Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Morgen sowie gute Beratungen.
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herr
van der Linden, Platz genommen.
({0})
Ich begrüße Sie, lieber Kollege van der Linden, und Ihre
Delegation herzlich im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen des Deutschen Bundestages.
Herr Präsident van der Linden, wir freuen uns, dass
Sie kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die
Gelegenheit zu einem offiziellen Besuch in Berlin gefunden haben. Wie Sie wissen, befasst sich der Deutsche
Bundestag nicht allein dank der regelmäßigen Berichterstattung der Mitglieder der deutschen Delegation bei
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
mit den wichtigen und aktuellen Themen der Organisation. Bereits gestern ist Ihnen in den Gesprächen mit
Mitgliedern verschiedener Ausschüsse deutlich geworden, wie eng die parlamentarischen Beratungen Ihrer
Versammlung thematisch mit denen des Bundestages
verknüpft sind.
Als aktueller Beleg der engen Kooperation dient die
Kampagne der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates zum Thema „Parlamentarier vereint im
Kampf gegen die häusliche Gewalt gegen Frauen“, die
am Montag unter großer Medienbeachtung und in Ihrem
Beisein im spanischen Parlament feierlich gestartet
wurde.
Häusliche Gewalt ist eine der unauffälligen, aber weit
verbreiteten Verletzungen der Menschenrechte und muss
in allen Mitgliedstaaten des Europarates bekämpft werden.
({1})
Nach den vom Europarat zusammengetragenen Daten
haben in allen Ländern ein Viertel aller Frauen - völlig
unabhängig von Alter und sozialen Milieus - mindestens
einmal in ihrem Leben physische Gewalt erfahren. Die
häufigsten Gewaltakte gegen Frauen geschehen von
Männern in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld.
Darum begrüßen die Mitglieder des Deutschen Bundestages das Ziel dieser Kampagne ausdrücklich,
nämlich jede Form häuslicher Gewalt vorbehaltlos zu
verurteilen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für
das Problem der häuslichen Gewalt zu schärfen, die
Maßnahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt auch
auf Ebene der nationalen Regierungen, Parlamente und
Regional- sowie Kommunalbehörden auf den Prüfstand
zu stellen und ihr mit allen zu Gebote stehenden parlamentarischen Mitteln entgegenzutreten.
({2})
Lieber Kollege van der Linden, wir freuen uns, dass
Sie trotz Ihres sehr dichten Programms Gelegenheit finden, unserer Sitzung beizuwohnen. Wir wünschen Ihnen
weiterhin interessante Gespräche und einen angenehmen
Aufenthalt in Berlin. Wir freuen uns auf die weitere intensive Zusammenarbeit.
({3})
Der Kollege Friedbert Pflüger hat am 25. November
auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich herzlich den Kollegen Hans Peter Thul.
({4})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg und
Kapital von Unternehmen
({5})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({6}),
Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Glaubensfreiheit weltweit achten
- Drucksache 16/3614 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007
- Drucksache 16/3622 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 3 g
und 33 a abzusetzen sowie die Tagesordnungspunkte 8
und 14 zu tauschen. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Die in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich
dem Finanzausschuss ({9}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Modernisierungsstrategie für die deutsche Wasserwirtschaft und für ein stärkeres internationales
Engagement der deutschen Wasserwirtschaft
- Drucksache 16/1094 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f und 3 h
sowie Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf ({11}), Niels
Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Stärkung der Menschenrechtspolitik der
Europäischen Union
- Drucksache 16/3607 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christel
Riemann-Hanewinckel, Christoph Strässer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten
- Drucksache 16/3608 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Auswärtiger Ausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksache 16/3145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({15}), Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht
gebraucht
- Drucksache 16/3621 Überweisung:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({17}), Rainder Steenblock, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der
EU stärken - Mandat der Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten
- Drucksache 16/3617 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({19}), Marieluise Beck ({20}), Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Pressefreiheit als Fundament für die Demokratie
- Drucksache 16/3613 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Präsident Dr. Norbert Lammert
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({22}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter
- Drucksachen 16/226, 16/2733 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Volker Beck ({23})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({24}), Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Glaubensfreiheit weltweit achten
- Drucksache 16/3614 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({25})
Auswärtiger Ausschuss
Herr Kollege van der Linden, Sie sehen, wir haben
uns große Mühe gegeben, auch bei der Gestaltung der
Tagesordnung den besonderen Schwerpunkten des Europarates Rechnung zu tragen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst dem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.
({26})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Dass die Debatte über die Lage
der Menschenrechte heute in der Kernzeit der Parlamentswoche stattfindet, ist ein Signal, das in der Öffentlichkeit verstanden werden wird. Ich darf Ihnen versichern, dass es auch von der Bundesregierung und dem
Bundesaußenminister verstanden wird.
Kofi Annan hat vor kurzem versucht, eine griffige
Formel für die Bedeutung der Menschenrechtspolitik zu
finden. Er hat gesagt: ohne Sicherheit keine Entwicklung, ohne Entwicklung keine Sicherheit und weder
Sicherheit noch Entwicklung ohne Beachtung der Menschenrechte. - Diese Zusammenhänge sind auch Leitund Richtschnur für die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung und des Bundesaußenministers.
({0})
Wir verfolgen als Vertreter unseres Landes die Förderung und die Verteidigung der Menschenrechte konsequent sowohl in unseren bilateralen Beziehungen als
auch in multilateralen Gremien ebenso wie in der Europäischen Union; darauf komme ich gleich zurück. Wir
dürfen miteinander feststellen: Im Laufe der Jahre hat
die deutsche Menschenrechtspolitik durchaus unverwechselbare Markenzeichen entwickelt. Wir treten für
die Universalität der Menschenrechte ein. Wir wenden
uns gegen Versuche, diese mit Hinweisen auf kulturelle
Traditionen oder niedrige Entwicklungsstände zu relativieren. Wir setzen uns für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, für politische, wirtschaftliche, soziale wie
kulturelle, ein.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist etwa die deutsch-spanische Initiative zum Recht auf Wasser für alle Menschen, über die berichtet worden ist. Erst vor wenigen
Tagen hat der neue Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen diese Forderung mit großer Unterstützung aus allen Weltregionen im Konsens angenommen.
Wir treten darüber hinaus mit Nachdruck gegen Diskriminierungen jeglicher Art sowie gegen Rassismus
und religiös bzw. anderweitig motivierte Intoleranz ein.
Wir wollen konkrete Menschenrechtsprobleme so weit
wie möglich auf dem Wege des Dialogs und der Zusammenarbeit lösen. Das funktioniert - das wissen Sie alle nicht immer auf dem Marktplatz. Aber klar ist natürlich
ebenso: Schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen müssen wir offen beim Namen nennen.
({1})
Mit Übernahme der Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt Deutschland ab dem 1. Januar 2007 zum einen auch dort eine gewisse Leitfunktion im Rahmen des Menschenrechtsschutzes. Ich darf
Ihnen versichern, dass wir alles dafür tun werden, damit
die Europäische Union der Europäischen Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte beitritt, wie wir das im Rahmen der Diskussion um den
europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen haben.
Zum anderen geht es natürlich um die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Arbeit der neuen
Europäischen Grundrechteagentur. Ich darf sagen: Es
hat lange Diskussionen gegeben. Am Ende tragen wir,
die Bundesregierung, die Entscheidungen zur Schaffung
dieser Grundrechteagentur mit. Aber wir nehmen die
Bedenken des Deutschen Bundestages sehr ernst - darum erwähne ich dies hier - und drängen in diesem
Sinne auch in Brüssel darauf, dass sich keine Überschneidungen mit Menschenrechtsgremien anderer Herkunft ergeben und vor allen Dingen kein Wirrwarr an
Zuständigkeiten entsteht. Ich bin der Meinung - ich
weiß, dass viele hier im Hause dieselbe Auffassung vertreten -: Die Grundrechteagentur muss den Europarat
sinnvoll ergänzen, ihn in seinen Zuständigkeiten aber
nicht verdoppeln wollen.
({2})
Die internationale Menschenrechtspolitik der EU
ist sichtbares Zeichen und sichtbare Auszeichnung europäischer Politik geworden. Die Europäische Union
spricht heute fast überall gegenüber dritten Staaten mit
einer Stimme in Menschenrechtsfragen.
Das lässt sich glaubwürdig nur dann machen, wenn
wir zunächst bei uns selbst um Menschenrechtsschutz
bemüht sind. Darum schicken wir zum Beispiel bei Einsätzen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik auch Menschenrechtsbeobachter
mit. Sie kümmern sich um die Beachtung der Menschenrechte nicht nur durch Dritte, sondern auch durch das europäische Personal. Wir werden im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft weiter für die Abschaffung
der Todesstrafe, die Bekämpfung der Folter und gegen
den Einsatz von Kindersoldaten eintreten.
({3})
Dazu gehört, dass wir auch in Bezug auf den Schutz der
Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung klare
Positionen beziehen. Gerade weil wir den Terrorismus
uneingeschränkt verurteilen, müssen wir bei seiner Bekämpfung auf die Einhaltung von Menschenrechten und
rechtsstaatlichen Verfahren achten.
({4})
Als deutscher Außenminister muss ich und werde ich
im kommenden Halbjahr sehr viele Menschenrechtsdialoge, Konsultationen zwischen der Europäischen Union
und Drittstaaten führen. Dabei werden wir - das sage ich
gerade mit Blick auf die Anträge, die heute behandelt
werden - natürlich auch die Situation von Christen und
religiösen Minderheiten auf den Tisch zu bringen und
zu verhandeln haben. Ich jedenfalls werde mich darum
bemühen - wir wollen dafür arbeiten -, dass wir nach
dem Menschenrechtsdialog der EU mit China, der jetzt
im Gange ist, einen solchen Dialog auch mit anderen
Staaten zustande bringen, vielleicht am Ende auch mit
dem Iran, einem Staat, mit dem uns im Augenblick eher
Konflikte und tiefe Probleme verbinden.
Bei den hoffentlich doch stattfindenden Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft mit Russland
- darüber wird im Augenblick in Europa gesprochen;
das wissen Sie - wird das Thema Menschenrechte ebenfalls nicht ausgespart und nicht ausgespart werden können. Wir werden natürlich aussprechen, dass zu einem
Ausbau der strategischen Partnerschaft zwischen Europa
und Russland auch der Ausbau von Demokratie und
Rechtsstaat gehört.
Dasselbe gilt - das sage ich mit Blick auf meine zurückliegende Zentralasienreise - natürlich auch für die
Initiative, die Europa im Bereich seiner Zentralasienpolitik vorhat. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft dazu kommen werden, einen
Menschenrechtsdialog mit Usbekistan aufzunehmen.
Ich kann Ihnen versichern: Ich habe bei meiner Zentralasienreise selbst erlebt, wie schwierig solche Gespräche
sind und wie hartnäckig man sie führen muss. Aber ich
habe auch festgestellt, dass sich solche Gespräche lohnen können. Die usbekische Regierung hat nach meinem
Besuch immerhin einen Journalisten, um den wir uns bemüht haben - er war zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt -, freigelassen. Sie hat jetzt angekündigt, dass das
Internationale Rote Kreuz wieder Zugang zu den usbekischen Gefängnissen erhalten soll. Schließlich hat sie der
Aufnahme eines Menschenrechtsdialoges mit der EU zugestimmt. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Das mindert nicht die Vorwürfe hinsichtlich der Ereignisse von
Andischan, aber immerhin: Wenn sich bewahrheitet,
dass aus diesen Ankündigungen Politik wird, dann wäre
das ein Schritt nach vorn.
({5})
Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe steht uns
bei dem neu gegründeten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen bevor. Sie wissen, dass Deutschland
auf den Wunsch vieler „Mitglied der ersten Stunde“ geworden ist und damit die Rahmenbedingungen der Arbeit des Menschenrechtsrates mit gestalten kann. Dann
kann die Chance bestehen, dass sich dieses neue Gremium mehr Glaubwürdigkeit erarbeitet, als die alte
Menschenrechtskommission, die aufgelöst worden ist,
zum Ende ihrer Arbeit hin hatte.
Ich will mit aller Vorsicht sagen, dass sich bei der jetzigen Arbeit im Menschenrechtsrat zeigt, wie viel Überzeugungsarbeit wir für unser Verständnis der Menschenrechte noch zu leisten haben. Im Augenblick erleben wir,
wie eine Gruppe von Staaten, bei denen wir eher Defizite
im Bereich des Schutzes der Menschenrechte sehen, zunehmend selbstbewusst auftritt und damit unser Verständnis von Menschenrechten herauszufordern versucht.
Für unser Verständnis der Menschenrechte haben wir im
Menschenrechtsrat - das müssen Sie mit Blick auf die zurückliegenden Abstimmungen klar sehen - häufig ganz
einfach keine Mehrheit.
An dieser Entwicklung sehen Sie, dass mit der Globalisierung Machtverschiebungen einhergehen, wodurch
die Arbeit zum Schutz der Menschenrechte gerade in internationalen Gremien nicht leichter geworden ist. Das
schränkt unsere Bemühungen aber nicht ein, sondern
veranlasst uns eher dazu, mit den anderen europäischen
Staaten, die Mitglied des Menschenrechtsrates sind - sie
gehören ihm allesamt an -, noch konkreter für den
Schutz der Menschenrechte zu arbeiten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Däubler-Gmelin?
Ja.
Bitte schön.
Herr Bundesaußenminister, Sie beobachten wahrscheinlich mit der gleichen Sorge wie wir, dass eines der
Probleme des neuen Menschenrechtsrates im Abstimmungsverhalten liegt: Es wird stärker nach Regionen abgestimmt, wobei sich die Regionen an dem im Sinne unseres Verständnisses der Menschenrechte „Langsamsten“
und nicht an den Menschenrechten selbst, gleich ob es um
unsere oder eine globale Definition geht, orientieren.
Nun stellen wir fest, dass die Europäische Union dieses
blockweise Abstimmungsverhalten ebenfalls praktiziert.
Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Verfahren innerhalb
der EU-Präsidentschaft Deutschlands im kommenden
halben Jahr etwas aufzulockern, zu etwas mehr europäischem Selbstbewusstsein in der Menschenrechtspolitik
zu kommen? Sehen Sie, wie beispielsweise bei der Aushandlung des Römischen Statutes, eine Möglichkeit, mit
like minded, mit ähnlich gesinnten Ländern aus anderen
Kontinenten zu einer Abstimmung zu kommen, die sich
an den Menschenrechtsfragen und nicht an der Politik einzelner Regionen orientiert?
Frau Abgeordnete, das war ein zentraler Anker meiner Rede zur Eröffnung des Menschenrechtsrates, die ich
in Genf gehalten habe. Ich kann Ihnen versichern, dass
ich mich in dem nächsten Halbjahr deutscher Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union sehr darum bemühen werde. Ich hoffe, dass es gelingt, die manchmal auftretende Nähe einzelner europäischer Staaten zu einigen
Regionen, die eine geschlossene Abstimmung der europäischen Staaten im Menschenrechtsrat verhindert, aufzubrechen und in Zukunft eine geschlossenere Haltung
der europäischen Staaten hervorzubringen.
Das ist eine der Voraussetzungen; es gibt aber noch
andere. Frau Abgeordnete, wir müssen auch dafür kämpfen, dass das System der Sonderberichterstatter erhalten bleibt, damit wir durch diese Sonderberichterstatter
eine verlässliche Beschreibung der Menschenrechtssituation in einzelnen problematischen Ländern bekommen. Wir müssen ein verlässliches Verfahren für eine
regelmäßige Beschreibung der Menschenrechtslage in
allen Staaten entwickeln. - Ich danke Ihnen.
({0})
Wenn ich noch eine letzte Bemerkung machen darf:
In dem Menschenrechtsrat müssen wir gemeinsam mit
den anderen europäischen Staaten die Voraussetzungen
dafür schaffen. Das kann nur dann gelingen - das betrifft
auch die letzte Frage -, wenn die Tagesordnung nicht
vorsieht, dass wir in jeder Menschenrechtsratssitzung
dauerhaft und ausschließlich über den Nahostkonflikt
streiten. Wir müssen das Spektrum der Befassung des
Menschenrechtsrats in den nächsten Wochen und Monaten deutlich erweitern.
Bei all diesen Bemühungen - das gilt auch für die Bemühungen um die Etablierung geeigneter Rahmenbedingungen für die Arbeit des Menschenrechtsrates - setze
ich auf Ihre, auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Toncar,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema, das wir heute diskutieren, ist ein wichtiges. Ich
möchte hinzufügen: Es ist nicht nur für das heimische
Publikum, das gewisse Erwartungen hegt, ein wichtiges
Thema, sondern für viele Menschen auf der Welt. Wir
artikulieren Menschenrechtsthemen manches Mal - so
habe ich das Gefühl - stark mit Rücksicht auf das heimische Publikum, auf aktive Nichtregierungsorganisationen und wir konzentrieren uns zu wenig darauf, Ergebnisse zu kontrollieren und zu hinterfragen.
({0})
Menschenrechte sind universelle Werte, die wir vertreten und in deren Rahmen wir international an Mindeststandards festhalten wollen. Sie sind aber auch in
unserem Interesse. Denn es ist doch jedem einsichtig,
dass Flüchtlingsströme und politische Instabilität, die
durch schlechte Menschenrechtssituationen in vielen
Ländern auf der Welt entstehen, uns sehr schnell einholen können. Das Beispiel der USA mit deren Unterstützung der Taliban oder anderer sehr fragwürdiger Organisationen zeigt, dass eine menschenrechtlich blinde
Politik die eigenen Sicherheitsinteressen schnell gefährden kann. Auch das sollte uns eine Lehre sein.
({1})
Wir diskutieren in Deutschland zu wenig über die
Konsequenzen, die sich durch globale Veränderungen
der jüngeren Zeit für unsere Menschenrechtspolitik ergeben. Diese Veränderungen bieten große Chancen für die
Menschenrechte. Das will ich gar nicht bestreiten. Das
Internet, der globale Informationsaustausch, macht es
Diktaturen schwerer, die eigene Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken. Der internationale wissenschaftliche Austausch funktioniert auf dem Prinzip der
Freiheit. Auch das ist weltweit ein großer Fortschritt. In
vielen Ländern, die wirtschaftlich aufstreben, beispielsweise China, entsteht eine Art Mittelschicht, die Freiheit
heute noch nicht so artikuliert und so versteht, wie wir
das in Europa tun. Sie braucht noch Entfaltungschancen
und wird diese auch einfordern. Das sind ermutigende
Entwicklungen.
Ich glaube auch, dass sich Machtverschiebungen ergeben haben, die unsere heutigen Einflussmöglichkeiten
in verschiedenen Bereichen schmälern. Es handelt sich
um wirtschaftliche Machtverschiebungen, wie wir sie
beispielsweise in China erleben. Früher war es so, dass
China bei der technischen Partnerschaft und Zusammenarbeit eindeutig auf Europa angewiesen war. Das ist immer weniger der Fall und wird sich in einigen Jahren
komplett geändert haben. Dies betrifft aber nicht nur
China, sondern beispielsweise auch Afrika, wo viele
Rohstoffe vorhanden sind. Länder wie der Sudan haben
Interesse an technischer Zusammenarbeit. Hier ist es so,
dass mit China eine Alternative zur Verfügung steht, die
technisches Know-how liefern kann, die investiert und
keine lästigen Fragen zu den Menschenrechten stellt.
Das schmälert den europäischen Einfluss dort. Wenn wir
ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir noch keine
Lösung für dieses Problem gefunden haben.
({2})
Wenn man sich Deutschland anschaut, muss man eines feststellen: Unsere Rohstoffabhängigkeit von anderen Ländern nimmt zu. Wir sind hinsichtlich unserer
Rohstoffimporte beispielsweise von Russland und vielen
zentralasiatischen Ländern abhängig. Das ist eine Region, in der sich bezüglich der Menschenrechte auch im
Jahr 2006 vieles dramatisch verschlechtert hat. Gerade
in Russland ist es so, dass der dortige Präsident nun
wahrlich kein lupenreiner Demokrat ist, sondern dass er
bei jeder Gelegenheit alles tut, um auch nur die kleinsten
Ansätze von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft zu zerstören.
({3})
Die jüngsten Mordfälle müssen aufgeklärt werden. Man
sollte sich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber es ist
unbestreitbar, dass kritische Geister in Russland nicht sicher sind. Wer auch immer dahintersteckt, es ist zumindest so, dass Teile der Staatsgewalt, Teile des Geheimdienstes offensichtlich eine Eigendynamik entwickeln,
die schädlich ist und auch nur Ansätze einer freiheitlichen Kultur in Russland zerstört.
Wenn wir das sehen, müssen wir gleichzeitig zugeben: Wir können aufgrund unserer Rohstoffabhängigkeit
weniger dazu sagen, als nötig wäre. Auch das ist ein strategisches Problem für unsere Menschenrechtspolitik, das
wir angehen müssen. Wir müssen uns einfach einmal
über das, was wir kennen, hinaus unterhalten. Es ist immer gut, Resolutionen zu verabschieden, die Lage anzusprechen oder zu verurteilen. Aber wenn man am Ende
keinen politischen Druck entfalten kann, dann haben all
diese Deklarationen nicht den Wert und nicht den Effekt,
den sie haben sollten. Insofern müssen wir uns damit beschäftigen.
({4})
Ich glaube, dass es drei Ansatzpunkte gibt, wie man
diesem Problem begegnen kann.
Erstens. Die deutsche Menschenrechtspolitik muss
endlich Schwerpunkte setzen. Das tut sie bisher nicht.
Wenn man den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung liest, stellt man fest, dass er ein Gemüsegarten ist,
in dem alle Themen gleichrangig abgehandelt werden
und keine Priorisierung stattfindet.
Zweitens. Wir müssen uns stärker auf Europa konzentrieren. Ich glaube, unilateral ist immer weniger möglich.
Drittens. Ein Aspekt wird für unsere Menschenrechtspolitik immer wichtiger, über den oft nur im wirtschaftspolitischen Zusammenhang diskutiert wird: Wenn wir es
nicht schaffen, unsere Rohstoffabhängigkeit, unsere Abhängigkeit von Importen von Öl und Gas zu verringern,
dann werden wir nicht den politischen Einfluss haben,
den wir in Menschenrechtsfragen gerne hätten. Insofern
ist die Entwicklung anderer Energien, aber allerdings
auch - das muss man im Hinblick auf die Grünen sagen ein Festhalten an Technologien wie der Kernenergie
wichtig, damit wir den Schritt weg vom Öl und weg vom
Gas gehen können und außenpolitisch und menschenrechtspolitisch Fortschritte erzielen können.
({5})
Ich will abschließend auf einen Antrag eingehen, über
den heute abgestimmt werden soll. Es geht um die Begleitung von VN-Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter. Der Bundesaußenminister hat völlig
zu Recht darauf hingewiesen, dass im Rahmen der
ESVP bereits Menschenrechtsbeobachter zum Einsatz
kommen. Dabei handelt es sich um Zivilisten, die die
Mission begleiten und darauf achten sollen, dass das
Thema Menschenrechte bei einem Militäreinsatz im
Ausland angemessen berücksichtigt wird und dass die
Truppen, die im Ausland eingesetzt werden, die Menschenrechte einhalten.
Ich glaube, das ist ein sehr sinnvoller Ansatz. Denn
egal, ob wir Truppen im Rahmen der VN oder im Rahmen der EU ins Ausland schicken, so ist eindeutig: Wir
haben ein vitales Interesse daran, dass sie sich einwandfrei verhalten. Allerdings frage ich mich: Wenn wir
dann, wenn europäische Truppen zum Einsatz kommen,
Menschenrechtsbeobachter mitschicken, warum können
und sollen wir das nicht auch bei einem Einsatz im Rahmen der Vereinten Nationen tun?
In diesem Zusammenhang wundert mich sehr, was
der Menschenrechtsausschuss zu unserem Antrag auf
Begleitung von VN-Missionen durch Menschenrechtsbeobachter beschlossen hat. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen: Der Verteidigungsausschuss stimmt unserem Antrag zu. Im Auswärtigen Ausschuss ist die Stimmung gemischt. Ausgerechnet der
Menschenrechtsausschuss ist der Ausschuss, der den
Einsatz von Menschenrechtsbeobachtern im Rahmen
von VN-Missionen bremst. Ich glaube, das ist kein Ruhmesblatt für diesen Ausschuss und auch nicht für die
deutsche Menschenrechtspolitik.
({6})
In der Beschlussempfehlung heißt es, dieser Antrag sei
„von vorgestern“. Ich habe den Eindruck, diese Aussage
verdeutlicht, dass manche Kollegen nicht auf der Höhe
der Zeit sind. Denn all diejenigen, die sich mit solchen
Einsätzen beschäftigen, machen immer wieder darauf aufmerksam, wie wichtig die Nutzung dieses Instruments
wäre. Ich bitte Sie herzlich, in dieser Frage zu einer
konstruktiven Menschenrechtspolitik zurückzukehren.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Tag der Menschenrechte am 1. Dezember, also morgen,
mahnt vor allem uns Politiker, sich an die Seite unterdrückter und verfolgter Menschen zu stellen. Der Bundesaußenminister hat das eben sehr eindrucksvoll getan
und deutlich gemacht, wie die große Koalition Menschenrechtspolitik betreibt.
Tagtäglich werden wir alle über die Bildschirme und in
den Zeitungen mit fundamentalen Menschenrechtsverletzungen unterschiedlichster Art konfrontiert. In unserem
vorliegenden Antrag widmen wir uns einer besonders
verfolgten Gruppe: allen religiös verfolgten Menschen
weltweit. Da die Situation der Christen heutzutage teilweise dramatisch ist, will ich mich heute in Solidarität mit
unseren Glaubensgeschwistern in erster Linie ihrer Lage
annehmen.
({0})
Die Religionsfreiheit ist ein Teil der individuellen
Menschenwürde und daher ein in vielen internationalen
Konventionen verankertes Menschenrecht. Die Religionsfreiheit ist ein zentrales Ziel der Charta der Vereinten Nationen. Sie ist festgeschrieben in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, in der Europäischen
Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte.
Papier ist aber leider geduldig. Die Realität sieht oftmals völlig anders aus. Der traurige Alltag vieler Christen hat mit den schriftlich verankerten Garantien nicht
mehr viel gemein.
({1})
Vielmehr ist er gekennzeichnet von Diskriminierung im
privaten Umfeld, von Behinderung der Religionsausübung, von Bedrängnis, von Schikane und strafrechtlicher Verfolgung, die sogar in einem Todesurteil enden
kann. Dies machte das Gerichtsverfahren gegen den zum
Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman im
März dieses Jahres deutlich.
Religiöse Verfolgung findet heutzutage in vielen nicht
demokratischen Gesellschaftssystemen statt; das gilt für
alle Religionen, insbesondere allerdings für Menschen
christlichen Glaubens. Aber sie lässt sich nicht auf eine
bestimmte Staats- oder Gesellschaftsform begrenzen.
Verfolgt wird sowohl in atheistischen Diktaturen als
auch in religiös-totalitären Gesellschaften. In mindestens
50 der 200 Staaten der Welt werden heute Menschen
christlichen Glaubens diskriminiert oder verfolgt. Unter
den religiös Verfolgten macht allein die Gruppe der
Christen 80 Prozent aus. Neueste Schätzungen gehen sogar von 90 Prozent aus. Mit der Kairoer Erklärung der
Menschenrechte der Organisation der Islamischen Konferenz wurde der Schutz der Religionsfreiheit in islamischen Ländern völlig entwertet, indem die Einhaltung
der Menschenrechte dort unter den Vorbehalt der Scharia
gestellt worden ist.
Mit Saudi-Arabien, dem Iran, Somalia, den Malediven und dem Jemen finden sich fünf islamische Länder
auf den ersten zehn Plätzen des Weltverfolgungsindexes
der Organisation „Open Doors“. Missionierungstätigkeit
wird in ihnen selbstverständlich untersagt. In SaudiArabien, im Jemen und im Iran steht auf den Abfall vom
Islam die Todesstrafe. Die christlichen Minderheiten
werden als ein Sicherheitsrisiko für den Staat angesehen
und daher durch Einschüchterung nach Möglichkeit zur
Aufgabe ihres Glaubens oder aber zur Flucht gezwungen
bzw. gedrängt. Es ist unübersehbar, dass in mehreren
Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung die
Radikalisierung des Islam zu einer sehr viel stärkeren
Unterdrückung der dort lebenden Christen geführt hat
und immer noch führt.
Besonders erschütternd und so desolat wie in keinem
anderen Land ist die Situation von Christen in der atheistischen Diktatur Nordkorea. Dieses Land steht das
vierte Jahr in Folge an der Spitze des Weltverfolgungsindexes. Über 2 000 christliche Gemeinden mit
300 000 Gläubigen sind dort einfach spurlos verschwunden. Man weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Immer
wieder sickern erschreckende Berichte über öffentliche
Hinrichtungen von Gläubigen, Inhaftierung in Zwangserziehungslagern und auch über Folter durch verschiedene Kanäle zu uns durch. Allerdings sind die Informationen spärlich.
Auch der Blick nach China kann nicht beruhigen.
Insgesamt hat sich die Lage wohl etwas gebessert. Aber
die Behörden unterdrücken weiterhin alle religiösen Aktivitäten, die über das hinausgehen, was das vom Staat
kontrollierte religiöse System zulässt. Die Mehrheit der
Christen, die sich nicht der Kontrolle der staatlich registrierten Kirche unterordnen will, muss ihren Glauben in
der Illegalität, in so genannten Hauskirchen ausüben.
Aber auch in unserer geografischen Nähe gibt es
Handhabungen von Religionsfreiheit, die wir zumindest
als problematisch werten müssen. Mit besonderer Aufmerksamkeit muss hier die Situation der Christen in der
Türkei betrachtet werden. Innerhalb der letzten 90 Jahre
ist der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung
der Türkei durch Verfolgung und Genozid von
30 Prozent auf 0,2 Prozent geschrumpft. Die Religionsfreiheit wird zwar heute verfassungsrechtlich garantiert
und ihre Behinderung im neuen Strafgesetzbuch sogar
unter Strafe gestellt - was wir sehr begrüßen -; doch die
alltägliche Diskriminierung von Christen, insbesondere
der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei,
wird dadurch nicht verhindert.
Die Gewalttätigkeiten gegenüber katholischen Geistlichen nehmen sogar zu. Trauriger Höhepunkt war die
Ermordung des katholischen Priesters Andrea Santoro
im Februar dieses Jahres. Erzbischof Padovese hat berichtet - das konnte man gestern im Fernsehen sehen -,
dass in diesem Jahr bereits ein zweiter Anschlag auf einen Priester verübt wurde. Der Besuch von Papst
Benedikt machte deutlich, dass christenfeindliche
Demonstrationen und christenfeindliche Töne an der
Tagesordnung sind. Äußerst problematisch ist zudem,
dass Kirchen in der Türkei keine Rechtspersönlichkeit
haben, also in ihrem Handeln nicht unmittelbar gesichert
sind. Sie müssen vielmehr als Stiftung oder Verein gegründet werden. In diesem Zusammenhang haben sie oft
mit vielfachen bürokratischen Hindernissen zu kämpfen.
Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es auch unabhängig von Beitrittsverhandlungen nötig ist, die Situation der Christen gegenüber der Türkei zu thematisieren.
({2})
Aktuelle Beispiele für den oft lebensbedrohlichen Alltag
von Christen gibt es leider viel zu viele, als dass die Zeit
ausreichen würde, sie alle aufzuzählen.
Abschließend will ich den Fokus nach innen, auf uns
in Deutschland richten. Dabei geht es um unser christliches Selbstverständnis. Wir leben in Deutschland auf
dem Fundament des christlichen Abendlandes. Unsere
Werte sind vom christlichen Glauben und von der Aufklärung geprägt und Toleranz gegenüber anderen Religionen ist bei uns selbstverständlich. Das Bekenntnis zu
den eigenen Wurzeln gehört aber genauso nötig dazu.
Deshalb gehören christliche Symbole unverzichtbar
nicht nur in die Privatheit in unserem Land, sondern
auch in das öffentliche Leben.
({3})
Das Verbot von Kreuzen in Gerichten oder Schulen
widerspricht unseren eigenen kulturellen Wurzeln. Das
Kreuz ist nicht politisch unkorrekt, sondern ein Symbol
unserer eigenen Werteordnung und Kultur.
({4})
Durch diese Werteordnung ist uns auch aufgegeben, an
der Seite verfolgter Christen weltweit zu stehen. Das diskriminiert andere Religionen überhaupt nicht.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Umfang des jetzt zu behandelnden Tagesordnungspunktes kann man sehen, dass uns allen die Achtung und
Durchsetzung der Menschenrechte ein Herzensanliegen
ist. Ich bin geneigt, etwas zu dem Antrag „Solidarität mit
verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen
Minderheiten“ und Ihrer Rede, Frau Steinbach, zu sagen.
Dies übernimmt allerdings mein Kollege, weil meine
Redezeit leider sehr begrenzt ist.
Ich möchte etwas zu den vorliegenden Anträgen zur
Grundrechteagentur der EU sagen. Es geht um die
Einrichtung einer neuen Institution im Bereich der Menschenrechte, in der immerhin 100 Mitarbeiter tätig werden sollen und die über ein Budget von 30 Millionen
Euro verfügen soll. So weit, so gut. Allerdings muss ich
zugeben, dass ich mich einer gewissen Skepsis nicht erwehren kann.
Die FDP hat heute einen Antrag vorgelegt, mit dem
sie versucht, diese Grundrechteagentur in letzter Minute
zu verhindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, Ihr stärkstes Argument ist, dass diese Grundrechteagentur nicht unabhängig und letztendlich Teil der
Exekutive sein wird. Dieses Argument könnte uns dazu
verführen, Ihrem Antrag zuzustimmen.
({0})
Ihr schwächstes Argument ist allerdings, dass diese
Grundrechteagentur zu teuer ist und dass doch alles viel
preiswerter und effektiver mit anderen Institutionen zu
haben ist.
({1})
Lassen Sie mich hier feststellen: Für eine Politik, die
auf die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte
ausgerichtet ist, sind uns auch 30 Millionen Euro nicht
zu viel.
({2})
Ich komme nicht darum herum, hier noch einmal zu sagen, dass das Verhältnis betrachtet werden muss:
30 Millionen Euro sind nicht einmal 10 Prozent der Kosten für den derzeit laufenden Militäreinsatz in Afghanistan. Und dort geht es angeblich ja auch um Menschenrechte. Diese 30 Millionen Euro können für uns also
nicht zu viel sein.
({3})
Aus dem Antrag der Grünen weht der Geist hervor:
Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, nun müssen wir sehen, was wir noch verbessern können. Die
Bundesregierung soll aufgefordert werden, sich für die
Schaffung dieser Institution einzusetzen. In der Zeit, in
der die Grundrechteagentur auf den Weg gebracht
wurde, war die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
Teil der Regierungskoalition. Ich frage, warum das damals nicht geschehen ist. Das ist für mich irgendwie typisch grün.
Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir uns heute auf
Folgendes einigen können - in diesen Punkten sehe ich
einen Konsens zwischen allen Fraktionen -: Erstens ist
es wichtig - darin stimmen wir mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte überein -, dass die Grundrechteagentur größtmögliche Unabhängigkeit besitzt. Zweitens ist es wichtig, dass sich die Befugnisse der Agentur
auf die Kontrolle der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit erstrecken.
Wir sollten uns außerdem dafür einsetzen, dass sichergestellt wird, dass die gesammelten Daten der Agentur dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
und dem Europäischen Gerichtshof zur Verfügung geMichael Leutert
stellt werden. Darin stimmen wir ebenfalls mit den Grünen überein. Richtig ist letztlich auch - auch dafür sollten wir uns einsetzen -, dass der Europarat eine bessere
Finanzausstattung im Bereich der Menschenrechte erhalten muss.
Ich danke Ihnen.
({4})
Volker Beck ist der nächste Redner für die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus der
Tagesordnung wird zweierlei deutlich: zum einen, dass
das Thema Menschenrechte uns alle in diesem Haus
fraktionsübergreifend umtreibt, und zum anderen, dass
es weltweit mit den Menschenrechten nicht zum Besten
bestellt ist. Wir müssen uns in dieser Debatte um sehr
viele Themen gleichzeitig kümmern und keinem Thema
kann man die Bedeutung absprechen.
Menschenrechtsfragen betreffen ganze Länder und
Regionen, aber auch Einzelpersonen. Deshalb will ich
mit einem Einzelfall beginnen, der auf ein vergessenes
Volk und ein vergessenes Menschenrechtsproblem verweist.
Letzte Woche hatte ich meinem Büro Besuch von einer mutigen und tapferen Frau, Rebiya Kadeer, einer
wichtigen Aktivistin der Uiguren, einem Volk im Osten
Chinas - früher nannte man die Region Ostturkestan -,
das seit Jahren verfolgt und unterdrückt wird. Im Namen
der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wird ein
ganzes Volk von der chinesischen Zentralregierung unterdrückt, gebrandmarkt und drangsaliert.
Wir erleben es seit dem 11. September immer wieder,
dass autoritäre Regime unter dem Vorwand der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ganze Bevölkerungen, Völker und Religionen stigmatisieren und unterdrücken. Das ist in China bei den Uiguren der Fall, in
Russland bei den Tschetschenen und in Usbekistan beim
Umgang mit dem Aufstieg von Andischan.
Die mutige Frau, die mich in meinem Büro besucht
hat, erzählte mir, dass die Chinesen sie aufgefordert hätten, sich zwischen ihrem Volk und ihrer Familie zu entscheiden. Ihre Familie lebt noch in China. Sie hat mit
Tränen in den Augen gesagt, sie könne nicht anders, als
für die Rechte ihres Volkes einzustehen. In der darauf
folgenden Woche wurde sie zur Vorsitzenden der uigurischen Auslandsorganisation gewählt.
Einen Tag nach der Wahl der Menschenrechtlerin
Kadeer zur neuen Präsidentin des Weltkongresses der
Uiguren wurde ihr Sohn in China verhaftet und zu sieben
Jahren Gefängnis verurteilt, angeblich wegen Steuerhinterziehung. Ihre anderen Söhne sind ebenfalls in Haft.
Herr Bundesaußenminister, ich bitte die Bundesregierung, in Peking zu demarchieren und sich nach dem
Schicksal der Kinder von Frau Kadeer zu erkundigen.
Denn so etwas darf der Weltöffentlichkeit nicht gleichgültig sein. Hier ist Solidarität gefragt. Oftmals besteht
unser einziges Mittel, diesen tapferen Menschen zu helfen, darin, Öffentlichkeit zu schaffen und Anfragen an
die Regierungen zur Situation von Menschenrechtsaktivisten und ihren Angehörigen zu richten.
({0})
Im Antrag der Koalition zur EU-Ratspräsidentschaft
wird zu Recht festgestellt, dass die größte humanitäre
Katastrophe der Gegenwart die Situation in Darfur im
Sudan ist. Der Menschenrechtsausschuss hat sich gestern Abend damit beschäftigt und eine gemeinsame Resolution mit den Stimmen der Koalition und den Grünen
verabschiedet, in der wir Folgendes fordern: Die Bundesregierung soll eine politische Führungsrolle im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft einnehmen, um die Situation in Darfur zu lösen, um das Regime in Khartum
endlich dazu zu bewegen, eine internationale Schutztruppe in Darfur zu akzeptieren, die - anders als die
heutige AMIS-Mission mit 7 000 Mann - sowohl zahlenmäßig als auch militärisch in der Lage ist, die Menschen in Darfur vor einer Fortsetzung des Völkermordes
zu schützen. Wir haben außerdem gesagt: Die Bundesregierung soll, wenn es auf internationaler Ebene nicht
anders geht, die Europäische Union auffordern, Sanktionen gegen das Regime in Darfur zu verhängen. Ich bin
froh, dass diese Anregung meiner Fraktion aufgenommen wurde.
({1})
Die Koalition weist in ihrem Antrag darauf hin, dass
die Stationierung von UN-Truppen wesentliche Voraussetzung für die Sicherheit in der dortigen Region ist; das
ist richtig. Wenn die UN es auf der Grundlage eines
sinnvollen Konzepts und in Verhandlungen mit der Regierung in Khartum schafft, UN-Truppen dorthin zu
schicken, und Deutschland gefragt ist, hierzu seinen Beitrag zu leisten, dann dürfen wir uns nicht verweigern.
Wenn die internationale Völkergemeinschaft in der Lage
ist, einen Völkermord zu stoppen, dann kann Deutschland nicht beiseite stehen, wenn es gefragt ist. Deshalb
bin ich über einige Aussagen aus der Koalition sehr verwundert, mit denen Bundesverteidigungsminister Jung
und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul aufgrund
ihrer mutigen und richtigen Worte angegriffen werden.
({2})
- Herr Ramsauer, Sie haben gesagt - und das kritisiert man solle sich nicht äußern, bevor man gefragt werde.
Das ist richtig. Leider hat am 6. September dieses Jahres
die Bundeskanzlerin, ohne gefragt zu sein, eine Beteiligung Deutschlands an einer solchen Schutztruppe verweigert. Das war das falsche Signal. Wir sollten vielmehr deutlich machen, dass wir die Vereinten Nationen
bei der Beendigung dieses Völkermords nach Kräften
unterstützen.
({3})
Volker Beck ({4})
Frau Steinbach, Sie haben zu Recht die Solidarität mit
verfolgten religiösen Minderheiten angemahnt. Es gibt
in der Tat in vielen Ländern keinen Respekt vor der
Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit bedeutet, dass man
seinen Glauben individuell praktizieren darf, dass man
seinen Glauben in der Öffentlichkeit kollektiv, als Religionsgemeinschaft ausüben darf und dass man seine
Glaubensüberzeugung wechseln und zu einem anderen
Glauben übertreten darf. Die Verfolgung von religiösen
Minderheiten ist weltweit ein großes Problem, aber nicht
nur für Christen, sondern auch für Juden, Bahai, Aleviten sowie - je nachdem wer gerade Mehrheitsreligion
ist - sunnitische und schiitische Minderheiten. Wir sollten uns auch wegen der Glaubwürdigkeit unserer Position international dafür einsetzen, dass alle religiösen
Minderheiten ihren Glauben frei ausüben können, dass
sie missionieren dürfen und dass Menschen ihren Glauben wechseln dürfen. Wir dürfen uns nicht allein auf die
Christen fokussieren.
Sie haben die Probleme mit der Türkei angesprochen.
Meine Fraktion hat schon vor längerer Zeit in einer Kleinen Anfrage auf die Situation der Religionsgemeinschaften in der Türkei hingewiesen. In der Tat ist sie für
bestimmte christliche Minderheiten besonders schwierig,
wenn sie nicht unter den Lausanner Vertrag fallen. Für
andere religiöse Minderheiten wie die Aleviten ist es ein
Drama, weil sie noch nicht einmal als religiöse Gemeinschaft anerkannt werden. Vielmehr versucht man in der
Türkei, sie im sunnitischen Mehrheitsglauben quasi unterzupflügen und sie zwangszuislamisieren, obwohl sie
eine eigene religiöse Identität haben. Aber vor dieser hat
der türkische Staat keinen Respekt. Wir müssen in den
Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft dafür sorgen, dass die Türkei allen Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte wie der sunnitischen
Glaubensmehrheit gibt. Das betrifft die Rechtspersönlichkeit, den Immobilienbesitz und die Artikulation der
Glaubensgemeinschaften im öffentlichen Raum.
({5})
Frau Steinbach, Sie haben die Frage angesprochen,
was das für unser Land heißt. Wenn Sie sagen, das Kreuz
solle im öffentlichen Raum auch von Lehrerinnen und
Lehrern und von Menschen, die im Staatsdienst stehen,
gezeigt werden, dann müssen Sie in gleicher Weise auch
den Musliminnen zugestehen, dass sie im öffentlichen
Raum das Kopftuch als Ausdruck ihres Glaubens tragen.
Das gehört nicht zu unserer Kultur und es mag uns
fremd und unverständlich sein, was da geglaubt wird;
aber wenn wir die öffentliche Artikulation von Glaubensbezeugungen im staatlichen Raum zulassen, dann
muss das für alle Religionsgemeinschaften und religiösen Überzeugungen in gleicher Weise gelten.
({6})
Wenn wir zu Recht kritisieren, dass in der Türkei die
christliche Religion nicht gleichgestellt ist, dann müssen
wir darauf hinweisen, dass auch wir ein Stück Weges vor
uns haben, um den Islam mit dem Christentum und dem
Judentum gleichzustellen.
Ich wollte noch eine ganze Reihe von Themen ansprechen, aber ich sehe, dass mich der Präsident wegen
meiner Redezeit ermahnt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({7})
Ich erteile nun dem Kollegen Christoph Strässer für
die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der
größten deutschen Denker, dessen Geburtstag wir kürzlich gefeiert haben, Immanuel Kant, hat in seiner
„Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Folgendes
formuliert:
Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst, nicht
bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.
Ich glaube, dieser Gedanke der europäischen und deutschen Aufklärung ist nach wie vor Leitlinie und muss
Leitlinie des Handelns der Politik in diesen Tagen sein,
insbesondere weil auf diesen Werten die Werte der Europäischen Union und ihrer weiteren Vereinigungen gelten.
Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland im Zuge
der EU-Ratspräsidentschaft die Chance und die Pflicht,
alles dafür zu tun, den Menschenrechten weltweit mehr
Nachdruck zu verleihen; denn auch dies gehört in das
Bewusstsein der Menschen in unserem Land: Brüssel,
die EU, hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Brüssel, die
Europäische Union, beruht auf den Grundsätzen der
Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit.
Ich glaube, dies in das Bewusstsein der Bürgerinnen und
Bürger in der Europäischen Union zu rufen, ist aller Ehren und aller Auseinandersetzungen wert.
({0})
Gerade vor diesem Hintergrund bedauern wir es sehr,
dass der Verfassungsprozess ins Stocken geraten ist, insbesondere nachdem sich der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit für die Verfassung ausgesprochen
hat und weil die Übernahme der Charta der Grundrechte
der EU in den Verfassungsvertrag aus menschenrechtlicher Sicht eine deutliche Stärkung des Menschenrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union bedeutet
hätte. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass die Bundesregierung gestern offensichtlich bei der Festlegung ihres
Programms für die Präsidentschaft klar gemacht hat,
dass sie wesentliche Impulse zur Wiederbelebung des
Verfassungsprozesses setzen wird. Ich glaube, das ist ein
guter Schritt für die Zukunft der Europäischen Union.
({1})
Wenn wir im Deutschen Bundestag über Menschenrechte diskutieren, dann ist ein Thema - das muss es
auch sein - die Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Terrorismus ist ganz ohne jeden
Zweifel eine der großen Bedrohungen für die menschliche Entwicklung. Gerade in unseren hoch vernetzten
Gesellschaften ist aber auch klar: Einen absoluten
Schutz vor terroristischen Anschlägen kann und wird es
nicht geben. Deshalb gilt für uns auch heute noch, nach
250 Jahren, die Einschätzung von Benjamin Franklin:
„Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird
beides verlieren.“ Auch der Deutsche Bundestag hat immer wieder bekräftigt: Terrorismusbekämpfung kann nur
dann erfolgreich sein, wenn sie von der Wahrung der
Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit geprägt ist.
Von großer Bedeutung für alle europäischen Staaten
- nicht nur für die Mitgliedsländer der EU - sind die Anerkennung und insbesondere die Implementierung der
Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir haben
im Deutschen Bundestag mehrfach deutlich gemacht
- ich tue es an dieser Stelle erneut -: Die Entführung, die
Folterung, auch die illegale Verbringung von Menschen
an geheime Orte innerhalb Europas oder mit Wissen
oder unter Mitwirkung von Mitgliedstaaten der EU außerhalb unseres Kontinents verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ist deshalb von uns
nicht hinzunehmen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle einige Sätze als Mitglied
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sagen. Der Europarat ist mit seinen mittlerweile 46 Mitgliedstaaten Hüter der Menschenrechte in und für ganz
Europa, und dies mit einem Jahresbudget - Herr Kollege
Leutert, ich möchte das jetzt nicht mit Afghanistan vergleichen, sondern mit einem für viele von uns viel näher
liegenden Beispiel -, mit dem man in Deutschland oder
in den Niederlanden - Herr Präsident van der Linden hat
uns gestern darauf aufmerksam gemacht - vielleicht
30 oder 40 Kilometer Autobahn bauen könnte. Das
zeigt, dass die Arbeit des Europarates zum Schutz der
Menschenrechte nicht allzu viel Unterstützung erfährt.
Ich meine, das ist verbesserungswürdig, auch während
der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands.
({3})
Eine bedeutsame Institution ist nach wie vor der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg. Nach meiner Überzeugung ist er der wichtigste Bestandteil des europäischen Menschenrechtsschutzsystems. Aber der Erfolg hat auch seinen Preis.
Wenn man so will: 80 000 anhängige Verfahren sind
nicht nur ein Beleg für eine beispiellose Erfolgsbilanz,
sondern gleichzeitig auch eine enorme Belastung. Es
wäre ein verdienstvoller Beitrag der Bundesregierung
während ihrer Ratspräsidentschaft, die materiellen und
die finanziellen Voraussetzungen für eine Verbesserung
der Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutlich anzuheben.
({4})
Das ist ebenfalls eine wesentliche Aufgabe.
Auch jenseits des Verfassungsprozesses ist der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention politisch erstrebenswert - ich
begrüße außerordentlich, dass sich der Bundesaußenminister dazu klar geäußert hat -, damit das Handeln der
EU als solches, das viele Bürgerinnen und Bürger nicht
als Fortschritt empfinden, dem Menschenrechtsschutzsystem des Europarates zuzuordnen ist. Mit diesem Ziel
sollten wir uns ebenfalls auseinander setzen.
({5})
Auch ich möchte gern in aller Kürze etwas zur geplanten EU-Agentur für Grundrechte sagen. Eine solche zusätzliche Institution im Menschenrechtsschutzsystem macht nach meiner Überzeugung nur dann Sinn,
wenn mit ihr ein Mehrwert für den Menschenrechtsschutz in Europa erreichbar ist und wenn mit ihr eben
keine überflüssige Konkurrenz zu existierenden und funktionierenden Institutionen des Europarates entsteht. Die
im Vergleich zur bereits dargestellten Ausstattung aller Institutionen des Europarates üppige finanzielle und personelle Besetzung stimmt zumindest nachdenklich.
Ich plädiere an dieser Stelle nochmals für eine sorgfältige Beratung im Europäischen Rat. Ich appelliere
auch in diesem Sinne an die Bundesregierung, dafür einzutreten, dass es hier nicht zu einer Doppelung und damit zu einer Einschränkung der Wirksamkeit des Menschenrechtsschutzes kommt.
({6})
Nur dann macht die EU-Agentur für Grundrechte auch
einen Sinn.
({7})
Ich möchte zum Schluss - mit einer gewissen Emotionalität, die sich dabei einstellt - zu einem Thema Stellung nehmen, das der Kollege Beck angesprochen hat:
die Situation in Darfur. Für mich diskutieren wir hier
nicht über einen Einsatz der Bundeswehr. Herr Kollege
Beck, ich teile an dieser Stelle Ihre Auffassung nicht,
dass es gut und richtig ist, sich vorab festzulegen und
Dinge festzuzurren, die man anschließend begründen
muss.
Auf dem Spiel steht in der Tat die Glaubwürdigkeit
aller internationalen Institutionen, die sich auf eine international wirksame Resolution der Vereinten Nationen
beziehen müssen: Die Resolution 1706 muss durchgesetzt werden; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.
Ansonsten wird nämlich das komplette Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen infrage gestellt.
Das dürfen wir nicht hinnehmen. Lieber Herr Außenminister, setzen Sie sich mit aller Kraft und unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, die der internationalen
Staatengemeinschaft zur Verfügung stehen, dafür ein,
dass das Morden, das Plündern und das Vertreiben in
Darfur aufhören! Das sind wir den Menschen dort schuldig.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Markus Löning für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Steinmeier, Sie haben
in Ihrer Rede die EU-Agentur für Grundrechte erwähnt und gesagt, Sie wollten den Bedenken des Deutschen Bundestages Rechnung tragen. Tun Sie das! Wenn
Sie das tun, dann müssen Sie die Schaffung dieser Agentur stoppen.
({0})
Die Debatten in diesem Saal und in den Ausschüssen
sind eindeutig gewesen; Entsprechendes haben Sie gerade aus Ihrer eigenen Fraktion gehört. Das ist die Meinung dieses Hauses. Wir alle gemeinsam haben Ihnen
damals einen Brief geschrieben, in dem wir das sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht haben.
Selbst wenn man Absprachen getroffen hat nach dem
Motto „Du bekommst dieses und du bekommst jenes;
die Österreicher bekommen jetzt eine Grundrechteagentur“, muss gelten - ich denke, dass das auch auf europäischer Ebene wichtig ist -: Wenn man zu der Überzeugung gekommen ist, dass ein Beschluss überholt ist - es
spricht alles gegen die Grundrechteagentur! -, dann
muss man den Mut haben, auch auf europäischer Ebene
solche Beschlüsse zu kassieren und eben nicht zu sagen:
Nur weil wir einen Deal haben, schaffen wir eine sinnlose weitere Verwaltung. - Die Grundrechteagentur
muss gestoppt werden.
({1})
Von den vielen guten Gründen, die es gibt, die Grundrechteagentur zu stoppen, möchte ich zwei besonders
ausführen:
Der eine Grund ist folgender: Der ursprüngliche Beschluss beruhte auf der Annahme, dass die Grundrechtecharta mit der Verfassung in Kraft tritt. Wie wir
nun wissen, tritt die Verfassung zurzeit leider nicht in
Kraft - wir als Liberale würden uns das sehr wünschen -,
aber damit entfällt auch die Grundlage für die Arbeit der
Grundrechteagentur. Es gibt keine rechtsverbindliche
Grundrechtecharta in Europa und damit bedarf es auch
keiner Verwaltung, die sich um die Umsetzung und um
die Einhaltung dieser Grundrechtecharta kümmert.
Der andere Grund ist schon genannt worden - es ist
schade, dass der Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung nicht mehr hier ist -: Der Europarat leistet
herausragende Arbeit im Bereich des Menschenrechtsschutzes.
({2})
Der Europarat bedarf all unserer Unterstützung, was
diese Frage angeht.
Unser Antrag zielt darauf ab, dass eben nicht sinnlos
100 Stellen in einer Grundrechteagentur geschaffen werden und sinnlos 30 Millionen Euro für diese Agentur
ausgegeben werden. Sie machen es im Übrigen noch
schlimmer dadurch, dass Sie den Wirkungskreis eingrenzen. Wenn die Agentur nur noch innerhalb der EU irgendetwas beobachten soll, wird es ja nicht besser, sondern
noch sinnloser. Wir brauchen das Geld und die Stellen
für die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit im
Europarat. Das würde Sinn machen. Das wäre ein klares
Zeichen für die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit.
({3})
Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch etwas anführen, was ich skandalös finde. Das richtet sich insbesondere an die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch an
Sie, Herr Beck. Hier hätten wir als Deutscher Bundestag
die Chance gehabt, der Bundesregierung ein klares
Mandat für die Verhandlungen mitzugeben. Wir als
FDP haben gesagt: Lassen Sie uns über das Thema
Grundrechteagentur heute hier abstimmen! Es wird in
wenigen Tagen im Rat abschließend behandelt. - Aber
bei der Koalition herrscht ganz offensichtlich Feigheit
vor der eigenen Courage. Dieser Antrag soll in die Ausschüsse verwiesen werden. Damit äußert sich der Bundestag nicht, bevor die Regierung handelt, und beraubt
sich damit seiner Handlungsfähigkeit.
({4})
Wir brauchen nicht monatelang auszuhandeln, wie zu erreichen ist, dass der Deutsche Bundestag in EU-Dingen
mehr zu sagen hat, wenn Sie sich die Möglichkeiten
selbst so beschneiden, meine Damen und Herren. Was
Sie hier machen, halten wir für einen Skandal. Es ist eine
Beschneidung der Rechte des Parlaments und ein Verzicht auf die Nutzung eigener Möglichkeiten.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Alois Karl, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit den heutigen Anträgen behandeln wir Themen, die weit über die Tagespolitik hinausAlois Karl
gehen. Es ist gut, dass wir im Vorfeld der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft die Menschenrechte hier im
Bundestag behandeln.
2007 begehen wir auch das 50-jährige Bestehen der
Römischen Verträge. Die europäische Einigung hat
50 Jahre lang einen dynamischen Prozess erlebt. Zunächst standen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund.
Mittlerweile hat auch die Menschenrechtspolitik den
gleichen Rang erzielt. Die europäische Einigung hat uns
unendlich viel gebracht: wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Sicherheit, die Freiheit von äußeren Feinden, die
deutsche Einheit.
Wenn wir im nächsten Halbjahr die Menschenrechte
in den Fokus nehmen, ist das richtig, weil sie in vielfältiger Weise gefährdet sind. Frau Steinbach hat darüber gesprochen, dass der Aspekt der Christenverfolgung vernachlässigt wird und die Religionsfreiheit geradezu mit
Füßen getreten wird. Dass wir heute von der größten
Christenverfolgung aller Zeiten sprechen, davon, dass
200 Millionen Christen in 50 Ländern verfolgt werden,
ist ein Faktum, das uns nicht ruhen lassen kann.
({0})
Auch die Situation in der Türkei, auch die Situation in
Afghanistan mit dem erwähnten Abdul Rahman zeigen,
dass Religionsfreiheit dort oft nur auf dem Papier steht.
Sie steht oft unter dem Vorbehalt der Scharia, ist also lediglich zweitrangig.
Mit dem Nachrang der Menschenrechte dürfen wir
uns allerdings nicht zufrieden geben. Menschenrechte
sind unteilbar. Sie gehören zu den unveräußerlichen
Rechten des Menschen. Der Staat gewährt sie ihnen weder, noch nimmt der Staat Menschenrechte weg.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wissen,
Menschenrechte werden häufig verletzt, werden häufig
ignoriert. Gerade in militärischen Einsätzen ist das so.
Junge Soldaten geraten oft in für sie unbekannte Grenzsituationen. Hierauf müssen sie vorbereitet sein. Wir
wünschen ausdrücklich, dass junge Soldaten einem Ausbildungsprogramm unterzogen werden, in dem ihnen
auch Verhaltensweisen und Verhaltensregeln antrainiert
werden, die den Menschenrechten gerecht werden. Wir
möchten auch, dass in künftige EU-Militärmissionen
Menschenrechtsbeobachter integriert werden.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte sich zu
den Leitlinien der Menschenrechte bekennen, was Kinder in bewaffneten Konflikten und was Todesstrafe und
Folter betrifft. Die Existenz von ganzen Armeen aus
Kindersoldaten ist ein unerträglicher Zustand, eine Beleidigung ihrer menschlichen Würde.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist für uns unerträglich,
dass offensichtlich auch in europäischen Staaten über die
Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird. Auch
über die Lockerung des Folterverbotes im Antiterrorkampf wird nachgedacht. Dem sollten wir als Deutscher
Bundestag, meine sehr geehrten Damen und Herren, entschieden entgegentreten.
({2})
Wir bestärken die Bundesregierung ausdrücklich in
dem Bemühen, während der Ratspräsidentschaft den
Menschenrechtsdialog mit dem Iran und China fortzuführen oder wieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang verdient der Besuch von Bundeskanzlerin
Merkel bei Bischof Aloysius Jin in Schanghai unseren
ausdrücklichen Respekt. Sie hat damit zum Ausdruck
gebracht, dass wir die Arbeit dieses unerschrockenen
Kämpfers für die Religionsfreiheit unter schwierigsten
Bedingungen in besonderer Weise würdigen.
({3})
Wir wünschen auch, dass die Konsultationen mit
Russland wieder aufgenommen werden. Der russische
Präsident hat es in Tschetschenien selbst in der Hand,
unter Beweis zu stellen, dass er gewillt ist, internationale
Verträge mit ihren Menschenrechtsbindungen einzuhalten.
Unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes finden
weltweit schwerste Menschenrechtsverletzungen statt.
Politisch missliebige Gegner, Angehörige ethnischer und
religiöser Minderheiten werden oft unter dem Vorwand
des Antiterrorkampfes verfolgt. Abu Ghuraib und Guantanamo sind nur wenige Spitzen eines Eisberges, wo unter Missachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Gesichtspunkte Menschenrechte negiert und mit
Füßen getreten werden.
Wir danken der Bundeskanzlerin ausdrücklich, dass
sie das Thema Guantanamo bei ihrem Besuch in den
USA so offen angesprochen hat.
({4})
Neben der Feigheit vor dem Feinde, meine sehr geehrten
Damen und Herren, gibt es immer noch auch die Tapferkeit vor dem Freund. Dies hat Angela Merkel gerade gezeigt.
({5})
Wir ermuntern die Bundesregierung während ihrer
Ratspräsidentschaft auch zur Zusammenarbeit mit
Afrika. Wir freuen uns, dass ein EU-Afrika-Gipfel unter
deutschem Vorsitz stattfinden soll. Wir alle kennen die
ungeheuerlichen Probleme in Afrika. Die existenzielle
Not von Millionen Afrikanern korrespondiert mit dem
Entzug fundamentaler Menschenrechte.
Auch der Beitritt von Rumänien und Bulgarien bringt
neue Aufgaben. In der EU leben 10 Millionen Sinti und
Roma. Förderprogramme alleine lösen die Probleme
nicht. Es geht um die Integration in ihren eigenen Heimatländern.
Unerträglich ist auch der Zustand einer großen Zahl
von Flüchtlingen, die auf den Kanarischen Inseln oder
bei Lampedusa ankommen. Sehr geehrter Herr Außenminister, wir bitten die Bundesregierung ausdrücklich,
alles zu unternehmen, um diese Migrationsströme einzudämmen, um kriminellen Menschenhändlerbanden
das Handwerk zu legen. Sie nehmen den Ärmsten alles
und gaukeln ihnen lediglich die Illusion vor, Europa
wäre ein mit offenen Armen aufnahmebereiter Kontinent. Gewiss sind Maßnahmen des Grenzschutzes, verstärkt auch durch FRONTEX, richtig. Repressive Maßnahmen lösen das Problem allerdings nicht. Es müssen
auch die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern
der Flüchtlinge grundlegend verbessert werden.
