fertiges Modell vorgelegt werDr. Michael Fuchs den muss - auch Ihres ist das nicht -, sondern darum, dass wir nach Wegen suchen, um die Anwendung dieses Instruments auszubauen. Wir sollten endlich ohne Scheu über die Mitarbeiterbeteiligung und über Wege hin zu mehr unternehmerischem Miteinander diskutieren. Es gefällt mir nicht, dass in diesem Zusammenhang immer wieder dieselben notorischen Gegenmeinungen vertreten werden. In den Zeitungen heißt es, dieses Vorhaben sei ein „trojanisches Pferd“ und es handele sich um einen „Sparlohn statt Barlohn“. Auf diese Weise wird von den Gewerkschaften automatisch und reflexartig reagiert. Das ist nicht der richtige Weg. Mir wäre es lieber - wie ich sehe, lacht mich der Kollege Riester gerade an -, wenn wir auf diesem Gebiet vorankommen würden. Ich denke, dass wir nicht aufeinander eindreschen sollten, sondern dass es an der Zeit ist, dieses Thema mit Gestaltungswillen anzugehen. Es hat mich sehr gefreut, dass sich am Montag dieser Woche im Anschluss an die Diskussion auf unserem Parteitag in Dresden auch der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in diese Richtung geäußert hat. An diesem Vorhaben sollten wir nun gemeinsam arbeiten. Meine Damen und Herren, die Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist grundsätzlich der richtige Ansatz. Lassen Sie uns daher über die damit verbundenen Chancen und Ziele diskutieren: Die Arbeitnehmer am Kapital zu beteiligen führt in jedem Fall zu größerer Identifikation mit dem Unternehmen; das ist völlig klar. Es führt sicherlich auch zu einem besseren Betriebsklima. Es kann auch zur Verbesserung der Eigenkapitalbasis - die Eigenkapitalbasis ist eines der großen Probleme, die wir in Deutschland haben - führen. Möglich wäre es auch, die Mitarbeiterbeteiligung am Ende des Berufslebens - in diesem Punkt bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Frau Dückert; ich schätze das Risiko nicht so groß ein wie Sie - in eine Aufbesserung der Rente umzuwandeln. Wir wollen nicht beides gleichzeitig, sondern nur eine Umwandlung nach Ausscheiden aus dem Betrieb. Aufgrund der gemeinsamen Interessenlage haben Kapitalbeteiligungen stärkere Auswirkungen auf die partnerschaftliche Unternehmensführung. Deswegen befürworte ich eine Kultur der Beteiligung. Sie bietet die Chance zu einer Art Mentalitätswandel. Was wäre in Zeiten der Globalisierung, in denen sich die Welt überall verändert, besser, als darüber nachzudenken, einen solchen Weg zu gehen? Niemand wartet auf Deutschland. Wir müssen uns selbst darum bemühen, diese Richtung einzuschlagen. An dieser Stelle sind auch die Tarifpartner gefordert. Sie sollten überlegen, ob nicht doch ertragsabhängige Komponenten in die Tarifpolitik eingeführt werden können. Sollte aufseiten der Tarifpartner keine Bereitschaft dazu vorhanden sein, könnte ich mir sogar vorstellen, dass wir den Unternehmen und ihren Mitarbeitern für diesen speziellen Fall die Möglichkeit eröffnen, vom Tarifvertrag abzuweichen, um die Nutzung einer solchen Komponente, wenn sie denn gewünscht ist - das muss immer auf freiwilliger Basis geschehen -, zu ermöglichen. ({1}) Für mich ist wichtig, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber Kapitalbeteiligungen grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis vereinbaren. Jeder gesetzliche und jeder tarifliche Zwang muss abgelehnt werden. Das Modell muss einfach, unbürokratisch und schnell anwendbar sein. Jedes Unternehmen soll frei das Angebot bereitstellen können, das am besten zu seiner Unternehmensstruktur passt. Denn wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass eine GmbH oder gar eine OHG eine völlig andere Struktur hat als eine Aktiengesellschaft. Deswegen müssen wir unterschiedliche Modelle diskutieren und, damit so etwas unbürokratisch möglich ist, unter Umständen entsprechende Veränderungen im Gesellschaftsrecht vornehmen. An die bei Kapitalgesellschaften Beschäftigten können relativ einfach Aktien oder Optionen bzw. Optionsscheine ausgegeben werden. Das mag einfach funktionieren. Aber es geht doch gerade darum, wie auch der Mittelstand solche Modelle auflegen kann. In mittelständischen Unternehmen wird so etwas bis jetzt nicht gemacht. Eine gesetzliche Pflicht zur Insolvenzsicherung ist in meinen Augen abzulehnen. Denn gesellschaftsrechtliche Beteiligungen, etwa in Aktien - die ja quasi Eigenkapital darstellen -, sind von ihrem Charakter her risikobehaftet. Dieses Risiko kann man schlecht absichern. Und wenn man es absichert, geht das zulasten der Rentabilität der Beteiligung. Dann kann es sehr schnell passieren, dass sich diese Anlage für den Mitarbeiter nicht mehr lohnt. Das wollen wir nicht. Eine Aktie ist eo ipso nicht absicherbar. Entscheidet sich ein Arbeitnehmer freiwillig für eine Absicherung, muss er auch die Kosten dafür tragen. Wie so etwas funktionieren könnte, darüber müsste man nachdenken. Ob das über einen Pensionssicherungsverein oder Ähnliches machbar wäre, wage ich allerdings zu bezweifeln. Wir wollen die steuerliche Behandlung dieser Kapitalbeteiligungen zielgerichteter aufstellen. Wir müssen prüfen, ob der jetzige Freibetrag von 135 Euro ausreicht. Unter Umständen muss man ihn aufstocken. Man muss dabei aber immer daran denken, dass wir unsere Sozialversicherungssysteme nicht beschädigen dürfen. Die Sozialversicherungssysteme dürfen nicht weiter belastet werden, weil das zu einer Erhöhung der Lohnzusatzkosten führen würde. Ich bin unheimlich froh, dass ich am heutigen Tag reden darf. Denn dieser Tag ist für uns alle hier im Parlament ein glücklicher Tag: Erstmals seit vier Jahren ist die Zahl der Arbeitslosen wieder unter 4 Millionen gesunken. Das macht mich sehr froh und es macht uns gemeinsam auch stolz; denn damit hat man so nicht rechnen können. ({2}) Wir müssen in jedem Fall über eine nachgelagerte Besteuerung nachdenken: dass Steuern und Sozialbeiträge dann gezahlt werden, wenn die Mitarbeiter das Kapital in den Händen halten. Wir wollen die Umwandlung einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung in eine betriebliche Altersvorsorge ermöglichen, natürlich ebenfalls bei nachgelagerter Besteuerung. Lassen Sie mich zum Schluss die Bundeskanzlerin zitieren. Sie hat am Montag zu diesem Thema gesagt: Wenn immer nur gesagt wird, was nicht geht, wird Deutschland niemals weiterkommen. Auch wenn man noch nicht so genau weiß, wie es denn geht, sollte man dennoch darüber nachdenken, wie es zu machen sei. ({3}) Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Lassen Sie uns in diesem Parlament gemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg, nach Wegen suchen! Wir sind dazu bereit und wir freuen uns auf die Mitarbeit der Grünen und der FDP. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Mitarbeiterbeteiligung ist eine gute Sache - wenn sie freiwillig ist: wenn Arbeitgeber ein solches Angebot machen können und wenn Arbeitnehmer die Wahl haben, ob sie ein solches Angebot annehmen wollen oder nicht. Zwang darf es nicht geben. Wir waren uns in der gestrigen Aktuellen Stunde alle einig: Einen staatlich verordneten Investivlohn kann es nicht geben. Ein Arbeitnehmer muss selbst entscheiden können, ob er in einem Unternehmen, in mehreren oder in anderen Anlageformen seine Chancen sieht. Das haben selbst die früher so staatsgläubigen Grünen erkannt, wie ihr Antrag zeigt. ({0}) Ansonsten bringt der Antrag leider wenig Neues. Er ist vermutlich ein Beitrag zur wirtschaftspolitischen Findung und Positionierung Ihrer Partei. Seit neuestem wollen einige bei den Grünen ja, dass die Grünen eine Wirtschaftspartei werden und ihr Image von Müsli und Chaos ablegen. ({1}) Hierbei haben Sie allerdings noch einen weiten Weg vor sich; denn an den Steuerwettbewerb wollen Sie offensichtlich nicht heran, bei der Kernenergie verabschieden Sie sich nicht von Ihren alten ideologischen Positionen, in der Handelspolitik sind Sie noch nicht beim Freihandel angekommen und der Mindestlohn, den Sie fordern, ist alles andere als ein marktwirtschaftliches Element. ({2}) Bei den Grünen traut nicht nur die Parteivorsitzende, Frau Roth, dem Markt nicht über den Weg - sie spricht lieber von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit -, ({3}) selbst Herr Trittin glaubt, so seine Äußerung im „Handelsblatt“, dass es den grünen Wirtschaftspolitikern nicht um den Markt, sondern um das Marketing geht. ({4}) Meine Damen und Herren, an der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand haben sich viele versucht. Herr Dr. Fuchs hat es angesprochen: Durchschlagende Erfolge hat es bisher nicht gegeben. Vielleicht ist es auch ganz vernünftig, weil manche Arbeitnehmer lieber einen Barlohn auf dem Konto als einen Sparlohn mit einer langen Festlegungsfrist im Depot haben. Wir wollen, dass die Mitarbeiter zu Mitunternehmern werden. Das Miteigentum ist eine echte Form der Mitbestimmung. Wenn die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer ausreichend über die Vor- und Nachteile von Beteiligungsmodellen informiert worden sind und sich frei entscheiden können, dann gibt es weder zu viel noch zu wenig Beteiligung, dann gibt es genau so viel Beteiligung, wie sie die Betroffenen offenbar wünschen. Wir können in der Tat nur für Beteiligungsmodelle werben und darüber informieren. Wie andere Formen der Alterssicherung können und sollten wir auch diese Form der Vorsorge mit einer nachgelagerten Besteuerung versehen. Wir müssen allerdings auch vor den Risiken warnen: Eine Anlage in Aktien ist und bleibt risikoreich; erst recht, wenn man sich mit dieser Anlage auf nur ein Unternehmen konzentriert. Gerade für die Altersvorsorge muss eine breitere Streuung vorhanden sein, damit sie von Finanzexperten auch empfohlen werden kann. ({5}) Es gibt Beispiele für eine gelungene Arbeitnehmerbeteiligung. Der „Stern“ stellt in seiner neuesten Ausgabe einige gelungene Beispiele vor. Die letzte Forderung in dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen, wonach „gelungene Beispiele von erfolgreichen Mitarbeiterbeteiligungsmodellen“ öffentlich gemacht werden sollen, hat der „Stern“ mit seiner heutigen Ausgabe quasi schon erfüllt. ({6}) Eine staatliche Insolvenzsicherung darf es hierbei meines Erachtens nicht geben. Wer das Risiko einer Unternehmensbeteiligung eingeht, der muss es auch tragen. Es darf nicht möglich sein, Gewinne einzustreichen und Verluste quasi auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Wenn Unternehmen für die Beteiligung ihrer Arbeitnehmer priRainer Brüderle vat eine Absicherung vornehmen - zum Beispiel bei einem Pensionssicherungsverein oder Ähnlichem -, dann ist das ihre Sache. Der Staat hat hier meines Erachtens aber nichts verloren. ({7}) Die Grünen sollten klarstellen, dass es ihnen nicht um eine staatlich finanzierte Garantie für Beteiligungsmodelle geht. Ich begrüße es sehr, dass wir uns gestern und heute erneut mit diesem Thema beschäftigt haben bzw. beschäftigen. Ich wiederhole aber auch: Dass die große Koalition dieses Thema jetzt hochgezogen hat, liegt letztlich darin begründet, dass sie von anderen Themen ablenken will, nämlich von ihren Eingriffen in den Sparerfreibetrag, von der Diskussion über den Mindestlohn und von anderen Maßnahmen. ({8}) Jetzt, da auf dem Arbeitsmarkt - gottlob! - eine erfreuliche Entwicklung festzustellen ist, wäre es viel vernünftiger, sie zu verstetigen und zu verstärken, indem man auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichtet, sodass man einen nachhaltigen Trend daraus macht. Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit hat auf seiner heutigen Pressekonferenz ebenfalls gesagt: Im nächsten Jahr wird sich der Trend nur sehr reduziert fortsetzen, weil sich die Maßnahmen, die am 1. Januar 2007 greifen, negativ auf die Entwicklung auswirken werden. Deshalb sollte man bei dieser erfreulichen Debatte, die aus durchsichtigen Motiven initiiert wurde, die Gelegenheit nutzen, noch einmal zu appellieren, von seinen starren Positionen abzukommen und etwas Vernünftiges zu tun. Es ist nie verkehrt, dazuzulernen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Brüderle, Ablenken müssen wir von den Koalitionsfraktionen wirklich nicht; denn wir haben Erfolge vorzuweisen. Dass wir uns jetzt mit der Mitarbeiterbeteiligung beschäftigen, hat direkt etwas mit dem Erfolg zu tun; denn die Arbeitnehmer haben einen sehr großen Anteil an diesem Erfolg und deswegen ist es nur gerecht, wenn wir sie daran teilhaben lassen und deswegen für eine stärkere Mitarbeiterbeteiligung eintreten. ({0}) Heute beschäftigen wir uns mit dem Antrag der Grünen, in dem es ebenfalls um die Mitarbeiterbeteiligung geht. Sicherlich können wir uns über den einen oder anderen Vorschlag verständigen, aber mit einigen Forderungen können wir uns nur wenig anfreunden. Deshalb ist der Antrag für uns nicht zustimmungsfähig. Sie verlangen zum Beispiel Mitarbeiterbeteiligungsmodelle, bei denen staatliche Förderungen wie die steuerfreie Beteiligung an Aktienvermögen in Höhe von 135 Euro pro Jahr in Anspruch genommen werden können. Diese Beteiligungen sollen insolvenzgesichert werden oder mit der Garantieübernahme einer Bürgschaftsbank ausgestattet werden. Gleichzeitig wollen Sie aber eine Beteiligungskultur fördern, die auf die Ausweitung steuerlicher Subventionstatbestände verzichtet. Seien wir einmal ehrlich: Sind Sie sicher, dass Regelungen wie die Insolvenzsicherung oder Garantieübernahme letztlich nicht doch auf staatliche Hilfeleistung hinausläuft, die Sie an sich nicht wollen? ({1}) Aktienoptionen wollen Sie nicht nur für die Großen, sondern auch für die Kleinen. Aber wer von den Beziehern kleiner Einkommen kennt sich denn mit Optionen aus? Helfen wir ihnen mit offen gelegten Aktienoptionsplänen wirklich oder zielt Ihr Vorschlag nicht eher in die Richtung, über die Mitarbeiterbeteiligung Änderungen im Aktienrecht vorzunehmen? ({2}) Gleichzeitig fordern Sie, dass Unternehmen ihre Belegschaft als Ausdruck einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur über Erfolgsbeteiligungen am Gewinn partizipieren lassen. Wäre es für dieses Ziel nicht besser, vor allem aber auch für den Arbeitnehmer leichter durchschaubar und wahrscheinlich auch risikoärmer als Aktienoptionen, wenn das Unternehmen seinen Beschäftigten eine Gewinnbeteiligung anbietet, die in Belegschaftsaktien angelegt werden könnte? Neben den Managern gibt es zwar in der Tat auch gut verdienende Facharbeiter, Meister und Ingenieure, die sich wahrscheinlich für Aktienoptionen interessieren und das Risiko abschätzen können. Aber die große Mehrzahl der Menschen, die wir mit der Initiative zu mehr Mitarbeiterbeteiligung erreichen wollen, gehört einer anderen Einkommensklasse an. In ihrem Interesse ist es wichtig, die Menschen nicht nur fair am Unternehmensgewinn zu beteiligen, den sie schließlich selbst miterarbeitet haben, sondern ihnen auch einfache Möglichkeiten aufzuzeigen, Vermögen zu bilden. ({3}) Wer gerne spekuliert, dem steht schon heute der Weg offen, Aktien oder sonstige Wertpapiere zu kaufen. Im Übrigen haben wir uns noch nicht darüber verständigt, um welche Summen es geht. Sind es jährlich Tausende von Euros, die ein Arbeitnehmer anlegen kann, oder geht es um eine ganz andere Größenordnung? Insofern erscheint der Vorschlag der Aktienoptionen nur auf den ersten Blick gut. Wir sollten jedenfalls nicht den Eindruck erwecken, der normale Arbeitnehmer könne sein Geld nicht auf die Bank bringen, keine Lebensversicherung erwerben oder keine Riesterrente abschließen. Ihm stehen längst alle Anlageformen offen, jedoch fehlt es ihm in der Regel an den notwendigen Überschüssen, mit denen er diese Anlagen tätigen könnte. Kommen wir also zurück zu dem ganz normalen Arbeitnehmer. Er hat es wahrlich verdient, an dem Aufschwung, den die Wirtschaft jetzt erlebt, beteiligt zu werden. Aber wenn es um eine echte Gewinnbeteiligung gehen soll - dafür plädieren wir Sozialdemokraten -, dann kann diese nicht mit Lohnverzicht erkauft werden. Denn auf Einkommen haben die Arbeitnehmer jetzt schon längere Zeit verzichtet, weshalb die Schere zwischen dem Zuwachs aus Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen mittlerweile drastisch auseinander geht. Es kann also nicht sein, dass der jetzige Lohn bzw. die anstehende Lohnerhöhung zum Teil in Investitionen in den Betrieb umgewandelt wird, sodass der Beschäftigte weniger in der Tasche hat und ihm nur im Herzen die Hoffnung bleibt, dass sein Betrieb auf der Erfolgsspur bleibt, wenn er gut und hart arbeitet, und er sein Geld, das er in den Betrieb gesteckt hat, nach Jahr und Tag mit Zins und Zinseszins wiederbekommt. Schließlich kann niemand wollen, dass für den Arbeitnehmer das Arbeitsplatzrisiko noch mit einem Kapitalrisiko getoppt wird. Aber bevor wir so weit sind, das Fell des Bären zu verteilen, sollten wir wenigstens einen Bären haben. Deshalb war die Aussage der Arbeitgeberseite gestern und heute, dass sie einer Mitarbeiterbeteiligung grundsätzlich positiv gegenüberstehen, besonders wichtig. Jetzt liegt es auch an den Tarifvertragsparteien, mitzugestalten; denn es stehen ihnen bereits heute viele tarifvertragliche Möglichkeiten und Modelle der Mitarbeiterbeteiligung zur Verfügung, die nur reaktiviert und den neuen Gegebenheiten angepasst werden bräuchten. Inwieweit wir in der Politik zum Beispiel in Sachen Altersvorsorge Rahmen stecken und Anreize setzen sollten,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- das ist mein letzter Satz -, werden wir in den Beratungen sehen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke. ({0})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Antrag der Grünen zeigt bei genauer Lektüre, dass auch sie wissen, was in vielerlei Managementhandbüchern steht: Die Beteiligung der Arbeitnehmer dient den Unternehmen, erhöht die Motivation und fördert die Produktivität. So weit, so gut. Was mich entsetzt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag an zwei Stellen einfach übernehmen, was uns Angebotsökonomen seit Jahren gebetsmühlenartig vortragen, nämlich dass Lohnverzicht Arbeitsplätze schaffen würde. Ich verweise ausdrücklich auf die Begründung zu Nr. 6 auf Seite 5 Ihres Antrags. Zu dem, was Sie dort zum Lohnverzicht im Zusammenhang mit der Mitarbeiterbeteiligung ausführen, kann ich nur sagen: Ein solches Niveau habe ich nicht erwartet. Ihr Antrag zeigt aber auch, dass Sie vielleicht ein bisschen mehr über die Literatur und ein bisschen weniger über die betriebliche Wirklichkeit Bescheid wissen und die zentralen ökonomischen Fehlentwicklungen in den letzten Jahren erneut nicht zur Kenntnis nehmen. Ich möchte nur an zwei Punkte erinnern. Die Schere zwischen Arbeitseinkommen und Unternehmensgewinnen öffnet sich rasant. Den Privathaushalten in Deutschland stehen heute - die Daten wurden erst diese Woche veröffentlicht - 2 Prozent weniger Realeinkommen zur Verfügung als Anfang der 90er-Jahre. Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögende sowie massive Sozialkürzungen haben Löhne und Gehälter unter Druck gesetzt. Deshalb werden heute bereits breite Bevölkerungsschichten von der steigenden Wirtschaftsleistung bzw. Produktivität ausgeschlossen. Für diese Entwicklungen, die auch Ergebnisse falscher Politik sind, sind Sie von den Grünen zumindest mitverantwortlich. ({0}) In dieser Situation meinen Sie von den Grünen nun - zumindest zeigt das Ihr Antrag -, die Dosis der falschen Politik erhöhen zu müssen. Nach Ihrem Verständnis sind Investivlöhne ein Mittel des Verzichts auf Lohn zugunsten von Kapitalbeteiligungen. Das lehnen wir mit allem Nachdruck ab. ({1}) Auch wenn wir das Vorhaben der Koalition - das wurde schon gestern deutlich - für ein Manöver zur Ablenkung von der wachsenden Verarmung in Deutschland halten, erkennen wir immerhin an, dass zumindest die Frage nach der gerechten Verteilung des Reichtums und dem Zuwachs des Reichtums in dieser Gesellschaft nicht nur von uns, sondern auch von anderen gestellt wird, allerdings aus meiner Sicht - bezogen auf das Thema Investivlohn - zum völlig falschen Zeitpunkt, in einem völlig falschen ökonomischen und sozialen Umfeld sowie mit falschen Mitteln. Man könnte vielleicht sagen: Zurück in die 70er-Jahre! Damals hatte die Debatte über Vermögensbildung und Investivlohn ihren Höhepunkt. Es gab sehr konkrete Modelle, bis hin zu Gesetzentwürfen beispielsweise von der SPD-Fraktion, aber in einem völlig anderen sozialen und ökonomischen Umfeld. Ich erinnere nur daran, dass es damals Tariflohnerhöhungen um mehr als 10 Prozent pro Jahr gab. Staatssekretär Thönnes hat meines Wissens in seiner damaligen Funktion als Sekretär der IG Chemie-Papier-Keramik kräftig dazu beigetragen und zunehmend höhere Forderungen gestellt. ({2}) Lang, lang ist’s her. Wenn ich mir aber - im Zusammenhang mit dem, worüber gestern diskutiert wurde - die aktuellen Begründungen der Koalitionsfraktionen wie der Grünen vor Augen führe, die sich auf das Thema Investivlohn beziehen, muss ich sagen: Sie schätzen die Situation falsch ein. Sie sind mit falschen Mitteln auf dem völlig falschen Weg. Aus unserer Sicht stehen die Steigerung der Realeinkommen, gerechtere Verteilung des Produktivitätszuwachses und des Bruttosozialproduktes und mehr Mitbestimmung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der Tagesordnung. Wenn wir das geschafft haben, können wir auch über mehr Vermögensbeteiligung und Investivlohn reden. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir gestern nicht schon die Aktuelle Stunde „Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg und Kapital von Unternehmen“ gehabt hätten, wäre diese Debatte jetzt sinnvoll. Gestern wurde jedoch deutlich, dass wir alle - damit meine ich wirklich alle Parteien ({0}) auf der Suche nach dem richtigen Modell für mehr Mitarbeiterbeteiligung sind. Der nun zu diskutierende Antrag der Grünen bringt uns hier auch nicht weiter. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Wir können uns mehr Mitarbeiterbeteiligung gut vorstellen; denn wir wissen, dass es Bewegung gibt. Wir haben schon heute Mitarbeiterbeteiligung, die von Gewerkschaften, Betriebsräten und Arbeitgebern gemeinsam ausgehandelt wurde. Weil gute Beispiele wichtig sind, will ich hier auf eines eingehen. Die Deutsche Bahn AG hat einen vorbildlichen Tarifvertrag zur Erfolgsbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Gewerkschaft Transnet ausgehandelt. Abhängig vom Unternehmensgewinn erhalten die Mitarbeiter seit 2005 eine Mitarbeiterbeteiligung, die von 100 auf bis zu 600 Euro anwächst. Wählt der Mitarbeiter die Option, dieses zum Tariflohn hinzukommende Geld in die Altersvorsorge umzuwandeln, wird dies vom Arbeitgeber zusätzlich gefördert. Der Anreiz zur zusätzlichen betrieblichen Altersvorsorge ist also hoch. Was können wir aus diesem Beispiel lernen? Einige Aspekte sind mir wichtig. Erstens. Die Mitarbeiter sind am Erfolg des Unternehmens beteiligt. Erreicht das Unternehmen seine Ziele, haben die Mitarbeiter etwas davon. Erreicht es seine Ziele nicht, bleibt der Tariflohn. Die Mitarbeiter sind hoch motiviert, den Unternehmenserfolg zu steigern. Schreibt das Unternehmen aber rote Zahlen, gibt es keinen Tariflohnverlust. Zweitens. Die Mitarbeiterbeteiligung kann in Altersvorsorge umgewandelt werden. Das ist das richtige Signal. Wir wissen alle, dass neben der gesetzlichen Rentenversicherung die betriebliche Altersvorsorge eine zentrale Rolle spielt. Drittens. Untere Lohngruppen profitieren von dieser Regelung, weil ein fester Betrag ausgezahlt wird, unabhängig von der Einkommenshöhe. Viertens. Sogar beim Arbeitgeberwechsel verliert der Arbeitnehmer seine Betriebsrentenansprüche nicht. Fünftens. Diese Form der Mitarbeiterbeteiligung stützt sich voll und ganz auf die Mitbestimmung. Ja, Mitarbeiterbeteiligung muss auch Mitbestimmung bedeuten. ({1}) Sechstens. Die Mitarbeiter können wählen, wofür sie ihr zusätzliches Geld verwenden, für die Altersvorsorge oder für den Konsum. Das scheint mir deshalb wichtig, weil es aktuell einige Debatten darüber gibt, dass Mitarbeiter verpflichtet werden sollen, sich am Kapital ihres Unternehmens zu beteiligen. ({2}) Ich plädiere für eine grundsätzliche Wahlfreiheit des Mitarbeiters. Was lernen wir noch aus diesem Beispiel? Große Unternehmen mit einer hohen Mitarbeiterbindung bieten schon heute Belegschaftsaktien, Mitarbeiterbeteiligungen und Genossenschaftsanteile an. Aber seien wir doch ehrlich: Von einer Gewinn- oder Kapitalbeteiligung profitieren diejenigen Arbeitnehmer, die einen gut bezahlten Job haben und in einem finanzstarken Unternehmen arbeiten. Bei dieser ganzen Debatte dürfen wir eines nicht vergessen: Wie können wir Löhne im unteren Einkommensbereich armutsfest machen? Hier ist der Mindestlohn die Antwort. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2653 an die in der Tagesordnung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes - Drucksache 16/2969 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - Drucksache 16/3638 Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Christoph Waitz Katrin Göring-Eckardt Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Außerdem ist interfraktionell vereinbart, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3653 zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften zu erweitern und als Zusatzpunkt 5 mit diesem Tagesordnungspunkt zu beraten. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlossen. Dann rufe ich auch Zusatzpunkt 5 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/3653 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute auf den Tag genau vor 30 Jahren gab es in der Dreikönigskirche in Dresden eine Schriftstellerlesung. Diese Lesung hatten einige studentische Freunde und ich zusammen organisiert. Der Lesende war Reiner Kunze. Das Buch, aus dem er las, hieß „Die wunderbaren Jahre“. Diese Lesung sollte sich als die letzte öffentliche Lesung von Reiner Kunze in Ostdeutschland erweisen. Ich will nicht erklären, welche Beschattungen, Nachforschungen, Vorladungen zur Staatssicherheit usw. danach für uns alle losgingen. Ich will über das Schicksal eines an dieser Lesung unbeteiligten jungen Mannes berichten: Es ist mein Freund Albrecht Heß. Er war einer der mit Abstand besten Mathematikstudenten in Dresden. Für alle war klar, dass er einmal einen Lehrstuhl übernehmen würde, eine Forschungsgruppe leiten würde, in einer Akademie tätig sein würde oder etwas Ähnliches tun würde. Dieser junge Mann wurde kurze Zeit später bei der Staatssicherheit vorgeladen. Er kam danach zu uns, zu den Organisatoren dieser Veranstaltung, und erklärte, man habe versucht, ihn zu werben; er habe die Anwerbung abgelehnt. Von diesem Zeitpunkt an war es mit der beruflichen Entwicklung von Albrecht Heß zu Ende. Er hat es nur noch mit größter Mühe und kraft seiner überragenden Begabung geschafft, an einer anderen Universität zu promovieren. Er kam beruflich nie richtig auf die Beine. Nach 1990 fehlte ihm die Kraft, sich gegen die starke Konkurrenz durchzusetzen. Heute ist er Mathematiklehrer an der Deutschen Schule Madrid. Sein Gehalt ist relativ gering. Er wird nicht wiederkommen. Wenn wir über diese Dinge reden, dann müssen wir natürlich von Anfang an sagen: Wir haben schon 1990 immer wieder betont, wir wollen mit der Staatssicherheit nicht so umgehen, wie sie mit uns umgegangen wäre. Das ist richtig. Dieser Meinung wird auch Albrecht Heß sein. Aber ob das gleich bedeuten muss, dass man jemandem, der ein solches Schicksal hatte, als Richter oder als Staatsanwalt einen ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit präsentiert, das glaube ich auch 16 Jahre später noch nicht. ({0}) Im Übrigen vertreten wir die Auffassung - das drückt sich auch in der heute zu verabschiedenden Novelle aus -, dass die Überprüfung eines großen Teils der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu beenden ist. Das darf aber eben nicht für alle gelten. Was ist eigentlich die zugrunde liegende Frage? Wir haben aus der Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit niemals eine strafrechtliche Kategorie gemacht. Es ging immer um die Frage der Eignung für ein bestimmtes öffentliches Amt. Diese Frage war maßgebend. Es ging dabei auch niemals darum, jemanden an den Pranger zu stellen. Die Sache ist ganz einfach: In dem Moment, in dem sich jemand für ein öffentliches Amt für geeignet erklärt, muss er erdulden, dass seine Biografie öffentlich diskutiert wird. Das ist selbstverständlich. Tatsachen muss man öffentlich erwähnen dürfen. ({1}) Es geht um die Frage: Welches Vertrauen könnte ein öffentlicher Dienst für sich beanspruchen, der auch für seine Spitzenpositionen die Türen für ehemalige MitArnold Vaatz arbeiter des Staatssicherheitsdienstes öffnen würde? Das ist eine Frage, die uns alle angeht. Da sollten wir sehr sorgfältig entscheiden. 1991 dachte man nicht daran, dass 30 bis 40 Prozent der Akten heute nicht erschlossen sein würden. Angesichts dieser Tatsache aber halten wir es für nötig, für weitere fünf Jahre für einen eingeschränkten Personenkreis die so genannte Regelüberprüfung zu gestatten. Ich halte das für einen wichtigen Durchbruch, der uns damit gelungen ist. Wir haben in der Gesetzesnovelle außerdem die Abhängigkeit von einem Anfangsverdacht gestrichen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Man kann das Ergebnis einer Überprüfung nicht zur Bedingung der Überprüfung machen. ({2}) Wir sind außerdem der Meinung gewesen, dass man das so genannte Vorhalteverbot nicht braucht. Dass man jemandem seine Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit im Rechtsverkehr nicht mehr vorhalten darf, bedarf keiner Regelung, und zwar aus folgendem Grund: Auch bei Verjährungstatbeständen - mir ist dabei völlig klar, dass der Verjährungstatbestand eine strafrechtliche Kategorie ist, die in diesem Zusammenhang eigentlich nicht erwähnt werden muss - ist der Umgang mit der verjährten Tat nach der Verjährung gesetzlich nicht geregelt. ({3}) Demzufolge ist es auch hier nicht notwendig. Mit diesem Gesetz geben wir ein deutliches Signal: Wir werden die Opfer der DDR nicht vergessen und es ist auch kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gezogen, wobei wir deutlich sagen müssen: Die Regelanfrage und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sind zwei völlig verschiedene Dinge. Die Aufarbeitung ist wesentlich mehr. ({4}) Was aber wäre unsere Aufarbeitung, wenn wir über diese wichtigen Fragen jetzt den Teppich des Vergessens legen würden? Das kann nicht sein. Es ist uns hiermit ein überparteilicher Kompromiss gelungen. Auch der Bundesrat wird diesem Gesetz zustimmen. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben. Zum Schluss sage ich: Dieses Gesetz ist auch eine gute Antwort auf die Dreistigkeit jener, die sich heute ihrer Stasitätigkeit rühmen ({5}) und ihre einstigen Opfer verhöhnen, verletzen und demütigen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDPFraktion. ({0})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Birthler hat es gestern im Kulturausschuss gesagt: Noch immer beantragen jedes Jahr Zehntausende Bürger Einsicht in ihre Stasiakten. Das Interesse an den Taten der Stasi und deren Bedeutung für die eigene Geschichte ist ungebrochen. Vor diesem Hintergrund ist die Novelle zum StasiUnterlagen-Gesetz zu betrachten. Die Akten geben Auskunft über die eigene Biografie, über den Umfang der Bespitzelung und den Einfluss der Stasi auf den eigenen Werdegang. Wer sich kritisch zum System äußerte, den Wehrdienst verweigern wollte oder ausreisewillig war, fand sich schnell in einem Gefängnis der Staatssicherheit wieder - ohne zu wissen, wo er war, und ohne Rechtsbeistand. Regelmäßig wussten die Angehörigen nichts über den Verbleib der Opfer der Stasi. In den Gefängnissen herrschten zielgerichtete Verunsicherung und Entwürdigung bis hin zur Folter durch Schlafentzug. Der Aufenthalt in Stasigefängnissen ließ die Opfer oft traumatisiert zurück. Dies sind Folgen, die die Opfer bis zum heutigen Tag belasten und die in vielen Fällen nicht verarbeitet werden konnten. Heute erleben wir, gerade auch hier in Berlin am Beispiel des Gefängnisses Hohenschönhausen, wie sich ehemalige Stasimitarbeiter organisieren und versuchen, öffentlichen Druck auszuüben, das Stasiunrecht zu beschönigen und bagatellisieren. Die Opfer haben den ersten Entwurf von Koalition und Bündnis 90/Die Grünen zu Recht als problematisches Signal wahrgenommen, was die weitere Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des erlittenen Unrechts angeht, ({0}) denn durch die dort vorgesehene Regelung wäre eine Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes völlig unpraktikabel geworden. Durch diese Regelung wäre es grundsätzlich nicht mehr möglich gewesen, Stasimitarbeitern ihre Tätigkeit für das MfS im Rechtsverkehr vorzuhalten. Im Ergebnis hätte dies bewirkt, dass ehemalige Stasimitarbeiter presserechtlich gegen Veröffentlichungen ihrer Namen hätten vorgehen können. Diese Überprüfung im öffentlichen Dienst wäre ohne Ergebnis geblieben, weil ein tatsächlicher Anhaltspunkt für eine Stasitätigkeit nicht belegbar gewesen wäre. Keine Frage: Die Diskussion um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des Ministeriums für Staatssicherheit ist auf allen Seiten durch Emotionalität geprägt. Wer jetzt über Resozialisierung der Täter, Verhältnismäßig6966 keit und neue Chancen spricht, sollte Folgendes beachten: Die ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit begreifen sich auch 17 Jahre nach der Wiedervereinigung überwiegend nicht als Täter. Viele glauben, dass sie sich gesetzeskonform verhalten und weder eine straftrechtliche noch eine moralische Schuld auf sich geladen haben. Aus den Stasiausschüssen der Kommunen wissen wir, dass sich kaum ein enttarnter IM für seine Tätigkeit bei den Opfern entschuldigt. Ich denke, es wäre ein ermutigendes und notwendiges Signal, wenn ehemalige Stasimitarbeiter den ersten Schritt auf die Opfer zugehen und sich öffentlich für das Unrecht entschuldigen würden, das sie verursacht und zu verantworten haben. ({1}) Meine Damen und Herren, über eines sind wir Liberalen froh: Mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz in dieser Form können wir die Aufarbeitung dieser Epoche deutscher Geschichte weiter fördern. Die erweiterten Forschungsmöglichkeiten für Historiker und Journalisten führen zur Aufklärung weiterer Zusammenhänge der deutschen Nachkriegsgeschichte in Ost und in West. Mit dem nun ausgehandelten Kompromiss haben wir weiterhin die Möglichkeit, dass herausgehobene Persönlichkeiten des öffentlichen Dienstes, Beamte mit Führungsverantwortung, Richter, Lehrer, Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte, aber auch die Mitarbeiter in den Ämtern für Rehabilitation auf ihre Stasiverstrickung verdachtsunabhängig überprüft werden können. Wir glauben, dass wir damit Schaden von dem Ansehen öffentlicher Ämter fernhalten und gerade auch die Interessen der Opfer des DDR-Unrechtsregimes berücksichtigt haben. ({2}) Die FDP-Fraktion wird daher dem Gesetzentwurf in der Ihnen heute vorliegenden Fassung zustimmen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir verhandeln heute ein Thema, das noch immer mit großen Emotionen verbunden ist und das beträchtliche, auch symbolische Bedeutung hat. Die Betroffenen reagieren heftig. Sie wehren sich gegen Beschönigung; sie unterstellen bei allen Versuchen, die wir unternommen haben, dass es sich um einen Schlussstrich handeln könnte. Die DDR-Vergangenheit ist im Guten wie im Bösen noch lange nicht erledigt. Warum brauchen wir eine Novellierung? Nach dem geltenden Stasi-Unterlagen-Gesetz läuft mit Ende dieses Jahres die Möglichkeit zur Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst, in öffentlichen Ämtern aus. Deshalb hatte der Gesetzgeber sich zu fragen, ob er das will oder ob er eine rechtsstaatlich angemessene Nachfolgeregelung will oder nicht. Es ging und geht um die Zukunft der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des SED-Unrechts, sofern dies den Zugang zur Stasihinterlassenschaft betrifft. Was wollte nun der Gesetzgeber 1991? Was war unsere Intention damals? Ich erinnere mich sehr genau daran, weil ich damals an den Debatten schon teilgenommen habe. Es ging erstens darum, dem Unrechtsregime der Stasi, der SED beizukommen, Aufklärung zu erreichen. Zweitens ging es darum, Personen, die Macht und Vertrauen missbraucht haben, nicht wieder in öffentliche Ämter zu lassen, damit sie nicht wieder Ämter, Macht und Vertrauen missbrauchen könnten. Es ging um Eignung genau in diesem sehr präzisen Sinn. Um dieser doppelten Aufgabe gerecht zu werden, haben wir damals entschieden, dass die Opfer Einsicht in die Akten haben sollten, und zwar nicht ohne Konsequenzen, sondern gegebenenfalls mit personellen Konsequenzen. Auch ging es um die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten. Um diesem Unrechtsregime beizukommen, musste man in gewisser Weise eine rechtsstaatliche Ausnahmesituation schaffen. Dessen waren wir uns bewusst. Weil wir uns dessen bewusst waren, haben wir gesagt: Wir müssen diese Regelung befristen. Die meisten haben damals sogar gemeint, 15 Jahre seien eigentlich eine zu lange Zeit, und waren der Hoffnung, es könne schneller gehen. Die Intention des Gesetzgebers, die ich beschrieben habe, ist, wie ich denke, zu einem guten Teil erfüllt. Die Zahlen und Statistiken der Stasiunterlagenbehörde sprechen eine deutliche Sprache: Etwa 6 Millionen Anträge auf Akteneinsicht wurden gestellt, es gab über 3 Millionen Ersuchen von Behörden, circa 1,7 Millionen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wurden überprüft. Das heißt, im Grunde wurden alle ostdeutschen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes mindestens einmal überprüft. Die Zahl der Anträge von Behörden auf Akteneinsicht ist im letzten Jahr rapide gesunken. Diese Aufgabe ist also im Wesentlichen erledigt. Der Verdacht qua ostdeutscher Herkunft ist endgültig überflüssig geworden. Eine Fortsetzung der allgemeinen Anfragepraxis hätte diskriminierende Züge. Wenn heute jemand im öffentlichen Dienst eingestellt wird - das möchte ich betonen -, dann kann man wissen, was diese Person in den letzten 17 Jahren im gemeinsamen Deutschland, in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie, getan hat. Das muss mindestens so viel zählen wie die Zeit davor, wenn nicht sogar mehr. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Wenn die Person 25, 30 oder 35 Jahre alt ist, dann darf ihr das damalige jugendliche Fehlverhalten ohnehin nicht mehr vorgeworfen werden, selbst nach dem geltenden Gesetz nicht. Ganz grundsätzlich möchte ich sagen: Wir sollten an der rechtsstaatlichen Grundüberzeugung, die übrigens auch eine christliche Grundüberzeugung ist, einem Menschen sein Fehlverhalten nicht ein Leben lang vorzuwerfen, festhalten. ({0}) Aus dieser Grundüberzeugung heraus haben wir den von Thüringen im Bundesrat eingebrachten Antrag, die so genannte Regelüberprüfung unbefristet zu verlängern, abgelehnt. ({1}) Deshalb war ich der Meinung, dass das Zulassen einer Überprüfungsanfrage aus Anlass eines Verdachts eine durchaus vernünftige und angemessene Regelung ist. In den meisten Fällen, die uns in den letzten Jahren aufgeregt haben, ist genau dies der Fall gewesen: Indem Opfer oder Wissenschaftler oder Journalisten Einsicht in die Akten genommen haben, ist ein Verdacht begründet worden, der dann zu einer Untersuchung geführt hat. Wir haben uns am Schluss nach mancherlei Kritik an dem allerersten Entwurf auf einen erheblich veränderten gemeinsamen Gesetzentwurf zur Novellierung des StasiUnterlagen-Gesetzes geeinigt. Dieser Gesetzentwurf bringt zwei wesentliche Änderungen: Erstens. Die allgemeine Anfrage, die so genannte Regelanfrage, wird eingestellt. Die Möglichkeit zur Akteneinsicht wird auf einen klar definierten Personenkreis eingeschränkt, nämlich auf Inhaber öffentlicher Positionen, denen die Bürger ein besonderes Vertrauen entgegenbringen: Regierungsmitglieder, Abgeordnete, politische Beamte, Leiter von Behörden, Richter, Soldaten höherer Dienstgrade, höhere Sportfunktionäre, Trainer, Betreuer. Bei diesem Personenkreis sollen die Bürger sicher sein, dass sie ihr Vertrauen verdienen, diese es also nicht schon einmal missbraucht haben. Das gilt eben auch und gerade für den Sport. Junge Sportler und ihre Eltern müssen darauf vertrauen können, dass Funktionäre, Trainer, Ärzte nichts mit dem scheußlichen Dopingsystem der DDR zu tun hatten. Da hat der Sport bisherige Versäumnisse nachzuarbeiten. ({2}) Die bisherige Regelung soll für diesen Personenkreis für fünf Jahre weiter gelten. Für alle die Personen, die sich unmittelbar mit Stasiunterlagen, mit Fragen der Aufarbeitung und der Rehabilitierung befassen, soll die Regelung nicht befristet werden; denn diese haben eine ganz besondere Vertrauensposition inne. ({3}) Zweitens. Wir erweitern mit diesem Gesetz den Zugang zu den Stasihinterlassenschaften für Wissenschaftler, Medienvertreter und Journalisten. Der Forschungszweck, für den Stasiunterlagen künftig herausgegeben werden können, ist nicht mehr nur die Stasitätigkeit im engeren Sinne, sondern auch die Erforschung der Herrschaftsmechanismen der DDR, also das politische System insgesamt. Zugleich sollen leichter als bisher auch Unterlagen mit personenbezogenen Informationen zugänglich werden. Hier geht es darum, eine Gleichstellung zwischen der behördeninternen und der behördenexternen Forschung zu erreichen. Da gab es bisher eine grobe Benachteiligung von Forschung außerhalb der Behörde. Beides dient unserem gemeinsamen Anliegen: der wissenschaftlichen, öffentlichen, politisch-moralischen Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Stasi und mit der DDR-Geschichte. Sie soll weitergehen. Dieses Novellierungsgesetz ist alles andere als ein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der SED- und DDR-Vergangenheit. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines halte ich für notwendig und vielleicht gelingt uns das mit diesem Novellierungsgesetz, nämlich die Fixierung auf die Stasi zu überwinden. Künftig muss es viel mehr als bisher um ein Gesamtbild des kommunistischen Regimes, der SEDHerrschaft gehen. ({5}) Immer wieder haben wir über eine Art negativer Fixierung auf Spitzelei und Verrat vergessen, wer die Auftraggeber des Staatssicherheitsdienstes waren. ({6}) Alltag, Widerstand, Zustimmung, Ablehnung, internationale Zusammenhänge - all das ist wichtig, um ein einigermaßen realistisches Bild dieser Vergangenheit zu bekommen und weiterzugeben. Wichtig ist auch, dass wir endlich ein Gesetz, eine anständige Regelung hinsichtlich der Pensionen für Opfer von DDR-Unrecht erreichen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass wir nach einer intensiven Debatte miteinander zu einem breiten Konsens gekommen sind. Denn das entspricht einer guten Tradition. 1990, 1991 und in den folgenden Jahren haben wir Regelungen zu den Stasihinterlassenschaften immer in einer großen demokratischen Gemeinschaft erreicht. Das ist und bleibt wichtig, bei allen Meinungsverschiedenheiten und Bewertungsunterschieden, die wir im Einzelnen haben mögen. Dies ist am Schluss, denke ich, ein vernünftiges Ergebnis, ein vernünftiger Kompromiss. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Vergangenheit unseres 40 Jahre in zwei Gesellschaftssysteme getrennten und nunmehr seit 16 Jahren vereinten Landes verlangt heute von uns Abgeordneten eine Auseinandersetzung über den Umgang mit der Geschichte der DDR und ihrer Aufarbeitung einerseits und eine humane Gewichtung der Rechtsprinzipien „Verjährung“ und „Verhältnismäßigkeit“ andererseits. Für die Fraktion Die Linke steht außer Frage: Die Aufarbeitung soll weitergehen. Opfer der Ausspähung durch das Ministerium für Staatssicherheit müssen auch in Zukunft ein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in ihre Akten haben; ({0}) ebenso muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garantiert sein, sogar erweitert und vertieft werden. ({1}) Die Nutzung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit ist auch dann möglich, wenn sie vom Bundesarchiv verwaltet und betreut werden. Die Zusammenführung der Akten würde viel größere Effekte für Forschung und Bildung ermöglichen. Außerdem wäre der Grundgedanke der Freiheit von Forschung und Wissenschaft in dieser Institution besser verwirklicht als in einer Behörde, die beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist. ({2}) Diesen Weg der Aufarbeitung schlagen wir vor, und zwar im Sinne einer rückhaltlosen Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, wie es in der Präambel des PDS-Programms von 2003 heißt. Dabei wird der unumkehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie und politischen Freiheitsrechten als das die PDS einigende Fundament beschrieben. ({3}) Kein Schlussstrich also unter die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, kein Stopp für den persönlichen Zugang der Betroffenen zu den Akten, kein Ende der Presse- und Forschungsarbeit. Aber Schluss mit dem vielfältigen Verdacht gegen Bürgerinnen und Bürger des Ostens. ({4}) 1991 hat der Bundestag die Dauer der Überprüfung von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst aus gutem Grund auf 15 Jahre begrenzt. Zum Rechtsstaat gehört der Rechtsgedanke der Verjährung im Strafrecht wie im Zivilrecht. Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eben eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung oder der schweren Freiheitsberaubung verjähren nach zehn Jahren. Bei schwerer Vergewaltigung ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren verjährt und darf bei einer Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht einmal geprüft und ermittelt werden. Auch dort gibt es immer Betroffene, die diese Verjährung nicht verstehen. Der Rechtsstaat hat sie dennoch beschlossen. Deshalb plädierten wohl auch 1991 Abgeordnete der FDP für eine zehnjährige Begrenzung der Gültigkeit des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, zumal es hier in der Regel um Moral und nicht um Straftaten geht. Ich zitiere - mit Erlaubnis der Präsidentin - Burkhard Hirsch aus der damaligen Bundestagsdebatte: Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer Rechtstradition widerspricht, einem Täter über einen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzuhalten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbarmungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sagen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuchtung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein individuelles Opfer Klage oder Anklage erhebt. Burkhard Hirsch, wohlgemerkt 1991, FDP. Jetzt sind 15 Jahre vergangen und Willkür herrscht; denn mal werden Verstrickte beschäftigt - zum Beispiel in der Birthler-Behörde, wie wir gestern erfahren haben und mal eben nicht. Vor allem aber geht es mit den Überprüfungen weiter und weiter, unter anderem von kommunalen Wahlbeamten, ehrenamtlichen Richtern, Angestellten des Deutschen Olympischen Sportbundes, Trainern, ({5}) Ärzten, Betreuern von Nationalmannschaften, ständigen Stellvertretern von Behördenleitern, Intendanten und so weiter und so fort. Es wird überprüft ohne Verdacht, und das mindestens noch fünf Jahre. So will es das neue Gesetz der Riesenkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. ({6}) Immer wieder werde ich gefragt: Was kann die Linksfraktion im Bundestag überhaupt ausrichten? ({7}) Heute sage ich selbstbewusst: wenigstens eine Stimme gegen die übermächtigen anderen setzen. Wenn es uns hier nicht gäbe, dann gäbe es keinerlei Widerspruch gegen dieses Gesetz, welches gegen die Prinzipien des Rechtsstaates Verjährung und Verhältnismäßigkeit verstößt. ({8}) Es gäbe keinen Entschließungsantrag, der Ja sagt zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, aber Nein zur weiteren Überprüfung unzähliger Personengruppen. 15 Jahre Überprüfungen sind genug. Die Verlängerung über das Jahr 2006 hinaus verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da jede Überprüfung einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Individuums darstellt und dieser Eingriff nach 15 Jahren für Verhaltensweisen, die noch viel länger zurückliegen können, nicht mehr zu rechtfertigen ist. ({9}) Vergessen Sie nicht, dass es sich hier nicht einmal um das Strafrecht handelt. ({10}) Ich bitte Sie, die Sie die Übermacht in diesem Hause haben, unseren Entschließungsantrag wenigstens zu bedenken. Dem Novellierungsgesetz werden wir nicht zustimmen. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Jochimsen, es geht nicht um einen Verdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger des Ostens. ({0}) Dafür sitzen hier viel zu viele, die selbst dort gelebt haben. ({1}) Es geht auch nicht einfach um die Frage, ob Zeit eine wichtige Rolle bei der Schuld spielt. Das ist richtig; deswegen haben wir unseren Ursprungsgesetzentwurf entsprechend formuliert. Es geht aber um die Frage, ob wir über das Eingeständnis von Schuld und eine tatsächliche Aufarbeitung reden können. Dazu gehört - Herr Waitz hat es vorhin gesagt - die Entschuldigung. Darüber muss diskutiert werden. ({2}) Worum geht es? Es geht um Biografien, die zerstört worden sind, um Leben, die infrage gestellt worden sind. Es geht um die Zersetzung von Menschen. Worum geht es? Es geht darum, dass es heute Leute gibt, die davon reden, dass es nun genug ist mit der Aufarbeitung. Es geht um ehemalige Stasioffiziere, die sich nicht mehr nur treffen, sondern sich auch ganz öffentlich zu dem bekennen, was sie gemacht haben nach dem Motto: „Das war doch eigentlich gar nicht so schlimm“, und Geschichtsklitterung betreiben. ({3}) Wenn wir über die Aufarbeitung unserer DDRGeschichte reden, dann dürfen wir sie einerseits nicht denjenigen überlassen, die sich an alte Puddingmarken oder „Professor Flimmrich“ erinnern. Wir dürfen sie aber noch viel weniger denjenigen überlassen, die sagen: „Es war ja gar nicht alles schlecht“, wie das übrigens neulich Herr Bisky in einer Debatte gemacht hat, in der er über das DDR-Schulsystem geredet hat, ohne klar zu machen, wie viele Kinder aus diesem Schulsystem entfernt worden sind und wie viele Kinder keine Chance hatten. ({4}) Es geht noch viel weniger darum, sie denjenigen zu überlassen, die sagen: „Es gibt nur ein paar überspannte Opfer; eigentlich war alles nicht so schlimm“, den Stasioffizieren, die alles andere tun, als sich zu entschuldigen. Es geht darum, das Herrschaftssystem aufzuarbeiten, die Mechanismen der Diktatur aufzuzeigen. Es geht übrigens auch darum, darüber zu diskutieren und sich darüber auseinander zu setzen. Dafür ist nach 15 Jahren hohe Zeit. Es ist an der Zeit, dass Schülerinnen und Schüler ihre Lehrerinnen und Lehrer fragen, Zeit, dass Kinder ihre Eltern fragen: Was hast du eigentlich gemacht? Wie konnte es sein, dass sich so viele auf Unfreiheit und auf ein autoritäres Regime eingelassen haben? Wie konnte es sein, dass Eltern ihren Kindern gesagt haben - so wie das meine Eltern gemacht haben -: „Das, was wir zu Hause besprechen, wie wir reden und worüber wir reden, darfst du in der Schule und draußen auf der Straße unter gar keinen Umständen sagen“? ({5}) Um diese Diskussion geht es, wenn wir über die Aufarbeitung der Herrschaftsmechanismen sprechen. Die entscheidende Neuerung in dem vorliegenden Gesetzentwurf ist der Zugang für Forschung und Wissenschaft. Ich hoffe sehr, dass mit diesem Zugang eine solche Debatte ausgelöst wird. Dazu gehört übrigens auch die Frage, ob man aus der Vergangenheit gelernt hat. Ich finde, wir sollten den Menschen ganz offen, ganz sachlich und mit großer Empathie zugestehen, dass sie aus ihrer eigenen Biografie, aus ihrer Vergangenheit, aus den Fehlern, die sie gemacht haben, und auch aus dem, was das System mit ihnen als Person gemacht hat, gelernt haben. Ich glaube, wenn man über Schuld redet, dann geht es gleichzeitig um Vergebung. Auch das ist aus meiner Sicht in dieser Debatte ganz wichtig. ({6}) Wenn wir heute über die Regelüberprüfung für bestimmte Personen reden, dann geht es nicht um das Einschränken von Persönlichkeitsrechten und um einen Generalverdacht. Dann geht es darum, dass jemand, der in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Amt innehat und dem Vertrauen entgegengebracht werden soll und muss, ganz sicher sagen kann: Ich bin überprüft und ich sage dir: Ich war nicht bei der Staatssicherheit. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie mit Verletzung von Persönlichkeitsrechten meinen, Frau Jochimsen. ({7}) Es geht um die Personen, auf die es im öffentlichen Leben ankommt. Wenn wir von Behördenleitern reden, dann reden wir zum Beispiel über Schulleiterinnen und Schulleiter und auch über deren Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Nicht die jungen Lehrerinnen und Lehrer, die in den öffentlichen Dienst übernommen werden, müssen überprüft werden; aber diejenigen, die möglicherweise aufsteigen, sollen schon überprüft werden. Ich glaube, es ist richtig, dass wir in unserem Land keine Schulen haben, die von Menschen geleitet werden, die irgendwann einmal für die Staatssicherheit gearbeitet haben. ({8}) Dazu gehört auch der Bereich des Sports. Ich bin froh, dass wir diesen Bereich in das Gesetz aufgenommen haben. Ich bin auch froh, dass es eine gute Zusammenarbeit mit denjenigen gab, die im Sport Verantwortung übernehmen. ({9}) Es geht um die Mitglieder des Präsidiums, des Vorstands, leitende Angestellte des Deutschen Olympischen Sportbundes, es geht um seine Spitzenverbände, um die Olympiastützpunkte, es geht um die Repräsentanten - auch das ist ganz wichtig - und es geht auch um die Trainer und die verantwortlichen Betreuer. Diese Aufzählung zeigt: Hier muss mit der entsprechenden Überprüfung wirklich Ernst gemacht werden. ({10}) Bei der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte geht es um Opfer und um Einzelfälle. Das muss bleiben. Aber wir müssen auch darüber reden, was das System war. Was sind das übrigens für Leute, die bei der Beerdigung von Markus Wolf zumindest den Eindruck erweckt haben, dass sie sich nicht nur zurücksehnen, sondern dass sie auch nichts gelernt haben und zumindest nur sehr wenig bereuen? ({11}) Ich bin sehr froh, dass meine Kollegin Petra Pau nicht auf dieser Beerdigung gewesen ist. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Landesminister für Soziales, Familie und Gesundheit aus Thüringen, Dr. Klaus Zeh. ({0}) Dr. Klaus Zeh, Minister ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme hier heute als Beauftragter des Bundesrates zur Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Stellung und stehe gleichzeitig auch für die Thüringer Landesregierung, die diese Novelle im Bundesrat eingebracht hat. Vorab möchte ich sagen, dass wir dem gefundenen Kompromiss zustimmen, ({2}) auch wenn wir uns zugegebenermaßen weitergehende Regelungen gewünscht hätten. ({3}) Zum Beispiel scheint uns die Begrenzung auf fünf Jahre eng zu sein; die Einschränkung des Personenkreises ist uns dabei etwas zu stark. Dennoch werde ich im Bundesrat für eine Mehrheit zu dem Kompromiss werben, obwohl der Bundesrat mehrheitlich für eine unbegrenzte Fortsetzung der jetzigen Regelung zur Überprüfung auf Stasimitarbeit votiert hat. Ich denke, der Bundesrat wird dieser Empfehlung folgen; denn wenn kein Kompromiss zustande kommt, würde das das Ende der Aufarbeitung bedeuten. Das wäre als Signal nach außen verheerend. Es gibt zwei wichtige Botschaften, die heute vom Bundestag ausgehen müssen. Erstens. Es gibt keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. ({4}) Zweitens. Wir vergessen nicht die Opfer des SED-Unrechtsstaates. Zu Punkt eins. Mit dem gefundenen Kompromiss ist erreicht, dass kein Schlussstrich gezogen wird. Dazu tragen die gesetzlich fixierten besseren Möglichkeiten für Journalisten und Wissenschaftler im Umgang mit den Stasiunterlagen bei. Dazu wird aber auch das nunmehr endgültige Streichen des Vorbehalts- und Verwertungsverbotes beitragen; denn wenn man, wie ursprünglich vorgesehen, im Einzelfall nicht mehr über konkrete VerMinister Dr. Klaus Zeh ({5}) strickungen reden darf, dann streiten wir uns am Ende nur in Gerichten über Formulierungen und Ähnliches, nicht mehr über Sachverhalte. Wir haben das in der Vergangenheit oft genug erlebt. Auch der Wegfall der in der Gesetzesnovelle geplanten Regelung, nur noch bei konkretem Verdacht eine Überprüfung zu erlauben, ist für uns entscheidend; denn wenn das, was erst im Ergebnis der Prüfung zweifelsfrei feststehen kann, Voraussetzung für die Prüfung gewesen wäre, dann wäre das Ende jeglicher Überprüfung eingeleitet gewesen. ({6}) Mit dem Wegfall der Verdachtsabhängigkeit ist eine Überprüfung in der Form, wie wir sie mit der Regelüberprüfung - so wurde sie bezeichnet - hatten, überhaupt erst wieder möglich. Frau Jochimsen, ich kann nicht nachvollziehen, weshalb die so genannte Regelanfrage einen Generalverdacht ehemaliger DDR-Bürger darstellen soll. In Thüringen haben wir in 15 Jahren Praxis gegenteilige Erfahrungen gesammelt. Wir haben in Thüringen alle Mitarbeiter - egal ob aus Ost oder West - überprüft. Wir haben nicht qua Herkunft überprüft. Im Rahmen der Rosenholz-Datei ist das erst vor kurzem wieder geschehen. ({7}) Die Regelanfrage hat es überhaupt erst ermöglicht, einen Verdacht - gleich ob Generalverdacht oder konkreter Verdacht - auszuräumen. Ich will gerade nicht, dass jemand verdächtigt wird, ohne dass man das überprüfen könnte. Der Denunzierung wäre aus unserer Sicht Tür und Tor geöffnet. ({8}) Die Regelanfrage ist eben keine Verurteilung, sondern nur der Schlüssel zu den Akten, die eine Auskunft ermöglichen. Die Anfrage ist noch keine Verurteilung. Ich gebe dem Kollegen Vaatz ausdrücklich Recht, der gesagt hat, es gehe hier nicht um Bestrafung, sondern um eine Bewertung der Eignung für einen bestimmten Dienstposten. ({9}) Ich will das an Beispielen verdeutlichen: Mitarbeiter, die zu DDR-Zeiten enteignet haben, sind als Mitarbeiter ungeeignet, wenn es jetzt um die Klärung von Vermögensansprüchen, zum Beispiel von SED-Opfern, geht. Wenn sich Opfer und Täter gegenübersitzen - das ist vorgekommen; alles, was vorkommen kann, passiert auch -, dann ist das unerträglich. Ich halte ehemalige Stasimitarbeiter auch für die Bewachung der Stasiakten in der Birthler-Behörde nicht gerade für geeignet. ({10}) Deshalb hatten wir eine Ausweitung der Personenkreise, die überprüft werden sollten, gewünscht. Frau Jochimsen, wenn die PDS hier verkündet, dass sie für die weitere Aufarbeitung steht, dann sollte sie dem Kompromiss aus meiner Sicht zustimmen. Bei solchen Beteuerungen aus Richtung PDS fällt mir immer ein Transparent von 1989, aus der Zeit der friedlichen Revolution, ein: Vergesst die sieben Geißlein nicht, wenn Herr Gysi zu euch spricht. ({11}) Ich zitiere das nur, Sie können selbst Schlussfolgerungen daraus ziehen. Was die Schlussstrichdebatte angeht, möchte ich ein Opfer aus Südthüringen, Herrn Manfred May, zitieren. Er sagte richtigerweise: Nur die Opfer haben das Recht zu sagen: Schluss. Sie sagen es aber nicht. Es gibt einen wichtigen Grund dafür: Für die quälenden Erinnerungen der Opfer an Verhöre, Einschüchterungen und Zersetzungen gibt es keinen Schlussstrich. ({12}) Ich bin außerordentlich dankbar dafür - das sage ich abschließend dazu -, dass Herr Thierse auf die Opfer hingewiesen hat. Der Bundesrat hat eine Gesetzesnovelle zur Verlängerung der Rehabilitierungsfristen um drei Jahre auf den Weg gebracht. Auch hierfür werbe ich um Ihre Zustimmung. Wir müssen uns ferner für die finanzielle Unterstützung der Opfer entscheiden. Leider ist Geld aber nicht alles. Abschließend zitiere ich noch einmal ein Opfer, Herrn May: Aber ebenso wichtig ist etwas, das mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Was fehlt, ist eine Würdigung, eine öffentliche Wahrnehmung der Schicksale, ein Respekt in der Gesellschaft. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Uwe Barth, FDP-Fraktion. ({0})