({6})
In diesem Zusammenhang lobe ich auch den Einsatz
der Bundeswehr im Kongo. Ein großer Bürgerkrieg dort
hätte zu einem großen Exodus geführt. Die Folge wäre
ein Flüchtlingsstrom auch nach Europa gewesen.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht auf dem
Feld der Menschenrechtspolitik vor vielen und großen
Aufgaben. Vieles wäre zu sagen, doch kann nicht alles
angesprochen werden. Menschenrechtspolitik ist eine
Querschnittsaufgabe, eine Aufgabe von besonderer
Tragweite. Ob wir unsere deutsche Ratspräsidentschaft
erfolgreich gestaltet haben werden oder nicht, das wird
sich auch an den Fortschritten in der Menschenrechtspolitik erweisen. Wir wünschen der Bundesregierung
und der Bundeskanzlerin für ihre Arbeit auf diesem
schwierigen Feld alles Gute, viel Glück, Fortune und
Gottes Segen.
Ich danke Ihnen herzlich.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin,
Fraktion Die Linke.
Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Die Regierungsparteien fordern in einem
der vorliegenden Anträge die Solidarität mit verfolgten
Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten. Wer in diesem Haus sollte etwas dagegen haben?
Aber es ist schon erstaunlich, mit welcher Unverblümtheit die Koalition bei ihrem Bekenntnis zur Religionsfreiheit zweierlei Maß anlegt.
({0})
In ihrem Antrag wird die Verfolgung aller anderen Religionsgemeinschaften systematisch unter „ferner liefen“
behandelt.
({1})
Nehmen wir Indien, wo der Wechsel zum Christentum in einigen Provinzen von Repressalien begleitet
wird. Dieses Phänomen ist Begleitumstand hindu-nationalistischer Aktivitäten, die sich in der Masse auch und
gerade gegen Moslems richten. Warum verschweigen
Sie, dass in den 90er-Jahren ein Großteil der moslemischen Bevölkerung Bombays aus Angst vor mörderischen Übergriffen fliehen musste?
Für China gilt dasselbe: Zu Recht wird ausführlich
die Verfolgung der Kirche kritisiert. Doch die brutale
Verfolgung der Gemeinschaft der Falun Gong, die die
Hauptlast der Repression zu ertragen hat, ist Ihnen nicht
mehr als einen Satz wert.
Man kann die Verfolgung von Christen nur dann
glaubwürdig anprangern, wenn man im eigenen Land
die anderen Religionen auch respektiert.
({2})
Aber da hapert es bei der Union bekanntermaßen.
({3})
So brüstete sich im Berliner Wahlkampf die Neuköllner
Baustadträtin der CDU offen, mit dem Baurecht die Errichtung einer Moschee im Stadtteil blockiert zu haben.
({4})
Spitzenkandidat Friedbert Pflüger unterstützte die Kampagne gegen den Bau einer Moschee im Bezirk Pankow,
({5})
eine Kampagne, die bequem von den Nazis gekapert
werden konnte. Am 1. April mussten wir dann mit ansehen, wie der örtliche CDU-Schatzmeister Lasinski Seit
an Seit mit der NPD marschierte.
Die Kehrseite der Medaille ist die mangelnde Bereitschaft, Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren. Die
Koalitionsparteien prangern wohl die Verfolgung von
Christen in Pakistan an. Doch in Nordrhein-Westfalen
verweigert das Land dem pakistanischen Christen Aziz
Mirza politisches Asyl. Bekanntermaßen regiert dort die
CDU. Die Innenbehörden erkennen ihn schlichtweg
nicht als verfolgten Christen an.
In ihrem Antrag ziehen die Regierungsparteien den so
genannten Weltverfolgungsindex heran, um die Verfolgung von Christen in Nordkorea zu geißeln. Doch auf
eine Kleine Anfrage der Linken antwortete die Bundesregierung, dass genau dieser Weltverfolgungsindex - ich
zitiere im Asylverfahren beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge … keine praktische Relevanz
hat. Ich weiß nicht, wie Sie das nennen. Ich nenne es
Heuchelei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union.
({6})
Es ist schon erstaunlich, dass Sie mit dem vorliegenden Antrag hinter die Initiative des eigenen Innenministers zurückfallen. Herr Schäuble hat endlich den Dialog
mit den Vertretern des Islam in Deutschland im Rahmen einer gemeinsamen Konferenz begonnen. Anstatt
diese Initiative zu fördern und zu begrüßen, fällt den Antragstellern dazu nichts weiter ein, als - ich zitiere Hüseyin-Kenan Aydin
den interkulturellen Dialog mit dem Islam … zu
nutzen, um auch auf die Situation von Christen in
Staaten mit muslimischer Mehrheit hinzuweisen.
Mehr ist zu dem Thema nicht zu lesen.
({7})
Ich frage Sie: Reduziert sich ein Dialog auf das Erheben
des eigenen Zeigefingers? Haben Sie den Moslems in
Deutschland nicht mehr zu sagen?
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein weiteres Thema ansprechen, das den Antragstellern offenbar
nicht der Rede wert war. Im Juli 1993 haben islamistische Fanatiker im türkischen Sivas ein gegen Aleviten
gerichtetes Pogrom organisiert. 37 Menschen kamen dabei grausam ums Leben. Nach Kenntnis der Bundesregierung halten sich von den 76 in der Türkei verurteilten
Attentätern elf in Deutschland auf, zum Teil als anerkannte Flüchtlinge. Bemühungen zu deren Ergreifung
sind nicht zu erkennen, obgleich Auslieferungsbegehren
vorliegen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Glaubensfreiheit heißt, sich weltweit für die verfolgten religiösen Minderheiten einzusetzen. Sie beginnt
vor der eigenen Haustür.
({0})
Religionsfreiheit ist immer auch die Freiheit des Andersgläubigen, auch in der Türkei, meine Damen und Herren.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel, SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In jeder freien und
friedlichen Gesellschaft ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit eines der wichtigsten Menschenrechte.
Religion gestaltet und bestimmt das Leben von Menschen; sie gibt Sinn, Freiheit, Entlastung, Erklärungen,
Geborgenheit und schafft auch Kunst und Kultur. Und,
meine Damen und Herren, Religion engt ein, macht
Angst, fördert Hass und Gewalt, kann den Tod bedeuten
und führt zu Kriegen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt die Entwicklungen,
die durch Religionen möglich waren und möglich sind,
zeigt aber auch, wie viele Kriege im Namen von Religionen oder eines Gottes geführt worden sind und hin und
wieder noch geführt werden. Wir in Deutschland berufen
uns oft auf das Erbe des christlichen Abendlandes.
Durch den Blick in die Geschichte wird aber sehr schnell
deutlich, dass auch das christliche Abendland davon
nicht ausgenommen ist, dass auch im Namen des christlichen Gottes Kriege geführt und Menschen gefoltert
und getötet worden sind.
({0})
Die Welt hat gelernt und Konsequenzen gezogen. Das
wird deutlich in den verschiedensten Erklärungen zu den
Menschenrechten, in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte sowie im Zivilpakt und in vielen anderen internationalen Vereinbarungen, die auch Deutschland angenommen, ratifiziert und gezeichnet hat. Dennoch werden immer noch Einzelne und Gruppen wegen
ihrer Religion benachteiligt, diskriminiert, verfolgt und
ermordet. Noch immer gibt es kriegerische Auseinandersetzungen, die im Namen eines Gottes angedroht oder
geführt werden. Wir haben hier heute schon verschiedene Beispiele gehört.
Das Hauptproblem dabei ist immer wieder, dass die
Religion zur Ausübung von geistiger, politischer und
ökonomischer Macht missbraucht wird. An Brisanz gewinnt das, wenn im Kampf um Ressourcen und politischen Einfluss jegliche Sachargumente an Bedeutung
verlieren. Oft wird das religiös verbrämt. Konflikte um
Interessen wandeln sich dann um in Auseinandersetzungen um Werte, Traditionen und Glaubensfragen. Damit bekommen politische Prozesse oft einen religiösen
Anstrich. Eine friedliche Konfliktlösung wird dadurch
erheblich erschwert. Denn das Thema Religion wird
- im Gegensatz zu klar formulierten sozialen und wirtschaftlichen Forderungen - kaum zum Gegenstand von
Verhandlungen gemacht.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel aus Nigeria
deutlich machen, das schon die Medien beschäftigt hat
und das vielleicht manche von Ihnen kennen. Im Süden
des Landes leben vor allem Christen, deren Einkommensquelle der Ackerbau ist. Die Muslime im Land leben vor allem von Handel und Viehzucht; ihnen geht es
wesentlich besser als den Christen.
Die Auseinandersetzungen zwischen Christen und
Muslimen haben zugenommen, weil sich die Lebensverhältnisse der Ackerbauern, die Christen sind, wesentlich
verschlechtert haben. Zum einen war dies die Folge von
Wassermangel und zum anderen die Folge von Übernutzung der Böden. Hinzu kam, dass die Konsumgüter, die
meist von den Muslimen angeboten werden, sehr viel
teurer wurden. Außerdem sind sehr viele nigerianische
Muslime aus dem wirtschaftlich schwachen Norden in
das Zentrum bzw. in den Süden des Landes gezogen.
Der Staat war nicht in der Lage, diese Konflikte zu regeln oder Perspektiven für eine gerechtere Zukunft zu
schaffen. Stattdessen streuten Politiker Gerüchte, dass
die jeweils andere Religionsgruppe an den Verhältnissen
schuld sei und dass sie politisch und ökonomisch dominieren wolle. Diese Politiker haben die Menschen ihrer
Religionsgruppe dazu aufgerufen, sich eindeutig hinter
sie zu stellen. Die Abgrenzung zwischen Muslimen und
Christen hat damit deutlich zugenommen.
In Yelwa, einer Kleinstadt, ist es schließlich zum Ausbruch von Gewalt gekommen, als sich eine Jugendgruppe durch die Missachtung eines religiösen Festes
durch andere Jugendliche provoziert fühlte. Sie wissen
vielleicht alle, dass es in der Folge zu heftigen Auseinandersetzungen kam, einmal ausgehend von den
Christen und einmal ausgehend von den Muslimen. Fast
1 000 Frauen und Männer verloren dabei ihr Leben. Geschäfte und Privathäuser, Kirchen und Moscheen sind
niedergebrannt worden. Viele Familien sind aus Angst
vor Verfolgung in andere Landesteile geflohen.
An diesem Beispiel aus Nigeria zeigt sich sehr deutlich, wie ökonomische Probleme in einen religiösen
Kontext gestellt werden und welche menschenverachtenden Folgen das haben kann.
Gleichzeitig ist es aber auch ein Beispiel für eine gelungene Versöhnung. Geistliche beider Religionen haben die Bevölkerungsgruppen zu einem Gespräch über
das Geschehene bewegt und so ein Minimum an gegenseitigem Vertrauen hergestellt. Gemeinsam wurden die
ökonomischen, politischen und sozialen Probleme betrachtet und vor allem die Mitverantwortung des
Staates benannt.
Dann kam es zu einer öffentlichen Erklärung, die das
friedliche Zusammenleben der Bevölkerung sichern soll.
Christen und Muslime verpflichteten sich dazu, alle religiösen Stätten zu schützen und die Mitglieder anderer
Religionsgruppen nicht zu diffamieren. Der nigerianische Staat wurde aufgefordert, die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, die Zahl der Analphabeten zu
senken, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern
und der Jugend eine Zukunftsperspektive zu geben.
Ich denke, dieses Beispiel macht sehr deutlich, wozu
Religion auf der einen Seite missbraucht werden kann
und wozu Religion auf der anderen Seite im besten
Sinne dienen kann. Das heißt für mich, dass Religionsfreiheit unbedingt einen Dialog voraussetzt und dass er
da, wo er nicht vorhanden ist, gefordert und gefördert
werden muss. Sich daran zu beteiligen sind alle - Regierungen und Parlamente, Kirchen und andere Organisationen - aufgefordert.
({1})
Ich möchte noch auf ein ganz aktuelles Beispiel hinweisen: Der Besuch des Papstes in der Türkei macht
ebenfalls sehr deutlich, dass Dialog und Respekt voreinander dazu führen können, anders miteinander umzugehen.
Mir ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht
nur deshalb am wichtigsten, weil ich evangelische Theologin und Pfarrerin bin, sondern auch, weil es ausgesprochen notwendig - eben Not wendend - ist, bei allen
Konflikten immer wieder darauf zu achten, dass Religion nicht als Rechtfertigung von Gewalt missbraucht
und als Deckmantel für andere Konflikte benutzt wird.
Dazu gehört, dass jegliche Gewalt, die von Religion ausgeht - sei es psychische, sei es physische Gewalt -, geächtet werden muss.
({2})
Das bedeutet dann für jeden Einzelnen und jede Einzelne, immer und überall für Religionsfreiheit einzutreten, auch wenn er oder sie keiner Religion angehören
sollte.
Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion, die wir im
Menschenrechtsausschuss zu den vorliegenden Anträgen
führen werden.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenrechtsdebatte im Deutschen Bundestag
nach dem Motto „same procedure as every year“? Nein,
heute ist etwas anders: Wir diskutieren erstens in der
Kernzeit und zweitens war der Bundesaußenminister
- das habe zumindest ich während meiner vierjährigen
Parlamentszugehörigkeit noch nicht erlebt - nicht nur
zeitweilig anwesend, sondern hat auch gesprochen. Das
ist ein gutes Zeichen für den Stellenwert der Menschenrechte nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch
in der Bundesregierung. Dafür herzlichen Dank!
({0})
Wir beschäftigen uns mit einem großen Reigen an
Themen. Das hat den Kollegen Toncar dazu geführt, davon zu sprechen, dass die Bundesregierung Menschenrechtspolitik sozusagen wie in einem „Gemüsegarten“
betreibe. Zu den Anträgen der FDP in den letzten Jahren
muss ich allerdings sagen: Ich kann da keine besonders
deutliche Konsistenz - Sie kritisieren ja, dass sie bei uns
fehle - erkennen.
Man sollte sich die Anträge, die Sie stellen, einmal
ein bisschen genauer anschauen. Da geht es zum einen
um die mandatsgebundene Begleitung der UN-Missionen durch Menschenrechtsbeobachter. Das ist ein Antrag - das wissen Sie genau -, den Sie schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben; dies ist eine bei
der FDP inzwischen üblich gewordene Form des Antragsrecyclings.
({1})
Bedauerlicherweise haben Sie aber Ihre Ursprungsversion eingebracht und nicht die, auf die wir uns schon interfraktionell geeinigt haben. Wenn Ihnen dieses Thema
so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie doch unseren
gemeinsamen Antrag einbringen können und dann hätten wir vielleicht anders über dieses Thema gesprochen.
({2})
Insofern glaube ich, dass wir an dieser Stelle den Beratungen und der Abstimmung darüber relativ ruhig entgegensehen können.
Im Übrigen will ich darauf hinweisen - denn dies ist
ein guter Zeitpunkt -, dass Deutschland an dieser Stelle
sehr viel tut. Deutschland hat mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze ein ganz hervorragendes Ausbildungszentrum und mit Botschafter Däuble jemanden,
der sich im Auswärtigen Amt explizit mit Krisenprävention und ähnlichen Dingen beschäftigt. Auch das gehört
an dieser Stelle einmal ganz deutlich gesagt.
({3})
Zur Grundrechteagentur ist heute schon viel gesagt
worden; ich will nur wenige Bemerkungen dazu machen. Kollege Löning, natürlich ist es so, dass wir uns
insgesamt im Deutschen Bundestag sehr kritisch mit dieser Angelegenheit auseinander gesetzt haben. Ich finde,
das sollten wir nicht kleinreden. Ohne uns hätte es in
Deutschland keine öffentliche Debatte über dieses
Thema gegeben.
({4})
Es ist doch auch nicht so, dass wir in dieser ganzen Angelegenheit nichts erreicht hätten. Eine Debatte über das
Mandat, das diese Agentur haben soll, und über das Personalvolumen ist doch zustande gekommen. Da kann
man jetzt nicht sagen: Wenn man seine Ziele nicht erreichen kann, dann muss man die ganze Angelegenheit aufblasen.
Im Übrigen, Herr Kollege Leutert, 30 Millionen Euro
sind, gemessen an anderen Ausgaben, tatsächlich nicht
viel Geld. Aber auch da besteht für mich die Frage: Wofür gibt man 30 Millionen Euro aus und wo lässt man
dies? Ich glaube, dass das Geld für den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte wesentlich besser angelegt wäre als für diese Agentur.
({5})
Ich möchte ein paar Worte zum Thema Religionsfreiheit sagen. Herr Kollege Aydin, ich bin es wirklich langsam leid, andauernd diese Pauschalverurteilungen gegenüber der CDU/CSU zu hören. Ich will Ihnen dazu ein
ganz konkretes Beispiel nennen: In meinem Wahlkreis
steht die kleinste Moschee in Europa. Sie hat vor zwei
Jahren gebrannt, weil Idioten diese Moschee angezündet
haben. Die beiden einzigen Personen, die sich in der Öffentlichkeit zu diesem Thema geäußert haben, waren der
christdemokratische Bürgermeister von Usingen und der
christdemokratische Bundestagsabgeordnete Holger
Haibach. Von Ihrer Fraktion habe ich zu diesem Thema
nichts gehört.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich auf, uns
kollektiv in die Ecke von Intoleranz und religiöser Unfreiheit zu stellen! Wir wissen ganz genau, dass Toleranz vor Ort beginnt. Aber zur Toleranz gehört eben
auch, dass wir, wenn unsere Glaubensbrüder - ich spreche jetzt einmal als Christ - in der Welt verfolgt werden,
dies deutlich benennen. Auch diese Sprachlosigkeit, die
ich da manchmal erlebe, muss aufhören.
({7})
Deswegen bin ich auch ausgesprochen dankbar dafür,
dass nicht nur wir als Koalition, sondern auch die Grünen einen Antrag zum Thema Religionsfreiheit eingebracht haben. Ihn halte ich an vielen Punkten durchaus
für sehr beachtlich. Umso weniger, Herr Kollege Beck,
kann ich dann verstehen, was Sie heute zum Thema
„Gotteslästerung als Straftat“ in der „Berliner Zeitung“
geäußert haben. Ich zitiere:
Ich persönlich finde, der Paragraf gehört auf den
Misthaufen der Rechtsgeschichte.
({8})
Wir können doch nicht ernsthaft religiöse Intoleranz
durch Rechtlosigkeit und Gesetzlosigkeit bekämpfen.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass man an dieser Stelle
sagt: Der Paragraf muss abgeschafft werden.
({9})
Abgesehen davon finde ich: Im Zusammenhang mit Gotteslästerung mit dem Begriff „Misthaufen“ zu operieren
ist eine Unverschämtheit mit Blick auf die deutsche
Rechtsgeschichte.
({10})
Wenn wir darüber reden, wie wir uns in unserem
Land und international verhalten sollen, dann ist natürlich die Frage „Wie engagiert sich Deutschland in der
Welt?“ wichtig. Das Thema Darfur hat gestern im Ausschuss und heute während der Diskussion eine Rolle gespielt. Herr Kollege Beck, ich plädiere immer sehr dafür
- Sie sind ja Jurist; daher wissen Sie, was das heißt -,
dass wir zwar - ({11})
- Er ist kein Jurist? Gut, Entschuldigung.
Sie wissen wahrscheinlich trotzdem, was es heißt,
wenn ich sage: Wir müssen zwar in brennender Sorge
und mit heißem Herzen, aber sine ira et studio handeln.
Deshalb ist die Frage, wie wir uns in Darfur engagieren,
zweitrangig. Die erste Frage ist vielmehr: Was wollen
wir erreichen? Da sind wir uns doch einig: Wir wollen
Frieden in diesem Land und wir wollen, dass das Morden an den Menschen dort aufhört.
({12})
Folgendes will ich zum Schluss auch noch sagen: Es
macht mich schon besorgt, wenn der Generalsekretär der
Vereinten Nationen, Kofi Annan, heute sagt: Der Sicherheitsrat ist in der Lage, sich zu diesem Thema zu
äußern. - Der Menschenrechtsrat, der ja gebildet worden
ist, damit er sich zu solchen Themen äußert, ist nicht in
der Lage, eine Resolution dazu vorzulegen. Ich finde das
ausgesprochen bedenklich. Ich finde es ausgesprochen
schädlich mit Blick auf die gesamte Situation, dass der
Menschenrechtsrat, der die Vereinten Nationen in diesen
Fragen eigentlich antreiben sollte, das Hindernis dafür
ist, dass es eine klare Meinungsäußerung zu diesem
Thema gibt.
({13})
Wenn die deutsche Politik die Chance hat, etwas zu ändern, dann ist es doch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und während der deutschen G-8-Präsidentschaft. Dann können wir entscheidende Schritte in
diesen Dingen tun. Ich bin dem Außenminister dankbar
dafür, dass er erwähnt hat, dass die Blockade im Menschenrechtsrat aufhören soll und dass der Menschenrechtsrat wieder der Hort des Schutzes der Menschenrechte innerhalb der Vereinten Nationen wird.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3607, 16/3608, 16/3145, 16/3621,
16/3617, 16/3613 und 16/3614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 h: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/2733 zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für die
mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/226
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD bei Enthaltung der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Nein zur Rente ab 67
- Drucksache 16/2747 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
({0})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Rente mit 67“ bedeutet im Wesentlichen: Rentenkürzung für Ältere, zusätzliche Arbeitslosigkeit für Jüngere und den untauglichen Versuch, soziale Härten zu
mindern, indem man neue Ungerechtigkeiten schafft.
({0})
Das Schlimmste ist aber, dass diese bittere Pille trotz
solcher Risiken und Nebenwirkungen nahezu wirkungslos ist. Sicher, die Menschen werden älter und beziehen
länger Rente. Da bietet es sich doch an, diese Menschen
länger arbeiten zu lassen. An den Stammtischen im Sauerland ist das jedem klar und für jeden logisch. Seriöse
Rentenpolitik würde aber die Frage „Was bringt das?“
stellen. Die Sozialverbände haben schon frühzeitig geschätzt: maximal einen halben Beitragspunkt.
Immerhin fällt Ihnen noch auf, dass nicht wenige unter den 65-Jährigen aufgrund der physischen und/oder
psychischen Belastungen ihres bisherigen Arbeitslebens
kaum in der Lage sind, zwei weitere Arbeitsjahre anzuhängen. Dieses Problem glauben Sie ganz einfach lösen
zu können, indem Sie denjenigen, die auf 45 Beitragsjahre kommen, weiterhin erlauben, mit 65 Jahren in
Rente zu gehen.
Ein einfacher Blick in die Rentenzugangsstatistik
hätte Sie warnen können, nein, warnen müssen. Er hätte
Ihnen gezeigt, dass Sie sich mit dieser Überlegung auf
dem Holzweg befinden. Herr Müntefering, der Maurer,
von dem Sie annahmen, dass er weiterhin mit 65 Jahren
in Rente gehen kann, da er auf 45 Beitragsjahre kommt,
ist schlicht ein Phantom. Statistisch betrachtet hätte dieser aufgrund der durchschnittlichen Erwerbslosigkeitszeiten sein Berufsleben mit neun Jahren beginnen müssen, um die erforderlichen Beitragsjahre zu erreichen.
({1})
Eine Studie der Deutschen Rentenversicherung zeigt
die tatsächlichen Ergebnisse der geplanten Ausnahmen.
Ihr Plan lindert nicht Härten, er verschärft sie. Dass Arbeitnehmer mit mehr als 45 Beitragsjahren auch künftig
im Alter von 65 Jahren eine Rente ohne Abschläge beantragen können, bedeutet nach dieser Studie - ich zitiere „eine Umverteilung von unten nach oben, das heißt, von
den Schwächeren zu den Stärkeren.“ In den Genuss dieser
Regelung werden nur selten Frauen und Geringverdiener
kommen. Profitieren werden die männlichen Gutverdiener. Zudem dürfte diese Regelung verfassungswidrig
sein, weil gleiche Beitragszahlungen zu deutlich unterschiedlichen Rentenansprüchen führen können.
({2})
Volker Schneider ({3})
Dank der Ausnahme bleiben noch bescheidene 0,2 bis
0,3 Beitragspunkte Ersparnis, rechnet Ihnen die Deutsche Rentenversicherung vor.
Weil Sie bei dieser Reform eine Politik aus dem
Bauch bevorzugen, anstatt Ihren Verstand zu benutzen,
ignorieren Sie auch die arbeitsmarktpolitischen Folgen dieses Projektes: Genau dann, wenn das Renteneintrittsalter vollständig bei 67 Jahren liegt, kommen die
geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre ins Rentenalter. Wenn zu wenig Ältere aus dem Arbeitsleben ausscheiden, bedeutet das für viele Jüngere die Arbeitslosigkeit; es sei denn, dass an anderer Stelle gleichzeitig
neue Jobs entstehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat einen
Bedarf von 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen errechnet. Ihre bescheidenen Einsparungen in der Rentenversicherung werden Sie in der Arbeitslosenversicherung unmittelbar verfrühstücken müssen.
({4})
Fazit: Die Rente mit 67 wird die Probleme der Rentenversicherung nicht lösen, belastet künftige Rentnergenerationen und schafft himmelschreiende Ungerechtigkeiten und Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung steht
daher zu Recht einer breiten Ablehnungsfront gegenüber. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und folgen Sie
unserem Antrag.
Danke schön.
({5})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz
Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Alterssicherung in Deutschland ist vorbildlich.
({0})
Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. All denjenigen, die jetzt aufstöhnen, sage ich: Schauen Sie sich einmal in anderen Ländern um. Es ist kein Zufall, dass
diese auf Deutschland schauen. Das System der Alterssicherung in Deutschland ist vorbildlich und das wird auch
so bleiben.
({1})
Wer das aber will, muss jetzt handeln. Verantwortungsvolle Politik ist kein Wunschkonzert. Sie fängt
vielmehr damit an, dass man die Wahrheit sagt und die
Situation beschreibt. Nur darauf aufbauend kann man für
die Zukunft vernünftige Politik machen.
Die veränderte demografische Entwicklung ist Realität. Daran kommt man nicht vorbei. In den 60er-Jahren wurde im Durchschnitt zehn Jahre lang Rente gezahlt, jetzt sind es 17 Jahre. Im Jahr 2030 würde, wenn
nichts passiert, 20 Jahre lang gezahlt. Wir arbeiten aber
nicht länger, sondern kürzer. Wir leben länger und relativ
gesund; das ist gut. Deshalb ist die veränderte demografische Entwicklung im Prinzip etwas Gutes.
({2})
Aufgrund der Tatsachen, dass wir zu wenige Kinder haben und kürzer arbeiten, entstehen aber Probleme im sozialpolitischen Bereich. Deshalb hat das Kabinett gestern entschieden - diese Entscheidung wird von der
Koalition mitgetragen -, die Stabilität der Alterssicherung durch drei Maßnahmen weiter zu gewährleisten:
durch die Rentengesetzgebung, durch die Initiative
„50 plus“ und durch eine Altersvorsorgeregelung, über
die wir im Frühjahr noch genauer zu sprechen haben.
Ich will erstens zum Rentenversicherungsbericht,
den wir gestern unter anderem beschlossen haben, sagen: Wir hatten vor einem Jahr einen Puffer von 0,1 Monaten als Rücklage. Durch die Entwicklungen im Laufe
des Jahres, nämlich mehr Einnahmen auch bei den Rentenversicherungsbeiträgen und durch die 13. Zahlung,
haben wir inzwischen eine Rücklage von einem halben
Monat. Wir haben eine neue zusätzliche Stabilität im Bereich der Rentenversicherung geschaffen. Aufgrund unseres Handelns wird der Rentenversicherungsbeitrag in
Höhe von 19,9 Prozent bis zum Jahr 2020 stabil bleiben.
Der Rentenniveausatz wird bei 46 Prozent oder mehr.
Das sind die Ergebnisse der Politik dieses Jahres und der
vergangenen Jahre. Darauf sind wir stolz. Diese Zahlen
sind auch ansteigend für die Zukunft. Aber die Menschen sind belastbar. Wir sagen ihnen rechtzeitig, was
uns die Zukunft bringt. Denn nur wenn man rechtzeitig
über diese Dinge spricht, können die Menschen sich entsprechend darauf einstellen.
({3})
Was haben wir getan? Wir erhöhen das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre. Dieser Prozess beginnt im
Jahre 2012 und ist bis zum Jahre 2029 abgeschlossen.
Diejenigen, die 45 Pflichtbeitragsjahre haben, können
unverändert mit 65 die Rente ohne Abschlag bekommen.
Die, die 35 Versicherungsjahre haben, können mit
63 vorgezogen in die Rente gehen. Das heißt, es wird ein
Renteneintrittsfenster - bisher lag es bei 60 bis 65 - von
63 bis 67 eröffnet. Das ist die Entwicklung.
Angesichts der Alterung der Gesellschaft, angesichts
der demografischen Entwicklung ist das eine vernünftige
Größenordnung. Deshalb sind wir uns sicher, dass das,
was wir machen, helfen wird, die Rente in Zukunft stabil
zu halten, und dazu beiträgt, auch den zukünftigen Generationen eine größere Sicherheit zu geben.
({4})
Wir mussten in diesem Zusammenhang auch eine
Entscheidung zur Altersteilzeit, zum Stichtag, treffen.
Es geht um die Frage, bis wann individualisierte Altersteilzeitverträge abgeschlossen werden können, ohne dass
das schon auch seine Wirkungen hat im Bereich des Anstiegs 2012 und in den Folgejahren. Die Fraktionsspitzen
der Koalition haben sich gestern Morgen darauf verständigt, den 31. Dezember dieses Jahres als Stichtag zu
nehmen. Dem sind wir gefolgt.
({5})
Wir haben im Kabinett festgelegt, dass die Frist zum
31. Dezember dieses Jahres abläuft.
Zweitens haben wir gestern eine Entscheidung für einen Antrag zur Initiative „50 plus“ getroffen. Dieser
Antrag gibt eine gute Gelegenheit, auf die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt zu sprechen zu kommen. Jetzt zur
Stunde werden die aktuellen Zahlen veröffentlicht. Seit
langer Zeit liegt die Zahl der Arbeitslosen wieder unter
4 Millionen; es sind 3,995 Millionen.
({6})
Das heißt, dass wir die Arbeitslosenzahl von Oktober auf
November noch einmal um 90 000 gesenkt haben. Das
ist für einen November eine völlig ungewöhnliche Entwicklung. Wir hatten schon öfter im Oktober und November gutes Wetter; ich kenne ja schon die Ausreden,
woran das alles gelegen haben mag.
({7})
- Sie müssen sich nicht mitfreuen, Herr Kolb, aber wir
freuen uns darüber.
({8})
Etwa 550 000 Menschen mehr als vor einem Jahr haben zurzeit Arbeit, sind nicht arbeitslos. Das ist eine
kleine Großstadt in Deutschland. Eine solche Entwicklung beinhaltet natürlich auch, dass die Zahl der arbeitslosen Älteren deutlich reduziert ist. In der Entwicklung
im November ist vor allen Dingen Folgendes interessant:
Von den 90 000 weniger Arbeitslosen kommen
30 000 aus dem Bereich Arbeitslosengeld I und 60 000 aus
dem Bereich der Langzeitarbeitslosen, der Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Und das ist die wichtigste und hoffnungsvollste Entwicklung, die wir überhaupt haben.
({9})
Wir können zwar über alle Möglichkeiten, wie man
den Niedriglohnsektor organisieren kann, reden. Aber es
ist im Wesentlichen immer „Linke Tasche, rechte Tasche“. Wirklich lösen kann man dieses Problem nur dadurch, dass man Arbeit schafft. Dass man den Menschen
Gelegenheit gibt, ihr Leben selbst zu finanzieren. Dafür
kämpfen wir.
({10})
Und dafür haben wir eine Menge erreicht - aus dem
Jahr 2005 auch mit den Wirkungen der Arbeitsmarktreformen.
({11})
Sie können sagen, was Sie wollen: Das, was wir nun aufgestellt haben, führt dazu - und zwar zunehmend -, dass
wir eine hochleistungsfähige Bundesagentur für Arbeit
haben und dass die Argen und die optierenden Gemeinden ihre Probleme immer besser lösen können. Die Zahl
der Bedarfsgemeinschaften sinkt. Diesen Weg werden
wir in 2007 weitergehen.
Im Jahre 2007 wird Deutschland ein relativ hohes
Wachstum zu verzeichnen haben; für das letzte Quartal
dieses Jahres wurden mehr als 3 Prozent Wachstum prognostiziert. Wir wollten mit dieser Entwicklung im
nächsten Jahr in Deutschland zu einer weiteren Reduktion der Arbeitslosigkeit kommen. Das ist das erste Ziel
dieser Koalition. Ich sage Ihnen: Wir werden es erreichen. Und das wird uns helfen an allen Stellen.
({12})
Mit der Initiative „50 plus“ schlagen wir vor, dass sowohl durch den Kombilohn als auch durch Eingliederungszuschüsse, Weiterbildung und befristete Beschäftigung zusätzliche Impulse gegeben werden. Jemand, der
älter als 50 Jahre ist und arbeitslos wird, soll möglichst
schnell wieder in Arbeit kommen und auch eine solche
Arbeit annehmen, die möglicherweise schlechter als
seine vorherige bezahlt wird. Denn wir müssen verhindern, dass die Menschen vom Arbeitslosengeld I in
Arbeitslosengeldes II fallen. 50-, 55- und 60-Jährige, die
einen oder zwei oder drei Monate arbeitslos sind, sind
noch gut vermittelbar. Wenn sie ein oder zwei Jahre
draußen sind, wird das immer schwieriger. Deshalb sagen wir: Nimm auch den Job, der dir netto weniger
bringt. Wir zahlen im ersten Jahr 50 Prozent und im
zweiten Jahr 30 Prozent dazu, damit du diese Brücke in
neue Beschäftigung dann auch nimmst.
Nach dem Senioritätsprinzip, das in unser aller
Köpfe ist, hat ein Älterer immer die höhere Position und
den höheren Lohn. Das wird es in Zukunft in dieser
Form nicht mehr geben. Auch das müssen wir den Älteren signalisieren. Altersgerechte Arbeit wird nicht immer die am höchsten bezahlte Arbeit sein, sondern das
wird sich stärker mischen zwischen den einzelnen Generationen. Und deshalb ist das - so wie die Eingliederungszuschüsse auch - ein vernünftiger Weg.
Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die Weiterbildung. In Deutschland nehmen 9 Prozent der über 50-Jährigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil, in Skandinavien
sind es 70 Prozent. Wenn die großen Unternehmensverbände darauf hinweisen, dass ihnen 15 000 oder
20 000 Ingenieure fehlen, und dann fordern, dass wir das
Tor öffnen sollen, damit sie die fehlenden Ingenieure aus
anderen Ländern holen können, dann sage ich: Nein, das
will ich nicht. Ich weiß: In einer globalisierten Welt werden Deutsche im Ausland und Ausländer bei uns arbeiten. Das ist für beide Seiten sinnvoll. Aber wir müssen
unsere Probleme mit den Menschen, die im Lande sind,
lösen.
({13})
Die Unternehmen sollen 50- oder 55-Jährige nicht nach
Hause schicken, sondern dafür sorgen, dass rechtzeitig
qualifiziert und weitergebildet wird, damit die Menschen, die noch etwas leisten können, auch eine Chance
haben, im Erwerbsleben zu bleiben.
Wir wollen den Älteren Folgendes sagen - und die
Arbeitslosenzahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen Weg. Das Renteneintrittsalter wird vom Jahre 2012
bis zum Jahr 2029 schrittweise auf 67 Jahre erhöht. Wir
werden auf dem Weg alles dafür tun, dass die Älteren
auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Wir wollen im
Jahre 2009 so weit sein, dass nicht mehr nur 45 Prozent,
sondern 50 Prozent der über 55-Jährigen wieder in Beschäftigung sind. Es ist doch unglaublich, dass heutzutage 55 Prozent derer, die 55 Jahre oder älter sind, in
Deutschland nicht mehr in Beschäftigung sind. Das können wir uns nicht leisten.
({14})
Das ist deutsche Facharbeiterschaft. Die kann etwas.
Und die muss auch in Zukunft eine Chance behalten.
Dafür kämpfen wir in dieser Koalition.
Der Finanzminister und ich haben gestern auch über
die Altersvorsorge gesprochen. Zu diesem Thema kann
ich jetzt nur noch wenige Anmerkungen machen. Es ist
aber wichtig; denn es macht das Bild komplett. Wir müssen neben die gesetzliche Altersrente - das bleibt der
Kern auch in Zukunft - die private Vorsorge setzen: die
betriebliche Rente und die Riesterrente. Wenn klar geworden ist, was in den letzten Jahren erreicht wurde,
werden die Deutschen Walter Riester ein Denkmal setzen. - Herr Gysi, hören Sie vielleicht einmal einen Augenblick zu. ({15})
Man muss neben die gesetzliche Altersrente auch die betriebliche Rente und die Riesterrente setzen. 75 Prozent
der Beschäftigten tun dies. Herr Gysi, die Leute haben
offensichtlich besser verstanden als Sie, dass man so etwas machen muss.
({16})
17 Millionen haben eine betriebliche Altersvorsorge,
7 Millionen bauen eine Riesterrente auf. Die Wahrheit
ist: Wir müssen dafür sorgen, dass immer mehr Menschen neben der gesetzlichen Rente auf betriebliche
Rente und auf Riesterrente setzen. Dieses Ziel müssen
wir bis 2030/2040 erreicht haben. Deshalb hat sich die
Koalition vorgenommen, bei der Riesterrente den Kinderzuschlag zu erhöhen. Diejenigen, die riestersparen,
werden für ab 2008 geborene Kinder einen höheren Zuschlag bekommen. Wir werden eine vernünftige Lösung
- wir kämpfen noch miteinander; aber manchmal ist
Streit gut: Er erzeugt Reibung, aber auch Fortschritt für die Einbeziehung von Wohneigentum in die Riestervorsorge finden. Denn preisgünstig Wohnen im Alter ist
auch eine gute Vorsorge für das Alter. Wir werden die
ganz Jungen einladen: Kommt dazu! Die Riesterrente
und die betriebliche Altersvorsorge müssen so selbstverständlich werden, wie das früher das Bausparen gewesen
ist. Neben der gesetzlichen Rente müssen die private und
die betriebliche eine stabile, sichere Säule werden.
In diesen Tagen sprechen manche über einen Investivlohn, über eine Beteiligung an Gewinn und Kapital.
Ich bin völlig offen für so etwas; darüber kann man sprechen. Aber ich appelliere, zwei Dinge zu bedenken: Erstens. Anständige Löhne.
({17})
3,18 Euro für Friseurinnen in Thüringen, das geht nicht.
Zweitens. Beim Abschluss von Tarifverträgen darf nicht
vergessen werden, diese zumindest teilweise auf die Altersvorsorge auszurichten. Wir müssen alle Kräfte bündeln, damit diese Säule der Altersvorsorge vernünftig
ausgebaut wird. Wenn man bestimmte Verträge sieht,
etwa bei den Metallern in Nordrhein-Westfalen, dann
stellt man fest: Es wird ganz vernünftig gemacht.
Unterm Strich sage ich: Auf dem Arbeitsmarkt findet
eine gute, eine ungewöhnliche, eine schöne Entwicklung
statt, die Mut macht, die aber auch zu noch mehr Anstrengungen herausfordert. Wir werden auch was die Alterssicherung angeht in dieser Koalition - da bin ich
ganz sicher - ein rundes Bild entwickeln von dem, was
nötig ist. Das wird anstrengend sein. Aber es wird erfolgreich sein. Und wir werden letztlich vor den Menschen bestehen, die kritisch nachvollziehen, was wir tun.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat nun Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Minister Müntefering, gestatten Sie mir zuvor zwei Bemerkungen zu Ihrer Rede: Auch wir freuen
uns, dass die Zahl der Arbeitslosen in diesem Monat offensichtlich deutlich zurückgegangen ist. Wir sind weit
davon entfernt, das schlecht zu reden. Aber ich bitte Sie,
einen nüchternen Blick auf die Verhältnisse zu richten:
Es ist jahreszeitlich untypisch, dass noch in diesem
Maße Baustellen offen sind. Im letzten Jahr hatten wir
bereits ab Mitte November deutliche Witterungseinbrüche. Das spielt natürlich in der Statistik eine Rolle.
({0})
Aber was mir noch wichtiger ist, Herr Minister: Auch
wenn Sie da gerade noch die Kurve gekriegt haben,
muss man leider sagen, dass dem Abbau der Zahl der
Arbeitslosen kein entsprechender Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse gegenübersteht.
({1})
So haben wir gestern vom Vorstandsvorsitzenden der
Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gehört, dass das
Verhältnis etwa zwei zu eins beträgt. Das heißt, nur die
Hälfte der vormals Arbeitslosen wird sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das ist etwas, was uns umtreibt.
Das Zweite, Herr Minister: Sie haben gesagt, man
muss den Menschen die Wahrheit sagen, man muss die
Situation beschreiben, wie sie ist. Da kann ich nur sagen:
Herzlich willkommen in der Realität! Leider haben Sie
in der Vergangenheit Ihr politisches Handeln nicht an
diesem Maßstab ausgerichtet. Ich will Ihnen das konkret
an Zahlen belegen: Als Sie schon politische Verantwortung getragen haben, 2001, zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung, haben Sie in Ihrem Rentenversicherungsbericht für 2007 einen Rentenwert von 28,76 Euro
prognostiziert. Je näher 2007 rückte, desto niedriger
wurden die Werte: 2002 waren es 28,17 Euro, 2003 waren es 26,98 Euro. Im Rentenversicherungsbericht 2006
sind es noch 26,13 Euro. Das zeigt: Sie haben in der Vergangenheit - zumindest fahrlässig - Entwicklungen
überschätzt und damit die Versicherten in diesem Land
in einer Sicherheit gewogen, die es so nicht gegeben hat.
Deswegen sind Sie an dem entstandenen Vertrauensverlust hinsichtlich der gesetzlichen Rente zu einem guten
Teil selbst schuld. Das steht fest.
({2})
Aus dem gestern von Ihrem Kabinett beschlossenen
Rentenversicherungsbericht für das Jahr 2006 geht im
Übrigen hervor, dass der finanzielle Druck auf die Rentenversicherung in den nächsten Jahren sehr hoch bleiben wird. Wenn man den Einmaleffekt durch den
13. Monatsbeitrag herausgerechnet, beträgt das laufende Defizit der Rentenversicherung in diesem Jahr
4,5 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr - in 2007 - wird
das Defizit 3,2 Milliarden Euro betragen. Nach den aus
meiner Sicht realistischen Varianten im Rentenversicherungsbericht könnte der Rentenbeitrag schon 2008 auf
über 20 Prozent steigen, was nach dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz frühestens für 2020 vorgesehen war.
Schauen Sie sich das, was Sie gestern schwarz auf
weiß abgeliefert haben, doch einmal an. Für vier von
neun Varianten der Annahmen hinsichtlich der Lohnund der Beschäftigungsentwicklung sind in Ihrem Rentenversicherungsbericht Beitragssätze von über 20 Prozent - in der ungünstigsten Variante sind es 20,7 Prozent niedergeschrieben. Ich halte es schlicht und einfach für
eine Irreführung der Öffentlichkeit, dass Sie sagen, dass
Sie den Beitrag in diesem Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen,
weil Sie dadurch den Beitragssatz für einen längeren
Zeitraum konstant halten können. Sie glauben offensichtlich auch nicht in allen Fällen das, was Sie selbst sagen. Das will ich hier einmal festhalten.
({3})
- Ich möchte dafür sensibilisieren, dass aufgrund der
schwierigen Situation der Rentenversicherung - ich sage
gleich gerne noch etwas dazu - eine weitere Rentenreform absolut überfällig ist. Ich glaube, darüber besteht
in diesem Hause auch weitgehend Einigkeit. Bei den Lösungsvorschlägen geht es aber doch sehr weit auseinander.
Ich will nur ganz kurz etwas zu den Vorschlägen der
Linkspartei sagen, deren Umsetzung wie so oft Kosten
in Milliardenhöhe verursachen würde. Herr Schneider,
Geld spielt bei Ihnen aber sowieso nie eine Rolle. Ich
denke, aufgrund der beschriebenen defizitären Situation
kann und darf die Rentenversicherung nicht noch mehr
Geld ausgeben, sondern sie muss ihre Ausgaben reduzieren, um in den nächsten Jahren noch finanzierbar zu
bleiben. Die Umsetzung Ihrer Vorschläge würde allein
im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, für den schon
jetzt 26 Milliarden Euro ausgegeben werden, zusätzlich
über 4 Milliarden Euro kosten. Das ist unverantwortlich.
Auch Ihr Vorschlag, die Rentenversicherung zu einer
Bürgerversicherung zu entwickeln, geht fehl. Das zeigt
nur, dass Sie das Prinzip der Rentenversicherung nicht
verstanden haben, weil zusätzliche Beitragsleistungen
natürlich auch zu zusätzlichen Rentenansprüchen führen
und Sie damit in der Rentenversicherung finanziell überhaupt keinen Boden gewinnen würden.
Ganz falsch wäre es, die Versorgungswerke, die richtigerweise Altersrücklagen aufbauen und damit übrigens
demografiefester als das umlagefinanzierte System sind,
in die Rentenversicherung einzubeziehen und damit den
Aufbau von Kapitaldeckung im Bereich der Altersvorsorge sogar noch zu behindern.
Daneben fordern Sie ein staatliches Einwirken auf die
Einstellungs- und Personalpolitik in den Betrieben. Das
ist aus unserer Sicht sowieso weit verfehlt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz kurz: Diese
Vorschläge der Linken - das wird nicht weiter verwundern - finden unsere Zustimmung nicht.
({4})
Damit komme ich zu den Vorschlägen der Koalition. Herr Minister, die Rente mit 67 wurde in den Bilanzen anlässlich des ersten Jahrestages Ihrer Regierung
mangels anderer vorzeigbarer Ergebnisse und obwohl
diesbezüglich bis gestern nicht einmal eine schriftliche
Gesetzesinitiative vorlag, als Ihr bislang größter politischer Erfolg dargestellt.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen dürfen, dass
die Verständigung auf die Anhebung des gesetzlichen
Renteneintrittsalters - es war eine Absprache zwischen
Ihnen und der Bundeskanzlerin, die Hals über Kopf vor
einer Kabinettsitzung erfolgt ist - nicht ohne Not geschehen ist, sondern dass sie Anfang dieses Jahres erforderlich war, um in dem mit Verspätung vorgelegten
Rentenversicherungsbericht 2005 den Korridor bzw. die
Vorgaben des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes hinsichtlich der Beitrags- und Niveauziele auch
nur einigermaßen einhalten zu können.
Trotz dieses notwendigen Beitrags zur Konsolidierung der Rentenfinanzen darf die Finanzwirkung dessen,
was Sie jetzt beschlossen haben, nicht überschätzt werden. Sie wissen, dass die Bruttowirkung 1,1 Prozentpunkte beträgt. Herr Minister, allein durch die Gegenwirkung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Rentenformel
aufgrund der Veränderung des Zahlenverhältnisses der
Rentenempfänger zu den Beitragszahlern wird am Ende
nur noch ein Nettoeffekt von 0,8 Prozentpunkten übrig
bleiben.
Mit den von Ihnen vorgesehenen weit gehenden Ausnahmen für langjährig und besonders langjährig Versicherte reduziert sich die Entlastungswirkung aber weiter
auf nur noch 0,5 Beitragspunkte. Das heißt, das, was Sie
uns heute Morgen als mittelfristige Entlastung der Rentenversicherung verkaufen wollen, entspricht vom Volumen her in etwa dem Betrag, um den wir heute unter einem der weiteren Tagesordnungspunkte die gesetzlichen
Rentenbeiträge ohne Not wieder anheben werden. Insgesamt betreiben Sie ein Nullsummenspiel.
Problematisch an Ihrem Vorschlag ist meines Erachtens auch, dass die Lasten der Alterung unserer Gesellschaft nicht gerecht aufgeteilt werden. Der Sachverständigenrat weist in seinem aktuellen Jahresgutachten
ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Vorschlag die Jahrgänge 1959 bis 1974 überdurchschnittlich stark belastet,
weil für diese die Anhebung der Regelaltersgrenze größer ist als die Zunahme der Lebenserwartung. Ab dem
Jahrgang 1975 ist es dann umgekehrt. Genau das ist bei
einer festen Altergrenze und einer ständig weiter steigenden Lebenserwartung problematisch.
Nicht besser, sondern ungerechter wird Ihr Vorschlag
noch dadurch, dass er unsystematische Ausnahmen vom
Regelrentenzugangsalter vorsieht. Wer mit 20 Jahren
in das Berufsleben eingetreten ist und durchgängig
45 Jahre arbeitet, bekommt demnach seine Rente abschlagsfrei; wer mit 22 sein Berufsleben begonnen hat
und ebenfalls durchgängig arbeitet, erhält bei gleicher
Zahl von Entgeltpunkten eine niedrigere Rentenrendite.
Das ist mit dem Versicherungs- und dem Äquivalenzprinzip nicht ein Einklang zu bringen. Es ist ein klarer
Verstoß gegen Grundprinzipien der Rentenversicherung.
({5})
- Das ist wohl nicht so, Kollege Brauksiepe.
An dieser Stelle ist zu fragen, wie der richtige Lösungsweg aussieht.
({6})
Ich glaube, dass wir anstelle eines starren Rentenzugangsalters eine flexiblere Regelung für den Übergang
der Menschen aus dem Arbeits- und Erwerbsleben in
den Ruhestand brauchen. Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht
länger leisten, dass nur noch 41 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäftigung sind.
({7})
Aber viele in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte wollen ab 60 nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie
wollen über den Umfang ihrer Arbeitszeit und über den
Bezugsbeginn ihrer Rente - als Voll- oder Teilrente selbst bestimmen können.
({8})
Sie wünschen sich für den Fall eines flexiblen Renteneintritts die Kombination von gesetzlicher Rente mit
privater und betrieblicher Vorsorge und einen Zuverdienst ohne die engen Grenzen, die bisher bei der gesetzlichen Rente vorgesehen sind. Sie wünschen sich, dass
ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem
Arbeitsmarkt und Beitragsvorteile bei der Sozialversicherung verbessert werden. Man muss doch nüchtern
zur Kenntnis nehmen, dass heute viele Markteintrittsbarrieren für Ältere in Gesetzen und Tarifverträgen hausgemacht sind. Das kann man ändern und das müssen wir
ändern, wenn wir die Situation der Älteren verbessern
wollen.
({9})
Ich kann Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in
wenigen Wochen - noch vor der zweiten und dritten Beratung des von der Regierung einzubringenden Gesetzentwurfes - hier einen eigenen Vorschlag präsentieren
wird,
({10})
der auf den eben genannten Prinzipien basiert und der
damit eine auch den Erwartungen der Menschen entsprechende Antwort gibt. Das ist eben nicht die Anhebung
eines bisher starren Renteneintrittsalters auf ein höheres
starres Renteneintrittsalter, sondern der Beginn eines flexibleren Übergangs der Menschen vom Erwerbsleben in
den Ruhestand unter Kombination von vielen Altersvorsorgebeiträgen, die man in seinem Erwerbsleben zusammengetragen hat. Das ist ein moderner Ansatz, den wir
Ihnen vorschlagen werden.
Wie gesagt, in wenigen Wochen können wir dieses
Konzept gemeinsam mit Ihren Vorschlägen beraten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir warten mit Spannung auf den Vorschlag; denn bisher ist eines nicht klar, Herr Kolb: Sie vertreten die Rente mit 67;
der FDP-Vorsitzende Westerwelle und Herr Niebel sind
eher für die Rente mit 65.
(Widerspruch des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb
({0})
Vielleicht finden Sie noch einen interessanten Kompromiss. Insofern warten wir das in Ruhe ab.
({1})
Wir diskutieren heute wieder einen Antrag der Linken. In den Volkseigenen Betrieben der DDR
({2})
- dann wissen Sie das sicherlich auch und können es bestätigen - gab es eine Straße der Besten. Das war eine
Art Wandtafel oder Flur, wo die fleißigsten Arbeiter auf
Porträts prangten. - Herr Gysi nickt. Herr Lafontaine
weiß vielleicht nicht, wovon ich rede.
({3})
Manchmal wurden auch Bilder von verdienten Genossen - von Betriebskadern verordnet - dorthin gehängt. Dazu kann ich nur eines sagen: Wenn es in Ihrer
Linksfraktion so etwas wie eine Straße der Besten gibt,
dann hat es eine ganze Reihe von Ihnen verdient, porträtiert und dort ausgestellt zu werden; denn Sie sind unwahrscheinlich fleißig, wenn es um das Einbringen von
Anträgen und das Formulieren von Papieren geht.
({4})
- Sie klatschen zu Recht. Sie müssen unbedingt eine
Straße der Besten einrichten. - Aber alle Ihre Anträge
haben eines gemeinsam: Sie sind nicht wirklich zielführend und lösen die Probleme nicht. Ihr Gesamtkonzept
führt in alte Zeiten zurück, während wir auf dem Weg
nach vorne in eine moderne Gesellschaft sind und dabei
sind, in unserem ersten Regierungsjahr die Probleme zu
lösen.
({5})
Obwohl ich nicht zu viel Zeit auf Ihren Antrag verwenden will, möchte ich Folgendes aufzeigen: Sie sehen
an dem, was Minister Müntefering gerade gesagt hat,
wie schnell vieles von dem, was Sie fordern, längst überholt und in Arbeit ist. Sie fordern unter Punkt 1 Ihres
Antrags, es bei der geltenden Altersgrenze von 65 zu belassen. Das hört sich zwar toll an, ist aber nichts anderes
als Populismus. Ich wäre überrascht gewesen, wenn Sie
einen Antrag „Ja zur Rente ab 67“ gestellt hätten. Aber
das hätte nicht zu Ihrer Argumentation gepasst. Sie betreiben lieber Populismus, um gut anzukommen.
({6})
Unter Punkt 2 Ihres Antrags fordern Sie eine sozial
gerechte Rentenreform. Aber Sie werden nicht konkret.
Unter Punkt 3 fordern Sie, den Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu erleichtern und diese ohne Abschläge zu
gewähren. Sie sind sofort kategorisch gegen alles, was
auch nur ansatzweise eine Zumutung für die Menschen
darstellt - das ist nach meiner Überzeugung an vielen
Stellen notwendig -, und nicht bereit, darüber nachzudenken. Sie bieten nur simple Lösungen an. Darauf muss
ständig hingewiesen werden, so fleißig Sie auch sind,
wenn es um das Einbringen von Anträgen geht.
Unter Punkt 5 fordern Sie die Bundesregierung auf,
„ihre Anstrengungen darauf zu richten, durch eine makroökonomisch fundierte Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit zu senken“. Da
wir schon seit einigen Wochen über dieses Thema debattieren, sollten Sie eigentlich mitbekommen haben, dass
wir das im Hinblick auf eine bessere Zukunft schon
längst machen. Die Zahl der Arbeitslosen ist nun auf unter 4 Millionen gesunken. Sie fordern außerdem, den
Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter zu stoppen. Die Trendwende ist längst geschafft. Es gibt fast 260 000 sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte mehr als im Vorjahr. Ihre Forderungen sind
also das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die Realität ist längst an Ihnen vorbeigegangen. Das ist der entscheidende Punkt.
({7})
Sie fordern des Weiteren mehr Wirtschaftswachstum. Vielleicht haben Sie zur Kenntnis genommen, dass
im Herbstgutachten davon die Rede ist, dass die Trendwende nach sechs Jahren geschafft ist. Sie fordern außerdem, mehr für die Älteren zu tun. Aber auch hier sind
wir längst dabei. Wir wollen mit der Initiative
„50 plus“ - diese wurde gestern Abend im Kabinett
beschlossen - die Beschäftigungsfähigkeit und die
Beschäftigungschancen Älterer verbessern. Das ist das
Entscheidende: Wir verbessern nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit, sondern auch die Chancen, wieder auf
dem ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. Wir haben
das Instrument der beruflichen Weiterbildung fortentwickelt. Darüber werden wir in den nächsten Wochen
reden. Beschäftigte ab 45 Jahre, die in Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern tätig sind, sollen die Möglichkeit erhalten, sich weiterzubilden. Bislang werden nur
Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten gefördert, wenn
sie Arbeitnehmer über 50 Jahre qualifizieren. Wir machen dieses Instrument damit attraktiver.
Auch den Kombilohn verbessern wir so, dass es für
die betroffenen Menschen attraktiver wird, wieder eine
Arbeit aufzunehmen. Man sollte lieber eine Arbeit annehmen, auch wenn sie etwas schlechter bezahlt ist, als
vom Staat und von dem Geld anderer zu leben. Das muss
in Deutschland wieder Mentalität werden. Sie von der
Linken wollen den betroffenen Menschen immer nur
möglichst viel aus der Tasche anderer geben. Das ist
aber auf Dauer nicht hilfreich. Wir müssen vielmehr so
viele Arbeitslose wie möglich in den ersten Arbeitsmarkt
bringen. So sieht eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik
aus.
Wir haben bei den Eingliederungszuschüssen Verbesserungen vorgenommen und wir verändern die Regelungen zu befristeten Arbeitsverhältnissen so, dass sie europarechtstauglich werden. Das heißt, wir haben die
Instrumente, die es gibt, verbessert. Das wird helfen,
dass ältere Menschen - es wird immer der Vorwurf erhoben, dass Menschen erst mit 67 in Rente gehen dürfen wirklich in Arbeit kommen.
Warum also die Rente mit 67? Sie alle wissen, dass
die Lebenserwartung und die Rentenbezugsdauer
kontinuierlich steigen. Von 1960 bis heute ist die Rentenbezugsdauer um 70 Prozent angestiegen. Damals waren es zehn Jahre, heute sind es 17 Jahre. Wir erwarten,
dass die Lebenserwartung bei Männern bis zum
Jahr 2030 um 2,3 Jahre und bei Frauen um 2,8 Jahre ansteigt. Wenn die Menschen Gott sei Dank immer älter
werden und immer fitter bleiben - das kann man sehr oft
feststellen -, dann muss man auch bei der Rente konsequent sein. Wenn wir es schaffen, die Rente mit 67 umzusetzen, dann ist die Verlängerung der Lebenserwartung und der Rentenbezugsdauer von etwas über zwei
Jahren finanzierbar. Ich will auch deutlich sagen: Die
Geburtenrate hat sich seit 1975 in den alten Bundesländern bei nur 1,4 Kindern eingependelt. Vor diesem Hintergrund muss die Familienpolitik helfen, dass das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und denen, die in
Rente gehen, ein bisschen korrigiert wird.
Die Anhebung der Altersgrenze soll jetzt diskutiert
werden. Es ist wichtig, dass wir das jetzt tun, weil das
mehr Vertrauen in die Politik erzeugen und zu mehr
Verlässlichkeit führen soll. Wir ändern das Renteneintrittsalter nicht schon morgen, übermorgen oder ab dem
nächsten Jahr, sondern wir beschließen die Rente mit 67
jetzt, damit man in den nächsten Jahren weiß, wie es
weitergeht. Wir reden, um das deutlich zu machen, über
die Anhebung des Renteneintrittsalters ab dem
Jahr 2012. Ich stelle in vielen Diskussionen fest, dass gerade die heutige Rentnergeneration die Rente mit 67 für
problematisch hält, obwohl sie gar nicht betroffen ist.
Ich sage denen, die heute im Rentenalter sind und insbesondere den Rentnern aus der ehemaligen DDR: Ihr habt
verdammt gute Renten. Dafür habt ihr gearbeitet, aber
wenn ihr auf die Kinder und Enkelkinder schaut, dann
werdet ihr feststellen, dass diese es wegen der eben genannten demografischen Entwicklung schwerer haben
werden.
Deshalb wird über einen langen Zeitraum von
18 Jahren ab 2012 das Renteneintrittsalter stufenweise
auf 67 angehoben. Wir sind dann im Jahr 2029 bei einem
Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Das sage ich nur, damit alle wissen, wovon wir reden. Die Drohung, dass das
am nächsten Tag schon geschieht und deswegen die Welt
sofort untergeht, ist völlig fehl am Platz. Das ist langfristig angelegte Rentenpolitik, eine Rentenpolitik, die verlässlich sein will und deutlich die Richtung für die
nächsten Jahre angibt.
Die Koalition hat im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass wir die Rentenversicherung belastbar und solide
weiterentwickeln und dass wir den gesetzlichen Beitrag
und die Höhe der Rente auf dem beschlossenen Niveau
halten. Wir haben festgelegt, dass der Beitragssatz im
nächsten Jahr auf 19,9 Prozent steigt, aber nicht darüber
hinausgeht. Damit haben wir ein Stück Beitragsstabilität
für die nächsten Jahre erreicht. Die Politik hat lange
Jahre daran gekrankt, dass das nicht möglich war. Wenn
man auf die letzten Jahre von Rot-Grün zurückschaut,
dann stellt man fest, dass häufig die Rücklagen der Rentenversicherung angegriffen wurden. Die Rücklage hat
jedes Jahr ein Stückchen mehr abgenommen. Der letzte
Schritt zur Stabilisierung war, einmalig einen dreizehnten Sozialbeitrag für ein Jahr festzulegen. Jetzt muss
man entscheiden, wie man die richtigen Strukturen wiederherstellt. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg;
denn die Rente hat seit dem ersten Jahr der neuen Koalition wieder eine Zukunft. Wir wollen das Rentensystem
zukunftsfest machen.
({8})
- Man muss feststellen - das habe ich letzte Woche
schon gesagt -, dass sich seit dem Wechsel von RotGrün zur großen Koalition etwas in Deutschland geändert hat.
({9})
Zum Schluss möchte ich noch einige Bewertungen
der Anhebung des Renteneintrittsalters vortragen.
Der Sachverständigenrat sagt: Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist der letzte noch ausstehende wichtige Schritt zur nachhaltigen Stabilisierung
und Sicherung des Rentenversicherungssystems. Deshalb sind die Pläne der Bundesregierung ausdrücklich zu
begrüßen. Das ist eine positive Begleitung.
Die Rentenversicherung Bund sagt: Durch die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre erfolgt ein
Einspareffekt von 0,6 bis 0,7 Beitragssatzpunkten bis
zum Jahr 2030. Auch an dieser Stelle möchte ich deutlich machen: Dies bedeutet Zustimmung. Außerdem ist
es ein Hinweis darauf, dass diese Maßnahme, langfristig
gesehen, hilft, das Beitragssatzniveau zu stabilisieren.