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist aus gutem Grund der erste Satz in unserem Grundgesetz. Die exponierte Stellung dieses Bekenntnisses zur Menschenwürde zeigt, dass es der zentrale Punkt des Konsenses ist, auf dem unsere demokratische, offene und freiheitliche Gesellschaft beruht. Das Bekenntnis zur Menschenwürde ist somit sinnstiftend für unsere Gesellschaft. Die Würde des Menschen spielte auch für die Stasi eine wichtige Rolle. Menschen in ihrer Würde zu verletzen und sie ihnen zu rauben, war fester Bestandteil des als tschekistischer Kampf verklärten Vorgehens der Staatssicherheit. ({0}) Die Methoden dazu waren manchmal brutal, manchmal subtil, aber fast immer darauf gerichtet, Menschen zu verfolgen, einzuschüchtern, zu manipulieren und zu brechen. Die Stasi war mit diesem Vorgehen im Laufe der Zeit nicht nur der wesentliche machterhaltende Faktor für die SED geworden - deswegen ist der Ansatz von Herrn Kollegen Thierse, das System insgesamt zu betrachten, sehr richtig und wichtig -, die Stasi war für viele Bürgerinnen und Bürger der DDR vor allem Schreckens- und Feindbild zugleich. Sie war es, wovor die Demonstranten im Herbst 1989 Angst hatten. Trotzdem gingen sie auf die Straße. Die Stasi war es, die Oppositionelle und Bürgerrechtler verfolgte, verhaftete, entwürdigte und auch folterte, und eben nicht nur ausspähte, wie es in dem Antrag der Linken verantwortungslos verharmlosend dargestellt wird. ({1}) Der Sieg der friedlichen Revolution über das kommunistische System in der DDR war somit ganz wesentlich ein Sieg über das System Staatssicherheit. Dieser Sieg ermöglicht uns heute überhaupt erst die Aufarbeitung und die Debatte darüber. Das im ersten Entwurf des Gesetzes vorgesehene Ende der Regelanfrage und das dort vorgesehene Vorhalte- und Verwerteverbot einer Stasitätigkeit wären in der Tat fatale Schlussstrichsignale gewesen. Überprüfungen vom Vorliegen konkreter Verdachtsmomente abhängig zu machen hätte bedeutet, das Ergebnis zu einer Voraussetzung für eine Überprüfung zu machen. Aus diesen Gründen war und ist es für mich ganz unverständlich, dass sich gerade von den Fraktionen der SPD und der CDU/CSU, insbesondere vonseiten der Abgeordneten aus den neuen Ländern und hier besonders der ehemaligen Bürgerrechtler unter ihnen, so wenig Widerstand gegen den ersten Entwurf geregt hat, sie gar Zustimmung signalisierten. ({2}) Dass sich die Grünen indes diesem Antrag angeschlossen haben, zeigt mir, wie dramatisch weit sie sich von ihren Wurzeln im Osten entfernt haben. Für uns, die FDP, sind in dieser Debatte zwei Punkte von zentraler Bedeutung. Zum einen halten wir die weitere Aufarbeitung des Unrechts der zweiten Diktatur, die im 20. Jahrhundert auf deutschem Boden geherrscht hat, nach wie vor für genauso unverzichtbar wie die Aufarbeitung der ersten Diktatur. ({3}) Ein immanenter Bestandteil dieser Aufarbeitung ist nach unserer festen Überzeugung die Suche nach Tätern und Opfern. Das hat in aller Regel keine strafrechtliche Relevanz. Deswegen ist die Debatte über Verjährungsfristen hier fehl am Platze. ({4}) Es hat Relevanz für die Betroffenen und für den Staat, der berechtigterweise eine bestimmte Kategorie von Tätern nicht in einer bestimmten Kategorie verantwortlicher Positionen innerhalb des demokratischen Gemeinwesens dulden will und kann. ({5}) Der zweite wichtige Punkt ist für uns der Konsens aller Demokraten in dieser Frage. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch wenn uns das Gesetz in einigen Punkten nicht weit genug geht. Herr Minister Zeh, auch mir hat der Thüringer Entwurf besser gefallen. Insbesondere aber darf die Verlängerung um fünf Jahre aus unserer Sicht nicht dahin gehend missverstanden werden, dass die Aufarbeitung und die verdachtsunabhängigen Überprüfungen dann quasi automatisch enden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In kaum einer Entscheidung dieses Hohen Hauses wird die Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Vaterlandes so deutlich wie hier - oder ihre Ablehnung. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPDFraktion. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Birthler, die ich gerade auf der Tribüne sehe! ({0}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit Blick auf Sie, Kollegin Jochimsen - ich will Ihnen nichts unterstellen -, möchte ich sagen: Man könnte in einer solchen Debatte ehrlicher sein. Sie haben gesagt, dass Sie keine Schlussstrichdebatte führen wollen - auf die Schlussstrichdebatte komme ich gleich noch einmal zu sprechen -, und vorgeschlagen, die Regeln des Bundesarchivgesetzes anzuwenden, bei dem im Hinblick auf Verstorbene und andere Gruppen Schutzfristen von 30 Jahren gelten. Es wäre ehrlicher gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass Sie die Aufarbeitung der Vergangenheit einstellen wollen; ein Blick in das Gesetz würde in diesem Fall die Rechtsfindung erleichtern. Das fand ich nicht in Ordnung. Insofern verfolgen Sie mit Ihrem Antrag tatsächlich das Ziel, einen Schlussstrich zu ziehen. Das wollen wir nicht tun. ({1}) Ich freue mich in der Tat, dass wir es doch noch geschafft haben, im Deutschen Bundestag zu einem breiten parlamentarischen Konsens in dieser Frage zu kommen. Ich freue mich auch, dass ich als jemand, der bekanntermaßen aus dem Westen der Republik stammt, die Gelegenheit habe, zu diesem Thema zu sprechen. Ich glaube, das ist ein Signal, dass es sich nicht um ein ostspezifisches Thema handelt, sondern dass die Aufarbeitung der Geschichte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, der wir uns alle zu stellen haben. ({2}) Uns geht es in unserem Gesetzentwurf darum, sicherzustellen, dass die wissenschaftliche, mediale und gesellschaftliche Aufarbeitung der Herrschaftsmechanismen dieser kommunistischen Diktatur, die unbestritten auch in Zukunft notwendig ist, weiterhin erfolgt. Sie, Kollege Börnsen, haben in Ihrer heutigen Pressemitteilung die verdienstvolle Bundesratsinitiative des Landes Thüringen, durch die jegliche Schlussstrichmentalität unterbunden worden sei, gewürdigt. Ich bin froh, dass diese Aussage heute nicht wiederholt worden ist. Dennoch sage ich als jemand, der unter den Gesichtspunkten der geisteswissenschaftlichen und der historischen Forschung sehr intensiv an diesem Gesetzentwurf mitgewirkt hat - das war meine wesentliche Rolle -, in aller Deutlichkeit, dass der Vorwurf im Zusammenhang mit der Schlussstrichdebatte uns gegenüber ungerechtfertigt und letztlich verletzend ist. ({3}) Ich weise diesen Vorwurf, auch wenn er heute nicht wiederholt worden ist, zurück. ({4}) Worum ging es uns? Es ging darum, ein Gesetz zu verhindern, das dazu geführt hätte - das war der Wille des damaligen Gesetzgebers -, dass ein Schlussstrich gezogen worden wäre. Wir haben gesagt: Es gibt noch viel zu tun. Die entsprechenden Anfragen sind bereits angesprochen worden. Dann haben wir uns überlegt: Wo könnten Probleme bestehen? Die Anfragen, die zurückgegangen sind, sind festgestellt worden. Wir haben uns ganz eindeutig dazu bekannt: Unser Ziel ist, die wissenschaftliche, zeitgeschichtliche und mediale Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen weiterhin zu ermöglichen und für Forschung und Medien freien Zugang zu gewährleisten. All diejenigen, die auf polemische Art und Weise eine Schlussstrichdebatte geführt haben, bitte ich, das Ergebnis, zu dem sie gekommen sind, zu revidieren. Die Regelanfrage, die Sie, lieber Herr Minister, angesprochen haben, hat nicht zu den Erkenntnissen geführt, die Sie nannten. Die Erkenntnisse der letzten Zeit sind vielmehr das Ergebnis der Akteneinsicht durch Betroffene und durch die Wissenschaft und das Resultat der Medienarbeit, die dazu beigetragen hat, dass Täter identifiziert werden konnten. ({5}) Aus diesem Grunde war es richtig, auch über die Regelanfrage zu diskutieren. Das war ursprünglich auch Ihr Wille. Ich weise an dieser Stelle nur darauf hin, dass sich Burkhard Hirsch für eine Verjährungsfrist von zehn Jahren ausgesprochen hat. ({6}) - Ja. Aber wenn man über Gemeinsamkeiten redet, dann sollte man diese Debatte auch dazu nutzen, ({7}) deutlich zu machen, dass ein Teil der Unterstellungen, die man denjenigen gegenüber geäußert hat, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, schlichtweg falsch ist, lieber Kollege Barth und lieber Kollege Waitz. Deswegen weise ich diese Unterstellungen zurück. Jetzt komme ich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen. Was erreichen wir durch diesen Gesetzentwurf? Eine wichtige Änderung haben wir in § 32 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgenommen. Unter bestimmten Voraussetzungen können wir nun im Interesse der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen die Einsicht in unanonymisierte Originalunterlagen ermöglichen. Selbstverständlich haben die Persönlichkeitsrechte Bestand; das ist völlig klar. Sie standen für uns sogar im Mittelpunkt. Aus diesem Grunde haben wir an einigen Stellen Sicherungsvorkehrungen eingebaut und Abwägungen vorgenommen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, was in Hohenschönhausen geschehen ist. Auch wenn dieses Ereignis nichts mit dem Gegenstand der heutigen Debatte und nichts mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu tun hat, ist es richtig, dass wir über diese kommunistische Diktatur reden müssen. Dabei sollten wir ehrlich sein. Das gilt auch für die Diskussion über frühere Mitarbeiter, die momentan geführt wird. Kollege Vaatz, als ehemaliger Minister des Landes Sachsen wissen Sie besser als beispielsweise ich, wie die Situation damals war. Auch Sie haben damals gesagt, es gibt gar keine andere Möglichkeit, als auch Menschen, die einschlägig tätig waren, zu übernehmen; wir hatten hier ja in der Tat einiges an Problemen. Hier wird jetzt sehr aufgeregt diskutiert und die Bundesbeauftragte, Frau Birthler, ist öffentlich angegriffen worden. Deshalb will ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit festhalten: Die heutige Bundesbeauftragte ist nicht die richtige Ansprechpartnerin für personalpolitische Entscheidungen der 90er-Jahre. Was haben wir in diesem Gesetzentwurf sonst noch vorgesehen? Wir gewährleisten den Zugang für Wissenschaft und Forschung, insbesondere für die zeitgeschichtliche Forschung. Wir haben bei der Tiefe des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte die notwendige Trennung vorgenommen und ganz klare wissenschaftsspezifische Sonderregelungen getroffen. Die Bundesbeauftragte hat im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit von Belangen nicht immer einfache Abwägungen zu treffen. So dürfen Unterlagen nur dann zur Verfügung gestellt werden, wenn ganz klar ein öffentliches Interesse an der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes besteht und dem auch Rechnung getragen wird. Die Einsicht in Originalunterlagen wird nur dann möglich sein, wenn dies für die Durchführung des Forschungsvorhabens erforderlich ist. Weiterhin haben ausschließlich Mitarbeiter der Behörde Zugang zu den Akten. Das eine oder andere Verwaltungsgericht hat in der Vergangenheit nicht in genügender Form zur Kenntnis genommen - diesen Grundsatz hat der historische Gesetzgeber schon damals bei der Verabschiedung des Gesetzes in der Volkskammer und im Bundestag verfolgt -, dass zwischen dem Zugang für Wissenschaft und Forschung und dem Zugang für Medien nicht unterschieden wird. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt und soll grundsätzlich so bleiben. Eine Ausnahme davon, die mit dieser Novellierung vorgesehen ist, habe ich angesprochen. Nochmals: Es war und ist das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die wissenschaftliche, zeitgeschichtliche und mediale Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen dieses Unrechtsstaates möglich zu machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der PDS, mit Ihrem Versuch, das mit dem Hinweis auf das Archivgesetz zu verhindern, haben Sie sich ein Stück weit entlarvt. Ich bin froh, dass wir einen Kompromiss gefunden haben, und hoffe, dass die Debatte über die Novellierung des Gesetzes, die leider polemisch geworden ist, ein Ende findet und wir mit dem heutigen Tag eine klare Gesetzgebung haben, die dem Anliegen der Betroffenen, aber auch dem Anliegen der Aufarbeitung gerecht wird. Recht herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Vaatz.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Tauss, Sie haben auf die Kündigungspraxis im öffentlichen Dienst im damaligen sächsischen Umweltministerium hingewiesen. ({0}) Ich möchte dazu Folgendes ergänzen: Was Sie gesagt haben, trifft in der Tat auf viele Mitarbeiter aus dem so genannten Staatsapparat der DDR zu. Zu meiner Zeit als Minister war es so, dass wir, wenn sich Anhaltspunkte ergeben haben, dass jemand mit für die Staatssicherheit gearbeitet hatte, eine Einzelfallprüfung durchgeführt und die Schwere der Verstrickung abgewogen haben. Wenn sich herausstellte, dass eine Fortführung der Beschäftigung des bzw. der Betreffenden unzumutbar war, haben wir in der Regel erfolgreich kündigen können. Das heißt, es ist sehr wohl möglich, dass sich der öffentliche Dienst von Personen, die aufgrund ihrer Mitarbeit bei der Staatssicherheit belastet sind, trennt, wenn dies als erforderlich empfunden wird. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Vaatz, ich wollte Ihnen keineswegs etwas unterstellen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man damals - da ist man als Wessi eher ein Außenstehender mit Problemen zu tun hatte. Es gab damals einen Untersuchungsausschuss im Lande Sachsen. Ich finde es sehr ehrlich, dass Sie damals gesagt haben, dass bei der Entfernung von Stasimitarbeitern aus der öffentlichen Verwaltung gewisse Grenzen gesetzt gewesen seien. Das war der Sachverhalt. Wir sollten die Grenzen, die wir damals festgestellt haben, heute, im Jahre 2006, nicht zum Gegenstand aufgeregter Debatten machen. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns nicht uneinig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Börnsen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! ({0}) Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Nein, nicht zum letzten Gefecht wird heute geblasen. Mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit verabschiedet der Deutsche Bundestag heute mit dem neu gefassten StasiUnterlagen-Gesetz kein kaltes Schlussstrichgesetz. Die Aufarbeitung der roten DDR-Diktatur wird fortgesetzt, dessen Herrschaftsmechanismen werden demaskiert und Honecker und Co. wird ebenso ein später Sieg verwehrt wie den PDS-Altkadern. Diese Botschaft wird den Altbarden Wolf Biermann besonders erfreuen. Er ist ein couragierter, großartiger Künstler und war gestern Gast des Deutschen Bundestages. Er erzählte, dass ihn ein Stasispitzel, eine schöne Schauspielerin, ins Bett locken sollte. ({1}) Doch die Aktion der Geheimpolizei erwies sich als Fehlschlag. Die Schöne verliebte sich in den Liedermacher. Die Informationsausbeute blieb daher mager, doch die Biermann-Stasi-Balladen-Akte wurde trotzdem aufgebläht. Mit dem, was amüsant klingt, verfolgte man jedoch ein menschenverachtendes Ziel. Die Koalition handelt konsequent. Für uns als Christdemokraten gilt: Abgelegt, abgehakt, vergessen gibt es nicht. ({2}) Wolfgang Börnsen ({3}) Die Regelanfrage für die Repräsentanten unseres Staates und unserer Gesellschaft bleibt bestehen. Bis hin zum stellvertretenden Behörden- und Schulleiter gilt das, was war. Das umfasst auch den Sport. Für eine Überprüfung ist kein Anfangsverdacht notwendig. Arbeits- und dienstrechtliche Folgen bei einer nachgewiesenen Spitzeltätigkeit für den Staatssicherheitsdienst werden durch kein Vorhalteverbot mehr verhindert. Die Opfer und nicht die Täter bleiben im Blickpunkt des Gesetzgebers. ({4}) Das ist ganz im Sinne von Wolf Biermann, der in seiner Stasi-Ballade beklagt: … ich sitz hier fest, darf nach Ost nicht, nicht nach West, darf nicht singen, darf nicht schrein, darf nicht, was ich bin, auch sein … Die Befristung auf fünf Jahre ist verfassungsrechtlich und aus Gründen des Datenschutzes geboten. Sie gilt nicht für Bedienstete der Behörde und nicht für Beschäftigte im Rahmen der Rehabilitation. Durch das neue Gesetz wird notwendigerweise gleichzeitig für eine größere Transparenz der Behörde gesorgt. Der Beirat erhält mehr Befugnisse. Er kann sich direkt an den Deutschen Bundestag wenden. Die Forschungsmöglichkeiten für externe Wissenschaftler werden erweitert. Der Personenschutz wird wie bisher gewährleistet. Der Kernbereich menschlicher Lebensführung wird nicht angetastet. Wir sollten nicht vergessen: Auch Stasispitzel haben skrupellos manipuliert und in den Akten gelogen, dass sich die Balken bogen. Die politisch-historische Aufarbeitung des Unrechtregimes wird ausgedehnt; denn Forschung kennt keine Verjährung. ({5}) Der Pressezugang wird nicht geändert; er bleibt frei. Die Drahtzieher der DDR-Diktatur und nicht der kleine Stasispitzel gehören ins Zentrum der Untersuchungen: die, die für den Mauerbau, den Bruch der Menschenrechte, die Todesschüsse und das unheilvolle Wirken der Geheimpolizei verantwortlich waren. ({6}) Auch ich komme noch einmal auf Markus Wolf zurück. Eine Heldenverehrung, wie sie der verstorbene Markus Wolf, Boss der Geheimpolizei, in diesen Tagen unter anderem durch den russischen Botschafter erfahren hat, ist völlig fehl am Platz. ({7}) Auftraggeber für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören ohne Wenn und Aber kaltgestellt. Fast 5 Millionen Anfragen hat die Behörde seit ihrem Bestehen bearbeitet. Es gelang, Tausende von Zuträgern des DDR-Repressionsapparates von öffentlichen Funktionen fern zu halten. Diese gründliche Aufklärung ist insofern eine Erfolgsgeschichte - trotz der Ungereimtheiten in der Behörde wegen der Anstellung von über 50 ehemals hauptamtlichen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes. Hier müssen die Fakten auf den Tisch. Doch die jüngst zur Nutzung freigegebene Rosenholzdatei macht deutlich, dass es immer noch brisante Fälle gibt. Unser Aufklärungswille darf nicht erlahmen. Das gilt auch für die 16 000 noch nicht ausgewerteten Schnipselsäcke mit über 45 Millionen Blatt. Sie enthalten nach Auffassung von Fachkennern tief greifende Informationen über das böse Spiel der Staatssicherheitsdienste in Ost und West. Dem müssen wir weiter nachgehen. ({8}) Im ersten Halbjahr 2006 gingen 48 000 Anträge auf Akteneinsicht bei der Behörde ein. Das sind 19 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Nicht zuletzt der eindrucksvolle Film „Das Leben der Anderen“ hat eine neue Nachfragewelle bewirkt. Die Geheimpolizei der SED umfasste 91 000 hauptamtliche und über 100 000 inoffizielle Mitarbeiter. Das jetzt siebte Stasi-Unterlagen-Gesetz differenziert bei den Beschuldigten. Es nimmt nach 15 Jahren Rücksicht auf die kleinen Täter und baut einem Generalverdacht gegen DDR-Bürger vor. Damit dient es auch dem Rechtsfrieden in unserem Land. Die moralische Verantwortung für uns alle - gleich aus welcher Region wir kommen bleibt, die Opfer nicht zu vergessen. Die Diktatur gilt es zu demaskieren und unsere Demokratie zu stärken. ({9}) Dazu gehört auch, dass wir das Thema der Opferpension endlich zu einem guten Ende und Ergebnis führen. Wolf Biermann - damit will ich schließen - hat über die Hoffnung des Kommunismus auf eine Gesellschaft, in der alle Menschen Brüder sind, gesagt: Ich bin der Meinung, dass niemand gefährlicher war in der Geschichte der Menschheit als die, die das Paradies auf Erden erzwingen wollten. Die haben uns in Höllen geführt, die schlimmer sind als alles, was wir bisher kannten. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, Drucksache 16/2969. Zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner dieser Abstimmung liegen mir zwei schriftliche Erklä- rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kolle- gen Koppelin und Parr vor.1) Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3638, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({0}) Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3666. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses abgelehnt. Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3653 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Sportausschuss, den Rechtsausschuss sowie an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Joachim Günther ({1}), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Liberalisierung des Sportwettenmarkts in Deutschland einleiten und europakonformes Konzessionsmodell vorlegen - Drucksache 16/3506 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit 1) Anlagen 2 und 3 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion. ({3})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Glücksspiel kann süchtig machen, richtig. Wir müssen sicherlich ein Augenmerk auf die Suchtprävention und die Bekämpfung von Spielsucht richten, wenn wir über eine Neuordnung des Glücksspiel- und Sportwettenmarktes sprechen. Das gilt für staatliche und private Anbieter gleichermaßen. Das gilt auch für die FDP. Ich möchte mich als sucht- und drogenpolitischer Sprecher meiner Fraktion zu dieser Zielrichtung eindeutig bekennen und mich insbesondere für den Schutz unserer Jugend aussprechen. Aber ({0}) geht es bei der Frage nach der Aufrechterhaltung oder eher nach der Errichtung eines staatlichen Monopols anstelle einer Öffnung des Sportwettenmarktes für private Unternehmen wirklich in der Hauptsache um Spielsucht? Ein Blick in unsere Geschichte belehrt uns eines Besseren. Wetten gehören seit Jahrhunderten zum Alltag unseres Zusammenlebens. Seit Jahrhunderten hat der Staat nichts anderes im Sinn, als über Wettangebote das Staatssäckel zu füllen, ({1}) genauso wie unsere Bundesländer seit Jahren einen großen Teil der Erträge einstreichen, um staatliche Aufgaben zu finanzieren. Seien wir ehrlich: Bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat das Thema Eindämmung der Spielsucht so gut wie keine Rolle gespielt. ({2}) In Wahrheit stecken knallharte fiskalische Interessen hinter dem voreiligen Bekenntnis zum Monopol, lieber Kollege Danckert. Die Bundesländer erhoffen sich eine Erhöhung der Einnahmen aus Oddset, die seit etlichen Jahren rückläufig sind, und eine Rückkehr der Wetter nach einem gesetzlichen Verbot anderer Anbieter. Das ist ein Trugschluss und ein gefährlicher Bumerang, der letztendlich gerade die Sportförderung empfindlich treffen wird. Individuelle Wettgewohnheiten lassen sich nicht durch Festigung staatlicher Monopole auf Knopfdruck wieder verändern. Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass gerade der umgekehrte Weg einer pfiffigen Steuer- und Abgabenpolitik Anbieter und Wetter sogar wieder ins Heimatland zurückholt. Denken wir bei der Wettsteuer nur an die Wirkung der Umstellung der Bemessungsgrundlage vom Wetteinsatz auf den Bruttospielertrag! In 14 Tagen wollen sich die Ministerpräsidenten der Bundesländer selbst ein Weihnachtsgeschenk machen. Sie wollen einen neuen Staatsvertrag unterzeichnen. ({3}) Sie werden sich damit eher ein Kuckucksei unter den Weihnachtsbaum legen. ({4}) Das haben mittlerweile auch viele Politiker länderübergreifend erkannt. Die FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz fordert einstimmig, den Beschluss über den vorliegenden Entwurf von der Tagesordnung des 13. Dezember abzusetzen. ({5}) Auch das eine oder andere prominente CDU- und SPDMitglied des Sportausschusses hat nachdrücklich vor einem überstürzten Festhalten am Monopol gewarnt. DFB-Präsident Theo Zwanziger weist auf die Gefahr zügelloser Wettveranstaltungen und von Manipulationen im Sportbetrieb hin, wenn sich der Staatsvertrag als nicht verfassungskonform erweisen sollte. Viele Rechtsexperten erkennen das Risiko eines dann rechtsfreien Raumes. Es wird interessant, wenn man nach Schleswig-Holstein schaut. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Carstensen hat gestern vor dem Landtag erklärt, er stimme dem Entwurf nicht zu. Er stützt sich dabei auf einen einstimmigen Beschluss ausnahmslos aller Landtagsfraktionen. Diese haben nämlich - genauso wie die FDP-Bundestagsfraktion - Empfehlungen der Kommission „Sportwetten“ vom 22. Februar 2006 entdeckt, die - man höre und staune - von der Ministerpräsidentenkonferenz selbst eingesetzt worden ist. Auch der damalige Deutsche Sportbund, der DFB, und die Deutsche Fußball-Liga waren daran beteiligt. Das Ergebnis dieser Kommission können Sie weitgehend in unserem Antrag nachlesen. Besser und konkreter kann man den Abschied vom staatlichen Monopol der Sportwetten nicht formulieren. ({6}) Mit uns gehen die Norddeutschen davon aus, dass auf dieser Grundlage die erforderliche Einigung erzielt werden kann, insbesondere auch deshalb, weil der Lotteriebetrieb völlig unverändert bleiben soll. ({7}) Nach diesen Vorstellungen muss der nationale Wettmarkt durch einen nachhaltig globalisierungsfesten staatlichen Ordnungsrahmen im Vergleich zum Ausland attraktiv bleiben können. Eine unabhängige Kontrollinstanz ähnlich wie in Großbritannien erteilt die Konzession für diejenigen, die gewerbsmäßig Wetten auf Sportereignisse veranstalten, vermitteln oder anbieten wollen, nach den in unserem Antrag nachlesbaren Kriterien. Aspekten des Vergaberechts ist Rechnung zu tragen und gegebenenfalls ist europaweit auszuschreiben. Die Anzahl der Konzessionen soll beschränkt und die Erteilung angemessen befristet werden. Sollte dies aus rechtlichen Gründen nicht möglich sein, ist eine gewerberechtliche Genehmigungspflicht vorzusehen. Eine weitere Alternative wäre die Trennung des Sportwettenmarktes vom übrigen Glücksspielmarkt in einem dualen System. Dann wäre der Bund wie bei den Pferdewetten zuständig. Die EU-Kommission hat in diesen Fragen Vertragsverletzungsverfahren gegen zehn europäische Länder angestrengt. Wir diskutieren heute also nicht allein über ein nationales Problem. Deshalb fordert die FDP von der Bundesregierung, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Strukturen zu kommen. ({8}) Eine Sportdirektorenkonferenz im Februar und eine informelle Sportministerkonferenz im März bieten sich als nächste Gelegenheit an. Ohne Europa wird es keine mittel- bis langfristige Lösung der Sportwettenprobleme geben. Wir Deutschen sollten uns zum Vorreiter einer intelligenten Neuordnung machen, die Spielsucht unter Kontrolle hält, Wettangebote und Wetter nicht ins Ausland vertreibt und eine - Zitat aus dem Bericht der Ministerpräsidentenkommission - „bislang den Sportveranstaltern nicht zugängliche Wertschöpfung erschließt“. Ende gut, alles gut? Darauf hoffen wir und setzen auf eine sachlichere Debatte als beim ersten Antrag, den wir in dieser Sache im Bundestag gestellt haben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Heynemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernd Heynemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003555, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Liberalisierung des Sportwettenmarktes hätte nicht passender heute platziert werden können. Vor zwei Tagen befasste sich der Bundesgerichtshof mit einem Vorgang vom Januar 2005, der sehr stark die Sportund besonders die Fußballwelt erschütterte. Am 21. Januar des letzten Jahres wurde bekannt, dass der Schiedsrichter Hoyzer gemeinsam mit einem Wettlokalbesitzer aus Berlin mehrere Spiele manipuliert hat. ({0}) Auch wenn das abschließende Urteil erst im Dezember gesprochen wird, so ist schon jetzt großes Unverständnis zu vernehmen, dass es womöglich einen Freispruch geben könnte. ({1}) Wir wissen, dass sich gerade im Bereich des Glücksspieles die Begleitkriminalität immer breiter macht. Aber wenn sich juristische Winkel- und Klimmzüge dermaßen darstellen wie in diesem Fall, dann wird vieles unglaubwürdig. ({2}) Hier ist also eine Grauzone. Ich glaube, wir müssen uns keine Grauzonen schaffen. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind dafür, das Monopol für Lotterie und Sportwetten beizubehalten. Wir wissen, dass eine Liberalisierung des Sportwettenmarktes angestrebt wird. Der Sportwettenmarkt, der circa 8 Prozent der gesamten Lotto- und Totoumsätze ausmacht, wäre die Öffnung einer Tür, die man nicht wieder schließen kann. Natürlich gibt es dazu viel Pro und Kontra. Erst in dieser Woche habe ich von einer Lotto-Toto-GmbH einen Brief bekommen, in dem dazu aufgefordert wird, dass Monopol des Glückspielbereiches beizubehalten. Das soll natürlich auch Arbeitsplätze sichern. Dazu - das ist bereits ausgeführt worden - werden am 13. Dezember die Ministerpräsidenten eine Entscheidung treffen: ob das Monopol am Lotterie- und Sportwettenmarkt erhalten bleibt bzw. für einige Zeit festgeschrieben wird. Natürlich hat die EU die Wettbewerbsfreiheit auch für den Glückspielmarkt gefordert. Aber wir alle wissen, dass Glücksspiel als Angebot kein Produkt als solches darstellt. Auf jeden Fall würde eine Liberalisierung, das heißt eine Freigabe die Spielsucht noch weiter fördern und unkontrolliert ausweiten. ({3}) Die Abschaffung des Monopols hat natürlich auch viele Befürworter. Dies zeigen auch großflächige Anzeigen, wie die aus dem „Kicker“ vom 27. November: „Abpfiff für das Monopol“. ({4}) Als Partner im Bündnis gegen das Wettmonopol haben unterzeichnet: Eurosport, Premiere, einige Bundesligisten aus den Bereichen Fußball und Handball und natürlich einige Wettanbieter. ({5}) - In diesem Fall nicht. Fakt ist, dass jährlich circa 3,3 Milliarden Euro aus dem Lotto- und aus dem Sportwettenbereich in die einzelnen Bereiche des Sportes, der Wohlfahrts- und Denkmalspflege, der Kultur und anderswohin fließen. Ich konnte mich in meiner Heimatstadt Magdeburg persönlich davon überzeugen, wie glücklich ein Sportverein ist, der - natürlich dank Kofinanzierung und Lottomitteln einen neuen Kunstrasen einweihen konnte. Über 50 Jahre wurde dort auf Bockasche gespielt. ({6}) - Peter, du lachst, aber das gibt es noch. - Jetzt gibt es dort einen Rasenplatz. Hätte dafür auch ein Lottoanbieter gesorgt? ({7}) Wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass Sportförderung und Sportsponsoring zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Das Ergebnis von Sportförderung ist unter anderem der angesprochene Rasenplatz. Beim Sportsponsoring geht es dagegen um die Leistungsanbietung der großen Vereine in der Bundesliga und in Europa. Wenn ein Sponsor mit den Leistungen eines Bundesligisten nicht zufrieden ist, so kann es passieren, dass er sich und sein Geld zurückzieht. In diesem Zusammenhang ist es auch eine Wahrnehmungs- und werbestrategische Frage, wie sich die Öffentlichkeit im Einzelfall verhält. Der Deutsche Lottound Totoblock gibt pro Jahr mehr als 500 Millionen Euro allein für die Förderung des Breitensports aus; aber die Wahrnehmung ist sehr gering, teilweise lokal begrenzt. Bei den privaten Sportwettenanbietern ist die Wahrnehmung - denken Sie an das Hickhack um den Brustsponsor von Werder Bremen; der Name dieses Sponsors hat drei- oder viermal gewechselt - natürlich sehr ausgeprägt. ({8}) Die Sponsorentätigkeit hält sich finanziell dagegen im mittleren Bereich. Private Anbieter bieten keine Sportförderung, sondern gewinnorientiertes Sponsoring an. Ich glaube, das kann nicht im Gemeininteresse sein. Uns geht es ganz klar um eine Suchtbekämpfung und um Planmäßigkeit im Lotterie- und Sportwettenbereich. Am 20. November fand hier in Berlin ein Kolloquium zur Spielsuchtprävention statt. Zusammen mit der Drogenbeauftragten der Bundesregierung befasste sich dieses Kolloquium - es war nicht nur gut besucht, sondern auch gut besetzt - mit der Spielsucht als Sucht der postmodernen Gesellschaft und auch mit den gesundheitsbezogenen Aspekten. Im ersten Teil, in dem es um ordnungspolitische Aspekte ging, waren auch einige Kollegen aus dem Bundestag bzw. aus dem Sportausschuss anwesend. Die vorherrschende Meinung, besonders der Koalitionsvertreter, war, dass das Monopol unbedingt aufrechterhalten werden muss. ({9}) Das Bundesverfassungsgericht hat vor kurzem nach einer Klage von privaten Wettanbietern entschieden, dass das Lottomonopol nicht verfassungsgemäß ist. Gleichzeitig hat es festgestellt, dass eine Monopollösung verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn sie der Suchtprävention dient. Die Ziele einer zukünftigen Ordnung des Glücksspielmarktes in Deutschland sollten daher auf jeden Fall sein: der präventive Schutz der Spieler vor den Gefahren der Spielsucht, die Lenkung des Spielbetriebs in geordneten und kontrollierten Bahnen, die Vermeidung von Begleit- und Folgekriminalität und Betrug, die Gewährleistung eines ordentlichen Spielablaufs und die Abschöpfung von Erträgen zur nachhaltigen Förderung des Gemeinwohls.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waitz?

Bernd Heynemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003555, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Die Realisierung dieser Ziele muss die Messlatte für jedes Ordnungsmodell sein. Legt man diese hohe Messlatte an, kommt man zu dem Schluss, dass allein durch die Aufrechterhaltung des staatlichen Angebots und durch die Regulierung des Glücksspielmarktes durch ein Monopol eine konsequente Erreichung der genannten Ziele sichergestellt ist. Das schreiben Sie sogar in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der FDP: Jede Neugestaltung des staatlichen Sportwettenmonopols wäre daran zu messen, ob es ihr gelingt, den Konflikt zwischen fiskalischen Interessen des Staates und einer aktiven Begrenzung der Spielleidenschaft aufzulösen. Das wollen wir; genau das ist es. ({0}) Nun wird von der FDP ein begrenztes Konzessionsmodell, das heißt die Zulassung gewerblicher und damit gewinnorientierter Anbieter, gefordert. Dies würde ein eindeutiges marktwirtschaftliches Element in den Glücksspielsektor einführen mit der Folge eines europaweiten und ungehemmten Wettbewerbs. ({1}) Ein begrenztes Modell hieße, dass man nur einigen die Möglichkeit einräumt, marktwirtschaftliche Strukturen aufzubauen, wogegen andere wieder klagen würden, zumal für diejenigen, die den Wettbetrieb hier durchführen, kein Niederlassungszwang in Deutschland besteht. Eine Vergabe der Konzession kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nämlich nicht von einer Niederlassung in Deutschland abhängig gemacht werden. Es ist zu erwarten, dass eine größere Zahl der Bewerber um Lizenzen aufgrund geringerer Steuer- und Abgabenlast ihren Sitz im europäischen Ausland haben wird. Eine Besteuerung von Anbietern im Ausland wäre nicht möglich. ({2}) Es geht also auch um einen fiskalischen Aspekt. Zu fragen ist: Welcher Umsatz müsste in einem liberalisierten Markt erreicht werden, um die derzeitigen Abgaben des Lotto- und Glücksspielmarkts für gemeinwohldienliche Zwecke zu sichern? ({3}) Der Umsatz betrug 2005 8,1 Milliarden Euro. Wie bereits gesagt, wurden 3,3 Milliarden Euro für gemeinwohldienliche Zwecke ausgegeben. Allein schon diese 3,3 Milliarden Euro müssten aus Steuermitteln generiert werden. Zusammenfassend sei gesagt: Es gibt in fast allen europäischen Staaten eine restriktive Zulassungspraxis, in der Regel ein Monopol. ({4}) Dem liegt ein kultureller Erfahrungshintergrund, gerade in der Suchtprävention, zugrunde, von dem ich nicht glaube, dass er entwertet ist. Unser gesamtes System der Lottoanbieter ist traditionell darauf ausgerichtet, das Spielbedürfnis der Menschen zu kanalisieren. Der Staat will nicht, dass sich der Spielbetrieb schrankenlos entfalten kann, ({5}) weil dies Menschen ins Unglück zu stürzen vermag. Außerdem geht mit dem Glücksspiel erfahrungsgemäß die Gefahr von Begleitkriminalität einher, was ich anfangs am Beispiel des Falles Hoyzer darstellen wollte. Wir von der CDU/CSU-Fraktion lehnen den FDP-Antrag zur Liberalisierung des Sportwettenmarktes ab. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Parr. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Herr Kollege Heynemann hat erwähnt, dass das Monopol aufrechterhalten werden muss, damit keine Begleitkriminalität stattfindet und die Hoyzer-Betrügereien aufhören. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen darauf aufmerksam machen, dass die Hoyzer-Betrüger bei Oddset, also bei dem staatlichen Monopolisten, gespielt haben? ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie können antworten.

Bernd Heynemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003555, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kollege Parr, lieber Detlef! Das ist nur die halbe Wahrheit. Wir wissen, dass die Brüder Sapina international, in ganz Europa - von Griechenland bis Frankreich - Wetten platziert haben. Also ist bei dem Problem, das ich angesprochen habe, international und nicht allein auf Oddset zu fokussieren. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich den Antrag der Kollegen der FDP zur Aufgabe des staatlichen Wettmonopols las, kam mir die Handschrift gleich sehr bekannt vor. ({0}) Zuerst zum Allgemeinen. Viele der Anträge, die Sie einbringen, tragen die gleiche Handschrift. Man braucht gar nicht lange nachzudenken: Es ist die Handschrift von Frau Breuel, der letzten Chefin der Treuhandgesellschaft. ({1}) Frau Breuel hat leidenschaftlich gern privatisiert. Sie hat alles, was im Osten nicht niet- und nagelfest war, privatisiert, verkauft, verscherbelt. Unter den Folgen hat Ostdeutschland noch lange zu leiden. Nun weiß ich nicht, meine Damen und Herren, ob Frau Breuel einen kleinen Honorarvertrag bei der FDP-Fraktion hat; ich könnte vor einer Weiterbeschäftigung nur warnen. Jetzt zum Konkreten; es ist eine sicherlich auch Ihnen bekannte Methode, so vorzugehen. - In Ihrem Antrag fordern Sie, das staatliche Wettmonopol zu verscherbeln, ({2}) weil Ihnen die Wettlobby im Nacken sitzt und das ganz große Geschäft wittert. In Deutschland liegt der Wettspieleinsatz pro Kopf bei 33 Dollar, in Großbritannien bei 627 Dollar und in Hongkong bei 1 848 Dollar. Da kann natürlich jeder verstehen, dass in den Augen der Lobbyisten die Dollarzeichen blitzen. In Deutschland kann man einen zweistelligen Milliardenbetrag erwirtschaften, wie eine Studie des Kölner Instituts „Sport + Markt“ prognostiziert hat. Nur das staatliche Wettmonopol steht dem noch entgegen. ({3}) Als Wolf im Schafspelz kommt die FDP daher, wenn sie in ihrem Antrag die Kriterien für die Vergabe von Konzessionen formuliert. Es soll unter anderem geprüft werden, ob der Konzessionsnehmer persönlich zuverlässig ist. Wer ist zuverlässig? Ist es der erwähnte Exschiedsrichter Hoyzer, der gerade freigesprochen wurde ({4}) - oder freigesprochen wird, wie wir alle wissen -, ({5}) oder ist es jemand wie Herr Ackermann von der Deutschen Bank? Dem würde ich zum Beispiel auch keine Spielkonzession geben. ({6}) Meine Damen und Herren, weiterhin fordern Sie ein ausgereiftes Sozialkonzept. Auch da kommt wieder die bereits erwähnte Kollegin Breuel zum Vorschein. ({7}) Bei der Privatisierung ostdeutscher Unternehmen wurden von der Treuhand auch immer Sozialkonzepte verabschiedet. Es wurden Beschäftigungsgarantien und andere schöne Sozialmaßnahmen festgelegt. Doch keiner hat sich daran gehalten. Es hat auch keiner kontrolliert. Was Sie uns hier anbieten, ist doch „Sozial-Lametta“, das, würde Ihr Antrag angenommen - was ja nicht passieren wird -, gleich nach Weihnachten wieder entsorgt würde. Wir als Linke sind der Auffassung, dass das staatliche Wettmonopol die beste Voraussetzung ist, um die von Ihnen formulierten Anforderungen zu erfüllen. Eine Kommerzialisierung macht nur die privaten Wettbüros reich und treibt die Menschen in die Arme von Zockern, denen das Schicksal der Spieler gleichgültig ist. ({8}) Ich bin keine Freundin von Glücksspielen und möchte Ihnen jetzt den Spruch meiner Großmutter vortragen: Wer wetten will, will auch betrügen. Das hat meine Großmutter immer gesagt. Es trifft sicherlich nicht ganz zu. Ich kenne aber mehr Menschen, die durch das Glücksspiel unglücklich geworden sind, als solche, die dadurch glücklich geworden sind. Wir als Linke lehnen den Antrag der FDP ab und fordern gleichzeitig die Bundesregierung auf, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts konsequent zu nutzen, um die Wettsucht zu bekämpfen und illegale Wetten intensiver zu verfolgen. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Martin Gerster hat das Wort für die SPD-Fraktion.

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle fragen uns: Was sind eigentlich die Motive dafür, dass die FDP schon wieder einen Antrag zum Thema Sportwetten einbringt und im Eilverfahren hier im Plenum debattieren will? Die FDP hat doch einen Antrag im Verfahren, einen Antrag, der in ganzen Passagen mit dem übereinstimmt - nicht nur Halbsätze -, was uns hier vorgelegt wird, werter Detlef Parr. ({0}) Dabei wissen Sie von der FDP-Bundestagsfraktion doch ganz genau, dass die Ministerpräsidenten in zwei Wochen die Problematik rund um die Sportwetten lösen werden. Dann nämlich wird ein neuer Staatsvertrag unterschrieben, der unsere Jugendlichen, aber auch Erwachsene vor den Gefahren der Wettsucht so gut wie möglich schützt und im Übrigen sicherstellt, dass der Breitensport auch über die Wetteinnahmen gefördert wird. Wenn die FDP das nicht möchte, dann frage ich mich: Warum bringt sie sich denn nicht dort ein, wo sie in den Landesparlamenten und Landesregierungen auch Verantwortung trägt? ({1}) Warum unterstützt die FDP die Ministerpräsidenten bei diesem neuen Staatsvertrag? Hier wird von der FDP ein doppeltes Spiel betrieben. So sieht es aus: ({2}) Hier im Bundestag Schaufensteranträge einzureichen, sich vor den Karren der privaten Wettanbieter spannen zu lassen, sich aber über die Landesparlamente und die Landesregierungen, in denen man selber Regierungsverantwortung trägt, nicht entsprechend zu engagieren. Frau Homburger, ich freue mich, dass Sie hier sitzen. Ich möchte nur an den 9. Mai dieses Jahres erinnern. Vielleicht erinnern Sie sich auch an den Tag. Das war der Tag, an dem wunderschöne Bilder produziert wurden. Da wurde nämlich der Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP in Baden-Württemberg unterschrieben. In diesem Koalitionsvertrag auf Seite 62 liest man - man höre und staune -: Auch zukünftig bedarf das Glücksspiel eines sachgerechten ordnungsrechtlichen Rahmens, der insbesondere die Anforderungen an den Jugendschutz und die Suchtprävention beachtet. Ja, wunderbar. ({3}) Ferner heißt es da: Wir werden uns dafür einsetzen, dass ordnungsrechtlich begründete Abgaben aus dem Glücksspiel auch zukünftig für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung gestellt werden. ({4}) - Entschuldigung! Lesen Sie mal weiter: Wir bekennen uns zum staatlichen Monopol. ({5}) Im Übrigen fordern Sie in Ihrem Antrag Unmögliches. Sie sagen: Die privaten Wettanbieter sollen eine Lizenz erhalten, wenn sie einen inländischen Geschäftssitz vorweisen. Das passt doch gar nicht zusammen. Es ist gerade die FDP, die den freien Markt in der Europäischen Union unterstützt. Die Kopplung an einen inländischen Geschäftssitz, wie in dem Antrag gefordert, widerspricht der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit in Europa. Das passt überhaupt nicht zusammen. Deswegen ist eine Beschränkung auf inländische Anbieter überhaupt nicht möglich. Bestätigt wird das Ganze durch ein Gutachten von Professor Stein von der Universität Saarbrücken: Ein auf wenige gewerbliche Anbieter begrenztes Lizenzierungsmodell ist europarechtlich nicht realisierbar und kann keine Alternative zum staatlichen Monopol sein. Ich weiß nicht, ob der FDP-Fraktion dieses Papier bekannt ist. Es liegt aber auf dem Tisch und ist für jeden frei zugänglich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Parr zu?

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Parr. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir liegt hier das Protokoll der Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtags von gestern vor. Ich zitiere den Ministerpräsidenten: Ich bin der Meinung, wir sollten die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Placanica - da geht es um die Probleme in Italien und andere abwarten. Er sagt außerdem: In den Gesprächen mit den Ministerpräsidenten und Mitgliedern aus Fraktionen und Regierungen aus den Ländern erkenne ich auch deren Unbehagen und ihre Zweifel in Bezug auf den eingeschlagenen Weg. Wie beurteilen Sie diese Aussagen, die aus SchleswigHolstein kommen, vor dem Hintergrund, dass mittlerweile klar ist, dass in dieser Frage das Einstimmigkeitsprinzip gilt? ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde sagen, wir sollten erst einmal abwarten, was dabei herauskommt. ({0}) Wo ist denn eine Initiative der Bundesländer, in denen die FDP an der Regierung beteiligt ist? ({1}) Ich sehe überhaupt keine. Sie hätten da doch die Möglichkeit, entsprechend zu agieren. ({2}) Ich kann nur noch einmal wiederholen: Die FDPBundestagsfraktion erweist dem Sport mit ihrer Initiative einen Bärendienst und geht der Kampagne der privaten Wettanbieter voll auf den Leim ({3}) und unterstützt eine für den Sport und die vielen Sportvereine schädliche Kampagne. ({4}) - Ich bin in keiner Weise für sinkende Sportförderung verantwortlich. Im Übrigen kann ich nur sagen: Der Sport steht überhaupt nicht auf der Seite der FDP-Bundestagsfraktion. ({5}) Ich habe hier eine entsprechende Mitteilung vom Württembergischen Landessportbund. Es wird zunächst die Position der Gegenseite dargestellt: In dem Brief an die Sportvereine spricht der Präsident der Lottovermittler, Norman Faber, von erheblichen Umsatzeinbußen, die angeblich durch die Werbebeschränkungen im geplanten Staatsvertrag zu befürchten seien - worunter auch Sport, Kultur und Wohlfahrt zu leiden hätten. Der Württembergische Landessportbund stellt aber klar, dass es sich ganz anders verhält. Wörtlich sagt der Präsident Klaus Tappeser - Klaus Riegert kennt ihn ja auch ganz gut -: Nur das staatliche Monopol mit seinen Zweckerträgen fördert das Solidarsystem des Sports in Baden-Württemberg - und damit den Breiten- und Spitzensport. Ich würde mir wünschen, dass auch die FDP-Bundestagsfraktion nicht gegen den Sport und die Sportvereine agieren würde, sondern zugunsten des Sports und der Sportvereine. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile Winfried Hermann für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP ist auf ihrer rastlosen Suche nach Zonen ohne Markt fündig geworden, nämlich beim staatlichen Wettmonopol. Wenn man ihren Antrag genau liest, stellt man fest, dass sie nicht nur versucht, das staatliche Wettmonopol zu beseitigen, sondern auch ein neues Modell präsentiert. ({0}) Man könnte etwas zugespitzt sagen: Es ist das Modell einer Eier legenden Sportwettwollmilchsau. ({1}) Dieses Glücksschwein ist einerseits wettbewerbsgerecht, gemeinwohlbelangeorientiert, nicht nur spielsüchtig machend, nein, diese auch bekämpfend. Es ist zugleich über die nationalen Grenzen hinaus attraktiv. Es ist globalisierungsfest. Kurzum: Es ist kapital, liberal und sozial. ({2}) Es ist beschränkt und frei, es ist föderal, national und global. ({3}) Jetzt kann man sagen: Das ist ein schönes Modell. Man muss aber einmal ganz ernsthaft festhalten: Das Marktmodell ist in der Tat für viele Bereiche eine sinnvolle Form des Suchens und des Bedienens. Dort, wo es zu wenig Angebote an Produkten und Dienstleistungen gibt, braucht man so ein Modell. Die Frage ist aber: Ist ausgerechnet der Spielbereich angesichts der Tatsache, dass es Wett- und Spielsucht gibt, ein Bereich, wo wir über ein Marktsystem für ein Mehr an Spielangeboten und für immer verrücktere Angebote sorgen müssen? Brauchen wir hier wirklich mehr Effizienz usw.? ({4}) Brauchen wir das wirklich? Ist das Marktmodell wirklich das richtige Modell? Da kann ich nur sagen: Völlig verfehlt; für diesen Bereich taugt das Marktmodell überhaupt nicht. ({5}) Meine Damen und Herren, wenn man wirklich etwas gegen Spielsucht tun will, dann darf man das Angebot nicht vermehren, sondern muss es beschränken und klar und eindeutig kanalisieren. ({6}) Nun sagen Sie, Sie wollten das irgendwie kanalisieren. Aber Sie geben nicht wirklich an, wie die Spielsucht bekämpft werden soll, und sagen auch nicht, wie man den grundlegenden Widerspruch lösen will, der dadurch entsteht, dass man im Markt Wachstum braucht und immer mehr von ebendem, was man bekämpfen will. Deswegen taugt das Marktmodell in diesem Bereich überhaupt nicht. Ich bin froh, dass die Länder sich jetzt zu einem Staatsvertrag durchgerungen haben, der sich ganz eindeutig zum Monopol bekennt. ({7}) - Die Länder haben sich bisher darauf verständigt. Wenn Sie da mehr wissen, bin ich gespannt. Bisher höre ich noch von keinem Bundesland, dass es diesen Staatsvertrag blockieren will. ({8}) - Da sind wir mal gespannt, ob die das wirklich machen. Wir haben oft genug solche Sprüche gehört und am Schluss sind die Leute dann doch eingeknickt. Wir jedenfalls hoffen, dass dieser Staatsvertrag durchkommt; denn ich glaube, dass das die richtige Antwort ist. Kollege Parr, Sie haben angesprochen, dass der Hoyzer-Skandal und das Ganze unter den jetzigen Bedingungen stattgefunden haben. Das ist richtig. Aber wollen Sie im Ernst diesen Bereich ausweiten und zu einem privaten Geschäft machen, in dem sich dann ziemlich viele Geschäftemacher tummeln werden? Natürlich werden die Betrügereien dramatisch zunehmen, wenn man diesen Markt anheizt und ausweitet. Dem leisten Sie mit Ihrem Vorschlag Vorschub. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Das Angebot der FDP ist im Grunde genommen sportschädlich. ({9}) Es kann allenfalls wenigen im Profisport nützen. Sie sind das Sprachrohr des Profispitzenfußballs im DFB, aber nicht des Breitensports. ({10}) Sie sind übrigens auch nicht interessensfrei, sondern wir wissen, dass Sie mit den freien Wettbewerbsanbietern von Sportwetten gut zusammenarbeiten und sich gerne sponsern lassen. Das heißt, wir wissen, dass Ihre Interessen nicht nur ordnungsrechtlicher Natur sind, sondern auch einen ganz konkreten materiellen Hintergrund haben. Ihr Antrag ist nicht nur sportschädlich, sondern, wie ich meine, letztendlich auch sozialschädlich. ({11}) Es ist das völlig falsche Modell für ein schwieriges Problem. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Peter Danckert hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Eigentlich können wir froh sein, dass das Jahr langsam zu Ende geht; denn wenn es noch mehr Sitzungswochen gäbe, dann hätten wir wahrscheinlich ein drittes Mal das Vergnügen, den FDP-Antrag hier zu behandeln. „Getretener Quark wird breit, nicht stark“, lieber Detlef. ({0}) Warum eigentlich der heutige Antrag? Der einzige Unterschied zu der letzten Debatte vor wenigen Monaten ist der, dass ihr diesmal keine öffentliche Veranstaltung mit Unterstützung von Bet and Win gemacht habt. Der Antrag ist derselbe, die Argumente sind dieselben; ({1}) es hat sich eigentlich überhaupt nichts verändert. ({2}) Die Situation ist so: Die Ministerpräsidenten werden am 13. Dezember entscheiden. Das wissen wir ja; es ist von meinem Freund Martin Gerster schon gesagt worden. Die FDP hätte es in der Hand - das wurde hier schon ausgeführt; aber ich will es noch einmal unterstreichen -, das, was sie hier mit diesem Antrag angreift - das staatliche Wettmonopol, das die Ministerpräsidenten im Auge haben -, zu verhindern, indem BadenWürttemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sich dagegen aussprechen. ({3}) Das macht ihr aber nicht und deswegen ist das ein unlauteres Vorgehen an dieser Stelle: ({4}) Da, wo man ein Gesetz als Koalitionspartner auf Länderebene glatt verhindern könnte, wird mitgestimmt und hier im Bundestag macht ihr den Liberalen. So geht es nicht; entweder - oder. Das ist eine komplizierte Situation, Detlef Parr; aber das muss einmal gesagt werden. ({5}) Das Verhalten an dieser Stelle ist völlig uneinheitlich. ({6}) Wir werden ja sehen, ob sich die Ministerpräsidenten am 13. Dezember verständigen. ({7}) Die Koalition hat ganz klar gesagt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März dieses Jahres zwei Möglichkeiten zulässt. Die Ministerpräsidenten haben die Initiative ergriffen; wir sind auf sie angewiesen. Sie sind dabei, einen Staatsvertrag zustande zu bringen. Ob dieser Staatsvertrag zur Folge hat, dass all das umgesetzt werden kann, was man sich vorgenommen hat, ist in der Tat eine andere Frage. Ich will an dieser Stelle gar nicht verhehlen, dass ich in diesem Punkt etwas skeptisch bin. Ich fände es sehr gut, wenn wir uns einmal Gedanken darüber machen würden, wer dahinter steht, anstatt immer über den gleichen Antrag zu reden. Dahinter stehen Sportveranstalter, deren Veranstaltungen bzw. Spiele für Wetten genutzt werden. Wir sollten über Leistungsschutzrechte nachdenken, wie es die Max-Planck-Gesellschaft gemacht hat. Seit wenigen Tagen liegt nämlich ein Working Paper vor, ({8}) - soll ich „Working Paper“ noch übersetzen? -, in dem man nachlesen kann, wie kompliziert die Materie ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Parr zulassen?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Parr. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Angesichts solcher Beiträge muss man natürlich Fragen stellen. Die FDP ist hier als eine Partei dargestellt worden, die - das ist zumindest die Interpretation des Kollegen Danckert - offensichtlich widersprüchlich reagiert. ({0}) Ich möchte den Innenminister des Landes SchleswigHolstein aus der gestrigen Debatte zitieren, Frau Kollegin Freitag. Er hat nämlich gesagt: Wer Monopole verteidigt, darf in der Regel als Ewiggestriger gelten. - Dem ist nichts hinzuzufügen. ({1})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, jeder hat mitbekommen, dass der Kollege Parr nicht in der Lage ist, eine Frage zu stellen. ({0}) Das war eine Kurzintervention. Diese ist zwar nach unserer Geschäftsordnung vorgesehen, aber an einer anderen Stelle. Sei’s drum. Wir haben eine Situation, in der wir alle gemeinsam gut beraten wären, einmal an die Sportveranstalter zu denken. Denn deren Veranstaltungen werden benutzt, um Sportwetten durchzuführen. Wenn es beispielsweise Fußballspiele nicht gäbe, dann gäbe es in dem Bereich keine Wetten. Wir sollten also einmal darüber nachdenken, wo das Ganze anzusiedeln ist, im Bereich des Urheberrechts, im Bereich des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb oder an einer anderen Stelle. Das wäre sachgerecht und förderlich. Wir sollten nicht jedes Mal über denselben Antrag im Bundestag reden. Die Wiederholung alter Argumente bringt nichts. Neue Argumente wurden von der FDP nicht vorgetragen. Warten wir also ab, was uns die Ministerpräsidenten vorzutragen haben. In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Fraktionen haben verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/3506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren StabiliVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({1}) vom 22. November 2004, 1639 ({2}) vom 21. November 2005 und 1722 ({3}) vom 21. November 2006 - Drucksachen 16/3521, 16/3636 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Detlef Dzembritzki Dr. Werner Hoyer Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/3645 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Lothar Mark Jürgen Koppelin Alexander Bonde Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Johannes Jung.

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute zu dieser Stunde über ein europäisches Land und über Europäer wie Sie und mich. Bosnien-Herzegowina liegt mitten in Europa. Auf diese Formulierung werde ich noch zurückkommen. Allerdings sprechen wir in diesem Fall über Menschen, denen die Erfolge unseres Kontinents der letzten 15 Jahre in Sachen Demokratie und Zusammenwachsen nach wie vor nicht zuteil geworden sind. Bosnien-Herzegowina war als Teil des zweiten Jugoslawien sehr nah am Westen. Den Menschen in den heutigen EU-Mitgliedstaaten in Mittelosteuropa und zumal in der unmittelbaren Nachbarschaft, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien, galt Bosnien-Herzegowina bis zum Krieg als ein fast westliches Land, dessen Lebensstandard weit besser war als der eigene. Man muss kein so genannter JugoNostalgiker sein, um das so zu sehen. Dann plötzlich und für die meisten Beobachter auch hierzulande unerwartet waren Sarajevo, Banja Luka und Mostar nicht mehr Städte des jahrhundertelang gut eingeübten Zusammenlebens einer friedlichen Bevölkerung mit einer Sprache, mit katholischen und orthodoxen Kirchen, Moscheen und Synagogen, sondern wurden zu Zentren des mordenden Ethnonationalismus. Ein sehr eindrucksvolles Bild dieser Jahre von 1991/ 1992 bis 1995 vermittelte vor einigen Jahren der Film „Ničija zemlja“ von Regisseur Danis Tanović unter dem internationalen Titel „No Man’s Land“, übersetzt „Niemandsland“. Er gewann zahlreiche internationale Preise, darunter den Golden Globe und einen Oscar. Ich nehme an, einige von Ihnen kennen diesen Film. „No Man’s Land“ spielt im Wesentlichen in einem Schützengraben, der sich irgendwo in Bosnien-Herzegowina im Niemandsland zwischen den Frontlinien des Krieges befindet. Diese Schützengräben hat die internationale Gemeinschaft damals nicht verhindert. Wegen falscher Wahrnehmung, gegenläufiger Interessen und falscher politischer Vorgaben der Europäer und der internationalen Staatengemeinschaft waren die Blauhelme völlig überfordert und ihre Mission zum Scheitern verurteilt. Die Menschen in Bosnien-Herzegowina haben das teuer bezahlt. Die Blauhelme, die seinerzeit geschickt wurden, nannte man dort im Krieg „strumpfovi“, also „Schlümpfe“. Das ist absolut keine respektvolle Bezeichnung und macht den Stellenwert dieser internationalen Truppe in den 90er-Jahren deutlich. Heute, rund 15 Jahre nach dem ersten Schuss und elf Jahre nach dem Frieden von Dayton, stimmen wir wieder über die Verlängerung eines Mandates in BosnienHerzegowina ab. Elf Jahre sind eine verdammt kurze Zeit, wenn es um Wiederaufbau, Rückkehr, Versöhnung und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen nach einem Bürgerkrieg mit mehr als 200 000 Toten geht und Täter und Opfer sich durchaus im selben Dorf bewegen und sich dort begegnen. Ob Bosnien-Herzegowina noch mehr Zeit bekommt, liegt auch an uns. Die wirtschaftliche Lage in Bosnien-Herzegowina ist schlimm. Organisierte Kriminalität, Zwangsprostitution, Menschen-, Waffen- und Drogenhandel sind alltäglich und brandgefährlich. Vordringlich ist deshalb jetzt die Legalisierung der Ökonomie, weg von Schwarzmarkt und Schwarzarbeit. Trotz Besserung der Beziehungen gibt es nach wie vor die Spaltung in die Republika Srpska und die Föderation. Die zwei prominentesten Kriegsverbrecher Ratko Mladić und Karadžić bewegen sich mutmaßlich auch in Bosnien-Herzegowina. Und sicherlich ist die international oktroyierte Verfassung eine zu Recht ständig beklagte Katastrophe. Das alles ist wahr und das sind große Probleme in Bosnien-Herzegowina. Das eigentliche politische und geistig-kulturelle Problem jedoch ist der Nationalismus in diesem Land. Trotz der schlichten Tatsache, dass der Frieden von Dayton eben nur als Waffenstillstand und damit nur für einen Tag ein Erfolg war, trotz der allseits und schon im Jahre 1995 bekannten Unzulänglichkeiten der staatsrechtlichen Konstruktion muss uns klar sein: Es ist nach wie vor in erster Linie der Nationalismus, der dem Fortschritt in diesem Lande im Wege steht. ({0}) Johannes Jung ({1}) Es muss uns klar sein, dass die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina auch mit der denkbar schlechtesten Verfassung eine vernünftige Politik betreiben könnten, was sie nicht tun. Wer das viel bemühte Wort „Ownership“ ernst nimmt, muss seine Gesprächspartner in der Region mit Nachdruck auf diese Tatsachen hinweisen und penetrant Besserung einfordern. Das ist nicht einfach; denn die tonangebende Garnitur in den bisher bestimmenden drei nationalen Parteien hat massive politische und wirtschaftliche Eigeninteressen, die absolut nicht mit dem idealistischen Leitbild von einem vereinten, friedlichen, demokratischen und EU-orientierten Bosnien-Herzegowina übereinstimmen. Die Mission „Althea“ ist erfolgreich. Sie ist aber keineswegs deshalb erfolgreich, weil sie eine leichte Aufgabe hätte und daher überflüssig wäre. ({2}) So rosig ist die Lage nicht, als dass wir dort im Jahre 2007 zum Beispiel für die Sicherheit von zurückkehrenden Flüchtlingen kein Militär mehr bräuchten und sei es nur für das subjektive Sicherheitsgefühl dieser Rückkehrer. Im Antrag der Bundesregierung werden einige Fortschritte in Richtung eines friedlichen und demokratischen Rechtsstaats, der selbstständig die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger gewährleisten kann, vollkommen zu Recht festgestellt. Erwähnt werden diverse Reformen, die uns Mut machen, und erfreulicherweise auch der Stabilitätspakt Südosteuropa mit einer Fülle von zivilen Projekten. Das Vorgängermandat SFOR hat verlorenes Vertrauen zum Teil wieder zurückgewonnen. Seit zwei Jahren nun ist „Althea“ unter Führung der EU die erfolgreiche Fortsetzung der internationalen Bemühungen um Sicherheit und Stabilität in Bosnien-Herzegowina. Zum Schluss möchte ich noch einen Blick auf die Wahlen werfen, in die ich persönlich wieder einmal große Hoffnungen gesetzt hatte. Die Vorherrschaft der klassischen ethno-nationalen Parteien ist gebrochen. Ihre Kandidaten waren in der Wahl für das Präsidium unterlegen, auch deshalb, weil sie Konkurrenz aus dem eigenen Lager hatten. Der interessanteste Mann im neuen Präsidium ist Zeljko Komsic, der für eine übernationale Partei angetreten ist und den wir dringend unterstützen sollten. ({3}) Schlussbemerkung: Alle Anstrengungen von innen und von außen sind nur erfolgreich, wenn wir die Tür zur Europäischen Union für die gesamte Region offen halten. ({4}) Es darf nicht noch einmal ein europäisches Niemandsland im Südosten Europas geben und schon gar keine neuen Schützengräben. Die Begründung für „Althea“ ist die europäische Zukunft von Bosnien und Herzegowina. Deshalb ist der Antrag zur Fortsetzung der Operation richtig. Deshalb stimmt die SPD-Bundestagsfraktion diesem Antrag zu. ({5}) Ich danke allen zivilen und militärischen Aufbauhelfern in der Region und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe Dr. Rainer Stinner das Wort für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass heute der Botschafter von Bosnien-Herzegowina der Debatte beiwohnt. Mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, darf ich ihn ganz herzlich begrüßen. Wir führen eine wichtige Debatte für Ihr Land. Ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die FDPFraktion wird heute dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandates zustimmen. Wir zeigen damit, dass wir weiterhin Verantwortung für die Stabilisierung und den Aufbau dieses wichtigen europäischen Landes übernehmen. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Mandatsobergrenze - eher eine symbolische Zahl, aber ein wichtiges Signal - von 3 000 auf 2 400 Soldaten reduziert hat. Das ist der richtige Schritt. Sicherlich kann man in diesem Zusammenhang darüber diskutieren, ob und wann es richtig ist, die Zahl der Soldaten vor Ort zu reduzieren. Aber leider, Herr Minister Jung, haben Sie auch dieses Mal wieder mit einer eher unbedachten Äußerung in Bosnien und Herzegowina Unruhe ausgelöst, wie uns gestern Herr Schwarz-Schilling sehr deutlich bestätigt hat. Sehr geehrter Herr Minister Jung, ich bitte Sie ganz herzlich, bei Ihren öffentlichen Äußerungen darauf zu achten, welche Wirkung sie im Ausland haben. Selbst wenn Sie das verwundert, Herr Jung: Was ein deutscher Verteidigungsminister im Ausland sagt, wird in der Welt gehört das ist so. Deshalb ist es wichtig, dass wir das hier klarstellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden zulassen?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gern lasse ich Zwischenfragen zu.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Stinner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass zunächst einmal im Auswärtigen Ausschuss der Komment gilt, dass über Aussagen, die dort gemacht werden, nicht öffentlich berichtet wird ({0}) und dass zum Zweiten die Aussage, die Sie hier dem Kollegen Schwarz-Schilling in den Mund gelegt haben, nicht zutreffend ist?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann nur darauf hinweisen, dass Herr SchwarzSchilling diese Einschätzung der Situation nicht gestern im Ausschuss, aber durchaus in öffentlichen Äußerungen vorgenommen hat. ({0}) - Leider ist Herr Schwarz-Schilling heute nicht da, aber dazu können Sie gerne Belege sehen. Die Entscheidung über die Reduzierung des Kontingentes ist von den Entwicklungen in den nächsten Monaten abhängig. Drei Entwicklungen müssen wir genau beobachten: Erstens. Eine Statusentscheidung über den Kosovo wird sicherlich Auswirkungen auf die Situation in der gesamten Region, insbesondere in der Republika Srpska, haben. Zweitens müssen wir den Bericht über die zu erwartende Entwicklung abwarten, den uns der Beauftragte, Herr Schwarz-Schilling, im Februar vorlegen wird. Dieser Bericht wird sicherlich Auswirkungen haben. Drittens. Was passiert eigentlich am 30. Juni des nächsten Jahres, wenn das Mandat des OHR auslaufen soll? All das müssen wir beobachten. Es ist sinnvoll, erst dann die Entscheidung zu treffen, in welchem Umfang das Kontingent der Soldaten eventuell zu reduzieren ist. Die gute Nachricht lautet - da sind wir alle derselben Meinung -: Gegenwärtig besteht keine Gefahr mehr, dass es in diesem Land zu einem organisierten, bewaffneten Konflikt kommt. Diese gute Nachricht ist die Basis für die Überlegung, die Anzahl der Soldaten in diesem Land zu reduzieren. Der Plan sieht bisher vor, dass das Mandat des Hohen Repräsentanten am 30. Juni des nächsten Jahres ausläuft. Herr Schwarz-Schilling hat in einer öffentlichen Sitzung darüber gesprochen, dass es Überlegungen gibt - das kann ja angebracht sein -, diesen Zeitplan zu verändern. Ich bitte die Bundesregierung, uns ihre Position dazu mitzuteilen. Hält sie an dem Fahrplan 30. Juni fest oder gibt es Überlegungen, das Mandat OHR zu verlängern und den Übergang auf die so genannte europäische Lösung entsprechend zu verschieben? Diese Informationen wären für die Diskussion in diesem Hause interessant. Das Jahr 2007 ist ein - in Anführungsstrichen - deutsches Jahr für das Land Bosnien-Herzegowina: Wir stellen den Hohen Repräsentanten, seit November stellen wir mit einem deutschen Admiral auch den obersten Kommandeur der EUFOR-Truppen und am 1. Januar des nächsten Jahres übernehmen wir die EU-Ratspräsidentschaft. Umso wichtiger ist, dass wir dieser Verantwortung im Deutschen Bundestag nachkommen. Deshalb bedauere ich es außerordentlich, dass das Budget des Auswärtigen Amtes für dieses Land, für das wir im Jahr 2007 besondere Verantwortung übernehmen, in den Haushaltsberatungen reduziert worden ist. ({1}) Ich bedauere es sehr, dass diese Mittel trotz der Bemühungen, die sich die so genannte Balkanfraktion parteiübergreifend gemacht hat, reduziert werden. Ich bitte die Bundesregierung sehr herzlich, im Haushaltsvollzug zu versuchen, diesen Fehler - es ist wirklich ein Fehler - zu korrigieren und die entsprechenden Mittel einzusetzen. Bosnien-Herzegowina hat wie alle anderen Länder Europas durch die Vereinbarung von Thessaloniki eine europäische Perspektive bekommen. Diese Perspektive ist der Motor für die Entwicklung dieses Landes. Von daher ist es sehr wichtig, diese Perspektive aufrechtzuerhalten. Der Kollege Jung hat vorhin schon darauf hingewiesen; wir sind uns darin völlig einig. Der NATO-Gipfel in Riga hat mit dem Angebot des Partnership-for-Peace-Programmes an dieses Land ein weiteres deutliches Signal gesetzt. Die Frage ist tatsächlich, ob Bosnien-Herzegowina schon bereit ist, an diesem Programm mitzuarbeiten. Das Angebot steht auf jeden Fall. Die westliche Welt zeigt: Wir wollen diesem Land helfen, wir wollen es unterstützen, damit es in Europa und in unsere Gemeinschaft eingeführt wird. Wir wissen aber genau, dass die Hauptarbeit von diesem Land selbst geleistet werden muss. Es gibt einige Signale dafür, dass dort einiges nicht so läuft, wie es laufen sollte. Der Verfassungsprozess, die Polizeireform und weitere wichtige Reformprojekte stocken in Bosnien-Herzegowina im Augenblick. Unser Aufruf an dieses Land sollte lauten: Wenn ihr zu uns kommen wollt, seid ihr willkommen; aber erst einmal müsst ihr eure Hausaufgaben machen. Ich stelle immer wieder fest, dass die insbesondere in Europa verbreitete Denkweise von der guten Nachbarschaft in dieser Region insgesamt leider völlig unterentwickelt ist. Wir hoffen, dass wir auch auf diesem Gebiet Fortschritte machen. Abschließend frage ich, ob wir eigentlich genügend tun, damit der europäische Geist und das europäische Denken in Bosnien-Herzegowina ankommen können. Ich spreche das kritische Thema des Visaregimes an. Meines Erachtens handelt die Europäische Union völlig widersprüchlich. Auf der einen Seite erwarten wir, dass dieses Land das europäische Denken, das europäische Handeln und die europäischen Werte annimmt, verwehren den Bürgern dieses Landes aber den Weg nach Europa. Wir haben ein extrem strenges Visaregime. Abschließend bitte ich die Bundesregierung, im ersten Halbjahr 2007 jedenfalls hier dafür zu sorgen, dass wir deutliche Fortschritte machen, damit die Bürger Bosnien-Herzegowinas Europa wirklich kennen lernen können. ({2}) - Herr Bonde, ich habe Sie nicht verstanden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Vielleicht können Sie das bilateral besprechen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein Appell lautet also: Visaregime verändern! Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Seit 1995 beteiligt sich Deutschland mit der Bundeswehr an der Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien-Herzegowina. Ich denke, die Angehörigen der Bundeswehr haben hier einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines sicheren Umfeldes geleistet, in dem sich die politische Normalisierung und der gesellschaftliche Wiederaufbau des Landes vollziehen können. Deshalb möchte ich im Rahmen dieser Debatte unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Helfern herzlich für den Beitrag danken, den sie in Bosnien-Herzegowina geleistet haben, um ein sicheres Umfeld, eine friedliche Entwicklung und Stabilisierung in diesem Land zu gewährleisten. ({0}) Mittlerweile ist dieses Land auf einem guten Weg zu einem multi-ethnischen, modernen und demokratischen Rechtsstaat. Hier ist darauf hinzuweisen, dass es zunächst ein Erfolg der transatlantischen Politik war, aber seit zwei Jahren eindeutig ein Erfolg der europäischen Politik ist. ({1}) Der jüngste Meilenstein ist die ruhig und friedlich verlaufene Wahl vom 1. Oktober dieses Jahres, bei der die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ihre Vertreter für die Parlamente und die Staatspräsidentschaft in eigener Verantwortung bestimmt hat. Deshalb war es wichtig, Kollege Stinner, dass es vor diesen Wahlen keine Diskussionen gab, die ein falsches Signal ausgelöst hätten. Da wir jetzt einen Stufenplan - ich komme darauf zurück - vorbereiten, ist es notwendig, über die Fragen zu diskutieren, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Aber ich will darauf hinweisen, dass es nicht so ist, dass Bosnien-Herzegowina mit diesen Wahlen sozusagen bereits am Ziel angekommen ist. Gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft sind noch eine Reihe von Herausforderungen zu meistern. Sie haben Christian Schwarz-Schilling angesprochen. Es ist zu unterstreichen, dass er einen wichtigen Beitrag leistet, um diesen Prozess positiv fortzuführen und zu einem guten Ergebnis zu bringen. Deshalb bin ich ihm sehr dankbar - auch im Namen der Bundesregierung für den Einsatz, den er in Bosnien-Herzegowina leistet. ({2}) Trotz der Erfolge bestehen immer noch Risiken für die Sicherheit und die Stabilität. Deswegen ist BosnienHerzegowina weiterhin auf die internationale, auf die europäische Unterstützung angewiesen. Die Bundesregierung erkennt - ich habe es gerade dargelegt - die positive Entwicklung ausdrücklich an. Sie schlägt deshalb vor, im Einklang mit unseren Partnern die Obergrenze in dem heute zur Abstimmung stehenden Mandat von 3 000 auf 2 400 Soldaten zu senken. Das bedeutet keine unmittelbare, einseitige Reduzierung vor Ort, sondern dies ist mit den europäischen Partnern abzustimmen. Aber es gibt erste Überlegungen - der kommandierende General hat dies den europäischen Verteidigungsministern nachdrücklich vorgetragen - über den künftigen Umfang der internationalen Präsenz. Ich hoffe, dass im Dezember erste konkrete politische Entscheidungen zur Reduzierung getroffen werden können. Es handelt sich um einen Stufenplan, der davon ausgeht, dass wir im ersten Halbjahr des nächsten Jahres mit der ersten Stufe, also mit einer konkreten Reduzierung, rechnen können. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern verfolgen wir das Ziel, die Operation „Althea“ in Stufen erfolgreich zu beenden. Das ist wichtig für Bosnien-Herzegowina. Es wäre ein weiterer Meilenstein der Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir müssen diesem Land dann selbstverständlich auch die europäische Perspektive für seine Weiterentwicklung geben, um es in eine gute Zukunft zu führen. Ich will hinzufügen: Zu einem erfolgreichen Einsatz gehört auch, dass man unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage - hierbei sind auch die Statusverhandlungen im Kosovo in den Blick zu nehmen - imstande ist, ihn sachgerecht zu Ende zu führen. Diese Entscheidung soll im Dezember dieses Jahres getroffen werden. Jetzt ist es notwendig, dass dieses Mandat, wie vonseiten der Bundesregierung vorgeschlagen, in reduziertem Umfang fortgesetzt wird, um eine Stabilisierung und eine friedliche Entwicklung in Bosnien-Herzegowina zu gewährleisten. Deshalb bitte ich Sie namens der Bundesregierung um Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats. Besten Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Norman Paech hat das Wort für die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es interessant, dass sich die Frau Bundeskanzlerin derzeit in der NATO genauso dem Druck anderer Staaten erwehren muss, wie wir es gewöhnlich im Deutschen Bundestag tun müssen, wenn wir uns der Zustimmung zum Einsatz bzw. zur Verlängerung des Einsatzes unserer Truppen im Ausland verweigern. ({0}) Ich hoffe allerdings, dass sie sich als genauso standhaft erweisen wird und sich den Forderungen, die Truppen in den Süden Afghanistans zu schicken, auch weiterhin verweigern wird, wie auch wir uns in diesen Fragen immer wieder als standhaft erwiesen haben. ({1}) In Bosnien-Herzegowina ist die Situation zum Glück ganz anders. Ich frage mich: Warum machen Sie es sich eigentlich so schwer, dieser gänzlich anderen Lage endlich mit einem Rückzug des Militärs Rechnung zu tragen? Sie haben gute Ansätze vorgetragen. Herr Minister Jung hat vor genau einem Monat angekündigt, die Truppen zurückziehen zu wollen. Damals hatte er - daran darf ich Sie erinnern - prominente Unterstützung. Nicht nur der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes, Herr Gertz, hat ihn unterstützt, sondern auch Herr Struck, der Vorgänger von Herrn Jung. Der Kollege Siebert von der Unionsfraktion hat gesagt, dass die militärischen Aufgaben dort weitgehend erfüllt seien. Sogar Herr Westerwelle hat sich zu diesem Zeitpunkt für einen Abzug mit Augenmaß ausgesprochen. Dann aber wurde Herr Jung gescholten. Nun möchte auch er selbst sich nicht mehr an seinen Vorschlag erinnern. Die Hauptkritik, die in den Regierungskreisen geäußert wurde, lautete, er hätte seinen Vorschlag nicht mit der Überlastung der Bundeswehr, sondern allein mit politischen Argumenten wie der Stabilisierung der Lage begründen sollen. Hier hätte er ruhig auf seinen Soldaten Gertz hören sollen. Denn er hat gesagt, dass man beim zivilen Wiederaufbau seit dem Beginn des Bundeswehreinsatzes im Jahre 1995, also vor mehr als zehn Jahren, derartige Fortschritte gemacht habe, dass das, was übrig geblieben sei, nun wirklich keine militärische Aufgabe mehr, sondern allenfalls eine Polizeiaufgabe sei. ({2}) Das war schon vor einem Jahr unser zentrales Argument, als wir die Verlängerung des Mandats abgelehnt haben. Heute können wir unsere Bestätigung, dass wir Recht hatten, im Antrag der Regierung nachlesen. Dem, was Sie in Ihrem Antrag zum Aufbau des Justizwesens, zur Polizeireform, zum Beitrag der Bundesregierung zur Stabilisierung und zur Demokratisierung Bosnien-Herzegowinas und zur Tätigkeit von Herrn SchwarzSchilling geschrieben haben, kann man zustimmen oder nicht. Aber eines ist klar - das hat auch Herr Stinner unterstrichen -: Es ist, und zwar zu Recht, an keiner Stelle davon die Rede, dass die Situation in Bosnien-Herzegowina auch weiterhin eine Bedrohung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit darstellt. Darüber sollte zwischen uns eigentlich Einigkeit herrschen. Die einzigen Fehlentwicklungen, die Ihren Antrag begründen sollen, sind die organisierte Kriminalität und die Korruption. Das gibt es aber auch bei uns. Wir würden doch nie auf den Gedanken kommen, diese Probleme mit dem Einsatz von Militär zu bekämpfen. ({3}) Wenn Sie meinen, dass die Institutionen in Bosnien-Herzegowina, die derartige Probleme eindämmen können, nämlich Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz, der Lage nicht gewachsen sind, dann fordern wir Sie auf: Stecken Sie die 74 Millionen Euro, die Sie der Bundeswehr zur Verfügung stellen wollen, in den Aufbau dieser Institutionen, damit sie in die Lage versetzt werden, Korruption und Kriminalität zu bekämpfen. ({4}) Wenn Sie ferner meinen, dass die Präsenz des Militärs für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung so wichtig sei - Herr Schwarz-Schilling hat dies nicht nur im Ausschuss gesagt, sondern auch öffentlich -, dann bedenken Sie, dass man dieses Gefühl viel besser mit sichtbarer Präsenz ziviler Institutionen wie der Polizei und einer funktionierenden Justiz erreichen kann. Stattdessen kürzen Sie die Mittel für den Stabilitätspakt für Südosteuropa von 30 Millionen Euro auf 15 Millionen Euro. Das ist genau der falsche Weg. ({5}) Beim Gefühl der Sicherheit geht es um Psychologie. Gerade ein Abzug des Militärs könnte der Bevölkerung signalisieren, dass keine Kriegsgefahr mehr besteht, dass das Land nunmehr auf einem eigenen, sicheren, souveränen Weg in die Zukunft ist. Mit einer anhaltenden Militärpräsenz würden Sie dagegen eine Gefahr vorspiegeln, die in der Realität schon seit längerem nicht mehr besteht. Deswegen lehnen wir diesen Antrag nunmehr zum zweiten Mal ab. Danke sehr. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile Marieluise Beck das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ganz kurz einen etwas prekären Sachverhalt ansprechen. Ohne dem umtriebigen Kollegen Stinner, der sein Amt als Beauftragter des Deutschen Bundestages für Bosnien und Herzegowina wunderbar wahrnimmt, nahe treten zu wollen, muss ich sagen: Wir Marieluise Beck ({0}) haben leider keine Deutsch-Bosnische Parlamentariergruppe. Ich halte das für einen Fehler. Bosnien ist ein Land, zu dem es kaum engere Verbindungen geben könnte, ein Land, mit dem wir in vielfältiger Weise verbunden sind. Die Bosnier sind sehr enttäuscht, dass es bis jetzt eine solche Parlamentariergruppe noch nicht gibt. Sie bräuchten dringend parlamentarischen Austausch mit uns, gerade weil die Nationalitäten und die Ethnien in Bosnien es miteinander oft so schwer haben. Ich würde darum bitten, dass wir, alle Fraktionen miteinander, darüber nachdenken, ob dieses Fehlen einer entsprechenden Gruppe nicht zu heilen ist. ({1}) Dass eine Parlamentariergruppe, die sich mit Südosteuropa befasst, nach Serbien, Kosovo und Montenegro fährt, aber um Bosnien herum, ist angesichts der politischen Bedeutung Bosniens und der Verbindungen, die wir zu diesem Land haben, nicht angemessen. Zu der heute anstehenden Entscheidung. Deutschland ist mit dem Fall der Mauer politisch in ein neues Zeitalter gestoßen worden. Wir mussten lernen, dass erwartet wird, dass wir an internationalen Interventionen teilnehmen. Auch wurde von uns die Einsicht erwartet, dass humanitäre Interventionen manchmal einen militärischen Teil brauchen. Ich will meine Redezeit an Sie nicht verschwenden, Herr Paech. Aber dass Sie Srebrenica, die Befreiung von Sarajevo und die Tatsache, dass das Ende des Mordens erst mit der Militärintervention kam, einfach unter den Tisch fallen lassen, das ist unglaublich. ({2}) Wenn wir im Zusammenhang mit Bosnien eines gelernt haben, dann doch das: Es kann sehr inhuman sein, nicht militärisch zu intervenieren. ({3}) Zu der Entwicklung in Bosnien. Dieses Land befindet sich im Stadium des Nation-Building. Das ist ein schwieriger Prozess, der in jedem Land mit anderen Instrumentarien zu leisten ist. Aber offensichtlich ist es überall ein Prozess, der unendlich viel Geduld braucht. Es wäre absurd, jetzt, nach den vielen Jahren, nach den Investitionen, die an Menschen und Finanzen geleistet worden sind, durch Ungeduld, durch Kurzatmigkeit das Erreichte zu zerstören. Deswegen ist es richtig, dass in verringertem Umfang Truppen bleiben. Ich will noch einmal sagen: Die Menschen in Bosnien - und zwar aller Ethnien - wünschen sich den Verbleib von „Althea“. Bosnien ist nach wie vor ein fragiler Staat; wir haben vor kurzem darüber gesprochen. Als Folge von Dayton hat Bosnien nach wie vor vollkommen unzureichende Grundlagen. Es kann noch gar kein richtiger Staat sein, weil seiner Verfassung fast alle wesentlichen Teile fehlen, die eine Nation braucht: Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für demokratische Rechte, es gibt keine Finanzverfassung, es gibt keine Schul- und Wissenschaftsverfassung, es gibt bisher keine rechtspolitische Verfassung und die unabhängige Justiz steckt in dramatischer Weise noch in den Kinderschuhen. Wenn man sich klar macht, dass dort ein Kriegsverbrecher in einer Entität zu einer Höchststrafe von 25 Jahren verurteilt werden kann, während es auf Staatsebene bis zu 45 Jahren sind, dann wird die Absurdität sehr offensichtlich. Man sieht daran, dass es noch kein gemeinsames Bosnien gibt. Daran muss gearbeitet werden. Dafür braucht Bosnien noch Zeit. Wir sollten noch einmal sehr gut überlegen, ob es nicht doch zu früh ist, das OHR-Mandat im kommenden Sommer abzuschließen und diesen Aktendeckel zuzumachen, weil damit die Bonn Powers verloren gehen. Wegen der Zentrifugalkräfte, die es in dem Land derzeit noch gibt, wegen des starken Nationalismus und wegen der Unvollkommenheit der Verfassung plädiere ich dafür, dass in jedem Fall ein Weg dafür gesucht wird, dass die Durchgriffsrechte für denjenigen, der dort als Repräsentant tätig sein wird - wer auch immer das sein wird -, weiterhin bestehen bleiben. Ich glaube, man braucht sie für den Aufbau dieses Landes und damit dieses Land in Frieden erwachsen werden kann. Schönen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht Gerd Höfer.