({10})
Der Sozialbeirat unterstützt die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ebenfalls.
Das sei „die richtige Antwort auf die höheren Kosten,
die aus einer zunehmenden Rentenbezugsdauer als Folge
einer steigenden Lebenserwartung erwachsen“, heißt es
in dem entsprechenden Gutachten. Ich kann mir nicht
verkneifen, deutlich zu sagen, dass der Sozialbeirat die
Prognosen der Bundesregierung in seiner Stellungnahme
ausdrücklich unterstützt. Er spricht mit Bezug auf diesen
Rentenbericht nicht mehr von ambitionierten, sondern
von realistischen Annahmen. Offensichtlich hat es dort
eine Entwicklung zwischen 2005 und 2006 gegeben. Der
Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich die mittelfristigen
ökonomischen Grundannahmen, weil wir dort etwas
vorsichtiger sind - wir sind nicht bis an die Kante gegangen ({11})
und damit für etwas mehr Verlässlichkeit sorgen.
Was wir dringend brauchen, sind Verlässlichkeit
- kein Hoppeln von Jahr zu Jahr -, Beständigkeit und die
Rückgewinnung des Vertrauens der Menschen in unsere
Sozialsysteme. Wir sind auf einem guten Weg. Ihr Antrag ist eigentlich Schnee von gestern: Ein Teil ist längst
in der Mache und ein anderer Teil würde zu einem völlig
anderen System führen. Es tut mir Leid, das jede Woche
wiederholen zu müssen, Herr Gysi.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema Rente ab 67 stellt hohe Anforderungen an unser
Erkenntnisvermögen. Heute eine Entscheidung zu treffen, die erst in 23 Jahren voll wirkt, sich vorzustellen,
wie im Jahr 2029 der Arbeitsmarkt aussehen wird, das
ist schon eine Herausforderung. Sofort kommen Ihre
Einwände, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze für Ältere.
Das stimmt - heute. Aber heute gilt auch nicht die Rente
mit 67.
({0})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
die heutige Situation mit der im Jahre 2029 gleichsetzen,
dann verschließen Sie die Augen vor der demografischen Entwicklung:
({1})
2029 wird die Lebenserwartung im Vergleich zu heute
um vier Jahre gestiegen sein. 2029 wird es 8 Millionen
weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Aber was
kümmert Sie schon die Realität, wenn Sie ein geschlossenes Weltbild haben.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schneider?
Bitte schön.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben eben „Aber
was kümmert Sie …“ gesagt. Ich weiß nicht, ob Sie mir
eben richtig zugehört haben.
({0})
Die Zahlen in Bezug auf den Arbeitsmarkt - es gibt einen Bedarf an 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen sind einer Studie der IAB der Bundesagentur für Arbeit
entnommen. Aus dieser Studie habe ich zitiert. Das ist
nicht auf dem Mist der Linken gewachsen.
({1})
Diese IAB-Studie kenne ich selbstverständlich. In ihr
werden Pro und Kontra der Rente mit 67 behandelt. Die
Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, die
Rente mit 67 sei akzeptabel, wenn der Arbeitsmarkt in
Ordnung sei.
({0})
Wir wissen: 8 Millionen Menschen weniger im Erwerbsalter, das bedeutet natürlich eine enorme Entlastung für
den Arbeitsmarkt. Für uns ist es schon ein Problem, dass
immer weniger Junge immer mehr Älteren gegenüberstehen. Ich spreche vom Jahr 2029 mit circa 8 Millionen
Erwerbsfähigen weniger. Ihre Zahlen sind so nicht in
Ordnung.
({1})
Ihnen ist offensichtlich auch nicht aufgefallen, dass
die Beschäftigung der über 55-Jährigen in den letzten
sechs Jahren stetig gestiegen ist. Wir Grüne erwarten,
dass dieser positive Trend anhält. Das ist für uns eine
Voraussetzung der Rente mit 67.
({2})
Die in früheren Jahren gewachsene Unterbeschäftigung Älterer wird so nicht bleiben. Eine wichtige Ursache hierfür ist - das wissen auch Sie - die Frühverrentung in Deutschland gewesen, die zur Krise der
Rentenversicherung wesentlich beigetragen hat. Lange
Zeit zogen viele einen vermeintlichen Nutzen daraus:
Beschäftigte, die die Freiheit des Ruhestands länger genießen konnten, Unternehmen, die sich auf Kosten der
Rentenversicherten ihrer älteren Mitarbeiterschaft entledigten, Politik und Gewerkschaften, die ihr Gewissen
beruhigten, weil sie glaubten, etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun und den Jüngeren eine Chance zu
geben. Aber das Gegenteil war doch der Fall. Dieser
Weg ist eine Sackgasse.
({3})
Es trifft nicht zu, dass das frühe Renteneintrittsalter
Arbeitsplätze für Jüngere schafft. In Ländern, in denen
mehr Ältere erwerbstätig sind, ist auch die Arbeitslosigkeit von Jüngeren niedrig.
Besonders erstaunlich, Herr Schneider, ist die Behauptung der Linken, die Finanzkrise der Rentenversicherung habe nichts mit der Demografie zu tun. Sie
machen es sich leicht!
({4})
Sie ignorieren, dass in den letzten 40 Jahren die Rentenbezugsdauer um sieben Jahre gestiegen ist. Sie ignorieren, dass der reale Wert der Rentenleistung dadurch um
74 Prozent erhöht ist. Erhielt 1960 ein Durchschnittsrentner Leistungen im Wert von 140 000 Euro, so sind es
heute 244 000 Euro. Da stellt sich schon die Frage: „Wer
soll und kann das bezahlen?“, zumal aufgrund der niedrigen Geburtenrate die Zahl derjenigen, die Beiträge
zahlen, stetig sinkt, während die Zahl der Rentner und
Rentnerinnen steigt.
({5})
Ein Weg, diese Kosten aufzufangen, ist die Erhöhung
des Renteneintrittsalters bei denen, die gesundheitlich
dazu in der Lage sind. So können die Beiträge einigermaßen stabil gehalten werden. Je mehr Beschäftigte ihre
Zeiten als versicherte Beschäftigte ausdehnen, desto
günstiger wird das Verhältnis der Zahl der Rentenempfänger zur Zahl der Beitragszahler.
Diese Chancen für zukünftige Rentner und Rentnerinnen hat die Linke offensichtlich nicht verstanden. Ich
verweise auf ein Gutachten von Professor Bomsdorf. Er
hat nachgewiesen, dass der Anstieg des gesetzlichen
Rentenzugangsalters nicht zwangsläufig zu Rentenkürzungen führen muss; denn wer aufgrund eines unsteten
Erwerbsverlaufs - davon gibt es viele - oder eines späteren Eintritts in das Erwerbsleben länger arbeiten kann
und will, hat die Chance, eine höhere Rente zu erreichen.
Der Grund dafür: Die Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors wird reduziert.
Wir alle wissen: Ältere Beschäftigte sind heute im
Durchschnitt gesünder und leistungsfähiger als Gleichaltrige in früheren Jahren. Der altersbedingte Rückgang
der Leistungsfähigkeit kann durch Erfahrungswissen
ausgeglichen werden. Viele Ältere wollen auch nicht
aufs Altenteil gedrängt werden. Sie wollen einen flexiblen Renteneintritt. Diese Älteren - Herr Kolb, damit
komme ich zu Ihrem Beitrag - empfinden die heutigen
starren Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen als
diskriminierend, wie die Klage der Lufthansa-Piloten
zeigt.
({6})
Aber hier ist nicht die Politik gefordert. Hier sind die
Tarifparteien gefordert, die Arbeits- und Tarifverträge
zu ändern.
({7})
Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, früher mit Abschlägen und später mit Aufschlägen in Rente zu gehen. Was
Sie wollen, gibt es eigentlich schon; die Tarifparteien
müssen mitmachen.
Auch im Interesse der Chancengerechtigkeit zwischen den Generationen ist es angemessen, dass die gewonnenen Jahre nicht allein zur Verlängerung des Rentenbezugs, sondern auch für eine längere Erwerbsphase
genutzt werden. Das gilt umso mehr, als die abnehmende
Zahl der Erwerbspersonen zu einem großen Mangel an
qualifizierten Fachkräften führt. An dieser Stelle ist die
Verantwortung der Unternehmen gefragt. Sie müssen
sich auf einen längeren Verbleib von Älteren im Erwerbsleben einstellen.
({8})
Dennoch ist ein Umdenken in den Betrieben längst
noch nicht verbreitet. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt: Der Arbeitskräftemangel droht
zur Beschäftigungs- und Wachstumsbremse zu werden. Im Raum München fehlen Fachkräfte für Banken und
Versicherungen. Der Verband deutscher Maschinenbauer
beklagt einen Mangel an Facharbeitern. Auch in den Gesundheitsberufen bleiben Stellen 42 Tage unbesetzt, weil
Fachkräfte fehlen. Das sind nur einige Beispiele. Dies ist
in der branchenspezifischen Fachkräftepolitik zum großen Teil nicht berücksichtigt worden. Es ist die Frühverrentung, die den Betrieben das Know-how der Älteren
genommen hat.
Die Unternehmen sind künftig noch mehr auf qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen und
müssen sich schnellstens auf eine ältere Belegschaft einstellen. Betriebliche Maßnahmen zur Förderung von lebenslanger Weiterbildung und zur Gesundheitsförderung
müssen zum Selbstverständnis von Betrieben gehören.
Die demografischen Veränderungen sind kein rein
deutsches Phänomen. Darum nehmen am Wettbewerb
um die klügsten Köpfe auch andere Länder teil. Es wäre
zu kurz gedacht, in erster Linie nach jungen Fachkräften
aus dem Ausland zu rufen. Da unterstütze ich insbesondere das, was Minister Müntefering vorhin gesagt hat.
Aber wir brauchen beides: Wir brauchen Zuwanderung
und wir brauchen Strategien der Betriebe zur längeren
Beschäftigung von Älteren.
({9})
Die grüne Fraktion hat sich intensiv mit der Frage
auseinander gesetzt, ob es nicht sinnvoll ist, zunächst für
die bessere Integration von Älteren ins Erwerbsleben zu
sorgen und erst danach ein höheres Rentenalter zu beschließen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es
für alle Beteiligten besser ist, wenn die schrittweise Anhebung der Rentenaltersgrenze planbar wird.
({10})
Die Unternehmen wissen: Sie müssen mehr für die
Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer
Beschäftigten tun, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben
wollen. Ältere Beschäftigte profitieren davon, wenn ihre
Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch sie müssen sich darauf einstellen, ihre individuelle Arbeitsfähigkeit länger zu erhalten - so weit, so gut.
Und was tut die Bundesregierung? Sie verhält sich
wie so oft widersprüchlich. Einerseits ist sie bereit, eine
unpopuläre Entscheidung zu treffen; andererseits setzt
sie noch immer auf die falschen Signale. Ich nenne nur
die Verlängerung der 58er-Regelung,
({11})
die Möglichkeit, dass 15 000 Beamte aus den ehemaligen Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente
gehen können,
({12})
oder eine Stichtagsregelung für Altersteilzeitverträge,
damit diese Personen nicht von der Anhebung der Altersgrenze betroffen sind. Gerade diese offene Flanke
löste in den letzten Tagen in vielen Großunternehmen
Hektik in Richtung Altersteilzeit nach dem Blockmodell aus. So wurden viele ältere Beschäftigte in den letzten Wochen dazu aufgefordert, kurzfristig einen Vertrag
zur Altersteilzeit zu unterschreiben, um frühzeitig in
Rente zu gehen. Und dieses „Dezemberfieber“ haben
Sie, lieber Herr Minister Müntefering, zu verantworten.
({13})
Sie sind nicht glaubwürdig, wenn Sie auf der einen
Seite den Anstieg des Rentenalters vorschlagen, aber
gleichzeitig auf der anderen Seite die Türen für eine
Fortsetzung der Frühverrentungspraxis weit öffnen. Akzeptanz erfordert auch Konsequenz, Herr Minister. Eine
konsequente Abkehr von der Frühverrentungspraxis ist
das beste Mittel, das Rentendurchschnittsalter ansteigen
zu lassen. Schon jetzt hat sich durch den erschwerten
Zugang zur Frühverrentung der Anteil von Männern, die
mit 60 Jahren in Rente gehen, halbiert. Auch das tatsächliche Renteneintrittsalter für Altersrenten ist auf
63,2 Jahre angestiegen. Und das sollten Sie nicht aufs
Spiel setzen.
Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die
Beitragssätze und entlastet die nachkommende jüngere
Generation, die mit weniger Personen mehr Renten
finanzieren muss.
Die Linksfraktion ignoriert das Problem der gestiegenen Rentenlaufzeiten und gibt deshalb auch keine Antwort auf die Frage, wie die Belastung zwischen Jungen
und Alten gerechter gelöst werden kann.
({14})
DGB, FDP und Linke verschließen die Augen vor der
Zukunft. Meine Fraktion wird sich dieser Verantwortung
stellen - und das auch in der Opposition.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, zunächst einmal Respekt: Sie haben in Ihrer Rede vieles angesprochen, für das Sie auch den Applaus unserer Fraktion
bekommen haben.
({0})
- Ja, genau. Das zeigt: Die Grünen sind weit näher an
der Realität - möglicherweise auch durch sieben Jahre
Regierungsbeteiligung -, als es die Linkspartei nach wie
vor ist. Meine Damen und Herren der Linkspartei, Sie
haben da noch einen langen Weg vor sich.
Das Bundeskabinett hat gestern den Gesetzentwurf
zur Rente mit 67 beschlossen. Das geschieht nicht aus
einer Laune heraus. Die Lage der gesetzlichen Rentenversicherung ist äußerst angespannt. Sie wird sich weiter verschlechtern, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden.
Union und SPD haben die Ursachen erkannt und benannt. Zum einen ist da die bis vor etwa einem Dreivierteljahr stark gestiegene Arbeitslosigkeit, die mit einem
Aderlass bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen einhergeht.
Eine Rentenpolitik für die Zukunft muss deshalb immer auf mehr Wachstum und Beschäftigung zielen. Arbeitsminister Müntefering hat in seiner Rede vorhin ausgeführt: Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es uns
gelingt, Arbeit zu schaffen.
Kollege Lafontaine, Sie haben dazu heftig applaudiert. Das habe ich wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ich habe in Anspielung an das Musical „My Fair
Lady“ gedacht: Mein Gott, jetzt hat er’s! Mein Gott, jetzt
hat er’s!
({1})
- Bei Ihnen rötet es höchstens.
Zum anderen steigt die Lebenserwartung kontinuierlich. Heute beträgt sie bei Männern circa 76 Jahre, bei
Frauen 81 Jahre. Bis zum Jahre 2030 wird sie bei Männern voraussichtlich 83,4 Jahre, bei Frauen 87,6 Jahre
betragen. Das heißt, im Schnitt wird sie um circa sechs
Jahre höher als heute liegen. Das wirkt sich auch auf die
durchschnittliche Rentenbezugsdauer aus. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer ist von 1960 bis heute
um durchschnittlich 70 Prozent angestiegen. Wir werden
sechs bis sieben Jahre älter als diejenigen, die 1960 vergleichbar alt waren. Wir arbeiten aber im Schnitt nicht
sechs Jahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Setzt sich
diese Entwicklung fort, wird der Rentenbeitrag ohne
weitere Reformmaßnahmen langfristig die Grenze von
22 Prozent überschreiten.
Die Probleme der Rentenkassen sind zum Teil aber
auch hausgemacht. Obwohl die Rentenversicherung in
den letzten Jahren massiv unterfinanziert war, wurde der
Rentenbeitrag bei 19,5 Prozent stabilisiert. Das ging nur,
indem die Rücklagen der Rentenkassen zwischen 2002
und Ende 2005 von knapp 14 Milliarden Euro auf rund
1,8 Milliarden Euro abgeschmolzen wurden. Zwischenzeitlich war die Finanzdecke so dünn, dass im September 2005 sogar erstmals ein 900-Millionen-Euro-Darlehen des Finanzministers nötig wurde. Wir werden
deshalb den Beitragssatz zur Rentenversicherung wie
geplant auf 19,9 Prozent heraufsetzen, obwohl die Beiträge wegen des Aufschwungs am Arbeitsmarkt zurzeit
etwas reichlicher fließen. So können wir die Schwankungsreserve aufstocken, um für schwierigere Zeiten
wieder besser gewappnet zu sein.
Wir sehen, das Rentenproblem ist äußerst komplex.
Weihnachten rückt zwar näher, aber eine Lösung lässt
sich nicht von heute auf morgen auf den Gabentisch zaubern. Wir müssen sie schon selbst finden. Deshalb haben
wir uns gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag
auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, darunter so
vorausschauende Maßnahmen wie die Rente mit 67. Alles andere wäre verantwortungslos gegenüber den nachfolgenden Generationen. So möchte ich insbesondere die
Schüler und die jungen Leute auf den Tribünen hier im
Bundestagsplenum bitten, sich klar zu machen: Wenn
wir nicht gegensteuern, wird Ihre Rente weniger als die
Hälfte der Kaufkraft haben, die die heutigen Rentner
noch zur Verfügung haben. Hier gilt es, ein Stück weit
Generationenverantwortung zu zeigen. - Hier gilt es
aber auch, gemeinsam gesamtpolitische Verantwortung
wahrzunehmen, statt zu populistischen Parolen, die
heute Anklang finden, zu greifen. Vielmehr muss für die
nächste Generation vorausschauend auf Basis der vorliegenden Berechnungen geplant werden, um das System
zu retten.
({2})
Mit kurzfristig positiv klingenden Parolen, lieber Herr
Lafontaine, trägt man nur dazu bei, die Leute zu verdummen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie sagen dazu Nein, wie Sie zu fast allem Nein sagen, was unser Land voranbringt, und beweisen damit
wieder einmal allenfalls den Horizont einer Käseglocke.
Sie nutzen die Verunsicherung von Menschen aus, die
sich auf neue Situationen einstellen müssen. Sie versprechen den Leuten sozialistische Wärmestuben, in denen
bei möglichst wenig Eigenleistung alles so bleibt, wie es
ist, lehnen sich in Ihrem Ohrensessel zurück und warten
auf die Wähler, die da kommen sollen - und nachher die
Zeche der Linken bezahlen müssen.
Was wollen Sie denn wirklich? Wollen Sie höhere
Beiträge? Dann haben wir zwar höhere Einnahmen in
der Rentenkasse, aber auch höhere Lohnzusatzkosten.
Wollen Sie niedrigere Renten? Dann hätten wir zwar weniger Ausgaben - ich habe es ausgeführt -, aber niedrigere Renten wollen Sie sicher genauso wenig wie wir.
({3})
Genau deshalb haben wir Rentenkürzungen ja gesetzlich
ausgeschlossen. Ansonsten wäre dies jetzt zu prüfen, da
faktische Lohnkürzungen aufgrund der an den Nettolohn
gekoppelten Rente zwangsläufig zu Rentenkürzungen
führen müssten. Oder wollen Sie noch mehr Staat, wollen Sie den Bundeszuschuss weiter anheben und damit
künftige Generationen noch stärker belasten? Zugegebenermaßen habe ich diesen Eindruck bei Ihnen manchmal.
Sie sehen also, so viele Werkzeuge, die Rentenkasse
wieder ins Lot zu rücken, gibt es nicht. Genau da ist trotz
all der Einschnitte, die das im Einzelfall mit sich bringen
mag, die längere Lebensarbeitszeit das Mittel der Wahl.
Es hilft nichts, darauf hinzuweisen, dass wir innerhalb
der Europäischen Union das einzige Land sein werden,
in dem das Eintrittsalter zur gesetzlichen Rente bei
67 Jahren liegen wird. Es geht hier nicht nach unseren
Wünschen. Natürlich würde jeder liebend gerne mit
65 abschlagsfrei in Rente gehen. Es geht vielmehr um
die reale Notwendigkeit einer abgesicherten Rentenversicherung auf lange Sicht.
({4})
Sie haben im Schlusssatz Ihres Antrags ausgeführt:
Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht
länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber
eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Damit geht die Rente mit 67 auch an den Wünschen
und Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei.
Ja, das muss sie leider. Natürlich würde auch ich liebend gern mit 50 Jahren in Rente gehen und mir diese
vom Staat bezahlen lassen. Aber so geht es nicht. Wir
sind hier nicht in einem Wunschkonzert, meine Damen
und Herren. Politik ist die Kunst des Machbaren und
nicht nur des Wünschenswerten.
({5})
Das Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2005 bescheinigt uns, dass durch die
Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters das zahlenmäßige Verhältnis der Rentner zu den Erwerbstätigen
langfristig günstiger ausfallen wird. Über den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel ergibt sich
eine höhere Rentenanpassung. Zudem erwerben die Versicherten wegen der längeren Lebensarbeitszeit zusätzliche Entgeltpunkte. Für Versicherte, die bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten, werden deshalb auf
lange Sicht die Rentenansprüche steigen.
Die Kollegen von der Linkspartei dagegen tun so, als
würde die abschlagsfreie Rente mit 67 von jetzt auf
gleich die soziale Gerechtigkeit im Lande dahinraffen.
Erstens wird sie das nicht tun; im Gegenteil. Zweitens
werden Sie nicht morgen damit aufwachen. Wir haben
diese Maßnahme aus dem Grund so früh angekündigt,
dass sich die Menschen darauf einstellen können. So ist
für einen verfassungskonformen Vertrauensschutz gesorgt: In den Jahren 2007 bis einschließlich 2011 wird
nichts passieren. Im Jahr 2012 beginnt der Anstieg um
einen Monat pro Jahr. Wer dann 65 Jahre alt ist, bekommt
seine Rente mit 65 Jahren und einem Monat. - Die große
deutsche Tageszeitung mit den vier Buchstaben hat das
in ihrer heutigen Ausgabe auf Seite zwei oben rechts berechnet - für all diejenigen, die das noch einmal nachlesen wollen. - Das wird so über zwölf Jahre gehen. Dann
ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschließend geht es in
schnellerem Tempo mit zwei Monaten pro Jahr weiter,
bis zum Jahr 2029. Für die Geburtenjahrgänge ab 1964
gilt dann die Regelaltersgrenze von 67 Jahren.
Die Regelaltersgrenzen werden grundsätzlich auch in
den übrigen Rentenarten im Vergleich zur bisherigen Regelung entsprechend um zwei Jahre angehoben. Das gilt
zum Beispiel für die Rente der Bergleute, bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen sowie für die Witwen- und Witwerrente.
Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass
diejenigen, die mindestens 45 Versichertenjahre durch
Beschäftigung, Kindererziehungszeiten bis zum dritten
Lebensjahr des Kindes und Pflege erreicht haben, auch
in Zukunft abschlagsfrei mit 65 in Rente gehen können.
Das heißt, der Maurer, der mit 18, 19 oder 20 Jahren
seine Ausbildung beginnt und anschließend arbeitet
({6})
- rechnen können Sie ja offensichtlich nicht; das haben
Sie schon als Finanzminister bewiesen, Herr Lafontaine;
({7})
gut, dass Sie damals als Finanzminister ausgeschieden
sind; das war ein Segen für Deutschland -,
({8})
hat mit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungsjahre erreicht und bekommt jetzt und in Zukunft mit
65 Jahren seine unreduzierte Rente. Wer also mit 16 Jahren zu arbeiten beginnt, hat etwa 49 Jahre Zeit, um
45 Pflichtjahre zu erreichen.
({9})
Alle, die das gesundheitlich nicht schaffen, können die
so genannte Erwerbsminderungsrente in Anspruch
nehmen. Für erwerbsgeminderte Versicherte mit einer
durchgängigen Erwerbsbiografie bleibt es beim Referenzalter 63 Jahre. Danach können 63-jährige Versicherte
mit 35 Beitragsjahren bis zum Jahr 2023 weiter abschlagsfrei eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Ab
dem Jahr 2024 gilt dies nur noch für 63-jährige erwerbsgeminderte Versicherte, die 40 Beitragsjahre erreicht haben. Dabei ist allerdings anzumerken: Wer Erwerbsminderungsrente erhält und mit 65 Jahren ausscheidet, muss
von denen finanziert werden, die zu diesem Zeitpunkt arbeiten und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Deshalb
müssen die, die es können, aus Gründen der Solidarität
bis 67 arbeiten.
Wir sind uns bei unseren Reformbemühungen natürlich immer bewusst, dass wir das Renteneintrittsalter nur
dann anheben können, wenn, wie bereits ausgeführt, sich
die Erwerbstätigenquote der Älteren erhöht.
Wir hatten dieses Thema schon auf Antrag der Linken
in einer Aktuellen Stunde am 9. Februar 2006 in diesem
Hause. Kollege Klaus Ernst hat damals aus unserem
Wahlprogramm zitiert - das ehrt uns natürlich - und ausgeführt:
Nun zur Union: Im Wahlprogramm heißt es: „Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung
des Renteneintrittsalters infrage.“
({10})
Dann führt Kollege Ernst weiter aus:
5 Millionen Arbeitslose stellen wohl eine tolle Lage
auf dem Arbeitsmarkt dar. Die haben wir nämlich
gerade.
({11})
Aber jetzt beschließen Sie es. Sind Sie so prophetisch, um jetzt schon zu wissen, was in zehn Jahren
los ist? Ich kann nur sagen: Wenn man so Politik
macht und die Aussagen von vor zwei Jahren, vor
einem Jahr und sogar drei Monaten nicht mehr ernst
nimmt, dann kann ich nur noch sagen: Furchtbar.
Herr Ernst, furchtbar ist, dass Sie im Frühjahr von
5 Millionen Arbeitslosen ausgegangen sind. Jetzt sind es
aber 3,995 Millionen Arbeitslose; das hatten Sie nicht
vorgesehen.
({12})
- Das sind die heutigen Zahlen; vielleicht können Sie
sich diesbezüglich einmal kundig machen. Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Erst danach
können Sie Entscheidungen treffen. - Wir haben aktuell
eine Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent. Das sind
0,2 Prozentpunkte weniger als im letzten Monat und
530 000 weniger als im November 2005. Im Oktober
2006 hatten wir mit knapp über 4 Millionen Arbeitslosen
noch eine Quote von 9,8 Prozent.
Nun zur FDP. Sie hatten vorhin ausgeführt, dass diese
Zahlen nicht nur auf unsere erfolgreiche Arbeit zurückzuführen sind. Es fällt aber auf, dass es in den letzten
beiden Jahren von Oktober auf November sinkende Arbeitslosenzahlen gab: Für das Jahr 2006 waren es im November 90 000 Arbeitslose weniger als im Oktober und
für das Jahr 2005 waren es 25 000 Arbeitslose weniger.
Letztmalig war dies 1994 der Fall. Da gab es im November 17 000 Arbeitslose weniger als im Oktober. - Es fällt
ebenfalls auf, dass in diesen Jahren die Union mitregiert
hat. Jetzt kann man natürlich sagen, dass man uns die
Zahlen für 2005 nicht „anlasten“ kann. Das mag sein.
Ich will auch nicht so weit gehen und sagen: Wenn im
November die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht.
({13})
Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, die sozialen Sicherungssysteme - insbesondere die Rente mit der
Einführung der Rente mit 67 - berechenbar zu machen,
damit die junge Generation eine Aussicht auf eine entsprechende Rente hat.
Gestern hat sich der Kollege Schui von der Linksfraktion vehement gegen den Investivlohn ausgesprochen.
({14})
- Ja, das war gestern. So schlecht ist Ihr Gedächtnis. Wir prüfen alles, was eine vernünftige Alterssicherung
der jetzigen und der zukünftigen Arbeitnehmer ermöglichen kann.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner sind unzufrieden, weil sie nicht mehr akzeptieren können, dass in
immer größerem Umfang in ihre Besitzstände eingegriffen wird. Das geht schon seit vielen Jahren so. Nach den
Prognosen haben sie fünf Jahre lang Nullrunden zu erwarten. Aber hier kann man den Eindruck gewinnen, als
gebe es überhaupt kein Problem, als sei alles in bester
Ordnung.
({0})
Auf diese Weise kann man völlig über die Köpfe der Bevölkerung hinwegreden und von der Wirklichkeit abheben.
({1})
Es sind nicht nur die vielen Rentnerinnen und Rentner, die Sorgen haben, sondern es sind auch die aktiven
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie haben
folgende Perspektive: Sie können nur immer geringer
werdende Rentenzahlungen erwarten und haben die
Sorge - die Arbeitsmarktzahlen sind nun einmal so, wie
sie sind -, dass sie mit 55 keine Arbeit mehr finden und
unter Hartz IV fallen. Das ist eine sehr schlechte Zukunftsperspektive. Sie wundern sich hier, dass die Hälfte
der Bevölkerung sagt, dass sie mit dem Funktionieren
unserer Demokratie nicht mehr zufrieden ist, und dass
zwei Drittel der Bevölkerung sagen, dass es ungerecht
zugeht. In diesem Hause ist alles eitel Sonnenschein. Vor
diesem Hintergrund verstehe ich die ganze Debatte nicht
mehr.
({2})
Was wir heute hier diskutieren, hat eine Vorgeschichte. Da ist zunächst einmal die Finanzierung der
deutschen Einheit. Ich möchte für die Rentnerinnen
und Rentner, die jetzt zuhören - nicht für Sie; bei Ihnen
habe ich die Hoffnung aufgegeben -, daran erinnern,
dass man die deutsche Einheit über die Abgaben finanziert hat. Damit hat man drei Beitragssatzpunkte zusätzlich in Kauf genommen. Das DIW hat es ausgerechnet:
Das sind pro Jahr mehr als 25 Milliarden Euro. In der
Summe hat man 400 Milliarden Euro auf diese Weise
umverteilt. - Es wäre richtig gewesen, die Vermögenden
der Republik heranzuziehen und die Finanzierung nicht
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufzubürden, die in dieser Republik ihre Knochen hinhalten.
({3})
Das zweite Fummeln an der Rentenkasse war die Einführung der Riesterrente, die hier wieder gelobt worden
ist. Ich kann diese Lobeshymnen nicht verstehen; denn es
wurde hier vorgetragen: Die Riesterrente war notwendig,
weil sonst die Beiträge nicht mehr bezahlbar gewesen
wären. - Alle Redner haben aber vergessen, hinzuzufügen, dass es hier um die Bezahlbarkeit der Beiträge für
die Unternehmer gegangen ist, also um eine Begrenzung
der Arbeitgeberbeiträge, und dass der Schwindel mit der
Riesterrente darin besteht, dass man den Rest den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgebürdet hat
({4})
und dass nur diejenigen die Riesterrente in Anspruch
nehmen können, die das Geld für die Beiträge haben.
Die Menschen mit einem Niedriglohn von 3,15 Euro,
von denen vorhin der Arbeitsminister gesprochen hat,
können die Beiträge für die Riesterrente nicht bezahlen.
Auch das blenden Sie aus.
Ein weiterer Punkt. Sie haben zugelassen, dass es in
diesem Land Minijobs in ausufernder Weise gibt. Das
Ergebnis ist, dass die Sozialkassen immer leerer geworden sind. Jetzt wundern Sie sich, dass Druck auf der
Rentenkasse lastet, und wollen mit Rentenkürzungen reagieren. Sie haben die Probleme doch sozusagen herbeibeschlossen, die es jetzt zu lösen gilt. Aber Sie wollen
sie wieder auf eine falsche Art lösen.
({5})
Ich muss sagen: Die Arroganz und die Selbstgefälligkeit, mit der hier vorgetragen und auf die demografische
Entwicklung verwiesen wird, ist deshalb unerträglich,
weil Sie die relevante Größe, die hier zu behandeln ist,
schlicht und einfach völlig ausblenden.
({6})
Die relevante Größe, die es hier zu behandeln gilt, ist das
Realwachstum auf der einen Seite und das Wachstum
der Produktivität auf der anderen Seite. Wer diese beiden Kennziffern nicht nennt, soll den Mund halten, wenn
er über die Rentenkassen spricht.
({7})
Sie sind schlicht und einfach nicht in der Lage, das Problem zu lösen.
Ich will ausführen, wie es in den letzten Jahren war.
Wir hatten in den letzten Jahren ein Realwachstum von
1,4 Prozent und einen Produktivitätsanstieg von 1,9 Prozent. Die Frage, die jeder zu beantworten hat, ist: Wie
kann man auf ein Realwachstum von 1,4 Prozent und ein
deutlich stärkeres Anwachsen der Produktivität mit einer
Verlängerung der Arbeitszeit antworten? Wer das tut,
muss schon bescheuert sein; das muss ich in aller Klarheit sagen.
({8})
Auch wenn Sie die Grundrechenarten nicht mehr beherrschen, sollten Sie sich mit den relevanten Daten der ökonomischen Entwicklung beschäftigen. Dann kommen
Sie zu anderen Ergebnissen. Sie werden mit einer Verlängerung der Arbeitszeit - ob es die tägliche oder die
Lebensarbeitszeit ist - die Probleme nicht lösen, weil relevante ökonomische Daten schlicht dagegensprechen.
Nur, Sie nehmen sie nicht zur Kenntnis; das ist Ihr Problem.
({9})
Es wird immer wieder gefragt: „Was ist Ihr Gegenmodell?“ Ich möchte darauf verweisen, dass die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die
Arbeitseinkommen zu einer Zeit eingeführt wurde, als
die Einkommen zu 90 Prozent aus Arbeitseinkommen
und zu 10 Prozent aus Vermögens- und Unternehmenseinkommen bestanden. Mittlerweile hat sich die Welt total verändert. Mittlerweile bestehen die Einkommen zu
60 Prozent aus Arbeitseinkommen und zu 40 Prozent
aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen; das sind
die groben Zahlen. In einer solchen Situation gibt es nur
eine einzige Antwort: Man kann die sozialen Sicherungssysteme nicht allein und in erster Linie über die
Arbeitseinkommen finanzieren. Wir müssen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen endlich in entsprechendem Umfang zur Finanzierung der Sozialkassen heranziehen.
({10})
Wenn Sie wissen wollen, wo das funktioniert, dann
sollten Sie in die Schweiz fahren und das dortige Gesetz
abschreiben. Dort ist vor vielen Jahren eine Bürgerversicherung eingeführt worden ist, die Umverteilungselemente enthält und eine vernünftige Basisversorgung der
Bevölkerung sicherstellt.
Genau das ist unser Vorschlag. Das, was Sie jetzt versuchen, wird letztendlich zu nichts anderem als zu Altersarmut führen.
Eine letzte Bemerkung. Es ist immer davon die Rede,
dass Sie große Sorgen in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit haben. Diese hat auch etwas mit dem Anwachsen des Rechtsradikalismus zu tun. Wenn man aber
Lösungen vorlegt, die dazu führen, dass die Älteren gezwungen werden, länger auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, und dies zum Ergebnis hat, dass die Jüngeren später
auf den Arbeitsmarkt kommen, dann ist das keine adäquate Antwort.
Eine Diskussion, die wir mit Schichtarbeitern geführt
haben, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Ein Schichtarbeiter hatte sich während dieser Diskussion gemeldet
und gesagt: Wenn man uns zwingt, länger zu arbeiten,
bedeutet das eine Verkürzung unserer Lebenszeit. - Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Gregor Amann, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal beneide ich die Kollegen der Linksfraktion.
({0})
Wenn unser einer hier im Plenum reden soll, dann muss
er Zahlen und Daten ermitteln, Argumente sammeln und
überlegen, wie er den Rest des Hauses überzeugen kann.
Bei der Linksfraktion ist es anders. Ihre Kollegen gehen
in die Fraktionsgeschäftsstelle und sagen: Gib mir einmal die Rede zur Rente mit 67! Gib mir einmal unsere
Rede zur Gesundheitspolitik! - Dann wird dieselbe Rede
wieder und wieder in diesem Hause vorgetragen; ich
kenne sie alle schon auswendig.
({1})
Dabei ist es egal, ob der Redner Schneider oder Lafontaine heißt. Es ist immer wieder dasselbe.
Das war auch so bei Ihrer Rede zur Rentenpolitik. Der
vorliegende Antrag ist Ihre Standardrede zur Rente; nur,
dieses Mal steht eine Drucksachennummer des Bundestages darüber. Es steht nichts Neues drin. Sie reden wieder von Rentenkürzungen, Altersarmut und ArbeitsloGregor Amann
sigkeit. Das hat mit der Realität so viel zu tun wie die
Seifenopern im Privatfernsehen.
({2})
Worum geht es bei der Rente mit 67? Die Schlüsselwörter sind: Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit.
({3})
Unser Rentensystem ist ein Solidarvertrag zwischen den
Generationen. Eine Generation bezieht die Rente, während die andere Generation sie mit ihren Beiträgen finanziert, bis sie dann selbst aus dem Arbeitsleben ausscheidet und von der nachfolgenden Generation eine Rente
bezieht. Bundesminister Müntefering hatte Recht: Das
deutsche System der Alterssicherung ist vorbildlich.
Aber dieser Generationenvertrag funktioniert nur,
wenn es für alle Beteiligten fair und gerecht zugeht.
Wenn das System nicht fair und gerecht ist, wenn also
zum Beispiel das Rentenniveau so sinkt, dass Altersarmut doch ein Thema wird, oder wenn die Beitragszahlungen für die arbeitenden Menschen so exorbitant steigen, dass ihnen keine Luft zum Atmen bleibt, dann ist
die Folge: Die Menschen verlieren das Vertrauen in die
Rentenversicherung und der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr.
Genau diese Entwicklung war vorhersehbar. Konrad
Adenauer sagte einmal im Bundestag: Kinder bekommen die Leute immer. - Heute, nach wenigen Jahrzehnten, wissen wir: Adenauer irrte sich. Zwei demografische Entwicklungen nehmen die Rentenversicherung
nämlich in die Zange - ich muss es nicht lange ausführen; meine Vorredner haben das schon getan -: Die
Geburtenrate sinkt dramatisch und die Lebenserwartung, und damit die Rentenbezugsdauer, steigt an. Diese
beiden Entwicklungen würden in absehbarer Zeit dazu
führen, dass der Generationenvertrag nicht mehr funktioniert, weil er für die eine bzw. die andere Seite unfair
oder ungerecht werden würde.
Genau darauf hat die große Koalition reagiert. Wir
haben das gemacht, was eigentlich logisch ist: Wenn die
Lebenserwartung und damit die Rentenbezugsdauer ansteigen, dann muss der mittlere Block, die Lebensarbeitszeit, ebenfalls verlängert werden. Das ist nicht unbedingt populär, aber es ist sinnvoll, notwendig und eine
wichtige Entscheidung, mit der die Generationengerechtigkeit in unserem Alterssystem erhalten werden kann.
Übrigens - das ist in dieser Debatte bisher noch gar
nicht erwähnt worden und in Ihrem Antrag schon gar
nicht - enthält der Gesetzentwurf,
({4})
der noch eingebracht wird, auch eine Bestandsprüfungsklausel: Ab dem Jahr 2010 hat die Bundesregierung dem Parlament alle vier Jahre über die Entwicklung
der Beschäftigung der älteren Arbeitnehmer zu berichten. Sollten Ihre Befürchtungen dann doch eintreten,
könnte rechtzeitig gegengesteuert werden.
Der Kollege Lehrieder hat zu Recht auf den letzten
Satz Ihres Antrags verwiesen. Ich werde ihn deswegen
noch einmal vorlesen:
Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht
länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber
eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen.
Ich kann Ihnen noch eine weitere Erkenntnis mitteilen:
96 Prozent aller Menschen essen lieber Schokoladeneis
als Lebertran.
({5})
Das ist Ihre Politik; es ist eine Politik nach Meinungsumfrage. Sie reden den Menschen nach dem Mund,
({6})
blenden aber die Realität aus.
({7})
Wir sagen den Menschen die Wahrheit, auch wenn sie
bitter schmeckt.
({8})
Aber wir sorgen so dafür, dass der Solidarvertrag der
Rentenversicherung für alle Generationen gerecht und
fair bleibt.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Lafontaine, was wirklich unerträglich ist, das
kann ich Ihnen deutlich sagen: dass Sie so plakativ, so
populistisch daher kommen wie die Zeitung mit den großen Buchstaben, für die Sie gearbeitet haben. Das ist unerträglich.
({0})
Damit verunsichert man die Menschen, damit schürt
man Ängste und Sozialneid - in dieser Beziehung sind
Sie übrigens großartig, ohne Zweitel -, aber das bindet
die Gesellschaft nicht zusammen, es bildet keine Klammer, sondern differenziert weiter aus. Genau das finde
ich unerträglich und das haben Sie ohne Zweifel hier
heute wieder gemacht.
({1})
In solchen Anträgen geht die Linksfraktion immer davon aus, dass es sich dabei ausschließlich um eine
finanzpolitische Frage handelt, also um die Frage: Wie
finanzieren wir Systeme?
({2})
Die gesellschaftspolitische Frage, die hinter dem demografischen Problem steckt, blenden Sie permanent aus.
Diese Gesellschaft wird älter, Gott sei Dank. Franz
Müntefering sagt an dieser Stelle immer: Hoffen wir, wir
sind dabei. - Ich hoffe es besonders für dich, Franz. Du
bist ja noch dabei, Gott sei Dank.
({3})
Mit Blick auf die Initiative „50 plus“ - zu ihr komme ich
gleich - kann man wirklich „Gott sei Dank“ sagen, weil
wir mit dieser Initiative wirklich Herausragendes geleistet haben, vor allen Dingen Franz Müntefering.
Die Gesellschaft wird immer älter; diejenigen, die
nachkommen, werden immer weniger. Wir haben die
Systeme nie angepasst; die Beispiele sind eben genannt
worden. In den 60er-Jahren ist die Rente im Schnitt zehn
Jahre lang ausgezahlt worden; mittlerweile sind wir bei
17 Jahren angekommen. Dazu haben übrigens all die
Maßnahmen beigetragen, die wir gemeinsam gefeiert
haben, wie Vorruhestand, Altersteilzeit und ähnliche. Sie
haben bewirkt, dass sich die Lebensarbeitszeit verkürzt
und sich die Rentenbezugszeit verlängert hat.
Meine Tochter, die im Januar geboren ist, hat gute
Chancen, 100 Jahre alt zu werden.
({4})
Ich freue mich für sie; das ist wunderbar. Wenn wir an
dem System aber nichts verändern, wenn wir es nicht zukunftsfest machen, kann folgende Situation eintreten:
Ich hoffe, sie wird schlauer als ihr Vater und geht studieren. Mit 25 oder 26 Jahren wird sie vielleicht fertig sein.
Mit 65 schicken wir sie spätestens in Rente, mit den Instrumenten, die wir gegenwärtig haben, vielleicht sogar
etwas früher. Das heißt, sie wird in den ersten 25 und
den letzten 30 Jahren ihres Lebens Leistungen aus unseren sozialen Systemen erhalten. Die Zwischenzeit ist
schlichtweg viel zu kurz, um das zu finanzieren.
({5})
Wir können den nachkommenden Menschen nicht sagen: Wir lassen alles so, wie es ist. - Sie haben gesagt,
dass Sie alle in die Finanzierung der Erwerbstätigenrente
einbeziehen wollen. Nach unserem System, dem Äquivalenzprinzip, werden alle, die Beiträge leisten, vor
dem Hintergrund ihrer Beiträge Leistungen erhalten. Ich
bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass derjenige, der im Alter Leistungen erhält, zuvor eigene Beiträge geleistet haben soll, übrigens auch Abgeordnete.
Würden jetzt alle Beiträge in die Rentenkasse zahlen,
würde das zwar eine kurzfristige Erhöhung der Liquidität bedeuten, langfristig aber neue Probleme verursachen.
({6})
Sie ignorieren dieses Problem schlichtweg und sagen,
man könne das anders gestalten. Ihre Umverteilungspolitik ist schlicht: Wir nehmen denen, die jetzt gut verdienen, viel weg und wenn sie hohe Ansprüche erworben haben, nehmen wir ihnen die hohen Ansprüche
ebenfalls weg.
({7})
Das werden Sie verfassungsrechtlich nie sauber hinbekommen, zumindest nicht in den bestehenden Systemen.
Die bestehenden Systeme haben sich in der Tat bewährt. Wir müssen sie jetzt zukunftsfest machen und wir
tun dies. Dass das relativ unpopulär ist, ist mir völlig
klar. Niemandem von uns macht es Freude, solche Botschaften zu übermitteln. Wir setzen aber die richtigen Signale.
Ich nenne hier die Initiative „50 plus“. Ich hatte gestern das Vergnügen, bei der Auftaktveranstaltung sein zu
können, die der Minister organisiert hat. Diese Initiative
verdeutlicht den Zweiklang, den wir immer betont haben: Auf der einen Seite steht die Zumutung, auf der anderen Seite müssen wir Chancen bieten. Die große
Koalition hat sich mit der Initiative „50 plus“ auf den
Weg gemacht, die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sehr deutlich und nachhaltig zu verbessern.
({8})
Gestern wurden Beispiele dafür angeführt, wie sich
das auswirkt. Viele Unternehmen sagen bereits: Wir
müssen altersgerechte Arbeitsplätze schaffen bzw. vorhalten. Wir können auf das Know-how, auf die Qualität
der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der
hoch qualifizierten Facharbeiterschaft in unserem Land
zukünftig nicht verzichten. Wir können sie nicht vorzeitig gehen lassen. - Es ist ein positives Signal, wenn gesagt wird: Wir brauchen euch auch noch, wenn ihr älter
seid; dieses Land ist auf euch angewiesen. Ich finde, das
ist ein gutes Signal. Ein schlechtes Signal ist es, zu sagen: Geht mit 50 Jahren! Wir brauchen euch nicht mehr;
wir alimentieren euch höchstmöglich. - Das ist ein
schlechtes Signal für die Menschen und für die Gesellschaft. Wir senden ein anderes Signal.
({9})
Die Rente mit 67 ist bei uns nicht unumstritten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Aber selbstverständlich.
Bitte.
Kollege Schaaf, im Wahlprogramm der SPD - das ist
noch gar nicht so lange her - wurde die Rente mit 65
noch vehement verteidigt. Es gab einen dramatischen
Umschwung in der Meinung der SPD: Jetzt ist die Rente
mit 67 das Richtige. Auf Grundlage welcher Erkenntnisse ist dieser Meinungsumschwung in der SPD innerhalb eines Jahres zustande gekommen? Könnte das damit zusammenhängen, dass die SPD bei den Wahlen ein
anderes Bild zeichnen wollte?
({0})
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Ernst. Ich wollte gerade auf diesen Punkt zu sprechen kommen. Jetzt kann
ich ihn außerhalb meiner Redezeit behandeln. Das ist
sehr nett von Ihnen.
Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass die Rente
mit 67 in der SPD und in der SPD-Bundestagsfraktion
nicht unumstritten ist. Die Frage, ob es vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung notwendig ist,
zu handeln, ist bei uns allerdings unumstritten.
({0})
Ich sage Ihnen sehr gerne, wie die Situation aussieht.
Der Kompromiss mit der Union wurde an vielen Stellen
zwar relativ geräuschlos vollzogen, er war aber nicht
einfach. Wir müssen schon ehrlich miteinander sein. Jeder dieser Streitpunkte hat aber wesentlich mehr Qualität
als Ihr Antrag.
({1})
Diese Auseinandersetzung führen wir dann gerne gemeinsam und zielgerichtet.
Lassen Sie mich zum Schluss die Altersteilzeit und
den damit verbundenen Stichtag ansprechen. Ich bin
Klaus Brandner für seine Initiative ausdrücklich dankbar. Sehr dankbar bin ich auch den beiden Fraktionsvorsitzenden Peter Struck und Volker Kauder, dass wir eine
solche Regelung geschaffen haben. Dies gibt Zeit, alles
vernünftig und vertrauensvoll abzuarbeiten. Der Zeitraum bis zum 29. November dieses Jahres war zu kurz
bemessen. Wir haben diese Erkenntnis gewonnen und
gehandelt. Deswegen bin ich den Akteuren sehr dankbar.
Das schafft Verlässlichkeit in den Betrieben. Hier geht es
um Vertrauensschutz und darum, wie man mit Kollegen
umgeht.
({2})
Übrigens, Kollege Ernst, wie schnell man das Vertrauen der Kollegen verlieren kann, haben Sie in den
letzten Tagen leider Gottes - ich sage ausdrücklich
„leider Gottes“, weil Sie in Ihrer Funktion als Gewerkschafter betroffen sind - erfahren. Wir müssen weiter
Vertrauen gewinnen. Mit den verlässlichen Übergangszeiten, die wir hinsichtlich des Renteneintritts mit 67
eingeräumt haben, und der begleitenden, vom Minister
angestoßenen Initiative „50 plus“ sind wir auf einem
richtigen und guten Weg.
Ich freue mich auf die Debatten im Dezember zur
Einbringung der Gesetze, die damit einhergehen. Dann
werden wir diese Diskussion noch einmal und dann
deutlich ausführlicher führen. Dann werde ich mit genau
derselben Überzeugung sprechen, mit der ich jetzt dazu
gesprochen habe.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2747 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Wahl des Bundespräsidenten durch
die Bundesversammlung
- Drucksache 16/3303 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der
Europäischen Union zur Bekämpfung der
sexuellen Ausbeutung von Kindern und der
Kinderpornographie
- Drucksache 16/3439 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie
- Drucksache 16/3440 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Nach dem Wiener Gipfel - die Beziehungen
zwischen der EU und Lateinamerika solidarisch gestalten
- Drucksache 16/2602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN
Verbesserung der Statistik zur Lohn- und Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Erbschaftund Schenkungsteuer
- Drucksache 16/3025 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Michael Leutert, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für einen europäischen zivilen Friedensdienst
- Drucksache 16/3620 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Illegitime Schulden von Entwicklungsländern
streichen
- Drucksache 16/3618 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Finanzausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Zugriff von Geheimdiensten auf das Schengener Informationssystem der zweiten Generation verhindern
- Drucksache 16/3619 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der unabhängigen Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ Der Weg in die Zukunft
- Drucksache 15/3636 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stellungnahme der Bundesregierung
zum Bericht der unabhängigen Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen
Lernens“ - Der Weg in die Zukunft - Drucksache 15/3636 - Drucksache 15/5427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 b bis 33 m auf.
Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ ({10})
- Drucksache 16/3270 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({11})
- Drucksache 16/3634 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({12})
Maik Reichel
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3634,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der GesetzVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes 2007 ({13})
- Drucksachen 16/3437, 16/3651 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14})
- Drucksache 16/3643 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Simone Violka
- Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3647 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({16})
Otto Fricke
Anja Hajduk
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3643, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlTheodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten René Röspel, Dr. Rolf Mützenich, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Schutz vor Biowaffen verbessern - das Biowaffenübereinkommen stärken
- Drucksache 16/3612 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkte 33 e bis 33 m: Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
- Drucksache 16/3527 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 135 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 136 zu Petitionen
- Drucksache 16/3528 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 136 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 137 zu Petitionen
- Drucksache 16/3529 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 137 ist damit einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
- Drucksache 16/3530 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 138 ist bei Enthaltung der Fraktion der FDP mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
- Drucksache 16/3531 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 139 ist bei Gegenstimmen der
Fraktion der FDP und bei Zustimmung aller anderen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
- Drucksache 16/3532 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke,
die dagegen gestimmt hat, angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 141 zu Petitionen
- Drucksache 16/3533 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 142 zu Petitionen
- Drucksache 16/3534 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der
FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 143 zu Petitionen
- Drucksache 16/3535 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Sammelübersicht 143 mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung
({5})
- Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen
wollen, den Saal verlassen haben, kann ich die Aussprache eröffnen. - Darf ich Sie bitten, Ihre Gespräche vor
dem Saal fortzusetzen, damit wir dem ersten Redner in
der Aktuellen Stunde aufmerksam folgen können? Ich
danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es hat in den letzten zwei Wochen eine Reihe
verwirrender und widersprüchlicher Aussagen zur Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung gegeben.
Die FDP-Fraktion will Ihnen von SPD und Union und
natürlich auch der Frau Ministerin heute die Gelegenheit
geben, hierzu klärende Worte zu sagen. Die Bürger warten geradezu darauf.
Ich darf an die Ausgangslage erinnern: Die schwarzrote Koalition hat vor einem Jahr versprochen, im Sommer des Jahres 2006 einen Gesetzentwurf zur Reform
der Pflegeversicherung vorzulegen. Dieses Versprechen
hat sie nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat auch
Verbesserungen bei den Leistungen für Demenzkranke
angekündigt. Doch auch dieses Versprechen steht auf tönernen Füßen. Denn die Ministerin hat in diesem Monat
einen Beirat eingerichtet, der - nach dann zweijähriger
Arbeit - Ende 2008 einen Vorschlag für einen neuen,
überarbeiteten Pflegebedürftigkeitsbegriff unterbreiten
soll. Gleichzeitig werden für das nächste Jahr, für 2007,
großzügig Leistungsverbesserungen versprochen, auch
für Demenzkranke. Allerdings haben 100 000 Demenzkranke in Deutschland nach der jetzt gültigen Definition
keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung,
weil sie nicht einmal die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllen. Diese Kranken könnten bei der für 2007
versprochenen Reform nur dann Leistungen erhalten,
wenn der Pflegebedürftigkeitsbegriff sofort verändert
wird. Das soll aber - Sie haben es gehört - erst
Ende 2008 geschehen. Es bleibt das Geheimnis der Gesundheitsministerin, wie sie diesen Demenzkranken helfen will.
({0})
Das Versäumnis der Ministerin liegt auf der Hand: Sie
ist mehr als fünf Jahre im Amt, und die Probleme - sowohl der Finanzierung als auch der Inhalte, der Frage
der Definition der Pflegebedürftigkeit, der Einstufung,
der Organisation, des Bürokratieabbaus, der Transparenz
und des Verhältnisses zwischen ambulanter und stationärer Pflege - sind seit langem bekannt. Das heißt, Sie hätHeinz Lanfermann
ten schon vor Jahren eine Reform der Pflegeversicherung angehen müssen.
({1})
Die erneute Verschiebung, ins nächste Jahr, wird damit begründet, man müsse erst die Gesundheitsreform
abwarten. Das ist natürlich nur eine Ausrede. Denn die
Schubladen im Ministerium sind voll, sie quellen geradezu über - sonst würden nicht dauernd Papiere irgendwo landen, wo sie die Hausleitung nicht sehen will.
In Wirklichkeit will die Ministerin die Union bei der Gesundheitsreform weich kochen, um anschließend bei der
Pflegeversicherung ihrem Traum von der Bürgerzwangsversicherung ein Stück näher zu kommen.
({2})
Jetzt haben die B-Länder im Bundesrat einen Vorschlag präsentiert, wonach eine ergänzende Kapitaldeckung eingeführt werden soll: Zu den 1,7 Prozent Beitrag soll eine zusätzliche Pauschale von einigen Euro im
Monat treten, die dann anwachsen soll. Dieser Vorschlag
ist noch zu prüfen und zu diskutieren; aber er wäre wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung. Und sofort
gibt es heftigen Streit, kommt die reflexhafte Reaktion
von Frau Ferner, dass ihre Partei die Einführung einer
Kopfpauschale nicht mitmachen werde. Der Kollege
Zylajew sagt völlig korrekt: Im Koalitionsvertrag steht
doch, dass die Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Säule ergänzt wird. Sie und die anderen Kollegen
von der Union können uns gleich noch einmal bestätigen, dass es auch so kommen soll.
Frau Schmidt teilt dann Ihnen mit - über die „Wirtschaftswoche“ -, dass sie von dem Modell der Unionsländer überhaupt nichts hält: Prämie? - Nein danke! Kapitaldeckung? - Teufelszeug! Alle sollen in einen Fonds
einzahlen, der „Pflegefonds“ lässt grüßen. Das ist natürlich kein Zufall. Denn als Hauptanteil dieses Fonds sollen die 13 Milliarden Euro einfließen, die die private
Pflegeversicherung als Vorsorge für die Zukunft zurückgelegt hat.
({3})
- Natürlich, Frau Ferner: Wenn Umverteilung zum beherrschenden Politikprinzip wird - wie bei Ihnen -, dann
schreckt man offensichtlich auch nicht vor dem Zugriff
auf fremde Rücklagen zurück.
({4})
Die Union übernimmt eine tragische Rolle. Nach dem
Verhandlungsfiasko bei der Gesundheitsreform wird
jetzt der Vorschlag, den Sie bringen, von der Ministerin
sofort vom Tisch gewischt. Allerdings heißt es im Koalitionsvertrag:
Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt.
Ich sage Ihnen: Wer sich auf so einen Satz einlässt, der
darf anschließend nicht überrascht sein, wenn das zum
Einfallstor für die Bürgerzwangsversicherung wird.
({5})
Dabei ist die Pflegeversicherung die demografieanfälligste Sozialversicherung überhaupt. Hier geht die
Schere zwischen den immer weniger werdenden Jüngeren - also fallendem Beitragsaufkommen - und den immer mehr werdenden Älteren und ganz Alten - also steigendem, immer schneller steigendem Finanzbedarf - am
weitesten auseinander. Hier wirkt sich das falsche Konstrukt der Bürgerversicherung am verheerendsten aus.
Das Wort ist eine schöne Verpackung, der Inhalt fault
schnell.
({6})
Frau Ferner, die jüngere Generation erwartet gerade
von der SPD-Ministerin ein klares Bekenntnis zum Prinzip der Kapitaldeckung. Denn nur so können die Kosten
in der Zukunft getragen werden.
({7})
Sie werden Ihrem Koalitionspartner doch zumindest bestätigen, was im Koalitionsvertrag steht: dass es keinen
Gesetzentwurf der Bundesregierung geben wird, mit
dem nicht zumindest in Teilen eine Kapitaldeckung der
Pflegeversicherung eingeführt wird.
({8})
- Über die Privatversicherung unterhalten wir uns ein
anderes Mal, Frau Ferner. Nachdem ich bei der DGBVeranstaltung mit Freuden gehört habe, dass auch Sie
privat versichert sind,
({9})
sollten Sie sich jetzt nicht beschweren.
Danke schön.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Grunde genommen haben die Menschen doch
nur zwei Wünsche: alt zu werden und dabei jung zu bleiben. Heute werden die Menschen tatsächlich immer
älter. Das ist kein Methusalem-Komplott, sondern
schlichtweg schön.
Wir wissen aber: Alt zu werden, ist kein reines Vergnügen. Nachlassende körperliche und geistige Kräfte,
Krankheit, Angst und Tod werden mit zunehmendem
Alter immer bestimmendere Lebensthemen. Als sei dies
für den Einzelnen nicht schon gravierend genug, kommt
diese Lebensproblematik mit vielfacher Wucht nun zusätzlich auch noch auf unsere Gesellschaft als Ganzes
zu.
Sicher, die demografische Entwicklung ist nicht nur
ein gesellschaftliches Phänomen, sondern sie wird immer mehr auch zum versicherungsmathematischen Problem in unserem Land.
({0})
Die Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen, auch wenn
die Wahrscheinlichkeit bei den über 80-Jährigen mit
mehr als 30 Prozent fast zehnmal höher als in der Altersgruppe der Menschen zwischen 60 und 80 Jahren ist.
Pflegebedürftig zu sein, heißt also, auf die Hilfe und Unterstützung durch die Familie oder andere angewiesen zu
sein. Damit stellt sie immer auch ein finanzielles Risiko
dar.
({1})
Die Pflegeversicherung als eine soziale Sicherung für
dieses elementare Lebensrisiko ist im Übrigen - das darf
an dieser Stelle einmal erwähnt werden - von einer
unionsgeführten Bundesregierung eingeführt worden.
Man darf durchaus nochmals sagen: Das Ziel, die Menschen mit dem Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht allein zu lassen, ist erreicht worden. Deshalb ist diese Pflegeversicherung ein wichtiger Bestandteil, auch wenn die
Ausgaben die Einnahmen seit 1999 übersteigen. Trotzdem wird die Pflegeversicherung erst im Jahre 2009 an
ihre Grenzen stoßen. Deshalb haben wir die soziale Pflegeversicherung auch auf die politische Agenda gesetzt.
Herr Lanfermann, das, was Sie heute hier wieder von
sich gegeben haben,
({2})
entspricht überhaupt nicht den Tatsachen.
({3})
Sie reden zum Beispiel von Verschleppung, obwohl Sie
genau wissen, dass wir mit der Umsetzung der Roadmap
für die Pflegeversicherung bereits begonnen haben. Sie
wissen, dass die Pflegeversicherung zur Mitte dieses
Jahres nach langer Zeit der Defizite sogar wieder einen
Überschuss hatte, weil sich die Einnahmen durch die
Beitragspflichtigen so gut entwickelt haben, was mit der
erhöhten Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zusammenhängt. Die Konjunktur
schlägt hier auf der Einnahmeseite ebenfalls durch. Das
ist wichtig und richtig.
({4})
Deshalb ist das kein Verschleppen. Im Gegenteil, wir arbeiten an dieser Reform.
({5})
Dass dies nicht nur leere Worte, sondern auch Taten
sind, können Sie an unserem derzeitigen Entwurf für
eine Gesundheitsreform sehen. Dieser enthält viele Aspekte, die den Pflegebedürftigen in diesem Land helfen.
Ich nenne nur folgende Stichworte: Reha vor Pflege,
Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung,
Veränderung des Häuslichkeitsbegriffs in der ambulanten Krankenpflege, Präzisierung des Anspruchs auf
Hilfsmittel in stationären Einrichtungen, verbessertes
Entlassmanagement der Krankenhäuser. Das alles
kommt den Menschen zugute.
Sie haben auch die Koalitionsvereinbarung angesprochen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, was dazu drin
steht.
({6})
Zum Ersten wollen wir die Erwerbstätigen mit der
Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung nicht
überfordern. Deshalb müssen wir die Einnahmen und
Ausgaben der Pflegeversicherung sehr sorgfältig überprüfen und seriöse Antworten geben. Wer die Einnahmeseite unberührt lassen will, der muss den Menschen
auch offen sagen, dass die Leistungen auf Dauer gekürzt
oder sukzessive immer mehr Menschen wieder in die
Sozialhilfe abrutschen werden. Das ist nicht unser Ziel.
Deshalb ist dies auch keine Lösung.
({7})
Zum Zweiten wollen wir die Generationengerechtigkeit ausbauen, und zwar in zweifacher Hinsicht: innerhalb der Generationen und zwischen den Generationen.