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hat man im parlamentarischen Spiel das Glück, die Gelegenheit zu haben, das Land, über das sich eine Streitfrage entwickelt hat, zu besuchen. Am 2. und 3. November 2006 war ich dank Peter Struck, der das für die SPD-Fraktion verantwortet hat, und anderer in Bosnien-Herzegowina. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir bestimmte Dinge aus unserer eigenen Sicht auf ein Land projizieren, während wir von dem Land nur relativ wenig wissen. Auch dank der fürsorglichen Begleitung des Botschafters wurde mir bei diesem Besuch gezeigt, wie es dort zurzeit in weiten Teilen aussieht. Wir wollen nicht darum herumreden. Ich nehme an, der Kollege SchwarzSchilling, mit dem ich in der Botschaft in Sarajewo habe reden können, wird nichts dagegen haben, dass ich sage, dass er am 6. November 2006 dem „Spiegel“ ein Interview gegeben hat, in dem steht, dass die Ankündigung von Dr. Jung, die Bundeswehr aus Bosnien abzuziehen, dort eine Diskussionslawine ausgelöst hat. Vier Tage vorher habe ich mir die Situation vor Ort angeschaut. Dr. Stinner, man kann das eine so und das andere anders sehen. Es gibt nichts, was nur gut oder nur schlecht ist. Die Diskussionslawine, die dort ausgelöst wurde, hat dazu geführt, dass man sich die Situation in Bosnien-Herzegowina genauer anschaut. Ich sage einmal, was die „loyal“, die Zeitschrift der Reservisten, vor wenigen Tagen veröffentlicht hat: Es ging von der Meinung eines Redakteurs, dass es dort einen schlafenden Krieg gebe, bis hin zur Aussage, Bosnien-Herzegowina sei relativ stabilisiert. Liebe Kollegin Beck, ich bitte darum, nicht immer den englischen Begriff „Nation Building“ zu verwenden. In Bosnien-Herzegowina tut die Antwort auf die Frage Not, ob sich dort eine Staatsbürgerschaft entwickelt, gleichgültig welcher Ethnie irgendjemand angehört. Eine Nation wird es nie werden. In diesem Zusammenhang hatten natürlich auch die Soldaten bestimmte Hoffnungen. Sie haben gesagt: Na gut, wenn die plakative Aussage verwirklicht wird, dann werden wir Weihnachten wieder zu Hause sein. - Aufgrund ihrer eigenen Einschätzung haben sie aber selbst gesagt: Dass es so nicht gehen wird, kann man erkennen, wenn man die Liaison and Observation Teams besucht hat. Ich hatte die Gelegenheit, einen Vormittag lang ein solches Team durch eine Kleinstadt mit etwa 5 000 bis 6 000 Einwohnern und deren Umfeld zu begleiten. Auch von den Menschen in Uniform, die dort mitten in der Gesellschaft wohnen, ist klar gesagt worden, dass eine sich selbst tragende Sicherheitsstabilität ohne Unterfütterung durch ein militärisches Angebot in BosnienHerzegowina noch nicht besteht. Meine Empfehlung weicht etwas von dem ab, was der Bundesminister der Verteidigung ausgeführt hat. Wenn man im Dezember mit einer Review beginnt, kann diese möglicherweise nicht vor Januar abgeschlossen werden, weil die Wahlen in Serbien auch eine Rolle spielen. Damit sind Risiken verbunden, die auf Bosnien-Herzegowina ausstrahlen können. Das geht auf eine unselige Verfassungsbestimmung zurück; die Ethnien - übersetzt heißt das: die Religionen - haben in Bosnien-Herzegowina ein Minderheitenrecht im Parlament erstritten. Übertragen wir das einmal auf den Bundestag. Ich nehme nur die zwei größten Religionen als Beispiel. Man stelle sich vor, was hier los wäre, wenn die Protestanten - um einen veralteten Begriff zu gebrauchen - ein Minderheitenvotum gegenüber den Katholiken hätten oder umgekehrt. Ich wage nicht einzuschätzen, wie die Wahlen in Serbien ausgehen und inwieweit sie nationalistische Tendenzen haben, zumal in der Verfassung festgeschrieben ist, dass das Kosovo auf ewig serbisches Hoheitsgebiet bleibt. Ich wage zurzeit nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Statusfrage des Kosovos geklärt wird - in welche Richtung auch immer -, ob nicht separatistische und ebenfalls auf die Religionsgemeinschaft bezogene Auseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina ausbrechen könnten. Denn das würde eine Signalwirkung haben. Von der Republik Srpska wurde seit langem angekündigt, dass ähnlich wie in Montenegro ein Referendum darüber entscheiden soll, ob sich die Republik Srpska nach Serbien orientiert. Dadurch würde sich das gesamte Staatsgebilde Bosnien-Herzegowina völlig anders darstellen als heute. Es gibt dort also noch jede Menge politische Risiken, die wir begleiten müssen. Allein durch Polizeikräfte, ohne dass die Stabilität von Soldaten bzw. der internationalen Gemeinschaft abgesichert wird, wird nichts zu erreichen sein. ({0}) Selbst wenn es inzwischen gelungen ist, ein Verteidigungsministerium für Bosnien-Herzegowina zu implementieren, sind die Soldaten, die von diesem Verteidigungsministerium befehligt werden sollen, immer noch rein ethnisch und religiös geprägt. Die Republik Srpska hat eine andere Struktur als die Allianz aus Kroaten und Bosniern. Das ist in diesem Fall unproblematisch, weil nicht von einem Krieg auszugehen ist. Anders verhält es sich, wenn man diese Verhältnisse auf die Polizeistruktur überträgt. Wenn der Innenminister keine Herrschaft über seine eigenen Polizeikräfte hat und auch bei diesen ethnische oder religiöse Gesichtspunkte eine Rolle spielten, dann wäre das Ziel einer selbst tragenden Stabilität sehr weit entfernt. Insofern ist die Ankündigung des Ministers, die in unserem Bundestagsmandat festgelegte Obergrenze zu senken, richtig. Das ist aber leider in Bosnien-Herzegowina so verstanden worden, dass die Zahl der 872 Soldatinnen und Soldaten, die sich zurzeit noch dort aufhalten, reduziert werden soll. Dass die Obergrenze gesenkt werden kann, steht außer Frage. Wie weit man das machen kann oder soll, sollte nach den Wahlen in Serbien bzw. nach einer Review im Dezember, Januar oder Februar entschieden werden, wenn die wichtigen politischen Fragen geklärt sind. Dann sollten wir uns allerdings an die mühselige Aufgabe begeben, eine Exitstrategie zu entwickeln, die allerdings konditioniert sein sollte. Eine Kondition könnte unter anderem darin bestehen, dass es von der Europäischen Gemeinschaft nicht hingenommen wird, dass die Verfassung ein ethnisches Minderheitenvotum vorsieht. ({1}) Diese Aufgabe fällt dann - wie Herr Dr. Stinner festgestellt hat - Gott sei Dank in die deutsche Hauptverantwortung, die sich durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, den deutschen Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina und einen deutschen Kommandeur ergibt. Ich denke, diese Aufgabe ist nicht nur hinreichend sinnvoll, sondern auch interessant. Denn dann könnte ein Stabilitätsanker in einem Bereich entstehen, der bisher noch nicht zur Ruhe gekommen ist und deshalb noch militärische Unterstützung braucht. Das wurde mir bei meinem Besuch auch von den Militärs bestätigt. Sie sehen darin eine sinnvolle Aufgabe. Ich bitte Sie herzlich um die breit gefächerte Zustimmung dieses Hauses. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem letzten Redner das Wort gebe, bitte ich darum, den Geräuschpegel zu senken. ({0}) Ich weiß, dass es untereinander viel zu besprechen gibt, aber ich glaube, die Debatte ist zu wichtig. Herr Kollege Freiherr zu Guttenberg, Sie haben das Wort. ({1})

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vergangenen Jahren ist in Bosnien-Herzegowina tatsächlich viel erreicht worden. Allerdings verharrt auch vieles in Stagnation; Kollege Stinner und Kollege Jung sowie andere haben in dieser Debatte darauf hingewiesen. Der gescheiterte Verfassungsprozess ist das eine, die stockende Polizeireform das andere. Wir können die Verantwortlichen vor Ort gar nicht mit genügend Nachdruck dazu aufrufen, beide Prozesse wieder in Gang zu bringen und auf diesem Weg fortzuschreiten, damit hier wieder Substanz geschaffen wird. ({0}) Die Errungenschaften, von denen wir sprechen, Herr Kollege Paech - Frau Beck, hier gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht -, sind auch und gerade auf die unterstützenden Leistungen unserer Bundeswehrsoldaten vor Ort zurückzuführen. ({1}) Daher können wir von einem erfolgreichen integrierten Ansatz in Bosnien-Herzegowina sprechen, der den zivilen Ansatz mit dem militärischen verzahnt. Seitens der Unionsfraktion gibt es genügend Gründe, unseren Soldaten wie den zivilen Kräften vor Ort sehr zu danken. ({2}) Dieser einmal im Jahr ausgesprochene Dank dürfte angesichts der Belastungen und Entbehrungen vor Ort sowie des Verzichts auf Familie und gewohnte Umfelder - das gilt sowohl für die zivilen als auch für die militärischen Kräfte - manchmal etwas breiter ausfallen. Umso unwürdiger ist die Behandlung durch manche hier im Saal, die dem keine Beachtung schenken. Ich glaube, unsere Soldaten haben mehr verdient als das. ({3}) Die Arbeit des Hohen Repräsentanten Christian Schwarz-Schilling wurde heute schon einige Male blumenreich hervorgehoben. Ich schließe mich diesem Reigen gerne an und danke ihm seitens der Unionsfraktion für seinen Einsatz herzlich. Er ist jemand, der mit profundem historischen Wissen an die Sache herangeht und die Region kennt, der aber, wenn es geboten ist, Härte zeigt - Stichwort „Bonn Powers“ -, und zwar in Verbindung mit konstruktiven Ansätzen. Christian SchwarzSchilling, auch von unserer Seite herzlichen Dank für diese Arbeit. ({4}) Noch ein Wort zur Entscheidung von Riga in den letzten beiden Tagen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro die Tür für PfP zu öffnen. Diese Tür war bislang nur quietschend zu öffnen. Das Ausmaß der Weisheit dieser Entscheidung werden wir wahrscheinlich erst nach den Wahlen in Serbien am 21. Januar nächsten Jahres ermessen können. Mir ist sehr wichtig, hervorzuheben, dass es in unserem Interesse liegt, dass die Perspektive der NATO-Mitgliedschaft und die einer europäischen Mitgliedschaft gerade im Hinblick auf Serbien aufrechterhalten wird. Aber wir dürfen mit unseren Grundsätzen nicht brechen. In diesem Kontext ist es mir - mit Blick auf die Bundesregierung - wichtig, deutlich zu machen, dass wir auch nach der Entscheidung in den letzten beiden Tagen immer wieder darauf hinweisen, dass die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof all das erst begründet, was in Zukunft gewährleistet werden kann. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. ({5}) Deutschland wird im Rahmen der doppelten Präsidentschaft im kommenden Jahr - darauf wurde bereits hingewiesen - aufgerufen sein, ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl, Kreativität und Fertigkeiten an den Tag zu legen, insbesondere wenn es um die Lösung einer der Schlüsselfragen dieser Region, den Status des Kosovo, und darum geht, dies konfliktfrei zu gestalten und ein Übergreifen dieses Problems auf Bosnien-Herzegowina zu verhindern, Stichwort „Republika Srpska“. Wir müssen vorsichtig vorgehen. Gerade vor diesem Hintergrund bleibt die Verlängerung der Mission „Althea“ das Gebot der Stunde und unverzichtbar. Wir müssen Konflikte vermeiden. Das lässt sich nicht ohne eine militärische Präsenz herstellen. Von daher ist die Verlängerung in unserem Interesse. Die Union unterstützt den Antrag der Bundesregierung und wird ebendiesem Antrag zustimmen. ({6}) Insgesamt handelt es sich bei „Althea“ in unseren Augen um ein Erfolgsmodell europäischer Verantwortung, das für andere Partner kein Gegengewicht bedeutet und das nicht im Gegensatz zu anderen Organisationen wie der NATO entwickelt wurde; vielmehr gibt es Verschränkungen, Verzahnungen. Komplementäres Handeln steht im Vordergrund. Ein solches Erfolgsmodell ist letztlich ein Zukunftsmodell, möglicherweise auch für andere Einsätze. Wir können stolz auf das sein, was mit „Althea“ in der Region geleistet wurde. Wir haben immense Aufgaben zu lösen. Von daher ist die VerlängeKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg rung dieses Mandats notwendig. Wir bitten Sie alle um Unterstützung. Herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses, Druck- sache 16/3636, zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- sache 16/3521 anzunehmen. Es ist namentliche Abstim- mung verlangt. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass sie nur eine Stimmkarte einwerfen, die auch ihren Na- men trägt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne hiermit die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Heizkostenzuschüsse für einkommensschwache Privathaushalte ermöglichen - Drucksache 16/3351 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte Sie, Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen, und erteile das Wort dem Kollegen Hans-Kurt Hill, Die Linke. ({1})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste und alle, die mir zuhören oder die mir nicht zuhören! 1) Ergebnis Seite 6994 D ({0}) Rund 1 Million Menschen in Deutschland müssen dieses Jahr Wohngeld in Anspruch nehmen. Die bisherige Art dieser Mietzuschüsse ist völlig ungeeignet, um armen Haushalten konsequent zu helfen. Das hat zwei Gründe: Erstens. Die Energiekosten sind explosionsartig gestiegen. Zweitens. Ausgerechnet für Heizung und warmes Wasser gibt es keinen Zuschuss. Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Mieten sind in den letzten fünf Jahren um 5 Prozent gestiegen, aber die Energiekosten für Privathaushalte sind im gleichen Zeitraum um 30 Prozent gestiegen. ({1}) Rechnen Sie einmal weiter! Allein der Anstieg der Energiepreise seit 2004 macht mittlerweile den Gegenwert von fast zwei Monatsmieten aus. Was ist mit dem Einkommen? Gerade in den unteren Lohngruppen ist es praktisch gleich geblieben. ({2}) - Es ist eher weniger, ja. ({3}) Wer mit wenigen Hundert Euro pro Monat auskommen muss, wohnt oft in schlecht isolierten Wohnungen, das heißt zugige Fenster anstelle von Doppelverglasung, der Geiz-ist-geil-Kühlschrank anstelle eines Energiesparmodells der Kategorie „AAA+“, Durchlauferhitzer mit hohem Verbrauch anstelle der Zentralheizung mit Warmwasserversorgung. So könnte man die Aufzählung weiterführen. Ich bin mir aber sicher, dass Menschen mit so wenig Geld in der Tasche uns in Sachen Energiesparen trotzdem noch einiges vormachen. Wer aber glaubt, diese Bürgerinnen und Bürger könnten noch mehr Energie einsparen, hat den Ernst der sozialen Schieflage in Deutschland nicht begriffen. ({4}) Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist es unsere Pflicht, zu handeln. Hier müssen wir handeln. ({5}) Der gravierende Mangel im Wohngeldgesetz muss sofort behoben werden. Heiz- und Warmwasserkosten müssen für wohngeldberechtigte Haushalte in angemessener Höhe erstattungsfähig werden. ({6}) - Ich entnehme der Unruhe: Jeder wird wieder fragen: Woher soll das Geld kommen? ({7}) - Das sagen Sie in Ihrer Leichtfertigkeit. - Ich sage: Die Gegenfinanzierung ist sehr einfach. Über die Mehrwertsteuer profitiert auch der Finanzminister vom jetzigen Energiepreiswucher. Schrauben die Energiekonzerne die Preise hoch, füllt sich auch Steinbrücks Haushaltskasse. Erzählen Sie uns bitte nicht, Sie hätten kein Geld, den armen Haushalten zu helfen! Sie haben in den letzten Monaten eine beispiellose Steuerbefreiungsorgie zugunsten der Konzerne betrieben, und zwar ohne dass die Bundesregierung dafür eine echte Gegenleistung verlangte. Und wie ist es bei Wohngeldempfängern und Hartz-IVEmpfängern? Diese - das kann man nur immer wieder sagen - müssen sich quasi für ein „Handgeld“ vor den Behörden ausziehen. Machen Sie endlich Schluss damit und geben Sie das Geld an die Leute weiter, die es ehrlich brauchen! Denn für die armen Haushalte in Deutschland kommt es noch dicker: Erstens. Die Mehrkosten für Energie werden sich in diesem Winter gegenüber dem letzten Jahr noch einmal verdoppeln. Zweitens. Die von Ihnen beschlossene unsinnige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent bringt die armen Haushalte vollends in Existenznot. Sagen Sie mir: Wie soll da noch eine gesellschaftliche Teilhabe sichergestellt werden, wenn es heißt: keine warme Wohnung und kein warmes Wasser und - in der Konsequenz - kein Weihnachtsmärchenbesuch mit den Kindern, kein Weihnachtsgeschenk, kein Besuch bei Oma und Opa, kein Weihnachtsbraten oder sogar kein Tannenbaum? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, machen Sie Schluss mit der Umverteilung von unten nach oben! Sie entscheiden, ob es in Deutschland in vielen Wohnungen kalt oder warm ist. Sie entscheiden das. ({8}) Eines möchte ich Ihnen noch sagen: In diesem Land ist keiner freiwillig arm. ({9}) Ich möchte nicht, dass in Deutschland jemand gezwungen ist, im Winter zu frieren, weil er sich die Heizung nicht leisten kann. Ich sage Ihnen eines: In vier Wochen ist Weihnachten! Tun wir etwas! Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Antrag der Bundesregierung mit dem Titel „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“ zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“, Drucksachen 16/3521 und 16/3636, bekannt: Abgegebene Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 46, Enthaltungen 2. Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 534; davon ja: 486 nein: 46 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Carl-Eduard von Bismarck Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert ({1}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({9}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Ingbert Liebing Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({11}) Maria Michalk Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({12}) Stefan Müller ({13}) Bernward Müller ({14}) Dr. Gerd Müller Henry Nitzsche Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({15}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({16}) Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({17}) Ingo Schmitt ({18}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Andreas Storm Max Straubinger Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({19}) Gerald Weiß ({20}) Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Wolfgang Zöller SPD Dr. Lale Akgün Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({21}) Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({22}) Kurt Bodewig Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({23}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Karl Diller Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Angelika Graf ({24}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({25}) Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Iris Hoffmann ({26}) Frank Hofmann ({27}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({28}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({29}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel ({30}) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({31}) Michael Müller ({32}) Gesine Multhaupt Dr. Rolf Mützenich Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Maik Reichel Gerold Reichenbach Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({33}) Michael Roth ({34}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({35}) Axel Schäfer ({36}) Bernd Scheelen Marianne Schieder Otto Schily Silvia Schmidt ({37}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({38}) Carsten Schneider ({39}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({40}) Swen Schulz ({41}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Jörg-Otto Spiller Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Dr. Peter Struck Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Jörn Thießen Hans-Jürgen Uhl Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({42}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({43}) Heidi Wright Uta Zapf Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Daniel Bahr ({44}) Ernst Burgbacher Patrick Döring Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({45}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel ({46}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg Rohde Dr. Konrad Schily Marina Schuster Dr. Max Stadler Florian Toncar Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({47}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({48}) Volker Beck ({49}) Cornelia Behm Birgitt Bender Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Uschi Eid Hans Josef Fell Kai Gehring Anja Hajduk Britta Haßelmann Peter Hettlich Priska Hinz ({50}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Renate Künast Undine Kurth ({51}) Markus Kurth Monika Lazar Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Kerstin Müller ({52}) Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Krista Sager Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Wolfgang Wieland Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Willy Wimmer ({53}) SPD Petra Hinz ({54}) FDP Joachim Günther ({55}) Jürgen Koppelin DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Dr. Lothar Bisky Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Klaus Ernst Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Cornelia Hirsch Inge Höger-Neuling Dr. Barbara Höll Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Jan Korte Michael Leutert Ulla Lötzer Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kersten Naumann Wolfgang Nešković Petra Pau Bodo Ramelow Paul Schäfer ({56}) ({57}) Dr. Ilja Seifert Dr. Petra Sitte Frank Spieth Dr. Kirsten Tackmann Jörn Wunderlich fraktionslos Gert Winkelmeier Enthalten CDU/CSU Peter Albach FDP Wir kehren zurück zur Debatte. Ich gebe das Wort dem Kollegen Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion. ({58})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute einen Antrag der Fraktion Die Linke, welcher Heizkosten- und Warmwasserzuschüsse für einkommensschwache Privathaushalte im Rahmen der Wohngeldbewilligung ermöglichen soll. Der Antrag stellt darauf ab, das Wohngeldgesetz entsprechend zu ändern. Kosten für Heizung und Warmwasser sollen für wohngeldberechtigte Haushalte dauerhaft und sogar noch in der jetzt laufenden Heizperiode 2006/2007 erstattungs- bzw. zuschussfähig werden. ({0}) Mit dem Antrag der Linken würden Inhalt und Umfang des Wohngeldes signifikant erweitert werden. Wohngeld wird Mietern und Eigentümern gezahlt, wenn die Höhe ihrer Miete oder Belastung für angemessenen großen Wohnraum die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihres Haushalts überfordert. Seit 40 Jahren werden die Wohnkosten einkommensschwacher Mieter und selbst nutzender Eigentümer durch das Wohngeld bezuschusst. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD steht: Das Wohngeld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Wohnens dienen. Wir haben dort aber auch klar und deutlich formuliert - ich zitiere -: Wohngeld ist keine Subvention, sondern eine Fürsorgeleistung. Wir haben dies so festgeschrieben, da es zur Sanierung unserer Haushalte unerlässlich ist, alle Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen. Außerdem haben wir festgelegt, dass Bund und Länder das Wohngeldrecht zügig mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen werden. Vorarbeiten dazu wurden schon durch die Bauministerkonferenz getätigt. Wir sind optimistisch, dass der daraus resultierende Gesetzentwurf im kommenden Jahr beraten werden kann. Bereits im Rahmen der Gesetzgebung zu Hartz IV wurde das Wohngeld umfassend strukturell überarbeitet. Hierbei wurde eine klare Abgrenzung der Zahlung des Wohngeldes zum Transferleistungssystem für Hartz-IVEmpfänger vorgenommen. Wohngeld sollte wieder als originär wohnungspolitisches Instrument auf einen Kernbereich von Leistungsempfängern zurückgeführt werden. Zu diesen Leistungsempfängern gehören Menschen, die zwar ihren allgemeinen Lebensunterhalt, nicht aber ihre Wohnkosten vollständig durch eigenes Einkommen decken können. Als Wohngeldempfänger verbleiben nur noch Gruppen, die finanziell nicht in der Lage sind, ihre Wohnkosten vollständig aus eigenem Einkommen zu decken, und kein Arbeitslosengeld II erhalten. Überwiegend sind das Familienhaushalte von Geringverdienern und Haushalte von Arbeitslosengeld-IEmpfängern sowie Rentnerhaushalte. Mit der Wohngeldvereinfachung im Rahmen des Hartz-IV-Gesetzes hat sich die Struktur der Wohngeldempfänger stark verändert. Die Anzahl der Empfänger von Wohngeld ist erheblich zurückgegangen. Hierfür gibt es zwei Gründe: Erstens. Nach dem Ausschluss der Transferleistungsempfänger vom Wohngeldbezug sind bei weitaus mehr Haushalten Unterkunftsleistungen des Transferleistungssystems an die Stelle des Wohngeldes getreten als erwartet. Zweitens hat die Erweiterung der Zuverdienstmöglichkeiten im SGB II diese Entwicklung beschleunigt. So gab es im Jahre 2004 in Deutschland rund 3,5 Millionen Wohngeldempfängerhaushalte. Nach ersten Schätzungen ist die Zahl aber stärker abgesunken als erwartet. Am Jahresanfang 2006 bezogen noch rund 750 000 Haushalte Wohngeld. Das Wohngeld senkt im Gegensatz zur Unterstützung durch Transferleistungen die Mietbelastung durch einen Zuschuss zur Bruttokaltmiete lediglich ab. Für den einzelnen Wohngeldempfänger bleiben Wohnkosten deshalb spürbar. Für ihn besteht somit immer ein Anreiz, sich eine preisgünstigere Wohnung zu suchen oder Energie zu sparen. Zum Energiesparen gehört eben auch ein schonender Umgang mit Wasser und der angemessene Umgang mit der Heizung. Für ihn besteht deshalb immer ein Anreiz, eine Wohnung mit niedrigen Heizkosten bei der Wohnungssuche vorzuziehen. ({1}) Es entsteht somit ein Marktdruck - jetzt kommt der Punkt - für Vermieter, bestehende Mietwohnungen energetisch zu optimieren, weil es eine Nachfrage nach optimierten Wohnungen gibt. Das sind notwendige und bewährte Anreizmechanismen, die wir als Union nicht bereit sind, aufzugeben. ({2}) Ziel ist aber auch die Einhaltung einer tragbaren und angemessenen Wohnkostenbelastung. Über die Angemessenheit der Höhe des staatlichen Zuschusses ist in der Vergangenheit - das zeigt auch die heutige Debatte stets kontrovers debattiert worden. Ich erinnere mich an Debatten beispielsweise in Landtagen, wo immer wieder einmal der Antrag gestellt wurde, man solle den Zuschuss wegen der steigenden Nettokaltmieten erhöhen. Es bestand somit immer schon das Begehren, den berechtigten Haushalten mehr Zuschüsse zu zahlen. Für die Bestimmung der Angemessenheit der Höhe des staatlichen Zuschusses ist meines Erachtens ein Mittelweg, der sich an der Leistungsfähigkeit des Staates und den möglichen Eigenleistungen des Empfängerhaushaltes orientiert, zu wählen. Die Linksfraktion greift das Thema nun nicht aufgrund der Steigerung der Nettomieten auf, sondern aufgrund der Steigerung der Heiz- und Warmwasserkosten. Im Ergebnis bleibt die politische Frage, was sich der Sozialstaat noch zusätzlich leisten kann bzw. was der Haushalt noch hergibt. Mein Fazit: Eine Übernahme der Mehrbelastungen durch Neben- und Heizkosten wäre energiepolitisch unvernünftig. Es würde dem Anreiz zum sparsamen Umgang mit Energie zuwiderlaufen, bei Mietern und vor allem auch bei Vermietern. Aus fiskalischen und energetischen Gründen lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Hill zulassen, Herr Kollege?

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe meine Rede schon beendet.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie sind schon am Ende Ihrer Rede. Vielen Dank. Der Kollege Joachim Günther, FDP, hat das Wort. ({0})

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den Antrag, den die Linke hier gestellt hat, nicht pauschal in Grund und Boden reden. Aber, Herr Hill, was Sie zuletzt gesagt haben, war Polemik, die diesem Anliegen nicht gerecht wird. ({0}) Sie sind in einer Art mit den Gefühlen von Menschen umgegangen, die jeglicher Realität entbehrt. ({1}) - Nein, ich werde es Ihnen erklären, ganz in Ruhe. - Ich möchte zunächst sagen, warum wir Ihrem Antrag in dieser Art nicht zustimmen können, aber natürlich auch Vorschläge machen, was man unternehmen kann. Sie haben in Ihrem Antrag selbst Eckpunkte der Entwicklung auf dem Immobilienmarkt in den letzten fünf Jahren dargelegt. Sie haben von einer Mieterhöhung um 5 Prozent gesprochen. Dazu muss man allerdings sagen, dass es in unserem Land Gebiete mit Mieterhöhungen und Gebiete mit Mietrückgängen gibt. Das heißt, die Miete ist nicht das Problem, sondern die Betriebskosten. ({2}) Auch das wurde hier deutlich gesagt. Bei den Betriebskosten gab es deutliche Steigerungen: bei Gas rund 35 Prozent, bei Heizöl 33 Prozent, bei Strom 24 Prozent. Ich nenne diese Zahlen ganz bewusst. Hinzu kommen andere Nebenkosten. Für Wasser, Abwasser und Müll kann man im Prinzip noch einmal 10 Prozent hinzurechnen. All das sind Kosten, die - damit geht keine Fraktion in diesem Haus leichtfertig um - von einkommensschwachen Bürgern nur schwer getragen werden können. Genau an dieser Stelle muss man die Frage stellen, wie es zu diesen Kostensteigerungen gekommen ist. Da muss man einmal genau hinschauen, zum Beispiel welche Steuererhöhungen wir in den letzten fünf Jahren durchgeführt haben. Dann sieht man, wie die Ökosteuer diese Kosten nach oben getrieben hat. ({3}) All das stellt einen Kreislauf dar, der meines Erachtens auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise nicht zu durchbrechen ist. ({4}) - Dann rechnen Sie einmal durch, wie viel von der Gaspreiserhöhung durch die Steuererhöhungen zustande gekommen ist. Wenn wir nach vorn blicken, sehen wir, dass es im nächsten Jahr wieder einen großen Sprung geben wird: durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte und durch die Erhöhung der Versicherungsteuer. Im Übrigen sind Sie als PDS an der Erhöhung der Nebenkosten direkt beteiligt. Schauen Sie nach Berlin; da haben Sie die Grundsteuer kräftig angehoben. All das wird auf die Mieter niederprasseln und die Mietnebenkosten noch einmal deutlich erhöhen. ({5}) Da reicht es nicht, die Bundesregierung aufzufordern, das Wohngeldgesetz zu ändern und mehr Geld einzusetzen. Die Bundesregierung hat neben den einkommensschwachen Haushalten ja auch die ALG-II-Empfänger in eine Situation gebracht, in der sie ihnen helfen muss. Sie hätten sich einmal die Kosten anschauen sollen. Dann hätten Sie festgestellt, dass die Finanzierung so einfach nicht funktioniert. Es ist ein Teufelskreis, aus dem man schlecht herauskommt. Ein zweiter Punkt kommt hinzu; der Kollege Storjohann hat ihn schon angesprochen. Wenn wir Warmwasser und Heizung aus den Kosten herausnehmen und zusammen mit dem Wohngeld übernehmen lassen, wo bleibt dann der private Anreiz, etwas einzusparen? Auch das widerspricht dem Prinzip der Eigenverantwortung. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zulassen? - Bitte schön.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Günther, Sie haben zu Recht angesprochen, dass die Mietpreissteigerungen nicht nur mit den Energiekosten, sondern auch mit anderen Kosten zusammenhängen; es sind aber im Wesentlichen die Energiekosten. Da wir über die Finanzierung und die Teilhabe der Gesellschaft sprechen, habe ich folgende Frage: Wenn wir über den Emissionshandel 10 Prozent der Emissionszertifikate versteigern würden, hätten wir Mehreinnahmen von 5 Milliarden Euro, die wir zurzeit der Energieindustrie schenken. Glauben Sie, dass wir im Falle einer Versteigerung der Emissionszertifikate in der Lage wären, den armen Haushalten die Kosten zu vergüten?

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann mir sehr viele Punkte vorstellen, bei denen man theoretisch eine finanzielle Grundlage zum Beispiel für die Bezahlung von mehr Wohngeld nachweisen kann. Ich weiß, wie oft es in diesem Haus schon eine Diskussion über den Emissionshandel gegeben hat. Man kann beispielsweise beschließen, den Einsatz in AfghaJoachim Günther ({0}) nistan nicht zu verlängern und das Geld umzuschichten. Das sind aber alles Dinge, die das Wohngeld und den Haushalt, an den es gezahlt wird, nicht betreffen. Ich möchte das gleich weiterführen, weil das eine Diskussion ist, um die sich viele im Moment leider etwas drücken. Es geht um die Zahlung von Unterkunft und Heizung für die ALG-II-Empfänger. Ich habe das einmal an einem Rechenbeispiel dargestellt, das sich auf meinen Wahlkreis bezieht; die Zahlen sind je nach Kreis sehr unterschiedlich: Eine Familie mit zwei Kindern erhält in unserem Wahlkreis einen Zuschuss für Wohnung und Heizkosten in Höhe von bis zu 506 Euro im Monat. - Ich muss das vereinfachen, sonst reicht die Zeit nicht. - Eine Familie in vergleichbarer Größe mit einem monatlichen Einkommen von 1 500 Euro in einer vergleichbaren Wohnung, die diese Miete kosten würde, bekommt im Moment 130 Euro Wohngeld. Das heißt, die Familie, die ALG II bezieht, hat im Monat 100 Euro netto mehr zur Verfügung als die Familie, die ihr Einkommen aus dem Niedriglohnsektor bezieht. Angesichts dieses Sachverhalts muss man fragen: Stimmt die Relation noch? Gibt es überhaupt einen Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen? Oder müssen wir nicht darüber nachdenken, ein neues und für alle einheitliches Wohngeld einzuführen? ({1}) Ich bin sicher: Wenn wir im Rahmen von ALG II weiterhin Wohnkosten, Heizkosten und andere Kosten komplett zahlten, wäre dies auf Dauer nicht oder nur sehr schwer finanzierbar. ({2}) Die Länder würden große Probleme bekommen. Unsere Schlussfolgerung ist deshalb, an den Grundlagen etwas zu ändern. Für uns gehört dazu, dass die Steuern gesenkt werden müssen. Wenn wir in dieser Richtung vorankommen, dann wird sich die Kostenspirale nicht weiter drehen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion erteile ich Sören Bartol das Wort. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrem Antrag fordert die Linke eine Änderung des Wohngeldgesetzes. Sie wollen Wohngeldbeziehern die Kosten für Heizung und Warmwasser dauerhaft und in vollem Umfang erstatten. Sie begründen dies mit stark gestiegenen Energiekosten. Unbestritten ist: Die Energiekosten sind gestiegen. Ob jedoch Transferleistungen hier eine angemessene Reaktion darstellen, wage ich zu bezweifeln. Aber dazu später mehr. Zunächst zur Ausgangslage. Sie sprechen von 5,2 Millionen Haushalten in Deutschland, die laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro auskommen müssen. Die Zahl ist zwar richtig; sie hat aber nur wenig mit Ihrem Antrag zu tun. Die große Mehrheit dieser Menschen ist durch Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter abgesichert. Mit den seit 2005 geltenden Änderungen des Wohngeldrechtes sind sie vom Wohngeld ausgenommen. Bei ihnen werden die Unterkunftskosten nämlich bereits im Rahmen der jeweiligen Sozialleistungen berücksichtigt. Konkret heißt das: Der Staat übernimmt die angemessenen Wohnkosten inklusive Nebenkosten. Diese Haushalte sind durch den Energiepreisanstieg finanziell also nicht betroffen. Damit sorgt der Gesetzgeber dafür, dass eine große Gruppe Bedürftiger, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten kann, abgesichert ist. Für Arbeitslose etwa, die im Jahr 2004 mit fast 40 Prozent die mit Abstand größte Gruppe unter den Antragstellern von Wohngeld ausmachten, hat die Gesetzesänderung gerade in dieser Hinsicht eine klare Verbesserung gebracht. Auch das kann an dieser Stelle ruhig einmal gesagt werden. ({0}) Der Bund zahlt jährlich Milliardenbeträge für Wohngeld und Unterkunftskosten im Rahmen von Hartz IV. Allein für Wohngeld hat der Bund im Jahr 2005 über 1 Milliarde Euro ausgegeben. Im Haushalt 2006 ist genau 1 Milliarde Euro veranschlagt. Bis September dieses Jahres waren davon 833 Millionen Euro verausgabt. Das ist gut so. Denn damit leistet der Staat einen wesentlichen Beitrag, um eine angemessene Wohnraumversorgung für einkommensschwache Haushalte sicherzustellen. Wir stehen zu unserer sozialen Verantwortung. Hier wird eines ganz deutlich: Ihre Mär von einem Staat, der sich aus seiner sozialen Verantwortung stiehlt, ist an den Haaren herbeigezogen. Die Gerechtigkeitsfrage, wie sie in Ihrem Antrag formuliert ist, stellt sich an diesem Punkt gerade nicht. Wenn wir über Bezieherinnen und Bezieher von Wohngeld sprechen, reden wir über 1 Million Haushalte, die in besonderem Maße von gestiegenen Energiepreisen betroffen sind. Wohlgemerkt reden wir hier nicht über Menschen mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum; wir reden über Menschen, die ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien aus eigener Kraft bestreiten können. Menschen, die jedoch angesichts hoher Mietbelastungen oder anderer Lasten nicht in der Lage sind, ihre Wohnung allein zu bezahlen, gewährt der Staat einen Zuschuss zu den Wohnkosten. Wohngeld ist also keine Leistung zur Sicherung des Existenzminimums. Es ist ein ergänzender Beitrag. Ganz klar: Wohngeld ist und bleibt ein essenzieller Teil unserer Wohnungspolitik. Seit den 50er-Jahren sorgt es dafür, einkommensschwachen Haushalten ein angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Es ist ein wichtiges und bewährtes Instrument, das immer als Zuschuss des Staates zur Bruttokaltmiete definiert war - zum einen, weil es bewusst so angelegt ist, dass die Bezieherinnen und Bezieher den Großteil ihrer Wohnkosten selbst finanzieren, und zum anderen, um den Bezug unnötig großer oder aufwendiger Wohnräume zu verhindern und Anreize zum Energiesparen zu setzen. Das halte ich für richtig. ({1}) Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass Nebenkostenabrechnungen aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise für viele Mieterinnen und Mieter zu einem Problem geworden sind. Allein zum Energiesparen aufzurufen kann da wie Hohn klingen. Wenn aber Bezieherinnen und Bezieher von Wohngeld tatsächlich durch eine Heizkostenabrechnung die Grenze des Existenzminimums unterschreiten sollten, haben sie die Möglichkeit, für den jeweiligen Monat ergänzende Leistungen zu beantragen. Klar ist aber auch: Der Staat kann nicht alles finanzieren, was irgendwie wünschenswert wäre. Er greift nur dort ein, wo Hilfe nötig ist. Genau das tut er an dieser Stelle. Ebenso klar gesagt werden muss: Wir können nicht jedes Problem in diesem Land durch Transferleistungen lösen. Hohe Energiepreise verlangen eine andere Reaktion. Haben Sie sich einmal gefragt, welche Signalwirkung sich für die Energiekonzerne aus Ihrem Antrag ergeben würde? Die von Ihnen geforderte Änderung des Wohngeldgesetzes wäre ein Anreiz, die Energiepreise weiter anzuziehen, da der Staat die Nebenkostenabrechnungen seiner Bürgerinnen und Bürger ohnehin finanziert, sobald die Belastungsgrenze überschritten wird. ({2}) Auch auf Verbraucherseite kann die schlichte Übernahme der Kosten für Heizung und Warmwasser in voller Höhe keine Option sein. Sie würde vielmehr das, was angesichts steigender Energiepreise und knapper werdender Ressourcen erforderlich und auch ökologisch dringend notwendig ist, nämlich eine Verhaltensänderung der Verbraucher hin zu einem geringeren Energieverbrauch, konterkarieren. Die Frage, welche politischen Konsequenzen hohe Energiepreise und daraus resultierende steigende Wohnkostenbelastungen erfordern, wird in Ihrem Antrag unbeantwortet gelassen. Sie setzen sich in Ihrem Antrag mit einem Symptom auseinander und ignorieren die Ursachen. Wie so viele Ihrer Forderungen bleiben Sie dabei an der Oberfläche. ({3}) Nachhaltige Politik sieht anders aus. Ihr geht es um Konzepte, die die Lebenssituation der Menschen in diesem Land nachhaltig und tief greifend verbessert. Was bedeutet das im vorliegenden Fall der gestiegenen Energiekosten? Energieeffizienz heißt das Stichwort. Damit Wohnen für alle bezahlbar bleibt, müssen wir die Wohnungen und Häuser energetisch weiter verbessern, um so die Belastungen der Mieter und Eigenheimbesitzer zu reduzieren. Deshalb forcieren wir umfassende energetische Sanierungen des Gebäudebestandes, die gleichzeitig zur Reduktion von CO2-Emissionen beitragen. Welche Wirkungen sich hier erzielen lassen, zeigen die bisher ergriffenen Maßnahmen. ({4}) - Ich lasse die Zwischenfrage nicht zu.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie lassen sie nicht zu?