Mit der Abgrenzung zwischen Familie und Menschen
ohne Kinder ist der erste Schritt in der Beitragsbemessung bereits erfolgt. Aber für die dauerhafte Akzeptanz
des Systems werden wir zukünftig ohne Ergänzung des
Umlageverfahrens
({8})
durch kapitaldeckende Elemente zum Aufbau einer Demografiereserve nicht auskommen. Das steht wörtlich in
der Koalitionsvereinbarung, an die wir uns gemeinsam
halten werden.
({9})
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung das klare
Ziel formuliert, die bestehenden Versicherungssysteme
- Soziale Pflegeversicherung und private Pflegeversicherung - beizubehalten. Insofern sage ich auch Ihnen,
Herr Lanfermann: Man darf Zitate nicht verkürzen. Lesen Sie den Menschen doch einfach den Abschnitt vor!
Wenn Sie das nicht mehr konnten, weil Ihre Redezeit abgelaufen war, möchte ich den letzten Satz zitieren, um
ihn dem Auditorium nicht vorzuenthalten. Im Koalitionsvertrag heißt es:
Der Kapitalstock wird dafür
- nämlich für einen Ausgleich zwischen gesetzlicher und
privater Pflegeversicherung nicht angegriffen.
({10})
All Ihr Schüren von Ängsten ist also grundlos. Wir werden die Rücklagen in der privaten Pflegeversicherung
nicht angreifen und dennoch einen Kapitalstock bilden.
({11})
Das sind wir den künftigen Generationen schuldig und
das gehört zur Generationengerechtigkeit.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In diesem Lande sterben jeden Tag Menschen wegen skandalöser Pflegezustände. Aber Sie von der FDP stellen keine andere Frage
als die, wie es mit der Finanzierung weitergeht. Für Frau
Widmann-Mauz handelt es sich nur noch um ein versicherungsmathematisches Problem.
({0})
Wir müssen darüber reden, wo die eigentlichen Probleme liegen. Sie liegen in den Inhalten dessen, was
heute Pflege genannt wird, zum Beispiel auch im Pflegebegriff, der mit dem SGB XI eingeführt wurde und weit
hinter dem Bundessozialhilfegesetz zurückgeblieben ist,
in dem der Pflegebegriff wesentlich weiter gefasst war.
Wir müssen es endlich schaffen, von der Satt-SauberTrocken-Pflege - selbst die ist ja nicht garantiert - wegzukommen. Was wir brauchen, ist die begleitende Assistenz, sodass auch diejenigen Menschen, die nicht mehr
alle Tätigkeiten des täglichen Lebens - angefangen beim
Aufstehen und Waschen bis hin zur Essenzubereitung alleine ausführen können, dennoch aktiv am Leben der
Gesellschaft teilhaben können. Die Aktivierungsmöglichkeiten können sehr unterschiedlich sein, aber es
muss wenigstens angestrebt werden, dass die Betroffenen die vorhandenen Möglichkeiten wahrnehmen können. Aber nicht einmal das ist zurzeit gegeben.
Sie aber reden ausschließlich über die Frage, ob es einen Kapitalstock gibt - als ob dies das Problem wäre!
({1})
Wir machen einen ganz anderen Vorschlag.
({2})
Wir schlagen Ihnen vor, die private Pflegeversicherung
abzuschaffen, sie zu schließen. Überführen Sie alle privat Pflegeversicherten in die gesetzliche Pflegeversicherung und sorgen Sie dafür, dass den Menschen die bereits erworbenen Ansprüche - als Bestandsschutz - aus
dem Kapitalstock, der inzwischen 13 Milliarden Euro
beträgt, ausgezahlt werden! Das reicht völlig und lässt
sich leicht umsetzen.
({3})
Dann hätten wir endlich eine solidarische Versicherung,
die auf allen Schultern ruht, statt der bisherigen Zweiteilung der Reichen, Guten und Gesunden einerseits und
der Armen, Schwachen und Kranken andererseits.
({4})
Vor diesem Problem stehen wir und das können wir lösen.
({5})
Zu Ihrer aktien- und börsenfixierten Orientierung bei
jeglicher Finanzierung gibt es solidarische Alternativen,
die den Menschen zugute kommen müssen.
({6})
Aber, wie gesagt, ich will nicht in erster Linie über Geld
reden. Ich will vielmehr darüber reden, was wir damit
machen. Das Problem ist, dass Sie sich seit einem halben
Jahr weigern, eine Enquete-Kommission einzurichten,
die sich damit befasst, welche ethischen, welche rechtlichen und welche finanziellen Fragen gelöst werden müssen, damit Menschen mit begleitender Assistenz leben
können. Sie weigern sich, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen.
Der Bericht über die Situation der Heime, der dem
Ministerium vorliegt, wird verstohlen auf einer Internetseite veröffentlicht, nicht aber dem Bundestag vorgelegt,
weil Sie Angst haben, darüber zu reden. Dort steht nämlich drin, dass jeden Tag Menschen sterben, weil die
Pflege zum Teil grausam missbraucht oder in vielen Fällen gar nicht geleistet wird. So sterben in diesem reichen
Land Menschen an Dekubita - das sind Druckgeschwüre - oder deshalb, weil sie nicht genügend zu trinken
oder zu essen bekommen. Wie kann das denn sein? Darüber müssen wir reden und nicht darüber, ob irgendwelche Versicherungen oder Kapitalstöcke aufgebaut werden müssen, die angeblich krisensicher sein sollen.
Darüber lache ich mich tot. Wo ist denn das Geld der
Kapitalstöcke, wenn es zu einem Börsencrash kommt?
({7})
- Ich habe nicht gesagt, dass der Börsencrash morgen
oder übermorgen kommt. Wenn man vorher wüsste,
wann er kommt, hätte man ja die Möglichkeit, vorzusorgen. Das ist aber nicht der Fall. Ich brauche doch Ihnen
nicht zu erklären, wie der Kapitalismus funktioniert.
({8})
Das wissen Sie doch besser als ich.
({9})
Lassen Sie uns einen vernünftigen Pflegebegriff einführen, der von Assistenz und Begleitung ausgeht und
der die Menschen aktiviert, anstatt sie zu passiven Objekten irgendwelcher Verrichtungen zu machen! Lassen
Sie uns im Parlament, in einer Enquete-Kommission,
darüber beraten, wie wir von den starren Pflegestrukturen hin zu ambulanten, wirklich freien Strukturen kommen, in denen sich Menschen entwickeln können, auch
wenn sie auf Hilfe angewiesen sind!
({10})
Dabei geht es nicht nur um alte Menschen, sondern auch
um Menschen, die schon in jungen Jahren auf Unterstützung angewiesen sind.
Ich bin gespannt, wann wir endlich - ohne ideologische Diskussionen über Kapitalstöcke zu führen - über
dieses Thema debattieren und Entscheidungen fällen, die
den Menschen wirklich helfen
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin
Dr. Carola Reimann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Baustein der sozialen Sicherungssysteme und hat sich seit
ihrer Einführung 1995 bewährt. Gut 2 Millionen Pflegebedürftige erhalten heute Leistungen aus der Pflegeversicherung. Davon werden gut zwei Drittel ambulant und
ein Drittel stationär versorgt. Es ist davon auszugehen
- das ist schon angeklungen -, dass mit der demografischen Entwicklung die Zahl der Pflegebedürftigen weiter ansteigen wird. Damit die Pflegeversicherung dieser
Entwicklung standhalten kann, müssen wir sie weiterentwickeln. Es geht dabei nicht nur um die Frage nach
einer nachhaltigen und verlässlichen Finanzierung, sondern auch um Verbesserungen und Anpassungen auf der
Leistungsseite.
Aus diesem Grund haben wir im Koalitionsvertrag
vereinbart, eine umfassende Reform der Pflegeversicherung durchzuführen. Im nächsten Jahr werden wir das in
Angriff nehmen. Das hat nichts mit Verschleppung zu
tun, Herr Lanfermann. Der Zeitplan ist sinnvoll, weil die
Gesundheitsreform, über die wir aktuell debattieren,
auch Auswirkungen auf die Pflegeversicherung hat. Dies
gilt es zu berücksichtigen; denn wir haben in der Tat
schon im GKV-WSG vorgesehen, Maßnahmen zu ergreifen, die sich positiv auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen auswirken werden. Zu nennen sind
hier beispielsweise die geriatrischen Rehabilitationsleistungen, die zu Pflichtleistungen der Krankenkassen werden - damit stärken wir den Grundsatz „Reha vor
Pflege“ -,
({0})
und die Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung. Das ist im Hinblick auf die demografische Entwicklung konsequent. Auch die Anpassung und Neudefinition des Haushaltsbegriffs ist im Zusammenhang
mit der Erbringung der häuslichen Krankenpflege nicht
gering zu schätzen. Das ist etwas, was die Leute im täglichen Leben sehr schnell erreichen wird. Das sind wichtige Elemente der aktuellen Gesundheitsreform, die auch
vielfach beklagte Abstimmungs- und Schnittstellenprobleme bei der Kranken- und der Pflegeversicherung
lösen werden.
Vor allem auf der Leistungsseite besteht Handlungsbedarf; denn seit der Einführung im Jahre 1995 sind die
Leistungen der Pflegeversicherung unverändert geblieben. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre wurden
somit von den Pflegebedürftigen getragen. Deshalb ist,
wie im Koalitionsvertrag vereinbart, eine Dynamisierung der Pflegeleistungen notwendig. Wir werden mit
der Pflegereform dafür sorgen, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ stärker als bisher zur Geltung
kommt.
({1})
Nicht zuletzt - auch das ist heute schon angemerkt
worden - müssen mit der Pflegereform Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Verbesserung der Situation
demenzkranker Menschen führen. Es bedarf dabei mittelfristig auch einer Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, gerade im Hinblick auf den besonderen
Hilfe- und Betreuungsbedarf der Demenzkranken. Darüber hinaus sind neue gesellschaftliche Entwicklungen,
zum Beispiel neue Wohnformen im Alter, zu berücksichtigen und aufzugreifen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Einsetzung des Beirates zur Entwicklung eines
neuen Pflegebegriffs durch die Gesundheitsministerin.
({2})
Ich habe schon gesagt, dass sich die Reform der Pflegeversicherung nicht auf den Leistungsbereich beschränken können wird. Wie eingangs erwähnt, wollen wir mit
dieser Reform eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung erreichen. Grundlage muss eine gerechte Verteilung der Lasten auf alle Bevölkerungsgruppen sein. Im
Koalitionsvertrag - die Stelle ist schon zitiert worden haben wir vereinbart, dass zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung
eingeführt wird. Eine gerechte Verteilung der Lasten bedeutet auch, dass Menschen mit geringem Einkommen
nicht den gleichen Betrag wie Spitzenverdiener bezahlen
können. Eine gerechte Verteilung der Lasten heißt für
uns Sozialdemokraten, dass sich die Beiträge nach der
finanziellen Leistungsfähigkeit richten. Auch in der
Pflegeversicherung gilt für uns der Grundsatz, dass die
starken Schultern mehr tragen müssen als die schwachen.
({3})
Nach der Gesundheitsreform in diesem Jahr werden
wir im nächsten Jahr das Projekt Pflegeversicherung angehen.
({4})
Natürlich gibt es in der Koalition einige offene Punkte,
gerade was die Finanzierungsfragen anbelangt. Ich bin
aber sicher, dass es uns gelingt, für die Pflege ein tragfähiges und überzeugendes Konzept vorzulegen. Ziel muss
es sein, die Pflegeversicherung auf eine stabile und verlässliche finanzielle Basis zu stellen, dabei die Lasten
gerecht zu verteilen und auf der Leistungsseite die notwendigen Anpassungen umzusetzen, die den Pflegebedürftigen zugute kommen.
Ich danke.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung der finanziellen Einnahmen der
sozialen Pflegeversicherung im ersten Halbjahr 2006 ist
zweifellos sehr erfreulich. Das wollen wir überhaupt
nicht bestreiten. Dennoch unsere Botschaft an die große
Koalition: Ruhen Sie sich bloß nicht auf diesen Zahlen
aus!
({0})
Begehen Sie nicht den kapitalen Fehler, die Pflegereform vor sich herzuschieben!
({1})
Nun wurde hier und heute von der Koalition bekräftigt - gerade noch von Frau Widmann-Mauz und auch
von der Kollegin Reimann -, dass die Reform nächstes
Jahr wirklich angepackt werden soll. Das begrüßen wir
und wir werden Sie kräftig daran erinnern; denn inzwischen kennen wir Ihre Versprechen ganz gut. Ich erinnere gerne an Ihren eigenen Koalitionsvertrag. Danach
sollten wir zu diesem Zeitpunkt nicht in einer Aktuellen
Stunde debattieren, sondern wir sollten uns hier im Plenarsaal eigentlich um die Pflegereform kümmern.
({2})
Dieses Versprechen haben Sie also schon gebrochen. In
den Hinterzimmern werden im Moment zum Teil irrwitzige Vorschläge aus Ihren Reihen diskutiert. Da fordert
zum Beispiel die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union, man solle die Pflegeversicherung komplett auf Kapitaldeckung umstellen.
({3})
- Ich stimme Ihnen zu. - Dazu soll man auch noch die
Pflegestufe I völlig abschaffen; dadurch würden unterm
Strich 4 Milliarden Euro gespart.
Es ist schlimm genug, dass ein großer Teil der Union
offenbar überhaupt keinen Wert auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit legt. So viel sage ich zu den leeren
Parolen, die Sie in Dresden gepredigt haben.
({4})
Aber noch schlimmer ist: Die Koalition verheddert
sich schon wieder - genau wie bei der Gesundheitsreform - in Finanzdebatten. Damit reden Sie auf ganzer
Linie an unseren wirklichen Problemen vorbei.
({5})
Genau das will kein Mensch in diesem Land mehr hören.
({6})
Ich höre von Ihnen nichts darüber, was für eine Pflege
Sie eigentlich wollen. Ich höre von Ihnen nichts über Inhalte und Strukturen. Ich höre von Ihnen auch nichts
über die Sorgen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.
({7})
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte eine
nachhaltige und gerechte Finanzierung der Pflegeversicherung für sehr wichtig. Wir Grünen plädieren mit der
Bürgerversicherung und der kollektiven Demografiereserve für ein sozial gerechtes und nachhaltiges Modell.
({8})
Aber glauben Sie denn allen Ernstes, dass sich die
Probleme der pflegerischen Versorgung in Luft auflösen,
wenn Sie hier irgendein Konsensmodell zur Finanzierung auftischen? Wir brauchen ein Konzept, aus dem
hervorgeht, wie Pflege in unserer älter werdenden Gesellschaft aussehen kann. Jeder, auch Sie hier, stellen
sich doch die Frage: Wie kann ich in dieser Gesellschaft
in Würde altern und wie werde ich später Pflege erfahren?
Dazu brauchen wir geeignete Strukturen: Wir brauchen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Wir
brauchen Case- und Care-Management. Wir müssen viel
mehr Angebote für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf machen. Meine lieben Herren Abgeordneten, in diesem Bereich sind ausdrücklich die Männer angesprochen. Machen wir uns nichts vor: Die Töchter und
Schwiegertöchter sind momentan der größte Pflegedienst der Nation.
({9})
Wir brauchen keine Wiederholung der Parole „Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen“. Transportieren Sie dies endlich bitte auch in Ihre Reihen!
Pflegende Angehörige brauchen dringend Entlastung.
Wir müssen die Trennung zwischen „ambulant“ und
„stationär“ beseitigen. Wir müssen die Verbraucherrechte stärken usw. Es gibt viel zu tun; wir müssen es nur
endlich anpacken.
Unsere Vorschläge liegen offen auf dem Tisch. Wir
haben unser Eckpunktepapier „Pflege menschenwürdig
gestalten“ im September vorgelegt. Darin sind einige
sehr gute Vorschläge enthalten.
({10})
Wir hatten letzte Woche ein öffentliches Fachgespräch
- ich betone: öffentlich -, in dem zahlreiche Expertinnen
und Experten uns bestätigen konnten, dass wir Grünen
uns auf den richtigen Weg begeben haben.
Wir werden weiter diskutieren und wir werden an der
Verbesserung unserer Vorschläge arbeiten. Außerdem
werden wir nicht rasten und nicht ruhen, wenn es darum
geht, Ihnen unsere Erkenntnisse mitzuteilen. Setzen Sie
sich mit einer umfassenden Reform der Pflegesicherung
endlich auseinander! Hier nur von „Pflegeversicherungsreform“ zu sprechen, greift einfach zu kurz.
({11})
Kommen Sie endlich aus den Hinterzimmern heraus!
Führen Sie endlich eine offene Diskussion und tauschen
Sie sich mit den entsprechenden Akteuren aus!
Frau Widmann-Mauz, Sie haben eben so schön von
einer Roadmap gesprochen. Gehen Sie mit dieser
Roadmap endlich auf öffentliche Plätze und Straßen und
erzählen Sie den Menschen, was Sie wollen!
({12})
Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir haben
überhaupt kein Interesse an einer weiteren Show wie bei
der Anhörung zur Gesundheitsreform: Alles ist abgekartet und wir werden im Grunde genommen nur noch vor
vollendete Tatsachen gestellt.
({13})
Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir fordern
Sie auf, dafür endlich zu sorgen.
({14})
Danke.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Willi Zylajew für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Finanzierung der Pflegeversicherung war bereits
20 Jahre vor ihrer Einführung ein - vor allen Dingen für
die FDP-Fraktion - wichtiges Thema. Herr Lanfermann,
wir, die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP, haben dies in den Jahren 1993/94 gemeinsam auf einen
vernünftigen Weg gebracht.
({0})
- Dazu muss ich Ihnen sagen, Herr Lanfermann: Ein Koalitionspartner, mit dem ich ordentlich verhandeln kann,
ist mir natürlich lieber als jemand, der sich erpressen
lässt. Sie enttäuschen mich.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt enttäuschen Sie
mich ein bisschen und bringen mich aus dem Konzept.
Ich habe bisher gedacht, dass Sie zu dem stehen, was wir
seinerzeit vernünftig verabredet haben.
({2})
- Ich kenne die Unkenrufe.
Wir müssen sehen, dass die Pflegeversicherung für
die Menschen im Lande qualitativ und quantitativ Enormes erreicht hat.
({3})
Ohne diese Pflegeversicherung hätte es weder den guten
fachlichen Ausbau noch den Aufbau von Strukturen und
Netzen gegeben, wie wir sie heute haben.
({4})
Ohne die Pflegeversicherung wäre das undenkbar gewesen. Ich frage mich, liebe Bedenkenträger aus den 90erJahren:
({5})
Wo wären wir heute, hätten wir nicht mit der Pflegeversicherung Beispielhaftes geschaffen?
Keine Frage: Wir müssen die Pflege weiterentwickeln; ganz eindeutig. Nach elf Jahren ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Wir müssen auch mehr tun, als nur
über die Finanzierung nachzudenken. Wir haben letztlich die Aufgabe, die Standards zu erhalten und weiterzuentwickeln. Heute ist die Situation teilweise eine andere. Wir haben noch keine Antwort auf das Problem des
Umgangs mit Dementen gefunden. Wir haben noch
keine Antwort mit Blick auf neue Wohnformen gefunden. Wir haben noch keine abschließende Antwort auf
die Frage gefunden, wie wir ambulante und stationäre
Angebote vernünftig kombinieren. All dies werden wir
angehen. In einem Jahr werden wir hier stehen und Ihnen eine Antwort dazu anbieten. Der können Sie dann
zustimmen oder Sie können wieder blockieren.
Es war Frau Dr. Babel,
({6})
die am 21. Oktober 1993 gesagt hat: Die Umlagefinanzierung ist nicht der Weg der FDP.
({7})
- Aber ihr habt zugestimmt!
({8})
Der verehrte Graf Lambsdorff hat am 22. April 1994
dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss nicht zugestimmt und gesagt: Das funktioniert nicht.
({9})
Kollegen, elf Jahre haben wir die Pflegeversicherung!
Das ist die einzige Versicherung, die ohne weitere Bundesmittel, ohne höhere Bundesmittel auskommt.
({10})
Die Pflegeversicherung ist neben der Unfallversicherung
auch die einzige Versicherung, die keine Beitragssatzerhöhung erlebt hat. Bei allen anderen gab es das. Über
elf Jahre also eine prächtige Leistung!
({11})
- Kollegen, vorsichtig! Ihr habt doch selbst gesagt, dass
die Entwicklung in diesem ersten Halbjahr 2006 positiv
war. Nun haben Sie doch einmal Geduld!
Liebe Kollege Bahr, wir möchten letztlich - da ist die
Koalitionsvereinbarung ganz klar - eine solidarische
Versicherung, die in den nächsten Jahren die Grundleistungen solidarisch finanziert. Wir möchten, dass gerade
Ihre Generation, Herr Kollege Bahr, zusätzlich eine Versicherungspolice in der Hand hat, die einen Beitrag zur
Absicherung der Kosten im Pflegefall leisten kann. Darauf werden wir hinarbeiten. Ich hoffe sehr, dass uns die
FDP dabei ein Stück begleiten wird.
Herr Dr. Seifert, bei allem Respekt vor Ihrer Person ich habe mich in Deutschland im Pflegebereich ein bisschen umgeschaut. Sozialistische Modelle, die etwas erbracht haben, was mit dem, was wir haben, auch nur vergleichbar wäre, habe ich nicht gefunden, auch in keinem
Nachbarland. Seien Sie mir also nicht böse, wenn ich
sage: Ihr Weg kann uns schlichtweg nicht begeistern.
({12})
Ich will zum Schluss sagen, dass sich die Kollegin
Scharfenberg und die Grünen keine Sorgen zu machen
brauchen. Wir ruhen uns nicht aus. Wir werden hier Besseres leisten. Die FDP kann ich nur bitten, in den Ländern, wo sie noch Mitverantwortung trägt, einen Beitrag
dazu zu leisten, dass die Pflege besser wird.
In einem Jahr, denke ich, werden wir dazu Vernünftiges vorlegen. Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit bis zu
diesem Zeitpunkt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({13})
Nächster Redner ist nun der Kollege Daniel Bahr für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
So richtig es ist, dass es in Deutschland eine Pflegeversicherung gibt, so verfehlt war es, eine solche
Versicherung noch im Jahr 1995, als bereits alle
Konsequenzen der Bevölkerungsalterung für die
umlagefinanzierten Systeme bestens bekannt
waren … als ein … nach dem Umlageverfahren
finanziertes System zu etablieren.
({0})
Das ist ein wortwörtliches Zitat aus dem Gutachten des
Sachverständigenrats.
Meine Damen und Herren, das war die Befürchtung,
die die FDP damals, im Jahre 1994, hatte. Natürlich war
das damals eine Erpressung durch die CDU/CSU, eine
Erpressung ihres damaligen Koalitionspartners FDP.
({1})
- Sie können jetzt alle protestieren. - Man sollte sich
einmal damit beschäftigen und überlegen, ob man da
möglicherweise einen Fehler gemacht hat. 1994 gab es
mahnende Worte, übrigens aus Ihrer Partei genauso. Fragen Sie einmal den Kollegen Herrn Biedenkopf!
({2})
Damals wurde befürchtet, dass wir genau das erleben
werden, was wir jetzt erleben, dass nämlich zehn Jahre
nach Einführung der Pflegeversicherung die Defizite so
zunehmen werden, dass wir vor der Frage stehen: Muss
der Beitragssatz nicht weiter erheblich steigen?
Herr Blüm hat damals gesagt: Nein, das müsse nicht
passieren. Das sei kein Problem. Es gab große Versprechen, was die Pflegeversicherung alles leisten würde.
Wir wussten schon damals, dass es angesichts der Alterspyramide der Bevölkerung ein Fehler ist, auf ein
Umlageverfahren zu setzen. Das haben wir jetzt auch.
Sie retten sich, Frau Widmann-Mauz, nur mit Einmaleffekten.
({3})
- Natürlich. Ich erinnere an die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils aus dem letzten Jahr, den Zusatzbetrag für Kinderlose. Das bringt einen Sondereffekt, eine Zusatzeinnahme von 700 Millionen Euro
jedes Jahr. Das verbessert die Finanzen kurzfristig. Ohne
das wären die Defizite viel höher.
({4})
Das Zweite: Der 13. Sozialversicherungsbeitrag, den
Rot-Grün eingeführt hat, verbessert in den ersten beiden
Quartalen dieses Jahres die Finanzlage der gesetzlichen
Pflegeversicherung um etwa 800 Millionen Euro. Das
wird sich aber im Laufe des Jahres ausgleichen. So
kommt der Bericht der Bundesbank zu dem Schluss,
dass damit zu rechnen ist, dass zum Ende des Jahres das
Defizit in der Pflegeversicherung, um diesen Einmaleffekt bereinigt, genauso hoch sein würde wie im letzten
Jahr, nämlich 365 Millionen Euro.
Das heißt, all das, was Sie machen, hilft allenfalls
kurzfristig, das Defizit einigermaßen zu dämpfen, aber
es löst überhaupt nicht die finanziellen Probleme der
Pflegeversicherung.
({5})
Die Rücklagen, lieber Kollege Zylajew, die zu Beginn
der Pflegeversicherung gebildet worden sind - die Leistungen wurden ein halbes Jahr
({6})
später ausgezahlt -, schmilzen wie das Eis in der Sonne.
Denn wir werden voraussichtlich schon Ende des
Jahres 2007 ein Unterschreiten der Mindestreserve haben. Dann werden wir wieder vor der Frage stehen, was
wir machen müssen. Muss man die Beiträge erhöhen?
Da hilft auch die Idee, die von der linken Seite dieses
Hauses immer kommt, jetzt müsse man nur die Einnahmebasis verbreitern, indem man die Privaten verpflichte,
auch in die soziale Pflegeversicherung einzuzahlen,
nicht weiter. Das würde Ihnen kurzfristig wieder helfen,
keine Frage. Kurzfristig würden Sie die Defizite damit
senken. Aber was machen Sie denn in ein paar Jahrzehnten, wenn wir eine Verdreifachung der Anzahl der Pflegebedürftigen gegenüber heute,
({7})
aber nur noch zwei Drittel der Beitragszahler im Vergleich zu heute haben? Da kommen Sie um die Wahrheit
nicht herum. Natürlich werden die Kosten steigen. Natürlich wird für jeden Einzelnen von uns in Deutschland
- ich finde, wir sollten alle so ehrlich sein - der Aufwand für Vorsorge für Pflege, für Vorsorge für Gesundheit und für Vorsorge für das Alter steigen müssen.
({8})
Die Altersentwicklung werden Sie auch nicht wegreformieren können, wenn Sie immer mehr Ältere und
immer weniger Junge haben. Aber da liegt der Unterschied. Dann sollten wir uns darüber Gedanken machen,
jetzt Vorsorge zu treffen, heute einen Kapitalstock für
die steigenden Kosten im Alter aufzubauen, heute den
Einstieg zu wagen.
({9})
- Ich möchte einmal die Vorschläge sehen. - Meinen Sie
ernsthaft, Frau Widmann-Mauz, dass mit diesen 6 Euro
Zusatzbeitrag wirklich der Aufbau eines Kapitalstocks
erreicht wird? Glauben Sie wirklich, dass Ihr Vorschlag,
einen Finanzausgleich zwischen dem System der Privatversicherten, das immerhin einen Kapitalstock von
13 Milliarden Euro für die Pflege aufgebaut hat,
({10})
und der sozialen Pflegeversicherung vorzunehmen, nachhaltiger ist? Mitnichten ist das eine nachhaltigere Finanzierung. Sie bedienen sich derer, die einen Kapitalstock
aufgebaut haben, um aufgrund der aktuellen Probleme
der Umlageversicherung Löcher zu stopfen, meine Damen und Herren.
({11})
Jetzt wird von Verbesserungen auf der Leistungsseite
gesprochen. Natürlich müssen wir mehr tun angesichts
der steigenden Kosten durch Demenz bei älteren Menschen.
({12})
Natürlich müssen wir zu einer Dynamisierung der Leistung kommen. Sonst würde das die Pflegeversicherung
gänzlich infrage stellen. Aber, meine Damen und Herren, eines darf man nicht machen: Vollmundig Leistung
versprechen und sich keine Gedanken darüber machen,
wie sie finanziert wird. Der Schritt muss andersherum
gehen: Zunächst muss geklärt sein, wie die Finanzierung
für die leistungsfähige Pflege aussieht.
({13})
Erst danach können wir uns über Leistungsverbesserungen unterhalten. Man kann nicht vollmundig Leistungen
versprechen und nicht sagen, wie man sie finanzieren
will. Das ist unseriös und unehrlich, meine Damen und
Herren.
({14})
Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Marion
Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die von der FDP beantragte Aktuelle Stunde trägt den
Titel „Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung“.
Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass Sie auch die wahren Zahlen zur finanziellen Situation der Pflegeversicherung genannt hätten, Herr Bahr.
({0})
Ich möchte sie an dieser Stelle noch einmal nennen, damit wir auch wissen, worüber wir reden: Aus der augenblicklichen Situation ergibt sich, dass wir bis Ende des
Jahres einen Überschuss in Höhe von circa 300 bis
400 Millionen Euro haben werden. Das ist auf drei Effekte zurückzuführen:
Erstens auf den Einmaleffekt, dass in diesem Jahr
13 statt zwölf Beiträge gezahlt wurden.
({1})
Zweitens auf das Anziehen der Konjunktur; diesen
Effekt sieht man ja zurzeit sehr deutlich. Das heißt, wir
haben über das ganze Jahr verteilt systematisch jeden
Monat einen Überschuss von über 1 Prozent in der Pflegeversicherung erzielt, weil endlich wieder die Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse
zunimmt.
({2})
Das ist doch ein positives Zeichen, dass die sozialen Sicherungssysteme ein Stück weit entlastet werden.
Der dritte Effekt, der zur positiven Situation in der
Pflegeversicherung beigetragen hat, liegt darin begründet, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich geringer als prognostiziert angestiegen ist. Mitte dieses Jahres
hatten wir nur rund 23 000 Pflegebedürftige mehr als ein
Jahr zuvor. Diese Zahl liegt niedriger als prognostiziert.
Deshalb sind die Ausgaben in diesem Jahr in den ersten
neun Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum auch
nur um 1,2 Prozent angestiegen.
Die Aktuelle Stunde, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der FDP, wäre also gar nicht nötig gewesen,
({3})
denn eigentlich haben wir bis zum Jahresende eine gute
Situation.
({4})
- Herr Kollege Lanfermann, Gott sei Dank braucht dazu
die Bundesregierung Ihre Zwischenrufe nicht.
({5})
Wir haben uns bereits in der Koalitionsvereinbarung
darauf verständigt, eine Reform der Pflegeversicherung
vorzunehmen. Wir haben dabei auch die Steigerung der
Ausgaben und Leistungsverbesserungen erwähnt.
Die Kolleginnen und Kollegen haben es Ihnen in ihren Reden doch aufgezeigt: Wir wollen Verbesserungen
für Demenzkranke. Wir werden sie umsetzen.
({6})
Wir wollen eine Dynamisierung der Leistungen. Auch
diese werden wir umsetzen.
({7})
Wir wollen eine „Pflegezeit“ einführen. Hierzu haben
wir bereits die ersten Vorgespräche geführt und haben
uns darauf geeinigt, dass wir einen Rechtsanspruch auf
Pflegezeit einführen. Frau Kollegin Scharfenberg hat ja
Recht: Natürlich leisten vor allen Dingen die Frauen, die
Töchter und Schwiegertöchter, die häusliche Pflege. Um
diese zu stärken, ist die Einführung einer Pflegezeit
überfällig.
({8})
Auch das ist eine richtige Maßnahme, auf die sich die
Koalition schon in der Koalitionsvereinbarung verständigt hat.
Wir geben auch Antworten darauf, wie das Ganze finanziert werden soll. Auch das haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, nicht dargestellt. Wir wollen nämlich erstens eine Demografiereserve aufbauen
- das steht in der Koalitionsvereinbarung und wurde Ihnen von der Kollegin Widmann-Mauz noch einmal erläutert - und zweitens wollen wir, dass vonseiten der privaten Pflegeversicherung ein Ausgleich bezahlt wird.
Wir machen das nicht, um anderen etwas wegzunehmen,
sondern deshalb, weil das Pflegerisiko in den beiden
Systemen unterschiedlich verteilt ist, obwohl am Ende
genau die identischen Leistungen erbracht werden.
({9})
Wenn diese Feststellung im Prinzip stimmt, dann kommt
man nicht umhin, einen Ausgleich vorzunehmen. Es ist
aber ausdrücklich festgehalten worden, dass man nicht
an die Reserve, die aufgebaut wurde, herangeht. Deswegen ist es unredlich, wenn von Ihrer Seite immer wieder
die Unwahrheit gesagt wird.
({10})
Trotz der günstigen Finanzentwicklung, aufgrund der
der Beitragssatz bis 2008 für das derzeitige Leistungsspektrum ausreichen würde, haben wir gesagt, eine Pflegereform ist überfällig.
({11})
Deswegen werden wir sie im Zeitplan umsetzen. Es war
immer verabredet, dass die Pflegereform der Reform in
der Krankenversicherung folgt.
({12})
Das macht ja auch Sinn, weil wir uns mit vielen Schnittstellen bereits jetzt auseinander zu setzen haben.
Ich will Ihnen an dieser Stelle noch eines ins Stammbuch schreiben: Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das Sie so sehr bekämpfen,
({13})
enthält bereits ganz konkrete Verbesserungen zur Schnittstelle Pflege. Wenn Sie also eine Verbesserung der Pflege
wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
müssen Sie dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eigentlich zustimmen.
({14})
Vorhin wurde so schön gesagt, wir sprächen gar nicht
über die Inhalte der Pflege, sondern nur über die Finanzierung. Hier geht es jetzt um die Inhalte.
Erstens. Wir haben ernst gemacht: Rehabilitation soll
vor Pflege gehen. Die geriatrische Reha wird eine
Pflichtleistung. Das bedeutet eine konkrete Verbesserung der Pflegesituation; das ist etwas, worauf die Pflegebedürftigen lange gewartet haben.
({15})
Wir haben zweitens - damit greifen wir eine langjährige Forderung aus der Pflegeszene auf - vorgesehen,
dass auch Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sich in
Zukunft an der integrierten Versorgung beteiligen können. Auch das bedeutet eine konkrete Verbesserung.
Drittens verbessern wir das Entlassmanagement nach
Krankenhausaufenthalten klar. Denn es ist doch ein Ärgernis, wenn das Krankenhaus nicht mit den pflegerischen Einrichtungen kooperiert und wir dadurch vielerorts Drehtüreffekte haben. Wir sorgen hier für eine
erneute Klarstellung und schaffen einen Rechtsanspruch.
Aber, Kolleginnen und Kollegen, da sind wir alle gefordert; das muss vor Ort auch umgesetzt werden.
({16})
Hier gibt es vieles, was im Moment im Argen liegt. Deshalb müssen wir einfordern, dass die Krankenhäuser sich
schon bei der Einweisung der Patientinnen und Patienten
darum kümmern, was nach der Entlassung mit ihnen geschieht, und ein vernünftiges Entlassmanagement organisieren.
Wir sollen viertens, dass - das wurde vorhin vom
Kollegen Seifert angesprochen - Wohngemeinschaften
und betreutes Wohnen in vielen Fällen dazu genutzt werden können, zum Beispiel eine Heimunterbringung zu
ersetzen. Bislang war es so, dass der Häuslichkeitsbegriff nicht in jedem Fall häusliche Krankenpflege und
andere Leistungen ermöglichte. Da machen wir jetzt
ernst und verändern den Häuslichkeitsbegriff so, dass in
Zukunft auch betreutes Wohnen häusliche Krankenpflege organisieren kann. Auch das ist eine Schnittstelle,
an der Handeln überfällig ist. Das finden Sie ebenfalls in
unserem aktuellen Gesetzentwurf.
Eine fünfte Verbesserung. Mit unserem Gesetzentwurf werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass
Heimbewohner mit einem besonders hohen behandlungspflegerischen Bedarf, zum Beispiel Wachkomapatienten, den Anspruch auf häusliche Krankenpflege im
Heim behalten. Auch das ist eine wichtige Schnittstellenverbesserung.
({17})
Der sechste Punkt bezieht sich auf eine alte Forderung der Hospizbewegung, nämlich dass Betäubungsmittel in Hospizen und Heimen weiterverwendet werden
können. Wir leisten uns in diesem Land bei Arzneimitteln und Medikamenten eine unglaubliche Verschwendung. Auch da nehmen wir jetzt Veränderungen an der
Schnittstelle vor, und zwar in der richtigen Reihenfolge.
Siebtens korrigieren wir die Rechtsprechung im Sinne
der schwerst geistig behinderten Heimbewohner. Ich
finde es, Kolleginnen und Kollegen, wirklich nicht in
Ordnung, dass das Bundessozialgericht in seinem Urteil
schwerst geistig behinderten Heimbewohnern, die nicht
mehr am Gemeinschaftsleben teilnehmen können, wie es
so schön formuliert ist, den Rollstuhl verweigert hat.
({18})
Dadurch sind Menschen zum Objekt der Pflege geworden. Es ist eigentlich schlimm, dass es nötig ist, das gesetzgeberisch klarzustellen. Wir tun das; denn für uns
sind Menschen kein Objekt der Pflege.
({19})
Sie sind nicht Betreute, sondern müssen auf gleicher Augenhöhe wahrgenommen werden.
Deswegen: ganz konkrete Leistungsverbesserungen
für die Pflege im aktuellen Gesetzentwurf, die klare finanzielle Prognose für dieses Jahr, dass wir mit einem
Plus zwischen 300 und 400 Millionen Euro abschließen,
und die Pflegereform im nächsten Jahr. Ich freue mich
auf Ihre konstruktiven Beiträge, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der FDP;
({20})
denn dazu hört man im Moment noch sehr wenig.
({21})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung hat sich insgesamt bewährt.
Dennoch steht sie vor großen Herausforderungen. Herr
Kollege Bahr, deswegen führen wir eine grundlegende
Reform der Pflegeversicherung durch.
({0})
Eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ist
notwendig, nicht nur wegen der Finanzierung, sondern
auch wegen der Leistungsseite. Die Kritik richtet sich
vor allem gegen die bürokratischen Regelungen, gegen
die scharfe Trennung zwischen Pflegekasse und Krankenkasse und gegen Qualitätsmängel.
Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass im
Rahmen einer zukunftsgerechten Gestaltung der Pflegeversicherung zwei Punkte im Vordergrund stehen:
erstens Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung, Herr Kollege Bahr, und zweitens Verbesserungen auf der Leistungsseite. Dabei soll der Grundsatz
„Ambulant vor stationär“ gestärkt werden.
Mit der Gesundheitsreform werden bereits wesentliche Verbesserungen für Pflegeleistungen erreicht. Der
Leistungsanspruch auf Palliativversorgung aus der Krankenversicherung und der Ausbau der integrierten Versorgung für die Pflege schwerstkranker Menschen sind besonders wichtig. Damit wird eine ganzheitliche
pflegerische und medizinische Begleitung und Unterstützung von sterbenden Menschen und deren Angehörigen ermöglicht. So ist es auch möglich, den Wunsch vieler Menschen zu erfüllen, bis zum Tod in ihrer vertrauten
häuslichen Umgebung bleiben zu können.
({1})
Mit der Gesundheitsreform wird in Form der integrierten Versorgung auch eine bessere Zusammenarbeit
zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung sowie zwischen Pflegekräften und Hausärzten möglich.
Der künftige Anspruch auf geriatrische Reha kann Pflegebedürftigkeit vermeiden oder zumindest eine Verschlechterung des Zustandes verhindern. Wer alt ist und
einen Unfall erleidet, muss nicht pflegebedürftig werden.
In der Vergangenheit gab es zahlreiche Klageverfahren, weil Krankenkassen die Bezahlung von Hilfsmitteln
für Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen verweigerten. Dank der Gesundheitsreform werden in Zukunft
auch an Demenz erkrankte und schwerstpflegebedürftige
Heimbewohner einen Anspruch auf einen Rollstuhl oder
andere individuell benötigte Hilfsmittel haben. Ich bin
sehr froh darüber, dass es entgegen der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts von 2004 Menschen durch diesen künftigen Leistungsanspruch ermöglicht wird, am
Leben der Gemeinschaft, soweit es noch geht, teilzunehmen. Gerade bei Demenzkranken war die Ablehnung der
Kostenübernahme für Rollstühle entwürdigend und diskriminierend.
({2})
Im Übrigen wird es aufgrund der Pflegereform in Zukunft möglich sein, dass der Betreuungsbedarf Demenzkranker durch die Pflegeversicherung besser berücksichtigt wird.
Wer sich mit dem Thema Pflege auseinander setzt,
stellt fest: Es besteht dringender Handlungsbedarf zur
Entlastung der Leitungs- und Pflegekräfte in den Heimen. Die Altenheime wurden überwiegend zu Pflegeheimen. Es gibt dort kaum noch Rüstige. Die Bürokratie
muss abgebaut werden, damit die Qualität von Betreuung und Pflege in der Zukunft gesichert ist. Arbeitszeitmessungen zeigen, dass lediglich 40 bis 55 Prozent der
Arbeitszeit von Pflegekräften direkt für und mit den
Heimbewohnern verbracht werden. Die übrigen Zeiten
müssen für Kontroll-, Verwaltungs- und Dokumentationspflichten aufgewendet werden. Das muss geändert
werden.
({3})
Angesichts der berechtigten Klagen hat die Unionsfraktion in der letzten Legislaturperiode unter Führung
der Arbeitsgruppe Familie wichtige Forderungen zum
Bürokratieabbau in Heimen in den Bundestag eingebracht. Die große Koalition hat sich diese Forderungen
zu Eigen gemacht und im Koalitionsvertrag eine Novellierung des Heimgesetzes vereinbart. Durch die Föderalismusreform ist es nun Sache der Länder, diese Forderungen umzusetzen. Es gibt aber genügend Punkte, wo
auch der Bund gefragt ist, zum Beispiel bei der Harmonisierung widersprüchlicher Regelungen zwischen
Heimgesetz und SGB XI. Dies müssen wir anpacken.
Eine gute Pflege hängt nicht davon ab, wie viele Formulare ausgefüllt werden, sondern ob sich die Menschen
wohl fühlen.
({4})
Zum Schluss danke ich allen, die hilfsbedürftige
Menschen pflegen; dies ist keine leichte Aufgabe. Herr
Kollege Seifert, sie wird überwiegend gut gemacht und
verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung. Anerkennung verdienen auch die vielen Ehrenamtlichen,
die den Pflegebedürftigen zum Beispiel in Besuchsdiensten das Leben erleichtern und lebenswerter machen.
Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Baustein der
sozialen Versicherungssysteme. Mit der kommenden Reform werden wir die Herausforderungen der Zukunft
meistern. Sie alle sind aufgefordert, dabei mitzumachen.
({5})
Nun hat das Wort die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Solange ich im Bundestag über Pflege und Pflegeversicherung diskutiere, höre ich von der FDP immer nur die
Schlagworte „Entbürokratisierung“ und „kapitalgedeckte Pflegeversicherung“.
({0})
Beides ist, glaube ich, nicht zielführend. Das Thema
Entbürokratisierung ist zwar wichtig; aber Ihre Vorschläge beinhalten immer einen bürokratischen Wust.
({1})
Das Thema Finanzierung geht für Sie immer mit Entsolidarisierung einher. Sie rücken von dem solidarischen
Gedanken deutlich ab und meinen, mit der Kapitaldeckung ein Sicherungssystem zu haben, das für die kommenden Generationen ein Gewinn sei.
({2})
Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie entsprechende Gutachten
nachlesen, stellen Sie fest, dass das einzig Stabile ein
umlagefinanziertes System ist.
({3})
Das wollen wir auf jeden Fall ausbauen.
({4})
Wir wollen die Pflegeversicherung reformieren. Es
geht um Strukturreformen; wichtige Punkte sind in diesem Zusammenhang genannt worden. Wir wollen
({5})
den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ umsetzen. Wir
wollen
({6})
eine Dynamisierung der Leistungen; denn es ist klar,
dass die Leistungen, die man beanspruchen kann, seit
Einführung der Pflegeversicherung deutlich - um weit
mehr als 13 Prozent - gesunken sind.
({7})
Wir wollen selbstverständlich Leistungen für Menschen
mit Demenz.
Das alles ist, glaube ich, unstrittig hier im Haus. Das
habe ich aber von Ihrer Seite noch nie gehört.
({8})
Von daher bitte ich Sie einfach, sich an der Diskussion
über Strukturreformen zu beteiligen. Wir müssen deutlich machen, dass es dabei darum geht, die Lebensqualität der Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, deutlich zu
stärken.
({9})
Selbstverständlich geht das nur über eine Finanzierungsreform. Dazu finden Sie in unserem Koalitionsvertrag
deutliche Hinweise.
Da Sie die private Pflegeversicherung immer wieder
anführen, muss man sagen, dass die private Pflegeversicherung natürlich wesentlich geringere Risiken versichert.
({10})
Sie wissen, dass in der privaten nur 1,3 Prozent der Versicherten Leistungen beanspruchen;
({11})
in der gesetzlichen sind es mehr als doppelt so viele. Von
daher sind die Ausgaben der privaten Pflegeversicherung deutlich geringer.
Was die gesetzliche Pflegeversicherung anbelangt,
beträgt der durchschnittliche Leistungsanspruch pro Versicherten 240 Euro. Dieser Betrag liegt bei den privaten
Pflegeversicherungen deutlich darunter. Vollversicherte
bekommen ungefähr 85 Euro.
({12})
Dieser Punkt darf aber nicht zu dem Schluss führen, alles auf eine private Säule zu stellen, sondern darauf, dass
die Risiken ordentlich zu verteilen sind
({13})
und dass es einen Ausgleich zwischen den privaten Versicherungen und der solidarisch gesetzlichen Pflegeversicherung geben muss.
Ich bin davon überzeugt, dass wir, die große Koalition, den richtigen Weg einschlagen werden. Es geht darum, die Finanzierung auf so sichere Beine zu stellen,
dass das unterstrichen wird, was die Pflegeversicherung
heute auszeichnet. Sie hat eine hohe Akzeptanz in der
Bevölkerung.
({14})
Warum? Weil die Leute genau wissen, dass sie sich in einer Situation, in der sie abhängig sind, weil sie nämlich
pflegebedürftig sind, der Unterstützung und Solidarität
der Gemeinschaft sicher sein können. Dieser Punkt
zeichnet die soziale Pflegeversicherung aus und deswegen sagen die Menschen: Es lohnt sich, da einen Beitrag
zu bezahlen.
Wir werden in der großen Koalition im Anschluss an
die Gesundheitsreform die Pflegereform angehen.
({15})
Das bedeutet nicht, dass wir bisher dazu nichts unternommen hätten. Ich begrüße es sehr, dass das Ministerium einen Beirat einberufen hat, der sich um eine wichtige Grundlage kümmern soll: Er soll nämlich die
Pflegebegriffsdefinition überarbeiten, weil bisher nur
unzureichende Pflegebegriffsdefinitionen vorliegen, die
ein weites Spektrum der sozialen Betreuung nicht abdecken.
({16})
Von daher begrüße ich das sehr.
({17})
Ich bin davon überzeugt, dass wir in der großen
Koalition, was die Finanzierungsreform anbelangt, den
Menschen Sicherheit verschaffen und, was die Strukturreform anbelangt, wichtige Dinge auf den Weg bringen
können.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Hermann-Josef Scharf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einführung der Pflegeversicherung vor elf Jahren hat viele pflegebedürftige Menschen vor der Sozialhilfe bewahrt. Das
ist ein Erfolg, der Tenor unserer weiteren Verhandlungen
sein muss.
({0})
Die auch damals schon längst überfällige Entscheidung,
eine Versicherung für den Pflegefall im Alter abzuschließen, werden wir weiterhin fördern.
Wir werden jedoch die finanzielle Belastung auf breitere Schultern verteilen müssen. Die rein umlagefinanzierte Pflegeversicherung muss durch eine kapitalgedeckte private Zusatzversicherung ergänzt werden.
({1})
Wir als Union schlagen ein Modell vor, das einen monatlichen Beitrag unabhängig vom Einkommen vorsieht.
Der deutsche Schriftsteller Peter Bamm hat einmal
formuliert - ich zitiere -:
Im Grunde genommen haben die Menschen nur
zwei Wünsche, alt zu werden und jung zu bleiben.
Wenn man die Altersstruktur unserer Bevölkerung betrachtet, sieht man: Es geht zumindest einer der Wünsche in Erfüllung, nämlich älter zu werden.
({2})
Was den zweiten Wunsch, nämlich jung zu bleiben, anbelangt, so bedarf es dazu noch erheblicher politischer
und gesellschaftlicher Anstrengungen.
Der im Recht der Pflegeversicherung beschriebene
Grundsatz „Prävention und Rehabilitation vor Pflege“
muss noch stärker berücksichtigt werden. Denn auch
wenn wir uns Gedanken über die Einnahmeseite machen
müssen, darf die Ausgabenseite nicht weiter steigen.
Eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen ist die stark zunehmende Altersdemenz. In Deutschland leben heute allein etwa 1 Million, im Jahr 2030 voraussichtlich über 2 Millionen Menschen unter uns, bei
denen die Diagnose Demenz zutrifft.
({3})
Die Grundlagenforschung ringt darum, zu verstehen, wie
Demenz entsteht. Wir hoffen auf wirksame Medikamente, die uns vor Demenz schützen, ihre Symptome beeinflussen oder gar eine Heilung versprechen. Noch allerdings ist dies eine sehr vage Hoffnung. Eine
frühzeitige Diagnose wird als entscheidende Voraussetzung für eine längerfristig erfolgreiche Therapie angesehen. In diesen Fällen kann die Behandlung früh
einsetzen und der Eintritt der Pflegebedürftigkeit hinausgeschoben werden.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass die medizinischen
Dienste in ihren Gutachten nicht nur Auskunft über die
Pflegestufe erteilen; die Gutachten sollten auch Aussagen dazu enthalten, welche geeigneten Rehabilitationsmaßnahmen im Einzelfall anzuwenden sind. Den Krankenkassen obliegt dann die Pflicht, das Verfahren zur
Einleitung einer Rehamaßnahme in Gang zu setzen. Die
meisten pflegebedürftigen Menschen wünschen, in ihrer
häuslichen Umgebung bleiben zu können. Um beide
Komponenten miteinander zu verbinden, haben wir die
gesetzliche Krankenversicherung im Gesetzentwurf zur
Gesundheitsreform verpflichtet, Leistungen der geriatrischen Rehabilitation als Pflichtleistung zu erbringen.
({4})
Dieser Schritt wird die Situation vieler älterer Menschen erheblich verbessern. Diese Versorgungsstrukturen stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn die Pflegebedürftigkeit ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat.
Dann kommt es meist zur Übernahme intensiver Pflegeaufgaben durch die Familie. Zwei von drei Pflegebedürftigen werden von Familienangehörigen betreut.
({5})
Viele pflegen ihre Angehörigen oft bis an die Grenzen
ihrer körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit.
Deshalb freue ich mich, dass die schon im Jahr 2002
vom Saarland gestartete Initiative zur Einführung einer
Pflegezeit nun auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Mit
der Einführung einer Pflegezeit wird die Vereinbarkeit
von Beruf und Pflege wesentlich verbessert. Das dient
den Frauen.
({6})
Auch bei der Reform der Pflege werden wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreifen müssen. Die
CDU/CSU-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass wir
die Pflegeversicherung auf eine nachhaltige Finanzierungsgrundlage stellen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Pflege von bedürftigen Menschen immer
auch eine Aufgabe unseres Herzens bleiben wird.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Margrit Spielmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind es mittlerweile schon gewohnt: Die FDP
malt nicht nur in ihren Leitlinien zur Reform der sozialen Pflegeversicherung ein Untergangsszenario, nein,
auch heute preist sie den Wettbewerb und die eigene
Vorsorge wieder als Allheilmittel an. Herr Bahr und Herr
Lanfermann, Sie sagen uns aber nicht, was passieren
müsste.
({0})
- Nein, heute jedenfalls haben Sie es nicht getan.
Diese verengte ökonomische Sichtweise lässt meiner
Ansicht nach etwas ganz Entscheidendes außer Acht
- das ist in der heutigen Debatte überhaupt noch nicht
genannt worden -,
({1})
nämlich die pflegebedürftigen Menschen, die Qualität
und die Inhalte der Pflege.
({2})
Ich gebe Herrn Dr. Seifert Recht: Über die Inhalte müssten wir reden. Welches sind die dringendsten Probleme,
vor denen die Pflegeversicherung steht? Wie kann die
bestmögliche Qualität für pflegebedürftige Menschen
({3})
auch zukünftig gewährleistet werden? Was ist zu tun?
Ich meine, als wichtigsten Punkt die Dynamisierung
von Leistungen nennen zu müssen. Wir wissen, dass die
Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung
nicht mehr erhöht worden sind. Die Folge ist, dass das
Finanzvolumen zur Finanzierung der Leistungen zunehmend geringer wird und wir einen Prozess der schleichenden Leistungsentwertung erleben, wie Sie, Herr
Bahr, übrigens richtigerweise festgestellt haben. Ohne
eine Dynamisierung der Leistungen droht diesem wichtigen Sozialversicherungszweig längerfristig der Verlust
der Qualität und der Akzeptanz. Es führt also kein Weg
daran vorbei, die Einnahmesituation der Pflegeversicherung zu verbessern.
Damit muss - das wurde von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen schon genannt - eine neue Definition
der Pflegebedürftigkeit verbunden werden. Wir alle wissen, dass der Pflegebedürftigkeitsbegriff zu somatisch
ausgerichtet ist. Menschen mit so genannter eingeschränkter Alterskompetenz, also die Dementen, sowie
die Behinderten und deren besonderer Betreuungsbedarf
werden derzeit noch nicht ausreichend berücksichtigt.
({4})
Ein weiterer wichtiger Punkt, den ich nennen möchte,
ist die Gestaltung des Grundsatzes „Ambulant vor stationär“. Das kommt den Wünschen der Mehrheit der Pflegebedürftigen entgegen und - das wissen wir alle - ist
auch kostengünstiger. Damit aber - dieser Punkt wurde
heute noch nicht genannt - der Grundsatz „Ambulant
vor stationär“ qualitativ hochwertig umgesetzt werden
kann, muss die Ausbildung der Pflegekräfte verbessert
werden. Wir sollten nicht nur im stationären Bereich
ausbilden, sondern uns insbesondere der ambulanten
häuslichen Pflege zuwenden. Das ist die Herausforderung der Pflegeausbildung. Wir haben mit der Neuformulierung der Alten- und Krankenpflegeausbildung einen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Ich
denke, dass eine verstärkte Ausrichtung der Aus- und
Fortbildung von Pflegekräften erfolgen muss. Deshalb
steht im Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform unter anderem die bessere Vernetzung von Hausärzten mit IVVerträgen usw., die sich mit der Pflege befassen.
({5})
Der wichtigste Punkt - er wurde heute von Frau Widmann-Mauz, von Frau Reimann und von der Staatssekretärin genannt - ist die stärkere Vernetzung. Ich sage
immer: Pflege muss aus einer Hand erfolgen. Wir brauchen einen besseren Übergang vom Krankenhaus in die
häusliche Pflege und die geriatrische Rehabilitation. Wir
brauchen eine bessere Zusammenarbeit von Ärzten,
Therapeuten und Pflegeheimen. Auf unserer Agenda
steht auch eine bessere Verzahnung zwischen Rehaeinrichtungen und Wohnformen.
Nicht zuletzt sollten wir den Grundsatz „Prävention
vor Rehabilitation“ stärker in den Fokus unserer Überlegungen nehmen. Wir haben ein Problem; ich denke, das
ist deutlich geworden. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ist die Zahl der Leistungsempfänger doppelt so
hoch wie in der privaten Pflegeversicherung. Das schlägt
sich - wie soll es auch anders sein - in den höheren Leistungsausgaben der Versicherten nieder.
({6})
Herr Bahr, deshalb muss sich die private Pflegeversicherung unbedingt an einem solidarischen Risikostrukturausgleich beteiligen.
({7})
Ich habe eine Vision: Eine wesentlich bessere und gerechtere Lösung wäre aus meiner Sicht eine Bürgerpflegeversicherung.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christian Kleiminger für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der medizinische Fortschritt ermöglicht uns
heute ein sehr viel längeres Leben als unseren Eltern und
Großeltern. Das ist - man sollte es ruhig so sagen - in
erster Linie sehr erfreulich. Aber mit zunehmender Lebenserwartung steigen die Zahlen der Pflegebedürftigen
und zwangsläufig auch die Kosten. Damit die Pflegeversicherung in Zukunft leistungsfähig und finanzierbar
bleibt, muss sie weiterentwickelt werden, und zwar,
wenn es allein nach uns Sozialdemokraten ginge, zu einer von breiten Schultern solidarisch getragenen Bürgerversicherung.
({0})
Auch in der Pflegeversicherung sollten wir - dies ist
meine persönliche Ansicht - aus Gründen der sozialen
Gerechtigkeit eine steuerfinanzierte Säule aufbauen.
Doch die Kosten sind nur die eine Seite, die wir vor Augen haben müssen. Auf der anderen Seite sollten vor allen Dingen die Wünsche und Ansprüche, die Pflegebedürftige berechtigterweise haben, Maßstab für unser
Handeln sein.
({1})
Deshalb möchte ich auf strukturelle Veränderungen,
die wir bereits jetzt einwandfrei wollen, eingehen. Wir
wollen zum Beispiel nicht, dass Patienten nach einer
Operation ohne Perspektive auf eine Anschlussbehandlung aus dem Krankenhaus entlassen werden. Bei zu vielen ist dann der Weg ins Pflegeheim vorprogrammiert.
Das entspricht nicht dem Wunsch der Betroffenen und
den heutigen medizinischen Möglichkeiten
({2})
und ist - auch darüber muss man sprechen - vergleichsweise kostenintensiv.
Ein besonders wichtiger und außerordentlich positiver Aspekt der Reformpläne ist deshalb die Schaffung
des Leistungsanspruchs für Ältere und Pflegebedürftige
auf geriatrische Rehabilitation.
({3})
Denn alte Menschen benötigen eine spezielle Form der
Rehabilitation, die ihrer körperlichen und geistigen Konstitution entspricht und qualitativ hochwertig ist.
Die Mehrheit der Menschen möchte im Alter oder bei
Krankheit am liebsten zu Hause bleiben und von Angehörigen oder Pflegekräften unterstützt werden. Deshalb
halte ich das Beschreiten neuer Wege in der ambulanten
Versorgung für besonders wichtig.
({4})
Wir müssen Versorgungsformen schaffen, die die Patientinnen und Patienten zu Hause erreichen und aufwendige
stationäre Leistungen - sei es im Krankenhaus, sei es im
stationären Pflegeheim - möglichst vermeiden helfen.
Dazu gehören auch die neuen und bereits angesprochenen Wohnformen für Ältere, etwa die Wohngemeinschaften für Demenzkranke. Dabei geht es immer um ein
Nebeneinander von bestmöglicher ambulanter und stationärer Versorgung, höchstem medizinischen Standard
und ehrenamtlichem Engagement. Das gilt auch für die
Pflege Sterbenskranker.
Damit komme ich auf eine weitere wichtige Säule der
Strukturreformen zu sprechen: Es muss allen ermöglicht
werden, ohne unnötiges Leiden und in Würde - entweder zu Hause, im Pflegeheim oder wo auch immer gewünscht - bis zum Tode betreut zu werden. Deshalb sollen Sterbenskranke erstmals einen eigenständigen
Leistungsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung erhalten.
({5})
Die bisherigen ambulanten Betreuungsmöglichkeiten
sind insgesamt leider noch unzureichend. Deshalb wollen wir in Deutschland flächendeckend Palliativ-CareTeams schaffen, bei denen spezialisierte Ärztinnen und
Ärzte, Pflegekräfte sowie Fachkräfte der psychosozialen
Betreuung und Seelsorge im Sinne eines multidisziplinären Teams zusammenarbeiten. Dabei müssen wir die ehrenamtliche und die professionelle Sterbebegleitung,
auch in stationären Altenpflegeheimen, besser miteinander vernetzen. Damit die Menschen in den stationären
Pflegeheimen optimal versorgt werden, sollten die Palliativ-Care-Teams ihre Leistungen auch in diesen Einrichtungen erbringen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind wichtige
Strukturmaßnahmen,
({6})
die bereits jetzt geregelt werden und auf denen die Reform der Pflegeversicherung aufbauen kann. Mit diesem
Thema sollte sich auch die FDP ernsthaft auseinander
setzen.
({7})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der gestrigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Arbeitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr
Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Europa ist eine Erfolgsgeschichte und dennoch
in der Krise. Das ist - wenn man so will: am Vorabend
der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch
Deutschland - die kurz gefasste Beschreibung der gegenwärtigen Situation in Europa.
Nachdem die Verfassungsreferenden in Frankreich
und in den Niederlanden gescheitert sind, haben wir es
in Europa nicht nur mit einer Verfassungskrise zu tun,
sondern wohl auch mit etwas, das wir als Vertrauenskrise umschreiben dürfen. Die Menschen sind gegenüber
dem gemeinsamen Projekt Europa skeptischer geworden. Sie sehen Europa nicht mehr in jedem Fall als Teil
der Antwort auf viele Fragen und als Teil der Lösung
von Problemen, sondern vielleicht sogar als Teil der Probleme. In dieser Situation befinden wir uns, wenn wir in
wenigen Tagen, am 1. Januar 2007, die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen.
Angesichts dieser Vorbemerkungen ist es relativ einfach, unsere Hauptaufgaben im kommenden Halbjahr zu
beschreiben. Zunächst geht es wohl darum, Wege aus
der Krise zu finden. Welche Fragen dabei im Vordergrund stehen, werde ich gleich noch ansprechen, und darum wird es natürlich auch in den Fragen gehen, die Sie
stellen werden. Dann müssen wir die Menschen wieder
für Europa gewinnen und wir müssen dem Einigungsprozess neuen Schwung geben.
Wir müssen bei all dem den Menschen in unserem
Lande klarer machen: In der heutigen, globalisierten Welt
können wir Europäer nur gemeinsam bestehen. Deshalb
brauchen wir eine handlungsfähige Union, um unsere Interessen - unsere deutschen wie unsere europäischen Interessen - in dieser globalisierten Welt nachhaltiger, erfolgreicher vertreten zu können. Das ist alles in allem, die
Vorbemerkungen im Gedächtnis, natürlich keine ganz
leichte Aufgabe. Deshalb können wir uns ihr nur widmen,
wenn wir gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten
handeln, wenn wir gemeinsam mit der Europäischen
Kommission handeln, wenn wir gemeinsam mit dem
Europäischen Parlament handeln, und das alles natürlich
in engster Abstimmung mit der gegenwärtigen finnischen
Ratspräsidentschaft sowie mit der portugiesischen und
der slowenischen Ratspräsidentschaft, die auf uns folgen.