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Mit der Energieeinsparverordnung und dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm konnte der Heizenergieverbrauch je Quadratmeter Wohnfläche in den letzten 20 Jahren um etwa 40 Prozent gesenkt werden. Diese Potenziale gilt es weiter auszuschöpfen. Deshalb haben wir die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Seit Beginn dieses Jahres wurde die energetische Sanierung von mehr als 550 000 Wohnungen mitfinanziert. Davon profitieren Mieterinnen und Mieter durch sinkende Heizkostenabrechnungen; denn mehr als ein Drittel aller Energie in Deutschland wird für das Heizen von Wohnungen und die Warmwasseraufbereitung genutzt. Durch Sanierungen an Fassaden, die Verbesserung der Wärmedämmung sowie die Modernisierung der Heizung und Fenster können Mieter und Hausbesitzer bis zu 25 Prozent Energie sparen. Das senkt die Nebenkosten und die finanziellen Belastungen der Haushalte. Auch bei der Wohnungsauswahl wird die Energieeffizienz immer mehr zu einem Schlüsselkriterium. Hier wird der Energieausweis neben dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm zu einem wichtigen Instrument für Mieterinnen und Mieter, das für Transparenz sorgen und längerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird. Von diesen Maßnahmen und Angeboten profitieren Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie Städte und Gemeinden. Das Gebäudesanierungsprogramm ist aber nicht nur ökologisch sinnvoll und ein wichtiger, überfälliger Beitrag zum Klimaschutz. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist es ein Erfolg. Es sichert Arbeit und Beschäftigung in Deutschland; denn mit jeder in die Gebäudesanierung investierten Milliarde werden 25 000 Arbeitsplätze geschaffen. Das ist nachhaltige Politik. ({0}) So wie die staatliche Förderung des Wohnungsbaus und die Steigerung der Energieeffizienz einkommensschwachen Bevölkerungskreisen mittelbar helfen, eine angemessene Wohnung zu erhalten, unterstützt das Wohngeld durch einen Miet- bzw. Lastenzuschuss unmittelbar Mieter und Eigentümer, die hohe Mieten und Lasten nicht tragen können. Hieran gibt es nichts zu rütteln. Die Koalition hat sich vorgenommen, das WohnSören Bartol geld auf dieser Grundlage fortzuentwickeln, aber nicht wie Sie durch einen Schnellschuss. Ihr Antrag, in dem Sie die volle Übernahme der Heizkosten für einkommensschwache Haushalte fordern, kennt kein Maß und keine Grenzen. Er ist, wie mein Kollege von der FDP schon gesagt hat, populistisch. Sinnvoll ist er aber ganz sicher nicht. Danke schön. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Kurt Hill.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Bartol, Sie haben die Energieeffizienz, das Gebäudesanierungsprogramm und viele Dinge mehr angesprochen, die mit Sicherheit notwendig sind und die wir wie Sie unterstützen. Wenn Sie unseren Antrag zum Haushalt gelesen haben, dann haben Sie feststellen können, dass wir, was das Gebäudesanierungsprogramm betrifft, sogar die doppelte Summe gefordert haben. ({0}) - Ich sage nur: 5 Milliarden Euro aus dem Emissionshandel und das alles wäre gar kein Problem. ({1}) Aber darum geht es mir gar nicht. Es geht mir darum, dass arme Haushalte in Wohnungen wohnen, die all das, was Sie beschreiben, nicht haben. Diese Haushalte haben entsprechend hohe Nebenkostenabrechnungen, gegen die sie sich nicht wehren können, und werden deshalb diesen Winter ein Problem bekommen. Wir werden darüber noch zu reden haben. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zur Erwiderung Herr Kollege Bartol.

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Hill, genau so kennen wir die Linkspartei bzw. die PDS: überall das Doppelte, immer etwas oben drauf, immer schön populistisch. Ich weiß nicht, wie oft Sie die 5 Milliarden Euro aus dem Emissionshandel in dieser Debatte schon für dieses oder jenes verteilt haben. ({0}) Irgendwann muss einmal Schluss mit dem Verteilen sein. ({1}) - Lassen Sie mich doch mal ausreden. Wir müssen das Geld, das wir haben, zielgerichtet einsetzen. Ich glaube, das haben wir getan. Wir halten am Wohngeld fest. Die Koalition hat sich vorgenommen, das Wohngeld weiterzuentwickeln. Es wird dabei sicherlich immer wieder zu Verbesserungen kommen. Ganz wichtig ist: Die Wohnungen, in denen die Mieter wohnen, die Sie gerade angesprochen haben, sollen natürlich auch energetisch saniert werden. Sie müssen einmal mit Wohnungsbaugesellschaften reden. Unser CO2-Gebäudesanierungsprogramm wird doch angenommen; das ist ein Auftakt in die richtige Richtung. Ich glaube, diesem Auftakt wird auch noch einiges folgen, sodass wir irgendwann sagen können: Wir haben Wohnungen - ({2}) - Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Das ist doch klar, Herr Hill. ({3}) - Man muss anfangen, ja. Wir fangen doch an. Das müssen Sie einfach mal zur Kenntnis nehmen. Danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/ Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hill, als ich den Antrag gesehen habe, habe ich mir gedacht: Es lohnt sich auf jeden Fall, darüber zu diskutieren. Wenn ich jetzt allerdings Ihren Vortrag Revue passieren lasse, muss ich ehrlich sagen, dass mir Bedenken kommen, wie ernst Sie es eigentlich mit Ihrem Antrag halten. Wir werden das aber im parlamentarischen Verfahren diskutieren und dann sehen, was letztendlich von der ganzen Sache übrig bleibt. Eines ist sicherlich unbestritten: Die Nebenkosten für Heizung und Warmwasser sind gerade in den letzten beiden Jahren dramatisch angestiegen und belasten insbesondere Haushalte mit geringen Einkommen. Sie belasten auch die Volkswirtschaft; denn wenn man die negativen Effekte auf die Kaufkraft mit ins Kalkül zieht, dann dürfte sich gerade bei den Beziehern niedriger Einkommen ein durchaus signifikanter Effekt zeigen. Die Entlastungen, die in den letzten Jahren durch Steuerreformen und auch durch die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen bei diesen Einkommensgruppen entstanden sind, dürften durch die Steigerungen bei den Energiepreisen durchaus aufgefressen worden sein. Ich stimme dem Kollegen Hill übrigens zu, wenn er darauf verweist, dass sich die Nebenkosten für Heizung und Warmwasser zu einem bedeutenden Ausgabenposten für bestimmte Haushalte entwickelt haben. Ich stimme ihm auch insofern zu, dass das nicht unbedingt durch ein verändertes Heizverhalten korrigiert werden kann. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die sozialen Auswirkungen der Preissteigerungen natürlich vom Ausgangsniveau der Nebenkosten abhängen. Die Frage der Belastung der Haushalte steht in direkter Korrelation mit dem Sanierungszustand der Gebäude. Es macht schon einen gewaltigen Unterschied aus, von welchem Nebenkostenniveau aus eine Preissteigerung um 30 Prozent verkraftet werden muss. Dadurch wird auch deutlich, dass Klimaschutz am Bau nicht nur eine ökologische und eine volkswirtschaftliche, sondern auch eine erhebliche soziale Komponente darstellt und daher unsere volle Anstrengung benötigt. ({0}) Die beste Gegenmaßnahme bei hohen Nebenkosten ist die Senkung des Gebäudeverbrauchs. Dazu muss ich jetzt nicht mehr sagen; der Kollege Sören Bartol hat das eben ausgeführt. Es erscheint allerdings auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick ungerecht, wenn sich das Wohngeld nicht an den Warmmieten, sondern an den Kaltmieten orientiert. Dabei könnte durchaus die absurde Situation entstehen, dass ausgerechnet ein einkommensschwacher Haushalt für eine niedrige Kaltmiete eines unsanierten Gebäudes - weil er sich nicht mehr leisten kann - benachteiligt wird, während die höhere Kaltmiete eines energetisch sanierten Gebäudes bis zu den Höchstbeträgen bezuschusst wird. Das müssen wir in der Tat diskutieren. Ich habe mir noch kein abschließendes Urteil bilden können, ob und wie eine Novellierung des Wohngeldgesetzes hier tatsächlich Abhilfe schaffen kann; denn es gibt noch einige offene Fragen, die wir hier im parlamentarischen Verfahren klären müssen. In Ihrem Antrag sprechen Sie von 5,2 Millionen Haushalten in Deutschland, die mit Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro auskommen müssen. Das sind sicherlich 5,2 Millionen Haushalte zu viel; das ist keine Frage. Aber das Statistische Bundesamt hat im Oktober mitgeteilt, dass Ende 2005 nur noch 781 000 Haushalte in Deutschland rund 1,2 Milliarden Euro Wohngeld erhalten haben. Jetzt frage ich mich natürlich, wie diese Lücke zu erklären ist. Liegt das etwa daran, dass alle Haushalte, die Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Altersgrundsicherung erhalten, aus der Wohngeldförderung herausfallen? Oder gibt es eventuell noch eine Gruppe von Menschen, die wir weder durch das eine noch durch das andere erreichen? Wie würde es sich auswirken, wenn wir die Warmmiete als Bezugsgröße nehmen würden? Was würde das kosten? Wir dürfen nicht vergessen, dass rund 500 000 der Wohngeldbezieher einen Anspruch auf lediglich 60 bis 90 Euro im Monat haben. Wie verteilen sich die Wohngeldempfänger auf die unterschiedlichen Wohnraumklassen? Wir müssen auch berücksichtigen, dass nach 1992 Gebäudeklassen erstellt wurden, die höheren energetischen Ansprüchen gerecht werden. Es gibt also eine ganze Menge Fragen, die wir beantworten müssen. Wir nehmen Ihren Antrag durchaus ernst. Weniger ernst kann ich allerdings Ihre Forderung nehmen, das Wohngeldgesetz umgehend zu ändern, damit die Kosten noch in dieser Heizperiode erstattungsfähig werden; denn angesichts der schwierigen Haushaltslage und der Zustimmungspflicht des Bundesrates halte ich eine derartige Forderung schlichtweg für populistisch und von vornherein unerfüllbar. ({1}) Sie wissen doch selbst, wie lange ein Gesetzgebungsverfahren dauert. Ansonsten hätten Sie Ihren Antrag etwas früher stellen müssen und nicht erst am 8. November dieses Jahres. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie sich mit der rot-roten Koalition in Berlin zusammensetzen. Vielleicht bringen Sie sie ja dazu, sich parallel zu den Beratungen in unserem Hause an die Spitze der Bewegung zu setzen und eine entsprechende Bundesratsinitiative zu initiieren. Dann könnten wir nämlich sehr schnell sehen, wie sich die anderen Bundesländer zu diesem Problem positionieren. Wir sichern Ihnen auf jeden Fall eine ernsthafte Beratung zu. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Die Vorlage auf Drucksache 16/3351 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse mit Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz ({0}) - Drucksache 16/3038 - Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Jerzy Montag und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Befristungsregelungen im Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege und im Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung ({1}) - Drucksache 16/3282 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 16/3640 Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Christine Lambrecht Wolfgang Nešković Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsekretär Alfred Hartenbach für die Bundesregierung.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieses Gesetz ist von Praktikern für die Praxis gemacht. Nachdem der Regierungsentwurf im ersten Durchgang im Bundesrat überwiegend Zustimmung gefunden hat, ist im Rechtsausschuss eine intensive und wichtige Diskussion geführt worden. Themen waren in erster Linie einzelne Vorschläge zum Strafrecht und zum Jugendstrafrecht. Hierauf hat sich eine vom Rechtsausschuss durchgeführte Anhörung im Wesentlichen konzentriert. Diese Punkte werde auch ich jetzt aufgreifen. Die Anhörung hat uns darin bestärkt, dass wir mit der Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt auf dem richtigen Weg sind; denn damit geben wir den Gerichten mehr Flexibilität bei der Sanktionierung von Kleinkriminalität. Durch die vorgeschlagenen Änderungen wird die bislang verkümmerte Verwarnung mit Strafvorbehalt zu einer wertvollen Ergänzung im System der vorgerichtlichen und gerichtlichen Diversion. Für die Neuregelung gibt es entgegen der Auffassung des Bundesrates durchaus einen praktischen Bedarf. Der klassische Anwendungsbereich der Verwarnung sind diejenigen Fälle, in denen zwar ein Schuldspruch notwendig, eine Bestrafung jedoch nicht erforderlich ist. Befremden hat das Argument des Bundesrates ausgelöst, dass die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu Einnahmeausfällen im Bereich der Geldstrafen führen würde. Die Geldstrafe hat aber nicht den Zweck, den Ländern Einnahmen zu verschaffen. ({0}) Das Sanktionensystem wird entgegen der Behauptung des Bundesrates nicht ins Rutschen geraten. Neben den potenziellen Geldstrafefällen, die künftig mit einer Verwarnung geahndet werden können, wird es sicher auch Anwendungsfälle der Verwarnung geben, die heute mehr schlecht als recht über § 153 a StPO gelöst werden und nicht immer Akzeptanz in der Öffentlichkeit finden. Auf dem Gebiet des Jugendstrafverfahrens haben die Beratungen zu Änderungen geführt, die gut und sinnvoll sind. Ziel war und ist es, den Opferschutz auch im Jugendstrafverfahren zu verbessern. Dabei muss ein Ausgleich zwischen den Opferinteressen und den Besonderheiten des Jugendstrafrechts geschaffen werden. Welche Lösungen dieser Balance am besten gerecht werden, ist eine schwierige Frage. Das hat auch das unterschiedliche Meinungsbild in der Anhörung gezeigt. Im Ergebnis war die Mehrheit des Rechtsausschusses der Auffassung, dass die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Ausweitung von Schutz- und Informationsrechten bei schwersten Straftaten mit schwerer Verletzung des Opfers nicht ausreicht. Würde man das Opfer auch in solchen Fällen auf eine weitgehend passive Rolle im Strafverfahren beschränken, wäre dem legitimen Interesse des Verletzten nicht ausreichend Genüge getan. Deshalb soll im Ergebnis die Nebenklage gegenüber Jugendlichen nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern begrenzt auf schwerste Verbrechen eröffnet werden. Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Die offensiven Rechte der Nebenklage stehen nun einmal in einem Spannungsverhältnis zu dem jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken; wir können diesen Konflikt nicht leugnen. Wir können diese wichtige und grundlegende Entscheidung aber auch nicht auf die Jugendrichter abwälzen, die nach den herrschenden Vorgaben wohl meist gezwungen wären, gegen die Belange der Opfer zu entscheiden. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Zulassung der Nebenklage strikt an den Belangen schwer geschädigter Opfer auszurichten. Das ist ein plausibler und gut vermittelbarer Kompromiss zwischen den bislang vertretenen Auffassungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern dafür, dass die Beratungen im Bundestag auch in so schwierigen und kontroversen Fragen wie den gerade angesprochenen zu guten Ergebnissen geführt haben, die letztlich von einer soliden Mehrheit getragen werden. In diesen Dank schließe ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Ministeriums und des Rechtsausschusses ein, die praktisch bis zur letzten Minute eine saubere Fleißarbeit geleistet haben. ({1}) Die dafür aufgewandte Zeit hat sich gelohnt. Jetzt allerdings wird ein zügiger Abschluss der Beratungen im Parlament und im Bundesrat umso dringlicher. Denn mit dem Gesetz sollen drei für die Praxis wichtige Regelungen verlängert werden, die anderenfalls zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen würden: die Verlängerung der Besetzungsreduktion bei großen Strafkammern - die für die Länder große praktische Bedeutung hat -, die Verlängerung der Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden in allgemeinen Zivilsachen sowie die Verlängerung des Ausschlusses der Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen. Einen Satz zum Schluss an den Kollegen Montag. Sicher werden Sie, lieber Kollege Montag, nachher mit Ihrer ganzen Argumentationskraft - das haben Sie im Ausschuss bereits getan - auf eine Vorschrift eindreschen, nämlich die, dass man nachträglich bekannt gewordene Tatsachen bei Widerruf der Bewährung verwerten darf. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Das haben nicht wir uns aus den Fingern gesogen. Dies ist ein urgrüner Gedanke Ihres früheren Kollegen und hessischen Justizministers Rupert von Plottnitz. Ich finde, das war ein guter Gedanke. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Mechthild Dyckmans.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Häufig beginnen oder - wie eben - enden die Redebeiträge in den Debatten zur abschließenden Beratung von Gesetzentwürfen über Reformen in der Justiz mit dem Dank an die anderen Fraktionen und an die Berichterstatter für die gute Zusammenarbeit und die Bereitschaft, in ausführlichen Berichterstattergesprächen zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. ({0}) Mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz ist mit dieser guten Tradition leider gebrochen worden. ({1}) Die Bundesregierung hat dem Bundestag im Herbst einen Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz zugeleitet. Diesen Gesetzentwurf haben wir am 26. Oktober dieses Jahres in erster Lesung beraten. Nur auf Druck der Opposition hat überhaupt eine Anhörung stattgefunden, ({2}) die allerdings von der Koalition so kurzfristig terminiert war, dass es nur unter großen Mühen gelang, überhaupt Sachverständige zu finden, die trotz der kurzen Vorbereitungszeit bereit waren, an der Anhörung teilzunehmen. Nur wenige Tage nach der Anhörung hat der Rechtsausschuss den Gesetzentwurf abschließend beraten. Zeit für eine ausführliche oder gar intensive Auswertung der Anhörung bestand somit nicht, Herr Staatssekretär. Es war auch bei der Koalition keinerlei Interesse erkennbar, mit der Opposition in dem einen oder anderen Punkt zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. ({3}) Das war in der vergangenen Wahlperiode, als es um das 1. Justizmodernisierungsgesetz ging, noch ganz anders. Auch damals waren die Fronten anfänglich verhärtet und die Positionen der Fraktionen lagen weit auseinander. Dennoch ist es nach der Anhörung und weiteren Berichterstattergesprächen gelungen, sich auf eine gesetzliche Regelung zu einigen, der im Ergebnis alle Fraktionen zugestimmt haben. ({4}) Es ist gute Tradition, dass Justizreformen im Rechtsausschuss einmütig beschlossen werden. Die Justiz gehört zu den Kernaufgaben des Staates. Daher ist es besonders wichtig, dass die gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit der Justiz vom gesamten Bundestag getragen werden. ({5}) Am parlamentarischen Verfahren zum 2. Justizmodernisierungsgesetz wird deutlich, dass die Koalition an diesem Konsens offensichtlich kein Interesse mehr hat. Der Verzicht auf eine gemeinsame Suche nach dem besten Weg lässt in mir die Sorge reifen, dass die große Koalition der Justiz nicht mehr den Stellenwert beimisst, der ihr eigentlich gebührt. ({6}) Nun zur Sache. ({7}) - Ja. Ich habe aber noch etwas Zeit, Herr Kollege Gehb. Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Regelungen, die auch von der FDP unterstützt werden. So werden viele Anregungen aus der Justiz umgesetzt, die zu einer Verfahrensbeschleunigung und zu einer Entbürokratisierung führen. Als besonderes Beispiel nenne ich die Einführung eines spezifischen Wiederaufnahmegrundes für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Zu begrüßen ist auch der Vorrang von Wiedergutmachungsansprüchen der Opfer bei der Vollstreckung von Geldstrafen. Auch eine stärkere Verankerung des Opferschutzgedankens im Jugendstrafverfahren entspricht langjährigen Forderungen der FDP. ({8}) Dennoch ist fraglich, ob die weit reichenden Änderungen bezüglich der Anwendbarkeit der Nebenklage im Jugendstrafverfahren nicht dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts zuwider laufen. Hier hätte ich mir eine breitere und intensivere Diskussion gewünscht, zum Beispiel über die Frage, ob mit der Nebenklage auch Beweisantrags- und Rechtsmittelrechte verbunden sein dürfen. ({9}) Wie ich eingangs geschildert habe, hatte man an einer solchen Diskussion allerdings kein Interesse. Was uns jedoch unabhängig von dem nicht hinzunehmenden Verfahren zur Ablehnung Ihres Gesetzentwurfs zwingt, ist die geplante Änderung der Strafprozessordnung, wonach Straftäter künftig auch dann in Haft bleiben sollen, wenn sie eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreicht haben. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtspraxis ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt, und zwar nicht nur aufgrund des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage. Vielmehr hat das Gericht die Legitimation einer solchen Regelung grundsätzlich in Zweifel gezogen. ({10}) Dennoch will die Bundesregierung genau dieses Verfahren jetzt gesetzlich verankern. Wir halten eine solche Regelung für verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. ({11}) Bemerkenswert waren die Ausführungen, die Vertreter der Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuss hierzu gemacht haben. Dort wurde beispielsweise gesagt, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoße auf Unverständnis und verkenne die wirklichen Bedürfnisse der Praxis. Bisher bestand im Rechtsausschuss der Konsens, dass wir uns von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leiten lassen. Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts haben uns immer den Rahmen vorgegeben, in dem wir uns als Gesetzgeber bewegt haben. Daher finde ich es höchst bedenklich, wenn die Koalition nun zu einer anderen Bewertung kommt und meint, im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf müsse die Rechtsprechung aus Karlsruhe nicht so ernst genommen werden, wenn sie Forderungen aus der Praxis zuwider laufen. Diesen Weg wird die FDP nicht mitgehen. Da in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt wird, dass die zur Gewährleistung einer erneuten Inhaftierung von den beteiligten Gerichten und Staatsanwaltschaften zu veranlassenden Maßnahmen zu aufwendig seien, stelle ich für die FDP fest: Die Anordnung von freiheitsentziehenden Maßnahmen und die damit verbundenen Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen sind jeden Aufwand der Gerichte und Staatsanwaltschaften wert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dyckmans, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein letzter Satz: Wer hier mit Entbürokratisierung und Verfahrensbeschleunigung argumentiert, legt die Axt an die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die Unionsfraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich an kein Gesetz erinnern, das, wie die Kollegin Dyckmans es glauben macht, vom Himmel fiel. In aller Regel haben Gesetzentwürfe eine lange Vorgeschichte. Ich möchte Ihnen das am Beispiel des 2. Justizmodernisierungsgesetzes gerne demonstrieren. Aber fangen wir in aller Ruhe von vorne an. Jedes Jahr am 22. März findet in ganz Deutschland der Tag des Kriminalitätsopfers statt. Opferschutzorganisationen wie der Weiße Ring erwähnen lobend Tausende von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zahllose Stunden in die Opferbegleitung und Opferbetreuung investieren, die mit den Opfern schwere Stunden teilen. Ich glaube, das ist doch ein Lob dieses Hauses wert. ({0}) Am 22. März eines jeden Jahres werden aber nicht nur Opferhelfer gelobt, da werden auch berechtigte Forderungen an die Politik artikuliert. Ich kann mich an viele dieser Veranstaltungen am 22. März erinnern, an der Politiker teilgenommen und Beifall geklatscht haben. Das reicht aber nicht aus - man muss berechtigte Interessen auch umsetzen. Im Zusammenhang mit dem Opferrechtsreformgesetz, das in der letzten Legislaturperiode zu deutlichen Verbesserungen des Opferschutzes geführt hat, habe ich am 13. November 2003 in diesem Haus eine Rede gehalten. An diesem 13. November 2003 habe ich auf eine Lücke im Opferschutz hingewiesen, nämlich die, dass es nahezu keinen effektiven Opferschutz im Jugendstrafverfahren gibt. Ich habe die damalige rot-grüne Bundesregierung ultimativ aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Nebenklage im Jugendstrafverfahren vorgesehen wird. Frau Kollegin Dyckmans, ich kann mich nicht daran erinnern, dass in diesem Zusammenhang von Ihnen der Einwand kam, dem stehe der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts entgegen. ({1}) - Dann nehme ich meine Vorhaltungen gegenüber der Kollegin Dyckmans zurück und richte diese an die Kolleginnen und Kollegen der FDP. ({2}) Die Bundesregierung nimmt den Opferschutz ernst und hat mit dem 2. JuMoG einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Die Regierungskoalition bringt den Opferschutzgedanken voran. Auch die Oppositionsfraktionen geben sich zugegebenermaßen redlich Mühe. Was wird mit diesem 2. Justizmodernisierungsgesetz von der Bundesregierung vorgeschlagen? Opferschutz im Jugendstrafverfahren, wie wir ihn in der Praxis schon nahezu haben: eine Stärkung der Beteiligungsrechte, eine Stärkung der Informationsrechte - mehr nicht! So funktioniert effektiver Opferschutz nicht. Jeder, der in diesem Bereich tätig ist, weiß, was ich meine. Stattet man Opferschutz und Nebenklage nicht mit Aktivrechten, mit Rechtsmitteln, aus, bleibt dies eine stumpfe Waffe. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition, dass sie mir auf meinem Weg, der eben weiter ging als dieser „Opferschutz light“ im Jugendstrafverfahren, gefolgt sind. Ich weiß, dass man es sich nicht leicht gemacht hat. Über den immer wieder vorgebrachten Gedanken, dass Opferschutz im Jugendstrafverfahren dem Erziehungsgedanken entgegensteht, wurde heftig debattiert. Ich empfehle jedem opferpolitischen Siegfried Kauder ({3}) Bedenkenträger, im Kommentar von Ostendorf zum Jugendgerichtsgesetz Anmerkung 8 zu § 80 JGG nachzulesen, in dem es noch heute heißt: Auch geringe erzieherische Bedenken stehen den berechtigten Interessen des Verletzten entgegen. Ich empfehle den Bedenkenträgern auch, die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Amtlichen Sammlung, 41. Bd., S. 288 f. zu lesen: Wir haben schon Opferschutz im Jugendstrafverfahren und haben aus diesem Bereich auch belastbare Informationen. Im so genannten verbundenen Verfahren, wenn also Jugendliche mit Heranwachsenden und Erwachsenen auf der Anklagebank sitzen, gibt es die Nebenklage schon. Keiner hat bisher Bedenken geäußert, dass dadurch der Erziehungsgedanke konterkariert würde. Das ist auch nicht so. Genau der Bereich des verbundenen Verfahrens zeigt, dass so wie Strafverteidiger ihre prozessualen Rechte verantwortungsvoll wahrnehmen, dies auch Nebenklagevertreter tun. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts steht einem Opferschutz nicht entgegen. ({4}) Herr Staatssekretär Hartenbach hat es dankenswerterweise schon erwähnt: Wir haben uns für eine Lösung entschieden, die meines Erachtens von allen Fraktionen dieses Deutschen Bundestages mitgetragen werden kann. Die Nebenklage soll nicht in jedem Jugendstrafverfahren zugelassen werden, sondern nur dann, wenn das Opfer besonders belastet worden ist, wenn es also um Verbrechen gegen Leib und Leben geht, wenn es um Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht oder wenn es um Verbrechen gegen die persönliche Freiheit geht. Auch dort haben wir eine Trennlinie eingezogen: nur dann, wenn es zu schwerwiegenden seelischen oder körperlichen Schädigungen gekommen ist oder wenn die Gefahr solcher Schädigungen bestanden hat! Das ist also ein ganz sanfter Einstieg in die Nebenklage. Ich halte ihn für vertretbar. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle, ein Zeichen zu setzen, auch wenn bei den übrigen Bereichen des 2. Justizmodernisierungsgesetzes Bedenken bestehen sollten. Es wäre ein gutes Zeichen für alle Kriminalitätsopfer, wenn Sie zeigen würden, dass nicht nur am 22. März eines jeden Jahres, sondern auch heute der Tag des Kriminalitätsopfers ist. Wir sehen es ja: Wir haben heute über den Gesetzentwurf zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen entschieden und im nächsten Tagesordnungspunkt werden wir über das Opferentschädigungsgesetz reden. Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Gesetz zu. ({5}) Lassen Sie mich noch etwas zum Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt sagen. Herr Staatssekretär Hartenbach hat die Bedenken der Länder artikuliert, dass dies möglicherweise zu Einnahmeausfällen führen würde. Nicht einmal das stimmt. ({6}) Wer in § 59 a des Strafgesetzbuches schaut, der weiß, wie eine Verwarnung mit Strafvorbehalt abläuft. ({7}) Statt einer Geldstrafe wird eine Geldbuße festgesetzt. Wer praktische Erfahrungen hat, der weiß, dass die Verwarnung mit Strafvorbehalt oftmals dann eingeführt wird, wenn gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wurde. Ich erlebe es immer wieder, dass das Gericht dem Verteidiger in solchen Fällen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt anbietet, aber darauf hinweist, dass es davon ausgehe, dass die im Strafbefehl festgesetzte Geldstrafe als Geldbuße festgesetzt wird. ({8}) Es kommt also nicht zu einem Einnahmeausfall. ({9}) Diese Verwarnung mit Strafvorbehalt ist ein hervorragendes Scharnier zwischen der Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a der Strafprozessordnung und einer Geldstrafe. So, wie es eine Freiheitsstrafe zur Bewährung gibt, soll es auch eine Geldstrafe zur Bewährung geben. Der Anwendungsbereich ist ohnehin klein genug. Deswegen war es gut, diesen Anwendungsbereich moderat zu öffnen und die Klauseln zu lockern. Ich bin der Meinung, dass dieses Rechtsinstitut damit auch eine Berechtigung in der Rechtspolitik haben wird. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Kauder hat eine elegante Volte gemacht, indem er das Ganze auf eine Frage des Opferschutzes reduziert hat. Das ist natürlich nicht richtig. Dieser Gesetzentwurf hat einen ganz anderen Umfang. Die Frau Kollegin von der FDP hat das ja bereits dargelegt. Sie werden damit vor dem Verfassungsgericht wahrscheinlich erneut in Teilen scheitern. Es ist eine bewährte Übung in diesem Haus, dem höchsten deutschen Gericht sozusagen einmal die Leviten zu lesen, indem man Gesetzentwürfe verabschiedet, die geltenden Gesetzen entgegenstehen. Ich erkenne anhand der Zwischenrufe, dass Sie diese ganz merkwürdige Einstellung haben. Sie wissen alle, welch hohe Hürden vor einer Wiedereinsetzung stehen. Wenn Sie sagen, aus Gründen der Praktikabilität ließen Sie die Leute in Haft, offenbart dies eine Rechtsgüterabwägung, die mich erschreckt. Ich sage Ihnen das ganz offen. Sie haben auch kein Wort darüber verloren - das sind für Sie wahrscheinlich Peanuts -, dass der bargeldlose Zahlungsverkehr eingeführt wird. Sie verkennen immer wieder, wie viele Menschen in diesem Land nicht an dem bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen können. Sie verkennen auch, was es eigentlich heißt, dass Sie bei der Nichtzulassung immer wieder mit der Grenze von 20 000 Euro operieren. Es gibt Leute, für die das kein Problem ist, es gibt aber auch Menschen, die Recht suchen und für die das ein Problem darstellt. All diese Dinge sind hier nicht zur Sprache gekommen. Ich sage aber ganz offen: Diese verblassen sogar vor der Art und Weise, wie Sie dieses Gesetz durchgepeitscht haben. ({0}) Herr Kollege Kauder, es mag ja sein, dass der Entwurf für Sie eine lange Vorgeschichte hat; trotzdem kann die Bevölkerung dieses Landes von ihrem Parlament die parlamentarische Behandlung eines Gesetzentwurfs verlangen. Die Tatsache, dass Sie die entsprechende Anhörung, die Sie ursprünglich selbst nicht durchführen wollten, auf zehn Minuten nach Schluss der letzten Haushaltswoche terminiert haben ({1}) - die Frau Kollegin hat das bereits gesagt -, ({2}) zeigt im Grunde genommen nichts anderes, als dass Sie weder an einer Anhörung noch an einer vertieften Diskussion über Ihre Gesetzesvorhaben interessiert sind. ({3}) Sie sind nicht daran interessiert. ({4}) An den Schulen unseres Landes wird eine Vorstellung von parlamentarischen Verfahren vermittelt, die Sie längst ad acta gelegt haben. Sie machen Ihre Gesetze vorher selber - wo auch immer - und dann werden sie hier abgenickt. Auf diese Art und Weise kann ein Parlament nicht funktionieren. Wir sind auch nicht bereit, eine solche Art und Weise hinzunehmen. Dass Sie das Thema sechs Tage nach dieser Farce von Anhörung im Parlament beraten wollen, vertieft den Eindruck nur noch mehr. ({5}) Denn wir leben leider in einem Land, in dem in zunehmendem Maße von Interessierten, manchmal auch von Interessenverbänden und von der Regierung Gesetze gemacht werden. Aber die üblichen parlamentarischen Verfahren zur Rechtsfindung werden nicht mehr gewährleistet. Wir jedenfalls sind nicht bereit, das zu tolerieren. Selbst wenn man dem Gesetz in Teilen positiv gegenübersteht, ({6}) erzwingt allein die Tatsache, wie Sie in dieser Frage mit dem Parlament umgehen, das Nein zu diesem Vorhaben. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die Art und Weise des Zustandekommens des Gesetzes will ich nicht eingehen. Dazu haben meine Vorrednerinnen und Vorredner alles Notwendige gesagt. Nur zu Ihnen, Herr Kollege Hartenbach: Sie können nicht ernsthaft behaupten, dass wir seit der Einbringung des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung eine „intensive Beratung“ durchgeführt haben. Ich komme sogleich zur Sache. Der Gesetzentwurf enthält etliches Positives. Das will ich an den Anfang meiner Ausführungen stellen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt bisweilen - es ist zwar selten, aber es kommt vor auch gegenüber deutschen Gerichtsurteilen fest, dass diese Menschenrechte verletzen. Nachdem es in der Strafprozessordnung bereits geregelt ist, soll nun auch in der Zivilprozessordnung ein Wiederaufnahmegrund wegen einer Menschenrechtsverletzung durch gerichtliche Urteile in Zivilsachen eingeführt werden. Das ist auch für Verwaltungsverfahren und andere Verfahrensarten vorgesehen. Das halten wir für richtig. Die Ausweitung der Verwarnung mit Strafvorbehalt ist bereits erwähnt worden. Das findet unsere volle Zustimmung. Auch dass Opferansprüche in der Vollstreckung jetzt vor der Vollstreckung von Geldstrafen zum Zuge kommen sollen - das ist sozusagen eine praktische Form des Opferschutzes -, findet unsere Zustimmung. ({0}) Es wäre deswegen schön gewesen, wenn wir über die anderen Punkte, die hoch streitig sind, intensiv und in Ruhe hätten reden können, weil wir dann vielleicht auch unter den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern zu einem guten Ergebnis gekommen wären. Die Zeit ist nicht geblieben. Ich begründe aber auch, warum wir Grünen leider diesem Gesetzentwurf die Zustimmung verweigern müssen. Es geht nicht an, dass gegenstandslos gewordene Freiheitsentziehungen, die nur aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung ergehen können, allein deswegen wieder aufleben sollen, weil derjenige, der durch sie belastet war, im Wege einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in eine für ihn günstigere Position gekommen ist. Es ist Irrsinn, dass jemand ein Grundrecht erstreitet - nämlich das Recht auf rechtliches Gehör - und als Dank dafür von der Justiz die sofortige Inhaftierung verfügt wird. ({1}) Das geht nur dann, wenn ein Gericht wiederum in einer neuen Entscheidung darüber befindet. Das ist eigentlich ein völlig klarer Gedanke. ({2}) Es ist mir völlig unklar, warum Sie diese Regelung haben passieren lassen. Der Widerruf einer Strafaussetzungsentscheidung ist eine Entscheidung, die nur nach strengen rechtsstaatlichen Regeln durchgeführt werden kann. Wenn eine Entscheidung eines Gerichts vorliegt, mit der jemand mit günstiger Sozialprognose in die Freiheit entlassen wird, dann ist der Widerruf einer solchen Entscheidung nur dann möglich, wenn ganz gewichtige Gründe - wie Wiederaufnahmegründe zulasten eines Angeklagten oder Beschuldigten - dafür sprechen. Keinesfalls darf es aber ausreichen, dass irgendwelche Tatsachen, die dem Gericht zuerst unbekannt waren, dann aber bekannt wurden, zulasten einer solchen Entscheidung eingewendet werden, obwohl sich der Betroffene nach der Entscheidung des Gerichts in der Sache selbst, in punkto seiner Bewährung, gar nichts hat zuschulden kommen lassen. So etwas geht nicht. Zum Schluss zum Jugendstrafverfahren. Herr Kollege Kauder, Sie sagen, dass Sie keine stumpfen Schwerter wollen. Wir waren ja für den Ausbau der Opferrechte im Jugendstrafverfahren. Wir wollten zusammen mit Ihnen und der Bundesregierung das Informationsrecht, das Akteneinsichtsrecht, das Anwesenheitsrecht und das Beistandsrecht in das Jugendstrafgerichtsverfahren implementieren. Sie denunzieren nun diese Mittel als stumpfe Waffen und sagen, was Sie im Jugendstrafrecht tatsächlich wollen: scharfe Waffen. ({3}) Ich sage Ihnen: Wir wollen gar keine Waffen im Jugendstrafverfahren; denn dieses Verfahren eignet sich nicht für ein solches Vorgehen. Deswegen sind wir auch gegen die Nebenklage im Jugendstrafverfahren. ({4}) Wir müssen den gesamten Gesetzentwurf ablehnen, so Leid es uns um die positiven Punkte tut. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Stünker. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Maurer, in Sachen Rechtsstaatlichkeit sollten Sie uns, glaube ich, keine Belehrung erteilen. ({0}) Im „Tagesspiegel“ vom 30. November dieses Jahres findet sich im Zusammenhang mit der auch in meinen Augen nicht akzeptablen Einstellung des MannesmannFalls von Ihrem rechtspolitischen Sprecher und stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Wolfgang Nešković, Folgendes: Der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, Wolfgang Nešković, fordert dagegen eine unabhängige Instanz, die Verabredungen wie im Mannesmann-Prozess anfechten kann. Zur Not muss das Parlament die Möglichkeit einer Überprüfung bekommen. Wer solche populistischen Äußerungen, die schon die Gewaltenteilung negieren, den Journalisten in die Feder diktiert, der muss mit uns über Rechtsstaatlichkeit nicht mehr diskutieren. ({1}) Dazu kann ich nur sagen: Das Zentralkomitee der SED lässt grüßen! Der Arbeiter- und Bauernstaat hebt gerichtliche Entscheidungen hinterher wieder auf. Irgendwann ist es wieder so weit, dass Richterbriefe geschrieben werden, Herr Kollege. ({2}) Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist nicht mehr da. Sonst hätte ich noch etwas zu ihrer Äußerung gesagt, dass man den § 153 a der Strafprozessordnung überprüfen sollte. Das will ich jetzt nicht machen. Aber so viel Populismus in der Rechtspolitik war noch nie, wie gegenwärtig von der Opposition in diesem Hause offenbart wird! ({3}) - Nun komme ich zu Ihnen, Herr Montag. ({4}) Ich erlaube mir, mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus der Pressemitteilung Nr. 1537 der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vom 29. November 2006 zu zitieren: Gegen den Willen von Schwarz-Rot konnte die Opposition dennoch wenigstens kurzfristig eine Sachverständigenanhörung durchsetzen. Herr Kollege Montag, bleiben Sie bitte bei der Wahrheit! Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir es, die diese Anhörung gegen Ihren Willen - weil Sie keinen Termin mehr vor Weihnachten finden konnten - durchsetzen mussten. ({5}) Herr Kollege Montag, natürlich haben wir von Anfang an das Recht der Opposition, eine Anhörung zu beantragen, akzeptiert. Wir haben gesagt: Jawohl, wir machen die Anhörung. Auch wenn Sie vor Weihnachten keine Zeit mehr hatten, haben wir uns die Zeit genommen, um darüber zu beraten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von Herrn Montag immer! ({0}) - Frau Präsidentin, haben Sie diesen Zwischenruf gehört? - Das will ich dem Kollegen Maurer nicht durchgehen lassen. Er hat mich eben einen Winkeladvokaten genannt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich werde es prüfen.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. - Das aus Ihrem Mund, Herr Kollege Maurer!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte, Herr Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe diesen Zuruf nicht gehört. Aber ich weiß genau, dass der Kollege Maurer ein Anwalt ist und Sie ein Richter sind. ({0}) An Sie, Herr Kollege Stünker, habe ich die Frage, ob Sie bereit sind, hier vor dem Plenum zu bestätigen, dass nicht die große Koalition, nicht die Mehrheit in diesem Hause, den Antrag gestellt hat, eine Anhörung im Rechtsausschuss zum 2. Justizmodernisierungsgesetz durchzuführen, sondern dass dies die Oppositionsparteien waren, und es deswegen richtig ist, dass es auf Antrag der Opposition überhaupt zu einer solchen Anhörung gekommen ist? Sind Sie auch bereit, hier im Plenum zu bestätigen, dass die Terminierung selbstverständlich in den Händen der Mehrheit und nicht in den Händen der Minderheit liegt und dass es deswegen Sie, die große Koalition, waren, die den tatsächlich nicht ganz sauberen Vorschlag gemacht haben: wenn schon in einer Haushaltswoche, dann schreiten wir am Freitag Nachmittag zu dieser Anhörung? Wir als Minderheit konnten uns gegen diese durch die Mehrheit bestimmte Terminierung nicht wehren. Sie werden aber doch wohl bestätigen können, dass trotz allem wenigstens ich an dieser Anhörung teilgenommen habe.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Montag, ich kann drei Viertel von dem, was Sie gesagt haben, bestätigen. Das ist richtig. ({0}) Sie hatten mir gesagt: Beantragen Sie die Anhörung, dann brauchen wir sie nicht zu beantragen! - Das ist in Ordnung, das haben wir schon oft so gemacht. Nicht ganz richtig ist die Darstellung der Terminfrage. Wir hatten Ihnen, der Opposition, mehrere Termine angeboten. Wir hatten sogar um eine Ausnahmegenehmigung des Präsidenten für die Haushaltswoche gebeten. Das ist abgelehnt worden. Daher mussten wir auf den Termin ausweichen, an dem die Haushaltswoche beendet war, um noch fristgemäß die Anhörung durchführen zu können. Sie, Herr Kollege Montag, waren anwesend und haben wie immer sachgemäß zu der Anhörung beigetragen. ({1}) Lassen Sie mich noch zu zwei Punkten eine Anmerkung machen. Herr Kollege Montag hat mit Verve die für Laien schwer zu durchschauende Vorschrift des § 47 Abs. 3 ({2}) der Strafprozessordnung vorgetragen. Das betrifft die Frage der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand. Ich will dazu nur eines sagen, Herr Kollege Montag: Lesen Sie bitte auch Satz 2 und Satz 3. Wir stellen sicher, dass, wenn Wiedereinsetzung gewährt wird, sich das wiedereinsetzende Gericht unmittelbar mit der Haftfrage beschäftigen muss. Aus unserer Sicht wird Art. 104 Abs. 2 des Grundgesetzes in diesem Fall eingehalten. ({3}) Daher sehen wir die verfassungsrechtlichen Probleme, die Sie haben, nicht. Trotzdem, Frau Dyckmans, erlaube ich es mir und lasse es mir nicht nehmen, Entscheidungen auch des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu hinterfragen. Das Recht nehme ich mir als frei gewählter Abgeordneter in diesem Hause heraus. Das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen. ({4}) Noch ein weiterer Punkt: Ich bin sehr froh darüber, dass wir mit diesem Gesetz die Verwarnung mit Strafvorbehalt ausweiten können. Ich habe überhaupt nicht verstanden, dass in einigen Stellungnahmen dazu geschrieben wurde, eine solche Vorschrift setze das Wertegefühl der Menschen in diesem Land gegenüber der Geldstrafe außer Kraft. Meine Damen und Herren, wenn die Schuldfeststellung durch ein Urteil gegeben ist und lediglich die Geldstrafe sozusagen zur Bewährung ausgesetzt wird, wird das Wertegefühl der Menschen in keiner Weise beeinträchtigt. Viel eher ist das der Fall, wenn, wie im Mannesmann-Verfahren geschehen, das Verfahren nach § 153 a StPO gegen die Zahlung einiger Millionen Euro eingestellt wird. Das beeinträchtigt das Wertegefühl der Menschen viel mehr als die Ausdehnung der Verwarnung mit Strafvorbehalt. ({5}) Ein Zweites dazu -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stünker, es tut mir Leid, diese Aufzählung können wir nicht mehr beenden.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, einen Satz muss ich noch sagen dürfen. - Es wurde gesagt, dem Staat gehe Geld verloren, wenn wir die Verwarnung mit Strafvorbehalt ausdehnen. Dazu eine Anmerkung: Er spart sogar Geld, Herr Kollege Kauder, und zwar insofern, als dann die Ersatzfreiheitsstrafen weniger werden, die sonst dazu führen würden, dass die Menschen wieder in den Knast müssten. Der Staat spart also Haftplätze. Schönen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz, Drucksa- che 16/3038. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/3640, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan- trag auf Drucksache 16/3674? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Antragsteller bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio- nen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent- wurf eines Justizmodernisierungsauskopplungsgesetzes auf Drucksache 16/3282. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3640, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädigung bei Gewalttaten - Drucksache 16/1067 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Opferentschädigung bei Terrorakten im Ausland sicherstellen - Drucksache 16/585 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will an dieser Stelle an zwei schreckliche Ereignisse erinnern, die sich bereits vor einigen Jahren abgespielt haben. Fall Nummer eins. Ein deutscher Staatsangehöriger, ein Vater, fährt mit seinen beiden Kindern nach Mallorca und tötet sie dort. Die Mutter, die in Deutschland zurückgeblieben ist, bekommt einen Schock. Sie macht viele Monate später Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend. Wiederum nach einigen Jahren gerichtlicher Auseinandersetzung teilt ein deutsches Gericht dieser Mutter mit: In der Sache steht Ihnen ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz eigentlich zu; aber leider sind Ihre Kinder am falschen Ort getötet worden. Wären sie auf Helgoland getötet worden, dann würden Sie Geld bekommen. Aber weil es auf Mallorca geschehen ist, bekommen Sie nichts. Fall Nummer zwei. In Mölln und in Solingen brannte jeweils ein Haus wegen einer neonazistischen Tat ab. Dabei sind einige türkische Mädchen verbrannt. Sie waren zu Besuch bei ihren türkischen Verwandten, die seit vielen Jahren in Deutschland lebten. Die Hinterbliebenen der toten Mädchen haben ebenfalls Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt. Auch diesen Hinterbliebenen wurde von einem deutschen Gericht letztendlich mitgeteilt: Eigentlich haben Sie einen Anspruch; aber leider befinden Sie sich im falschen Verwandtschaftsverhältnis zu den Verwandten, die Sie besucht haben. Wären die getöteten Mädchen Verwandte ersten oder zweiten Grades gewesen, hätten Sie etwas bekommen; bei einem Verwandtschaftsverhältnis dritten Grades bekommen Sie nichts. Es waren nur Kusinen bzw. Nichten und deswegen bekommen Sie nichts. Diese beiden Fälle haben mich seit Jahren bewegt. Ich weiß, dass einige von Ihnen - wir haben viele Male darüber gesprochen - von diesen Fällen auch bewegt waren und bewegt sind. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Versuch unternommen, hier eine gesetzliche Abhilfe zu schaffen. Wir waren uns unter den Rechtspolitikern und auch unter den Sozialpolitikern eigentlich so gut wie einig darüber, dass wir den zweiten Fall - da geht es um Ausländer, die zu Besuch in Deutschland sind - dadurch lösen wollen, dass wir nicht nur Verwandte ersten und zweiten, sondern auch Verwandte dritten Grades in den Schutzbereich des OEG aufnehmen, und zwar aus der Überlegung heraus, dass es sich um Straftaten handelt, die in Deutschland geschehen, weswegen die Schutzpflicht des deutschen Staates gebietet, nach dem Territorialitätsprinzip auch für solche Personen die Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz entstehen zu lassen. Der erste Fall ist zugegebenermaßen etwas komplexer; denn es handelt sich um Straftaten im Ausland. Deswegen haben wir gesagt, dass wir für deutsche Staatsangehörige und ihnen gleichgestellte EU-Ausländer sowie Ausländer mit festem langjährigen Aufenthalt in Deutschland wenigstens die Hereinnahme in die Billigkeitslösung des Opferentschädigungsgesetzes erreichen wollen. Wir Grünen haben jetzt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Auch wenn die Koalitionsmehrheit den Rechtspolitikern das zu meinem völligen Unverständnis aus der Hand genommen hat - wir können darüber nicht im Rechtsausschuss beraten; das tut der Sache aber überhaupt keinen Abbruch; das können wir auch in jedem anderen Ausschuss sachgerecht diskutieren -, würde ich mir wünschen, dass die Tatsache, dass der Gesetzentwurf von uns kommt, für Sie kein Anlass wird, ihn abzulehnen. Ich bitte Sie dringend, sich damit sachlich intensiv zu beschäftigen und in der Sache eine gemeinsame Lösung zu finden. ({0}) Ich will Sie zum Schluss daran erinnern, das Bundeskanzlerin Merkel am 10. Oktober bei der 30-Jahr-Feier des Weißen Ringes hier in Berlin erklärt hat, das Opferentschädigungsgesetz sei ein sehr fortschrittliches Gesetz. Ich darf nun zitieren: Es ist aber eines, das kontinuierlich weiterzuentwickeln und an die sich verändernden Gegebenheiten anzupassen ist. Genau dies ist der Vorschlag von uns Grünen, nämlich das Opferentschädigungsgesetz den sich ändernden Gegebenheiten anzupassen und dafür zu sorgen, dass solche Fälle wie die, die ich beschrieben habe, sich nicht mehr wiederholen. Danke. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Paul Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Lieber Kollege Jerzy Montag, keine Angst: Wir haben keine Bedenken, einem guten Gesetzentwurf der Grünen zuzustimmen, aber er muss wirklich gut sein. ({0}) Nicht weil „grün“ draufsteht, werden wir ihn ablehnen. Wir werden ihn gleichwohl ablehnen. Wir beraten heute den Antrag der FDP und den Gesetzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz der Grünen. Die Thematik ist nicht neu; Sie haben darauf hingewiesen, Herr Montag. Es geht im Wesentlichen um tragische Schicksale und um die Erkenntnis, dass für die Betroffenen etwas getan werden muss. Dennoch lehnen wir den Antrag der FDP und den Gesetzentwurf hier und heute ab. Ursprünglicher Sinn und Zweck des Opferentschädigungsgesetzes ist, demjenigen eine Entschädigung zuzugestehen, den der Staat als Träger des Gewaltmonopols nicht zu schützen vermochte. Davon erfasst sind deutsche Staatsbürger und Ausländer, die unter § 1 Abs. 4 und 5 des Opferentschädigungsgesetzes fallen. Das Gesetz sieht für Opfer von Gewaltverbrechen nach § 1 Abs. 1 momentan einen Anspruch auf Versorgung vor, soweit die Schädigung im Geltungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes, also im Inland oder auf einem deutschen Schiff oder Flugzeug, eingetreten ist. Es gilt insoweit das Territorialitätsprinzip. Warum ist das so? Laut amtlicher Gesetzesbegründung trifft den Staat und seine Organe nur in diesem Bereich die Verantwortung für die Sicherheit der Menschen. Das hat dazu geführt, dass bereits in mehreren Fällen die Entschädigung versagt wurde, weil der Tatort im Ausland lag. Exemplarisch verweise ich auf den Fall einer Mutter, deren Kind in Mallorca ermordet wurde Herr Montag, Sie haben gerade dasselbe Beispiel gebracht. Ihr wurde unter Hinweis auf das Territorialitätsprinzip ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz für den Schockschaden vom Bundessozialgericht versagt. Für die Betroffenen spielt es keine Rolle, wo das Gewaltverbrechen begangen wurde, denn Trauer und Leid kennen kein Territorialitätsprinzip. Paradoxerweise kann aber ein Ausländer, soweit er die Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 und 5 des Opferentschädigungsgesetzes erfüllt, bei Schädigung in Deutschland einen Versorgungsanspruch erwerben. Hier wird die große Lücke im derzeit gültigen Gesetz deutlich. Nun bringt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf ein, der das Territorialitätsprinzip über den Weg des § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes aufgeben will. Was Sie hier fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätten Sie in besserer Form schon lange haben können. Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem kompetenten Referenten Siggi Kauder ({1}) bereits im Jahre 2003 einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt, um eben dieses Problem zu beseitigen. Rot-Grün hat ihn abgelehnt. Indem Sie zusätzlich fordern, dass Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die mit dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen bis zum dritten Grad verwandt sind und sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, auch noch unter das Opferentschädigungsgesetz fallen sollen, schießen Sie weit über das Ziel hinaus. ({2}) In Härtefällen ist für diese Personengruppe bereits jetzt eine Entschädigung nach Paragraph 10 b des Opferentschädigungsgesetzes möglich. Das wissen Sie. Was die Versorgung deutscher Terroropfer im Ausland angeht, so sei an die Adresse der FDP gesagt: Seit dem Jahre 2002 sind im Bundeshaushalt beim Generalbundesanwalt Gelder für die Soforthilfe in solchen Fällen eingestellt, für das Jahr 2007 immerhin 300 000 Euro. In der Vergangenheit haben aus diesem Topf deutsche Opfer der Terroranschläge in den USA am 11. September und der Attentate von Djerba und Bali erhebliche Zahlungen erhalten. Das zeigt, dass wir diese Menschen mit ihrem Leid nicht alleine lassen. Nur für den speziellen Fall der Terrorangriffe eine Anspruchslösung zu konstruieren, wie es die FDP in ihrer Begründung fordert, ist sicherlich zu kurz gegriffen. Es geht ganz allgemein um alle Schädigungen im Ausland. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die CDU/ CSU im Kern für die Erweiterung des Opferentschädigungsgesetzes um die Fälle der Schädigung im Ausland ist. Das können Sie im Gesetzentwurf aus dem Jahre 2003 bereits nachlesen, allerdings nicht in der Form, wie es die Grünen hier und heute in ihrem Gesetzentwurf vorlegen. Ich bedanke mich. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen für die FDPFraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kollegen Lehrieder hat gerade deutlich gemacht, wie unterschiedlich manchmal die Diskussionen ausfallen, je nachdem, ob man in der Opposition oder in der Regierung ist. Manches, was man vorher als änderungsbedürftig unterstützt hat, wird auf einmal als wohl gelungen gelobt, beispielsweise der Härtefonds beim Generalbundesanwalt. Als wir gemeinsam in der Opposition waren, waren wir, wenn ich mich recht entsinne, auch gemeinsam der Auffassung, dass es nicht bei dieser Ermessensentscheidung bleiben soll, sondern dass wir diejenigen, die ein schweres Schicksal haben, die Opfer eines Terroranschlages im Ausland geworden sind, mit Rechtsansprüchen ausstatten wollen. ({0}) Das bleibt auch der Wunsch der FDP. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Wie sich die Rolle verändern kann, haben wir auch bei den Grünen gesehen. Herr Lehrieder, Ihr Hinweis ist richtig: All das, was die Grünen jetzt vortragen, hätten sie schon unglaublich lange haben können. ({1}) Sie waren viele Jahre in der Regierung. Ich erinnere mich an, wie ich finde, sehr gute Berichterstattergespräche und bin deshalb sehr traurig, dass ich von Ihnen, Herr Lehrieder, die Botschaft höre: Da ändert sich nichts. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Kollege Kauder war dafür verantwortlich, dass es bei Ihnen einen, wie ich finde, sehr bemerkenswerten Antrag auf Änderung des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 2003 gegeben hat. Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Rede des Kollegen Kauder - ich glaube, das war im Jahr darauf -, in der er uns Defizite aufgezeigt hat, die von mir geteilt worden sind. Ich glaube, dass wir das, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat, dass es nämlich hier im Deutschen Bundestag Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich in besonderer Weise für den Schutz der Opfer einsetzen, nicht so leichtfertig aufgeben sollten, wie das vorhin von Ihnen gemacht wurde. ({2}) Ich finde, dass wir uns wieder zusammensetzen sollten und dabei schauen sollten, was wir machen können und was nicht, und dass wir das mit Augenmaß tun sollten. Sie, Herr Lehrieder, haben zu Recht am Antrag der Grünen kritisiert, dass man das Gefühl hat, da und dort fehle es an Augenmaß. Wir können uns natürlich gegenseitig in den Forderungen überbieten; zugleich müssen wir aber sehen, dass das Ganze von den Ländern zu bezahlen ist, die zu Recht von uns erwarten, dass wir auf das Machbare Rücksicht nehmen. Danach zu suchen, was einerseits machbar und bezahlbar ist, andererseits aber auch den Interessen der Opfer gerecht wird, ist, wie ich finde, des Schweißes der Edlen wert. Wir bieten jedenfalls unsere Mitarbeit an. Ich bin auch ganz sicher, dass der Kollege Kauder dafür offen ist - er ist immer dafür offen gewesen. Auch der Kollege Montag war bei diesen Gesprächen immer außerordentlich hilfreich. Ich denke, wir sollten den Versuch unternehmen, uns zusammenzusetzen und zu schauen, was zu machen ist. Für die FDP-Bundestagsfraktion erkläre ich jedenfalls Bereitschaft dazu. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Opferentschädigungsrecht - das klang auch schon bei den Ausführungen meiner Vorredner an - beinhaltet eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten. Es regelt eine eigenständige staatliche Entschädigung jenseits der allgemeinen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe für diejenigen, die der Staat mit seinen Polizeiorganen nicht vor einer vorsätzlichen Gewalttat hat schützen können. Es wurden jetzt Fälle beschrieben, die im Rahmen einer Erweiterung der Opferentschädigung einbezogen werden sollten. Alle diese Fälle stimmen sehr nachdenklich und es ist schwierig, Fälle wie den der hilflosen Rentnerin, die überfallen wird, wie den des Missbrauchs von Kindern oder auch den des Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldige Passanten schwer verletzt oder getötet werden, zu bewerten. In all diesen Fällen liegt ein tätlicher Angriff auf Leib und Leben der Betroffenen vor und es kommt auf den zumindest bedingten Vorsatz der Täter, aber nicht ihre Motive an, damit die Opferentschädigung greifen kann. Umfang und Höhe der nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erbringenden Leistungen richten sich nach dem Bundesversorgungsgesetz. So neu ist das alles allerdings nicht, sondern wir reden bereits länger darüber; der Kollege Montag hat im Prinzip die Geschichte der Beratungen beschrieben. Auch in der letzten Legislaturperiode hat es darüber zwischen allen Fraktionen, nicht nur den Koalitionsfraktionen, intensive Beratungen gegeben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales war mit an diesem Prozess beteiligt. Es ist auch deutlich geworden, dass das bisherige Opferentschädigungsgesetz an einigen Stellen durchaus einiger Ergänzungen und Änderungen bedarf. Über andere Punkte konnte bei diesem Prozess allerdings keine Einigung erzielt werden. So könnte man davon sprechen, dass es zurzeit so eine Art Zwischenergebnis gibt, das allerdings nicht befriedigt. Diejenigen, die sich damit befassen, sind deswegen der Meinung, dass man da noch einmal herangehen sollte. Im vorliegenden Entwurf wird zunächst einmal vorgeschlagen, den Personenkreis bei Inlandstaten zu erweitern. Diese Frage spielte schon bei den parlamentarischen Beratungen zur Novelle des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 1993 eine Rolle. Es ist zu Recht auf den damaligen Hintergrund hingewiesen worden, nämlich die Schandtaten in Solingen und Mölln. Die damals vorgenommenen Beschränkungen waren allerdings politisch gewollt. Auch heute geht es darum - das klang eben auch ein Stück weit aus Ihren Schlussworten heraus, Herr van Essen -, mit Augenmaß zu argumentieren und zu schauen, was haushalterisch möglich und tolerabel ist. Man muss aber auch darüber sprechen, was Akzeptanz findet. Deswegen ist eine generelle Einbeziehung aller ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden in den umfassenden Schutzbereich des Gesetzes nicht vertretbar. ({0}) - Ganz ruhig, ich komme Ihnen ja jetzt entgegen, Herr Kollege Montag. - Ihr Vorschlag, sozusagen die Verwandten dritten Grades einzubeziehen, unter Beibehaltung der Härteregelung für sonstige Touristen und Geschäftsreisende, ist zumindest sehr diskussionswürdig. Darüber sollte man sprechen. Auf jeden Fall muss man an dieser Stelle ganz deutliche Grenzen ziehen. ({1}) Ich glaube auch, dass man wahrscheinlich ganz einfach und schnell den Begriff Lebenspartnerschaft einfügen kann, denn das ist lediglich versäumt worden; das hätte bereits in § 1 Abs. 6 Ziffer 1 des Opferentschädigungsgesetzes eingefügt werden müssen. ({2}) Die Bundesregierung begrüßt, dass der vorliegende Gesetzentwurf auf so genannte Regelleistungen verzichtet. Das ist objektiv so. Ein solcher Vorschlag wäre auch aus rechtssystematischen Gründen abzulehnen, da es an dem entsprechenden so genannten Aufopferungstatbestand fehlt. Ich glaube, wir müssen diese Debatte so führen, dass nicht der Eindruck entsteht, der Staat könne außerhalb seines Hoheitsgebietes die Menschen so bewahren, dass ihnen kein Leid geschieht, oder ihnen wirksamen Schutz garantieren. Erwägenswert wäre von daher allenfalls die Schaffung einer Entschädigungsmöglichkeit aus Billigkeitsmotiven, wie auch Sie es vorschlagen. Rechtssystematisch bietet sich dafür eine Anlehnung an die Regelung des § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes an. Ich denke, dass man die genaue Ausgestaltung einer solchen Regelung noch ausführlich diskutieren sollte. Wenn man einmal einen Strich unter die Beratungen und den vorliegenden Gesetzentwurf ziehen und eine Bewertung vornehmen will, passt wieder der Begriff des Zwischenergebnisses. Im Kern muss man sagen, dass der Prozess ein Stück weit auch dem Ende der Legislaturperiode zum Opfer gefallen ist. Deshalb wäre es ein guter Weg, wenn sich an dieser Stelle sowohl die Rechtspolitiker wie auch die Haushaltspolitiker und die Sozialpolitiker noch einmal zusammensetzen und den Versuch unternehmen würden, unter Einbeziehung der Eckpunkte, die hier von allen Rednern, auch von mir, vorgetragen worden sind, zu einer Regelung zu kommen. Denn es geht ja nicht um Mehrheitsverhältnisse; das hat man an jeder Stelle herausgehört. Alle stellen fest, dass es ein Defizit gibt, dass man nicht zu viel versprechen darf, dass man die politische Akzeptanz im Auge behalten muss. Ich denke, uns eint das Ziel, den Menschen, die Opfer von Straftaten werden, auch in den bisher nicht geregelten Bereichen unter vertretbaren Gesichtspunkten - sowohl was die Finanzmittel wie auch was die politische Akzeptanz angeht - zu helfen und sie nicht allein zu lassen. Ich möchte auch gegenüber allen Fraktionen anregen, einen solchen Prozess zu initiieren. Unser Haus und die kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gerne bereit, diesen Prozess, wie man so schön sagt, ergebnisorientiert zu fördern und zu begleiten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Jörn Wunderlich das Wort.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grundgedanke des Opferentschädigungsgesetzes ist die Verantwortung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger vor Gewalttaten und Schädigungen durch kriminelle Handlungen zu schützen und denjenigen Opfern zur Seite zu stehen, die nach dem bürgerlichen Recht keinen hinreichenden Schutz und Schadensersatz in Anspruch nehmen können. An dem vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen wir - ich denke, das geht hier durch alle Reihen - den Versuch zum Paradigmenwechsel weg von der Perspektive des Staates hin zur Opferperspektive. Besonders deutlich zeigt sich dieser Fakt an den vorgeschlagenen Regelungen zur Entschädigung von Straftaten im Ausland - diese Sichtweise entspricht auch der Intention meiner Fraktion - sowie der vorgeschlagenen Anpassung des Opferentschädigungsgesetzes an das Lebenspartnerschaftsgesetz. Es ist schon erwähnt worden, dass das letztlich nur vergessen worden ist. Zu unterstützen ist auch die Forderung, dass weiterhin diejenigen von Entschädigungen ausgeschlossen werden sollen, die durch eigenes Verhalten, insbesondere durch die Wahl eines gefährlichen Reiseziels, fahrlässig handeln. Trotzdem komme ich an einigen kritischen Bemerkungen zu der vorliegenden parlamentarischen Initiative nicht vorbei. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, schlagen in Ihrem Entwurf vor, den Kreis der Anspruchsberechtigten gemäß Opferentschädigungsgesetz auch auf die Menschen auszudehnen, die sich nur vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten und mit einem dauerhaft hier lebenden Menschen bis zum dritten Grad verwandt sind. Wenn man sich schon richtigerweise dazu entschließt, § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes auszuweiten, dann hätte dies nicht so halbherzig geschehen dürfen. Wie Herr Lehrieder schon gesagt hat: Es ist die Verantwortung des Staates, für die Menschen auf seinem Territorium einzustehen. Sind denn Menschen, die sich hier aufhalten und die nicht dritten Grades mit hier Lebenden verwandt sind, schlechtere Menschen? Ihr Vorhaben, aus rein finanziellen Erwägungen nicht alle Opfer von Gewalttaten auf dem Territorium der Bundesrepublik gleichzustellen und in gleicher Weise zu entschädigen, nenne ich Rechtsansprüche nach Kassenlage gestalten. Ich denke, das darf nicht sein. ({0}) Wir fordern gleiche Entschädigungsleistungen für alle Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik Opfer von Gewalttaten werden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, von ihrem Aufenthaltsstatus oder ihren verwandtschaftlichen Beziehungen. Eine weitere kritische Anmerkung. Wenn wir uns mit der Ergänzung bzw. Erweiterung des Opferentschädigungsgesetzes befassen, dann hätte ich eigentlich erwartet - aber wir befinden uns erst in der ersten Lesung; es folgen noch die Berichterstattergespräche -, dass wir uns weiteren notwendigen Änderungen zuwenden. Denn nach wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbrechen, deren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine Grundrente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente eines Westdeutschen beziehen. Hier sehe ich noch genügend Raum, um den vorliegenden Gesetzentwurf in den Ausschussberatungen inhaltlich anzureichern, sofern der politische Wille für die wirklich großen Schritte vorhanden ist. Aber immerhin: Der Anfang ist gemacht. Es ist schon signalisiert worden, dass man konstruktive Berichterstattergespräche führen will, in denen man ausloten kann, inwieweit diese Forderungen umsetzbar sind. Um mit den Worten von Aristoteles zu sprechen: „Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen.“ In diesem Sinne hoffe ich, dass wir tatsächlich konstruktive Berichterstattergespräche führen und dass auch die zweite Hälfte dieses Ganzen in das Gesetzgebungsverfahren einfließen kann. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Siegfried Kauder das Wort. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin im Jahr 2002 mit einem ausgearbeiteten Gesetzentwurf unter dem Arm voller Enthusiasmus in den Deutschen Bundestag eingezogen. Es hat sich dabei um das Gesetz zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes gehandelt. Lassen Sie mich betonen: Ich habe sehr schnell Wegbegleiter über die Fraktionsgrenzen hinaus gefunden. Die Diskussion, die wir heute führen, zeigt, dass dieses sachliche und konstruktive Arbeitsklima weiterhin besteht. Ich würde darauf gerne zurückgreifen. ({0}) Es ist so, wie es der Kollege van Essen und der Kollege Montag gesagt haben: Wir hatten unser Ziel fast erreicht. Aber jetzt muss man einmal die Möbel wieder geraderücken. An was ist es eigentlich gescheitert? Es ist gescheitert an der Kostenfolge für die Länder. Ich habe damals schon folgenden Gesichtspunkt erwähnt: Das Opferentschädigungsgesetz beinhaltet ein Territorialitätsprinzip, das schon nach bestehendem Recht leicht durchbrochen ist. Denn es gilt auch auf deutschen Schiffen und in deutschen Botschaften im Ausland mit einer Besonderheit: Geschieht eine Straftat auf einem deutschen Schiff, sitzen die Länder sozusagen nicht mit im Boot. Die gesamte Entschädigung zahlt der Bund; die Länder sind daran nicht mit einer bestimmten Quote beteiligt. Man kann nun schnell die Argumentationskette erkennen, auf die sich die Länder berufen: Verlässt ein Reisender das Schiff und begibt sich auf fremdes Terrain, so ist eine etwaige Entschädigung eine Sache des Bundes, weil ein Bezug zum Bundesland des Reisenden nicht besteht. An dieser endlosen Diskussion sind wir gescheitert, zumal noch das Ende der Legislaturperiode herannahte. Ich bin der Meinung, dass man diese Überlegung wieder aufgreifen sollte. In diesem Zusammenhang will ich nicht verschweigen, dass es eine Bund/LänderArbeitsgruppe gibt, die sich weitergehende Gedanken gemacht hat. Ich habe auf mehreren Fachtagungen erfahren, wie Opferentschädigungen im Ausland geregelt werden. In Österreich ist man schon weiter; dort gilt das Territorialitätsprinzip nicht. Aber auch in anderen Ländern ist man, was das Verfahren anbelangt, schon weiter als in Deutschland. In den angelsächsischen Ländern ist die Opferentschädigung völlig anders als bei uns geregelt. Dort gibt es ein Gremium, das aus ehrenamtlichen Mitarbeitern entsteht, die nach typisierten Sachlagen entscheiden, ob eine Pauschale gezahlt wird. In wenigen Wochen wird eine Opferentschädigung zugesprochen. Ist das Opfer damit nicht einverstanden, kann es ein Rechtsmittel einlegen. Dann ist der Rechtsweg abgeschlossen. Deswegen lasse ich diese Diskussion in der BundLänder-Kommission gerne zu. Dort macht man sich Gedanken, ob man Opferentschädigungen nicht mit Pauschalen abarbeiten kann. Denn das derzeit geltende Opferentschädigungsgesetz ist, was die Abwicklung anbelangt, ein bürokratisches Monstrum. Es gibt im Rahmen des Opferentschädigungsrechtes Verfahren, die fünf, sechs und sieben Jahre durch mehrere Instanzen gehen; das sage ich Ihnen ganz klar. Es ist mir lieber, ein Opfer bekommt weniger, aber sofort und auf der Stelle, als dass es sich mit einem belastenden Verfahren über viele Jahre beschäftigen muss. ({1}) Deswegen möchte ich Sie alle recht herzlich dazu einladen, diese Diskussion fortzuführen. In den angelsächsischen Ländern hat sich die Praxis bewährt, dass man die Entschädigung pauschal abarbeitet. Es gibt aber auch die andere Überlegung, die Opferentschädigung den Gemeindeversicherungsverbänden zu übertragen, was mir nicht so schmeckt wie die Pauschallösung. Ich wiederhole: Ich lade Sie alle recht herzlich ein. Ich bin der Meinung, dass die Berichterstatter der letzten Legislaturperiode sich an einen Tisch setzen sollten. Ich begrüße die Initiative, die Sie gestartet haben. Das ist für mich ein Merkposten, dieses Gesetz, das ich sicher nicht vergessen habe, wieder gerne mit Ihnen zu debattieren. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/1067 und 16/585 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für Ar- beit und Soziales liegen soll. Sind Sie damit einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beiträge und Beitragszuschüsse in der Alterssicherung der Landwirte für das Jahr 2007 - Drucksache 16/3268 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 16/3637 - Berichterstattung: Abgeordnete Gregor Amann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen verwenden - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz ({2}), Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwenden - Drucksachen 16/3091, 16/2509, 16/3637 Berichterstattung: Abgeordnete Gregor Amann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes. ({3})