In einem Punkte ist Europa klüger geworden: Ich
freue mich, dass es in den letzten Tagen und Wochen gelungen ist, das Programm einer so genannten Trio-Ratspräsidentschaft zu beschließen. Wir gehen nicht mehr
davon aus, dass sich jede Ratspräsidentschaft den
Schwerpunkt für ihre sechs Monate jeweils neu setzen
kann. Aus Erfahrung klug geworden, wissen wir, dass es
kaum noch europäische Fragen gibt, die sich innerhalb
von sechs Monaten beantworten lassen. Deswegen ist es
sehr richtig, dass wir jetzt ein auf 18 Monate angelegtes
Arbeitsprogramm einer Dreierpräsidentschaft Deutschland, Portugal, Slowenien verabredet haben. Auch das
bringt geradezu sinnfällig zum Ausdruck, was wir uns
als Motto der deutschen Ratspräsidentschaft gegeben haben: Europa gelingt gemeinsam.
Was wir konkret tun wollen, erschließt sich aus dem
Arbeitsprogramm, das das Kabinett gestern Abend verabredet hat. Doch vermutlich wird es so sein wie bei den
vorangegangenen Ratspräsidentschaften: Erinnern Sie
sich an die österreichische Ratspräsidentschaft, die an
ihrem erstem Tag mit dem Gasstreit zwischen der
Ukraine und Russland konfrontiert war. Mit der Suche
nach einer Lösung für diesen Konflikt ergab sich für sie
ein völlig neuer Schwerpunkt ihrer Arbeit. Die finnische
Ratspräsidentschaft war keine 14 Tage alt, als im Nahen
Osten der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ausbrach. So hat sich die finnische Ratspräsidentschaft mit
einem großen Teil ihrer Arbeitszeit und ihrer Möglichkeiten diesem Konflikt zuwenden müssen. Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, dass auch während unserer Ratspräsidentschaft unerwartete Konflikte
auftreten werden, um die wir uns zu kümmern haben
werden. Doch welche das sein werden, kann man mit
noch so ehrgeiziger Planung nicht voraussehen.
Was wir voraussehen können, ist das, was wir selbst
gestalten können. Wir werden in der ersten Märzhälfte
einen Frühjahrsgipfel abhalten, auf dem es traditionell
um Arbeit und Wirtschaft gehen soll. Wir haben in unserem Arbeitsprogramm entsprechende Vorschläge aufbereitet. Mit dem Thema Energie haben wir in diesem Jahr
einen zweiten wichtigen Schwerpunkt. Sie wissen aus
der Vorberichterstattung, dass die Europäische Kommission gerade mit der Entwicklung eines Bündels von Vorschlägen für die Energiepolitik beschäftigt ist. Das alles
muss zusammengefasst werden und mit den MitgliedBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
staaten bis zum Frühjahrsgipfel ausdiskutiert werden,
damit wir dort, wie wir es im Arbeitsprogramm ehrgeizig vorformuliert haben, einen gemeinsamen europäischen Aktionsplan zu den Energieaußenbeziehungen
und der Energieversorgungssicherheit verabschieden
können. Bei all dem Bemühen darf allerdings - so unsere deutsche Überzeugung - keine europäische Überregulierung zustande kommen.
Der Frühjahrsgipfel findet während dieser Ratspräsidentschaft auch deshalb so früh statt, weil wir am
24. und 25. März 2007 die Staats- und Regierungschefs
der europäischen Mitgliedstaaten aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge in
Berlin zu Gast haben werden. Nach unserer Auffassung
soll das ein Tag sein, an dem sich nicht nur die Regierungschefs der Öffentlichkeit präsentieren, sondern an
dem wir auch eine gemeinsame europäische Erklärung
abgeben, die nicht nur Rückblick und Bilanz enthält,
sondern durch die auch etwas über die Zukunft und die
Zukunftsaufgaben der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht wird.
Allein die gemeinsame Erklärung innerhalb der wenigen Monate bis Ende März zustande bringen zu lassen,
ist schon ein schwieriger Prozess. Sie ahnen, dass die Erwartungen an diese gemeinsame Erklärung hoch sind.
Mit dieser europäischen Erklärung wird Ende März
zu einem noch schwierigeren Projekt übergeleitet, nämlich zu der erneuten Ingangsetzung des Ratifikationsverfahrens zur Europäischen Verfassung, durch die transparentere und demokratischere Verfahren gesichert werden
sollen, mit denen die Handlungsfähigkeit gestärkt wird.
Sie wissen, dass wir deshalb für sie kämpfen und ihre
Substanz erhalten wollen. Bis zum Ende der deutschen
Ratspräsidentschaft wollen wir ein klares Verfahren und
einen klaren Zeitplan zustande bringen, mit dem möglichst sichergestellt wird, dass wir die Substanz der Verfassung bis zum Jahre 2009 ratifiziert haben werden.
Ich habe mich nach all dem bei Ihnen dafür zu bedanken, dass Sie in der Phase der Erarbeitung des Arbeitsprogramms mitgeholfen haben und dass die Bundeskanzlerin, viele andere Mitglieder der Bundesregierung und
auch ich in den Ausschüssen zu Gast sein durften und erklären konnten, was wir auf den Weg bringen wollen.
Vielen Dank.
({0})
Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem angesprochenen
Themenbereich zu stellen. - Als Erstes erteile ich dem
Kollegen Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Herr Außenminister, Sie haben am Schluss die EUVerfassung erwähnt. Es werden sehr große Erwartungen
an die deutsche Bundesregierung hinsichtlich der Beantwortung der Frage gestellt, wie man eine Roadmap gestalten könnte, um die EU-Verfassung möglicherweise
zu retten.
Viele Wochen und Monate sind mittlerweile verstrichen und auch Sie haben zu diesem Thema heute wieder
nur lapidar gesagt, dass man am Ende der Ratspräsidentschaft etwas vorlegen will. Es muss aber doch irgendwelche Vorstellungen darüber geben, wie man mit dem
Nein in Frankreich und in den Niederlanden umgehen
will. Andere Länder trauen sich gar nicht an eine Ratifizierung heran und auch Deutschland hat noch nicht abschließend ratifiziert.
Meine Frage lautet konkret: Wie will Deutschland damit umgehen, dass alle Länder Ja dazu sagen müssen,
wir aber wissen, dass die Franzosen diese Verfassung auf
keinen Fall mehr zur Abstimmung vorlegen werden?
Meine erste Teilantwort auf Ihre Frage lautet: Wir
werden einen klugen Vorschlag unterbreiten.
({0})
Herr Abgeordneter, damit das möglich bleibt, ist es in einer solch schwierigen Konfliktlage sehr ratsam - das
kennen Sie aus anderen Arbeitszusammenhängen auch -,
nicht mit Teilvorschlägen oder Lösungsansätzen an die
Öffentlichkeit zu gehen.
Zweite Teilantwort: Ich stimme auch nicht mit der in
Ihrer Frage formulierten Bewertung überein, dass die
letzten eineinhalb Jahre sinnlos verstrichen sind. Ganz
und gar nicht. Die europäischen Außenminister haben
Diskussionen darüber geführt, die mir dabei geholfen
haben, das Spektrum möglicher Lösungen etwas zu verengen. Damit sind wir noch nicht bei der einzigen Lösung, die am Ende übrig bleiben wird. Durch die Erwähnung dieses Arbeitsprozesses will ich aber andeuten,
dass wir während unserer Ratspräsidentschaft und in den
ersten Monaten im kommenden Jahr intensiv versuchen
werden - ohne dabei das Thema Verfassung über alles
andere hinwegstrahlen zu lassen -, im bilateralen Gespräch mit vielen europäischen Partnern zu erspüren, wo
am Ende die Lösung liegen wird, mit der wir unserem
Anspruch gerecht werden, dass die Substanz der Verfassung erhalten bleibt und dass sie gleichzeitig die Zustimmung aller Mitgliedstaaten finden kann.
Ich glaube, dass das gelingen kann. Es gelingt aber
nur, wenn alle Mitgliedstaaten bereit sind, dem Grundsatz zu folgen, den ich in meinen öffentlichen Reden
gerne immer wieder erwähne: Wenn das Projekt gelingen soll, dann müssen sich alle bewegen. Angesichts der
Tatsache, dass am Jahresende zwei Drittel der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Verfassungsvertrag
ratifiziert haben - das heißt, ein Drittel hat dies noch
nicht getan -, werden sich aber einige etwas mehr bewegen müssen als andere.
Haben Sie noch eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Herr Außenminister, wenn Sie sagen, dass Sie die
Substanz erhalten wollen, dann heißt das möglicherweise, dass es einige Änderungen geben wird, was normalerweise zur Folge hat, dass der Verfassungsvertrag
dann von neuem zur Ratifizierung vorgelegt werden
muss. Teilen Sie unsere Auffassung, dass man dann in
allen Ländern zu Volksabstimmungen kommen muss,
um Europas Bürgerinnen und Bürger dafür zu gewinnen?
Nein. Die Auffassung kann ich schon deshalb nicht
teilen, weil es ein völlig unrealistisches Vorhaben ist.
({0})
Nun hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister, Sie
sprachen von den großen Erwartungen, die im Vorfeld
der Ratspräsidentschaft an Deutschland gerichtet werden. Sie sind sicherlich auch deshalb so groß, weil wir
1999 eine ausgesprochen erfolgreiche Ratspräsidentschaft absolvieren konnten, an der Sie in Ihrer damaligen
Funktion auch schon haben mitwirken können.
Sie sprachen zu Recht die Berliner Erklärung an. Wir
als Bundestagsabgeordnete würden Sie gerne dabei unterstützen, eine Berliner Erklärung zu formulieren, die
die gesamte Verfassungsgebung in ein noch positiveres
Fahrwasser bringt.
Meine Frage an Sie lautet, Herr Bundesaußenminister: Wie könnten Sie sich eine aktive Mitwirkung auch
von Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorstellen? Wo brauchen Sie noch Rückenwind? Wie könnten
wir dazu beitragen, dass die Berliner Erklärung zukunftsweisend wird?
Ich möchte noch eine zweite Frage anschließen. Das
wachsende Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger
an dem europäischen Integrationsprozess fußt auch auf
der Erwartung vieler Menschen, dass die Europäische
Union einen stärkeren Beitrag zur Lösung sozialer Probleme zu leisten vermag. Ich weiß, dass das auch ein
wichtiger Punkt auf der Agenda der Bundesregierung ist.
Wie könnten die Beiträge Deutschlands zur Stärkung der
sozialen Dimension der Europäischen Union aussehen,
Herr Außenminister?
Um mit der letzten Frage zu beginnen: Es hülfe schon
Wahrheit weiter. Denn manche der Befürchtungen haben
ihren Urgrund darin, dass Erwartungen hinsichtlich der
Zuständigkeiten auf europäischer Ebene bestehen, die
nicht gerechtfertigt sind.
Kraft der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union auf der einen Seite und ihren Mitgliedstaaten auf der anderen Seite haben wir gegenwärtig die
Situation, dass der große Schwerpunkt der sozialen Gestaltungszuständigkeiten bei den Mitgliedsländern verbleibt, sodass manche Befürchtung, dass über die Europäische Union in den nächsten Jahren in wichtigen
sozialen Politikbereichen europaweit eine Nivellierung
stattfinden wird, nicht berechtigt ist. Diese Gefahr droht
aus meiner Sicht nicht.
Gleichwohl gibt es die Erwartung - ich will nicht verhehlen, dass das auch in den Volksabstimmungen in
Frankreich und in geringerem Maße, glaube ich, in den
Niederlanden zum Ausdruck gekommen ist -, dass sich
nach einem Verfassungskonvent, der das Thema soziales
Europa aus den eben genannten Gründen - weil es auf
europäischer Ebene weitgehend an Kompetenzen fehlt nicht zu einem prägenden Schwerpunkt erhoben hat, die
europäischen Regierungschefs zu dieser Verantwortung
bekennen.
Ich gehe davon aus - damit leite ich gleich zu der
Antwort auf Ihre erste Frage über -, dass es in den
nächsten Wochen und Monaten aus verschiedenen Mitgliedstaaten viele Anregungen für die Aufnahme eines
solchen Textes geben wird. Ich will Ihnen versichern,
Herr Abgeordneter, dass wir die in den bisherigen Verfahren aus meiner Sicht gute Zusammenarbeit auch in
Zukunft beibehalten sollten. Deshalb biete ich Ihnen an,
immer dann, wenn es gewünscht wird, im Ausschuss mit
Ihnen über Ihre Erwartungen zu diskutieren.
Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Außenminister, für die Möglichkeit der Befragung.
Für die Fraktionen ist es eine schwierige Situation,
wenn sie erst heute Morgen das Dokument bekommen,
dann zusammen mit den Europapolitikern zwei Stunden
mit dem Präsidenten der Europäischen Union, Herrn
Barroso, diskutieren und nun in die Regierungsbefragung kommen. Wir hätten uns ein bisschen mehr Zeit
gewünscht. Trotzdem ist es begrüßenswert, dass wir
heute Gelegenheit haben, in einer ersten Runde mit Ihnen zu diskutieren.
Ich wäre mir nicht so sicher, ob die Geheimdiplomatie der Regierungen ein erfolgsträchtiger Weg ist, um bei
der Verwirklichung des Verfassungsprojekts voranzukommen. Nach meiner Erfahrung in den letzten Jahren
brauchen wir eine sehr viel größere Öffentlichkeit, wenn
wir über die Verfassung diskutieren. Wir müssen die
Bürgerinnen und Bürger aller europäischen Länder mitnehmen. Ich glaube, wir brauchen eine größere Offenheit in der Zieldarlegung. Sie haben unsere Ziele im VerRainder Steenblock
fassungsprozess zwar kurz angesprochen, aber aus
meiner Sicht nicht mit der notwendigen Klarheit. Darüber dürfen nicht nur die Regierungen hinter verschlossenen Türen diskutieren. Vielmehr müssen wir die Bevölkerung einbeziehen.
Das, was Sie zum Energiebereich gesagt haben, unterstützen wir in vielen Bereichen. Herr Barroso hat im Europaausschuss sehr deutlich gesagt: Wir brauchen klare,
quantifizierbare Zielstellungen bei den Emissionen von
Treibhausgasen und den erneuerbaren Energien. Ich
finde, das Programm der Bundesregierung ist an dieser
Stelle zu wenig ambitioniert, weil es auf Konkretisierungen verzichtet, insbesondere wenn es um Wettbewerb
geht. Wenn Wettbewerb im Energiebereich in Europa erreicht werden soll, dann ist - um es einmal krass und
platt zu formulieren - die Zerschlagung der Energiemonopole notwendig. Die jetzige Struktur wirkt nicht wettbewerbsfördernd, sondern wettbewerbsverhindernd. Das
hat Herr Barroso unterstrichen. Deshalb lautet meine
Frage: Wie wollen Sie im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft dafür sorgen, dass im Energiebereich Wettbewerb realisiert wird?
Meine letzte Frage in diesem Zusammenhang ist: Sie
haben die Kooperation mit Russland im Energiebereich
angesprochen. Ich will zwar nicht auf die aktuellen
Schwierigkeiten eingehen. Wenn ich mir aber den Text
betreffend die Kooperation mit Russland genau anschaue, dann stelle ich fest, dass Energie ein zentraler
Punkt ist. Nach meiner Meinung reicht es nicht aus, zu
sagen: Wir wollen die Zusammenarbeit mit Russland im
Energiebereich verstärken. Vielmehr kommt es darauf
an, Russland dazu zu bringen, internationales Recht
- am besten wäre eine Energiecharta - und insbesondere
die Durchleitungsrechte einzuhalten sowie für Investitionssicherheit zu sorgen. Das muss Ziel der Verhandlungen sein. Es darf nicht nur um eine allgemeine Verstärkung der Zusammenarbeit gehen, unter der sich jeder
etwas anderes vorstellen kann. Ich bitte Sie als einen der
zentralen Entscheider im Hinblick auf die Ratspräsidentschaft, deutlich zu sagen, welches die Ziele der Kooperation mit Russland im Energiebereich sein sollen.
Herr Steenblock, um mit der Beantwortung der letzten Frage zu beginnen: Sie wissen vermutlich, dass Sie
hier offene Türen bei mir einrennen. Ich habe mich im
Sommer öffentlich kritisieren lassen müssen, dass ich
gewagt habe, zu sagen: Wenn wir momentan nicht das
wünschenswerte Ergebnis erzielen, dass Norwegen und
Russland die Energiecharta ratifizieren, dann müssen wir
die europäischen und insbesondere die deutschen Energieinteressen langfristig auf andere Weise zu sichern
versuchen - was nicht die gleiche Qualität haben wird
wie die von uns erwünschte Energiecharta. Dann müssen
wir versuchen, bei der anstehenden Fortentwicklung des
Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland die tragenden Elemente von mehr Versorgungssicherheit dort zu integrieren. Wir brauchen Vereinbarungen über langfristige Versorgungssicherheit sowie
über Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit der
Versorgungsleistungen.
Herr Steenblock, ich wünschte, wir wären weiter, aber
im Augenblick diskutieren wir unter uns darüber, ob das
der richtige Platz ist und, wenn ja, mit welchen Konkretisierungen wir in die Verhandlungen gehen sollen. Wir
sprechen überhaupt noch nicht mit einem Partner, den
wir noch davon überzeugen müssen, dass das der richtige Platz für die Verortung solcher Grundsätze ist. Sie
rennen bei mir offene Türen ein. Ich glaube, wenn wir
den Weg nach der Beilegung der Streitigkeiten mit Polen
freibekommen, dann sollten wir versuchen, dieses zu einem wichtigen Bestandteil des Kooperationsabkommens
zu machen. Dass wir den Weg freibekommen, hoffe ich
immer noch. Was wir in Gesprächen mit Polen dafür tun
können, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen
gerne tun. Im Augenblick allerdings zeigt sich bedauerlicherweise an dem Punkt noch keine Bewegung.
Zum Verfassungsvertrag. Herr Steenblock, ich würde
gerne vermeiden, dass wir eine Verhandlungsstrategie
als Geheimdiplomatie bezeichnen und eine andere einen
transparenten und offenen Prozess. Worum geht es denn
wirklich? Wir starten doch jetzt in eine Phase, in der sich
viele Mitgliedstaaten zum ersten Mal festlegen müssen.
Bislang war das im zurückliegenden Jahr eine öffentliche, mehr politische Kommentierung, die man mit Blick
auf die eigene Home Consumption vorgenommen hat.
Wir befinden uns aber noch nicht in einem Prozess, an
dessen Ende in sieben Monaten ein gemeinsamer Vorschlag stehen muss.
Deshalb hoffe ich schon, dass es - nicht im Wege einer Geheimdiplomatie, sondern im Wege eines ernsthaften und seriösen Gesprächs mit allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union - schon gelingen kann, zu erspüren,
wo das Maß des gemeinsamen Ganzen liegen kann. Darum bemühen wir uns. Das ist nicht intransparent; denn
wenn wir diesen Zeitpunkt erreicht haben, von dem wir
meinen, dass wir mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit gehen sollten, dann wird das Ganze ein öffentlicher
und transparenter Vorschlag, der nicht nur nicht vor der
Öffentlichkeit geheim zu halten ist, sondern über den wir
die öffentliche Diskussion mit der Bevölkerung suchen.
Jetzt habe ich die dritte Frage von Ihnen unterschlagen. Wie lautete sie?
({0})
- Ich weiß nicht, wie dicht Sie heute an Herrn Barroso
waren und ob Sie Gelegenheit hatten, mit ihm über die
Einzelprobleme zu sprechen.
({1})
Es gibt eine sehr große Bereitschaft nicht nur der
Kommission, sondern fast aller Mitgliedstaaten, sich im
Bereich der Förderung regenerativer Energien strikteren
Vorgaben zu unterwerfen. Es gibt weitgehende Einigkeit
unter den Mitgliedstaaten, so etwas wie eine europäische
Energiesolidarität untereinander zu vereinbaren. Es gibt
Schwierigkeiten, Vorgaben zu einem bestimmten Energiemix oder, genauer gesagt, Vorgaben zur Nutzung der
Kernenergie in einem europäischen Energieaktionsplan
zu machen. Weiterhin ist das Maß einer europäischen
Regulierung umstritten. Darin, dass die Zerschlagung
volkswirtschaftlicher Einheiten nötig ist, damit ein europäischer Wettbewerb in Gang kommt, bin ich - das muss
ich ganz ehrlich sagen - nicht mit Ihnen einig.
Das Wort hat nun der Kollege Markus Löning für die
FDP-Fraktion.
Herr Außenminister, herzlichen Dank. - Ich möchte
zwei Punkte des Kollegen Steenblock unterstreichen.
Das eine ist die Rüge an Ihr Haus, was die Zustellung
des Regierungsprogramms angeht. Sie haben es gestern
beschlossen. Ich habe es heute einmal von der Presse
und einmal von der Europa-Union bekommen. Auf
Nachfrage erklärte Ihr Haus, wir könnten es gegen
13 Uhr haben. Es tut mir Leid: Ich finde, dass das kein
angemessener Umgang mit dem Parlament ist. Wir haben noch einmal nachgefragt und es dann um 11 Uhr bekommen. Insofern lag es vor. Dennoch: Der Dank an
Sie, dass Sie es hier im Parlament vorstellen, ist selbstverständlich.
Sie schreiben in Ihrem Papier - soweit konnte ich es
schon lesen -, dass Sie zum 1. Juli 2007 den Energiebinnenmarkt vollständig herstellen wollen. Dafür haben Sie
ausdrücklich die Unterstützung der FDP. Das hörte sich
jetzt hier ein bisschen anders an. Man muss aber sagen,
dass der Kollege Steenblock nicht völlig daneben liegt.
Wir haben in Deutschland eine Oligopolsituation. Das
wissen auch Sie. Wie die aufzulösen ist, ist Aufgabe einer Regulierungsbehörde bzw. der Bundesregierung. Wir
erwarten von Ihnen, dass Sie auch da politisch Druck
machen.
Herr Barroso hat großen Wert darauf gelegt, dass es
möglichst bald einen europäischen Binnenmarkt gibt.
Ich möchte von Ihnen gerne erfahren, wie die Bundesregierung voranzuschreiten gedenkt. Andere sind da sehr
viel weiter als wir. Die Deutschen zahlen deutlich mehr,
gerade beim Strom. Das könnte längst anders sein.
Zum Thema Verfassung haben Sie gesagt, Sie möchten, dass die Substanz 2009 ratifiziert ist. Auch da haben
Sie unsere volle Unterstützung. Ich finde die Formulierung in Ihrem Papier allerdings sehr unglücklich. Dort
ist von einem ins Stocken geratenen Ratifizierungsprozess die Rede. Das widerspricht meiner Auffassung als
Demokrat. Die Regel ist eindeutig: Alle Länder müssen
ratifizieren; wenn ein Land nicht ratifiziert hat, ist nicht
ratifiziert.
({0})
Ich finde, das Ergebnis einer Volksabstimmung ist
diesbezüglich eindeutig. Es hat Volksabstimmungen in
Luxemburg und in Spanien gegeben; dort war man dafür. Aber es hat eben auch zwei Volksabstimmungen gegeben, bei denen man Nein gesagt hat. Damit ist der Verfassungsvertrag in dieser Form - so Leid uns das tut nicht zu halten. Ich wünsche mir, dass das auch im Wording klar zum Ausdruck kommt. Man muss akzeptieren,
was in diesen beiden Ländern passiert ist.
Ich möchte von Ihnen etwas zum Thema Außenpolitik hören. Die Behandlung dieses Themas ist mir zu kurz
gekommen. Notwendig ist, dass Europa gegenüber dem
Iran initiativ wird. Was passiert da? Was ist da geplant?
Wir sind noch nicht einmal im Ansatz da, wo wir sein
müssten. Was wird aus der politischen Initiative im Nahen Osten? Wir Europäer haben einen Waffenstillstand
erreicht. Das ist sehr gut und das war ein Erfolg. Aber
dieser Erfolg wird uns wie Sand durch die Finger rinnen,
wenn es nicht zu einem politischen Prozess kommt,
wenn wir keine politische Perspektive aufzeigen.
Ich möchte Sie nach einem weiteren außenpolitischen
Komplex fragen: Wie möchte die EU ihre Beziehungen
zu den asiatischen Ländern außer China gestalten? Dort
liegt unser größtes Potenzial, was Handel und was strategische politische Allianzen angeht. Welche Initiativen
planen Sie während Ihrer Präsidentschaft?
Zunächst einmal muss ich - ohne dass ich jetzt Möglichkeiten der Aufklärung habe - um Entschuldigung dafür bitten, dass Ihnen das Programm zu spät zugegangen
ist. Ein kurzer Anruf bei mir oder eine Ansprache heute
Morgen - wir saßen uns gegenüber - hätte gereicht, um
diesen Streitpunkt, wenn es denn einer war, aus der Welt
zu räumen.
Was die Energie angeht: Sie haben das in dem kleinen
Schlagabtausch mit Herrn Steenblock eben schon richtig
interpretiert. Das Beispiel, das Sie genannt haben, ist
schon ein Argument dagegen, dass der Zeitpunkt für einen europäischen Regulierer schon gekommen ist. Die
Regulierung kann dann greifen, wenn wir ein einigermaßen gleiches Level Playing Field haben. Solange das
Feld so unterschiedlich ist, wie es in Ihrer Frage zum
Ausdruck gekommen ist, erscheint ein europäischer Regulierer problematisch, jedenfalls für uns. Deshalb bin
ich persönlich etwas skeptisch. Ich glaube, im Wirtschaftsministerium denkt man ähnlich.
Was die Verfassung angeht: Ich sehe jetzt nicht, warum in den von uns gebrauchten Formulierungen mangelnder Respekt gegenüber den Parlamenten oder den
Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt. Was allenfalls
zum Ausdruck kommt, ist, dass wir den Prozess, der mit
den Ergebnissen der Volksabstimmungen in Frankreich
und in den Niederlanden ein vorläufiges Ende genommen hat, noch nicht für endgültig abgeschlossen halten.
Das scheint in Europa überwiegend so gesehen zu werden; sonst fände das Bemühen um die Fortsetzung des
Ratifizierungsprozesses gar nicht statt. Wenn in unserem
Präsidentschaftsprogramm von „ins Stocken geraten“
die Rede ist, dann ist das noch keine Missachtung der
nationalen Parlamente und insbesondere nicht der Ergebnisse von Volksabstimmungen.
Im Übrigen weiß ich natürlich - halten Sie mich für
realistisch genug; aber so haben Sie meine Worte auch in
der Vergangenheit immer verstanden -: Wenn man das
Schiff wieder auf Kurs bringen will, dann muss man auf
diejenigen hören, die man dazu braucht. Ich weiß, dass
man Flexibilität, also die Bereitschaft, sich zu bewegen,
braucht. Verstehen Sie bitte so den von mir geprägten
Satz: Alle müssen sich bewegen, aber einige müssen
sich mehr bewegen als andere.
Außerdem haben Sie nach unseren Partnerschaftsbeziehungen mit Asien gefragt. Wonach haben Sie noch
gefragt?
({0})
Die politische Initiative im Nahen Osten verstehen
Sie bitte nicht so, dass wir alle auf den Zeitpunkt warten,
zu dem wir unter einer neuen Überschrift noch einmal
aufschreiben, was die wesentlichen Elemente der
Roadmap sind.
({1})
Die Bemühungen um ein Wiederingangbringen des
Gesprächsprozesses, der dann hoffentlich irgendwann in
einen Friedensprozess mündet, insbesondere zwischen
Israel und Palästina, laufen. Sie sind sehr intensiv. Wir
haben das in den vergangenen Tagen am Rande des
Euromed-Gipfels in Tampere miteinander behandelt, aus
meiner Sicht sogar in einer ganz zufrieden stellenden Art
und Weise. Denn zum ersten Mal seit vielen Wochen und
Monaten ist wieder sichtbar geworden, dass es Gesprächsbereitschaft zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde, gegebenenfalls auch der palästinensischen Regierung, und der israelischen Regierung gibt.
Ein sehr fragiler Waffenstillstand zwischen Israel und
dem Gazastreifen hält immerhin den fünften Tag an und
auch einzelne Beschüsse mit Kassam-Raketen sind nicht
als Bruch des Waffenstillstands insgesamt interpretiert
worden.
Deshalb ist meine Bitte eigentlich nur die, das, was
im Augenblick stattfindet, nicht als Unterbrechung der
europäischen Bemühungen zu begreifen, sondern eher
so zu verstehen, dass im Augenblick ein neues Papier
oder eine neue Überschrift dem Problem nicht abhilft.
Aus meiner Sicht müssen wir zwei Dinge tun - wir sind
sehr engagiert dabei -: Zum einen müssen wir mit beiden Seiten, der israelischen und der palästinensischen,
arbeiten, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen,
und zum anderen brauchen wir eine Ertüchtigung und
Ermutigung des internationalen Quartetts - VN, Europäische Union, USA und Russland -, weil wir glauben,
dass ohne die Autorität dieser Partner am Ende über den
ersten Schritt hinaus Entscheidendes im Nahen Osten
nicht zu bewegen sein wird.
Wir müssen jetzt vielleicht ein paar Tage Geduld haben. Ich stehe vor einer Reise in die USA, um dann nach
Vorlage des Baker-Hamilton-Berichts vielleicht auch zu
erfahren, ob das auf die Haltung der amerikanischen Regierung mit Blick auf den Nahen Osten Einfluss haben
wird, ob wir neue Initiativen zu erwarten haben, die wir
mit den europäischen Bemühungen koordinieren oder an
die wir uns anschließen können. Das müssen wir in den
nächsten Tagen sehen. Darum kümmern wir uns sehr intensiv.
Sie haben nach Asien außerhalb Chinas gefragt. Ich
bin mir nicht sicher, ob Sie dabei an die Region „Vietnam und Nachbarstaaten“ denken oder möglicherweise
an die Regionen in Zentralasien, die ich im Herbst bereist habe.
({2})
Mindestens von der Region wissen Sie, dass wir während unserer Ratspräsidentschaft dem langjährigen
Nachdenken darüber, ob Europa eine Zentralasieninitiative starten sollte oder könnte, eine Initiative folgen lassen werden.
Darüber hinaus wird es während unserer Ratspräsidentschaft einen EU-Japan-Gipfel geben, auf dem wir
mindestens die Beziehungen zwischen der EU und Japan
neu diskutieren werden.
Vielen Dank, Herr Minister. - Die nächste Frage hat
die Kollegin Dr. Schwall-Düren von der SPD-Fraktion.
Herr Außenminister, mit dem Hinweis auf die Zentralasienstrategie haben Sie schon einen Teil der EUOstpolitik angesprochen. Neben der Energieaußenpolitik
kommt es hier vor allem darauf an, in unseren Nachbarregionen eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des
demokratischen und marktwirtschaftlichen Transformationsprozesses in Gang zu setzen. Ich würde Sie bitten,
uns hier kurz einige Hinweise dazu zu geben, inwiefern
bei der Nachbarschaftspolitik durch die deutsche EURatspräsidentschaft neue Akzente gesetzt werden sollen.
Ich habe vor einiger Zeit einmal zum Ausdruck gebracht, dass wir in der nach dem 1. Januar 2007 größeren
Europäischen Union eine neue unmittelbare Nachbarschaft in Europa haben. Die Länder der gesamten
Schwarzmeerregion, die bislang sozusagen die übernächsten Nachbarn sind, werden dann unsere unmittelbaren Nachbarn sein. Daraus ergeben sich neue Fragen.
Das ist einer der Punkte, die einfließen werden in die
Fortentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik, zu der ich allerdings eine Vorbemerkung machen
muss.
Ich habe auf meiner Reise durch die Maghreb-Staaten
eines immer deutlich unterstrichen: Es wird in Europa
nicht dazu kommen und nicht dazu kommen dürfen, dass
wir unsere Nachbarstaaten im Osten und im Süden völlig
unterschiedlich behandeln. Wir werden eine gleichgewichtige, ausgewogene Partnerschaftspolitik der Europäischen Union haben, gegebenenfalls auch fortentwickeln.
Um das sicherzustellen und mit Glaubwürdigkeit gegenüber den südlichen Nachbarländern zu verbinden,
weise ich immer darauf hin, dass wir unsere Bemühungen mit der portugiesischen Ratspräsidentschaft abgleichen, die vor ihrem geografischen Hintergrund ihren
Blick natürlich stärker in Richtung südliche Anrainerstaaten des Mittelmeers richtet.
Was sich aber für beide Nachbarschaften aus der Berichterstattung der Europäischen Kommission am Jahresende als Ergebnis destillieren lässt, ist, dass wir uns
vermutlich stärker darauf konzentrieren müssen, nicht
über das gesamte Politikfeld hinweg, sondern in bestimmten Sektoren Nachbarschaften zu intensivieren.
Wir haben das im Bereich der Energiepolitik erfolgreich etwa mit den Staaten des westlichen Balkans getan,
wobei wir auch gesagt haben: In einer Situation, in der
zeitlich nicht absehbar ist, dass diese Staaten schon zur
Europäischen Union gehören, kann es sinnvoll sein, in
einzelnen Politikbereichen zu versuchen, den europäischen Acquis so weit wie möglich zu erreichen.
Dies ist ein Modellfall, bei dem man überlegt, ob man
ihn auch auf andere Regionen überträgt. Man könnte daran denken, dass man eine solch gezielte Politik auch gegenüber der Ukraine oder anderen Nachbarstaaten, auch
gegenüber südlich gelegenen Staaten erreicht.
Es kommt hinzu, dass die Kommission überlegt, ob
man jenseits der bisherigen Praxis der Nachbarschaftspolitik auch darüber nachdenkt, dass man Belohnungselemente mit in diese Nachbarschaftspolitik einbaut,
also die Staaten, die sich, was Rechtsstaat, Demokratie
und Pluralismus angeht, schneller entwickeln, mit einer
entsprechenden fördernden Nachbarschaftspolitik stärker untersützt.
Das sind Elemente, die sich nach einem Bericht der
Kommission ergeben werden, aus dem wir zusammen
mit der Kommission einen neuen Verhandlungsvorschlag für die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Halbjahr entwickeln werden.
Vielen Dank. - Die Zeit ist eigentlich abgelaufen. Wir
haben noch eine Frage. Ihr Einverständnis vorausgesetzt,
würde ich dem Kollegen Rainder Steenblock noch die
Gelegenheit zu einer kurzen Frage geben.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich mache es ganz kurz.
Das Thema, das ich gerne ansprechen möchte, ist die
Türkei. Herr Minister, die Grünen haben Ihre besonne-
nen Äußerungen zu den Verhandlungen mit der Türkei
immer unterstützt. Wir hören aus den Reihen Ihres Ko-
alitionspartners sehr unterschiedliche Positionen zu die-
sen Verhandlungen mit der Türkei. Das ist ein wichtiges
Thema auch für die Zeit unserer Ratspräsidentschaft.
Wir kennen die Situation, dass Koalitionspartner un-
terschiedlich in der Öffentlichkeit agieren. Deshalb lesen
wir mit besonderer Aufmerksamkeit das, was in den Pa-
pieren zur Vorbereitung des Rates steht. Ich bin über-
rascht. Auf der einen Seite steht dort: Der Beitrittspro-
zess soll - ich sage es jetzt einmal frei - nach dem
Kriterium der Aufnahmefähigkeit erfolgen. Auf der an-
deren Seite heißt es zur Türkei und zu Kroatien sinnge-
mäß: Er wird je nach Fortschritt weitergeführt.
Meine Frage lautet: Soll neben den geltenden Kopen-
hagener Kriterien dieses unklare Kriterium der Aufnah-
mefähigkeit auch in die Verhandlungen mit der Türkei
und Kroatien implementiert werden? Oder gilt das für
zukünftige Prozesse? Wie bewertet die Bundesregierung
vor dem Hintergrund ihrer anstehenden Ratspräsident-
schaft den jetzigen Vorschlag der Kommission, was die
Verhandlungen mit der Türkei und die Fortführung an-
geht?
Was die so genannte Absorptions- oder Aufnahmefä-
higkeit angeht, so ist nach dem Antrag, den Frankreich
während des europäischen Gipfels vor einem Jahr ge-
stellt hat, klar: Es soll sich hier kein neues Kopenhage-
ner Kriterium entwickeln.
Sie können im Grunde genommen, ohne dass ich der
Diskussion im Rat der Außenminister und erst recht der
auf dem Gipfel vorgreifen will, aus dem Bericht der
Kommission schon jetzt ungefähr ableiten, wie sich die
Diskussion entwickeln wird. Im Bericht wird Skepsis
geäußert - diese teile ich ausdrücklich -, ob sich der
Grad der Aufnahmefähigkeit Europas in irgendeiner Art
und Weise mathematisieren lässt. Ich habe von jeher ge-
sagt, man müsse sich wahrscheinlich von der Vorstel-
lung verabschieden, dass es irgendwann einmal gelingt,
den Grad der Aufnahmefähigkeit Europas aus statisti-
schen Erhebungen über die Entwicklung des durch-
schnittlichen Wirtschaftswachstums und der Arbeitslo-
sigkeit oder aus demografischen Kurven abzuleiten. Ich
glaube, das wird nicht gehen. Ein gewisses Maß an Er-
nüchterung bringt ja auch der Bericht der Europäischen
Kommission zum Ausdruck.
Hinsichtlich des nun vorliegenden Kommissionsvor-
schlages zur Fortführung des Beitrittsverfahrens mit der
Türkei habe ich gestern zum Ausdruck gebracht, dass
ich ihn für angemessen und verantwortungsvoll halte.
Sie wissen, niemand hätte es lieber als ich gesehen,
wenn es der finnischen Ratspräsidentschaft gelungen
wäre, auf Basis ihrer, wie ich finde, kreativen Kompro-
missbemühungen eine Lösung zu erreichen. Das ist lei-
der nicht gelungen. Daher bleibt es dabei: Einerseits
kann man im weiteren Prozess die Nichtratifizierung des
Ankaraprotokolls und damit die Nichtöffnung der Häfen
und Flughäfen auf türkischer Seite für zypriotische
Schiffe und Flugzeuge nicht ignorieren. Andererseits
bringt der Kommissionsvorschlag zum Ausdruck, dass
es nicht im europäischen Interesse sein kann, den Pro-
zess der Annäherung der Türkei an Europa abzubrechen
oder zu unterbrechen, und macht operative Vorschläge,
wie dieser Prozess auf einem minderen Niveau aufrecht-
zuerhalten ist. Das ist schon schwierig genug, weil es
nicht ganz einfach sein wird, über die Fortführung der
Verhandlungen über Kapitel, die die Kommission im
Prinzip für diskussionsfähig hält, Einigkeit unter allen
Mitgliedstaaten zu erzielen. Diesen politischen Prozess
müssen wir jetzt aber angehen.
Eine weitere Frage ist, ob man Kompromissvor-
schläge der finnischen Ratspräsidentschaft, die nicht
zum Erfolg geführt haben, noch einmal aufgreifen soll.
Ich bin der Meinung, solange der Abstand zu entschei-
denden Wahlen in der Region, insbesondere zu der türki-
schen Parlamentswahl, groß genug ist, sollte man den
Versuch noch einmal unternehmen. Zugleich sollte man
aber keine unrealistischen Erwartungen an weitere Kom-
promissbemühungen stellen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister Steinmeier.
Ich beende die Befragung der Bundesregierung. Die
vorgesehene Zeit ist schon deutlich überschritten.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung telekommunikationsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 16/2581 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/3635 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Otto ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Bärbel Höhn,
Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Wettbewerb und Verbraucherschutz auf
dem Telekommunikationsmarkt
- Drucksachen 16/2625, 16/3635 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Otto ({3})
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dagmar Wöhrl.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes werden die Rahmenbedingungen auf den Kommunikationsmärkten weiter verbessert. Ich glaube, es ist uns
damit gelungen, einen Ausgleich zwischen den vielschichtigsten Interessenlagen zu finden. Wir verfolgen ja
mit dem Gesetz zwei Zielrichtungen: einerseits die Stärkung der Verbraucher und andererseits die Schaffung
eines günstigen Innovations- und Investitionsklimas
für den Auf- und Ausbau einer modernen Infrastruktur.
Ich denke, dass wir in den vergangenen Jahren mit der
sektorspezifischen Regulierung in unserer Telekommunikationspolitik den richtigen Weg eingeschlagen haben.
Wir haben gute Erfolge für die Wirtschaft und für die
Verbraucher erzielt. Es gibt inzwischen mehr Anbieter,
eine größere Angebotsvielfalt und vor allem niedrigere
Preise, und zwar in allen Bereichen, ob Mobilfunk, Festnetz oder Internet.
({0})
Wenn man merkt, dass man den richtigen Kurs eingeschlagen hat, dann sollte man auf diesem Kurs weiterfahren. Für uns ist sehr wichtig, dass investiert wird und
Innovationen sich lohnen, vor allem in der breitbandigen
Infrastruktur. Wir alle kennen und schätzen die Breitbandtechnologie in ihrer Bedeutung für die Entstehung
neuer, innovativer Informations- und Kommunikationsdienste.
Der Grundsatz unserer Regelungen, die wir sehr abstrakt und technikneutral gestaltet haben, heißt Nichtregulierung neuer Märkte. Nur wenn die Wettbewerber
nicht in der Lage sind, diesem Grundsatz zu folgen und
sich zu ökonomisch vertretbaren Bedingungen Zugang
zum Markt zu verschaffen, kommt die Bundesnetzagentur ins Spiel und trifft die Entscheidung über die
Regulierung bestimmter Märkte oder Produkte, und
zwar in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission.
Wir wissen, dass dieses Thema sehr kontrovers diskutiert worden ist, auch bei uns intern und in der Öffentlichkeit. Aber nun ist eine Lösung gefunden worden, von
der ich glaube, dass sie den berechtigten Interessen aller
Beteiligten und vor allem der investitionswilligen Unternehmen Rechnung trägt sowie den Wettbewerbsaspekten
Rechnung tragen kann, und bei der wir, auch nach intensiven Überprüfungen, das Gefühl haben, dass sie europarechtskonform ist.
Aber man muss auch klarstellen, dass die Forderungen nach einer generellen Freistellung von neuen Märkten über einen gewissen Zeitraum, die in der Branche erhoben worden sind, nach unserer Auffassung nicht mit
dem Europarecht vereinbar sind, auch nicht mit dem
Ziel, wettbewerbsrechtliche Verzerrungen zu vermeiden,
das wir immer gehabt haben.
({1})
Wir wollen - ich glaube, alle hier im Haus -, dass möglichst viele Unternehmen in diese Infrastruktur investieren und dass es in dem Zusammenhang zu einem nachhaltigen Wettbewerb kommt.
Nun ist bei der Diskussion dieses Gesetzes oft von einem Spannungsverhältnis zwischen der Wirtschaft auf
der einen Seite und den Verbrauchern auf der anderen
Seite gesprochen worden. Ich glaube, das ist eine oberflächliche Betrachtungsweise. Wie ich schon erwähnt
habe, hat der Verbraucher gerade von der ausgeprägt
wettbewerbsorientierten und wirtschaftsfreundlichen
Politik in der Vergangenheit sehr profitiert. Deswegen
sind diese zwei Komponenten auch kein Widerspruch.
Aber wir müssen auch sehen, dass der Markt ein sehr
technikorientierter Markt mit einer sehr hohen Dynamik
ist, bei dem allerdings auch Intransparenz und missbräuchliches Verhalten festzustellen sind.
Unsere Aufgabe ist, diesem missbräuchlichen Verhalten entgegenzuwirken und entsprechende Gesetze zu erlassen. Gerade zum Schutz der Jugend müssen wir
neue Bestimmungen in das Gesetz aufnehmen. Ein
wichtiger Punkt war für uns die Überschuldung von
jungen Menschen, die gerade in diesem Bereich sehr
stark zugenommen hat. Denken Sie allein an das Thema
Klingeltöne; jeder, der Kinder hat, weiß, wovon ich spreche. Es wird nicht nur ein Klingelton, sondern es werden
meistens komplette Charts heruntergeladen. Ehe man
sich versieht, ist man an ein Abonnement gebunden. Am
Ende des Monats kommt dann das böse Erwachen in
Form einer Rechnung, die ins Haus flattert. Wir werden
dafür sorgen, dass ein Kündigungsrecht gesetzlich verankert wird. Wir werden ebenfalls dafür sorgen, dass zukünftig eine Warn-SMS gesendet werden muss, wenn
ein Betrag von 20 Euro aufgelaufen ist.
({2})
Wichtig ist, mehr Transparenz für die Verbraucher
zu schaffen, indem wir Vorgaben über Preisangaben und
Preisansagen verbessern. Es ist wichtig, dass wir damit
das Vertrauen in den Bereich der elektronischen Dienstleistungen zukünftig stärken. Der Endverbraucher muss
sich darauf verlassen können, dass er bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen über elektronische Medien
vor Missbräuchen geschützt ist. Wenn dieses Vertrauen
gegeben ist, dann werden diese Mehrwertdienstleistungen auch mehr in Anspruch genommen, was wiederum
einen gewissen Impuls für die Wirtschaft gibt. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang den Verhaltenskodex, den sich die Wirtschaft auferlegt hat. Wir werden
sie darin unterstützen.
Ich glaube, mit diesem Gesetz werden wir das Ziel erreichen, dass wir einen sehr leistungsfähigen Telekommunikationsmarkt mit einem optimalen Angebot von
Diensten schaffen. Es ist ein wichtiger Industriezweig,
der den erhofften Impuls für die Gesamtwirtschaft geben
wird.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit den Gemeinsamkeiten beginnen. Die Telekommunikationsbranche ist in der Tat der Innovationsund Wachstumstreiber mit einem durchschnittlichen
Wachstum pro Jahr von 3,5 Prozent und 25 000 neuen
Arbeitsplätzen in 2006 und 2007. Ich weiß nicht, woher
die Linken ihre Zahlen bekommen. Uns liegen sehr viel
positivere Zahlen vor. Ein Drittel des Produktivitätsfortschritts in Europa wird durch die Informations- und
Kommunikationstechnologie getrieben.
Uns alle eint der Wille, Rahmenbedingungen zu
schaffen, die weiteres Wachstum und insbesondere den
Ausbau der Infrastrukturen fördern. Der Wille eint
uns; leider eint uns noch nicht der Weg. Ich komme
gleich darauf zurück.
Uns eint auch das Ziel, Frau Staatssekretärin, den
Verbraucherschutz zu stärken. Im Interesse des Verbraucherschutzes und einer höheren Transparenz hätten
wir uns allerdings eine einheitliche Preisgrenze von
3 Euro gewünscht. Sie haben mit zwei Preisgrenzen von
2 Euro bzw. 3 Euro der Transparenz nicht gerade gedient. Das trägt sicherlich ein wenig zur Verwirrung der
Verbraucher bei.
({0})
- Ganz ruhig. - Insgesamt, lieber Herr Kollege, halten
wir die Verbraucherschutzregeln aber für einen Fortschritt, den wir mittragen können.
Wir tragen durchaus auch Ihre Auffassung mit, Investitionen in neue Märkte durch Anreize zu ermutigen. Im
Gegensatz zu Ihnen wollen wir aber Investitionen im
Wettbewerb stärken, nicht wie Sie unter Ausschaltung
des Wettbewerbs.
({1})
Die Geschichte der Telekommunikationsbranche in
Deutschland und darüber hinaus ist eine einzige Erfolgsstory. Keine andere Branche hat einen solchen Produktivitätsfortschritt, solche Innovationskraft, so viele neue
Arbeitsplätze und so starke Preissenkungen hervorgebracht. Sie haben schon darauf hingewiesen: Für Telefongespräche ins Festnetz gab es in den letzten zehn Jahren Preissenkungen von 94 Prozent. Was war das
Erfolgsrezept? Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb.
Liebe Frau Wöhrl, Sie haben davon gesprochen, den
erfolgreichen Kurs weiterzufahren. Das ist auch unsere
Auffassung. Wir denken aber, dass Sie gerade beginnen,
den erfolgreichen Kurs zu verlassen. Was wir brauchen,
ist weiterhin eine behutsame Regulierung oder, wie es
mein Vorsitzender gesagt hat, eine Regulierung mit
Augenmaß. Aber was wir nicht gebrauchen können, ist
Hans-Joachim Otto ({2})
die Ausschaltung von Wettbewerb - Regulierungsferien -,
wie Sie es jetzt vorschlagen.
({3})
Wir brauchen eine Balance zwischen den Investoreninteressen und der Förderung von Wettbewerbsdynamik.
({4})
- Liebe Frau Kollegin Dr. Krogmann, dies könnte zum
Beispiel dadurch geschehen, dass wir die Möglichkeit
der Netzagentur erhalten, dem Investor Pioniergewinne
in Form von erhöhten Netzzugangsentgelten zuzubilligen. Das Erfolg versprechende Rezept für mehr Investitionen ist „Mut zum Wettbewerb“ und „Vertrauen zu
den Wettbewerbsbehörden“.
Aber in Ihrem Gesetzentwurf tun Sie im entscheidenden Punkt genau das Gegenteil. Es hätte überhaupt keiner Gesetzesbestimmung zu den neuen Märkten bedurft.
Die Netzagentur verfügt schon bisher über alle Möglichkeiten, behutsam und zurückhaltend neue Märkte zu
regulieren oder sich sogar ganz einer Regulierung zu
enthalten. Stattdessen wollen Sie eine Gesetzesdefinition
des neuen Marktes; das ist überflüssig. Aber wenn Sie
eine solche schon in das Gesetz schreiben, dann bitte
doch nicht in Abweichung vom bewährten Bedarfsmarktkonzept der EU.
Jetzt kommen wir zu den entscheidenden Punkten.
Sie legen der Netzagentur eine Stahlkugel ans Bein. Sie
verbieten der Netzagentur, tätig zu werden, und zwar
selbst dann, wenn die Entwicklung eines Marktes durch
die Deutsche Telekom unzweifelhaft behindert wird.
Einschreiten dürfen die Wettbewerbshüter nämlich erst
dann, wenn der Markt dauerhaft behindert wird, also erst
dann, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist
und Deutschland Tausende Arbeitsplätze verloren hat.
Der zentrale Kritikpunkt an Ihrem Gesetz ist somit
das Wort „langfristig“ in § 9 a. Das ist die faktische Entmachtung der Netzagentur durch den Gesetzgeber.
({5})
Genau an dieser Stelle besteht der Kern Ihres Konfliktes
mit der EU. Nicht nur die Medienkommissarin Reding,
sondern auch die Wettbewerbskommissarin Kroes und
die gesamte EU-Kommission werfen Ihnen wegen dieser
langfristigen Ausschaltung des Wettbewerbs Protektion eines Staatsunternehmens vor. Die Kommission
wird - das hat sie angekündigt - ein Eilverfahren vor
dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Übrigens sind
dieser Auffassung auch die Wirtschaftsminister im Bundesrat; denn, nebenbei gesagt, das Gesetz ist ja zustimmungspflichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie mögen vielleicht eine andere Rechtsauffassung haben als die EU-Kommission. Das bewahrt Sie
aber nicht davor, dass die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren an den Hals bekommt und unsere
Nachbarländer uns mit langen Fingern Protektionismus
vorhalten. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Verfahren
unsere EU-Ratspräsidentschaft nicht besonders beflügelt und das alles wegen eines Wortes, des Wortes „langfristig“.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie streichen dieses
eine Wort aus Ihrem Entwurf. Sie bekommen die Zustimmung der Opposition
({6})
und - das ist viel wichtiger - Sie vermeiden das peinliche Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Sie
vermeiden dadurch das Risiko von Schadensersatz in
Milliardenhöhe und schaffen - das will ich hier besonders betonen - zugunsten der Deutschen Telekom
Rechtssicherheit.
Die Deutsche Telekom ist nach unserer Auffassung
viel stärker, als Sie selbst vermuten. Dort nämlich, wo
die Deutsche Telekom in vollem Wettbewerb agiert hat,
wie zum Beispiel im Mobilfunkbereich, hat sie sich erfolgreich behauptet. Wir trauen der Deutschen Telekom
und insbesondere dem neuen Vorstandsvorsitzenden
Obermann mehr zu als Sie. Wir sind der Auffassung,
dass er keine Protektion benötigt. Wir sind der Auffassung, dass sich die Deutsche Telekom und Obermann
auf dem Markt behaupten werden.
({7})
Zum Abschluss möchte ich feststellen: Mehr Vertrauen in den Markt stärkt nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland. Mehr Vertrauen in den Markt
stärkt - zumindest langfristig - auch die Deutsche Telekom. Das sollten Sie sich vor Augen halten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Dörmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes verfolgt die große Koalition vor allem zwei übergeordnete
Ziele: Erstens: Wir verbessern die Schutzvorschriften für
die Verbraucherinnen und Verbraucher. Zweitens: Wir
schaffen Anreize für zusätzliche Investitionen in neue
Märkte.
Beim Verbraucherschutz führen die neuen Regelungen beispielsweise zu mehr Preistransparenz, Jugendschutz und Kostenkontrolle. Hierauf wird mein
Fraktionskollege Manfred Zöllmer nachher noch ausführlicher eingehen.
Das zweite zentrale Anliegen der Gesetzesnovelle ist
die Stärkung des Investitionsstandortes Deutschland. Es
wurde schon erwähnt: Die IT- und Telekommunikationsbranche ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor für unser
Land. In den letzten zehn Jahren stieg ihr Anteil am
Bruttosozialprodukt von 4,7 auf fast 7 Prozent. Wir wollen, dass auch in Zukunft Investitionen in diesem
Bereich Wachstum und neue Arbeitsplätze schaffen. Von
besonderer Bedeutung sind hierbei Investitionen in innovative Produkte, durch die neue Märkte entstehen.
Es stellt sich nun jedoch die Frage - sie haben wir
heute zu beantworten -, inwieweit diese neuen Märkte
reguliert werden sollen. Grundsätzlich hat sich die Regulierung im Telekommunikationsbereich - da sind wir uns
alle einig - durchaus bewährt. Der Wettbewerb funktioniert. Wir alle profitieren von deutlich gesunkenen Preisen.
({0})
Der Anteil der Wettbewerber am Gesamtmarkt für Telekommunikationsdienste liegt nach aktuellen Zahlen des
Branchenverbandes VATM in diesem Jahr bei rund
51 Prozent gegenüber der Telekom mit 49 Prozent. Die
Regulierung greift dort zu Recht ein, wo ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung hat und hierdurch ein deutliches Ungleichgewicht gegenüber den
Wettbewerbern besteht.
Im Bereich neuer Märkte haben wir jedoch eine besondere Situation vor Augen, die wir berücksichtigen
müssen. Hier sieht sich nämlich ein Marktführer, der in
neue Techniken und Produkte investieren will, einem
doppelten Risiko ausgesetzt. Zum einen weiß das Unternehmen zum Zeitpunkt der Investition ja noch gar nicht,
ob und inwieweit sich die neuen Produkte am Markt
überhaupt etablieren und durchsetzen.
({1})
Das ist bei einem neuen Markt ein spezifisches Risiko.
Bereits hieraus ergibt sich also ein spezifisches Investitionsrisiko. Wird der neue Markt auch noch von Anfang
an reguliert und damit den Wettbewerbern die Möglichkeit eröffnet, ein Vorleistungsprodukt zu regulierten Bedingungen in Anspruch zu nehmen, können diese unter
Umständen die neuen Produkte zu vergleichbaren oder
sogar zu geringeren Konditionen am Markt anbieten.
Das investierende Unternehmen würde aber so von vornherein seine Pioniervorteile verlieren.
({2})
Es wird sich also sehr genau überlegen müssen, ob es angesichts hoher Investitionskosten dieses doppelte Risiko
wirklich eingeht.
Insoweit besteht sogar ein zusätzliches Ungleichgewicht zulasten des zuerst investierenden Marktführers.
Denn die Wettbewerber können ja zunächst in Ruhe abwarten, ob die Produkte am Markt überhaupt angenommen werden, und möglicherweise zu einem späteren
Zeitpunkt nachziehen, um ihr eigenes Risiko gering zu
halten. Dieses spezifische Investitionsrisiko und
Ungleichgewicht bei neuen Märkten kann dazu führen,
dass ein Unternehmen bei frühzeitiger Regulierung auf
seine Investition ganz verzichtet.
Das aber wäre schädlich, und zwar sowohl für den
Standort Deutschland, für Arbeitsplätze, als auch für die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Aus diesem Grund
sieht das neue TKG in § 9 a eine spezielle Regelung für
neue Märkte vor.
({3})
Diese sollen vorübergehend von der Regulierung ausgenommen werden, um Anreize für zusätzliche Investitionen in Innovationen zu setzen.
Der neue § 9 a setzt hierfür gleichzeitig aber auch
eine klare Grenze: Die Regulierung greift dann ein,
wenn ansonsten die nachhaltige Entwicklung eines wettbewerbsorientierten Marktes langfristig behindert
würde. Damit stellen wir sicher, dass keine dauerhaften
Monopole entstehen können.
Wir haben zudem großen Wert darauf gelegt - Herr
Otto hat ja gerade etwas anderes suggeriert -, dass die
Bestimmung auch europarechtskonform ausgestaltet
wird. Die EU gibt hinsichtlich der Telekommunikationsmärkte einen Rechtsrahmen für die Regulierung vor, in
dem wir uns bewegen können. Darin ist ausdrücklich
vorgesehen, dass neue Märkte vorübergehend von der
Regulierung freigestellt werden können, um Investitionen nicht zu gefährden.
({4})
So kommen beispielsweise nach Erwägungsgrund 15
der Märkte-Empfehlung der EU-Kommission neue und
sich abzeichnende Märkte, auf denen Marktmacht aufgrund von Vorreitervorteilen besteht, grundsätzlich für
eine Vorabregulierung nicht in Betracht.
({5})
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Bitte.
Bitte schön, Herr Otto.
Ich wollte dem Präsidenten nicht vorgreifen. Aber die
10 Sekunden schreiben Sie mir bitte gut.
Die Uhr wird angehalten.
({0})
Schauen Sie auf die Uhr, dann sehen Sie es.
Lieber Herr Kollege Dörmann, es ist Ihnen vielleicht
aufgefallen, dass auch meine Rede sehr differenziert war
und ich nicht von vornherein gegen § 9 a gesprochen
habe, dass ich mich vielmehr gegen die Tatsache gewandt habe, dass hier eine dauerhafte Behinderung des
Marktes verlangt wird. Das genau ist der Punkt, der europarechtswidrig ist. Mich würde interessieren, wie Sie
zu der Auffassung kommen, dass das alles in Ordnung
sei, obwohl die EU-Kommission beabsichtigt, ein Verfahren gegen Deutschland einzuleiten.
Herr Kollege Otto, ich bin ein bisschen enttäuscht.
Wir haben uns gestern im Wirtschaftsausschuss sehr ausführlich über diese Frage unterhalten. Ich habe Ihnen
dort den Hinweis gegeben, dass seitens des Wirtschaftsministeriums eine Drucksache vorgelegt wurde, in der
genau diese Fragen erörtert werden. Darin wird eindeutig festgestellt, dass die jetzt gefundene Regelung europarechtskonform ist und insbesondere das Wort „langfristig“ an vielen Stellen des EU-Rechtsrahmens
aufgeführt wird. Der EU-Rechtsrahmen berücksichtigt
also das Kriterium, ob ein Wettbewerb dauerhaft behindert wird. Nichts anderes macht der deutsche Gesetzgeber in diesem Zusammenhang.
In Ihrer Rede haben Sie gesagt, dass die EU-Kommissarin Reding Zweifel an der Rechtmäßigkeit nach EURecht geäußert hat. Ich will darauf hinweisen, dass die
EU-Kommission keine Rechtsprechung betreibt, sondern selbst eine politische Rolle spielt. Sie wissen
ebenso wie ich, dass dieser Versuch der EU-Kommission
darauf abzielt, auf europäischer Ebene für die EU-Kommission mehr Kompetenzen in Regulierungsfragen zu
etablieren. Zu Recht hat die Bundesregierung in ihrer
Stellungnahme klargestellt, dass sie das anders sieht. Wir
haben immer noch nationale Märkte. Ich interpretiere
die Äußerungen der zuständigen EU-Kommissarin als
einen politischen Versuch, Druck auf den deutschen Gesetzgeber auszuüben, damit er den vorgesehenen Rechtsrahmen nicht ausfüllt. Das können wir doch wohl nicht
mitmachen.
({0})
Wir können doch aufgrund einer politischen Stellungnahme einer Kommissarin nicht von unseren Grundsätzen und von dem, was wir als politisch richtig erachten,
abgehen.
({1})
- Nein.
Die Frage ist beantwortet. Fahren Sie bitte in der
Rede fort.
Herr Otto, ich will Ihnen noch einen zweiten Hinweis
geben, der in den Dokumenten ebenfalls enthalten war.
In Erwägungsgrund 27 der Rahmenrichtlinie wird anerkannt, dass auf Märkten, die neu sind, der Marktführer
zwar über einen beträchtlichen Marktanteil verfügen
dürfe, ihm in diesen Konstellationen jedoch keine unangemessenen Verpflichtungen auferlegt werden sollten.
Ich gehe davon aus, dass sich die EU-Kommission auch
in Zukunft an diesen Rahmen halten wird. Genau dieser
grundsätzlichen Überlegung entspricht der neue § 9 a
nämlich. Deshalb bewegen wir uns europarechtlich auf
sicherem Grund.
({0})
Der deutsche Gesetzgeber kann einen Rahmen vorgeben, jedoch selbstverständlich keine Einzelfallentscheidungen treffen. Die Regulierungsbehörde, also die
Bundesnetzagentur, wird in konkreten Fällen zu entscheiden haben, inwieweit eine langfristige Behinderung
des Wettbewerbs droht, und das Marktgeschehen genauer beobachten. Herr Otto, Sie sollten Vertrauen in die
Bundesnetzagentur haben.
({1})
Auch spezielle Zugangsfragen zu nicht ohne weiteres
nachzubildenden Teilen der Infrastruktur sind von der
Bundesnetzagentur gegebenenfalls zu prüfen. Wir lassen
ihr den Ermessensspielraum, den sie braucht. Ich will
darauf hinweisen, dass die Bundesnetzagentur in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses - Herr Otto, Sie wissen das - die Europarechtskonformität des neuen § 9 a
ausdrücklich bestätigt hat.
({2})
- Die alte Regelung ist materiell identisch mit der neuen. Vor diesem Hintergrund sind manch kritische Anmerkungen zu diesem Thema sachlich kaum noch nachzuvollziehen.
({3})
Was aber sind „neue Märkte“? Auch hierüber hat
sich in den vergangenen Monaten eine kontroverse Debatte entwickelt. Sie findet vor einem konkreten Hintergrund statt; wir wissen das. Die Deutsche Telekom hat
angekündigt, ihr Glasfasernetz auszubauen; dank
VDSL-Technik können deutlich vergrößerte Bandbreiten und Geschwindigkeiten für Datenübertragungen angeboten werden, die wiederum neue Nutzungsmöglichkeiten schaffen. In zehn Städten erfolgt dieser Ausbau
bereits, weitere 40 könnten in einer nächsten Ausbaustufe folgen. Hierfür sind insgesamt 3 Milliarden Euro
Investitionen und 5 000 zusätzliche Arbeitsplätze vorgesehen. Die aktuelle Diskussion hat also einerseits einen
konkreten Hintergrund. Andererseits kann es jedoch
nicht darum gehen, eine Lex Telekom zu schaffen und
eine bestimmte Technik regulierungsfrei zu stellen.
Bei der gesetzlichen Definition, wann es sich um einen neuen Markt handelt, haben wir uns vielmehr von
folgenden Kriterien leiten lassen: Eine gesetzliche Definition muss technikneutral formuliert sein, sie darf den
Beurteilungsspielraum der Bundesnetzagentur nicht
unangemessen einengen und sie ist selbstverständlich
ebenfalls europarechtskonform auszugestalten.
Die von uns gewählte Definition eines neuen Marktes
entspricht diesen Kriterien. Sie ist im Übrigen aus dem
anerkannten Bedarfsmarktmodell entwickelt. Danach
setzt ein neuer Markt neue Dienste und Produkte voraus,
die sich von den vorhandenen aus Sicht eines verständigen Nachfragers erheblich unterscheiden und diese nicht
lediglich ersetzen. Es werden zugleich verschiedene
qualitative Eigenschaften genannt, die geprüft werden
müssen. In der Gesetzesbegründung ist ebenfalls ausführlich hervorgehoben, dass es bei dieser Prüfung
selbstverständlich um eine Gesamtbetrachtung geht.
Durch die gewählte Definition ist klargestellt, dass reine
Infrastrukturen nicht ohne weiteres für sich regulierungsfrei gestellt werden, ohne dass damit neue Produkte verbunden wären. Auch insofern sind die von
manchen Wettbewerbern vorgebrachten Bedenken unbegründet.
Es wäre gut - ich will das ausdrücklich betonen -,
wenn möglichst viele Unternehmen - nicht nur die Telekom - selbst in neue Infrastrukturen investierten. In meiner Heimatstadt Köln beispielsweise plant Net-Cologne
den Ausbau eines eigenen VDSL-Netzes und will hierfür gut 200 Millionen Euro in die Hand nehmen. Es ist
also möglich, dass man selbst investiert.
({4})
Ich bin von daher sehr zuversichtlich, dass wir auf
dem VDSL-Markt in einigen Jahren mehrere Anbieter
und einen regen Wettbewerb haben werden.
({5})
Dauerhafte Monopolstrukturen schließen wir durch das
neue Gesetz aus. Aber ohne Vorreiter werden andere
nicht nachziehen. Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz geben wir grünes Licht für mehr Verbraucherschutz und zusätzliche Investitionen in neue Märkte.
Dies liegt im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher und im Interesse einer guten wirtschaftlichen
Entwicklung in unserem Land.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Herbert Schui von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besonders
bedeutend beim Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
telekommunikationsrechtlicher Vorschriften ist der § 9 a.
Er legt fest: Neue Märkte unterliegen grundsätzlich nicht
der Regulierung. Zweierlei ist dazu zu fragen.
Erstens. Regelt das Gesetz einen Aspekt der Telekommunikation allgemein oder ist es eine spezielle Lex Telekom? Die Koalitionsparteien müssen den folgenden
Verdacht entkräften: Der Kurs der Telekomaktie ist gegenwärtig niedrig. Das Gesetz ermöglicht der Telekom
für eine bestimmte Zeit einen höheren Gewinn. Das steigert den Aktienkurs. Damit erzielt der Bund, wenn er
denn privatisieren sollte, für seinen restlichen Anteil einen höheren Erlös. Schwer abzuschätzen ist, ob die
höheren Preise, die die Verbraucher zahlen, den zusätzlichen Privatisierungserlös übertreffen oder unterschreiten. Das Gesetz ermöglicht auf diesem so genannten
neuen Markt eine Art Sondersteuer, die den Privatisierungserlös des Bundes steigern soll.
({0})
- Sind Sie denn nicht darüber informiert, dass die Telekomaktie einen niedrigen Kurs hat, und darüber, dass der
Bund weiter privatisieren will und das nur dann erlösgünstig tun kann, wenn die Aktienkurse hoch sind? Das
ist doch trivial.
({1})
Das sollte auch Ihnen aufgefallen sein, selbst wenn Sie
in der Koalition sind.
({2})
Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch dieses Gesetz aus
dem alten Staatsmonopol ein neues privates Monopol
wird. Immerhin ist das der Verdacht der EU-Kommission.
Zweitens. Um Frieden zu stiften, Herr Kollege, kommen wir der Koalition entgegen und verstehen das
Gesetz als eine allgemeine Norm, also nicht als ein spezielles Telekomgesetz. Dann ist der Grundgedanke des
Gesetzes folgender: Geregelt wird die Position des
Pionierunternehmers in einem speziellen Bereich. Er
entwickelt im Allgemeinen neue Produkte, Produktionsverfahren oder erschließt einen neuen Markt. Geregelt
wird offenbar dort, wo der Markt versagt und wo die
Politik lenken soll. An der Idee eines privaten Pionierunternehmers wird aus so genannten ordnungspolitischen Vorstellungen festgehalten. Wenn Schumpeter in
diesem Zusammenhang Ihr Gewährsmann ist, sage ich
Ihnen ganz nebenbei: Seiner Auffassung nach konnte
auch ein öffentliches Unternehmen Pionierunternehmer
sein.
({3})
- Sie haben das Regulierungsgesetz selbst auf den Weg
gebracht. Reden Sie doch jetzt nicht über den Automarkt.
({4})
Aber ich muss gestehen: Mit Ihren espritvollen Bemerkungen kann ich, selbst wenn ich mir Mühe gebe, nicht
mithalten.
({5})
Ganz allgemein wird an Ihrem Gesetzentwurf deutlich, dass die Fragen der neuen Märkte und des innovativen Unternehmers, für den Investitionsanreize zu
schaffen sind, sehr gründlich erörtert werden müssen.
Die Idee des privaten Pionierunternehmers, also die Idee
ordnungspolitischer Prinzipien, könnte in einen Konflikt
mit wesentlichen ethischen Grundsätzen geraten.
Ein Beispiel: „Focus Money“ stellte dem BB-Biotech-Manager Müller die Frage:
Was macht den Krebs-Markt so attraktiv?
Die Antwort von Herrn Müller lautete: Es lassen sich
wegen der hohen Sterblichkeit deutlich höhere
Preise für Behandlungen durchsetzen.
Sicherlich können wir den Telekommunikationsmarkt
viel gelassener angehen. Aber das Telekommunikationsgesetz muss in einen allgemeinen Normenkontext passen. Ein Gesetz soll ja stets eine spezielle Regelung auf
der Basis allgemeiner Grundsätze sein. Deswegen ist
Sorgfalt am Platz. Diese Sorgfalt vermisse ich bei der
Formulierung von § 9 a des Telekommunikationsgesetzes, wonach neue Märkte grundsätzlich keiner Regulierung unterliegen. Auch wenn sich dieses spezielle Gesetz auf den Kommunikationssektor bezieht, besteht die
Gefahr, dass es zum Vorbild für andere Gesetze wird,
zum Beispiel für Gesetze im Bereich der Pharmaindustrie, die noch zu beschließen wären.
({6})
- Dies könnte dazu führen, dass der Pharmamarkt weiter
reguliert wird.
({7})
- Es gibt auf diesem Markt eine ganze Menge Regulierungen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass weitere Regulierungen erforderlich sind.
({8})
Wenn Sie den Geist des neuen § 9 a des Telekommunikationsgesetzes auf andere Politikbereiche übertragen,
dann sind Sie sehr schnell an dem Punkt, an dem auch
BB-Biotech-Manager Müller war. Dieses Problem müssen wir aufgreifen.
({9})
- Das alles kenne ich.
Zurück zum Speziellen: Sie bemühen sich, die Regeln
der privaten Wettbewerbswirtschaft in Ihrem Gesetzentwurf dort zur Geltung zu bringen, wo der Markt versagt.
({10})
Das gelingt Ihnen in Ihrem Gesetzentwurf allerdings
nicht. Lassen Sie mich das wie folgt begründen:
Erstens. Der Gesetzgeber soll bestimmen, wer Pionierunternehmer ist; dabei soll es sich um die Telekom
handeln. In einer privaten Wettbewerbswirtschaft entscheidet allerdings die Konkurrenz darüber, wer Pionierunternehmer ist.
Zweitens. Der Gesetzgeber soll festlegen, für welche
Dauer die Regulierung ausgesetzt wird. Aber normalerweise werden so lange Extraprofite als Lohn für eine
neue Idee erzielt, wie die Nachahmer dies zulassen.
Herr Kollege Schui, kommen Sie bitte zum Schluss.
Nachahmer sind wichtig, damit sich eine neue Idee
allgemein durchsetzt.
Zusammengefasst: Der Gesetzgeber kann offenbar
nicht die Grundlage schaffen, auf der dann die Marktkräfte das ihre tun. Die einzige Möglichkeit, die aus diesem Dilemma herausführt, besteht darin, die Netze für
Telekommunikation aus der Privatwirtschaft herauszunehmen und zu öffentlichem Eigentum zu machen, wie
es auch im Hinblick auf die Deutsche Bahn geplant war.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich gut daran, dass die ehemalige Bundesverbraucherministerin Renate Künast die Einführung von
Verbraucherschutzstandards im Bereich der Telekommunikationsdienstleistungen angemahnt hat. Dieses
Thema war damals sehr umstritten. Selbst im Zusammenhang mit dem Problem, dass sich junge Menschen
durch die Nutzung ihres Handys überschulden, wurde
noch vor drei Jahren eine Grundsatzdiskussion darüber
geführt, ob der Staat überhaupt in Märkte eingreifen
sollte oder ob dadurch nicht die Marktwirtschaft in ihren
Grundfesten erschüttert würde.
({0})
Gemessen daran zeigt der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf, dass wir erhebliche Fortschritte
erzielt haben. In diesem Gesetzentwurf sind gute
Verbraucherschutzstandards formuliert. Auch wenn es
an der einen oder anderen Stelle noch ein bisschen mehr
hätte sein können, besteht in der Sache inzwischen Konsens darüber, dass dieser Markt nur wachsen kann, wenn
die Verbraucher darauf vertrauen können, dass sich die
Abzocker am Markt nicht mehr durchsetzen können. Damit befassen sich viele Punkte in diesem Gesetzentwurf.
Ich will für meine Fraktion ausdrücklich sagen, dass wir
besonders die Punkte, die den Schutz von Kindern und
Jugendlichen betreffen, positiv sehen; das wollen wir
hier würdigen.
({1})
Das Problem liegt dort, wo dieser Gesetzentwurf sein
anderes Gesicht zeigt: wo er eine Lex Telekom ist. Die
lange Linie vom Koalitionsvertrag über den Regierungsentwurf zu dem jetzt vorliegenden, im Ausschuss von
den Koalitionsfraktionen geänderten Gesetzentwurf
zeigt eindeutig, dass die große Koalition beabsichtigt,
die große Telekom in besonderer Art und Weise zu pampern.
({2})
Ich denke, dass Sie diesem Unternehmen damit einen
Bärendienst erweisen.
({3})
Ron Sommer war kein schlechter Manager; das zeigt
auch der Erfolg, den er jetzt als Berater hat. Herr Ricke
war kein schlechter Manager, er war relativ erfolgreich.
Auch Herr Obermann ist kein schlechter Manager.
({4})
Doch wenn wir nicht aufhören, die Telekom als ein
Staatsunternehmen anzusehen,
({5})
wenn wir nicht aufhören, zu versuchen, der Telekom
dort, wo es möglich ist, die Marktwirtschaft zu ersparen,
dann werden die Manager der Telekom es nicht schaffen,
das Unternehmen auf den Erfolgspfad zu führen.
({6})
Wenn erst einmal die Kunden weggelaufen sind, werden
die Beschäftigten des Unternehmens in umso härterer
Form die Zeche zahlen müssen.
({7})
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Gesetzentwurf eine
entscheidende Schwäche hat. Er erschwert es den Wettbewerbern, in die Technik zu investieren. Das sagen die
Wettbewerber sehr deutlich.
({8})
- Der Kollege Barthel fragt: Wieso? - Sie können die
Magenta-Kappe wieder abziehen.
({9})
Das passiert einfach deshalb, weil die Leitungen, zu
denen Sie den Wettbewerbern den Zugang verwehren
wollen, Leitungen sind, auf denen „Deutsche Bundespost“ steht. Das sind Leitungen und Ressourcen aus Zeiten des Monopols, die der Telekom durch Ihr Wirken
und das Wirken vieler anderer in diesem Parlament gesichert wurden. Wenn sie auf denen jetzt wie der Gralshüter sitzen darf, ist die Folge, dass in diesem Bereich kein
Wettbewerb entsteht.
({10})
Wenn kein Wettbewerb entsteht im Bereich des VDSL,
dann haben wir eine Form der Planwirtschaft, ist im
Markt zu wenig Dynamik, gibt es letzten Endes zu wenige preisgünstige Angebote für einen superschnellen
Internetzugang, sodass viele Bürgerinnen und Bürger
und viele Unternehmerinnen und Unternehmer diese
Technik nicht nutzen werden.
({11})
Das ist das Problem. Deswegen ist Ihr Entwurf wachstumsfeindlich.
({12})
Frau EU-Kommissarin Reding tut, was die Regulierung betrifft, nicht etwa ihre Privatmeinung kund, sozusagen zwischen Kaffee und Mittagessen, sondern die
Meinung der EU-Kommission. Zu argumentieren, die
Bundesregierung vertrete da eben eine andere Meinung
als die EU-Kommission, ist entweder ziemlich kühn
oder naiv. Ich vermute, dass es kühn ist, dass folgendermaßen auf Zeit gespielt werden soll: Wir verschaffen der
Telekom jetzt Regulierungsferien. Ein Verfahren vor
Gericht, das klären soll, ob dies dem EU-Recht widerspricht, dauert seine Zeit. So lange hat die Telekom ihren
Vorsprung und die Wettbewerber bleiben schön verunsichert. Selbst wenn wir am Ende verlieren - ich sage
einmal: die Tabakwerbung lässt grüßen -, hat das Unternehmen, das wir fördern wollen, in der Zwischenzeit den
Pioniervorsprung, den wir beabsichtigt haben.
Ich halte das für falsch, weil ich glaube, kurz vor Beginn unserer EU-Ratspräsidentschaft wäre es gut gewesen, wenn die Bundesregierung hier ein klares Signal gesetzt hätte, dass sie für den Binnenmarkt eintritt,
({13})
dass sie den Wettbewerb und den Binnenmarkt fördern
will und nicht fußkranke Exmonopolisten wie die Telekom pampert und in einer Art und Weise vor dem Wettbewerb schützt, die allen Beteiligten schaden wird. Ich
will noch einmal sehr deutlich sagen: Die Telekom ist in
der Tat wirtschaftlich erfolgreich, wo sie sich dem Wettbewerb stellt. Doch das Vertrauen, dass das UnternehMatthias Berninger
men im Wettbewerb besteht, wird ihm entzogen, wenn
die Politik ihm einen Pioniergewinn verschaffen will.
Herr Dörmann, Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten
Vertrauen in die Bundesnetzagentur. Die Bundesnetzagentur hat mit diesem Gesetzentwurf ein ernstes Problem. Denn Sie geben der Bundesnetzagentur sozusagen
eine Bedienungsanleitung an die Hand. Sie haben an dieser Stelle den Gesetzentwurf verschärft. Das heißt, Sie
trauen Herrn Kurth und seinen Experten nicht zu, im
Sinne des Marktes und des Wettbewerbes zu entscheiden.
({14})
Warum nicht? Weil Herr Kurth im Laufe des Verfahrens
deutlich gemacht hat, dass die Regulierungsferien nicht
so einfach vonstatten gehen können, wie sich das die
Manager der Telekom vor einigen Monaten gewünscht
haben.
({15})
Vor diesem Hintergrund vertrauen Sie der Bundesnetzagentur nicht, sondern Sie legen sie leider an die Kette,
was ich sehr bedauerlich finde.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Martina Krogmann von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Gesetzentwurf ist ein klares Signal für Investitionen und für Wettbewerb.
({0})
Ich möchte gerne den Gesamtzusammenhang darstellen, um den es geht. Es geht um die Frage, wie wir in
Deutschland bei den modernen Breitbandinfrastrukturen wieder vorankommen. Uns allen ist klar, dass
schnelle Datennetze in der Informationsgesellschaft eine
Grundvoraussetzung dafür sind, dass wir die Vorteile
- auch die wirtschaftlichen Vorteile - nutzen können.
Die Wahrheit ist, dass wir in Deutschland in den letzten
Jahren zurückgefallen sind.
({1})
Wir sind bei der Leistungsfähigkeit der Datennetze, also
bei der Geschwindigkeit, zurückgefallen und wir liegen
insbesondere in den ländlichen Räumen bei der Flächendeckung zurück. Deshalb müssen wir uns doch fragen,
was wir als Politiker tun können, damit die Unternehmen
in Deutschland wieder in Infrastrukturen investieren und
wir wieder an die Spitze in Europa kommen.
({2})
Ich habe mir angehört, was in dieser Debatte von der
Opposition kam: Die FDP streitet um ein einziges Wort
in diesem Gesetzentwurf mit einem Umfang von
13 Seiten,
({3})
die Grünen reden von Frau Künast und der Bundespost
und die PDS kreiert den Ausdruck „private Pionierunternehmer“ und möchte am liebsten wieder verstaatlichen,
was nun wirklich völlig absurd ist.
({4})
Um bei den Breitbandinfrastrukturen voranzukommen, müssen wir zwei Dinge tun: Erstens müssen wir
den Wettbewerb - vor allem den Wettbewerb der Infrastrukturen - stärken und zweitens müssen wir dafür sorgen, dass sich die Investitionen für die Unternehmen, die
investieren und etwas Neues schaffen wollen, auch lohnen. Deshalb sagen wir: Es ist genauso einfach wie klar,
dass wir Anreize für Investitionen in neue Märkte schaffen müssen, wenn wir vorankommen und Innovationen
in unserem Land schaffen wollen. Es bleibt dabei: Wir
haben ein ausgewogenes Verhältnis geschaffen und wir
haben ein Signal für Investitionen in neue Märkte auf der
einen Seite und Wettbewerb auf der anderen Seite gesetzt.
({5})
Das liegt mir besonders am Herzen: Wir wollen
Investitionsanreize und keinen Investitionsschutz
schaffen.
({6})
Herrn Berninger, ich bin hier völlig bei Ihnen: Ein Investitionsschutz hat mit der sozialen Marktwirtschaft wirklich nichts zu tun. Deshalb wollen wir entsprechende
Anreize schaffen.
({7})
Es ist falsch, ständig von Regulierungsferien zu reden.
({8})
Sie alle waren in der Anhörung der Sachverständigen
doch anwesend.
({9})
Ihnen dürfte also nicht entgangen sein, dass sich nicht
nur der Vertreter der Deutschen Telekom - er tat das logischerweise -, sondern auch namhafte Sachverständige
gewünscht haben, dass man Zeiträume für Regulierungsfreistellungen ins Gesetz geschrieben hätte.
({10})
Diese Absurditäten haben wir natürlich nicht mitgemacht, weil wir keinen Schutz wollen - dieser hat in der
Marktwirtschaft keinen Platz -, sondern weil wir Anreize für etwas Neues geben wollen.
({11})
Es ist auch deshalb völlig falsch, von Regulierungsferien zu sprechen, weil die Zugangsregulierung im bisherigen Telekommunikationsgesetz, also die Regelung
über den Zugang der Wettbewerber, mit § 9 a TKG überhaupt nicht außer Kraft gesetzt wird. All das, was in den
§§ 9 bis 13 und § 21 des Telekommunikationsgesetzes
steht, bleibt, wie es bisher war. Das heißt: Wenn der
Wettbewerb langfristig behindert wird, dann greift natürlich die Zugangsregulierung. Es gibt dann also zum Beispiel einen Zugang zu den Kabelverzweigern, es gibt die
Möglichkeit des Bitstromzugangs und es gibt auch den
Zugang zu den Leerrohren.
({12})
Wie bisher auch hat das die Bundesnetzagentur gemeinsam mit der EU-Kommission zu bestimmen.
Deshalb sage ich hier ganz klar: Wir schaffen Anreize
und mehr Wettbewerb. Wir wollen keine neuen Monopole schaffen. Deshalb ist es völlig falsch, von Regulierungsferien zu reden.
({13})
Selbstverständlich wollen wir, dass die Deutsche Telekom in das deutsche Glasfasernetz investiert. Sie,
meine Herren von der Opposition, tun so, als gäbe es
zwei Klassen von Investitionen: die Investitionen der
Telekom, die böse und gefährlich sind, und die Investitionen der anderen, die gut sind.
({14})
Diese Ansicht ist für die Volkswirtschaft gefährlich. Wir
wollen alle Investitionen - von jedem Unternehmen, von
wem auch immer - in Deutschland.
({15})
Gerade weil wir das wollen, haben wir ein zentrales
Anliegen der Wettbewerber aufgenommen, nämlich
klarzustellen, dass es bei neuen Märkten um Dienste und
Produkte geht und nicht etwa nur um ein Stück Glasfaser
oder Infrastrukturen.
Herr Otto, ich habe mich daran erinnert, was Sie in
der ersten Beratung des Telekommunikationsgesetzes
ausgeführt haben. Sie haben gesagt: Wenn Sie klarstellen, dass Infrastrukturen an sich keine neuen Märkte
sind, dann sind wir uns einig und können zustimmen.
({16})
Dass Sie sich jetzt an einem einzigen Wort festhalten,
zeigt, dass Sie nur ein Haar in der Suppe suchen. Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Otto: Geben Sie sich doch
einen Ruck und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu, wie
es Ihr Vorsitzender schon vor sechs Wochen in seinem
Artikel getan hat!
({17})
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang auch eine
Grundsatzfrage stellen. In der sozialen Marktwirtschaft
kann die Regulierung immer nur eine neu zu begründende Ausnahme sein. Sie darf nie zum Dauerzustand
werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch auf europäischer Ebene als Bundesregierung und auch als deutsches Parlament ein klares Signal geben, dass es unser
Ziel sein muss, dass die Märkte, die jetzt noch reguliert
sind, in das Wettbewerbsrecht überführt werden.
Wir leisten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen entscheidenden Beitrag dazu, weil wir mutig nach
vorne gehen und Vorreiter innerhalb der Europäischen
Union sind. Dieses Gesetz ist ein klares Signal für Investitionen, Innovationen und auch für Wettbewerb.
({18})
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verfolgt man die heutige Debatte, dann hat man den Eindruck, der vorliegende Gesetzentwurf würde nur aus einem einzigen Paragrafen - nämlich § 9 a - bestehen. Die
Bedeutung des Verbraucherschutzes ist bisher in der
Debatte etwas zu kurz gekommen. Über 90 Prozent des
Gesetzentwurfs betreffen aber den Verbraucherschutz.
Deswegen will ich darauf eingehen.
Die Bedeutung dieses Bereichs zeigt sich unter anderem daran, dass es in Deutschland inzwischen mehr
Handys als Einwohner gibt. Pro Jahr gibt es über
100 Milliarden Telefonate.
Mit diesem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften verbessert sich der Verbraucherschutz in Deutschland in erheblichem Maße.
({0})
In der Vergangenheit waren die Verbraucherinnen und
Verbraucher sehr oft mit undurchsichtigen Tarifkonstruktionen konfrontiert. Versteckte Abodienste ließen
insbesondere junge Menschen in die Schuldenfalle tappen und so manche Nutzung eines Mehrwertdienstes
wurde zum Kostenrisiko.
Mit dem novellierten Gesetz schaffen wir nun mehr
Preistransparenz, Kostenkontrolle und Jugendschutz. So
wird die Pflicht zur Preisinformation in der Werbung
ausgeweitet und bezieht sich auf die unterschiedlichsten
Dienste. Preisinformationen müssen zukünftig gut lesbar, deutlich sichtbar und in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rufnummer stehen. Wir führen eine Pflicht
zur Preisangabe vor Abschluss eines Vertrages bei Kurzwahldatendiensten - zum Beispiel bei Klingeltönen ein. Dies schützt insbesondere junge Verbraucherinnen
und Verbraucher vor erheblichen Kosten oder gar Überschuldung. In die gleiche Richtung zielt der Anspruch
der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Erhalt einer
kostenlosen Warn-SMS bei Erreichung eines Betrages
von 20 Euro innerhalb eines Monats durch Kurzwahldienste im Abo.
Die Grenzen zwischen Mobilfunk und Festnetz verschwinden immer mehr. Wir haben deshalb dafür gesorgt, dass 2 Euro die einheitliche Grenze für verpflichtende Preisinformationen darstellen. Auch bei der
Preishöchstgrenze gibt es eine einheitliche Schwelle von
3 Euro. Das schafft Klarheit für die Verbraucherinnen
und Verbraucher und gibt der Wirtschaft den Spielraum,
neue Dienste zu entwickeln. Dieses Gesetz schafft einen
sehr vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen der
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie den berechtigten Interessen seriöser Anbieter.
({1})
- Das war schon ganz gut, lieber Kollege Otto.
({2})
Maximalpositionen, wie sie zum Beispiel von den
Grünen vertreten werden, helfen hier nicht weiter. Ich
bin im Übrigen dem Kollegen Berninger für seine - wie
ich finde: sehr gute - Bewertung unserer Verbraucherschutzregelungen in diesem Gesetz dankbar. Man kann
sicherlich eine generelle Preisansage bei Call-by-CallGesprächen fordern. Wenn aber in der Anhörung herauskommt, dass es sich um einen Betrag von circa
2,50 Euro pro Monat und Telefonrechnung handelt, dann
wird deutlich, dass es wenig Sinn macht, diesen Markt
durch Überregulierung zu zerstören.
Die Branche braucht das Vertrauen ihrer Kunden. Nur
so haben die vielfältigen Angebote eine Chance. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben in der Vergangenheit sehr stark vom Wettbewerb profitiert. Umso bedauerlicher ist, dass wir uns in einigen Bereichen erneut mit
Problemen konfrontiert sehen, die uns als Gesetzgeber in
Zukunft fordern werden. Die zunehmende Telefonwerbung außerhalb von Kundenbeziehungen ist belästigend,
störend und verboten. Wir müssen hier intensiv über
Sanktionen nachdenken. So manche kostenpflichtige
Warteschleife bei einer Hotline wird zum Ärgernis der
Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn man nur Dudelmusik hört und gleichzeitig der Gebührenzähler tickt.
Diese Probleme zeigen: Verbraucherpolitik in der Telekommunikation bleibt eine dauernde Aufgabe. Dieser
Herausforderung werden wir uns auch in Zukunft stellen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften,
Drucksache 16/2581. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3635, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3661.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/3635 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr
Wettbewerb und Verbraucherschutz auf dem Telekommunikationsmarkt“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
auf Drucksache 16/2625 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher
Nachstellungen ({0})
- Drucksache 16/575 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines StalkingBekämpfungsgesetzes
- Drucksache 16/1030 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/3641 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Sevim Dagdelen
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin, der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Bitte schön.
({2})
- So ist es, Herr von Essen. Vielen Dank, dass Sie das
so freundlich bemerken. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den
Opferschutz und ein schlechter Tag für Stalker.
({0})
Ich freue mich sehr, dass wir heute nach gründlicher Beratung - auch mit den Ländern - ein Gesetz beschließen
werden, das die Strafverfolgung verbessert und den
Schutz von Stalkingopfern noch effektiver machen wird,
als es bisher der Fall war. Mit der Schaffung des neuen
Straftatbestandes der „Nachstellung“ durch das Gesetz,
das wir heute verabschieden wollen, senden wir ein eindeutiges Signal aus: Stalking ist keine Privatsache, keine
Sache von verschmähten Liebhabern, sondern strafwürdiges Unrecht.
({1})
Wer solche Taten begeht, den wollen wir künftig mit
dem Strafrecht belangen. Wer von Stalking betroffen
wird, wird künftig vom Staat raschen und wirksamen
Schutz erfahren.
Dass wir mit der Ergänzung des Strafgesetzbuches,
die Ihnen vorliegt, unser Ziel erreichen, haben uns die
Experten bei der Anhörung im Rechtsausschuss bestätigt. Sie haben sich nahezu einhellig für einen eigenen
Straftatbestand ausgesprochen. Zwar gab es die eine
oder andere Differenz über die genaue Formulierung,
aber unter dem Strich kann man sagen, dass der Kompromiss, den wir gemeinsam mit den Ländern ausgehandelt haben, eine gute Lösung ist.
Die vier konkreten Handlungsalternativen, die wir
vorgeschlagen hatten, sind jetzt um einen Auffangtatbestand ergänzt. Wie vom Bundesrat vorgeschlagen,
werden dadurch auch andere vergleichbare Handlungen
erfasst. Die Rechtsprechung kann also in Zukunft auch
solche Nachstellungen erfassen, die wir heute noch gar
nicht kennen. So kannten wir beispielsweise früher noch
nicht die Möglichkeit, per SMS oder per Handyanruf
Leute nachts aus dem Schlaf zu holen. Die Entwicklung
digitaler Kommunikationsmittel kann man heute noch
nicht voll absehen. Deswegen macht es Sinn, einen solchen Auffangtatbestand zu schaffen.
Für schwere Fälle sind Qualifikationstatbestände
vorgesehen. Wenn durch die Belästigung die Gefahr des
Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder gar
der Tod als solcher herbeigeführt wird, dann beträgt der
Strafrahmen bis zu fünf bzw. zehn Jahren, wobei sich
das nur auf das konkrete Stalking bezieht und nicht auf
andere mögliche Straftatbestände, die selbstverständlich
auch erfüllt sein können.
Gerade für diese schweren Fälle erweitern wir auch
das strafprozessuale Instrumentarium. Das heißt, künftig
kann bei Wiederholungsgefahr Untersuchungshaft angeordnet werden.
({2})
- Darauf werden Sie sicherlich noch eingehen. - Ich
halte das auch für richtig. Wir haben gerade in Berlin einen Fall gehabt, in dem vielleicht Leben gerettet worden
wäre, wenn wir das Instrumentarium gehabt hätten.
Bei der Ausgestaltung der Tatbestände haben wir
auch die Belange der Presse berücksichtigt. Der Rechtsausschuss hat sich ausführlich damit befasst. Es ist völlig
klar: Wer sich presserechtlich korrekt verhält, ist kein
Stalker und er fällt auch nicht unter den neuen Straftatbestand. Es gibt deshalb gar keinen Grund, wie es teilweise gefordert wurde, Journalisten ausdrücklich von
dem Tatbestand auszunehmen oder gar einen besonderen
Rechtfertigungsgrund für sie zu schaffen.
({3})
Die neue Vorschrift berührt die grundrechtlich geschützte Pressefreiheit bei der Berichterstattung und bei
der Informationsbeschaffung nicht; denn die Grenze zur
Strafbarkeit wird erst dann überschritten, wenn sich ein
Verhalten als Eingriff in die Grundrechte der betroffenen
Person darstellt und das Opfer dadurch in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Wenn das
aber die Folge von beharrlichen Nachstellungen durch
Journalisten ist, dann verdient dieses Verhalten auch keinen Schutz.
({4})
Das muss man ganz klar sagen. Wir wollen keine Paparazziklausel.
({5})
- Da bin ich aber froh, Herr Kollege.
Die vorgeschlagene Lösung ist also ein gutes Ergebnis unserer vielfältigen Beratungen und sie ist eine Regelung mit Augenmaß, auch soweit es um strafprozessuale
Änderungen geht. Ich möchte mich deshalb sehr herzlich
bei all den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die auf
der einen oder anderen Seite an diesem Projekt mitgearbeitet haben. Das gilt sowohl für die Mitglieder des
Rechtsausschusses als auch für die Vertreter der Länder.
Unser gemeinsames Ziel ist klar: Wir wollen Opfer
schützen und sicherstellen, dass die Täter bestraft werden. Deswegen ist die Änderung dieses Gesetzes ein
ganz wichtiger Schritt. Aber mit der rechtlichen Änderung allein ist es nicht getan.
({6})
Jetzt muss auf der Ebene der Polizei und auf der Ebene
der Staatsanwaltschaft nachvollzogen werden, was sich
hier geändert hat. Man kann nur empfehlen, dass die
Länder dem Best-Practice-Beispiel, zum Beispiel aus
Bremen, folgen und so etwas wie Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Polizeidienststellen mit besonders geschultem Personal einrichten, wo die Opfer und die
ganze Problematik richtig wahrgenommen werden.
Ich habe vorhin gesagt: Es geht nicht um verschmähte
Liebhaber. Wenn jemand auf diese Art und Weise verfolgt wird - in aller Regel sind es nach wie vor Frauen;
es gibt allerdings auch Männer - und zur Polizei geht,
dann wird häufig mit den Worten reagiert: Nun stellen
Sie sich mal nicht so an; der liebt Sie doch bloß. Das ist
keine adäquate Reaktion. Es muss sichergestellt werden,
dass zwischen einer rechtmäßigen Verfolgung - auch das
mag es geben - und einer unrechtmäßigen Verfolgung
unterschieden wird. Dort, wo Hilfe erforderlich ist, muss
geholfen werden.
Von den Polizeien und Staatsanwaltschaften hängt
deswegen ganz besonders viel ab. Ich wünsche mir, dass
man diesen Tatbestand zum Anlass nimmt, Schulungen
und Fortbildungen anzubieten, damit man über mehr
Verständnis für die Lage der Opfer zu einem besseren
Schutz der Betroffenen kommt.
({7})
Dies ist mein Wunsch für die nächste Zeit.
Ich möchte noch einmal besten Dank dafür sagen,
dass wir dieses Gesetz so im Konsens verabschieden
können.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manches, was gut gemeint ist, ist nicht auch tatsächlich
gut. Dieser Satz ist mir eingefallen, als ich gerade die
Rede der Bundesjustizministerin gehört habe.
Ich will zunächst einmal auf das Gemeinsame eingehen. Es hat lange gedauert, bis wir uns im Bundestag mit
dem Problem des beharrlichen Nachstellens befasst haben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Einstieg zustande gebracht. Wir haben schon in der ersten
Debatte festgestellt, dass vieles, was wir uns vorgestellt
haben, durch die bisherige Gesetzgebung leider nicht erreicht wird. Das liegt daran, dass es im rechtlichen Bereich zum Teil Lücken gibt; aber es liegt auch daran
- darauf hat die Ministerin, wie ich finde, zu Recht hingewiesen -, dass diejenigen, die sich mit der Bitte um
Hilfe an die Polizei wenden, immer wieder auf Unverständnis stoßen. Die Konsequenzen dieses Unverständnisses gehen so weit - auch davon konnten wir lesen -,
dass Opfer ihr Leben verloren haben, zum Beispiel weil
sie umgebracht worden sind. Das kann uns hier im Bundestag natürlich nicht ruhig lassen. Deshalb müssen wir
darüber reden.
Ich habe es schon am Anfang gesagt: Die jetzt vorgeschlagene Lösung halten wir nicht für den richtigen
Weg.
({0})
Ich will auch sagen, warum.
Sie haben das Delikt als erfolgsqualifiziertes Delikt
ausgestaltet.
({1})
- Ich habe mir gedacht, dass Sie das sagen würden. Sie
haben schon im Rechtsausschuss deutlich gemacht, warum das so ist. Sie sehen sehr wohl, welche rechtlichen
Probleme durch eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen entstehen. Hinzu kommt dann noch ein Auffangtatbestand. So wie Sie im Rechtsausschuss formuliert
haben, wollen Sie das verfassungsrechtliche Risiko, das
damit verbunden ist - der Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz
stellt das Bestimmtheitsgebot auf; der Bürger soll vorher
genau wissen, was verboten ist, weil ihm nur dann ein
Vorwurf gemacht werden kann -, dadurch minimieren,
dass ein bestimmter Erfolg eingetreten sein muss.
({2})
Das Besondere beim Stalking ist aber doch, dass es
permanent kleine Nadelstiche gibt und die Opfer auch
dann schon Hilfe erwarten. Insofern gibt man den Opfern bei der Lösung, die jetzt angestrebt wird, Steine statt
Brot.
({3})
Das ist genau das, was nach unserer Vorstellung nicht
sein sollte: Auf der einen Seite besteht ein hohes verfassungsrechtliches Risiko und auf der anderen Seite wird
den Frauen - die Ministerin hat zu Recht gesagt, dass es
fast immer Frauen sind, die in besonderer Weise zu leiden haben - keine wirkliche Hilfe angeboten.
Wir sind auch der Meinung, dass die Rolle, die die
Presse in einer Demokratie hat, hier nicht richtig gewürdigt wird.
({4})
Die Ministerin hat gesagt: Wer sich ordentlich verhält,
wird mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten. - Ja.
Aber die Presse braucht sich nicht immer ordentlich zu
verhalten. Sie hat sich zwar an Recht und Gesetz zu halten - das ist ganz selbstverständlich -,
({5})
aber das, was wir „ordentlich“ finden, darf die Presse
auch mal durchbrechen.
({6})
Sie darf jemanden stellen. Sie darf jemanden mehrfach
ansprechen. Sie darf jemanden zu Stellungnahmen auffordern. Alles das ist möglich.
({7})
Wenn jemand so empfindlich ist, dass es bei ihm zu
Konsequenzen kommt,
({8})
dann darf das nicht dazu führen, dass sich die Presse
strafbar macht; das können jedenfalls wir so nicht akzeptieren.
({9})
Wer Kritik übt, der hat die Verpflichtung, hier auch
vorzutragen, was er sich stattdessen vorstellt. Ich komme
gern auf einen Vorschlag zurück, den der frühere rheinland-pfälzische Justizminister Mertin schon sehr früh in
der Debatte gemacht hat. Das ist aus meiner Sicht der
sehr viel bessere Weg. Er hat eine Ergänzung des
Gewaltschutzgesetzes um weitere Tatbestände vorgeschlagen.
({10})
- Wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt, Herr
Kollege. Lesen Sie ihn! Sie können darin unsere Vorschläge finden.
({11})
Unser Vorschlag ist also, das Gewaltschutzgesetz zu
ergänzen. Das führt nämlich dazu, dass es klare richterliche Anordnungen für denjenigen gibt, der einer anderen
Person nachstellt, sodass er genau weiß, was er nicht tun
darf. Dann ist es selbstverständlich und richtig, dass er
bestraft wird, wenn er dagegen verstößt.
({12})
Das heißt, hier kann früh angesetzt werden, hier kann
dem Opfer wirkliche Hilfe gegeben werden und hier
kann auch die strafrechtliche Ahndung erfolgen; sie ist
sogar notwendig.
Die Strafvorschriften im Gewaltschutzgesetz müssen
dann natürlich etwas ergänzt werden; das findet sich allerdings - das gebe ich zu - auch in Ihrem Gesetzentwurf. Wenn schwer wiegende Folgen eingetreten sind,
muss sich das ganz selbstverständlich auch schwer wiegend bei der zu verhängenden Strafe niederschlagen.
Das ist aus unserer Sicht ein verfassungsrechtlich einwandfreier Weg. Das ist ein Weg, der dem Opfer von
Stalking früh hilft und der dem Opfer deshalb sehr viel
besser und sehr viel wirksamer hilft, als es bei dem Vorschlag der Koalition der Fall ist.
Ich würde gern noch etwas zu einem anderen Aspekt
sagen. Wie auch immer die Lösung aussieht - ich unterstreiche mit Nachdruck das, was die Bundesjustizministerin gesagt hat -: Wir brauchen eine bessere Schulung
der Polizei und eine bessere Schulung der Staatsanwaltschaften, damit die Opfer dort auf sachkundige Personen treffen, die ihnen helfen, die Verständnis für sie haben und die auch auf sie eingehen. Wenn sich das Opfer
an die Behörden wendet, soll es nicht das Gefühl haben,
weil es etwa abweisend behandelt wird, noch einmal
zum Opfer zu werden. Wie auch immer wir die verschiedenen Vorschläge beurteilen - wir sind gemeinsam,
denke ich, in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass dort eine
wesentliche Verbesserung eintritt; denn wir wissen aus
der Praxis, dass da noch eine Menge zu tun ist.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein guter Tag für den Opferschutz. Ich muss
wirklich sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir
haben lange beraten und gemeinsam eine Fassung vorgelegt, die, denke ich, gut ist und insbesondere auch verfassungskonform ist.
Der neue § 238 StGB hat die Überschrift „Nachstellung“ und nicht „Stalking“, weil wir im deutschen Gesetzbuch einen deutschen Begriff verwenden wollen.
({0})
Das Phänomen Stalking gibt es bei uns seit einigen
Jahren. Es betrifft nicht nur Prominente, sondern es kann
nahezu jeden Menschen, jede Berufsgruppe, jede
Schicht betreffen. Täter sind nicht nur Exliebhaber, Kollegen oder Bekannte, Nachbarn; es kann jeder sein.
Forscher haben festgestellt, dass es sich hierbei mittlerweile um ein Massenphänomen handelt und dass die
derzeitigen Gesetze die Opfer nicht ausreichend schützen.
Lassen Sie mich einige kurze Beispiele nennen, damit
Sie wissen, worum es geht. Ein Beispiel aus Bremen:
Ein Ehepaar trennt sich. Der 41-jährige Mann terrorisiert
seine 39-jährige Ehefrau monatelang durch Telefonate
und Auflauern. Er macht ihr das Leben zur Hölle und
schließlich ersticht er sie an ihrem Arbeitsplatz.
Ein weiteres Beispiel aus Weimar, letztes Jahr geschehen: Eine 44-jährige Frau erhält anonym unzählige Male
am Tag, manchmal acht- bis zehnmal, Paketlieferungen,
Möbel, Anmeldungen zu Kreuzfahrten, Klappräder, Erotikartikel, einen LKW mit 100 Bürostühlen etc. Der Frau
fallen die Haare aus, sie leidet unter Depressionen,
nimmt ab und bekommt eine Nervenentzündung.
In Münster wird eine Schülerin von ihrem Mitschüler
gestalkt, weil sie seine Liebe nicht erwidert. Es wird Telefonterror betrieben, ihr Name, ihre Telefonnummer
wird ins Internet gestellt mit eindeutigen Sexangeboten.
Die Schülerin ist in psychiatrischer Behandlung und in
ihren Leistungen in der Schule abgesackt.
In Rheinland-Pfalz tyrannisiert jemand ein komplettes Dorf. Manche werden im Monat mit 800 bis 900 Telefonanrufen terrorisiert. Es kam hier zu schwersten Magen-Darm-Entzündungen, zu Herzinfarkten, zu ganz
großen Problemen in Familien.
Nach den Ergebnissen aus der Forschung ist festzustellen, dass jeder Achte in Deutschland unter Stalking
leidet oder schon gelitten hat, dass jedes vierte Opfer
länger als ein Jahr gestalkt wird, dass jedes dritte Opfer
verprügelt und angegriffen wird, dass jeder vierte Betroffene einen Arzt oder einen Therapeuten aufsuchen
muss und dass die Hälfte aller Gestalkten unter Schlafstörungen und Angstzuständen leidet. Vielfach muss der
Arbeitsplatz oder auch der Wohnort gewechselt werden.
Zu 85 Prozent - wir haben es eben gehört - sind Männer
die Täter.
Welche Möglichkeiten bietet das Gesetz heute? Da
haben wir das Zivilrecht, Herr van Essen. Das Gewaltschutzgesetz reicht bei weitem nicht aus. Wir hatten eine
umfassende Anhörung. Es wurde eindeutig festgestellt,
dass ein Straftatbestand vonnöten ist.
({1})
Wenn Sie das Gewaltschutzgesetz zugrunde legen
- ich spreche hier aus meiner Erfahrung als Anwältin -,
dann gehen Sie in der Regel zu einem Anwalt und stellen vor Gericht einen Antrag, Sie müssen Prozesskostenhilfe beantragen oder einen Kostenvorschuss zahlen. Sie
müssen selbst vortragen, was geschehen ist. Sie müssen
das an Eides statt versichern. Sie sind gehalten, sich gegebenenfalls mit dem Täter vor Gericht auseinander zu
setzen. Das ist alles sehr, sehr belastend.
({2})
Sie müssen, wenn der Täter die einstweilige Verfügung
nicht beachtet, als Opfer erneut initiativ werden und dafür sorgen, dass ein Zwangsgeld festgesetzt wird und
vieles andere mehr. Das ist nach unserer Auffassung für
das Opfer nicht zumutbar. Deshalb brauchen wir einen
Straftatbestand.
({3})
Auch das Strafrecht ist derzeit nicht geeignet, dem
Opfer Hilfe zu leisten. Ein Straftatbestand ist nur dann
gegeben, wenn eine Verletzung der Gesundheit, des Lebens, des Hausfriedens oder des Eigentums vorliegt. Erst
dann kann eingeschritten werden.
Wir wissen alle, dass Stalking ein Dauerdelikt ist. Das
heißt, der Täter ist permanent in Aktion. Seine Aktionen
steigern sich, werden immer intensiver und nicht selten
kommt es zu einer Eskalation. Deshalb brauchen wir einen Straftatbestand, der genau auf dieses Täterverhalten
zugeschnitten ist. Derzeit können nur Einzelakte bestraft
werden. Vielleicht reicht es für eine Bestrafung - wegen
Hausfriedensbruchs, Körperverletzung usw. -,
({4})
das ist aber nicht das, was strafrechtlich bewertet werden
soll. Deshalb muss Stalking als ein Straftatbestand ins
Gesetz aufgenommen werden. Wir müssen dafür sorgen,
dass es nicht zur Eskalation kommt. In vielen Fällen
- die Ministerin hat es angesprochen - sind Menschen
zu Tode gekommen. Wenn wir ein gescheites Gesetz mit
der Möglichkeit zur Inhaftierung gehabt hätten, hätte
vieles schon vermieden werden können.
({5})
Der derzeitige Zustand ist nicht länger haltbar.
Ich erinnere daran - wir haben es auch im Ausschuss
besprochen -: Im Ausland gibt es zum Teil seit über
zehn Jahren Stalkingtatbestände. In Amerika, Australien,
Skandinavien und Österreich wurden gute Erfahrungen
gemacht.
In der letzten Legislaturperiode wurden wir auch in
Deutschland aktiv. Der Bundesrat hat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Bayern und Hessen waren hier federführend. All das ist aufgrund der Neuwahlen der Diskontinuität anheim gefallen. Nach den Neuwahlen haben wir
es wieder aufgelegt. Im Mai dieses Jahres haben der
Bundesrat und die Bundesregierung entsprechende Gesetzentwürfe neu in die Beratungen eingebracht. Da die
Vorstellungen bezüglich der Einfügung eines Auffangtatbestandes und von Qualifikationstatbeständen sowie
der Einführung von Deeskalationshaft ziemlich weit
auseinander gingen, wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat, gebildet. In dieser Arbeitsgruppe sind wir zu guten Ergebnissen gekommen - dafür bedanke ich mich nicht nur bei
der Bundesregierung, sondern auch bei den Kolleginnen
und Kollegen aus dem Bundesrat - und nun können wir
einen Gesetzentwurf vorlegen, der gut ist und den Opfern hilft. Dass es etwas länger gedauert hat, hat sich,
wie ich meine rentiert; denn dafür ist das Gesetz nun
umso besser.
({6})
Bei der Auswahl der Sachverständigen zur Anhörung, die wir durchgeführt haben, haben wir Wert darauf
gelegt, dass sowohl Vertreter von Opferverbänden, von
Beratungsstellen - die Vertreter der Interventionsstellen
aus Mainz und Bremen waren da -, Professoren, Praktiker wie der Richter Nack vom BGH und auch Pressevertreter
({7})
zu Wort kamen. Ein Vertreter des Presseverbandes ({8})
- zwei Vertreter des Presseverbandes waren da, um uns
zu informieren, ob das Gesetz auch wirklich praxistauglich ist. Es wurde einhellig begrüßt, die vorgelegten Regelungen ins Gesetzblatt aufzunehmen.
Wie sieht nun der Gesetzentwurf aus, der als Kompromiss vorgelegt wurde? Es gibt einen Grundtatbestand
mit einer Auflistung von einzelnen Stalkingfällen. Dazu
kommt der Auffangtatbestand, der sich auf die einzelnen, konkret ausgeführten Stalkingfälle bezieht und mit
den unter den Ziffern 1 bis 4 aufgelisteten Fällen vergleichbare Fälle unter Strafe gestellt werden. Damit wollen wir vermeiden, dass eine Strafbarkeitslücke entsteht;
die Ministerin hat es ausgeführt. Die Technik schreitet ja
rapide voran und das Täterverhalten ist teilweise so unglaublich, dass man nicht alle Sachverhalte in diesem
Gesetz auflisten kann. Deshalb war die Einfügung eines
Auffangtatbestandes notwendig.
({9})
Etwas Ähnliches gibt es bezüglich des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Auch hier wird von ähnlichen, ebenso gefährlichen Fällen gesprochen, die unter
Strafe gestellt werden können. § 315 b Abs. 1 Ziffer 3
StGB enthält genau das Gleiche. Damit gibt es keine
Probleme. Ich weiß nicht, warum hier nun dem Bestimmtheitsgebot nicht Genüge getan werden sollte.
({10})
Für den Grundtatbestand haben wir einen Strafrahmen von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe festgelegt. Für besonders schwere Fälle, wenn der
Unrechtsgehalt sehr groß ist, also für das Opfer die Gefahr des Todes oder der schweren Gesundheitsverletzung
bestand, ist eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis
fünf Jahren vorgesehen. In dem Fall, dass das Opfer zu
Tode kommt, ist eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis
zehn Jahren vorgesehen.
Uns war es auch ganz wichtig, dass in die Qualifikationstatbestände nicht nur das Opfer einbezogen wird,
sondern auch die nahen Angehörigen des Opfers, weil
sie in der Regel durch die Stalkingfälle mit betroffen
sind. Deshalb ist es gut, dass wir auch diese im Tatbestand berücksichtigt haben.
Der Grundtatbestand wurde darüber hinaus als ein
relatives Antragsdelikt ausgestaltet. Das heißt, in den
leichteren Stalkingfällen geht das Opfer zur Polizei oder
Staatsanwaltschaft und erstattet Anzeige, es sei denn,
das öffentliche Interesse ist tangiert. Dann werden die
Ermittlungsorgane von sich aus tätig.
Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Deeskalationshaft - das war für die Union ein wesentlicher Kernpunkt dieser Reform - aufgenommen wird. Wir haben es
getan, weil es nicht nur in der jüngsten Vergangenheit,
sondern auch schon in früheren Zeiten zu Todesfällen
gekommen ist, da nicht die Möglichkeit bestand, den Täter zu inhaftieren. Es musste zunächst eine Verletzung
eines Rechtsgutes erfolgt sein - der Täter musste geprügelt haben, jemanden schwer verletzt haben oder es
musste jemand zu Tode gekommen sein -,
({11})
bevor man überhaupt initiativ werden konnte. Deshalb
haben wir festgelegt, dass es dann, wenn eine konkrete
Gefahr für die Gesundheit oder für das Leben des Opfers
besteht, möglich ist, den Täter in Haft zu nehmen. Selbst
laufende Strafverfahren haben in der Vergangenheit Täter nicht davon abgehalten, gegen ihr Opfer vorzugehen.
Das ist ein unerträglicher Zustand, für den kein Opfer
Verständnis hat. Dem konnte nur Abhilfe geschaffen
werden, indem eine Inhaftierung, wenn Wiederholungsoder Rückfallgefahr besteht, möglich ist. Von daher erklärt sich die Erweiterung des § 112 a Abs. 1 Nr. 1 der
Strafprozessordnung. Die Ausführungen der Experten
aus der Anhörung haben uns bestätigt, dass wir das Instrument der Deeskalationshaft brauchen. Das haben
auch die Strafverfolgungsbehörden, die in der Praxis mit
der Gesetzesmaterie befasst sind, so dargestellt. Die Anordnung der Deeskalationshaft muss natürlich verhältnismäßig sein; so prüft ein Richter im Einzelfall, ob die
Haftgründe ausreichen oder ob es mildere Mittel gibt,
das Opfer zu schützen.
Noch einige Sätze zur Pressefreiheit. Die Ministerin
hat hier völlig zu Recht ausgeführt, dass wir zwischen
der verfassungsrechtlich geschützten Pressefreiheit einerseits und der Privatsphäre der Betroffenen andererseits abwägen müssen. Solange sich die Presse innerhalb
der Gesetze bewegt, gibt es überhaupt keinen Grund,
Sondertatbestände für sie zu schaffen. Der Gesetzentwurf sorgt für einen ausgewogenen Ausgleich zwischen
den Privatinteressen einerseits und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit andererseits.
Am Ende meiner Rede schließe ich mich voll und
ganz den Ausführungen der Ministerin an: Wir werden
als Bundesgesetzgeber ein Gesetz auf den Weg bringen,
auf das die Opferschutzverbände, die Menschen, aber
auch die Ermittlungsorgane schon lange gewartet haben.
Nun ist es an den Ländern, mit dem Gesetz zu arbeiten,
wobei es in der Länderhoheit liegt, wie die Staatsanwaltschaften ausgestaltet sind und wie die Polizei arbeitet.
Das Bremer Modell wurde angesprochen. Hier gibt es
beim Landeskriminalamt Sonderdezernate, die sich mit
Stalking befassen. Die Mitarbeiter sind geschult. Aber
nicht nur die Polizeibeamten und die Staatsanwälte, sondern auch die Richter müssen Fortbildungen machen.
Nur dann, wenn diejenigen, die handeln müssen, informiert sind, können sie das Gesetz in der Praxis gut anwenden.
Wir können am heutigen Tag sagen, dass wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das für den Opferschutz gut
ist und auf das lange gewartet wurde. Ich würde mich
freuen, wenn wir in diesem Haus zu einer klaren Meinungsbildung kämen und das Gesetz sehr schnell in
Kraft treten könnte. Wir werden sehen, dass es der richtige Weg ist, da das Gesetz ausgewogen ist und alle Interessen berücksichtigt wurden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Ein guter Tag für den
Opferschutz“, hieß es eingangs. Das ist richtig. Opfer
von Gewalt, seien es Männer, Frauen oder Kinder, brauchen Schutz. Ihn in solchen Fällen zu gewährleisten, ist
Aufgabe moderner Politik. Wir begrüßen ausdrücklich
den Versuch - ich wiederhole: den Versuch - der Bundesregierung, den Opfern des unter dem Begriff Stalking
bekannten Verhaltens wirksamer als bisher zu helfen.
Ich denke, wir sind über die Fraktionsgrenzen hinweg
einig, dass den Opfern Hilfe zuteil werden muss. Meinungsverschiedenheiten gibt es allerdings hinsichtlich
des Weges zu einem besseren Opferschutz. In diesem
Punkt sind wir mit der FDP d’accord;
({0})
denn die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes, wie
im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, lehnen wir
ebenfalls ab.
Dafür sprechen folgende Punkte: Schwerpunkt einer
Gesetzesänderung ist für uns ein effektiver Opferschutz.
({1})
Das Gewaltschutzgesetz gewährleistet, wenn man unserem Antrag folgt, der mit dem der FDP inhaltlich nahezu
gleichlautend ist - das muss man einmal feststellen -,
({2})
einen wirksamen Opferschutz. Die Argumente gegen das
Gewaltschutzgesetz sind, dass man einen Antrag bei Gericht stellen müsse, dass man konfrontiert werde, dass es
ein Hin und Her sei usw. Aber - da spreche ich aus eigener beruflicher Erfahrung - wie ist es denn beim strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das ja auch auf einen
Erfolg abzielt? Anzeige bei der Polizei, polizeiliche Ermittlungen, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen,
({3})
möglicherweise Anklageerhebungen nach den Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten, der dann zum
Angeklagten wird, usw. Ich kenne aus eigener Erfahrung
Fälle, in denen das strafrechtliche Verfahren Monate länger dauert als eine gerichtliche Anordnung im Falle von
Stalking nach Gewaltschutzgesetz. Das habe ich selber
so erlassen.
({4})
Das Gesamtziel, durch die Strafbewehrung eine bessere Verfolgbarkeit der Stalker zu erreichen und damit
letztlich den Opfern zu helfen, wird durch diesen Gesetzentwurf jedenfalls nicht erreicht. Denn nach Meinung der Bundesregierung muss das Opfer schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt sein, damit die
Schwelle zur Strafbarkeit überschritten wird. Dann ist es
für einen wirksamen Opferschutz in aller Regel zu spät.
({5})
Da hilft auch die von den Grünen beantragte Änderung
in den RiStBV, den Richtlinien für das Strafverfahren
und das Bußgeldverfahren, nichts; denn das meiste steht
bereits in diesen Richtlinien, gerade hinsichtlich des öffentlichen Interesses.
Während in Wissenschaft und Praxis der Versuch unternommen wird, wirksamen Opferschutz auf Grundlage
der tatsächlichen Interessen der Betroffenen und einer
verlässlichen empirischen Forschung durchzusetzen, dominiert in der Politik immer wieder strafrechtlicher Aktionismus. Gerade die Interessen der Opfer, die hier im
Vordergrund stehen sollten, verbieten es, ein öffentlichkeitswirksames Vorgehen einer wirklichen Problemlösung vorzuziehen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist jedenfalls aus Opfersicht weitgehend nutzlos und aus rechtsstaatlicher
Perspektive wohl verfassungswidrig. Herr van Essen hat
es schon gesagt: Es gibt in dem Gesetzentwurf eine Fülle
unbestimmter Rechtsbegriffe und einen Auffangtatbestand. - Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2
des Grundgesetzes dürfte allen hier anwesenden Juristen
ein Begriff sein. Es stellt sich die Frage, wie zu erklären
ist, dass die Bundesregierung zum Entwurf des Bundesrats zunächst wie folgt Stellung genommen hat:
Der Entwurf enthält neben einer Vielzahl wenig bestimmter Rechtsbegriffe einen Auffangtatbestand,
der nach der Begründung der Tatsache Rechnung
tragen soll, dass sich der durch den „Stalker“ vollführte Terror einer abschließenden gesetzlichen Bestimmung entziehe. Der vorgelegte Entwurf begegnet durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf das
Bestimmtheitsgebot des Art. 103 des Grundgesetzes.
({6})
Jetzt wird ein ebenso unbestimmter Auffangtatbestand
vorgeschlagen. Das ist für mich nicht nachzuvollziehen.
Das Spektrum des Nachstellens - darin sind wir uns
einig - kann nicht komplett erfasst werden.
({7})
Das ist auch von der Ministerin ausgeführt worden. Mit
einem unbestimmten Straftatbestand können also nicht
sämtliche denkbaren Handlungen erfasst werden. Wie
weit wollen Sie da gehen?
({8})
Der Vergleich mit § 315 c StGB hinkt. Da gibt es
ganz konkrete Tatbestandsmerkmale, die sehr scharf formuliert sind.
({9})
- Nein, das haben Sie hier nicht.
({10})
- Sie kennen Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht.
({11})
- Schauen Sie einmal in den Gesetzentwurf.
Ich denke - in diesem Punkt sind wir, wie gesagt, mit
der FDP d’accord -, dass das Gewaltschutzgesetz gemäß
unserem Antrag ausgebaut werden sollte; denn mit Strafen allein kann man das Ziel nicht erreichen. Sie können
auch so weitermachen, wie Sie es vorhaben. Für diesen
Fall will ich den Schriftsteller Martin Kessel zitieren:
„An der Härte der Strafen erkennt man die Schwächen
des Regimes.“
({12})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Welch schwer wiegende Folgen Stalking für die seelische und körperliche Gesundheit der Opfer haben kann,
stellt heute niemand mehr infrage. Es ist auch bekannt,
dass beim Stalking über 80 Prozent der Opfer weiblich
sind und dass es sich bei den Tätern meistens um ehemaligen Partner handelt. Wir hatten deshalb bereits im Gewaltschutzgesetz einen zivilrechtlichen Schutz verankert. Für die Opfer war das damals ein wichtiger Schritt.
In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass dies gerade aus
Opferschutzgründen - und das sehe ich anders als Sie,
Herr Kollege Wunderlich - nicht ausreicht. Das Zivilrecht geht von prozessual gleichberechtigten Parteien
aus, ein Gleichgewicht, das zwischen Stalker und Gestalkter nur selten zu finden ist. Die Opfer müssen - das
ist gerade schon gesagt worden - selbstständig einen Antrag stellen, Beweise erbringen und die Kostenlast tragen. Das überfordert sie meistens in ihrer sehr belastenden Situation.
Für uns Grüne ist der Opferschutz zentral. Deshalb haben wir uns - anders als die Linksfraktion und die FDP für einen Straftatbestand entschieden.
({0})
Allerdings ignoriert der hier vorliegende Vorschlag der
Koalition ausgerechnet dieses Anliegen. Die Bundesregierung hat nämlich den Grundtatbestand als Privatklagedelikt ausgestaltet. Damit sind die Opfer bei der
Klage wieder auf sich selbst gestellt.
({1})
Privatklagedelikte sind Delikte wie Beleidigung oder
Sachbeschädigung. Dass die Koalition das Stalking mit
diesen Delikten auf eine Stufe stellt, zeigt, dass Sie trotz
der Anhörung vieler Expertinnen und Experten die spezifische Situation der Stalkingopfer nicht verstanden haben.