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen stand die mittelfristige und langfristige Entwicklung der Rentenpolitik im Zentrum der Diskussion. Jetzt geht es um die aktuelle Situation der Rentenversicherungsbeiträge und der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Es bleibt dabei: Kalkulierbarkeit, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit sind auch bei diesem Thema die Orientierungsmarken. Bereits im Koalitionsvertrag wurde festgelegt, dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 19,9 Prozent angehoben und gleichzeitig die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 auf 4,5 Prozent sinken sollen. Vier Jahre lang ist es trotz schwieriger ökonomischer Situation gelungen, die Beitragssätze in der Rentenversicherung stabil bei 19,5 Prozent zu halten. 2005 wurde vereinbart, den Beitragssatz 2007 auf 19,9 Prozent festzulegen und mittelfristig unterhalb eines Beitragssatzes von 20 Prozent zu bleiben, um auch vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung eine solide Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sicherzustellen. Nun freuen wir uns über die ökonomische Entwicklung und die heutige finanzielle Situation in der Rentenkasse. Nimmt man die Daten des Schätzerkreises hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung für die nahe Zukunft zur Kenntnis, dann wäre sogar unter Einhaltung der Nachhaltigkeitsrücklage von 0,2 Monatsausgaben ein Beitragssatz von 19,7 Prozent möglich. ({0}) - So verlockend das ist - Sie folgen diesen Verlockungen ja hemmungslos -: ({1}) Es gilt, über den Tag hinauszuschauen, Herr Kollege, finanzielle Solidität zu gewährleisten, ({2}) einen grundsätzlichen Kurs zu halten und nicht zickzack zu fahren. ({3}) Deswegen sei auf Folgendes hingewiesen: Die Entwicklung würde, wenn wir dem so folgen würden, bei gleich bleibender Datenbasis dazu führen, dass der Rentenversicherungsbeitrag 2008 auf 20,1 Prozent steigt. Die bestehende gesetzliche Verstetigungsregelung sorgt dafür, dass der Rentenversicherungsbeitrag erst dann wieder gesenkt werden darf, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage 1,5 Monatsausgaben überschreitet. Das wollen wir nicht. Das wäre nicht gut für die Konjunktur. Das wäre auch für den Bundeshaushalt nicht gut, weil dann zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro ({4}) oder Leistungskürzungen, wie das sogar einige vorschlagen, erforderlich sind. Wir lehnen Kürzungen ab. ({5}) Wir wollen keine zusätzlichen Finanzmittel. Wir wollen Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit. Deshalb bleibt es bei den 19,9 Prozent, auch damit wir auf dem langen Pfad bis 2020 unter der Größe von 20 Prozent bleiben. Nicht der schnelle 5-Euro-Blick ist hier für Berechenbarkeit Ausdruck, sondern derjenige, der sich auf die Perspektiven verlässt, die auch der SoParl. Staatssekretär Franz Thönnes zialbeirat durchaus so gesehen hat. Dieses Gremium, das sich aus Arbeitgebervertretern, Gewerkschaftsvertretern und Wissenschaftlern zusammensetzt, unterstützt uns auf diesem Kurs. Man muss natürlich auch deutlich sagen: An anderer Stelle senken wir. Wir reduzieren den Arbeitslosenversicherungsbeitrag über das hinaus, was schon beschlossen war; wir reduzieren nämlich jetzt auf 4,2 statt auf 4,5 Prozent. Damit werden die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler um 2,2 Milliarden Euro entlastet. Das Gesamtvolumen der Entlastungen beträgt sogar 17 Milliarden Euro. Damit wird ganz deutlich: Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden hinsichtlich ihrer Lohnnebenkosten ein Stück weit entlastet und haben netto mehr im Portemonnaie. ({6}) Ich will noch hinzufügen, dass man denjenigen, die nach weiterer Reduzierung rufen, nicht folgen darf. Wir machen nur das, was solide finanziert werden kann; denn darauf zählen die Menschen, die wollen, dass es weiterhin eine gute aktive Arbeitsmarktförderung gibt. Das ist gewährleistet. Deswegen braucht man auch den Skeptikern nicht zu folgen, die glauben, die aktive Arbeitsmarktpolitik würde nicht weitergehen. Für den Eingliederungstitel für 2007 stehen weiterhin 3,3 Milliarden Euro zur Verfügung, und das, obwohl sogar mit weniger Arbeitslosen gerechnet wird. Darin sind 200 Millionen Euro für ein Integrationsfortschrittsprogramm enthalten, mit dem ganz besonders Menschen gefördert werden sollen, die unsere Hilfe benötigen. Weitere 218 Millionen Euro aus dem Eingliederungstitel gehen gezielt in die Förderung von Jugendlichen, unter anderem zur Finanzierung von 12 500 Ausbildungsplätzen in außerbetrieblichen Einrichtungen. Insgesamt stehen 13 Milliarden Euro für aktive Arbeitsförderung in 2007 zur Verfügung. Das ist - gerade angesichts der guten Konjunktur - ein ordentlicher Beitrag, der den Menschen, die keine Arbeit haben, helfen wird, wieder Arbeit zu finden. Die 317 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die wir jetzt mehr haben im Vergleich zum November des vorigen Jahres, sind wirklich gute Mutmacher, die uns bestätigen, dass das Geld auf diesem Kurs gut investiert ist. Auch die Senkungen und die Reduzierungen, die stattfinden, werden nichts daran ändern, dass die Konjunktur weiter gefördert wird; denn der moderaten Belastung von 4 Milliarden Euro stehen 17 Milliarden Euro an Entlastung gegenüber. Das macht 13 Milliarden Euro als Nettoentlastung. Das ist gut für die Menschen, für die Wirtschaft und für die Konjunktur in diesem Land und das wird das Land auch weiter nach vorne bringen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie können das drehen und wenden wie Sie wollen: Die 13 Milliarden Euro Entlastung, die Sie jetzt quasi als Geldsegen den Versicherten zurückgeben wollen, haben Sie sich doch am Anfang dieses Jahres bei den Unternehmen längst geholt. ({0}) Durch den „13. Monatsbeitrag“ haben Sie 22 Milliarden Euro in die Sozialkassen vereinnahmt. Deswegen ist es nicht redlich, wenn Sie hier behaupten, Sie täten nun etwas ganz Tolles. ({1}) Im Übrigen, Herr Staatssekretär, hat die Anhörung ganz deutlich gezeigt, dass das Maßnahmenpaket, das Sie hier heute zu vertreten haben - bestehend aus der Rentenbeitragssatzerhöhung, einer Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags, einer absehbaren Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrags und der Mehrwertsteuererhöhung -, im Ergebnis das Wachstum im Jahr 2007 erheblich belastet und die sozialen Sicherungssysteme wieder destabilisiert. ({2}) Der Sachverständige Professor Horn hat in der Anhörung gesagt, dass das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr durch den negativen Impuls aus dem Regierungshandeln um über 1 Prozentpunkt niedriger ausfallen wird, als es bei einer ungebremsten Entwicklung der Fall wäre. Statt 2,5 Prozent plus x werden wir 1,5 Prozent minus x haben. Das bedeutet, das Wachstum wird wieder unter die Beschäftigungsschwelle sinken. Das ist das Problem. ({3}) Die Trendumkehr führt auch dazu, dass die sozialen Sicherungssysteme wieder stärker belastet werden. Deswegen kann ich nicht verstehen, Herr Staatssekretär, dass die Bundesregierung im Rentenversicherungsbericht für 2007 und 2008 weiterhin von einem Beschäftigungszuwachs ausgeht: 2007 um 0,6 Prozent und 2008 um 0,4 Prozent. Das ist sehr optimistisch, zumal im Jahr 2006 bei einem Wachstum von 2,4 Prozent gerade einmal ein Beschäftigungszuwachs von 0,5 Prozent erzielt wurde. Da passt doch irgendwo etwas nicht zusammen. Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, ein Beitragssatz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent wäre eigentlich ausreichend. Die Koalition verteidigt die Erhöhung auf 19,9 Prozent - auch Sie haben das getan damit, dass ansonsten schon im Jahr 2008 eine Anhebung des Beitragssatzes auf über 20 Prozent erforderlich wäre. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass mit dem Rentenversicherungsbericht 2006 die Rechtfertigung für diese Argumentation entfallen ist; denn in vier von neun Szenarien der möglichen Entwicklung von Beschäftigung und Löhnen - Herr Staatssekretär, aus meiner Sicht sind das die wahrscheinlicheren - muss der Beitragssatz für 2008 auf über 20 Prozent angehoben werden. Das ist die Wahrheit. ({4}) Ich habe den Bericht dabei und könnte Ihnen meine Ausführungen im Detail belegen. Man muss schon ein sehr großer Optimist sein, wenn man Ihren Versprechungen folgt, der Beitragssatz zur Rentenversicherung könne über 2012 hinaus - in der Debatte heute Morgen hieß es sogar: bis 2020 - bei 19,9 Prozent gehalten werden. ({5}) Herr Schaaf, von den Koalitionsfraktionen hat zumindest die SPD diesbezüglich aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit jede Glaubwürdigkeit verloren. ({6}) Sie haben immer wieder versprochen, die Beiträge würden zumindest stabil bleiben, wenn nicht sinken. Im Ergebnis sind sie aber von Mal zu Mal weiter angestiegen. ({7}) Immer deutlicher wird - darauf will ich noch hinweisen -, dass die große Koalition bei den Lohnzusatzkosten einen Paradigmenwechsel vorbereitet. Spielräume für eine Absenkung der Gesamtbelastung werden vorsätzlich nicht genutzt. Was mich besonders hellhörig macht, ist, dass man des Öfteren aus den Reihen der Koalition hört, eine weitere Absenkung sei jetzt nicht mehr so vordringlich. Herr Weiß, dabei war im Koalitionsvertrag doch alles noch recht klar formuliert: Die Lohnzusatzkosten, die Sozialversicherungsbeiträge, sollten dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. ({8}) In 2007 liegen sie bei 40,6 Prozent. Ich frage Sie, wann in dieser Legislaturperiode wollen Sie an die Schwelle von 40 Prozent herankommen, wenn nicht jetzt? Der Beitragsdruck in der Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung lässt es doch überhaupt nicht wahrscheinlich erscheinen, dass die Beiträge noch einmal sinken könnten. Im Gegenteil: Sie werden sich weiter noch oben entwickeln. Das ist die Realität. ({9}) Jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Hinweis - der Kollege Brandner hat das neulich im Ausschuss versucht -, Sie hätten die 40 Prozent längst mehr als erreicht; der Prozentsatz sei sogar niedriger, weil der Pflegebeitrag gegenfinanziert werde und man den Krankenversicherungszusatzbeitrag der Arbeitnehmer separat betrachten müsse. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie hier versuchen, das Ziel einfach umzudefinieren und die Argumentation nur noch auf die gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten Beitragssätze abzustellen. ({10}) Ich finde, Sie verpassen eine Chance, wenn Sie nicht alle Spielräume für eine Beitragssenkung konsequent nutzen. Erst Ihre Politik des fehlenden Mutes schafft nämlich die Voraussetzungen dafür, dass die Beiträge tatsächlich steigen müssen. Jeder Unternehmer würde anders handeln. Er würde den Spielraum ausschöpfen, um die gute Entwicklung des Jahres 2006 zu verstärken und fortzusetzen. ({11}) Zum Schluss: Es ist bedrückend, zu sehen, dass die große Koalition offensichtlich den gleichen Fehler macht wie die Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder 1998. Damals hat man bei Amtsantritt und gut laufender Konjunktur keine Reformen eingeleitet. Man hat die Bürger erst einmal kräftig zur Ader gelassen. ({12}) Als die Konjunktur dann wieder nachgelassen hat, hat man zunächst mit unsystematischen Einsparmaßnahmen begonnen. Erst nach einem Lernprozess von einigen Jahren wurden mit der Agenda 2010 echte Reformansätze eingebracht. Unser Land hat wirklich nicht so viel Zeit zu verlieren, dass man diesen Leidensweg noch einmal gehen könnte. ({13}) Dazu fällt mir nur ein: Ein kluger Mensch lernt aus den eigenen Fehlern, ein weiser Mensch lernt aber auch aus den Fehlern anderer. An Weisheit scheint es in dieser großen Koalition wahrlich zu fehlen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Beitragsfestsetzung schafft die große Koalition die Voraussetzungen für Verlässlichkeit und Sicherheit bei der Rente einerseits und für eine dauerhafte Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge andererseits. Wir geben eine klare Botschaft an die Wirtschaft und an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland: Die Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland werden von der großen Koalition und ihrer Politik nach Kräften unterstützt und beflügelt. ({0}) Herr Kollege Dr. Kolb, was Sie gesagt haben, stimmt schlichtweg nicht. ({1}) Peter Weiß ({2}) Sie haben behauptet, die Bundesregierung würde in ihrem am Mittwoch im Kabinett verabschiedeten Rentenversicherungsbericht den Beschäftigungszuwachs der nächsten Jahre zu optimistisch schätzen. ({3}) - Doch, das haben Sie gesagt. Sie haben gesagt, wir würden von zu optimistischen Annahmen ausgehen. Sie haben gesagt, dass die Beitragssätze zur Rentenversicherung für die kommenden Jahre höchst problematisch seien. ({4}) Herr Kolb, der Sozialbeirat hat in seiner Stellungnahme zum Rentenversicherungsbericht genau das Gegenteil von dem, was Sie sagen, festgestellt. ({5}) Ich zitiere: Der Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich, dass die mittelfristigen ökonomischen Grundannahmen für den Rentenversicherungsbericht 2006 vorsichtiger ({6}) als in den vergangenen Jahren festgesetzt wurden. … Die Berechnungen zeigen, dass sich die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich verbessert hat und mittelfristig weitgehend gesichert ist. Das ist ein positives Urteil und das Gegenteil von dem, was Sie, Herr Kolb, hier festgestellt haben. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben es selbst vorgetragen, es wurde der Komparativ verwendet. Die Schätzung ist ehrlicher als in der Vergangenheit, aber leider doch noch ein bisschen zu optimistisch. Das habe ich aber gar nicht in meiner Rede gesagt. Sie hätten mir zuhören sollen. Ich habe gesagt: In vier von neun Varianten - es werden drei verschiedene Beschäftigungsszenarien mit drei verschiedenen Lohnentwicklungsszenarien kombiniert - kommen 20 oder mehr Prozent Rentenversicherungsbeitrag in den Jahren 2008, 2009 und 2010 heraus. Stimmen Sie mir zu, dass damit Ihre Behauptung nicht mehr haltbar ist, es sei auf jeden Fall - egal was passiert - möglich, den Rentenversicherungsbeitrag bei 19,9 Prozent zu halten? Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung diese Szenarien überhaupt in ihren Rentenversicherungsbericht aufnimmt, wenn solche Negativszenarien von vornherein ausgeschlossen werden können. Können Sie mir zustimmen? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dr. Kolb, nein, ich kann Ihnen nicht zustimmen, weil Sie hier bewusst Nebelkerzen werfen. ({0}) Es war schon immer so, dass im Rentenversicherungsbericht mehrere Varianten dargestellt werden. Wir richten uns politisch zu allen Zeiten an der mittleren Variante aus. Sie ist einigermaßen sicher gerechnet und besagt, dass wir die Beitragsziele, die wir uns politisch gesetzt haben, einhalten können, nämlich dass wir unter 20 Prozent Beitragssatz bei der Rentenversicherung bleiben. ({1}) Sie können den gesamten Rentenversicherungsbericht und den Bericht des Sozialbeirates lesen. Sie werden Folgendes finden: Bei diesem Rentenversicherungsbericht ist die Bundesregierung hinsichtlich des Wirtschaftswachstums und der Entwicklung der Zahl der Beschäftigten von deutlich niedrigeren Annahmen ausgegangen als der Sachverständigenrat. Deswegen rechnet die Bundesregierung mit deutlich konservativeren Annahmen als die Sachverständigen. Sie hat sich also auf die besonders sichere Seite gestellt. ({2}) Deswegen können Sie das, was im Rentenversicherungsbericht steht, nicht plötzlich problematisieren und nicht kritisieren, dass da vielleicht zu gut gerechnet worden ist oder Unwägbarkeiten drin sind. ({3}) Sie müssten eigentlich sagen: endlich eine Bundesregierung, die bewusst vorsichtig rechnet, der von den Sachverständigen sogar vorgehalten werden kann, dass sie viel besser hätte rechnen können. Das ist das Ergebnis des Rentenversicherungsberichtes. Deswegen ist das, was Sie hier festgestellt haben, schlichtweg falsch. ({4}) Sie haben, Herr Kollege Kolb, echte Reformen angekündigt. In der nächsten Sitzungswoche findet die erste Lesung eines großen Reformvorhabens, der Rente mit 67, statt. Die große Koalition geht echte Reformen an. Es ist die FDP, die sich in einem Bundesparteitagsbeschluss leider darauf festgelegt hat, dass sie gegen die Rente mit 67 ist. ({5}) Peter Weiß ({6}) Wenn hier jemand Reformen macht, dann doch die große Koalition und nicht die FDP. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne. Selbstverständlich darf Kollege Kolb eine weitere Frage stellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich mache allerdings darauf aufmerksam, dass sich die Antwort ein wenig auf die Frage beziehen sollte. ({0}) - Ja. Das habe ich schon gemerkt.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich würde es sehr begrüßen, wenn sich die Antwort auf meine Frage beziehen würde. Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP auf ihrem Bundesparteitag in Rostock in einem Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik fair und generationengerecht gestalten“ sechs Punkte beraten und fünf von ihnen beschlossen hat, ({0}) zum Beispiel einen Schritt, Herr Kollege Brauksiepe, zu dem Sie sich nie werden durchringen können, nämlich die Frühverrentung, die uns pro Jahr immerhin 7 Milliarden Euro kostet, unverzüglich zu beenden? Darüber hinaus ging es um die Altersteilzeit, die 58er-Regelung und weitere Maßnahmen wie die Entfernung des Kündigungsschutzes als eigenständiger Tatbestand im Kündigungsschutzgesetz. ({1}) Das waren sehr mutige Beschlüsse. ({2}) Was die Anhebung des regulären Renteneintrittsalters betrifft, haben wir uns noch nicht festgelegt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Könnte es sein, dass eine Frage mit einem Fragezeichen enden muss? Den Werbeblock zu Ihrem Parteitagsantrag können wir vielleicht verschieben. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns im Hinblick auf die Anhebung des regulären Renteneintrittsalters noch nicht festgelegt haben, ({0}) weil wir glauben, dass man nicht einfach, wie Sie es getan haben, das bisherige feste Renteneintrittsalter durch ein höheres festes Regeleintrittsalter ersetzen kann, sondern dass man von neuem überlegen und den Menschen einen flexiblen Renteneintritt ermöglichen muss,