({2})
Dem Entwurf fehlt auch eine Ausnahmeregelung für
Journalisten und Journalistinnen - in diesem Punkt bin
ich mit Ihnen einig, Herr Kollege van Essen -, damit
nicht jede intensive Recherche sofort als Stalking diffamiert wird. Wie oft war es gerade in der Vergangenheit
die Presse, die Missstände aufgedeckt hat. Darum haben
wir in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen, dass für
die Presse andere Regelungen gelten, wenn sie in der
Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen handelt.
({3})
Entscheidender ist aber: Nach wie vor bezweifeln wir,
dass Ihr Kompromissvorschlag in der jetzigen Form vor
dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte, was die
geplante Ausweitung der Untersuchungshaft angeht.
({4})
Denn die sehr hohen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestellt hat, können von den weit gefassten Qualifikationstatbeständen in Ihrem Entwurf unseres Erachtens
keineswegs erfüllt werden.
({5})
- Herr Stünker, das ist Ihnen jetzt unangenehm; das tut
mir Leid. Ursprünglich hatte die Bundesregierung dies
im Entwurf des Bundesrates kritisiert. Hier hat die SPD
ihre Meinung offensichtlich um 180 Grad gedreht. Es tut
mir Leid, dass Ihnen das jetzt peinlich ist; aber so ist es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
der Union, was die Opfer viel besser schützt als eine so
genannte Deeskalationshaft, sind effektive Interventionsmaßnahmen vor Ort und ein besseres Verständnis
der Behörden für diese Form von Gewalt. Ein Straftatbestand ohne diese flankierenden Maßnahmen wird ins
Leere laufen. Ich bin mit Ihnen, Herr Kollege Wunderlich, einig: Allein einen Straftatbestand zu schaffen,
reicht nicht.
Ich erinnere an die Studie der Technischen Universität
Darmstadt, derzufolge fast 70 Prozent der befragten
Stalking-Opfer Schwierigkeiten hatten, der Polizei den
Ernst ihrer Situation zu vermitteln. Dass es vor den Gerichten ähnliche Probleme gibt, wissen wir von den Beratungsstellen. Ganz wichtig ist daher die Schulung aller
Beteiligten, sowohl die der Justiz als auch die der Polizei. Auch die Einrichtung von Sonderzuständigkeiten ist
nötig.
({6})
- Nein, das haben Sie nicht.
({7})
In unserem Entschließungsantrag haben wir zahlreiche notwendige Maßnahmen aufgelistet. Für besonders
wichtig halten wir Änderungen der Richtlinien für das
Straf- und Bußgeldverfahren. Festgeschrieben werden
soll unter anderem, dass gerade bei engen persönlichen
Beziehungen regelmäßig das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung anzunehmen ist.
Als besonders erfolgreiche Maßnahme hat sich im
Bremer Modellprojekt die direkte Ansprache von Stalkern durch die Polizei in einem möglichst frühen Stadium erwiesen. Das muss elementarer Bestandteil jedes
Vorgehens gegen Stalking werden.
({8})
- Ich war hier.
({9})
- Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Wenn Sie eine
Zwischenfrage stellen wollen, dann sollten Sie dies auf
ordentliche Weise tun und hier nicht so dazwischenrufen.
({10})
Viele dieser Forderungen fallen nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Aber der Aktionsplan „Häusliche
Gewalt“ bietet uns die Möglichkeit, hieran anzuknüpfen
und ein gemeinsames Konzept zu erstellen.
Ich finde, gerade diese Vorschläge in unserem Entschließungsantrag zur Stärkung der Rechte der Opfer
könnten wir konsensual angehen. Da sind die FDP- und
die Linksfraktion unserer Meinung; dazu gibt es ähnliche Vorschläge. Auch die Bundesregierung kann ihre
Augen vor diesen Notwendigkeiten nicht verschließen,
wenn sie ein Gesetz schaffen will, das wirklich nützt.
Recht herzlichen Dank.
({11})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich das Wort der Kollegin Christine Lambrecht von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzte
Rednerin habe ich die nette Aufgabe, auf einige der vorgebrachten Scheinargumente einzugehen,
({0})
mit denen versucht wird, den vorliegenden Gesetzentwurf zu diffamieren, wofür ich - so muss ich sagen wenig Verständnis habe.
({1})
Es wurde hier unglaublich gesetzestechnisch diskutiert; dazu komme ich gleich. Wir sollten aber nicht außer Acht lassen, worum es hier geht. Wir haben vor vielen Jahren unter Rot-Grün ein Gewaltschutzgesetz
verabschiedet. Es war gut und richtig gemeint; es ist in
die richtige Richtung gegangen. Aber wir mussten feststellen, dass es in vielen Bereichen nicht ausreichend ist,
dass wir Ergänzungen bzw. Flankierungen brauchen.
Das Gewaltschutzgesetz wird nicht außer Kraft gesetzt,
({2})
sondern bleibt für die einfachen Fälle bestehen und eröffnet die Möglichkeit, sowohl danach als auch nach
dem nunmehr zu verabschiedenden Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vorzugehen.
({3})
- Richtig. - Es bleibt jedem überlassen, auf welchen
Weg er sich machen möchte.
Frau Schewe-Gerigk, es ist nicht so, dass es ein reines
Antragsdelikt ist,
({4})
wenn ich mich in Zukunft gegen solche Vorkommnisse
wehren möchte. Natürlich kann ich einen solchen Antrag
stellen. Aber da hilft ein Blick in den Gesetzentwurf, so
wie er auf dem Tisch liegt; denn in Abs. 6 des neu zu
schaffenden § 238 StGB steht:
In den Fällen des Absatzes 1 wird die Tat nur auf
Antrag verfolgt, es sei denn,
({5})
dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung
ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.
In genau diesen Fällen braucht man keinen Antrag zu
stellen. Dann wird die Strafverfolgungsbehörde tätig.
({6})
Ich möchte Ihnen einen Teil eines Briefes vorlesen,
damit wir einmal wissen, über welche Fälle wir reden.
Ich glaube, Sie, Herr van Essen, haben gesagt, dass Sticheleien von dem neuen Gesetz nicht erfasst würden.
Selbstverständlich sollen Sticheleien nicht von diesem
Gesetz erfasst werden, sondern Tatbestände bzw. Sachverhalte wie der folgende. Ihn hat uns eine Mutter mit einem Schreiben vom Oktober dieses Jahres zur Kenntnis
gegeben. Ihre Tochter ist Opfer eines Stalking-Täters geworden. Sie ist 44 Jahre. In dem Brief steht: Seit 2003 ist
das Leben der Familie total aus den Fugen geraten. Weiter schreibt sie: Seit dem 15. Dezember 2004 lebe ich
nicht mehr, sondern funktioniere ich nur noch. - Die
Tochter wurde zwei Jahre gedemütigt, misshandelt, belästigt, vergewaltigt, verfolgt, terrorisiert, mit Fäusten
geschlagen und am Ende umgebracht.
Es geht nicht um Sticheleien; es geht um genau solche
Vorfälle. Dafür reicht ein Gewaltschutzgesetz auch in
veränderter Form nicht.
({7})
Wenn wir zu dem Zeitpunkt, als diese Taten geschahen,
die hier kritisierte Deeskalationshaft, den Haftgrund
nach § 112 a StPO, gehabt hätten, dann hätte dieser Täter
schon in Haft genommen werden können, weil die Gefahr bestand, dass er schwere Straftaten begehen wird.
Vielleicht hätte das Leben dieser jungen Frau gerettet
werden können. Mit Verlaub, dieses Vorgehen wäre verhältnismäßig, wenn man die entsprechenden Rechtsgüter
gegeneinander abwägt.
({8})
Es ist viel kritisiert worden, dass die Begriffe nicht
bestimmt genug seien und deswegen große Probleme auf
uns zukämen. Herr van Essen hat hier den Reigen der
Bedenkenträger und Kritiker eröffnet. Herr van Essen,
ansonsten lassen Sie uns in solchen Diskussionen immer
gern an Ihrem reichem Erfahrungsschatz aus Ihrer Zeit
als Oberstaatsanwalt teilhaben. Ich habe die Stellungnahme eines Leitenden Oberstaatsanwaltes bekommen.
({9})
Ich will jetzt gar nicht auf die Hierarchie abheben oder
das in irgendeiner Form bewerten. Nur, dieser Mann hat
mit einem solchen Gesetz überhaupt keine Probleme, im
Gegenteil. Er sagt ganz klar: Das ist so formuliert, dass
die Gerichte sehr wohl in der Lage sein werden, es auszulegen. Es ist hinreichend bestimmt und auslegungsfähig. - Er fordert allerdings, genau wie Sie, ein Gefährdungsdelikt.
({10})
Sie haben Recht: Wir haben uns für etwas anderes entschieden, nämlich für ein Erfolgsdelikt, mit dem wir
dem Bestimmtheitsgebot in diesem Punkt Rechnung tragen können.
Herr van Essen, Sie müssen sich entscheiden: Soll es
hinreichend bestimmt sein? Oder wollen Sie, dass das
nur ein Gefährdungsdelikt ist?
({11})
Beides geht nicht. Wasch mich, aber mach mich nicht
nass - das funktioniert im Strafrecht nicht.
({12})
Wenn man sich die Kritik an diesem Gesetz anschaut,
merkt man, dass diese Kritik überhaupt nichts Substantiiertes enthält. Es spricht nicht für Ihre Erfahrung und
Ihre Erkenntnisse als ehemaliger Oberstaatsanwalt,
({13})
wenn Sie vortragen, dass ein Strafverfahren genauso aufwendig sei wie ein Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz. Das trifft natürlich besonders mit Blick auf den Betroffenen nicht zu. Er wird in einem Verfahren nach dem
Gewaltschutzgesetz viel mehr in die eigene Verantwortung genommen. Hinzu kommt, wie gesagt: Wir hätten
keine Möglichkeit, jemanden, bevor es zum Schlimmsten kommt, aus dem Verkehr zu ziehen. Dieser neue
Haftgrund eröffnet die Möglichkeit dazu.
Ich möchte nicht, dass es zu weiteren Fällen kommt,
wie sie in diesem Brief beschrieben wurden. Vielmehr
möchte ich den Menschen Brot und keine Steine geben;
ich möchte einen wirksamen Schutz vor solchen Übergriffen. Deswegen bedarf es dieses Gesetzes.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen, Drucksache 16/575. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3641, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3663? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Mehrheitsverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3662? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3665? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3664? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung des Bündnisses 90/
Die Grünen sowie Enthaltung der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über den Entwurf eines StalkingBekämpfungsgesetzes des Bundesrates auf Drucksache 16/1030. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3641, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Margareta Wolf ({0}), Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Partnerschaftliche Unternehmenskultur stärken - Mitarbeiterbeteiligung fördern
- Drucksache 16/2653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, bitten, den Saal zu verlassen,
sodass die übrigen der Rednerin folgen können. - Bitte
schön, Frau Dückert.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, über
das wir bereits gestern in der Aktuellen Stunde diskutiert
haben. Wir haben Ihnen einen Antrag dazu vorgelegt,
weil wir glauben, dass wir hier nach dem, was Sie gestern dazu gesagt haben, vielleicht Einigkeit erzielen können.
In Großbritannien haben 30 Prozent der Betriebe mit
mehr als 200 Beschäftigten Mitarbeiterbeteiligungsmodelle. Bei uns sind es etwa 3 600 Betriebe. Es ist
also festzustellen, dass die Mitarbeiterbeteiligung in
Deutschland seit etwa 30 Jahren in einer Art Dornröschenschlaf gefangen ist. Ich denke, es ist an der Zeit,
dass wir dieses Dornröschen wachküssen;
({0})
denn die Mitarbeiterbeteiligung ist ein Baustein einer
modernen, offenen Unternehmenskultur. Dazu gehören
auch eine bessere Corporate Governance und Maßnahmen zur Förderung von Frauen in Chefetagen, die wir
voranbringen müssen. Das gehört alles zusammen.
Arbeitnehmerbeteiligung ist „Mitbestimmung plus“.
Das sage ich vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP ganz deutlich. Ich
habe nämlich immer wieder den Eindruck, dass Sie Arbeitnehmerbeteiligung als Alternative zur Mitbestimmung diskutieren. Das ist ein falscher Ansatz. Es geht
um beides: um mehr Mitbestimmung und Mitsprache,
aber eben auch um Arbeitnehmerbeteiligung.
Mitarbeiterbeteiligung birgt Chancen. Wir haben
kürzlich ein Fachgespräch mit Betrieben geführt, die auf
diesem Gebiet Pioniere sind. Dort konnte man uns
deutlich belegen, was schon in der gestrigen Debatte
angedeutet wurde: Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung
haben Produktivitätsvorteile. Dies zeigt auch folgendes
Beispiel: Mit einer Maschine, die mit „Eigentum der
Mitarbeiter“ gekennzeichnet ist, wird sehr viel sorgsamer umgegangen. Mitarbeiterbeteiligung kann zudem zu
einer Stärkung der Eigenkapitaldecke führen, was gerade
in kleinen und mittleren Unternehmen vorteilhaft ist.
Auch in Betrieben, bei denen es um die Unternehmensnachfolge geht - im Schnitt pro Jahr 71 000 -, kann Mitarbeiterbeteiligung ein Projekt sein, diese Betriebe in die
Zukunft zu führen. - Um all dies geht es und jeweils sind
unterschiedliche Ansätze nötig. Ansätze von der Stange
führen nicht weiter. Deshalb müssen wir darüber reden.
Wir sollten auch - das ist mir wichtig - über die Risiken reden, die mit der Arbeitnehmerbeteiligung verbunden sind: Wenn ein Arbeitnehmer neben seiner Arbeitskraft auch noch Kapital einbringt, hat er für den Fall,
dass sein Unternehmen in Schwierigkeiten kommt, ein
doppeltes Risiko zu tragen. Wir haben in unserem Antrag zu diesem Thema deshalb folgenden Vorschlag unterbreitet: Dort, wo Steuergelder gebunden sind, sollte
eine Insolvenzsicherung für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer verbindlich vorgeschrieben sein.
({1})
Für KMUs, kleine und mittlere Betriebe, muss die Lösung an dieser Stelle aber noch anders aussehen. Auf
Landesebene, in Berlin und Thüringen, gibt es für Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung Programme mit Garantieübernahme von Bürgschaftsbanken. Das sind gute
Stützen für kleine und mittlere Betriebe, in denen Mitarbeiterbeteiligung noch Neuland ist.
({2})
Arbeitnehmer brauchen gewisse Sicherheiten. Wenn
sie ihre Arbeitskraft plus ihr Kapital zum Einsatz bringen, haben sie schon ein doppeltes Risiko zu tragen.
Wenn dann noch das hinzukommt, was Sie von der
Union, aber auch von der SPD in der aktuellen Debatte
vorschlagen - ich habe das heute beispielsweise von
Herrn Müntefering gelesen -, nämlich dass diese Modelle zur Altersvorsorge genutzt werden könnten, dann
wird aus dem doppelten Risiko der Arbeitnehmer gar ein
dreifaches Risiko. Jemanden, der seinen Job in einem
Betrieb hat und auch sein Kapital dort bindet, sollte man
nicht auch noch dazu überreden, seine Altersvorsorge in
dem gleichen Betrieb zu platzieren. Man sollte ihn darauf aufmerksam machen, dass es besser wäre, das Risiko zu streuen, indem er einen Vertrag zur kapitalgedeckten Altersvorsorge bei einer privaten Gesellschaft
abschließt. Ich finde Ihren Vorschlag sehr gefährlich. Sie
sollten ihn noch einmal überdenken.
({3})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Redezeit ist überschritten. Deswegen komme
ich zum Schluss.
Ich hoffe auf eine faire Beratung. Wir haben viele
Vorschläge gemacht, die über das hinausgehen, was ich
jetzt in der Kürze der Zeit vortragen konnte. Zum
Schluss vielleicht noch Folgendes: Bevor wir über eine
weitere Ausdehnung von Subventionen reden, sollten
wir lieber noch einmal über die Halbierung des Sparerfreibetrages sprechen, die Sie gerade beschlossen haben.
Auch das schadet nämlich der Vermögensbildung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben uns schon in der gestrigen Aktuellen
Stunde sehr intensiv über die Mitarbeiterbeteiligung unterhalten. Trotzdem halte ich es für gut, dass wir auch
heute noch einmal über dieses Thema sprechen. Frau
Kollegin Dückert, Ihr Antrag geht im Prinzip in die richtige Richtung.
({0})
An einigen Stellen wird aber sicherlich noch darüber zu
diskutieren sein. Heute fangen wir damit an.
Dass Mitarbeiterbeteiligung notwendig ist, zeigt sich
schon daran, dass man sich in Deutschland seit mehr als
30 Jahren permanent mit diesem Thema beschäftigt,
dass aber noch keine zufrieden stellende Lösung auf den
Weg gebracht worden ist. Untersuchungen zufolge
- eine solche Studie hat das IAB durchgeführt - werden
bei nur 2 Prozent der Unternehmen in Deutschland Formen der Mitarbeiterbeteiligung praktiziert. Im Hinblick
auf die Gewinnbeteiligung sieht die Situation besser aus:
Rund 9 Prozent der Unternehmen in Deutschland wenden solche Methoden an. Auch das ist mir allerdings viel
zu wenig.
Ich persönlich bin Unternehmer und habe dieses Instrument immer genutzt. Denn Mitarbeiter sind viel motivierter, wenn sie am Erfolg des Unternehmens, in dem
sie arbeiten, beteiligt werden. Das Problem ist natürlich,
dass diese Möglichkeit in den Tarifverträgen nicht vorgesehen ist. Es wäre wünschenswert, wenn die Bereitschaft bestünde, daran etwas zu ändern. Darüber müssen
wir nachdenken.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland ziemlich schlecht da. Denn im Ausland - in Großbritannien
und Frankreich wie auch in den skandinavischen Ländern - ist die Mitarbeiterkapitalbeteiligung viel stärker
verbreitet als bei uns. In diesen Ländern wird sie allerdings in großem Umfang durch Steuern gefördert, Frau
Dückert. Unter Umständen müssen auch wir diese Möglichkeit ins Auge fassen. Es geht uns nicht darum, dass
hier und heute ein fix und fertiges Modell vorgelegt werDr. Michael Fuchs
den muss - auch Ihres ist das nicht -, sondern darum,
dass wir nach Wegen suchen, um die Anwendung dieses
Instruments auszubauen. Wir sollten endlich ohne Scheu
über die Mitarbeiterbeteiligung und über Wege hin zu
mehr unternehmerischem Miteinander diskutieren.
Es gefällt mir nicht, dass in diesem Zusammenhang
immer wieder dieselben notorischen Gegenmeinungen
vertreten werden. In den Zeitungen heißt es, dieses Vorhaben sei ein „trojanisches Pferd“ und es handele sich
um einen „Sparlohn statt Barlohn“. Auf diese Weise
wird von den Gewerkschaften automatisch und reflexartig reagiert. Das ist nicht der richtige Weg. Mir wäre es
lieber - wie ich sehe, lacht mich der Kollege Riester gerade an -, wenn wir auf diesem Gebiet vorankommen
würden. Ich denke, dass wir nicht aufeinander eindreschen sollten, sondern dass es an der Zeit ist, dieses
Thema mit Gestaltungswillen anzugehen. Es hat mich
sehr gefreut, dass sich am Montag dieser Woche im Anschluss an die Diskussion auf unserem Parteitag in Dresden auch der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in
diese Richtung geäußert hat. An diesem Vorhaben sollten wir nun gemeinsam arbeiten.
Meine Damen und Herren, die Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist grundsätzlich der richtige Ansatz. Lassen
Sie uns daher über die damit verbundenen Chancen und
Ziele diskutieren: Die Arbeitnehmer am Kapital zu beteiligen führt in jedem Fall zu größerer Identifikation mit
dem Unternehmen; das ist völlig klar. Es führt sicherlich
auch zu einem besseren Betriebsklima. Es kann auch zur
Verbesserung der Eigenkapitalbasis - die Eigenkapitalbasis ist eines der großen Probleme, die wir in Deutschland haben - führen. Möglich wäre es auch, die Mitarbeiterbeteiligung am Ende des Berufslebens - in diesem
Punkt bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Frau Dückert;
ich schätze das Risiko nicht so groß ein wie Sie - in eine
Aufbesserung der Rente umzuwandeln. Wir wollen nicht
beides gleichzeitig, sondern nur eine Umwandlung nach
Ausscheiden aus dem Betrieb.
Aufgrund der gemeinsamen Interessenlage haben Kapitalbeteiligungen stärkere Auswirkungen auf die partnerschaftliche Unternehmensführung. Deswegen befürworte ich eine Kultur der Beteiligung. Sie bietet die
Chance zu einer Art Mentalitätswandel. Was wäre in
Zeiten der Globalisierung, in denen sich die Welt überall
verändert, besser, als darüber nachzudenken, einen solchen Weg zu gehen? Niemand wartet auf Deutschland.
Wir müssen uns selbst darum bemühen, diese Richtung
einzuschlagen.
An dieser Stelle sind auch die Tarifpartner gefordert.
Sie sollten überlegen, ob nicht doch ertragsabhängige
Komponenten in die Tarifpolitik eingeführt werden können. Sollte aufseiten der Tarifpartner keine Bereitschaft
dazu vorhanden sein, könnte ich mir sogar vorstellen,
dass wir den Unternehmen und ihren Mitarbeitern für
diesen speziellen Fall die Möglichkeit eröffnen, vom Tarifvertrag abzuweichen, um die Nutzung einer solchen
Komponente, wenn sie denn gewünscht ist - das muss
immer auf freiwilliger Basis geschehen -, zu ermöglichen.
({1})
Für mich ist wichtig, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber Kapitalbeteiligungen grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis vereinbaren. Jeder gesetzliche und jeder
tarifliche Zwang muss abgelehnt werden. Das Modell
muss einfach, unbürokratisch und schnell anwendbar
sein. Jedes Unternehmen soll frei das Angebot bereitstellen können, das am besten zu seiner Unternehmensstruktur passt. Denn wir müssen uns darüber im Klaren sein,
dass eine GmbH oder gar eine OHG eine völlig andere
Struktur hat als eine Aktiengesellschaft. Deswegen müssen wir unterschiedliche Modelle diskutieren und, damit
so etwas unbürokratisch möglich ist, unter Umständen
entsprechende Veränderungen im Gesellschaftsrecht
vornehmen. An die bei Kapitalgesellschaften Beschäftigten können relativ einfach Aktien oder Optionen bzw.
Optionsscheine ausgegeben werden. Das mag einfach
funktionieren. Aber es geht doch gerade darum, wie
auch der Mittelstand solche Modelle auflegen kann. In
mittelständischen Unternehmen wird so etwas bis jetzt
nicht gemacht.
Eine gesetzliche Pflicht zur Insolvenzsicherung ist in
meinen Augen abzulehnen. Denn gesellschaftsrechtliche
Beteiligungen, etwa in Aktien - die ja quasi Eigenkapital
darstellen -, sind von ihrem Charakter her risikobehaftet.
Dieses Risiko kann man schlecht absichern. Und wenn
man es absichert, geht das zulasten der Rentabilität der
Beteiligung. Dann kann es sehr schnell passieren, dass
sich diese Anlage für den Mitarbeiter nicht mehr lohnt.
Das wollen wir nicht. Eine Aktie ist eo ipso nicht absicherbar. Entscheidet sich ein Arbeitnehmer freiwillig
für eine Absicherung, muss er auch die Kosten dafür tragen. Wie so etwas funktionieren könnte, darüber müsste
man nachdenken. Ob das über einen Pensionssicherungsverein oder Ähnliches machbar wäre, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Wir wollen die steuerliche Behandlung dieser Kapitalbeteiligungen zielgerichteter aufstellen. Wir müssen
prüfen, ob der jetzige Freibetrag von 135 Euro ausreicht.
Unter Umständen muss man ihn aufstocken. Man muss
dabei aber immer daran denken, dass wir unsere Sozialversicherungssysteme nicht beschädigen dürfen. Die Sozialversicherungssysteme dürfen nicht weiter belastet
werden, weil das zu einer Erhöhung der Lohnzusatzkosten führen würde.
Ich bin unheimlich froh, dass ich am heutigen Tag reden darf. Denn dieser Tag ist für uns alle hier im Parlament ein glücklicher Tag: Erstmals seit vier Jahren ist
die Zahl der Arbeitslosen wieder unter 4 Millionen gesunken. Das macht mich sehr froh und es macht uns gemeinsam auch stolz; denn damit hat man so nicht rechnen können.
({2})
Wir müssen in jedem Fall über eine nachgelagerte Besteuerung nachdenken: dass Steuern und Sozialbeiträge
dann gezahlt werden, wenn die Mitarbeiter das Kapital
in den Händen halten. Wir wollen die Umwandlung einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung in eine betriebliche Altersvorsorge ermöglichen, natürlich ebenfalls bei nachgelagerter Besteuerung.
Lassen Sie mich zum Schluss die Bundeskanzlerin zitieren. Sie hat am Montag zu diesem Thema gesagt:
Wenn immer nur gesagt wird, was nicht geht, wird
Deutschland niemals weiterkommen. Auch wenn
man noch nicht so genau weiß, wie es denn geht,
sollte man dennoch darüber nachdenken, wie es zu
machen sei.
({3})
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Lassen Sie uns in
diesem Parlament gemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg, nach Wegen suchen! Wir sind dazu bereit
und wir freuen uns auf die Mitarbeit der Grünen und der
FDP.
({4})
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Mitarbeiterbeteiligung ist eine gute Sache - wenn sie
freiwillig ist: wenn Arbeitgeber ein solches Angebot machen können und wenn Arbeitnehmer die Wahl haben,
ob sie ein solches Angebot annehmen wollen oder nicht.
Zwang darf es nicht geben. Wir waren uns in der gestrigen Aktuellen Stunde alle einig: Einen staatlich verordneten Investivlohn kann es nicht geben. Ein Arbeitnehmer muss selbst entscheiden können, ob er in einem
Unternehmen, in mehreren oder in anderen Anlageformen seine Chancen sieht. Das haben selbst die früher so
staatsgläubigen Grünen erkannt, wie ihr Antrag zeigt.
({0})
Ansonsten bringt der Antrag leider wenig Neues. Er ist
vermutlich ein Beitrag zur wirtschaftspolitischen Findung und Positionierung Ihrer Partei. Seit neuestem wollen einige bei den Grünen ja, dass die Grünen eine Wirtschaftspartei werden und ihr Image von Müsli und
Chaos ablegen.
({1})
Hierbei haben Sie allerdings noch einen weiten Weg vor
sich; denn an den Steuerwettbewerb wollen Sie offensichtlich nicht heran, bei der Kernenergie verabschieden
Sie sich nicht von Ihren alten ideologischen Positionen,
in der Handelspolitik sind Sie noch nicht beim Freihandel angekommen und der Mindestlohn, den Sie fordern,
ist alles andere als ein marktwirtschaftliches Element.
({2})
Bei den Grünen traut nicht nur die Parteivorsitzende,
Frau Roth, dem Markt nicht über den Weg - sie spricht
lieber von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit -,
({3})
selbst Herr Trittin glaubt, so seine Äußerung im „Handelsblatt“, dass es den grünen Wirtschaftspolitikern nicht
um den Markt, sondern um das Marketing geht.
({4})
Meine Damen und Herren, an der Vermögensbildung
in Arbeitnehmerhand haben sich viele versucht. Herr
Dr. Fuchs hat es angesprochen: Durchschlagende Erfolge hat es bisher nicht gegeben. Vielleicht ist es auch
ganz vernünftig, weil manche Arbeitnehmer lieber einen
Barlohn auf dem Konto als einen Sparlohn mit einer langen Festlegungsfrist im Depot haben. Wir wollen, dass
die Mitarbeiter zu Mitunternehmern werden. Das Miteigentum ist eine echte Form der Mitbestimmung. Wenn
die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer ausreichend über
die Vor- und Nachteile von Beteiligungsmodellen informiert worden sind und sich frei entscheiden können,
dann gibt es weder zu viel noch zu wenig Beteiligung,
dann gibt es genau so viel Beteiligung, wie sie die Betroffenen offenbar wünschen.
Wir können in der Tat nur für Beteiligungsmodelle
werben und darüber informieren. Wie andere Formen
der Alterssicherung können und sollten wir auch diese
Form der Vorsorge mit einer nachgelagerten Besteuerung versehen. Wir müssen allerdings auch vor den Risiken warnen: Eine Anlage in Aktien ist und bleibt risikoreich; erst recht, wenn man sich mit dieser Anlage auf
nur ein Unternehmen konzentriert. Gerade für die Altersvorsorge muss eine breitere Streuung vorhanden
sein, damit sie von Finanzexperten auch empfohlen werden kann.
({5})
Es gibt Beispiele für eine gelungene Arbeitnehmerbeteiligung. Der „Stern“ stellt in seiner neuesten Ausgabe
einige gelungene Beispiele vor. Die letzte Forderung in
dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen, wonach
„gelungene Beispiele von erfolgreichen Mitarbeiterbeteiligungsmodellen“ öffentlich gemacht werden sollen,
hat der „Stern“ mit seiner heutigen Ausgabe quasi schon
erfüllt.
({6})
Eine staatliche Insolvenzsicherung darf es hierbei
meines Erachtens nicht geben. Wer das Risiko einer Unternehmensbeteiligung eingeht, der muss es auch tragen.
Es darf nicht möglich sein, Gewinne einzustreichen und
Verluste quasi auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Wenn
Unternehmen für die Beteiligung ihrer Arbeitnehmer priRainer Brüderle
vat eine Absicherung vornehmen - zum Beispiel bei einem Pensionssicherungsverein oder Ähnlichem -, dann
ist das ihre Sache. Der Staat hat hier meines Erachtens
aber nichts verloren.
({7})
Die Grünen sollten klarstellen, dass es ihnen nicht um
eine staatlich finanzierte Garantie für Beteiligungsmodelle geht.
Ich begrüße es sehr, dass wir uns gestern und heute
erneut mit diesem Thema beschäftigt haben bzw. beschäftigen. Ich wiederhole aber auch: Dass die große
Koalition dieses Thema jetzt hochgezogen hat, liegt
letztlich darin begründet, dass sie von anderen Themen
ablenken will, nämlich von ihren Eingriffen in den Sparerfreibetrag, von der Diskussion über den Mindestlohn
und von anderen Maßnahmen.
({8})
Jetzt, da auf dem Arbeitsmarkt - gottlob! - eine erfreuliche Entwicklung festzustellen ist, wäre es viel vernünftiger, sie zu verstetigen und zu verstärken, indem
man auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichtet,
sodass man einen nachhaltigen Trend daraus macht. Herr
Weise von der Bundesagentur für Arbeit hat auf seiner
heutigen Pressekonferenz ebenfalls gesagt: Im nächsten
Jahr wird sich der Trend nur sehr reduziert fortsetzen,
weil sich die Maßnahmen, die am 1. Januar 2007 greifen, negativ auf die Entwicklung auswirken werden.
Deshalb sollte man bei dieser erfreulichen Debatte,
die aus durchsichtigen Motiven initiiert wurde, die Gelegenheit nutzen, noch einmal zu appellieren, von seinen
starren Positionen abzukommen und etwas Vernünftiges
zu tun. Es ist nie verkehrt, dazuzulernen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Kollege Brüderle, Ablenken müssen wir von den Koalitionsfraktionen wirklich nicht; denn wir haben Erfolge
vorzuweisen. Dass wir uns jetzt mit der Mitarbeiterbeteiligung beschäftigen, hat direkt etwas mit dem Erfolg zu
tun; denn die Arbeitnehmer haben einen sehr großen Anteil an diesem Erfolg und deswegen ist es nur gerecht,
wenn wir sie daran teilhaben lassen und deswegen für
eine stärkere Mitarbeiterbeteiligung eintreten.
({0})
Heute beschäftigen wir uns mit dem Antrag der Grünen, in dem es ebenfalls um die Mitarbeiterbeteiligung
geht. Sicherlich können wir uns über den einen oder anderen Vorschlag verständigen, aber mit einigen Forderungen können wir uns nur wenig anfreunden. Deshalb
ist der Antrag für uns nicht zustimmungsfähig.
Sie verlangen zum Beispiel Mitarbeiterbeteiligungsmodelle, bei denen staatliche Förderungen wie die
steuerfreie Beteiligung an Aktienvermögen in Höhe von
135 Euro pro Jahr in Anspruch genommen werden können. Diese Beteiligungen sollen insolvenzgesichert werden oder mit der Garantieübernahme einer Bürgschaftsbank ausgestattet werden. Gleichzeitig wollen Sie aber
eine Beteiligungskultur fördern, die auf die Ausweitung
steuerlicher Subventionstatbestände verzichtet. Seien
wir einmal ehrlich: Sind Sie sicher, dass Regelungen wie
die Insolvenzsicherung oder Garantieübernahme letztlich nicht doch auf staatliche Hilfeleistung hinausläuft,
die Sie an sich nicht wollen?
({1})
Aktienoptionen wollen Sie nicht nur für die Großen,
sondern auch für die Kleinen. Aber wer von den Beziehern kleiner Einkommen kennt sich denn mit Optionen
aus? Helfen wir ihnen mit offen gelegten Aktienoptionsplänen wirklich oder zielt Ihr Vorschlag nicht eher in die
Richtung, über die Mitarbeiterbeteiligung Änderungen
im Aktienrecht vorzunehmen?
({2})
Gleichzeitig fordern Sie, dass Unternehmen ihre Belegschaft als Ausdruck einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur über Erfolgsbeteiligungen am Gewinn
partizipieren lassen. Wäre es für dieses Ziel nicht besser,
vor allem aber auch für den Arbeitnehmer leichter
durchschaubar und wahrscheinlich auch risikoärmer als
Aktienoptionen, wenn das Unternehmen seinen Beschäftigten eine Gewinnbeteiligung anbietet, die in Belegschaftsaktien angelegt werden könnte?
Neben den Managern gibt es zwar in der Tat auch gut
verdienende Facharbeiter, Meister und Ingenieure, die
sich wahrscheinlich für Aktienoptionen interessieren
und das Risiko abschätzen können. Aber die große
Mehrzahl der Menschen, die wir mit der Initiative zu
mehr Mitarbeiterbeteiligung erreichen wollen, gehört einer anderen Einkommensklasse an. In ihrem Interesse ist
es wichtig, die Menschen nicht nur fair am Unternehmensgewinn zu beteiligen, den sie schließlich selbst miterarbeitet haben, sondern ihnen auch einfache Möglichkeiten aufzuzeigen, Vermögen zu bilden.
({3})
Wer gerne spekuliert, dem steht schon heute der Weg offen, Aktien oder sonstige Wertpapiere zu kaufen.
Im Übrigen haben wir uns noch nicht darüber verständigt, um welche Summen es geht. Sind es jährlich Tausende von Euros, die ein Arbeitnehmer anlegen kann,
oder geht es um eine ganz andere Größenordnung? Insofern erscheint der Vorschlag der Aktienoptionen nur auf
den ersten Blick gut.
Wir sollten jedenfalls nicht den Eindruck erwecken,
der normale Arbeitnehmer könne sein Geld nicht auf die
Bank bringen, keine Lebensversicherung erwerben oder
keine Riesterrente abschließen. Ihm stehen längst alle
Anlageformen offen, jedoch fehlt es ihm in der Regel an
den notwendigen Überschüssen, mit denen er diese Anlagen tätigen könnte.
Kommen wir also zurück zu dem ganz normalen Arbeitnehmer. Er hat es wahrlich verdient, an dem Aufschwung, den die Wirtschaft jetzt erlebt, beteiligt zu
werden. Aber wenn es um eine echte Gewinnbeteiligung
gehen soll - dafür plädieren wir Sozialdemokraten -,
dann kann diese nicht mit Lohnverzicht erkauft werden.
Denn auf Einkommen haben die Arbeitnehmer jetzt
schon längere Zeit verzichtet, weshalb die Schere zwischen dem Zuwachs aus Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen mittlerweile drastisch auseinander geht.
Es kann also nicht sein, dass der jetzige Lohn bzw. die
anstehende Lohnerhöhung zum Teil in Investitionen in
den Betrieb umgewandelt wird, sodass der Beschäftigte
weniger in der Tasche hat und ihm nur im Herzen die
Hoffnung bleibt, dass sein Betrieb auf der Erfolgsspur
bleibt, wenn er gut und hart arbeitet, und er sein Geld,
das er in den Betrieb gesteckt hat, nach Jahr und Tag mit
Zins und Zinseszins wiederbekommt. Schließlich kann
niemand wollen, dass für den Arbeitnehmer das Arbeitsplatzrisiko noch mit einem Kapitalrisiko getoppt wird.
Aber bevor wir so weit sind, das Fell des Bären zu
verteilen, sollten wir wenigstens einen Bären haben.
Deshalb war die Aussage der Arbeitgeberseite gestern
und heute, dass sie einer Mitarbeiterbeteiligung grundsätzlich positiv gegenüberstehen, besonders wichtig.
Jetzt liegt es auch an den Tarifvertragsparteien, mitzugestalten; denn es stehen ihnen bereits heute viele tarifvertragliche Möglichkeiten und Modelle der Mitarbeiterbeteiligung zur Verfügung, die nur reaktiviert und den
neuen Gegebenheiten angepasst werden bräuchten.
Inwieweit wir in der Politik zum Beispiel in Sachen
Altersvorsorge Rahmen stecken und Anreize setzen sollten,
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
- das ist mein letzter Satz -, werden wir in den Beratungen sehen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Dreibus,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Antrag der Grünen zeigt bei genauer Lektüre,
dass auch sie wissen, was in vielerlei Managementhandbüchern steht: Die Beteiligung der Arbeitnehmer dient
den Unternehmen, erhöht die Motivation und fördert die
Produktivität. So weit, so gut. Was mich entsetzt, ist,
dass Sie in Ihrem Antrag an zwei Stellen einfach übernehmen, was uns Angebotsökonomen seit Jahren gebetsmühlenartig vortragen, nämlich dass Lohnverzicht Arbeitsplätze schaffen würde. Ich verweise ausdrücklich
auf die Begründung zu Nr. 6 auf Seite 5 Ihres Antrags.
Zu dem, was Sie dort zum Lohnverzicht im Zusammenhang mit der Mitarbeiterbeteiligung ausführen, kann ich
nur sagen: Ein solches Niveau habe ich nicht erwartet.
Ihr Antrag zeigt aber auch, dass Sie vielleicht ein
bisschen mehr über die Literatur und ein bisschen weniger über die betriebliche Wirklichkeit Bescheid wissen
und die zentralen ökonomischen Fehlentwicklungen in
den letzten Jahren erneut nicht zur Kenntnis nehmen. Ich
möchte nur an zwei Punkte erinnern. Die Schere zwischen Arbeitseinkommen und Unternehmensgewinnen
öffnet sich rasant. Den Privathaushalten in Deutschland
stehen heute - die Daten wurden erst diese Woche veröffentlicht - 2 Prozent weniger Realeinkommen zur Verfügung als Anfang der 90er-Jahre. Steuersenkungen für
Unternehmen und Vermögende sowie massive Sozialkürzungen haben Löhne und Gehälter unter Druck gesetzt. Deshalb werden heute bereits breite Bevölkerungsschichten von der steigenden Wirtschaftsleistung bzw.
Produktivität ausgeschlossen. Für diese Entwicklungen,
die auch Ergebnisse falscher Politik sind, sind Sie von
den Grünen zumindest mitverantwortlich.
({0})
In dieser Situation meinen Sie von den Grünen nun - zumindest zeigt das Ihr Antrag -, die Dosis der falschen
Politik erhöhen zu müssen. Nach Ihrem Verständnis sind
Investivlöhne ein Mittel des Verzichts auf Lohn zugunsten von Kapitalbeteiligungen. Das lehnen wir mit allem
Nachdruck ab.
({1})
Auch wenn wir das Vorhaben der Koalition - das
wurde schon gestern deutlich - für ein Manöver zur Ablenkung von der wachsenden Verarmung in Deutschland
halten, erkennen wir immerhin an, dass zumindest die
Frage nach der gerechten Verteilung des Reichtums und
dem Zuwachs des Reichtums in dieser Gesellschaft nicht
nur von uns, sondern auch von anderen gestellt wird, allerdings aus meiner Sicht - bezogen auf das Thema Investivlohn - zum völlig falschen Zeitpunkt, in einem völlig falschen ökonomischen und sozialen Umfeld sowie
mit falschen Mitteln. Man könnte vielleicht sagen: Zurück in die 70er-Jahre! Damals hatte die Debatte über
Vermögensbildung und Investivlohn ihren Höhepunkt.
Es gab sehr konkrete Modelle, bis hin zu Gesetzentwürfen beispielsweise von der SPD-Fraktion, aber in einem
völlig anderen sozialen und ökonomischen Umfeld. Ich
erinnere nur daran, dass es damals Tariflohnerhöhungen
um mehr als 10 Prozent pro Jahr gab. Staatssekretär
Thönnes hat meines Wissens in seiner damaligen Funktion als Sekretär der IG Chemie-Papier-Keramik kräftig
dazu beigetragen und zunehmend höhere Forderungen
gestellt.
({2})
Lang, lang ist’s her.
Wenn ich mir aber - im Zusammenhang mit dem, worüber gestern diskutiert wurde - die aktuellen Begründungen der Koalitionsfraktionen wie der Grünen vor Augen führe, die sich auf das Thema Investivlohn beziehen,
muss ich sagen: Sie schätzen die Situation falsch ein. Sie
sind mit falschen Mitteln auf dem völlig falschen Weg.
Aus unserer Sicht stehen die Steigerung der Realeinkommen, gerechtere Verteilung des Produktivitätszuwachses und des Bruttosozialproduktes und mehr Mitbestimmung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
auf der Tagesordnung. Wenn wir das geschafft haben,
können wir auch über mehr Vermögensbeteiligung und
Investivlohn reden.
Vielen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Katja Mast, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir gestern nicht schon die Aktuelle Stunde „Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am
Erfolg und Kapital von Unternehmen“ gehabt hätten,
wäre diese Debatte jetzt sinnvoll. Gestern wurde jedoch
deutlich, dass wir alle - damit meine ich wirklich alle
Parteien ({0})
auf der Suche nach dem richtigen Modell für mehr Mitarbeiterbeteiligung sind. Der nun zu diskutierende Antrag der Grünen bringt uns hier auch nicht weiter. Für
uns Sozialdemokraten ist klar: Wir können uns mehr
Mitarbeiterbeteiligung gut vorstellen; denn wir wissen,
dass es Bewegung gibt. Wir haben schon heute Mitarbeiterbeteiligung, die von Gewerkschaften, Betriebsräten
und Arbeitgebern gemeinsam ausgehandelt wurde.
Weil gute Beispiele wichtig sind, will ich hier auf
eines eingehen. Die Deutsche Bahn AG hat einen vorbildlichen Tarifvertrag zur Erfolgsbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam mit der
Gewerkschaft Transnet ausgehandelt. Abhängig vom
Unternehmensgewinn erhalten die Mitarbeiter seit 2005
eine Mitarbeiterbeteiligung, die von 100 auf bis zu
600 Euro anwächst. Wählt der Mitarbeiter die Option,
dieses zum Tariflohn hinzukommende Geld in die Altersvorsorge umzuwandeln, wird dies vom Arbeitgeber
zusätzlich gefördert. Der Anreiz zur zusätzlichen betrieblichen Altersvorsorge ist also hoch.
Was können wir aus diesem Beispiel lernen? Einige
Aspekte sind mir wichtig. Erstens. Die Mitarbeiter sind
am Erfolg des Unternehmens beteiligt. Erreicht das Unternehmen seine Ziele, haben die Mitarbeiter etwas davon. Erreicht es seine Ziele nicht, bleibt der Tariflohn.
Die Mitarbeiter sind hoch motiviert, den Unternehmenserfolg zu steigern. Schreibt das Unternehmen aber rote
Zahlen, gibt es keinen Tariflohnverlust.
Zweitens. Die Mitarbeiterbeteiligung kann in Altersvorsorge umgewandelt werden. Das ist das richtige Signal. Wir wissen alle, dass neben der gesetzlichen Rentenversicherung die betriebliche Altersvorsorge eine
zentrale Rolle spielt.
Drittens. Untere Lohngruppen profitieren von dieser
Regelung, weil ein fester Betrag ausgezahlt wird, unabhängig von der Einkommenshöhe.
Viertens. Sogar beim Arbeitgeberwechsel verliert der
Arbeitnehmer seine Betriebsrentenansprüche nicht.
Fünftens. Diese Form der Mitarbeiterbeteiligung
stützt sich voll und ganz auf die Mitbestimmung. Ja,
Mitarbeiterbeteiligung muss auch Mitbestimmung bedeuten.
({1})
Sechstens. Die Mitarbeiter können wählen, wofür sie
ihr zusätzliches Geld verwenden, für die Altersvorsorge
oder für den Konsum. Das scheint mir deshalb wichtig,
weil es aktuell einige Debatten darüber gibt, dass Mitarbeiter verpflichtet werden sollen, sich am Kapital ihres
Unternehmens zu beteiligen.
({2})
Ich plädiere für eine grundsätzliche Wahlfreiheit des
Mitarbeiters.
Was lernen wir noch aus diesem Beispiel? Große Unternehmen mit einer hohen Mitarbeiterbindung bieten
schon heute Belegschaftsaktien, Mitarbeiterbeteiligungen und Genossenschaftsanteile an. Aber seien wir doch
ehrlich: Von einer Gewinn- oder Kapitalbeteiligung profitieren diejenigen Arbeitnehmer, die einen gut bezahlten
Job haben und in einem finanzstarken Unternehmen arbeiten. Bei dieser ganzen Debatte dürfen wir eines nicht
vergessen: Wie können wir Löhne im unteren Einkommensbereich armutsfest machen? Hier ist der Mindestlohn die Antwort.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2653 an die in der Tagesordnung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Siebten Gesetzes zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes
- Drucksache 16/2969 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 16/3638 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Christoph Waitz
Katrin Göring-Eckardt
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart, die heutige
Tagesordnung um die erste Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3653
zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur
Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften zu erweitern und als Zusatzpunkt 5 mit diesem Tagesordnungspunkt zu beraten. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlossen.
Dann rufe ich auch Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Änderung
rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/3653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute auf den Tag genau vor 30 Jahren gab es in
der Dreikönigskirche in Dresden eine Schriftstellerlesung. Diese Lesung hatten einige studentische Freunde
und ich zusammen organisiert. Der Lesende war Reiner
Kunze. Das Buch, aus dem er las, hieß „Die wunderbaren Jahre“. Diese Lesung sollte sich als die letzte öffentliche Lesung von Reiner Kunze in Ostdeutschland erweisen.
Ich will nicht erklären, welche Beschattungen, Nachforschungen, Vorladungen zur Staatssicherheit usw. danach für uns alle losgingen. Ich will über das Schicksal
eines an dieser Lesung unbeteiligten jungen Mannes berichten: Es ist mein Freund Albrecht Heß. Er war einer
der mit Abstand besten Mathematikstudenten in Dresden. Für alle war klar, dass er einmal einen Lehrstuhl
übernehmen würde, eine Forschungsgruppe leiten
würde, in einer Akademie tätig sein würde oder etwas
Ähnliches tun würde.
Dieser junge Mann wurde kurze Zeit später bei der
Staatssicherheit vorgeladen. Er kam danach zu uns, zu
den Organisatoren dieser Veranstaltung, und erklärte,
man habe versucht, ihn zu werben; er habe die Anwerbung abgelehnt. Von diesem Zeitpunkt an war es mit der
beruflichen Entwicklung von Albrecht Heß zu Ende. Er
hat es nur noch mit größter Mühe und kraft seiner überragenden Begabung geschafft, an einer anderen Universität zu promovieren. Er kam beruflich nie richtig auf die
Beine. Nach 1990 fehlte ihm die Kraft, sich gegen die
starke Konkurrenz durchzusetzen. Heute ist er Mathematiklehrer an der Deutschen Schule Madrid. Sein Gehalt ist relativ gering. Er wird nicht wiederkommen.
Wenn wir über diese Dinge reden, dann müssen wir
natürlich von Anfang an sagen: Wir haben schon 1990
immer wieder betont, wir wollen mit der Staatssicherheit
nicht so umgehen, wie sie mit uns umgegangen wäre.
Das ist richtig. Dieser Meinung wird auch Albrecht Heß
sein. Aber ob das gleich bedeuten muss, dass man jemandem, der ein solches Schicksal hatte, als Richter
oder als Staatsanwalt einen ehemaligen Mitarbeiter des
Ministeriums für Staatssicherheit präsentiert, das glaube
ich auch 16 Jahre später noch nicht.
({0})
Im Übrigen vertreten wir die Auffassung - das drückt
sich auch in der heute zu verabschiedenden Novelle aus -,
dass die Überprüfung eines großen Teils der
Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu beenden ist.
Das darf aber eben nicht für alle gelten. Was ist eigentlich die zugrunde liegende Frage? Wir haben aus der
Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit niemals
eine strafrechtliche Kategorie gemacht. Es ging immer
um die Frage der Eignung für ein bestimmtes öffentliches Amt. Diese Frage war maßgebend. Es ging dabei
auch niemals darum, jemanden an den Pranger zu stellen. Die Sache ist ganz einfach: In dem Moment, in dem
sich jemand für ein öffentliches Amt für geeignet erklärt,
muss er erdulden, dass seine Biografie öffentlich diskutiert wird. Das ist selbstverständlich. Tatsachen muss
man öffentlich erwähnen dürfen.
({1})
Es geht um die Frage: Welches Vertrauen könnte ein öffentlicher Dienst für sich beanspruchen, der auch für
seine Spitzenpositionen die Türen für ehemalige MitArnold Vaatz
arbeiter des Staatssicherheitsdienstes öffnen würde? Das
ist eine Frage, die uns alle angeht. Da sollten wir sehr
sorgfältig entscheiden.
1991 dachte man nicht daran, dass 30 bis 40 Prozent
der Akten heute nicht erschlossen sein würden. Angesichts dieser Tatsache aber halten wir es für nötig, für
weitere fünf Jahre für einen eingeschränkten Personenkreis die so genannte Regelüberprüfung zu gestatten. Ich
halte das für einen wichtigen Durchbruch, der uns damit
gelungen ist.
Wir haben in der Gesetzesnovelle außerdem die Abhängigkeit von einem Anfangsverdacht gestrichen, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Man kann das
Ergebnis einer Überprüfung nicht zur Bedingung der
Überprüfung machen.
({2})
Wir sind außerdem der Meinung gewesen, dass man
das so genannte Vorhalteverbot nicht braucht. Dass
man jemandem seine Mitarbeit beim Ministerium für
Staatssicherheit im Rechtsverkehr nicht mehr vorhalten
darf, bedarf keiner Regelung, und zwar aus folgendem
Grund: Auch bei Verjährungstatbeständen - mir ist dabei
völlig klar, dass der Verjährungstatbestand eine strafrechtliche Kategorie ist, die in diesem Zusammenhang
eigentlich nicht erwähnt werden muss - ist der Umgang
mit der verjährten Tat nach der Verjährung gesetzlich
nicht geregelt.
({3})
Demzufolge ist es auch hier nicht notwendig.
Mit diesem Gesetz geben wir ein deutliches Signal:
Wir werden die Opfer der DDR nicht vergessen und es
ist auch kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der
DDR-Vergangenheit gezogen, wobei wir deutlich sagen
müssen: Die Regelanfrage und die Aufarbeitung der
DDR-Vergangenheit sind zwei völlig verschiedene
Dinge. Die Aufarbeitung ist wesentlich mehr.
({4})
Was aber wäre unsere Aufarbeitung, wenn wir über diese
wichtigen Fragen jetzt den Teppich des Vergessens legen
würden? Das kann nicht sein.
Es ist uns hiermit ein überparteilicher Kompromiss
gelungen. Auch der Bundesrat wird diesem Gesetz zustimmen. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben.
Zum Schluss sage ich: Dieses Gesetz ist auch eine
gute Antwort auf die Dreistigkeit jener, die sich heute ihrer Stasitätigkeit rühmen
({5})
und ihre einstigen Opfer verhöhnen, verletzen und demütigen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Birthler hat es gestern im Kulturausschuss gesagt: Noch immer beantragen jedes Jahr Zehntausende Bürger Einsicht in ihre Stasiakten. Das Interesse an den Taten der Stasi und deren Bedeutung für die
eigene Geschichte ist ungebrochen.
Vor diesem Hintergrund ist die Novelle zum StasiUnterlagen-Gesetz zu betrachten. Die Akten geben Auskunft über die eigene Biografie, über den Umfang der
Bespitzelung und den Einfluss der Stasi auf den eigenen
Werdegang. Wer sich kritisch zum System äußerte, den
Wehrdienst verweigern wollte oder ausreisewillig war,
fand sich schnell in einem Gefängnis der Staatssicherheit
wieder - ohne zu wissen, wo er war, und ohne Rechtsbeistand. Regelmäßig wussten die Angehörigen nichts
über den Verbleib der Opfer der Stasi. In den Gefängnissen herrschten zielgerichtete Verunsicherung und Entwürdigung bis hin zur Folter durch Schlafentzug. Der
Aufenthalt in Stasigefängnissen ließ die Opfer oft traumatisiert zurück. Dies sind Folgen, die die Opfer bis zum
heutigen Tag belasten und die in vielen Fällen nicht verarbeitet werden konnten.
Heute erleben wir, gerade auch hier in Berlin am Beispiel des Gefängnisses Hohenschönhausen, wie sich
ehemalige Stasimitarbeiter organisieren und versuchen,
öffentlichen Druck auszuüben, das Stasiunrecht zu beschönigen und bagatellisieren.
Die Opfer haben den ersten Entwurf von Koalition
und Bündnis 90/Die Grünen zu Recht als problematisches Signal wahrgenommen, was die weitere Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des erlittenen Unrechts
angeht,
({0})
denn durch die dort vorgesehene Regelung wäre eine
Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes
völlig unpraktikabel geworden. Durch diese Regelung
wäre es grundsätzlich nicht mehr möglich gewesen, Stasimitarbeitern ihre Tätigkeit für das MfS im Rechtsverkehr vorzuhalten. Im Ergebnis hätte dies bewirkt, dass
ehemalige Stasimitarbeiter presserechtlich gegen Veröffentlichungen ihrer Namen hätten vorgehen können.
Diese Überprüfung im öffentlichen Dienst wäre ohne Ergebnis geblieben, weil ein tatsächlicher Anhaltspunkt für
eine Stasitätigkeit nicht belegbar gewesen wäre.
Keine Frage: Die Diskussion um die Aufarbeitung der
DDR-Geschichte und des Ministeriums für Staatssicherheit ist auf allen Seiten durch Emotionalität geprägt. Wer
jetzt über Resozialisierung der Täter, Verhältnismäßig6966
keit und neue Chancen spricht, sollte Folgendes beachten: Die ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für
Staatssicherheit begreifen sich auch 17 Jahre nach der
Wiedervereinigung überwiegend nicht als Täter. Viele
glauben, dass sie sich gesetzeskonform verhalten und
weder eine straftrechtliche noch eine moralische Schuld
auf sich geladen haben.
Aus den Stasiausschüssen der Kommunen wissen wir,
dass sich kaum ein enttarnter IM für seine Tätigkeit bei
den Opfern entschuldigt. Ich denke, es wäre ein ermutigendes und notwendiges Signal, wenn ehemalige Stasimitarbeiter den ersten Schritt auf die Opfer zugehen und
sich öffentlich für das Unrecht entschuldigen würden,
das sie verursacht und zu verantworten haben.
({1})
Meine Damen und Herren, über eines sind wir Liberalen froh: Mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz in dieser
Form können wir die Aufarbeitung dieser Epoche deutscher Geschichte weiter fördern. Die erweiterten Forschungsmöglichkeiten für Historiker und Journalisten
führen zur Aufklärung weiterer Zusammenhänge der
deutschen Nachkriegsgeschichte in Ost und in West.
Mit dem nun ausgehandelten Kompromiss haben wir
weiterhin die Möglichkeit, dass herausgehobene Persönlichkeiten des öffentlichen Dienstes, Beamte mit Führungsverantwortung, Richter, Lehrer, Bürgermeister,
Stadt- und Gemeinderäte, aber auch die Mitarbeiter in
den Ämtern für Rehabilitation auf ihre Stasiverstrickung
verdachtsunabhängig überprüft werden können.
Wir glauben, dass wir damit Schaden von dem Ansehen öffentlicher Ämter fernhalten und gerade auch die
Interessen der Opfer des DDR-Unrechtsregimes berücksichtigt haben.
({2})
Die FDP-Fraktion wird daher dem Gesetzentwurf in
der Ihnen heute vorliegenden Fassung zustimmen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir
verhandeln heute ein Thema, das noch immer mit großen
Emotionen verbunden ist und das beträchtliche, auch
symbolische Bedeutung hat. Die Betroffenen reagieren
heftig. Sie wehren sich gegen Beschönigung; sie unterstellen bei allen Versuchen, die wir unternommen haben,
dass es sich um einen Schlussstrich handeln könnte. Die
DDR-Vergangenheit ist im Guten wie im Bösen noch
lange nicht erledigt.
Warum brauchen wir eine Novellierung? Nach dem
geltenden Stasi-Unterlagen-Gesetz läuft mit Ende dieses
Jahres die Möglichkeit zur Überprüfung von Personen
im öffentlichen Dienst, in öffentlichen Ämtern aus. Deshalb hatte der Gesetzgeber sich zu fragen, ob er das will
oder ob er eine rechtsstaatlich angemessene Nachfolgeregelung will oder nicht. Es ging und geht um die Zukunft der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des
SED-Unrechts, sofern dies den Zugang zur Stasihinterlassenschaft betrifft.
Was wollte nun der Gesetzgeber 1991? Was war unsere Intention damals? Ich erinnere mich sehr genau daran, weil ich damals an den Debatten schon teilgenommen habe. Es ging erstens darum, dem Unrechtsregime
der Stasi, der SED beizukommen, Aufklärung zu erreichen. Zweitens ging es darum, Personen, die Macht und
Vertrauen missbraucht haben, nicht wieder in öffentliche
Ämter zu lassen, damit sie nicht wieder Ämter, Macht
und Vertrauen missbrauchen könnten. Es ging um Eignung genau in diesem sehr präzisen Sinn.
Um dieser doppelten Aufgabe gerecht zu werden, haben wir damals entschieden, dass die Opfer Einsicht in
die Akten haben sollten, und zwar nicht ohne Konsequenzen, sondern gegebenenfalls mit personellen Konsequenzen. Auch ging es um die Einschränkung von
Persönlichkeitsrechten. Um diesem Unrechtsregime beizukommen, musste man in gewisser Weise eine rechtsstaatliche Ausnahmesituation schaffen. Dessen waren
wir uns bewusst. Weil wir uns dessen bewusst waren, haben wir gesagt: Wir müssen diese Regelung befristen.
Die meisten haben damals sogar gemeint, 15 Jahre seien
eigentlich eine zu lange Zeit, und waren der Hoffnung,
es könne schneller gehen.
Die Intention des Gesetzgebers, die ich beschrieben
habe, ist, wie ich denke, zu einem guten Teil erfüllt. Die
Zahlen und Statistiken der Stasiunterlagenbehörde sprechen eine deutliche Sprache: Etwa 6 Millionen Anträge
auf Akteneinsicht wurden gestellt, es gab über 3 Millionen Ersuchen von Behörden, circa 1,7 Millionen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wurden überprüft. Das
heißt, im Grunde wurden alle ostdeutschen Mitarbeiter
des öffentlichen Dienstes mindestens einmal überprüft.
Die Zahl der Anträge von Behörden auf Akteneinsicht
ist im letzten Jahr rapide gesunken. Diese Aufgabe ist
also im Wesentlichen erledigt. Der Verdacht qua ostdeutscher Herkunft ist endgültig überflüssig geworden. Eine
Fortsetzung der allgemeinen Anfragepraxis hätte diskriminierende Züge.
Wenn heute jemand im öffentlichen Dienst eingestellt
wird - das möchte ich betonen -, dann kann man wissen,
was diese Person in den letzten 17 Jahren im gemeinsamen Deutschland, in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie, getan hat. Das muss mindestens so viel zählen
wie die Zeit davor, wenn nicht sogar mehr. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Wenn die Person 25, 30 oder
35 Jahre alt ist, dann darf ihr das damalige jugendliche
Fehlverhalten ohnehin nicht mehr vorgeworfen werden,
selbst nach dem geltenden Gesetz nicht.
Ganz grundsätzlich möchte ich sagen: Wir sollten an
der rechtsstaatlichen Grundüberzeugung, die übrigens auch eine christliche Grundüberzeugung ist, einem
Menschen sein Fehlverhalten nicht ein Leben lang vorzuwerfen, festhalten.
({0})
Aus dieser Grundüberzeugung heraus haben wir den von
Thüringen im Bundesrat eingebrachten Antrag, die so
genannte Regelüberprüfung unbefristet zu verlängern,
abgelehnt.
({1})
Deshalb war ich der Meinung, dass das Zulassen einer
Überprüfungsanfrage aus Anlass eines Verdachts eine
durchaus vernünftige und angemessene Regelung ist. In
den meisten Fällen, die uns in den letzten Jahren aufgeregt haben, ist genau dies der Fall gewesen: Indem Opfer
oder Wissenschaftler oder Journalisten Einsicht in die
Akten genommen haben, ist ein Verdacht begründet
worden, der dann zu einer Untersuchung geführt hat.
Wir haben uns am Schluss nach mancherlei Kritik an
dem allerersten Entwurf auf einen erheblich veränderten
gemeinsamen Gesetzentwurf zur Novellierung des StasiUnterlagen-Gesetzes geeinigt. Dieser Gesetzentwurf
bringt zwei wesentliche Änderungen:
Erstens. Die allgemeine Anfrage, die so genannte
Regelanfrage, wird eingestellt. Die Möglichkeit zur
Akteneinsicht wird auf einen klar definierten Personenkreis eingeschränkt, nämlich auf Inhaber öffentlicher
Positionen, denen die Bürger ein besonderes Vertrauen
entgegenbringen: Regierungsmitglieder, Abgeordnete,
politische Beamte, Leiter von Behörden, Richter, Soldaten höherer Dienstgrade, höhere Sportfunktionäre, Trainer, Betreuer. Bei diesem Personenkreis sollen die Bürger
sicher sein, dass sie ihr Vertrauen verdienen, diese es also
nicht schon einmal missbraucht haben. Das gilt eben auch
und gerade für den Sport. Junge Sportler und ihre Eltern
müssen darauf vertrauen können, dass Funktionäre, Trainer, Ärzte nichts mit dem scheußlichen Dopingsystem der
DDR zu tun hatten. Da hat der Sport bisherige Versäumnisse nachzuarbeiten.