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kolb, versuchen Sie, zum Abschluss Ihrer Frage zu kommen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- weil zwei Drittel der Menschen in diesem Land genau das wollen? ({0}) Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Kollege Weiß? ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Kolb, zunächst danke ich Ihnen sehr herzlich für die Darlegung der Beschlüsse des Bundesparteitags der FDP. ({0}) Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Bundesvorsitzende der FDP, der verehrte Herr Westerwelle, erst kürzlich in einem Interview mit einem landesweit bekannten politischen Magazin geäußert hat ({1}) - ich wollte im Parlament keine Schleichwerbung machen; deswegen habe ich mich neutral ausgedrückt -, dass sich die FDP gegen die Festlegung einer neuen Regelaltersgrenze bei 67 Jahren ausspreche. ({2}) Im Übrigen würden wir uns sehr freuen, wenn die FDP im Rahmen der parlamentarischen Beratungen unseres Gesetzentwurfs, die wir im Frühjahr des nächsten Jahres durchführen werden, ({3}) doch noch die Kurve kriegen und unserem Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Beratung zustimmen würde. ({4}) Peter Weiß ({5}) Wir sind sehr gespannt und freuen uns darauf. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, den Beitragssatz zur Rentenversicherung schreiben wir bei 19,9 Prozent fest. Das bedeutet, so die Voraussage des Schätzerkreises, dass er bis zum Jahr 2012 konstant bleibt. Ausgerechnet dabei wollen FDP und Grüne nicht mitmachen. Sie wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung für das kommende Jahr bei 19,7 Prozent festsetzen. Der Schätzerkreis sagt uns voraus, dass der Beitragssatz dann im Jahr 2008 auf 20,1 Prozent angehoben werden müsste; das hat der Staatssekretär schon vorgetragen. ({7}) Die Verstetigungsregelung hätte zur Folge, dass der Beitragssatz bis zum Jahre 2010 bei 20,1 Prozent verbleiben würde. Jetzt muss jeder von uns - das kann auch jeder - eine ganz einfache Rechnung aufmachen und sich fragen: Welche Lösung ist für die deutsche Wirtschaft und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Strich günstiger? FDP und Grüne wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent bis zum Jahre 2010 auf 20,1 Prozent erhöhen. CDU/CSU und SPD wollen ihn im nächsten Jahr bei 19,9 Prozent festsetzen und diese Beitragssatzhöhe bis zum Jahre 2012 beibehalten. Unter dem Strich ist die Lösung von Grünen und FDP für die deutsche Wirtschaft und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich teurer als der Vorschlag der großen Koalition. ({8}) Um es ganz einfach zu sagen: Durch die Anträge von FDP und Grünen würden die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich belastet. Die große Koalition hingegen entlastet die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({9}) Diese Wahrheit muss deutlich ausgesprochen werden. ({10}) FDP und Grüne wollen einen rentenpolitischen Zickzackkurs. Die große Koalition sorgt für Verlässlichkeit. Das ist ein Faktum. ({11}) Das ist nicht nur die Sichtweise eines Abgeordneten der Koalition, sondern das hat auch der Sozialbeirat ausdrücklich festgestellt; auch darauf hat der Herr Staatssekretär bereits hingewiesen. Ich zitiere den Sozialbeirat noch einmal: Angesichts der mit der Anhebung des Beitragssatzes auf 19,9 Prozent mittelfristig verbundenen Stabilisierung des Beitragssatzes begrüßt der Sozialbeirat diesen Schritt … Mit der dadurch möglichen Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Rentenversicherung kann nach Einschätzung des Sozialbeirats einer anhaltenden Diskussion über die finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung in der Öffentlichkeit entgegengewirkt werden. Genau so ist es. Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Machen wir einen vernünftigen Schritt, sorgen wir für einen stabilen Rentenversicherungsbeitrag!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, nachdem mithilfe der FDP Ihre Redezeit mehr als verdoppelt wurde, ({0}) bitte ich Sie, jetzt wirklich zum Schluss zu kommen. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin, ich wollte, um bei Ihnen noch Gnade zu finden, gerade zu meinem Schlusssatz ansetzen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Einen Satz.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung so festsetzen, dass er möglichst viele Jahre stabil bleibt. Unter dem Strich bringt das den Arbeitnehmern und der Wirtschaft eher Entlastung als Belastung. Gleichzeitig senken wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf den seit 20 Jahren niedrigsten Stand. Das ist die gute Botschaft für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Wirtschaft in unserem Land. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Volker Schneider das Wort. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 0,2 Prozentpunkte oder 0,4 Prozentpunkte rauf bei der Rentenversicherung, 0 Prozentpunkte oder 0,3 Prozentpunkte runter bei der Arbeitslosenversicherung, das waren die zentralen Diskussions- und Streitpunkte in unserer heutigen Diskussion. Volker Schneider ({0}) ({1}) - Das war schon etwas vorher, lieber Kollege Schaaf. Das waren die bisherigen Beratungen in Plenum, Ausschuss und Anhörungen: Null-Komma-Beträge, und doch hatte man teilweise den Eindruck, es würden die für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland entscheidenden Debatten ausgetragen. Die Annahme, dass eine Senkung der Lohnnebenkosten in dem hier diskutierten Umfang wesentliche Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit auf die Beschäftigungssituation hat, gehört - schöne Grüße an Herrn Rüttgers! - in den Zyklus der Lebenslügen. Arbeitnehmer, die sich Gedanken um ihre Rente machen oder die sich vor Arbeitslosigkeit fürchten, hätte bei unseren Diskussionen wahrscheinlich das Gefühl beschlichen, im falschen Film zu sitzen. Die Bereitschaft, in eine Versicherung einzuzahlen - das gilt auch für die Sozialversicherung -, und die Frage, wie viel man zu zahlen bereit ist, sind doch auch davon abhängig, was man im Schadensfall von dieser Versicherung erwarten darf. Fragen Sie sich doch einmal, mit wie viel Zustimmung man unter den pflichtversicherten Kunden der Renten- oder Arbeitslosenversicherung rechnen darf! Oder umgekehrt: Meinen Sie nicht, es ist einem Arbeitnehmer relativ egal, ob er nun 19,5 oder 19,7 oder 19,9 Prozent an die Rentenversicherung zahlt, wenn er dafür das Gefühl hat, seinen Lebensabend unter halbwegs gesicherten Bedingungen gestalten zu können? ({2}) - Erwarten Sie von der Linken etwas anderes? ({3}) Wir haben im Ausschuss signalisiert, dass wir uns mit einer Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf 19,9 Prozent hätten einverstanden erklären können. Doch missverstehen Sie das nicht als grundsätzliche Zustimmung zu Ihrer Rentenpolitik! Denn es ist uns nicht entgangen - Frau Schewe-Gerigk, passen Sie jetzt auf; das ist, glaube ich, auch Ihr Anliegen -, ({4}) dass die Anhebung des Beitragssatzes entbehrlich gewesen wäre, hätte die Bundesregierung nicht die Beitragszahlung für Empfänger von Arbeitslosengeld II halbiert. ({5}) Wir wünschen uns im Interesse der Beitragszahler wieder mehr Kontinuität in der Rentenversicherung. Dann macht es keinen Sinn, den Beitrag so auf Kante zu nähen, wie sich das die Grünen und die FDP wünschen. ({6}) Derzeit wird insbesondere in den Reihen der CDU/ CSU - wir haben es eben aber auch von Staatssekretär Thönnes gehört - fast schon penetrant betont, dass der Sozialbeirat die mittelfristigen ökonomischen Grundannahmen ausdrücklich als realistisch lobt. Dazu eine Anmerkung: Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Ihre Annahmen dieses Mal mehr der Realität entsprechen, als wir das von der Vergangenheit gewohnt sind. Ich wünsche mir das insbesondere deshalb, weil wir wieder mehr Verlässlichkeit in der Rentenversicherung brauchen. Mit dem Vertrauen der Menschen in die Zukunft der Rente ist die Politik viel zu lange viel zu fahrlässig umgegangen. ({7}) Nicht alle teilen Ihre Zuversicht so, wie der Sozialbeirat das tut. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge nennt den Bericht realitätsfern und kritisiert insbesondere die Annahmen zur künftigen Lohnentwicklung. ({8}) Bei unterstellten Lohnsteigerungen von im Mittel 2,5 Prozent muss man wirklich keine Kassandra sein, um eine gewisse Skepsis an den Tag legen zu können. ({9}) Wie dem auch sei, in die Verlegenheit, Ihnen halbherzig zustimmen zu müssen, haben Sie uns gar nicht erst gebracht, weil Sie die Arbeitslosenversicherung nun wirklich bis an die Grenze fahren. Dabei behaupten Sie auch noch: Die Beitragssatzsenkung führt zu keinen Einschränkungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die aktive Arbeitsmarktförderung wird auf hohem Niveau stabilisiert. Dies wird auch in den Folgejahren der Fall ein. - Herr Staatssekretär, das haben einige Sachverständige in der Anhörung durchaus anders gesehen. ({10}) Wir haben das Gefühl, dass sich einige der Arbeitslosen angesichts ihrer realen Situation schlicht verhöhnt vorkommen, weil sie nicht verstehen können, dass auf der einen Seite Überschüsse erzielt und deshalb die Beiträge gesenkt werden, während ihnen auf der anderen Seite oft nicht adäquat geholfen wird. Überschüsse müssen denen zurückgegeben werden, die Beiträge gezahlt haben. Zusätzliche arbeitsmarktpolitische Leistungen und die längere Zahlung des Arbeitslosengeldes I auch, ohne dass dabei Ältere gegen Jüngere ausgespielt werden, hätten den Betroffenen mehr geholfen als eine Senkung der Beiträge, die denen, die zwischenzeitlich arbeitslos geworden sind, definitiv nicht hilft. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Ich danke Ihnen. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fünf Wirtschaftsweisen bringen den widersprüchlichen Reformkurs der Bundesregierung zutreffend auf den Punkt - ich zitiere -: Trotz der guten konjunkturellen Entwicklung blieben die Anstrengungen in den wichtigen Politikfeldern im Dickicht widerstreitender Interessen stecken. Diese Bilanz des Sachverständigenrats bezüglich der Politik der großen Koalition im ersten Regierungsjahr gilt auch für das Vorhaben der Bundesregierung, das heute zur Abstimmung steht. Der Sachverständige Professor Horn - er wurde von der Koalition als Sachverständiger benannt und schon vielfach zitiert ({0}) hat Ihnen die konjunkturdämpfende Wirkung der Erhöhung der Mehrwertsteuer bescheinigt. ({1}) Hinzu kommt die Erhöhung der Renten- und der Krankenkassenbeiträge. Laut Professor Horn droht eine Senkung des Wachstums bis unterhalb der Schwelle, ab der eine positive Beschäftigungswirkung erzielt wird. Sie halten aber eisern an der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung fest. Offenbar brauchen Sie die wortgetreue Umsetzung des Koalitionsvertrages, weil die Koalition Ihnen sonst vielleicht auseinander bricht. ({2}) Aktuelle Entwicklungen und neu entstandene Spielräume interessieren Sie dabei einfach nicht. Dazu zählen im Bereich der Rentenversicherung höhere Einnahmen in Höhe von 700 Millionen Euro und Einsparungen des Bundes beim zweckgebundenen Bundeszuschuss für Kindererziehungszeiten in Höhe von 300 Millionen Euro. Auf der Belastungsseite der Rentenversicherung steht die gesunkene Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld I, die zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden. Dann wird nämlich nur noch die Hälfte der Versicherungsbeiträge entrichtet, was auch wieder 2 Milliarden Euro ausmacht. Durch die unerwarteten Steuermehreinnahmen wird Ihnen der Spielraum gegeben, die Einsparung bei den Rentenbeiträgen für Langzeitarbeitslose auszusetzen. ({3}) Mit den dadurch gewonnenen zusätzlichen 2,1 Milliarden Euro könnten Sie im kommenden Jahr auf die geplante Beitragssatzsteigerung bei der Rentenversicherung verzichten. ({4}) Das hat uns auch der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund bestätigt. ({5}) Die rentenversicherten Arbeitnehmer würden dadurch entlastet. Angesichts der, wie wir heute gehört haben, knapp 4 Millionen Arbeitslosen und dem weiterhin hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen bei bislang fehlender Förderung der Beschäftigung ist die weitere Senkung der Arbeitslosenbeiträge ein Signal zum falschen Zeitpunkt. ({6}) Frau Kollegin Pothmer, die Bundesagentur für Arbeit ist nicht zum Sparen da, sondern sie soll qualifizieren und vermitteln. ({7}) Über die progressive Beitragssenkung wollen wir die arbeitsmarktpolitisch effektivere Steuerung und Gestaltung der Lohnnebenkosten erreichen. Die Koalitionsfraktionen bleiben mit ihrem Antrag weit dahinter zurück. Wir wollen die ungenutzten Überschüsse für eine arbeitsmarktpolitische Prioritätensetzung der BA verwenden. ({8}) Für uns steht ein Sonderprogramm für Ausbildung an erster Stelle, das wir auch weiterhin - also auch nach dem absehbaren Beschluss der Senkung des Beitrages auf 4,2 Prozent - fordern. Die hierfür erforderlichen 650 Millionen Euro sind gut angelegt; denn sonst sind die Ausbildungsverlierer von heute die fehlenden Fachkräfte von morgen. ({9}) Auch darüber haben wir heute Morgen in der Debatte bereits gesprochen. Aber auch die bessere Qualifizierung bisher vernachlässigter Gruppen bzw. die gezielte Förderung der Beschäftigungsfähigkeit von älteren Arbeitslosen gehören auf die Agenda der Bundesagentur für Arbeit. Meine Ausführungen sollen verdeutlichen, dass wir Grüne die Weichen anders stellen. Wir lehnen die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge und die weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ab und werden Ihrem Gesetzentwurf daher nicht zustimmen. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Gregor Amann das Wort. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um die Anhebung des Rentenversicherungsbeitrages auf 19,9 Prozent zum 1. Januar 2007 zu begründen, reichen eigentlich zwei Wörter aus - meiner Ansicht nach hat das auch keiner der Oppositionsredner widerlegt -: Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, und zwar sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber. ({0}) Wenn wir jetzt den Beitragssatz auf 19,9 Prozent anheben, dann bleibt er für mehrere Jahre stabil und wir müssen die 20-Prozent-Grenze nicht überschreiten. Herr Dr. Kolb hat vorhin wieder einmal behauptet, die SPD sei bei den Beitragssätzen in der Rentenversicherung nicht glaubwürdig. ({1}) Wenn man die Beiträge in der Rentenversicherung über Jahrzehnte hinweg betrachtet, dann wird deutlich, dass gerade in der Zeit Ihrer Mitregierung die Rentenversicherungsbeiträge den größten Sprung gemacht haben. ({2}) Insofern frage ich mich, wer glaubwürdiger ist: die SPD oder Herr Dr. Kolb? ({3}) Es ist durchaus legitim, zu fordern, den Beitrag kurzfristig nicht über 19,7 Prozent anzuheben. Aber das führt bei den Beiträgen zu einer Achterbahnfahrt oder zu steigenden Zuschüssen in die Rentenkasse aus Steuermitteln im Jahr 2008. Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf verhindern. Wir werden nachher über die Alternativen Zickzackkurs oder Verlässlichkeit abstimmen. ({4}) Ich komme nun zu den beiden Anträgen der Opposition. Zunächst zu den Grünen: Auf Ihr Progressivmodell will ich angesichts der Kürze meiner Redezeit jetzt nicht eingehen. Wir werden über diesen Themenkomplex noch diskutieren. Wie Sie wissen, gibt es eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung zum Thema Niedriglohnsektor. Was die Verwendung der Überschüsse der Bundesagentur für Qualifizierungs- und Förderangebote angeht, darf ich Sie daran erinnern, dass Herr Weise - immerhin Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit - im Ausschuss ausgeführt hat, dass der Eingliederungstitel im nächsten Jahr mit 3,3 Milliarden Euro in der gleichen Höhe im Haushalt eingestellt ist wie in diesem Jahr, und zwar bei niedrigeren Arbeitslosenzahlen. Das bedeutet pro Kopf also mehr. Alle Anforderungen der lokalen Agenturen wurden befriedigt. Wie uns mitgeteilt wurde, wurde keine einzige abgelehnt. 218 Millionen Euro der Gesamtsumme werden gezielt für die Förderung von Jugendlichen eingesetzt, unter anderem zur Finanzierung von 12 500 Berufsausbildungen in außerbetrieblichen Einrichtungen. Wir Sozialdemokraten begrüßen das und halten weitergehende Forderungen, wie sie in Ihrem Antrag gestellt werden, nicht für sinnvoll. Unser Ziel kann es nicht sein, den Markt mit außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen zu überschwemmen und die Wirtschaft damit aus ihrer Verantwortung zur Schaffung betrieblicher Arbeitsplätze zu entlassen. ({5}) Zum Antrag der FDP: Sie wollen den Beitragszahlern in Form von weitergehenden Beitragssenkungen ihr Geld zurückgeben. ({6}) Das klingt zunächst einmal vernünftig, ({7}) aber Sie verschweigen dabei, dass die Bundesagentur für Arbeit seit 1988 Zuschüsse in zweistelliger Milliardenhöhe aus dem Bundeshaushalt bekommen hat. ({8}) Wenn Sie die kumulierten Überschüsse mit dem Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr und in den nächsten Jahren verrechnen, dann bleibt für längere Zeit nichts mehr für eine Beitragssenkung übrig, nicht einmal für die, die wir heute Abend beschließen wollen. ({9}) Was den zweiten Teil Ihres Antrags hinsichtlich der effizienteren Strukturen in der Arbeitsverwaltung angeht, handelt es sich, glaube ich, um die übliche NiebelKlausel in FDP-Anträgen zur Bundesagentur. ({10}) Sie wollen offensichtlich nicht wahrnehmen, dass die Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit bereits in Gang ist. Wir werden Ihren Antrag aus diesem Grund ablehnen. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden gestatten, dass ich zum Rentenversicherungsbeitrag nichts mehr sage. Ich habe den Eindruck, dass ich gegen 21.40 Uhr FDP, Grüne und Linke nicht mehr davon überzeugen kann, dass unser Gesetzentwurf vernünftig ist. Insofern gebe ich die Hoffnung auf. Kollege Dr. Kolb, schade und außerordentlich bedauerlich ist allerdings, dass die FDP der Senkung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung nicht zustimmt. Schließlich sind wir Ihrem Ansinnen nachgekommen, freie Spielräume bei der Bundesagentur für Arbeit zu nutzen. ({0}) Das will ich einmal so festhalten, Herr Kollege Dr. Kolb. Sie haben schon einmal einen Antrag eingebracht; darüber haben wir bereits diskutiert. Natürlich haben Sie gewusst, dass wir uns auf diesem Weg bewegen. ({1}) Daher konnten Sie den jetzigen Antrag ungehindert einbringen. Er ist von der Grundintention her sicherlich vernünftig. Wir werden das so machen. Umso bedauerlicher ist, dass Sie sich einer weiteren Beitragssatzsenkung verschließen. ({2}) - Richtig, sogar verweigern. Es ist klar, dass das Geld bei der Bundesagentur für Arbeit nicht für irgendwelche Zwangsbeglückungsmaßnahmen ausgegeben, sondern denjenigen zurückgegeben wird, die es erwirtschaftet haben: den Beitragszahlern in unserem Land, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern. ({3}) Das heißt, der Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung sinkt nicht um 2 Prozentpunkte, sondern um 2,3 Prozentpunkte auf 4,2 Prozent. Dieser Beitrag kann in den nächsten Jahren gehalten werden. Die Arbeitgebervertreter haben uns in der Anhörung mit auf den Weg gegeben, dass Beitragssatzsenkungen dann am meisten Sinn machen, wenn sie nachhaltig sind. ({4}) Genau das machen wir jetzt. Wenn sich die gute Arbeitsmarktentwicklung fortsetzt, wird man sehen, ob weitere Spielräume für Beitragssatzsenkungen entstehen. Herr Dr. Kolb, lassen Sie mich ein Stück weit meiner Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, auf welchen Rat Sie seit neuestem hören. Sie bemühen seit der Anhörung Herrn Professor Horn, der - zugegeben - gesagt hat, dass die Mehrwertsteuererhöhung einen stark dämpfenden Effekt haben werde. Ich finde, es ist bemerkenswert, dass Sie ausgerechnet diesen Mann zum Kronzeugen Ihrer Politik machen. Herr Dr. Kolb, es interessiert mich, ob Sie dem Herrn Professor Horn auch an anderer Stelle folgen. In der Anhörung hat er behauptet - Sie waren dabei -: Deutschland ist heute sehr wettbewerbsfähig, wir haben die niedrigsten Arbeitskostensteigerungen innerhalb des Euroraumes seit längerer Zeit. ({5}) Er sagt weiter: Demnach hätte die Lohnsteigerung um 1 bis 2 Prozentpunkte höher ausfallen können, ohne dass es zu einer nachhaltigen Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit gekommen wäre. ({6}) Eine verrückte Welt, kann ich dazu nur sagen. Herr Kollege Dr. Kolb, vielleicht erläutern Sie uns das einmal. Oder kann es vielleicht nicht doch sein, dass Sie nur das herausgesucht haben, was Sie gebrauchen konnten? Wenn ja - das soll ja gelegentlich vorkommen -, dann geben Sie es zu. Tatsache ist jedenfalls, dass der gute Sachverständige Horn mit seiner Meinung zur Mehrwertsteuererhöhung ziemlich alleine dasteht. Ich möchte zitieren - das ist heute über die Agenturen gelaufen -: „Wir denken, dass die Dynamik nach Bremsspuren zu Beginn des nächsten Jahres doch trägt und der Aufschwung weitergeht“, erklärte vor kurzem IfoKonjunkturexperte Klaus Abberger. Ein weiteres Zitat: „Den robusten Konjunkturaufschwung wird auch die Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr nicht aufhalten können“, meint auch PostbankChefvolkswirt Bargel. ({7}) Diese Zitate ließen sich beliebig fortsetzen. Lassen wir uns einfach überraschen, wie es im nächsten Jahr aussieht. Abschließend möchte ich noch auf eines hinweisen, weil Sie gesagt haben, wir deuteten etwas um.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müller, da der Kollege Kolb nicht so lieb war, auch Ihnen die Redezeit zu verlängern, müssen Sie jetzt bitte Ihren Schlusssatz sprechen.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will nur auf eines hinweisen: Es lässt sich im „Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft“ nachlesen, dass die Sozialversicherungsbeiträge endlich unter 40 Prozent liegen werden. Ich stelle Ihnen die Unterlage gern zur Verfügung. Erstmals seit 1995 wird die Summe der paritätisch finanzierten Sozialversicherungsbeiträge im kommenden Jahr vermutlich die 40-ProzentMarke unterschreiten. Ich finde - auf besonderen Wunsch von Frau Pothmer sollte ich das festhalten -, das ist ein guter Tag für Deutschland. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beiträge und Beitragszuschüsse in der Alterssicherung der Landwirte für das Jahr 2007, Drucksache 16/3268. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/3637, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15 b. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3091 mit dem Titel „Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen verwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Antragsteller angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3637 die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/2509 mit dem Titel „Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es gibt keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit gegen die Stimmen der Antragsteller angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({0}), Martin Zeil, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fortentwicklung der Internationalen Rechnungslegungsstandards im Rahmen der Präsidentschaft Deutschlands in EU und G8 thematisieren - Drucksache 16/3341 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Hartfrid Wolff hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({2})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Internationale Bilanzierungsstandards werden für die Wirtschaft in Deutschland immer wichtiger. Kapitalmarktorientierte Unternehmen müssen die IFRS anwenden. Für Konzernabschlüsse anderer Unternehmen und für Einzelabschlüsse aller Kapitalgesellschaften besteht ein Wahlrecht zur Anwendung der internationalen Rechnungslegungsvorschriften. Gleichzeitig muss weiterhin ein Abschluss nach dem deutschen HGB, auch aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes für steuerliche Zwecke, erstellt werden. Der Großteil deutscher Unternehmen besteht aus mittelständischen, nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen. 8 Prozent davon bilanzieren nach IFRS, andere planen, dazu überzugehen. Der Druck auf die mittelständische Wirtschaft, nicht nur nach HGB zu bilanzieren, wächst. Für die Kreditgewährung und auch beim Rating hat ein IFRS-Abschluss immer größere Bedeutung. Deshalb ist es dringend geboten, dass eigene Standards für kleine und mittlere Unternehmen schneller verwirklicht werden. ({0}) Die internationalen Bilanzierungsstandards sind in der derzeitigen Form für die meisten mittelständischen Unternehmen nicht geeignet. Ihnen liegt als Grundgedanke unter anderem die Kapitalmarktorientierung der Gesellschaften zugrunde. Die Bundesregierung hat auf mehrere Anfragen der FDP-Fraktion mitgeteilt, dass sie unsere Sorge bezüglich der Kompatibilität der internaHartfrid Wolff ({1}) tionalen Rechnungslegungsstandards mit der stark mittelstandsorientierten deutschen Wirtschaftsstruktur und den Besonderheiten des deutschen Gesellschaftsrechts teilt. Hier ist vor allem die Kommanditgesellschaft mit ihrem jederzeit kündbaren Gesellschaftskapital zu erwähnen. Vielfach steht gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch für große Familienunternehmen in Deutschland die über Generationen gehende Werterhaltung im Vordergrund, welche ihren Niederschlag auch in der Rechtsform findet. Deshalb sind den Entscheidern sowohl im IASB als auch in der EU-Kommission die besonderen deutschen Interessen des Mittelstands zu verdeutlichen und deshalb sind eigene Formen der Bilanzierungsstandards für den Mittelstand schnellstmöglich zu entwickeln. ({2}) Deutsche Unternehmen müssen vielfach nicht nur die IFRS anwenden. Zum Beispiel bei einer Börsennotierung in den USA besteht auch für deutsche Unternehmen eine zusätzliche Bilanzierungspflicht nach den amerikanischen Standards. Am 27. Februar dieses Jahres hat man sich auf einen Konvergenzfahrplan zwischen IFRS und den amerikanischen Bilanzierungsstandards bis 2008 geeinigt. Der Ausgang ist noch offen. Die Annäherung der Bilanzierungsstandards ist grundsätzlich zu befürworten. Es ist wichtig, gegenüber dem Verhandlungspartner Vereinigte Staaten eine starke, einheitliche und europäische Position zu vertreten. ({3}) Gerade die Einheitlichkeit der europäischen Position ist hier bedeutsam. Die Präsidentschaft Deutschlands in der EU und der G 8 bietet die ideale Grundlage, die Interessen der deutschen Wirtschaft verstärkt nach außen zu tragen und deren bessere Berücksichtigung zu fördern. Es ist traurig, Herr Staatssekretär, dass dieses Thema in den Planungen zur EU-Ratspräsidentschaft bisher mit keinem Wort erwähnt ist. Vor diesem Hintergrund fordert die FDP die Bundesregierung auf, sich erstens auf europäischer Ebene für eine stärkere Berücksichtigung der Interessen deutscher Unternehmen, insbesondere des Mittelstandes, bei der Fortentwicklung der IFRS einzusetzen, zweitens darauf hinzuwirken, dass die Anwendung der IFRS für nicht kapitalmarktorientierte, mittelständische Unternehmen weiterhin auf freiwilliger und nicht auf verpflichtender Basis erfolgt, und, dass Deutschland drittens in der EU und der G 8 auf eine langfristige und sichere Finanzierung des IASB hinwirkt und die Konvergenz mit den Amerikanern vorantreibt. ({4}) Rechnungslegungsvorschriften haben für die Außendarstellung von Unternehmen eine besondere Bedeutung und sie beeinflussen auch die Unternehmenskultur; das darf man nie vergessen. Dabei sind natürlich die Interessen von Anlegern und in- und ausländischen Investoren sowie von Wettbewerbern und Geschäftspartnern deutscher Unternehmen und von Kreditinstituten zu berücksichtigen. Andererseits muss auch eine individuelle Entscheidungshoheit im Rahmen der Bilanzierungsvorgaben bestehen bleiben, zum Beispiel beim Maßstab der Werterhaltung. Aufgrund der dargestellten wachsenden Relevanz internationaler Rechnungslegungsstandards ist es von herausragender Bedeutung, die deutschen Interessen und insbesondere die Interessen des Mittelstandes in den Entwicklungen der internationalen Bilanzierungsstandards zu stärkerer Bedeutung zu verhelfen. Die Präsidentschaft Deutschlands in der EU und der G 8 bietet die ideale Grundlage, diese Interessen verstärkt nach außen zu tragen und durchzusetzen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einem attraktiven Finanzplatz gehört ein modernes und transparentes Bilanzrecht. Dass wir alle daran interessiert sind, haben die konstruktiven Beratungen zum Bilanzrechtsreformgesetz in der vergangenen Legislaturperiode gezeigt. Hierbei spielt aufgrund eines globalisierten Marktes auch eine Rolle, dass die Bilanzierungsregelungen möglichst international akzeptiert werden. ({0}) Für kapitalmarktorientierte Unternehmen sind wir mit den International Financial Reporting Standards, IFRS, auf einem guten Weg. Für kleine und mittlere Unternehmen können diese Standards noch nicht die Lösung sein. Eine Anpassung an die Belange von kleinen und mittleren Unternehmen ist für die Bilanzierung deutscher Unternehmen wichtig. ({1}) Dies haben sowohl die Bundesregierung als auch die Koalitionsfraktionen in der Vergangenheit deutlich gemacht. Schon im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD haben wir uns für eine Fortentwicklung bestehender Regelungen ausgesprochen. Wörtlich heißt es dort: Die Arbeiten auf EU-Ebene zur Schaffung einer einheitlichen konsolidierten Bemessungsgrundlage werden wir aktiv mitgestalten, um ein modernes und wettbewerbsfähiges Bilanzsteuerrecht zu entwickeln. Weiter heißt es: Die Modernisierung des Bilanzrechts und die wechselseitige Anerkennung deutscher, europäischer und amerikanischer Rechnungslegungsvorschriften sind vordringliche Maßnahmen zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland. Darüber hinaus haben wir in den zurückliegenden Monaten intensive Gespräche mit betroffenen Unternehmen, Banken, Wirtschaftsprüfern und anderen Sachverständigen geführt. Die Klausurtagung der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion im Januar 2007 wird dieses Thema zum Gegenstand haben. ({2}) Dankenwerterweise haben Sie, liebe Kollegen der FDP, zur Diskussion beigetragen, indem Sie allein in diesem Jahr drei Kleine Anfragen zu diesem Thema gestellt haben. ({3}) Mit Ihren Fragen haben Sie sehr deutlich auf die Probleme bei der Umsetzung internationaler Bilanzierungsstandards für den deutschen Mittelstand hingewiesen. Die Antworten der Bundesregierung waren sehr detailliert und gaben gute Hinweise auf den derzeitigen Stand des Verfahrens. ({4}) Vor dem Hintergrund der Anfragen und der Antworten ist mir heute etwas unverständlich, warum Sie diesen Antrag vorlegen; denn Ihre Forderungen in den Anfragen sind jeweils weitestgehend erfüllt worden. ({5}) Auch halte ich die Aussage in Ihrem Antrag, durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, über das wir im kommenden Jahr diskutieren werden, solle die Rechnungslegung nach HGB an die internationalen Standards, IFRS, angenähert werden, für durchaus diskussionsbedürftig. Zuvor ist von uns erst einmal die Frage zu klären, ob wir uns von der Einheitsbilanz, also der einen Bilanz für die Besteuerung und den Gläubigerschutz, ohne weiteres verabschieden wollen. ({6}) Zwei Bilanzen bedeuten zweimal Bürokratiekosten. Auch die Bundesregierung hat sich dazu wesentlich vorsichtiger geäußert. Sie will das Bilanzrecht zwar modernisieren und nicht mehr zeitgerechte Wahlrechte abschaffen; eine Annäherung an internationale Bilanzierungsmaßstäbe muss ihres Erachtens jeweils im Einzelfall geprüft werden. Sie stellen Forderungen an die Bundesregierung auf. Unter den Nrn. 1 und 2 fordern Sie die Bundesregierung auf, sich sowohl beim International Accounting Standards Board als auch bei der EU-Kommission für die Interessen des deutschen Mittelstandes einzusetzen. Die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage auf Drucksache 16/704 macht die Haltung der Bundesregierung hinsichtlich der Einwirkung auf den IASB deutlich. Darin heißt es: Der IASB ist eine weltweit tätige private Organisation von Rechnungslegern. Er arbeitet im Bereich der Rechnungslegung eng mit den nationalen Standardsettern zusammen. Auf Initiative gerade des Deutschen Rechungslegungs Standards Committee arbeitet der IASB derzeit an einer Änderung des International Accounting Standard 32. Das ist genau der, zu dem Sie eben richtigerweise dargestellt haben, dass er durch die Umqualifizierung von Eigen- in Fremdkapital bei Personengesellschaften den kleinen und mittleren Unternehmen Sorge bereitet. Ob der IAS 32 nach einer Änderung für deutsche mittelständische Unternehmen geeignet ist, lässt sich erst beurteilen, wenn die geänderte Fassung vorliegt. Wenn der Entwurf vorliegt, dann sind die deutschen Unternehmen aufgefordert, dazu intensiv Stellung zu nehmen, was - das nur als Nebenbemerkung - bei der ursprünglichen Verabschiedung des IFRS nicht nur von der Bundesregierung, sondern offensichtlich auch von den Unternehmen selbst vergessen wurde. Rechtsverbindlich für europäische Unternehmen werden die vom IASB erlassenen IFRS erst durch die Anerkennung seitens der EU. Sie haben die Bundesregierung gefragt, ob sie auf europäischer Ebene Einfluss nimmt. Die Bundesregierung hat Ihnen bereits mitgeteilt, dass sie selbstverständlich in den betreffenden EU-Gremien vertreten ist und dort sehr wohl die Interessen deutscher Unternehmen wahrnimmt. ({7}) - Das ist ihre Pflicht, auch ohne dass sie von der FDP dazu aufgefordert wird. Ich will Ihnen ja nachweisen, dass das Pferd nicht mehr zum Reiten getragen werden muss, sondern schon auf der Bahn ist. ({8}) Darüber hinaus sehen wir keine Notwendigkeit für eine gesonderte Initiative der deutschen Präsidentschaft. Es ist ausgesprochen wichtig - Sie haben sehr deutlich darauf hingewiesen -, europäisch einheitlich vorzugehen, um die deutschen Interessen durchzusetzen. Ein Sonderweg kann da eher schaden als nützen. Deshalb glauben wir, dass der Weg der Regierung richtig ist, die Interessen Deutschlands im europäischen Kontext zu vertreten. In Nr. 3 Ihres Antrags fordern Sie die Regierung auf, sich dafür einzusetzen, dass die Anwendung der Internationalen Bilanzierungsstandards bei mittelständischen Unternehmen auch weiterhin auf freiwilliger Basis erfolgt. ({9}) Ich frage Sie: Wieso können Sie diese Frage beantworten, bevor Sie überhaupt wissen, wie die internationalen Bilanzierungsstandards für mittelständische Unternehmen aussehen? ({10}) - Die Frage muss nicht von uns beantwortet werden. Wir müssen den Entwurf der Standards sehen und können dann entscheiden, ob diese Standards im mittelständischen Bereich freiwillig anzuwenden sind oder ob sie so passend für unsere Unternehmen sind, dass wir sie sogar verpflichtend machen sollten. ({11}) - Die Wirtschaftsminister der Länder beurteilen natürlich den jetzigen und nicht den künftigen IFRS. Den können sie noch nicht kennen, weil er noch nicht vorliegt. Unabhängig davon hat das Bundesministerium eindeutig klargestellt, dass es weder geplant ist, die IFRS zur Besteuerungsgrundlage zu machen, noch geplant ist, dass sie sich maßgeblich auf die steuerliche Gewinnermittlung auswirken. Der vierte Forderungspunkt verweist darauf, dass sich die Bundesregierung in den Verhandlungen zum Konvergenzfahrplan zur gegenseitigen Anerkennung von IFRS und US-GAAP, den amerikanischen Bilanzierungsstandards, für die Interessen der deutschen Wirtschaft stark machen soll. Ganz offensichtlich haben Sie die Antworten auf Ihre Fragen gar nicht gelesen. Dann hätten Sie nämlich erkennen können, dass die Bundesregierung das seit Monaten, wenn nicht seit Jahren auch tut. Auch da gibt es keinen Bedarf, zusätzlich von Ihnen aufgefordert zu werden. Abschließend zu Ihrer Forderung nach Mitwirkung an einer langfristigen und sicheren Finanzierung des IASB. Die Bundesregierung ist in den einschlägigen europäischen Gremien vertreten, um eine angemessene Lösung zur Sicherstellung der Finanzierung des IASB zu finden. Wir vertreten die Auffassung, dass es sich hierbei um ein privates Unternehmen handelt und deshalb die freiwillige Finanzierung durch die Unternehmen die oberste Option sein sollte. Liebe Kollegen der FDP, da verwundert es schon sehr, dass ausgerechnet Sie in dem Augenblick, in dem es finanzielle Schwierigkeiten gibt, sofort nach staatlicher Finanzierung rufen. Eigentlich wäre es an Ihnen, gegenüber den mittelständischen Unternehmen deutlich zu machen, dass es im eigenen Interesse dieser Unternehmen liegt, dass der IASB auch mit deutscher Beteiligung finanziert wird. Das Erste, was Sie tun: Sie schreien nach staatlicher Förderung. Das passt nicht so richtig in Ihr Konzept, da Sie ja sonst von Subventionsabbau und staatlichem Finanzabbau sprechen. Wir haben ausreichend Diskussionsstoff für die Debatten zum angekündigten Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Ich glaube, dass die Antworten auf die Anfragen seitens der Regierung eine gute Grundlage sind. Wir werden die aufgeworfenen Fragen im nächsten Jahr diskutieren. Ich freue mich darauf. Ich würde mich freuen, wenn all das, was Ihnen geantwortet wurde, bei Ihnen auch ankäme. Diese Regierung braucht nicht zum Jagen getragen zu werden. Sie ist Motor dieser Initiative. Wir werden sie dabei unterstützen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Den Beitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen wir zu Protokoll.1) Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich ein sehr unerotisches Thema, das wir heute Abend besprechen, aber es ist hoch interessant. Denn die internationalen Rechnungslegungsstandards sind ein wichtiges Thema für die deutsche Wirtschaft. Die zunehmende Bedeutung der Standards dürfen wir nicht unterschätzen. Ich bin in diesem Punkt mit den Damen und Herren Abgeordneten der FDP-Fraktion ganz einer Meinung, wie auch Sie, Frau Tillmann. Sie haben allerdings - darauf hat Frau Tillmann schon hingewiesen - die einzelnen Punkte Ihres Antrages auch schon zum Gegenstand einer Reihe von schriftlichen Fragen gemacht. Den Antworten der Bundesregierung werden Sie entnommen haben, dass wir dem Thema die nötige Aufmerksamkeit widmen, und zwar unabhängig von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und dem G-8-Gipfel. Um genau zu sein: Wir tun dies bereits seit den Verhandlungen zur IAS-Verordnung - IAS steht für: International Accounting Standards und die begannen bekanntlich im Jahre 2002. Wie schön, dass jetzt endlich auch die Wirtschaftspartei, die Kolleginnen und Kollegen aus der FDP, auf den Geschmack gekommen sind. Wir haben Ihnen auch ein höchst persönliches JuniorTrainingsprogramm geboten. Ich stelle fest, verehrter Herr Wolff, Sie waren ein gelehriger Schüler, sonst hätten Sie nämlich einen solch schönen Antrag nicht stellen können. Leider ist der Antrag überflüssig, weil all das, was Sie darin fordern, bereits gemacht wird. ({0}) 1) Anlage 4 Es ist gerade so, als ob Sie Joachim Löw auffordern würden, er solle endlich das Training für die deutsche Fußballnationalmannschaft übernehmen. Aber das macht er schon lange. Genauso machen wir das auch. Die Standards spielen eine wichtige Rolle für die Unternehmen aus Deutschland und Europa, die an der New Yorker Börse gelistet sind. Es ist zeitaufwendig und kostenintensiv, wenn sie zusätzlich zu ihrem IFRS-Abschluss, also dem International-Financial-Reporting-Standards-Abschluss, noch einen Abschluss nach amerikanischen Standards vorlegen müssen. ({1}) Auf europäischer Seite müssen wir deshalb entschlossen auf eine baldige Anerkennung der IFRS einwirken. Dafür hat sich Frau Bundesministerin Zypries auch persönlich gegenüber Kommissar McCreevy eingesetzt. Die EU-Kommission wird den Konvergenzprozess in den nächsten zwei Jahren aktiv begleiten ({2}) und für gleiche Bedingungen für Emittenten innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft sorgen. Man muss uns nicht, wie Frau Tillmann es schon gesagt hat, zum Reiten zu scheuchen. Wir machen das. Wir haben aber selbstverständlich auch die Belange der nicht an den Kapitalmärkten notierten Unternehmen im Blick. In der Arbeitsgruppe des IASB, des International Accounting Standards Board, zum Thema „IFRS für kleine und mittlere Unternehmen“ treten wir dafür ein, für mittelständische Unternehmen echte Erleichterungen und vor allem praktikable Regelungen zu schaffen. ({3}) - Wir arbeiten, wir schwätzen nicht! ({4}) Was nützen die besten Standards, wenn sie in der Praxis zu kompliziert sind und Unternehmen plötzlich ohne Eigenkapital dastehen? Allerdings ist noch offen, inwieweit das IASB dem nachkommen wird. Umso wichtiger ist es, dass mittelständischen Unternehmen eine vollwertige Alternative zu den IFRS zur Verfügung steht. Dieses Ziel verfolgen wir in Deutschland mit der Erarbeitung eines Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes. ({5}) Auch das ist Ihnen gesagt worden. Offensichtlich haben Sie da aber nicht gut zugehört. ({6}) - Hören Sie mir doch jetzt wenigstens einmal zu. Sie könnten noch etwas lernen. ({7}) Auf EU-Ebene gibt es nach der letzten Erhöhung der Schwellenwerte für kleine und mittlere Unternehmen Überlegungen, weitere Erleichterungen im Zusammenhang mit den Bilanzrichtlinien vorzunehmen. Dabei möchte ich betonen: Die Überlegungen gehen keineswegs dahin, dem Mittelstand die Anwendung von IFRS vorzuschreiben. Daher sehe ich auch keinen Handlungsbedarf für die deutsche Ratspräsidentschaft und erst recht nicht für die G-8-Präsidentschaft. ({8}) Dies gilt im Übrigen auch für die Frage nach der IASB-Finanzierung. Der Ecofin-Rat hat sich im Juli einhellig dafür ausgesprochen, das bisherige Finanzierungssystem auf der Grundlage freiwilliger Beiträge zunächst fortzusetzen. ({9}) - Da dürft ihr ruhig klatschen; das ist gut. - Herr Kley hat als deutsches Mitglied der IASC-Foundation bei den Unternehmen in Deutschland erfolgreich für die Sache geworben, wofür ihm nochmals herzlich gedankt sei. Es handelt sich also nicht um eine staatliche Intervention. Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Ihr Rundumschlag in Sachen Rechnungslegung - der war ja sehr spannend und sehr schön - in allen Ehren, Sie müssen sich aber am Ende entscheiden, was Sie wollen: international akzeptierte Standards oder hundert Prozent HGB. Beides passt jedenfalls nicht ganz zusammen. ({10}) Wir können ja noch einmal ein ganz persönliches Kolloquium veranstalten. ({11}) Es war jedenfalls sehr nett mit Ihnen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Reden der Kollegen Jerzy Montag von den Grü- nen und Klaus Uwe Benneter von der SPD nehmen wir zu Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3341 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. 1) Anlage 4 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG ({0}) - Drucksachen 16/2498, 16/2917 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksache 16/3644 Berichterstattung: Abgeordnete Georg Fahrenschon Frank Schäffler Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Interfraktionell ist vereinbart, dass die Aussprache eine halbe Stunde dauern soll. Gibt es Widerspruch? Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Nina Hauer von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über die Umsetzung der EU-Transparenzrichtlinie in nationales Recht. Dabei geht es um einen einheitlichen europäischen Standard, der für mehr Transparenz in börsennotierten Unternehmen sorgen soll. Es gibt ja derzeit eine öffentliche Debatte nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien darüber, welche Rolle Private-Equity-Unternehmen am Finanzmarkt und in unserer Unternehmenslandschaft spielen. Am beachtenswertesten bei diesen ist, dass sich ihre Geschäfte zum größten Teil im Verborgenen abspielen. Unser Interesse ist aber eigentlich, dass der Finanzmarkt in Deutschland transparenter und offener wird; denn die Anleger müssen darauf vertrauen können, dass die Bilanz des Unternehmens, in das sie investieren wollen, richtig ist, dass die kursrelevanten Informationen, die notwendig sind, um Entscheidungen zu treffen, regelmäßig und rechtzeitig erfolgen und dass es Informationen darüber gibt, wem das Unternehmen gehört und wie sich die Eigentumsverhältnisse verändern. ({0}) Deswegen haben wir bei der nationalen Umsetzung darauf geachtet, die Meldeschwelle, ab der eine Veränderung von Unternehmensanteilen, zum Beispiel dadurch, dass sich ein Anteilseigner einkauft, bekannt gemacht werden muss, von 5 auf 3 Prozent abzusenken. Die FDP spricht sich in ihrem Antrag vehement dagegen aus. Lieber Kollege Schäffler, ich kann das verstehen; der Kampf gegen den Abstieg auf 5 Prozent und dann auf 3 Prozent mag eine FDP-Eigenschaft sein. ({1}) Für Ihre Partei kann ich das akzeptieren, ({2}) für den Finanzmarkt aber nicht. Denn die großen Finanzmärkte, mit denen wir uns vergleichen sollten, haben schon längst niedrigere Meldeschwellen. Großbritannien hat 3 Prozent, Italien 2 Prozent. Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass die meisten Länder eine höhere Meldeschwelle hätten. Ich sage Ihnen bei allem Respekt vor diesen Ländern - Slowakei, Zypern, Estland -: Das sind keine Vorbilder und nicht die Konkurrenten, mit denen unser Finanzmarkt sich messen muss. Deswegen sollten wir uns so orientieren, dass wir unseren Anlegern mehr Transparenz bieten können. Dadurch soll auch öffentlich deutlich werden, wem Unternehmen gehören. Wir wollen mit dieser Meldeschwelle ja auch verhindern, dass sich jemand anschleicht. Wir haben die Veränderungen im Fall der Deutschen Börse alle öffentlich nachvollziehen können. Es muss für ein Unternehmen gar nichts Schlechtes sein, wenn jemand seine Anteile langsam aufstockt. Aber bei der schlechten Präsenz auf unseren deutschen Hauptversammlungen kann es schon Auswirkungen haben, wenn jemand seinen Anteil von 2 auf 3 Prozent erhöht. Dadurch können unter Umständen wesentliche Unternehmensentscheidungen beeinflusst werden. Das ist der Grund, warum wir wollen, dass dieser Vorgang, der an sich in Ordnung ist, transparenter erkennbar wird. Was bei der Diskussion um die Umsetzung der EURichtlinie immer eine Rolle spielt, ist die Frage, ob das eins zu eins geschehen ist oder nicht. Wir bekennen uns zu der Partei, der wir angehören; manche bekennen sich zu dem Fußballverein, dem sie angehören. Aber muss man denn aus der Frage einer Eins-zu-eins-Umsetzung eine Religionsfrage machen? Wir haben die Richtlinie „eins zu eins plus“ umgesetzt. Wir haben natürlich die Wahlrechte, die uns die Europäische Union einräumt, genutzt, um damit auf unsere spezielle Situation eingehen zu können. Ich meine, das ist uns auch gelungen. Wir haben bei den Halbjahresberichten, die zwischen den Jahresabschlüssen liegen, darauf geachtet, dass die Prüfungen der Prüfstelle materiell und nicht formell sind. Von einer formellen Prüfung hat kein Anleger etwas; er hat nur etwas von einer materiellen Prüfung. Wir wollen, dass sich unsere Anleger auf die Prüfung verlassen können. Wir haben aber umgekehrt auch gesagt, wir brauchen nicht noch mehr Bürokratie und keine unnötige Belastung für die Unternehmen. Das ist auch der Grund, warum wir auf die Durchsicht durch Wirtschaftsprüfer verzichtet haben. Das war nicht nur der Vorschlag einiger Marktteilnehmer, sondern es war unser politischer Wille, dass an dieser Stelle keine unnötige Bürokratie geschaffen wird. ({3}) Die Prüfung von Halbjahresberichten erfolgt dann, wenn es einen Anlass dazu gibt, nicht stichprobenartig. Auch das haben wir nach langem Abwägen beschlossen, damit es weniger Bürokratie gibt, aber ein deutliches Signal an die Investoren erfolgt, dass ein Unternehmen, wenn es Unregelmäßigkeiten oder anderen Anlass zur Prüfung gibt, ordentlich geprüft wird. Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass, wie es in der Richtlinie vorgesehen ist, die Zeitrahmen, die wir geben, so nah am realen Marktgeschehen sind, dass die Unternehmen sie auch einhalten können. Wenn Zwischenmitteilungen abgegeben werden müssen, dann ist es weniger gut, diese in einem starren Zeitrahmen einzufordern; vernünftiger ist es, da für Flexibilität zu sorgen, wie das auch andere große Finanzmärkte machen. Ich habe gerade schon Großbritannien erwähnt. Wir haben uns daran ein Beispiel genommen. Ich finde, das steht dem deutschen Finanzmarkt gut an. ({4}) Wir legen eine Entschließung vor, an der sich alle Fraktionen des Parlaments beteiligen. Denn wir wollen, dass die Umstellung, wonach Meldungen nicht mehr in deutschen Tageszeitungen, in den Börsenpflichtblättern, erscheinen sollen, sondern auf Internetplattformen - diese sollen nach diesem Gesetz europaweit zugänglich sein und in denen sollen europaweit Informationen gesammelt werden -, einer Prüfphase unterzogen wird. Es wird eine Frist von anderthalb Jahren geben. Wir fordern von unserer Regierung einen Bericht darüber, wie diese Umstellung funktioniert hat. ({5}) Wir wollen unsere Investoren und Anleger nicht verwirren. Jemand, der gerne in der Zeitung nachliest, wie sich die Situation des Unternehmens, in das er investiert, verändert hat, soll die Chance haben, das auch weiterhin auf diese Weise zu tun. Wir müssen aber nachprüfen, ob die Anleger diese Möglichkeit in Anspruch nehmen. Deswegen legen wir diese Entschließung vor und fordern die Bundesregierung zu einem Bericht auf. Ich denke, das ist dem Regelungsanlass angemessen. Ich freue mich, dass die Abstimmung darüber einvernehmlich erfolgt ist. Ich denke, dass wir im Rahmen der nationalen Umsetzung dieser Richtlinie ein Gesetz beschließen, das dazu beitragen wird, dass wir europaweit Standards haben werden, die für mehr Transparenz und die für Großinvestoren, aber auch für Kleinanleger für mehr Informationen über Unternehmen, in die sie investieren, sorgen werden. Das stärkt den Finanzplatz Deutschland. Deswegen können wir mit dieser Umsetzung sehr zufrieden sein. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von der FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Wir erkennen aber an, dass der Gesetzentwurf im Ausschuss noch verbessert wurde und einige von der Bundesregierung geplante bürokratische Belastungen, die bereits zu erheblicher Unruhe in der Wirtschaft geführt hatten, zurückgenommen wurden. Wir lehnen den Gesetzentwurf, wie gesagt, ab, weil er dennoch über die Eins-zu-eins-Umsetzung einer europäischen Richtlinie hinausgeht. ({0}) - Dazu komme ich gleich. Neben den von der Richtlinie vorgegebenen acht Meldeschwellen führen Sie seitens der Koalition eine zusätzliche Meldeschwelle bei 3 Prozent ein, wie Sie das im Übrigen auch beim REITs-Entwurf tun. Sie hatten in Ihrem Koalitionsvertrag - an dieser Stelle wird man daran erinnern dürfen - zum Stichwort „Integration des europäischen Finanzbinnenmarktes“ ausgeführt, dass Sie Richtlinien nur noch eins zu eins umsetzen wollen. Hier halten Sie sich nicht daran. Die Union ist der Heuschreckenrhetorik der SPD wieder einmal auf den Leim gegangen. Es ist bemerkenswert, dass Sie das Beispiel der Deutschen Börse, des Hortes des Kapitalismus in Deutschland, heranziehen, um diese zusätzliche Meldeschwelle einzuführen. Hinter dieser Geschichte steckt am Ende ein relativ einseitiges Verständnis des Kapitalmarktes. Sie sprechen von „Anschleichen“. Dabei geht es darum, dass ein Investor, der in ein Unternehmen investieren will, sich am Ende als Eigentümer an diesem Unternehmen beteiligen will. Wenn ein Vorstand einer Aktiengesellschaft dies nicht will, kann er seine Aktionäre davon überzeugen, ein Delisting zu beschließen oder die Aktien in Namensaktien umzuwandeln. Das Unternehmen kann auch von vornherein ausschließen, an die Börse zu gehen. Die Börse ist keine Einbahnstraße. Sie vergessen, dass das Unternehmen nicht den Vorständen, sondern den Aktionären gehört. ({1}) Das mussten sehr schmerzhaft die Deutsche Börse und die Herren Seifert und Breuer erfahren. Die zusätzliche Meldeschwelle führt - das hat die Anhörung im Ausschuss belegt - ganz klar zu einem Wettbewerbsnachteil für den Finanzplatz Deutschland. Wenn Sie argumentieren, dass in Großbritannien ebenfalls die 3-Prozent-Schwelle gilt, dann sage ich Ihnen, dass uns ein kleiner Wettbewerbsvorteil ganz gut anstünde und sehr gut für den deutschen Finanzplatz wäre. Ganz konkret wurde in der Anhörung angeführt, dass die Aktionäre diese Meldungen nicht automatisch vornehmen können, sondern jede Meldung manuell ausgeführt werden muss. Dies konterkariert das ansonsten von Ihnen zumindest rhetorisch vertretene Ziel des Bürokratieabbaus. Gerade kleinen börsennotierten Unternehmen, also mittelständischen Unternehmen, werden Sie mit der 3-prozentigen Meldeschwelle schaden, da sich dann Investmentfonds und Investoren sehr genau überlegen werden, ob sie ein meldepflichtiges Engagement wählen oder nicht. Im Ausschuss hat die SPD dies „eins zu eins plus“ genannt; auch Sie, Frau Kollegin Hauer, haben es gerade erwähnt. Für die Union sprach der Kollege Fahrenschon von „eins plus eins gleich drei“. Diese neue Art der Arithmetik ist sehr bemerkenswert. Das kennen wir von der schwarz-roten Koalition schon genügend; denn eine ähnliche Argumentation wurde bei der Mehrwertsteuererhöhung gewählt. Da hieß es: Zwei plus null gleich drei. Das ist eine Analogie, die zu erwähnen sich zu dieser späten Stunde lohnt. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Schäffler, Sie haben ja eine ordentliche Ausbildung zum Diplom-Betriebswirt gemacht. Gegebenenfalls haben sich da der Besuch von Vorlesungen und der Erwerb von Scheinen in der Volkswirtschaftslehre nicht ergeben. Ich will allerdings darauf hinweisen, dass die Studenten der Volkswirtschaftslehre im ersten Semester lernen und verinnerlichen, dass Märkte dann am wirkungsvollsten sind, wenn alle Marktteilnehmer zeitnah und gleichmäßig über dieselben Informationen verfügen. Denn erst dann erfüllen der Markt und der damit gefundene Preis ihre Lenkungsfunktion optimal. Das heißt, Transparenz ist an dieser Stelle, wenn Sie so wollen, das Blut im Kreislauf der Markteffizienz; denn darauf kommt es an. Lieber Herr Kollege, dass die FDP jetzt auf einmal Gefallen an intransparenten Vorgängen findet, ({0}) können Sie der interessierten Öffentlichkeit an keiner Stelle nachvollziehbar erklären. Dass Sie die politische Entscheidung, statt bei der 5-Prozent-Schwelle zu bleiben, eine Schwelle von 3 Prozent festzulegen, quasi hochstilisieren, um einen Grund zu finden, sich aus der Verantwortung für den deutschen Finanzmarkt herauszustehlen, wirft ein schlechtes Zeichen auf die zukünftigen Arbeiten zur Verwirklichung des europäischen Finanzmarktes. ({1}) Aus gutem Grunde sind in der europäischen Transparenzrichtlinie in Bezug auf die Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, eine ganze Reihe von Pflichten vorgesehen: Pflichten zur Finanzberichterstattung, Pflichten zur Mitteilung und Veröffentlichung von Veränderungen des Stimmrechtsanteils, Pflichten zur Lieferung von notwendigen Informationen für die Wahrnehmung von Rechten aus Wertpapieren und Pflichten zur Veröffentlichung und Speicherung wichtiger Kapitalmarktinformationen. Man muss hinzufügen: Das sind Pflichten, die man nicht nur in Deutschland erbringen muss, sondern die auch von allen auf den Wertpapiermärkten handelnden Akteuren auf dem gesamten europäischen Binnenmarkt abzuarbeiten sind. Das sind gute Pflichten. ({2}) Diese Pflichten leisten im volkswirtschaftlichen Sinne einen wichtigen Beitrag dazu, die Wirksamkeit, die Offenheit, die Integrität und die Transparenz der europäischen Kapitalmärkte zu stärken. Denn ein echter Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen setzt voraus, dass alle Anleger - ob nun die kleinen oder die großen problemlos und voller Vertrauen über Grenzen hinweg investieren können. An dieser Stelle muss man sagen: Die Argumentation, die 5-Prozent-Schwelle sei im Vergleich zur 3-ProzentSchwelle in Großbritannien ein Marktvorteil, nimmt Ihnen keiner ab. Denn wenn es einen Markt gibt, bei dem weltweit anerkannt ist, dass die Kräfte des Marktes, des Angebots und der Nachfrage, optimal wirken können, dann ist dies in London. Dass wir schlechtere Bedingungen als in London schaffen wollen, nimmt uns kein internationaler Anleger ab. Wir müssen es mindestens gleich gut machen wie Großbritannien. ({3}) Die CDU/CSU ist mit zwei Zielen an die nationale Umsetzung gegangen. Wir haben uns einerseits vorgenommen, dass deutsche Unternehmer durch die nationale Umsetzung nicht stärker in die Pflicht genommen werden, als nach der Richtlinie notwendig ist. Gleichzeitig war es allerdings auch von Anfang an unser Interesse, dass der Anlegerschutz und die Transparenz durch die nationale Umsetzung erhöht werden. Dass wir uns darüber hinaus bereits im Koalitionsvertrag mit unserem Koalitionspartner darauf geeinigt haben, eine weitere Regelung einzuführen, um Übernahmen durch Hedgefonds oder andere Investoren frühzeitig aufzeigen zu können, ist unser gutes Recht. Dieses Gesetz zeigt den politischen Willen und abermals die Handlungsstärke der großen Koalition in Fragen des Finanzmarkts und der Regulierung. ({4}) In den Berichterstattergesprächen konnten in diesem Sinne wesentliche Änderungen auch gegenüber dem Kabinettsbeschluss erreicht werden. Wichtige Anregungen aus der Anhörung und Vorschläge des Bundesrats wurden aufgegriffen. Damit haben wir einen guten Beitrag zur Eins-zu-eins-Umsetzung geleistet. Ich will mich an der Stelle bei allen Berichterstatterkollegen und auch bei der Arbeitsebene des Bundesfinanzministeriums ganz herzlich für die sachliche, kollegiale und an der Sache orientierte Arbeit bedanken. ({5}) Meine Damen und Herren, ich will in aller Kürze auf die fünf wichtigsten Änderungen eingehen, weil sie zeigen, mit welcher Intensität wir uns mit der Umsetzung auseinander gesetzt haben, und weil sie begründen, warum wir mit gutem Gewissen der nationalen Umsetzung zustimmen können. Erstens. Im ursprünglichen Gesetzentwurf sollten Halbjahresberichte sowohl bei Vorliegen eines konkreten Verdachts auf Rechnungslegungsverstöße als auch stichprobenhaft in gleicher Frequenz wie die Jahresabschlüsse einer Prüfung durch die BaFin oder die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung unterzogen werden. Wir konnten gemeinsam durchsetzen, dass das materielle Enforcement, bei dem wir aus gutem Grund geblieben sind, nun allerdings bei den Halbjahresberichten nur dann angewandt wird, wenn ein konkreter Anlass vorliegt. Eine stichprobenhafte Überprüfung ist in Deutschland nicht zulässig. ({6}) Das hat Vorteile für alle Beteiligten, weil wir frühzeitig Rechtsklarheit für den Jahresabschluss herstellen und weil wir die Unternehmen in die Lage versetzen, in Streitfällen frühzeitig das Enforcement anzurufen und die Fragen klären zu lassen. Zweitens. Die Kollegin Hauer ist auf die Veränderungen bezüglich der prüferischen Durchsicht schon eingegangen. In Zukunft liegt in Deutschland die Beantwortung der Frage, ob die Abschlüsse von einem Wirtschaftsprüfer durchgeschaut werden sollen, in der Hand und im Ermessen des Emittenten. Da ist sie auch gut aufgehoben. ({7}) Drittens. Bezogen auf den Bilanzeid sah die ursprüngliche Regelung vor, dass unrichtige Versicherungen der gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft im Rahmen des Bilanzeids zum Jahresabschluss als Straftatbestand erfasst werden. Dies hätte auch bei Nichtabgabe einer entsprechenden Versicherung gegolten. Wir sind, glaube ich, mit Augenmaß an die Fragestellung herangegangen und haben durch die Änderungen herbeigeführt, dass es bei Nichtabgabe eines Bilanzeids nun nicht mehr zu strafrechtlichen Sanktionen kommt. Wir haben das rechtssystematisch richtig eingeordnet: Die Nichtabgabe des Bilanzeids wird nun als Ordnungswidrigkeit betrachtet. Daneben übernehmen wir das allgemein geltende Grundverständnis über Meldungen „nach bestem Wissen“ in den Wortlaut des Gesetzes. An einer weiteren Stelle ist es uns gelungen, die Parallelität zum EHUG und zum TransparenzrichtlinieUmsetzungsgesetz herauszuarbeiten. Wir haben nämlich im Bericht des Finanzausschusses klargestellt, dass hinsichtlich der Bußgeldvorschrift des § 104 a des Handelsgesetzbuchs die Einführung eines elektronischen Handelsregisters zwar weiter vorangebracht wird, dass der Anwendungsbereich dieser Vorschrift aber lediglich auf Kapitalmarktunternehmen beschränkt ist. Das heißt, der deutsche Mittelstand und die Personengesellschaft werden nicht unter das Dach des elektronischen Handelsregisters und auch nicht unter die Bußgeldvorschrift gezogen. ({8}) Viertens. Wir haben erreicht, dass die Zwischenmitteilung der Geschäftsführung in Zukunft flexibel in einem Zeitraum zwischen zehn Wochen nach Beginn und sechs Wochen vor Ende des betroffenen Sechsmonatszeitraums erstellt wird. Fünftens, last but not least, haben wir bei den Veröffentlichungspflichten die Chance ergriffen, mit einem Zwischenbericht der Bundesregierung zur Mitte des Jahres 2008 noch einmal innezuhalten, um abwägen zu können, inwieweit die Veröffentlichung von Meldungen über Internet tatsächlich praktikabel ist und ob wir 2009 die Möglichkeit nutzen wollen, alle Meldungen, auch die Ad-hoc-Meldungen und die so genannten Final-TermMeldungen, im Internet zu veröffentlichen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf eines Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes eine gute nationale Umsetzung abgeschlossen haben. Zum Schluss meiner Rede will ich noch einmal auf die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre zu sprechen kommen, lieber Kollege Schäffler. Transparenz ist aus mikroökologischer Sicht von elementarer Bedeutung für das Funktionieren eines Marktes und seiner Effizienz. Makroökonomisch darf man jedoch die Kosten der Transparenz nicht außer Acht lassen. Also muss auch hier die Regel gelten, dass die Kosten immer in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen für die Anlieger stehen müssen. Beim TUG ist diese Balance gelungen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Reden der Kollegen Dr. Axel Troost von den Linken und Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die Grünen nehmen wir zu Protokoll.1) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes, Drucksachen 16/2498 und 16/2917. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3644, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3675. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3644 empfiehlt der Finanzausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung - Drucksache 16/3536 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Die Reden der Kollegen Günter Baumann und Manfred Kolbe, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Dr. Max Stadler, FDP, Jan Korte, Die Linke, und Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, werden zu Protokoll genommen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3536 an die in der Tagesordnung aufge- 1) Anlage 5 2) Anlage 6 führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Men- schen im öffentlichen Dienst des Bundes - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßel- mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Recht statt Pflicht - Einschränkungen behinderter Menschen bei der Teilhabe am öffentlichen Leben entgegenwirken - zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben konsequent sichern - Drucksachen 16/1100, 16/1476 Nr. 1.3, 16/949, 16/853, 16/2840 - Berichterstattung: Abgeordnete Katja Kipping Die Reden der Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU, Karin Evers-Meyer von der SPD, Jörg Rohde, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus Kurth, Bündnis 90/ Die Grünen, und Franz Thönnes für die Bundesregie- rung werden zu Protokoll genommen.3) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/2840. Unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes auf Drucksache 16/1100 eine Entschließung an- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/949 mit dem Titel „Recht statt Pflicht - Einschränkungen behinderter Menschen bei der Teilhabe am öffentlichen Leben entgegenwirken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken bei Enthaltung der FDP-Fraktion. 3) Anlage 7 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2840 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/853 mit dem Titel „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben konsequent sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von FDP und den Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine wirksame Bleiberechtsregelung für langjährig in Deutschland geduldete Personen - Drucksache 16/3340 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Josef Philip Winkler vom Bündnis 90/Die Grünen. ({4})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Innenministerkonferenz ist mit ihrem Beschluss zum Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge nicht nur weit hinter den Erwartungen der Kirchen und Flüchtlingsorganisationen zurückgeblieben. Sie ist auch - das muss man einmal festhalten - der großen Koalition in Gänze in den Rücken gefallen. Denn wir haben hier erst vor 14 Tagen ganz andere Töne gehört. Allerdings muss man sagen: Das Gerangel zwischen den Koalitionsfraktionen - Herr Kollege Körper, da Sie anwesend sind, beschimpfe ich Sie gleich persönlich erinnerte an die beiden alten Herren, die in der Muppet Show auf dem Balkon sitzen. Herr Körper und Herr Bosbach haben sich beschimpft und gesagt: Es stimmt ja gar nicht, dass die Eckpunkte so sind, wie du sagst, dass wir sie beschlossen hätten. Ich muss ehrlich sagen: Das war kein Beispiel für gute Regierungsarbeit in dieser Koalition. ({0}) Eine Verlängerung der Duldung, wie von der Innenministerkonferenz jetzt beschlossen, reicht uns und den Menschen nicht. Dieser Aufenthaltstatus, der unsicher ist, schreckt Arbeitgeber ab. Schließlich gilt die so genannte Residenzpflicht. Der Aufenthalt ist auf den Landkreis oder den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt. Außerdem haben wir in unserer Republik völlig unterschiedliche Auslegungen. In einer Millionenstadt wie Köln haben 100 Prozent der geduldeten Ausländer keine Arbeitserlaubnis bekommen; das konnte ich heute in der Zeitung lesen. In einer so großen Stadt wie München haben 90 Prozent der Geduldeten eine Arbeitserlaubnis bekommen. ({1}) - Bitte? Sie sind nicht laut genug, Frau Kollegin Philipp. ({2}) - Nein, es ist so. 90 Prozent haben eine Arbeitserlaubnis, 60 Prozent davon kommen deshalb völlig ohne Sozialleistungen aus und immerhin 30 Prozent mit nur teilweise Sozialleistungen. Warum in Köln 100 Prozent keine Arbeitserlaubnis bekommen, ist völlig unverständlich und zeigt, dass der Beschluss der Innenministerkonferenz hier zu kurz greift. Es ist so, dass sich das, was bisher umgesetzt wurde - in Bayern gibt es beispielsweise schon einen Landeserlass -, von Bundesland zu Bundesland ganz extrem unterscheidet. In Bayern reicht es schon, wenn die Kinder eine negative Schulabschlussprognose haben, um aus der Bleiberechtsregelung zu fallen. In Hamburg hingegen müssen sie nur nachweisen, dass sie die Schule besuchen. In dem einen Fall bekommen sie eine Aufenthaltserlaubnis und in dem anderen nicht. Dies alles geschieht unter dem gleichen Beschluss der Innenministerkonferenz. Dies ließe sich jetzt noch mit 20 oder 30 Beispielen fortsetzen. Dafür reicht meine Redezeit nicht. Um dieses Kuddelmuddel zu überwinden, fordern wir die große Koalition erneut auf, eine bundesgesetzliche Regelung zu treffen, um einheitlich vorgehen zu können. ({3}) Eine Verknüpfung der Bleiberechtsregelung mit einer Verschärfung des Aufenthalts- bzw. Asylbewerberleistungsgesetzes lehnen wir ab. Denn die Leistungen, die die Asylbewerber bzw. die Geduldeten bekommen, sind schon um ein Drittel geringer als der Sozialhilfesatz. Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass diese Regelung, wie beschlossen wurde, um ein Jahr verlängert werden soll. Das finden wir inhuman und unsozial. ({4}) Eine wirksame gesetzliche Bleiberechtsregelung für die von diesem Beschluss der Innenministerkonferenz nicht betroffenen Geduldeten sollte nach unserer Meinung zumindest folgende Kriterien erfüllen: Die Begünstigten sollten keine Verlängerung des rechtswidrigen Status der Duldung, sondern sofort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das Bleiberecht darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob bereits eine Arbeitsmöglichkeit besteht; das Kölner Beispiel, dass die Ausländerbehörden zum Teil keine erteilen, habe ich angeführt. Es dürfen keine überzogenen Anforderungen an die Erfüllung der Mitwirkungspflichten gestellt werden. Der Nachweis von Deutschkenntnissen darf nicht zur Voraussetzung gemacht werden. ({5}) - Es ist wichtig, dass sie Deutsch lernen. Aber man darf Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für das Bleiberecht machen. Denn die Betroffenen hatten überhaupt keinen Anspruch darauf, Deutschkurse zu besuchen, weil sie gar nicht integriert werden sollten. Schließlich ist ihr Aufenthalt nicht rechtmäßig. Man muss zumindest eine Übergangsfrist einführen und den Betroffenen sagen, dass sie ein Jahr, nachdem sie ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen haben, Deutschkenntnisse erworben haben müssen. Mit einer solchen Regelung wäre ich durchaus einverstanden. Aber man darf Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung erklären. Das lehnen wir ab. Außerdem muss klar sein - das ist der wichtigste und letzte Punkt -, dass diejenigen, die potenziell unter eine gesetzliche Bleiberechtsregelung fallen - Sie haben ja angekündigt, eine solche Regelung in Angriff nehmen zu wollen -, nicht mehr abgeschoben werden. Aus NRW zum Beispiel hören wir, dass Familien nach Afghanistan oder in den Irak abgeschoben werden sollen. Auch aus Hamburg gibt es solche Meldungen. Ich muss sagen: Das lehnen wir mit aller Vehemenz ab. Niemand, der unter diese Regelung fallen könnte, darf in Nacht-undNebel-Aktionen kurz vor ihrem In-Kraft-Treten abgeschoben werden. Dafür werden wir uns weiterhin einsetzen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Josef Winkler hat an die beiden Alten in der Muppet Show, an Waldorf und Statler, erinnert. ({0}) Sie haben sich nicht gegenseitig beschimpft, sondern sie haben diejenigen beschimpft, die unten aufgetreten sind. Die Art und Weise, wie Sie Ihren Antrag vorgestellt haben, hat mich eher an Miss Piggy erinnert: So, wie sie schönzureden versucht, dass ihre Frisur toll ist, so haben auch Sie Ihren Antrag schönzureden versucht. ({1}) - Vergleiche sind eine schwierige Angelegenheit. Bei aller Scherzhaftigkeit und allen Nachtgedanken, die man um diese Uhrzeit haben kann, muss ich sagen: Dieses Thema ist zu ernst. Sie haben den Beschluss der Innenministerkonferenz nicht richtig dargestellt. Wichtig ist, dass im Interesse der betroffenen Menschen schnell für Rechtssicherheit gesorgt wurde. Viele von ihnen haben sich schon bei den Ausländerbehörden darum bemüht, in die Bleiberechtsregelung einbezogen zu werden. Da Sie die Kölner Ausländerbehörde angesprochen haben und ich sehe, dass der Kollege Uhl anwesend ist, möchte ich darauf hinweisen, dass wir die Qualität der Arbeit der Kölner Ausländerbehörde im Rahmen der Beratungen des Visa-Untersuchungsausschusses zu schätzen gelernt haben. Ich kann nur feststellen: Das, was Sie gesagt haben, hat mit der Beschlusslage der Innenministerkonferenz wirklich nichts zu tun. Natürlich müssen die Ausländerbehörden jetzt das umsetzen, was die Innenminister beschlossen haben; so ist es gedacht. Man soll dann ein Aufenthaltsrecht bekommen, wenn man eine Arbeit hat oder - auch das haben Sie etwas verkürzt dargestellt wenn man ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen kann. ({2}) Dann fällt man aus der Nachrangigkeitsprüfung heraus. ({3}) - Herr Kollege Wolff, die Bleiberechtsregelung wurde von Innenministern der CDU/CSU, der SPD und, wenn ich das sagen darf, der FDP erarbeitet; ich meine den „guten Wolf“, den Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Sie müssen sich also entscheiden, ob Sie nur die große Koalition oder auch den Innenminister von NordrheinWestfalen beschimpfen wollen; denn auch er war daran beteiligt. Wenn man Zurufe macht, sollte man etwas vorsichtiger sein. ({4}) - Herrn Müntefering fragen wir jeden Tag ({5}) und wir bekommen jeden Tag gute Antworten. ({6}) Aber jetzt ernsthaft: Es macht schon Sinn, wenn wir ein Bleiberecht an eine Beschäftigung koppeln. Unser Grundsatz bleibt natürlich - da stimmen wir mit der großen Mehrheit unserer Bevölkerung überein -: Wir wollen keine Zuwanderung in die Sozialsysteme, wir wollen, wenn überhaupt, eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Das hat nicht nur finanzielle, sondern auch integrationspolitische Gründe: Wir wissen doch ganz genau, dass derjenige, der von Sozialleistungen lebt, oftmals auch in einer Parallelgesellschaft lebt, kein Deutsch spricht, keinen Kontakt hat zu Kollegen. Wir wollen damit auch erreichen, dass diejenigen, die auf Dauer bei uns leben, auch signalisieren, dass sie wirklich angekommen sind in unserem Land und bereit sind, sich hier wirtschaftlich, aber auch sprachlich, gesellschaftlich und kulturell zu integrieren. Deswegen ist es keine sachfremde Verknüpfung, wenn man sagt: Es gibt ein Bleiberecht für diejenigen, die Arbeit haben oder ein Arbeitsangebot nachweisen. ({7}) Kollege Winkler, Sie haben das Asylbewerberleistungsgesetz angesprochen. Es macht doch nun wirklich keinen Sinn, Asylbewerbern oder Geduldeten den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, dadurch stark zu begrenzen, dass man ihnen nach drei Jahren höhere Sozialleistungen in Aussicht stellt. ({8}) Es muss doch genau andersherum sein: Es muss sich lohnen, eine Arbeit aufzunehmen. Weil die Innenminister hier nicht hartherzig vorgegangen sind, sondern das Problem gesehen haben, dass vor allen Dingen Familien mit Kindern selbstverständlich so hohe Sozialleistungen in Anspruch nehmen können, wie es mit niedrig qualifizierter Beschäftigung an Lohn nicht zu erreichen wäre, haben sie in ihren Beschluss hineingeschrieben, dass man überwiegend nicht von Sozialleistungen abhängig sein soll, dass man seinen Lebensunterhalt überwiegend aus Beschäftigung bestreiten soll. Auch dabei haben die Innenminister die soziale Lage der Familien, denen wir ein Bleiberecht geben wollen, denen die Innenminister ein Bleiberecht geben wollen, sehr wohl im Blick. ({9}) Das festzustellen, ist entscheidend, weil Sie in Ihrem Antrag auch ein paar andere Bedingungen monieren, die die Innenminister beschlossen haben. Es ist schon merkwürdig - das muss man auch um diese Zeit in aller Deutlichkeit sagen -, wenn Sie schreiben: Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt werden. Zu Deutsch: Sie wollen auch ein Bleiberecht für diejenigen, die ihren langen Aufenthalt vorsätzlich selbst verschuldet haben, die selbst verschuldet haben, dass ihre Kinder in einem für sie fremden Land aufwachsen mussten. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer über seine Identität nachhaltig getäuscht hat, wer sich dagegen zur Wehr gesetzt hat, dass Passersatzpapiere ausgestellt werden, wer sich durch Untertauchen einer möglichen Abschiebung entzogen hat, der kann doch nicht im Ernst ein Bleiberecht bekommen! ({10}) Das wird mit der CDU/CSU nicht zu machen sein! Wir müssen uns einmal deutlich vor Augen führen, dass wir auch eine gewisse Mindestsorgfaltspflicht gegenüber den Mitarbeitern in Ausländerbehörden, bei der Länderpolizei und bei der Bundespolizei haben, die mit der Rückführung von Ausländern nun wirklich ein schwieriges Geschäft zu erledigen haben. Leuten ein Bleiberecht zu geben, die jahrelang vorsätzlich gegen das geltende Recht verstoßen haben, ({11}) wäre natürlich keine Motivation für diese Mitarbeiter, ihre schwierige Arbeit zu verrichten. Da würden wir Leute mit einem Bleiberecht belohnen, die es nicht verdient haben. ({12}) Es geht auch nicht um Zahlen, lieber Kollege Winkler. Ein Bleiberecht ist dann gut, wenn die Fälle erfasst werden, bei denen man wirklich sagen muss: Aus humanitären Gründen - weil die Menschen bei uns verwurzelt sind, weil jetzt Deutschland ihre Heimat ist - oder auch aus dem Interesse unseres Landes ist es nicht vertretbar, sie jetzt noch in ihr ursprüngliches Herkunftsland abzuschieben. Wenn wir das sagen können, dann haben wir eine gute Bleiberechtsregelung. Ich bekenne deutlich: In diesem Sinne haben die Innenminister der Länder eine gute Bleiberechtsregelung geschaffen. Nun haben die Innenminister der Länder von einer Stufenlösung gesprochen, die sehr kurzfristig durch ihre Vereinbarung in Vollzug gesetzt worden ist, und einer möglichen weiteren Altfallregelung etwa in Form eines § 104 a Aufenthaltsgesetz. Darüber befinden wir uns in der Koalition in der Tat in einer intensiven Diskussion. Für uns als Innenpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt dabei exakt der gleiche Grundsatz wie für alle Landesinnenminister: Wir wollen keine Zuwanderung in die Sozialsysteme, wir wollen eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, wir wollen Humanität und Rechtsstaatlichkeit miteinander verbinden und wir wollen mehr und nicht weniger für die Integration tun. Ich hoffe, wir kommen hier ein gutes Stück voran. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP begrüßt es, dass die Innenministerkonferenz einen Beschluss über eine Bleiberechtsregelung gefasst hat. Hartfrid Wolff ({0}) Das war überfällig und hat meiner Meinung nach etwas zu lange gedauert. Dadurch wird langjährig geduldeten Ausländern die Chance auf einen Daueraufenthalt gegeben, wenn sie wirtschaftlich und sozial faktisch in der Bundesrepublik integriert sind. Mit einer solchen Bleiberechtsregelung werden in vielen Tausenden Fällen für beide Seiten kostspielige und nervenaufreibende Streitigkeiten über das Aufenthaltsrecht von Menschen beendet, die in Wahrheit längst Teil unserer Gesellschaft sind. Den Betroffenen und ihren Familien wird dadurch die notwendige Sicherheit für eine verlässliche Lebensplanung gegeben. ({1}) - Herr Maurer, Entschuldigung, Herr Tauss, ich weiß gar nicht, warum Sie dazwischenrufen. ({2}) - Entschuldigung. - In vielen Fällen dient die Bleiberechtsregelung auch den Interessen mittelständischer Unternehmen, in denen die Betroffenen seit Jahr und Tag arbeiten bzw. beschäftigt sind. Die FDP fordert, dass der IMK-Beschluss von den Ausländerbehörden wohlwollend umgesetzt wird. Vor allem das Kindeswohl muss wesentlicher Bestandteil der Entscheidungen sein. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, jetzt schnellstmöglich eine gesetzliche Bleiberechtsregelung zu schaffen. Eine bundesgesetzliche Regelung hat gegenüber der Regelung durch die Innenminister den Vorteil der klaren Verbindlichkeit. Dies schafft Rechtssicherheit und macht die Regeln in rechtsstaatlicher Weise transparent. Insofern stehen wir dem Antrag der Grünen mit einer gewissen Sympathie gegenüber. Allerdings halten wir nichts davon, die Bedingung „gut integrierte Geduldete“ inhaltsleer zu lassen. ({3}) So lehnen die Grünen die von uns geforderte Mitwirkungspflicht leider ab. Natürlich weisen die Grünen zu Recht darauf hin, dass der Zugang zu Sprachkursen und Arbeitsplätzen für Geduldete bislang erschwert oder sogar unmöglich war. Allerdings reicht die Frist von knapp einem Jahr durchaus aus, um Sprachkenntnisse zu erwerben. Wenn ich mich richtig erinnere, dann lautete der Beschluss der Innenministerkonferenz, dass das Bestehen des Sprachkurses A 2 gefordert wird. Das ist keine riesige Hürde. Wer sich sechs oder gar acht Jahre lang geduldet im Land aufgehalten hat, der kann nach dem Zuwanderungsgesetz auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen Deutsch gelernt haben. Es gibt jedenfalls sehr viele gute Beispiele dafür. Ich denke, wir sollten die Integration nicht nur als eine Bringschuld des Staates ansehen, sondern vor allem die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfordern. ({4}) Die Grünen erwecken mit ihrem Antrag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein dadurch, dass sie sich acht Jahre lang hierzulande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht erwirken. Das erscheint mir wenig plausibel. Die Integration ist das entscheidende Merkmal. Dabei ist Arbeit aber ein entscheidender Faktor. Damit gebe ich Ihnen wieder Recht. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist ein wichtiges Kriterium. Dies dient der Sicherstellung, dass keine Überinanspruchnahme der Sozialleistungen oder ein Missbrauch erfolgt. Dies dient aber auch der Integration. Durch die Arbeit wird es den Zuwanderern ermöglicht, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, wodurch nicht nur das Selbstwertgefühl der Berufstätigen, sondern auch ihrer Familienangehörigen gefördert wird. Daneben werden durch die Arbeit soziale Kontakte ermöglicht und eine Akzeptanz in der Bevölkerung geschaffen. Dies ist auch im Interesse der Gesellschaft als Ganzes. ({5}) Im Zusammenhang mit der bundesgesetzlichen Regelung muss die Arbeitserlaubnis allerdings ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelt werden und im Vorfeld müssen Hürden für den Zugang zum Arbeitsmarkt beseitigt werden. ({6}) Ansonsten ist das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zu können, nicht praktikabel. Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss gewährleistet sein und darf nicht durch Überbürokratisierung verhindert werden. Der Antrag der Grünen erscheint uns alles im allem vorwiegend als Schnellschuss. Ich habe aber die Hoffnung, dass es möglich sein wird, hier im Hause fraktionsübergreifend eine konsensfähige Lösung zu finden, wenn sich sowohl Herr Winkler als auch Herr Grindel ein bisschen bewegen. Die FDP hat eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, um auszuloten, welche Chancen bestehen, eine sachlich sinnvolle, möglichst weit reichende und doch auch das Integrationserfordernis möglichst klar präzisierende Bleiberechtsregelung zu finden. Wir hoffen, dass es der Bundesregierung gelingt, konsensfähige Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP wird diesbezüglich parlamentarische Beratungen konstruktiv begleiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal darf ich - ohne oberlehrerhaft wirken zu wollen - die Gelegenheit nutzen, um eine Korrektur anzubringen. Lieber Josef Winkler, wenn wir über das Bleiberecht für langjährig in Deutschland geduldete Ausländerinnen und Ausländer reden, dann handelt es sich nicht um einen - wie von Ihnen versehentlich gesagt worden ist - rechtswidrigen, sondern um einen rechtmäßigen Aufenthalt. Das ist sicherlich ein Lapsus Linguae, den Sie hoffentlich im Protokoll korrigieren, damit nicht andere Sie womöglich daran festmachen, was sicherlich weder in Ihrem noch in meinem Interesse wäre. Meine zweite Bemerkung zu meinen Vorrednern richtet sich an Herrn Grindel. Ich bin es fast ein bisschen leid, dass bei diesem Thema immer wieder von der Zuwanderung in die Sozialsysteme die Rede ist, und zwar deswegen, weil die Leute schon da sind. ({0}) Sie sind schon in den sozialen Sicherungssystemen, soweit sie noch keine Arbeit haben. Deswegen ist es nicht richtig, zu sagen, sie kämen zu uns, um Sozialhilfe zu beantragen. Sie sind nämlich schon da. Insgesamt sind es ungefähr 200 000, darunter rund 50 000 Kinder und Jugendliche. Dass sie nicht arbeiten dürfen und damit außerstande sind, für sich und ihre Familien den Lebensunterhalt zu bestreiten - es wurden bereits einige Fallbeispiele genannt -, haben wir als Gesetzgeber verursacht. Das ist die Krux. ({1}) Ansonsten ist es schon fast ein Quantensprung in der öffentlichen und auch politischen Diskussion in diesem Hause, wenn wir im Einzelnen über die Frage diskutieren, wie ein Bleiberecht gewährt werden soll. Denn ich erinnere mich noch an Zeiten, als es nicht unter allen Fraktionen im Deutschen Bundestag üblich war, festzustellen, dass wir ein Bleiberecht wollen. Vielmehr gab es einige - ich will jetzt keine Namen oder Fraktion nennen -, die die Notwendigkeit dringend bestritten haben. ({2}) - Richtig. Heute sagen das alle - auch die ganz Forschen und Mutigen -, Gott sei Dank. Ich habe immer noch im Ohr, was früher gesagt wurde: Vielleicht können wir irgendwann 10 Prozent der 200 000 abschieben; wenn wir großes Glück haben, sind es 20 Prozent. Deswegen muss es in unser aller Interesse sein - nicht nur, aber auch wegen der betroffenen Menschen -, eine umfassende und klare Bleiberechtsregelung zu finden. Jetzt komme ich zu einem Punkt, bei dem ich möglicherweise zu seinem Erstaunen feststelle, dass Herr Grindel Recht hat. Der Innenministerbeschluss ist in einem entscheidenden Punkt besser, als ich hier noch am 9. November eher kritisch-sorgenvoll angemerkt habe. Er ist deswegen besser, weil er nicht nur diejenigen begünstigt, die tatsächlich bereits eine Arbeit haben bzw. an dem darauf folgenden Montag Arbeit gehabt haben, sondern weil er den Betroffenen, die über eine Duldung verfügen, die Möglichkeit gibt, bis zum 30. September 2007 eine Arbeit zu suchen, um ihnen dann eine Aufenthaltserlaubnis zu geben, aus der wiederum die Berechtigung zum gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt folgt. Ich finde, dass dieser Punkt eine besondere Bedeutung hat und vielleicht sogar eine gewisse Trendwende darstellt. Ich bin mir auf der anderen Seite - aus der Sicht der Arbeitgeber - aber auch darüber klar, dass jemand, der nur eine Duldung vorweisen kann, bei der heutigen Arbeitsmarktlage größere Schwierigkeiten hat, Arbeit zu finden, als jemand, der über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt und einige Jahre bleiben kann. Die Optimisten und Gutgesonnenen gehen davon aus, dass aufgrund der von der IMK beschlossenen Bleiberechtsregelung vielleicht sogar 40 000 bis 60 000 Menschen in Deutschland bleiben können. Ich fürchte hingegen, dass diese Zahl deutlich zu hoch gegriffen ist. Aber das sind alles Spekulationen. Es bleibt abzuwarten, wie die Regelungen in den einzelnen Bundesländern angewandt werden. Das wird sicherlich sehr unterschiedlich gehandhabt. Die Innenminister selber, aber auch die Bundespolitiker betrachten die Regelung mittlerweile ganz entspannt als einen ersten, aber wichtigen Schritt, Herr Winkler. Sie meinen nicht unbedingt, dass man uns damit in den Rücken fällt. Ich hatte am 9. November dargelegt, wie meine kritischen Bemerkungen zu dem, was aus der Beschlussfassung der Innenministerkonferenz drohte, einzuordnen sind und warum ich glaube, dass eine gesetzliche Regelung in der Tat besser wäre. Ich will Ihnen gerne sagen, wo nach meiner persönlichen Meinung eine gesetzliche Altfallregelung - inwieweit wir das in der Koalition durchsetzen können, ist eine ganz andere Frage - mehr Klarheit bringen könnte und wie wir sie umfassender ausgestalten könnten. Eigentlich wäre wünschenswert gewesen, nicht mit einer Mindestaufenthaltsfrist von sechs oder acht Jahren zu operieren, sondern - um möglichst viele Menschen zu erfassen - von vier Jahren bei Familien mit minderjährigen Kindern und von sechs Jahren bei Alleinstehenden auszugehen. Ich hoffe, dass wir die Kraft haben, den Bezug von lediglich ergänzender Sozialhilfe - Herr Grindel, Sie haben das dankenswerterweise schon in die IMK-Regelung hineininterpretiert; ich bin nicht ganz so optimistisch durchzusetzen. Eines ist jedenfalls völlig klar. Nicht nur für die Betroffenen, sondern für uns alle und insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme ist es allemal besser, wenn Familien ihren Lebensunterhalt überwieRüdiger Veit gend selbst bestreiten können und vielleicht lediglich in der Spitze auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind. Das ist weniger und - mit Verlaub - billiger, als wenn sie dem Staat völlig auf der Tasche liegen, weil sie gar nichts anderes dürfen. ({3}) Unterschiedlicher Auffassung mögen wir in der Frage sein, wie Familienangehörige zu behandeln sind, wenn sich Vater oder Mutter im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ganz korrekt verhalten haben oder wenn ein Mitglied der Familie straffällig geworden ist. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das nicht zwangsläufig dazu führen darf, dass alle anderen Familienmitglieder sozusagen im Wege der Sippenhaft von der Anwendung der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen sind. Hier brauchen wir differenzierte Regelungen. Ich persönlich betone: Wenn sich ein einziges Familienmitglied entgegen unserer Rechtsordnung verhalten hat oder verhält, dann darf das nicht bedeuten, dass der gesamten Familie gesagt wird: Ihr habt Deutschland sofort zu verlassen. ({4}) Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen, der nach meinem Dafürhalten in der Innenministerregelung ein bisschen vernachlässigt wurde. Das ist die Frage, wie wir die als Minderjährige ganz allein nach Deutschland eingereisten jungen Leute behandeln. Wenn wir mit sehr viel Geld dafür gesorgt haben, dass junge Menschen, die mit zwölf, 13 oder 14 Jahren hierher gekommen sind, keine Verwandten mehr weder im Herkunftsland noch irgendwo sonst auf der Welt haben und vielleicht schon ihren Schulabschluss hier gemacht haben - manche haben erst in Deutschland eine Schule kennen gelernt -, beispielsweise in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe bei uns integriert wurden, dann kann es nicht richtig sein, den Betreffenden zu sagen: In dem Augenblick, in dem ihr volljährig werdet, ist jeder Schutz weg und ihr habt Deutschland sofort zu verlassen. - Das ist inhuman und absolut unvernünftig. ({5}) Noch einmal: Es darf nicht wahr sein, dass wir zuerst Tausende im Monat ausgeben, diese Menschen in Deutschland zu integrieren, um dann die ganze staatliche Energie darauf zu verwenden, sie loszuwerden, und zu sagen: Wenn ihr volljährig seid, interessiert uns das alles nicht; dann geht dorthin, wo immer ihr jemanden findet. - Wahrscheinlich finden sie hier niemanden. Dafür brauchen wir entweder eine Regelung in § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes - das würde ich eindeutig bevorzugen - oder zumindest eine klare Regelung im Gesetz über die Altfälle. Ich meine, dass hier eine Mindestverweildauer von vier Jahren ausreichend wäre. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluss zu dem kommen, was Bundesminister Franz Müntefering gerade erarbeitet. Ich halte es für richtig und vernünftig, dass seine Position lautet: Wir wollen mindestens 100 000 von den rund 200 000 in Deutschland geduldeten ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern hier dauerhaft integrieren. Wir wollen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis geben. Ich kann das nicht ausschließlich von dem K.-o.Kriterium „vorhandener Arbeitsplatz“ abhängig machen, sondern ich muss ihnen auch dann eine Arbeitserlaubnis geben, wenn sie einen Arbeitsplatz in Aussicht haben oder sich zumindest sehr ernsthaft und intensiv um einen Arbeitsplatz bemühen. Es gibt genügend Möglichkeiten, das zu kontrollieren. Über diese Formulierungen sind wir intensiv im Gespräch. Ich hoffe, dass wir zu Lösungen kommen. Dabei wäre es aus Sicht der SPD-Fraktion ein nicht zu unterschätzender Preis und keinesfalls begrüßenswert, wenn man das Asylbewerberleistungsgesetz ändern müsste. Wünschenswert wäre, wenn wir zu dem Ergebnis kämen: Wer sich vier Jahre in Deutschland geduldet aufgehalten hat, der soll einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das fände ich wichtig und erfreulich. Zum Schluss zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Ihr Antrag ist wegen seiner Argumentation zur Unterstützung des gemeinsamen Anliegens, von dem ich eingangs sagte, dass es erfreulich ist, dass wir alle darüber reden und im Grundsatz einer Meinung sind, willkommen. Aber, in aller Bescheidenheit, wir hätten dieser Unterstützung nicht unbedingt bedurft, weil wir uns seit Monaten in intensiven Gesprächen mit unserem neuen Koalitionspartner um eine Lösung bemühen. Lassen Sie uns das weiter auf dieser Ebene verfolgen. Dann mag vielleicht etwas Vernünftiges für die Betroffenen und unsere Gesellschaft dabei herauskommen. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1) ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3340 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Jetzt haben wir noch fünf Tagesordnungspunkte, die alle zu Protokoll genommen werden. Ich bitte Sie, trotz- dem noch anwesend zu bleiben, damit wir das formal richtig zu Ende bringen können. 1) Anlage 8 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ingbert Liebing, Katherina Reiche ({2}), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser schützen - Drucksachen 16/3089, 16/3624 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Dirk Becker Angelika Brunkhorst Eva Bulling-Schröter Cornelia Behm Die Reden, die zu Protokoll genommen werden, sind von den Kollegen Ingbert Liebing, CDU/CSU, Gabriele Groneberg und Dirk Becker von der SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/3624 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser schützen“. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3089 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, im Übrigen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Patrick Döring, Horst Friedrich ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Defizite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt beseitigen - Drucksachen 16/1158, 16/2736 - Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hof- 1) Anlage 9 reiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Umweltfreundliche Stromversorgung von Schiffen in Häfen unterstützen - Drucksache 16/2791 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bei den Reden, die zu Protokoll genommen werden, handelt es sich um die Reden der Kollegen Enak Ferle- mann, CDU/CSU, Annette Faße und Dr. Margrit Wetzel von der SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, und Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.2) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/2736 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Defizite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1158 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 22 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2791 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung ({7}) KOM ({8}) 91 endg.; Ratsdok. 7301/06 - Drucksachen 16/1207 Nr. 1.12, 16/3639 - Berichterstattung: Abgeordnete Veronika Bellmann Dr. Martin Schwanholz Alexander Ulrich Es handelt sich bei den Reden, die zu Protokoll ge- nommen werden, um die Reden der Kollegen Veronika Bellmann, CDU/CSU, Dr. Martin Schwanholz, SPD, 2) Anlage 10 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Markus Löning, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, und Rain- der Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1) Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Stellungnahme anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens - Drucksache 16/3227 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir nehmen die Reden der Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD, Sabine Leut- heusser-Schnarrenberger, FDP, Wolfgang Nešković, Die Linke, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach zu Protokoll.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3227 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ({10}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten An- 1) Anlage 11 2) Anlage 12 nette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern - Drucksache 16/3609 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({11}) Sportausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir nehmen die Reden der Kollegen Jürgen Klimke, CDU/CSU, Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Ernst Burgba- cher, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke und Dr. Anton Hof- reiter, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3609 zur Federführung an den Ausschuss für Tourismus und zur Mitberatung an den Sportausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Dezember 2006, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.