({2})
Die bisherige Regelung soll für diesen Personenkreis für
fünf Jahre weiter gelten. Für alle die Personen, die sich
unmittelbar mit Stasiunterlagen, mit Fragen der Aufarbeitung und der Rehabilitierung befassen, soll die Regelung nicht befristet werden; denn diese haben eine ganz
besondere Vertrauensposition inne.
({3})
Zweitens. Wir erweitern mit diesem Gesetz den Zugang zu den Stasihinterlassenschaften für Wissenschaftler, Medienvertreter und Journalisten. Der Forschungszweck, für den Stasiunterlagen künftig herausgegeben
werden können, ist nicht mehr nur die Stasitätigkeit im
engeren Sinne, sondern auch die Erforschung der Herrschaftsmechanismen der DDR, also das politische System insgesamt. Zugleich sollen leichter als bisher auch
Unterlagen mit personenbezogenen Informationen zugänglich werden. Hier geht es darum, eine Gleichstellung zwischen der behördeninternen und der behördenexternen Forschung zu erreichen. Da gab es bisher eine
grobe Benachteiligung von Forschung außerhalb der Behörde.
Beides dient unserem gemeinsamen Anliegen: der wissenschaftlichen, öffentlichen, politisch-moralischen Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Stasi und mit
der DDR-Geschichte. Sie soll weitergehen. Dieses Novellierungsgesetz ist alles andere als ein Schlussstrich unter
die Aufarbeitung der SED- und DDR-Vergangenheit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines halte ich für
notwendig und vielleicht gelingt uns das mit diesem Novellierungsgesetz, nämlich die Fixierung auf die Stasi zu
überwinden. Künftig muss es viel mehr als bisher um ein
Gesamtbild des kommunistischen Regimes, der SEDHerrschaft gehen.
({5})
Immer wieder haben wir über eine Art negativer Fixierung auf Spitzelei und Verrat vergessen, wer die Auftraggeber des Staatssicherheitsdienstes waren.
({6})
Alltag, Widerstand, Zustimmung, Ablehnung, internationale Zusammenhänge - all das ist wichtig, um ein einigermaßen realistisches Bild dieser Vergangenheit zu
bekommen und weiterzugeben.
Wichtig ist auch, dass wir endlich ein Gesetz, eine anständige Regelung hinsichtlich der Pensionen für Opfer
von DDR-Unrecht erreichen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass
wir nach einer intensiven Debatte miteinander zu einem
breiten Konsens gekommen sind. Denn das entspricht einer guten Tradition. 1990, 1991 und in den folgenden
Jahren haben wir Regelungen zu den Stasihinterlassenschaften immer in einer großen demokratischen Gemeinschaft erreicht. Das ist und bleibt wichtig, bei allen Meinungsverschiedenheiten und Bewertungsunterschieden,
die wir im Einzelnen haben mögen. Dies ist am Schluss,
denke ich, ein vernünftiges Ergebnis, ein vernünftiger
Kompromiss.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die
Vergangenheit unseres 40 Jahre in zwei Gesellschaftssysteme getrennten und nunmehr seit 16 Jahren vereinten Landes verlangt heute von uns Abgeordneten eine
Auseinandersetzung über den Umgang mit der Geschichte der DDR und ihrer Aufarbeitung einerseits und
eine humane Gewichtung der Rechtsprinzipien „Verjährung“ und „Verhältnismäßigkeit“ andererseits.
Für die Fraktion Die Linke steht außer Frage: Die
Aufarbeitung soll weitergehen. Opfer der Ausspähung
durch das Ministerium für Staatssicherheit müssen auch
in Zukunft ein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in
ihre Akten haben;
({0})
ebenso muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garantiert sein, sogar erweitert und vertieft werden.
({1})
Die Nutzung der Unterlagen des Ministeriums für
Staatssicherheit ist auch dann möglich, wenn sie vom
Bundesarchiv verwaltet und betreut werden. Die Zusammenführung der Akten würde viel größere Effekte für
Forschung und Bildung ermöglichen. Außerdem wäre
der Grundgedanke der Freiheit von Forschung und Wissenschaft in dieser Institution besser verwirklicht als in
einer Behörde, die beim Bundeskanzleramt angesiedelt
ist.
({2})
Diesen Weg der Aufarbeitung schlagen wir vor, und
zwar im Sinne einer
rückhaltlosen Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus begangen wurden,
wie es in der Präambel des PDS-Programms von 2003
heißt. Dabei wird
der unumkehrbare Bruch mit der Missachtung von
Demokratie und politischen Freiheitsrechten
als das die PDS einigende Fundament beschrieben.
({3})
Kein Schlussstrich also unter die Aufarbeitung der
DDR-Geschichte, kein Stopp für den persönlichen Zugang der Betroffenen zu den Akten, kein Ende der
Presse- und Forschungsarbeit. Aber Schluss mit dem
vielfältigen Verdacht gegen Bürgerinnen und Bürger des
Ostens.
({4})
1991 hat der Bundestag die Dauer der Überprüfung
von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst aus gutem
Grund auf 15 Jahre begrenzt. Zum Rechtsstaat gehört
der Rechtsgedanke der Verjährung im Strafrecht wie im
Zivilrecht. Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eben
eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung oder der schweren Freiheitsberaubung verjähren nach zehn Jahren. Bei schwerer Vergewaltigung ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren
verjährt und darf bei einer Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht einmal geprüft und ermittelt werden.
Auch dort gibt es immer Betroffene, die diese Verjährung nicht verstehen. Der Rechtsstaat hat sie dennoch
beschlossen.
Deshalb plädierten wohl auch 1991 Abgeordnete der
FDP für eine zehnjährige Begrenzung der Gültigkeit des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes, zumal es hier in der Regel
um Moral und nicht um Straftaten geht. Ich zitiere - mit
Erlaubnis der Präsidentin - Burkhard Hirsch aus der
damaligen Bundestagsdebatte:
Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer
Rechtstradition widerspricht, einem Täter über einen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzuhalten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz
habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbarmungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sagen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in
diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuchtung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein individuelles Opfer Klage oder Anklage erhebt.
Burkhard Hirsch, wohlgemerkt 1991, FDP.
Jetzt sind 15 Jahre vergangen und Willkür herrscht;
denn mal werden Verstrickte beschäftigt - zum Beispiel
in der Birthler-Behörde, wie wir gestern erfahren haben und mal eben nicht. Vor allem aber geht es mit den Überprüfungen weiter und weiter, unter anderem von kommunalen Wahlbeamten, ehrenamtlichen Richtern, Angestellten des Deutschen Olympischen Sportbundes, Trainern,
({5})
Ärzten, Betreuern von Nationalmannschaften, ständigen
Stellvertretern von Behördenleitern, Intendanten und so
weiter und so fort. Es wird überprüft ohne Verdacht, und
das mindestens noch fünf Jahre. So will es das neue Gesetz der Riesenkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen.
({6})
Immer wieder werde ich gefragt: Was kann die Linksfraktion im Bundestag überhaupt ausrichten?
({7})
Heute sage ich selbstbewusst: wenigstens eine Stimme
gegen die übermächtigen anderen setzen. Wenn es uns
hier nicht gäbe, dann gäbe es keinerlei Widerspruch gegen dieses Gesetz, welches gegen die Prinzipien des
Rechtsstaates Verjährung und Verhältnismäßigkeit verstößt.
({8})
Es gäbe keinen Entschließungsantrag, der Ja sagt zur
Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, aber Nein zur
weiteren Überprüfung unzähliger Personengruppen.
15 Jahre Überprüfungen sind genug. Die Verlängerung
über das Jahr 2006 hinaus verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da
jede Überprüfung einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Individuums darstellt und dieser
Eingriff nach 15 Jahren für Verhaltensweisen, die noch
viel länger zurückliegen können, nicht mehr zu rechtfertigen ist.
({9})
Vergessen Sie nicht, dass es sich hier nicht einmal um
das Strafrecht handelt.
({10})
Ich bitte Sie, die Sie die Übermacht in diesem Hause
haben, unseren Entschließungsantrag wenigstens zu bedenken. Dem Novellierungsgesetz werden wir nicht zustimmen.
Danke schön.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Jochimsen, es geht nicht um einen
Verdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger des Ostens.
({0})
Dafür sitzen hier viel zu viele, die selbst dort gelebt haben.
({1})
Es geht auch nicht einfach um die Frage, ob Zeit eine
wichtige Rolle bei der Schuld spielt. Das ist richtig; deswegen haben wir unseren Ursprungsgesetzentwurf entsprechend formuliert.
Es geht aber um die Frage, ob wir über das Eingeständnis von Schuld und eine tatsächliche Aufarbeitung
reden können. Dazu gehört - Herr Waitz hat es vorhin
gesagt - die Entschuldigung. Darüber muss diskutiert
werden.
({2})
Worum geht es? Es geht um Biografien, die zerstört
worden sind, um Leben, die infrage gestellt worden sind.
Es geht um die Zersetzung von Menschen. Worum geht
es? Es geht darum, dass es heute Leute gibt, die davon
reden, dass es nun genug ist mit der Aufarbeitung. Es
geht um ehemalige Stasioffiziere, die sich nicht mehr nur
treffen, sondern sich auch ganz öffentlich zu dem bekennen, was sie gemacht haben nach dem Motto: „Das war
doch eigentlich gar nicht so schlimm“, und Geschichtsklitterung betreiben.
({3})
Wenn wir über die Aufarbeitung unserer DDRGeschichte reden, dann dürfen wir sie einerseits nicht
denjenigen überlassen, die sich an alte Puddingmarken
oder „Professor Flimmrich“ erinnern. Wir dürfen sie
aber noch viel weniger denjenigen überlassen, die sagen:
„Es war ja gar nicht alles schlecht“, wie das übrigens
neulich Herr Bisky in einer Debatte gemacht hat, in der
er über das DDR-Schulsystem geredet hat, ohne klar zu
machen, wie viele Kinder aus diesem Schulsystem entfernt worden sind und wie viele Kinder keine Chance
hatten.
({4})
Es geht noch viel weniger darum, sie denjenigen zu
überlassen, die sagen: „Es gibt nur ein paar überspannte
Opfer; eigentlich war alles nicht so schlimm“, den Stasioffizieren, die alles andere tun, als sich zu entschuldigen.
Es geht darum, das Herrschaftssystem aufzuarbeiten,
die Mechanismen der Diktatur aufzuzeigen. Es geht
übrigens auch darum, darüber zu diskutieren und sich
darüber auseinander zu setzen. Dafür ist nach 15 Jahren
hohe Zeit. Es ist an der Zeit, dass Schülerinnen und
Schüler ihre Lehrerinnen und Lehrer fragen, Zeit, dass
Kinder ihre Eltern fragen: Was hast du eigentlich gemacht? Wie konnte es sein, dass sich so viele auf Unfreiheit und auf ein autoritäres Regime eingelassen haben?
Wie konnte es sein, dass Eltern ihren Kindern gesagt haben - so wie das meine Eltern gemacht haben -: „Das,
was wir zu Hause besprechen, wie wir reden und worüber wir reden, darfst du in der Schule und draußen auf
der Straße unter gar keinen Umständen sagen“?
({5})
Um diese Diskussion geht es, wenn wir über die Aufarbeitung der Herrschaftsmechanismen sprechen. Die entscheidende Neuerung in dem vorliegenden Gesetzentwurf ist der Zugang für Forschung und Wissenschaft.
Ich hoffe sehr, dass mit diesem Zugang eine solche Debatte ausgelöst wird.
Dazu gehört übrigens auch die Frage, ob man aus der
Vergangenheit gelernt hat. Ich finde, wir sollten den
Menschen ganz offen, ganz sachlich und mit großer Empathie zugestehen, dass sie aus ihrer eigenen Biografie,
aus ihrer Vergangenheit, aus den Fehlern, die sie gemacht haben, und auch aus dem, was das System mit ihnen als Person gemacht hat, gelernt haben. Ich glaube,
wenn man über Schuld redet, dann geht es gleichzeitig
um Vergebung. Auch das ist aus meiner Sicht in dieser
Debatte ganz wichtig.
({6})
Wenn wir heute über die Regelüberprüfung für bestimmte Personen reden, dann geht es nicht um das Einschränken von Persönlichkeitsrechten und um einen Generalverdacht. Dann geht es darum, dass jemand, der in
der Öffentlichkeit ein bestimmtes Amt innehat und dem
Vertrauen entgegengebracht werden soll und muss, ganz
sicher sagen kann: Ich bin überprüft und ich sage dir: Ich
war nicht bei der Staatssicherheit. Das ist das Gegenteil
von dem, was Sie mit Verletzung von Persönlichkeitsrechten meinen, Frau Jochimsen.
({7})
Es geht um die Personen, auf die es im öffentlichen
Leben ankommt. Wenn wir von Behördenleitern reden,
dann reden wir zum Beispiel über Schulleiterinnen und
Schulleiter und auch über deren Stellvertreterinnen und
Stellvertreter. Nicht die jungen Lehrerinnen und Lehrer,
die in den öffentlichen Dienst übernommen werden,
müssen überprüft werden; aber diejenigen, die möglicherweise aufsteigen, sollen schon überprüft werden. Ich
glaube, es ist richtig, dass wir in unserem Land keine
Schulen haben, die von Menschen geleitet werden, die
irgendwann einmal für die Staatssicherheit gearbeitet haben.
({8})
Dazu gehört auch der Bereich des Sports. Ich bin
froh, dass wir diesen Bereich in das Gesetz aufgenommen haben. Ich bin auch froh, dass es eine gute Zusammenarbeit mit denjenigen gab, die im Sport Verantwortung übernehmen.
({9})
Es geht um die Mitglieder des Präsidiums, des Vorstands,
leitende Angestellte des Deutschen Olympischen Sportbundes, es geht um seine Spitzenverbände, um die Olympiastützpunkte, es geht um die Repräsentanten - auch das
ist ganz wichtig - und es geht auch um die Trainer und
die verantwortlichen Betreuer. Diese Aufzählung zeigt:
Hier muss mit der entsprechenden Überprüfung wirklich
Ernst gemacht werden.
({10})
Bei der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte geht es
um Opfer und um Einzelfälle. Das muss bleiben. Aber
wir müssen auch darüber reden, was das System war.
Was sind das übrigens für Leute, die bei der Beerdigung
von Markus Wolf zumindest den Eindruck erweckt haben, dass sie sich nicht nur zurücksehnen, sondern dass
sie auch nichts gelernt haben und zumindest nur sehr wenig bereuen?
({11})
Ich bin sehr froh, dass meine Kollegin Petra Pau nicht
auf dieser Beerdigung gewesen ist.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Landesminister für Soziales, Familie und Gesundheit aus Thüringen, Dr. Klaus Zeh.
({0})
Dr. Klaus Zeh, Minister ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich nehme hier heute als Beauftragter des Bundesrates zur Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Stellung und stehe gleichzeitig auch für die Thüringer Landesregierung, die diese Novelle im Bundesrat eingebracht
hat.
Vorab möchte ich sagen, dass wir dem gefundenen
Kompromiss zustimmen,
({2})
auch wenn wir uns zugegebenermaßen weitergehende
Regelungen gewünscht hätten.
({3})
Zum Beispiel scheint uns die Begrenzung auf fünf Jahre
eng zu sein; die Einschränkung des Personenkreises ist
uns dabei etwas zu stark. Dennoch werde ich im Bundesrat für eine Mehrheit zu dem Kompromiss werben, obwohl der Bundesrat mehrheitlich für eine unbegrenzte
Fortsetzung der jetzigen Regelung zur Überprüfung auf
Stasimitarbeit votiert hat. Ich denke, der Bundesrat wird
dieser Empfehlung folgen; denn wenn kein Kompromiss
zustande kommt, würde das das Ende der Aufarbeitung
bedeuten. Das wäre als Signal nach außen verheerend.
Es gibt zwei wichtige Botschaften, die heute vom Bundestag ausgehen müssen. Erstens. Es gibt keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.
({4})
Zweitens. Wir vergessen nicht die Opfer des SED-Unrechtsstaates.
Zu Punkt eins. Mit dem gefundenen Kompromiss ist
erreicht, dass kein Schlussstrich gezogen wird. Dazu tragen die gesetzlich fixierten besseren Möglichkeiten für
Journalisten und Wissenschaftler im Umgang mit den
Stasiunterlagen bei. Dazu wird aber auch das nunmehr
endgültige Streichen des Vorbehalts- und Verwertungsverbotes beitragen; denn wenn man, wie ursprünglich
vorgesehen, im Einzelfall nicht mehr über konkrete VerMinister Dr. Klaus Zeh ({5})
strickungen reden darf, dann streiten wir uns am Ende
nur in Gerichten über Formulierungen und Ähnliches,
nicht mehr über Sachverhalte. Wir haben das in der Vergangenheit oft genug erlebt.
Auch der Wegfall der in der Gesetzesnovelle geplanten Regelung, nur noch bei konkretem Verdacht eine
Überprüfung zu erlauben, ist für uns entscheidend; denn
wenn das, was erst im Ergebnis der Prüfung zweifelsfrei
feststehen kann, Voraussetzung für die Prüfung gewesen
wäre, dann wäre das Ende jeglicher Überprüfung eingeleitet gewesen.
({6})
Mit dem Wegfall der Verdachtsabhängigkeit ist eine
Überprüfung in der Form, wie wir sie mit der Regelüberprüfung - so wurde sie bezeichnet - hatten, überhaupt erst wieder möglich. Frau Jochimsen, ich kann
nicht nachvollziehen, weshalb die so genannte Regelanfrage einen Generalverdacht ehemaliger DDR-Bürger
darstellen soll. In Thüringen haben wir in 15 Jahren Praxis gegenteilige Erfahrungen gesammelt.
Wir haben in Thüringen alle Mitarbeiter - egal ob aus
Ost oder West - überprüft. Wir haben nicht qua Herkunft
überprüft. Im Rahmen der Rosenholz-Datei ist das erst
vor kurzem wieder geschehen.
({7})
Die Regelanfrage hat es überhaupt erst ermöglicht, einen
Verdacht - gleich ob Generalverdacht oder konkreter
Verdacht - auszuräumen. Ich will gerade nicht, dass jemand verdächtigt wird, ohne dass man das überprüfen
könnte. Der Denunzierung wäre aus unserer Sicht Tür
und Tor geöffnet.
({8})
Die Regelanfrage ist eben keine Verurteilung, sondern
nur der Schlüssel zu den Akten, die eine Auskunft ermöglichen. Die Anfrage ist noch keine Verurteilung. Ich
gebe dem Kollegen Vaatz ausdrücklich Recht, der gesagt
hat, es gehe hier nicht um Bestrafung, sondern um eine
Bewertung der Eignung für einen bestimmten Dienstposten.
({9})
Ich will das an Beispielen verdeutlichen: Mitarbeiter,
die zu DDR-Zeiten enteignet haben, sind als Mitarbeiter
ungeeignet, wenn es jetzt um die Klärung von Vermögensansprüchen, zum Beispiel von SED-Opfern, geht.
Wenn sich Opfer und Täter gegenübersitzen - das ist
vorgekommen; alles, was vorkommen kann, passiert
auch -, dann ist das unerträglich. Ich halte ehemalige
Stasimitarbeiter auch für die Bewachung der Stasiakten
in der Birthler-Behörde nicht gerade für geeignet.
({10})
Deshalb hatten wir eine Ausweitung der Personenkreise,
die überprüft werden sollten, gewünscht.
Frau Jochimsen, wenn die PDS hier verkündet, dass
sie für die weitere Aufarbeitung steht, dann sollte sie
dem Kompromiss aus meiner Sicht zustimmen. Bei solchen Beteuerungen aus Richtung PDS fällt mir immer
ein Transparent von 1989, aus der Zeit der friedlichen
Revolution, ein: Vergesst die sieben Geißlein nicht,
wenn Herr Gysi zu euch spricht.
({11})
Ich zitiere das nur, Sie können selbst Schlussfolgerungen
daraus ziehen.
Was die Schlussstrichdebatte angeht, möchte ich ein
Opfer aus Südthüringen, Herrn Manfred May, zitieren.
Er sagte richtigerweise: Nur die Opfer haben das Recht
zu sagen: Schluss. Sie sagen es aber nicht. Es gibt einen
wichtigen Grund dafür: Für die quälenden Erinnerungen
der Opfer an Verhöre, Einschüchterungen und Zersetzungen gibt es keinen Schlussstrich.
({12})
Ich bin außerordentlich dankbar dafür - das sage ich
abschließend dazu -, dass Herr Thierse auf die Opfer
hingewiesen hat. Der Bundesrat hat eine Gesetzesnovelle zur Verlängerung der Rehabilitierungsfristen um
drei Jahre auf den Weg gebracht. Auch hierfür werbe ich
um Ihre Zustimmung. Wir müssen uns ferner für die finanzielle Unterstützung der Opfer entscheiden. Leider
ist Geld aber nicht alles. Abschließend zitiere ich noch
einmal ein Opfer, Herrn May: Aber ebenso wichtig ist
etwas, das mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Was fehlt, ist
eine Würdigung, eine öffentliche Wahrnehmung der
Schicksale, ein Respekt in der Gesellschaft.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Uwe Barth, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist aus
gutem Grund der erste Satz in unserem Grundgesetz. Die
exponierte Stellung dieses Bekenntnisses zur Menschenwürde zeigt, dass es der zentrale Punkt des Konsenses ist, auf dem unsere demokratische, offene und
freiheitliche Gesellschaft beruht. Das Bekenntnis zur
Menschenwürde ist somit sinnstiftend für unsere Gesellschaft.
Die Würde des Menschen spielte auch für die Stasi
eine wichtige Rolle. Menschen in ihrer Würde zu verletzen und sie ihnen zu rauben, war fester Bestandteil des
als tschekistischer Kampf verklärten Vorgehens der
Staatssicherheit.
({0})
Die Methoden dazu waren manchmal brutal, manchmal
subtil, aber fast immer darauf gerichtet, Menschen zu
verfolgen, einzuschüchtern, zu manipulieren und zu brechen. Die Stasi war mit diesem Vorgehen im Laufe der
Zeit nicht nur der wesentliche machterhaltende Faktor
für die SED geworden - deswegen ist der Ansatz von
Herrn Kollegen Thierse, das System insgesamt zu betrachten, sehr richtig und wichtig -, die Stasi war für
viele Bürgerinnen und Bürger der DDR vor allem Schreckens- und Feindbild zugleich. Sie war es, wovor die
Demonstranten im Herbst 1989 Angst hatten. Trotzdem
gingen sie auf die Straße. Die Stasi war es, die Oppositionelle und Bürgerrechtler verfolgte, verhaftete, entwürdigte und auch folterte, und eben nicht nur ausspähte,
wie es in dem Antrag der Linken verantwortungslos verharmlosend dargestellt wird.
({1})
Der Sieg der friedlichen Revolution über das kommunistische System in der DDR war somit ganz wesentlich ein
Sieg über das System Staatssicherheit. Dieser Sieg ermöglicht uns heute überhaupt erst die Aufarbeitung und
die Debatte darüber.
Das im ersten Entwurf des Gesetzes vorgesehene
Ende der Regelanfrage und das dort vorgesehene Vorhalte- und Verwerteverbot einer Stasitätigkeit wären in
der Tat fatale Schlussstrichsignale gewesen. Überprüfungen vom Vorliegen konkreter Verdachtsmomente abhängig zu machen hätte bedeutet, das Ergebnis zu einer
Voraussetzung für eine Überprüfung zu machen.
Aus diesen Gründen war und ist es für mich ganz unverständlich, dass sich gerade von den Fraktionen der
SPD und der CDU/CSU, insbesondere vonseiten der Abgeordneten aus den neuen Ländern und hier besonders
der ehemaligen Bürgerrechtler unter ihnen, so wenig Widerstand gegen den ersten Entwurf geregt hat, sie gar
Zustimmung signalisierten.
({2})
Dass sich die Grünen indes diesem Antrag angeschlossen haben, zeigt mir, wie dramatisch weit sie sich von ihren Wurzeln im Osten entfernt haben.
Für uns, die FDP, sind in dieser Debatte zwei Punkte
von zentraler Bedeutung. Zum einen halten wir die weitere Aufarbeitung des Unrechts der zweiten Diktatur, die
im 20. Jahrhundert auf deutschem Boden geherrscht hat,
nach wie vor für genauso unverzichtbar wie die Aufarbeitung der ersten Diktatur.
({3})
Ein immanenter Bestandteil dieser Aufarbeitung ist nach
unserer festen Überzeugung die Suche nach Tätern und
Opfern. Das hat in aller Regel keine strafrechtliche Relevanz. Deswegen ist die Debatte über Verjährungsfristen hier fehl am Platze.
({4})
Es hat Relevanz für die Betroffenen und für den Staat,
der berechtigterweise eine bestimmte Kategorie von Tätern nicht in einer bestimmten Kategorie verantwortlicher Positionen innerhalb des demokratischen Gemeinwesens dulden will und kann.
({5})
Der zweite wichtige Punkt ist für uns der Konsens
aller Demokraten in dieser Frage. Deshalb werden wir
diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch wenn uns das
Gesetz in einigen Punkten nicht weit genug geht. Herr
Minister Zeh, auch mir hat der Thüringer Entwurf besser
gefallen. Insbesondere aber darf die Verlängerung um
fünf Jahre aus unserer Sicht nicht dahin gehend missverstanden werden, dass die Aufarbeitung und die verdachtsunabhängigen Überprüfungen dann quasi automatisch enden.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In kaum
einer Entscheidung dieses Hohen Hauses wird die Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Vaterlandes so deutlich wie hier - oder ihre
Ablehnung.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Birthler,
die ich gerade auf der Tribüne sehe!
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit Blick auf Sie,
Kollegin Jochimsen - ich will Ihnen nichts unterstellen -,
möchte ich sagen: Man könnte in einer solchen Debatte
ehrlicher sein. Sie haben gesagt, dass Sie keine Schlussstrichdebatte führen wollen - auf die Schlussstrichdebatte komme ich gleich noch einmal zu sprechen -, und
vorgeschlagen, die Regeln des Bundesarchivgesetzes anzuwenden, bei dem im Hinblick auf Verstorbene und andere Gruppen Schutzfristen von 30 Jahren gelten. Es
wäre ehrlicher gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass Sie
die Aufarbeitung der Vergangenheit einstellen wollen;
ein Blick in das Gesetz würde in diesem Fall die Rechtsfindung erleichtern. Das fand ich nicht in Ordnung. Insofern verfolgen Sie mit Ihrem Antrag tatsächlich das Ziel,
einen Schlussstrich zu ziehen. Das wollen wir nicht tun.
({1})
Ich freue mich in der Tat, dass wir es doch noch geschafft haben, im Deutschen Bundestag zu einem breiten
parlamentarischen Konsens in dieser Frage zu kommen. Ich freue mich auch, dass ich als jemand, der bekanntermaßen aus dem Westen der Republik stammt, die
Gelegenheit habe, zu diesem Thema zu sprechen. Ich
glaube, das ist ein Signal, dass es sich nicht um ein ostspezifisches Thema handelt, sondern dass die Aufarbeitung der Geschichte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, der wir uns alle zu stellen haben.
({2})
Uns geht es in unserem Gesetzentwurf darum, sicherzustellen, dass die wissenschaftliche, mediale und gesellschaftliche Aufarbeitung der Herrschaftsmechanismen dieser kommunistischen Diktatur, die unbestritten
auch in Zukunft notwendig ist, weiterhin erfolgt.
Sie, Kollege Börnsen, haben in Ihrer heutigen Pressemitteilung die verdienstvolle Bundesratsinitiative des
Landes Thüringen, durch die jegliche Schlussstrichmentalität unterbunden worden sei, gewürdigt. Ich bin
froh, dass diese Aussage heute nicht wiederholt worden
ist. Dennoch sage ich als jemand, der unter den Gesichtspunkten der geisteswissenschaftlichen und der historischen Forschung sehr intensiv an diesem Gesetzentwurf
mitgewirkt hat - das war meine wesentliche Rolle -, in
aller Deutlichkeit, dass der Vorwurf im Zusammenhang
mit der Schlussstrichdebatte uns gegenüber ungerechtfertigt und letztlich verletzend ist.
({3})
Ich weise diesen Vorwurf, auch wenn er heute nicht wiederholt worden ist, zurück.
({4})
Worum ging es uns? Es ging darum, ein Gesetz zu
verhindern, das dazu geführt hätte - das war der Wille
des damaligen Gesetzgebers -, dass ein Schlussstrich gezogen worden wäre. Wir haben gesagt: Es gibt noch viel
zu tun. Die entsprechenden Anfragen sind bereits angesprochen worden. Dann haben wir uns überlegt: Wo
könnten Probleme bestehen? Die Anfragen, die zurückgegangen sind, sind festgestellt worden. Wir haben uns
ganz eindeutig dazu bekannt: Unser Ziel ist, die wissenschaftliche, zeitgeschichtliche und mediale Aufarbeitung
der Herrschaftsstrukturen weiterhin zu ermöglichen und
für Forschung und Medien freien Zugang zu gewährleisten. All diejenigen, die auf polemische Art und Weise
eine Schlussstrichdebatte geführt haben, bitte ich, das
Ergebnis, zu dem sie gekommen sind, zu revidieren.
Die Regelanfrage, die Sie, lieber Herr Minister, angesprochen haben, hat nicht zu den Erkenntnissen geführt, die Sie nannten. Die Erkenntnisse der letzten Zeit
sind vielmehr das Ergebnis der Akteneinsicht durch Betroffene und durch die Wissenschaft und das Resultat der
Medienarbeit, die dazu beigetragen hat, dass Täter identifiziert werden konnten.
({5})
Aus diesem Grunde war es richtig, auch über die Regelanfrage zu diskutieren. Das war ursprünglich auch Ihr
Wille. Ich weise an dieser Stelle nur darauf hin, dass sich
Burkhard Hirsch für eine Verjährungsfrist von zehn Jahren ausgesprochen hat.
({6})
- Ja. Aber wenn man über Gemeinsamkeiten redet, dann
sollte man diese Debatte auch dazu nutzen,
({7})
deutlich zu machen, dass ein Teil der Unterstellungen,
die man denjenigen gegenüber geäußert hat, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, schlichtweg
falsch ist, lieber Kollege Barth und lieber Kollege Waitz.
Deswegen weise ich diese Unterstellungen zurück.
Jetzt komme ich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu
sprechen. Was erreichen wir durch diesen Gesetzentwurf? Eine wichtige Änderung haben wir in § 32 des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgenommen. Unter bestimmten Voraussetzungen können wir nun im Interesse
der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen die Einsicht in unanonymisierte Originalunterlagen ermöglichen. Selbstverständlich haben die Persönlichkeitsrechte Bestand; das
ist völlig klar. Sie standen für uns sogar im Mittelpunkt.
Aus diesem Grunde haben wir an einigen Stellen Sicherungsvorkehrungen eingebaut und Abwägungen vorgenommen.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, was in Hohenschönhausen geschehen ist. Auch wenn dieses Ereignis
nichts mit dem Gegenstand der heutigen Debatte und
nichts mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu tun hat,
ist es richtig, dass wir über diese kommunistische Diktatur reden müssen. Dabei sollten wir ehrlich sein. Das gilt
auch für die Diskussion über frühere Mitarbeiter, die
momentan geführt wird. Kollege Vaatz, als ehemaliger
Minister des Landes Sachsen wissen Sie besser als beispielsweise ich, wie die Situation damals war. Auch Sie
haben damals gesagt, es gibt gar keine andere Möglichkeit, als auch Menschen, die einschlägig tätig waren, zu
übernehmen; wir hatten hier ja in der Tat einiges an Problemen. Hier wird jetzt sehr aufgeregt diskutiert und die
Bundesbeauftragte, Frau Birthler, ist öffentlich angegriffen worden. Deshalb will ich an dieser Stelle in aller
Deutlichkeit festhalten: Die heutige Bundesbeauftragte
ist nicht die richtige Ansprechpartnerin für personalpolitische Entscheidungen der 90er-Jahre.
Was haben wir in diesem Gesetzentwurf sonst noch
vorgesehen? Wir gewährleisten den Zugang für Wissenschaft und Forschung, insbesondere für die zeitgeschichtliche Forschung. Wir haben bei der Tiefe des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte die notwendige Trennung
vorgenommen und ganz klare wissenschaftsspezifische
Sonderregelungen getroffen. Die Bundesbeauftragte hat
im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit von Belangen
nicht immer einfache Abwägungen zu treffen. So dürfen
Unterlagen nur dann zur Verfügung gestellt werden,
wenn ganz klar ein öffentliches Interesse an der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes besteht und dem auch Rechnung getragen wird. Die Einsicht in Originalunterlagen wird nur dann möglich sein,
wenn dies für die Durchführung des Forschungsvorhabens erforderlich ist. Weiterhin haben ausschließlich
Mitarbeiter der Behörde Zugang zu den Akten.
Das eine oder andere Verwaltungsgericht hat in der
Vergangenheit nicht in genügender Form zur Kenntnis
genommen - diesen Grundsatz hat der historische Gesetzgeber schon damals bei der Verabschiedung des Gesetzes in der Volkskammer und im Bundestag verfolgt -,
dass zwischen dem Zugang für Wissenschaft und Forschung und dem Zugang für Medien nicht unterschieden wird. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt und soll
grundsätzlich so bleiben. Eine Ausnahme davon, die mit
dieser Novellierung vorgesehen ist, habe ich angesprochen.
Nochmals: Es war und ist das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die wissenschaftliche, zeitgeschichtliche und
mediale Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen dieses
Unrechtsstaates möglich zu machen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen der PDS, mit Ihrem Versuch, das mit dem
Hinweis auf das Archivgesetz zu verhindern, haben Sie
sich ein Stück weit entlarvt. Ich bin froh, dass wir einen
Kompromiss gefunden haben, und hoffe, dass die Debatte über die Novellierung des Gesetzes, die leider polemisch geworden ist, ein Ende findet und wir mit dem
heutigen Tag eine klare Gesetzgebung haben, die dem
Anliegen der Betroffenen, aber auch dem Anliegen der
Aufarbeitung gerecht wird.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Vaatz.
Sehr geehrter Herr Kollege Tauss, Sie haben auf die
Kündigungspraxis im öffentlichen Dienst im damaligen
sächsischen Umweltministerium hingewiesen.
({0})
Ich möchte dazu Folgendes ergänzen: Was Sie gesagt
haben, trifft in der Tat auf viele Mitarbeiter aus dem so
genannten Staatsapparat der DDR zu. Zu meiner Zeit als
Minister war es so, dass wir, wenn sich Anhaltspunkte
ergeben haben, dass jemand mit für die Staatssicherheit
gearbeitet hatte, eine Einzelfallprüfung durchgeführt und
die Schwere der Verstrickung abgewogen haben. Wenn
sich herausstellte, dass eine Fortführung der Beschäftigung des bzw. der Betreffenden unzumutbar war, haben
wir in der Regel erfolgreich kündigen können. Das heißt,
es ist sehr wohl möglich, dass sich der öffentliche Dienst
von Personen, die aufgrund ihrer Mitarbeit bei der
Staatssicherheit belastet sind, trennt, wenn dies als erforderlich empfunden wird.
({1})
Herr Kollege Tauss.
Kollege Vaatz, ich wollte Ihnen keineswegs etwas unterstellen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man damals - da ist man als Wessi eher ein Außenstehender mit Problemen zu tun hatte. Es gab damals einen Untersuchungsausschuss im Lande Sachsen. Ich finde es sehr
ehrlich, dass Sie damals gesagt haben, dass bei der Entfernung von Stasimitarbeitern aus der öffentlichen Verwaltung gewisse Grenzen gesetzt gewesen seien.
Das war der Sachverhalt. Wir sollten die Grenzen, die
wir damals festgestellt haben, heute, im Jahre 2006,
nicht zum Gegenstand aufgeregter Debatten machen. Ich
glaube, in diesem Punkt sind wir uns nicht uneinig.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Börnsen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht!
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Nein,
nicht zum letzten Gefecht wird heute geblasen. Mit einer
breiten parlamentarischen Mehrheit verabschiedet der
Deutsche Bundestag heute mit dem neu gefassten StasiUnterlagen-Gesetz kein kaltes Schlussstrichgesetz. Die
Aufarbeitung der roten DDR-Diktatur wird fortgesetzt,
dessen Herrschaftsmechanismen werden demaskiert und
Honecker und Co. wird ebenso ein später Sieg verwehrt
wie den PDS-Altkadern.
Diese Botschaft wird den Altbarden Wolf Biermann
besonders erfreuen. Er ist ein couragierter, großartiger
Künstler und war gestern Gast des Deutschen Bundestages. Er erzählte, dass ihn ein Stasispitzel, eine schöne
Schauspielerin, ins Bett locken sollte.
({1})
Doch die Aktion der Geheimpolizei erwies sich als Fehlschlag. Die Schöne verliebte sich in den Liedermacher.
Die Informationsausbeute blieb daher mager, doch die
Biermann-Stasi-Balladen-Akte wurde trotzdem aufgebläht. Mit dem, was amüsant klingt, verfolgte man jedoch ein menschenverachtendes Ziel.
Die Koalition handelt konsequent. Für uns als Christdemokraten gilt: Abgelegt, abgehakt, vergessen gibt es
nicht.
({2})
Wolfgang Börnsen ({3})
Die Regelanfrage für die Repräsentanten unseres Staates und unserer Gesellschaft bleibt bestehen. Bis hin zum
stellvertretenden Behörden- und Schulleiter gilt das, was
war. Das umfasst auch den Sport. Für eine Überprüfung
ist kein Anfangsverdacht notwendig. Arbeits- und
dienstrechtliche Folgen bei einer nachgewiesenen Spitzeltätigkeit für den Staatssicherheitsdienst werden durch
kein Vorhalteverbot mehr verhindert. Die Opfer und
nicht die Täter bleiben im Blickpunkt des Gesetzgebers.
({4})
Das ist ganz im Sinne von Wolf Biermann, der in seiner
Stasi-Ballade beklagt:
… ich sitz hier fest,
darf nach Ost nicht, nicht nach West,
darf nicht singen, darf nicht schrein,
darf nicht, was ich bin, auch sein …
Die Befristung auf fünf Jahre ist verfassungsrechtlich
und aus Gründen des Datenschutzes geboten. Sie gilt
nicht für Bedienstete der Behörde und nicht für Beschäftigte im Rahmen der Rehabilitation.
Durch das neue Gesetz wird notwendigerweise
gleichzeitig für eine größere Transparenz der Behörde
gesorgt. Der Beirat erhält mehr Befugnisse. Er kann sich
direkt an den Deutschen Bundestag wenden. Die Forschungsmöglichkeiten für externe Wissenschaftler
werden erweitert. Der Personenschutz wird wie bisher
gewährleistet. Der Kernbereich menschlicher Lebensführung wird nicht angetastet.
Wir sollten nicht vergessen: Auch Stasispitzel haben
skrupellos manipuliert und in den Akten gelogen, dass
sich die Balken bogen. Die politisch-historische Aufarbeitung des Unrechtregimes wird ausgedehnt; denn Forschung kennt keine Verjährung.
({5})
Der Pressezugang wird nicht geändert; er bleibt frei.
Die Drahtzieher der DDR-Diktatur und nicht der kleine
Stasispitzel gehören ins Zentrum der Untersuchungen:
die, die für den Mauerbau, den Bruch der Menschenrechte, die Todesschüsse und das unheilvolle Wirken der
Geheimpolizei verantwortlich waren.
({6})
Auch ich komme noch einmal auf Markus Wolf zurück. Eine Heldenverehrung, wie sie der verstorbene
Markus Wolf, Boss der Geheimpolizei, in diesen Tagen
unter anderem durch den russischen Botschafter erfahren
hat, ist völlig fehl am Platz.
({7})
Auftraggeber für Verbrechen gegen die Menschlichkeit
gehören ohne Wenn und Aber kaltgestellt.
Fast 5 Millionen Anfragen hat die Behörde seit ihrem
Bestehen bearbeitet. Es gelang, Tausende von Zuträgern
des DDR-Repressionsapparates von öffentlichen Funktionen fern zu halten. Diese gründliche Aufklärung ist
insofern eine Erfolgsgeschichte - trotz der Ungereimtheiten in der Behörde wegen der Anstellung von über
50 ehemals hauptamtlichen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes. Hier müssen die Fakten auf den
Tisch.
Doch die jüngst zur Nutzung freigegebene Rosenholzdatei macht deutlich, dass es immer noch brisante
Fälle gibt. Unser Aufklärungswille darf nicht erlahmen.
Das gilt auch für die 16 000 noch nicht ausgewerteten
Schnipselsäcke mit über 45 Millionen Blatt. Sie enthalten nach Auffassung von Fachkennern tief greifende Informationen über das böse Spiel der Staatssicherheitsdienste in Ost und West. Dem müssen wir weiter
nachgehen.
({8})
Im ersten Halbjahr 2006 gingen 48 000 Anträge auf
Akteneinsicht bei der Behörde ein. Das sind 19 Prozent
mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Nicht zuletzt
der eindrucksvolle Film „Das Leben der Anderen“ hat
eine neue Nachfragewelle bewirkt.
Die Geheimpolizei der SED umfasste 91 000 hauptamtliche und über 100 000 inoffizielle Mitarbeiter. Das
jetzt siebte Stasi-Unterlagen-Gesetz differenziert bei den
Beschuldigten. Es nimmt nach 15 Jahren Rücksicht auf
die kleinen Täter und baut einem Generalverdacht gegen
DDR-Bürger vor. Damit dient es auch dem Rechtsfrieden in unserem Land. Die moralische Verantwortung für
uns alle - gleich aus welcher Region wir kommen bleibt, die Opfer nicht zu vergessen. Die Diktatur gilt es
zu demaskieren und unsere Demokratie zu stärken.
({9})
Dazu gehört auch, dass wir das Thema der Opferpension
endlich zu einem guten Ende und Ergebnis führen.
Wolf Biermann - damit will ich schließen - hat über
die Hoffnung des Kommunismus auf eine Gesellschaft,
in der alle Menschen Brüder sind, gesagt:
Ich bin der Meinung, dass niemand gefährlicher
war in der Geschichte der Menschheit als die, die
das Paradies auf Erden erzwingen wollten.
Die haben uns in Höllen geführt, die schlimmer
sind als alles, was wir bisher kannten.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, Drucksache 16/2969. Zu
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
dieser Abstimmung liegen mir zwei schriftliche Erklä-
rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kolle-
gen Koppelin und Parr vor.1)
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3638,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU
und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({0})
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben
Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3666. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses abgelehnt.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird vorgeschlagen,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3653 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und
Medien und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den
Sportausschuss, den Rechtsausschuss sowie an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Joachim Günther ({1}), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Liberalisierung des Sportwettenmarkts in
Deutschland einleiten und europakonformes
Konzessionsmodell vorlegen
- Drucksache 16/3506 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
1) Anlagen 2 und 3
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Detlef Parr, FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Glücksspiel kann süchtig machen, richtig. Wir müssen sicherlich ein Augenmerk auf die Suchtprävention und die
Bekämpfung von Spielsucht richten, wenn wir über
eine Neuordnung des Glücksspiel- und Sportwettenmarktes sprechen. Das gilt für staatliche und private Anbieter gleichermaßen. Das gilt auch für die FDP. Ich
möchte mich als sucht- und drogenpolitischer Sprecher
meiner Fraktion zu dieser Zielrichtung eindeutig bekennen und mich insbesondere für den Schutz unserer Jugend aussprechen.
Aber
({0})
geht es bei der Frage nach der Aufrechterhaltung oder
eher nach der Errichtung eines staatlichen Monopols anstelle einer Öffnung des Sportwettenmarktes für private
Unternehmen wirklich in der Hauptsache um Spielsucht? Ein Blick in unsere Geschichte belehrt uns eines
Besseren. Wetten gehören seit Jahrhunderten zum Alltag
unseres Zusammenlebens. Seit Jahrhunderten hat der
Staat nichts anderes im Sinn, als über Wettangebote das
Staatssäckel zu füllen,
({1})
genauso wie unsere Bundesländer seit Jahren einen großen Teil der Erträge einstreichen, um staatliche Aufgaben zu finanzieren. Seien wir ehrlich: Bis zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes hat das Thema Eindämmung der Spielsucht so gut wie keine Rolle gespielt.
({2})
In Wahrheit stecken knallharte fiskalische Interessen
hinter dem voreiligen Bekenntnis zum Monopol, lieber
Kollege Danckert. Die Bundesländer erhoffen sich eine
Erhöhung der Einnahmen aus Oddset, die seit etlichen
Jahren rückläufig sind, und eine Rückkehr der Wetter
nach einem gesetzlichen Verbot anderer Anbieter.
Das ist ein Trugschluss und ein gefährlicher Bumerang, der letztendlich gerade die Sportförderung empfindlich treffen wird. Individuelle Wettgewohnheiten
lassen sich nicht durch Festigung staatlicher Monopole
auf Knopfdruck wieder verändern. Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass gerade der umgekehrte Weg einer
pfiffigen Steuer- und Abgabenpolitik Anbieter und Wetter sogar wieder ins Heimatland zurückholt. Denken wir
bei der Wettsteuer nur an die Wirkung der Umstellung
der Bemessungsgrundlage vom Wetteinsatz auf den
Bruttospielertrag!
In 14 Tagen wollen sich die Ministerpräsidenten der
Bundesländer selbst ein Weihnachtsgeschenk machen.
Sie wollen einen neuen Staatsvertrag unterzeichnen.
({3})
Sie werden sich damit eher ein Kuckucksei unter den
Weihnachtsbaum legen.
({4})
Das haben mittlerweile auch viele Politiker länderübergreifend erkannt. Die FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz fordert einstimmig, den Beschluss über den vorliegenden Entwurf von der Tagesordnung des 13. Dezember
abzusetzen.
({5})
Auch das eine oder andere prominente CDU- und SPDMitglied des Sportausschusses hat nachdrücklich vor einem überstürzten Festhalten am Monopol gewarnt.
DFB-Präsident Theo Zwanziger weist auf die Gefahr zügelloser Wettveranstaltungen und von Manipulationen
im Sportbetrieb hin, wenn sich der Staatsvertrag als
nicht verfassungskonform erweisen sollte. Viele Rechtsexperten erkennen das Risiko eines dann rechtsfreien
Raumes.
Es wird interessant, wenn man nach Schleswig-Holstein schaut. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Carstensen hat gestern vor dem Landtag erklärt, er
stimme dem Entwurf nicht zu. Er stützt sich dabei auf
einen einstimmigen Beschluss ausnahmslos aller Landtagsfraktionen. Diese haben nämlich - genauso wie die
FDP-Bundestagsfraktion - Empfehlungen der Kommission „Sportwetten“ vom 22. Februar 2006 entdeckt, die
- man höre und staune - von der Ministerpräsidentenkonferenz selbst eingesetzt worden ist. Auch der damalige Deutsche Sportbund, der DFB, und die Deutsche
Fußball-Liga waren daran beteiligt. Das Ergebnis dieser
Kommission können Sie weitgehend in unserem Antrag
nachlesen. Besser und konkreter kann man den Abschied
vom staatlichen Monopol der Sportwetten nicht formulieren.
({6})
Mit uns gehen die Norddeutschen davon aus, dass auf
dieser Grundlage die erforderliche Einigung erzielt werden kann, insbesondere auch deshalb, weil der Lotteriebetrieb völlig unverändert bleiben soll.
({7})
Nach diesen Vorstellungen muss der nationale Wettmarkt durch einen nachhaltig globalisierungsfesten
staatlichen Ordnungsrahmen im Vergleich zum Ausland
attraktiv bleiben können. Eine unabhängige Kontrollinstanz ähnlich wie in Großbritannien erteilt die Konzession für diejenigen, die gewerbsmäßig Wetten auf
Sportereignisse veranstalten, vermitteln oder anbieten
wollen, nach den in unserem Antrag nachlesbaren Kriterien. Aspekten des Vergaberechts ist Rechnung zu tragen
und gegebenenfalls ist europaweit auszuschreiben. Die
Anzahl der Konzessionen soll beschränkt und die Erteilung angemessen befristet werden. Sollte dies aus
rechtlichen Gründen nicht möglich sein, ist eine gewerberechtliche Genehmigungspflicht vorzusehen. Eine
weitere Alternative wäre die Trennung des Sportwettenmarktes vom übrigen Glücksspielmarkt in einem dualen
System. Dann wäre der Bund wie bei den Pferdewetten
zuständig.
Die EU-Kommission hat in diesen Fragen Vertragsverletzungsverfahren gegen zehn europäische Länder
angestrengt. Wir diskutieren heute also nicht allein über
ein nationales Problem. Deshalb fordert die FDP von der
Bundesregierung, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen,
auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Strukturen zu
kommen.
({8})
Eine Sportdirektorenkonferenz im Februar und eine informelle Sportministerkonferenz im März bieten sich als
nächste Gelegenheit an. Ohne Europa wird es keine mittel- bis langfristige Lösung der Sportwettenprobleme geben.
Wir Deutschen sollten uns zum Vorreiter einer intelligenten Neuordnung machen, die Spielsucht unter Kontrolle hält, Wettangebote und Wetter nicht ins Ausland
vertreibt und eine - Zitat aus dem Bericht der Ministerpräsidentenkommission - „bislang den Sportveranstaltern nicht zugängliche Wertschöpfung erschließt“.
Ende gut, alles gut? Darauf hoffen wir und setzen auf
eine sachlichere Debatte als beim ersten Antrag, den wir
in dieser Sache im Bundestag gestellt haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Heynemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Liberalisierung des Sportwettenmarktes
hätte nicht passender heute platziert werden können. Vor
zwei Tagen befasste sich der Bundesgerichtshof mit einem Vorgang vom Januar 2005, der sehr stark die Sportund besonders die Fußballwelt erschütterte. Am 21. Januar des letzten Jahres wurde bekannt, dass der Schiedsrichter Hoyzer gemeinsam mit einem Wettlokalbesitzer
aus Berlin mehrere Spiele manipuliert hat.
({0})
Auch wenn das abschließende Urteil erst im Dezember
gesprochen wird, so ist schon jetzt großes Unverständnis
zu vernehmen, dass es womöglich einen Freispruch geben könnte.
({1})
Wir wissen, dass sich gerade im Bereich des Glücksspieles die Begleitkriminalität immer breiter macht.
Aber wenn sich juristische Winkel- und Klimmzüge dermaßen darstellen wie in diesem Fall, dann wird vieles
unglaubwürdig.
({2})
Hier ist also eine Grauzone. Ich glaube, wir müssen uns
keine Grauzonen schaffen.
Wir als CDU/CSU-Fraktion sind dafür, das Monopol
für Lotterie und Sportwetten beizubehalten. Wir wissen,
dass eine Liberalisierung des Sportwettenmarktes angestrebt wird. Der Sportwettenmarkt, der circa 8 Prozent
der gesamten Lotto- und Totoumsätze ausmacht, wäre
die Öffnung einer Tür, die man nicht wieder schließen
kann.
Natürlich gibt es dazu viel Pro und Kontra. Erst in
dieser Woche habe ich von einer Lotto-Toto-GmbH einen Brief bekommen, in dem dazu aufgefordert wird,
dass Monopol des Glückspielbereiches beizubehalten.
Das soll natürlich auch Arbeitsplätze sichern. Dazu - das
ist bereits ausgeführt worden - werden am 13. Dezember
die Ministerpräsidenten eine Entscheidung treffen: ob
das Monopol am Lotterie- und Sportwettenmarkt erhalten bleibt bzw. für einige Zeit festgeschrieben wird.
Natürlich hat die EU die Wettbewerbsfreiheit auch für
den Glückspielmarkt gefordert. Aber wir alle wissen,
dass Glücksspiel als Angebot kein Produkt als solches
darstellt. Auf jeden Fall würde eine Liberalisierung, das
heißt eine Freigabe die Spielsucht noch weiter fördern
und unkontrolliert ausweiten.
({3})
Die Abschaffung des Monopols hat natürlich auch
viele Befürworter. Dies zeigen auch großflächige Anzeigen, wie die aus dem „Kicker“ vom 27. November: „Abpfiff für das Monopol“.
({4})
Als Partner im Bündnis gegen das Wettmonopol haben
unterzeichnet: Eurosport, Premiere, einige Bundesligisten aus den Bereichen Fußball und Handball und natürlich einige Wettanbieter.
({5})
- In diesem Fall nicht.
Fakt ist, dass jährlich circa 3,3 Milliarden Euro aus
dem Lotto- und aus dem Sportwettenbereich in die einzelnen Bereiche des Sportes, der Wohlfahrts- und Denkmalspflege, der Kultur und anderswohin fließen. Ich
konnte mich in meiner Heimatstadt Magdeburg persönlich davon überzeugen, wie glücklich ein Sportverein ist,
der - natürlich dank Kofinanzierung und Lottomitteln einen neuen Kunstrasen einweihen konnte. Über
50 Jahre wurde dort auf Bockasche gespielt.
({6})
- Peter, du lachst, aber das gibt es noch. - Jetzt gibt es
dort einen Rasenplatz. Hätte dafür auch ein Lottoanbieter gesorgt?
({7})
Wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass Sportförderung und Sportsponsoring zwei unterschiedliche Paar
Schuhe sind. Das Ergebnis von Sportförderung ist unter
anderem der angesprochene Rasenplatz. Beim Sportsponsoring geht es dagegen um die Leistungsanbietung
der großen Vereine in der Bundesliga und in Europa.
Wenn ein Sponsor mit den Leistungen eines Bundesligisten nicht zufrieden ist, so kann es passieren, dass er
sich und sein Geld zurückzieht.
In diesem Zusammenhang ist es auch eine Wahrnehmungs- und werbestrategische Frage, wie sich die
Öffentlichkeit im Einzelfall verhält. Der Deutsche Lottound Totoblock gibt pro Jahr mehr als 500 Millionen
Euro allein für die Förderung des Breitensports aus; aber
die Wahrnehmung ist sehr gering, teilweise lokal begrenzt. Bei den privaten Sportwettenanbietern ist die
Wahrnehmung - denken Sie an das Hickhack um den
Brustsponsor von Werder Bremen; der Name dieses
Sponsors hat drei- oder viermal gewechselt - natürlich
sehr ausgeprägt.
({8})
Die Sponsorentätigkeit hält sich finanziell dagegen im
mittleren Bereich. Private Anbieter bieten keine Sportförderung, sondern gewinnorientiertes Sponsoring an.
Ich glaube, das kann nicht im Gemeininteresse sein.
Uns geht es ganz klar um eine Suchtbekämpfung und
um Planmäßigkeit im Lotterie- und Sportwettenbereich.
Am 20. November fand hier in Berlin ein Kolloquium
zur Spielsuchtprävention statt. Zusammen mit der Drogenbeauftragten der Bundesregierung befasste sich dieses Kolloquium - es war nicht nur gut besucht, sondern
auch gut besetzt - mit der Spielsucht als Sucht der postmodernen Gesellschaft und auch mit den gesundheitsbezogenen Aspekten. Im ersten Teil, in dem es um ordnungspolitische Aspekte ging, waren auch einige
Kollegen aus dem Bundestag bzw. aus dem Sportausschuss anwesend. Die vorherrschende Meinung, besonders der Koalitionsvertreter, war, dass das Monopol unbedingt aufrechterhalten werden muss.
({9})
Das Bundesverfassungsgericht hat vor kurzem nach
einer Klage von privaten Wettanbietern entschieden,
dass das Lottomonopol nicht verfassungsgemäß ist.
Gleichzeitig hat es festgestellt, dass eine Monopollösung
verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn sie der Suchtprävention dient. Die Ziele einer zukünftigen Ordnung des
Glücksspielmarktes in Deutschland sollten daher auf jeden Fall sein: der präventive Schutz der Spieler vor den
Gefahren der Spielsucht, die Lenkung des Spielbetriebs
in geordneten und kontrollierten Bahnen, die Vermeidung von Begleit- und Folgekriminalität und Betrug, die
Gewährleistung eines ordentlichen Spielablaufs und die
Abschöpfung von Erträgen zur nachhaltigen Förderung
des Gemeinwohls.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Waitz?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
Die Realisierung dieser Ziele muss die Messlatte für
jedes Ordnungsmodell sein. Legt man diese hohe Messlatte an, kommt man zu dem Schluss, dass allein durch
die Aufrechterhaltung des staatlichen Angebots und
durch die Regulierung des Glücksspielmarktes durch ein
Monopol eine konsequente Erreichung der genannten
Ziele sichergestellt ist. Das schreiben Sie sogar in Ihrem
Antrag, meine Damen und Herren von der FDP:
Jede Neugestaltung des staatlichen Sportwettenmonopols wäre daran zu messen, ob es ihr gelingt,
den Konflikt zwischen fiskalischen Interessen des
Staates und einer aktiven Begrenzung der Spielleidenschaft aufzulösen.
Das wollen wir; genau das ist es.
({0})
Nun wird von der FDP ein begrenztes Konzessionsmodell, das heißt die Zulassung gewerblicher und damit
gewinnorientierter Anbieter, gefordert. Dies würde ein
eindeutiges marktwirtschaftliches Element in den
Glücksspielsektor einführen mit der Folge eines europaweiten und ungehemmten Wettbewerbs.
({1})
Ein begrenztes Modell hieße, dass man nur einigen die
Möglichkeit einräumt, marktwirtschaftliche Strukturen
aufzubauen, wogegen andere wieder klagen würden, zumal für diejenigen, die den Wettbetrieb hier durchführen,
kein Niederlassungszwang in Deutschland besteht. Eine
Vergabe der Konzession kann nach der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs nämlich nicht von einer
Niederlassung in Deutschland abhängig gemacht werden. Es ist zu erwarten, dass eine größere Zahl der Bewerber um Lizenzen aufgrund geringerer Steuer- und
Abgabenlast ihren Sitz im europäischen Ausland haben
wird. Eine Besteuerung von Anbietern im Ausland wäre
nicht möglich.
({2})
Es geht also auch um einen fiskalischen Aspekt. Zu
fragen ist: Welcher Umsatz müsste in einem liberalisierten Markt erreicht werden, um die derzeitigen Abgaben
des Lotto- und Glücksspielmarkts für gemeinwohldienliche Zwecke zu sichern?
({3})
Der Umsatz betrug 2005 8,1 Milliarden Euro. Wie bereits gesagt, wurden 3,3 Milliarden Euro für gemeinwohldienliche Zwecke ausgegeben. Allein schon diese
3,3 Milliarden Euro müssten aus Steuermitteln generiert
werden.
Zusammenfassend sei gesagt: Es gibt in fast allen europäischen Staaten eine restriktive Zulassungspraxis, in
der Regel ein Monopol.
({4})
Dem liegt ein kultureller Erfahrungshintergrund, gerade
in der Suchtprävention, zugrunde, von dem ich nicht
glaube, dass er entwertet ist. Unser gesamtes System der
Lottoanbieter ist traditionell darauf ausgerichtet, das
Spielbedürfnis der Menschen zu kanalisieren. Der Staat
will nicht, dass sich der Spielbetrieb schrankenlos entfalten kann,
({5})
weil dies Menschen ins Unglück zu stürzen vermag. Außerdem geht mit dem Glücksspiel erfahrungsgemäß die
Gefahr von Begleitkriminalität einher, was ich anfangs
am Beispiel des Falles Hoyzer darstellen wollte.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion lehnen den FDP-Antrag zur Liberalisierung des Sportwettenmarktes ab.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Parr.
({0})
Der Herr Kollege Heynemann hat erwähnt, dass das
Monopol aufrechterhalten werden muss, damit keine Begleitkriminalität stattfindet und die Hoyzer-Betrügereien aufhören. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen
darauf aufmerksam machen, dass die Hoyzer-Betrüger
bei Oddset, also bei dem staatlichen Monopolisten, gespielt haben?
({0})
Sie können antworten.
Werter Herr Kollege Parr, lieber Detlef! Das ist nur
die halbe Wahrheit. Wir wissen, dass die Brüder Sapina
international, in ganz Europa - von Griechenland bis
Frankreich - Wetten platziert haben. Also ist bei dem
Problem, das ich angesprochen habe, international und
nicht allein auf Oddset zu fokussieren.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Als ich den Antrag der Kollegen der FDP zur
Aufgabe des staatlichen Wettmonopols las, kam mir
die Handschrift gleich sehr bekannt vor.
({0})
Zuerst zum Allgemeinen. Viele der Anträge, die Sie
einbringen, tragen die gleiche Handschrift. Man braucht
gar nicht lange nachzudenken: Es ist die Handschrift von
Frau Breuel, der letzten Chefin der Treuhandgesellschaft.
({1})
Frau Breuel hat leidenschaftlich gern privatisiert. Sie hat
alles, was im Osten nicht niet- und nagelfest war, privatisiert, verkauft, verscherbelt. Unter den Folgen hat Ostdeutschland noch lange zu leiden. Nun weiß ich nicht,
meine Damen und Herren, ob Frau Breuel einen kleinen
Honorarvertrag bei der FDP-Fraktion hat; ich könnte vor
einer Weiterbeschäftigung nur warnen.
Jetzt zum Konkreten; es ist eine sicherlich auch Ihnen
bekannte Methode, so vorzugehen. - In Ihrem Antrag
fordern Sie, das staatliche Wettmonopol zu verscherbeln,
({2})
weil Ihnen die Wettlobby im Nacken sitzt und das ganz
große Geschäft wittert. In Deutschland liegt der Wettspieleinsatz pro Kopf bei 33 Dollar, in Großbritannien
bei 627 Dollar und in Hongkong bei 1 848 Dollar. Da
kann natürlich jeder verstehen, dass in den Augen der
Lobbyisten die Dollarzeichen blitzen. In Deutschland
kann man einen zweistelligen Milliardenbetrag erwirtschaften, wie eine Studie des Kölner Instituts „Sport +
Markt“ prognostiziert hat. Nur das staatliche Wettmonopol steht dem noch entgegen.
({3})
Als Wolf im Schafspelz kommt die FDP daher, wenn
sie in ihrem Antrag die Kriterien für die Vergabe von
Konzessionen formuliert. Es soll unter anderem geprüft
werden, ob der Konzessionsnehmer persönlich zuverlässig ist. Wer ist zuverlässig? Ist es der erwähnte Exschiedsrichter Hoyzer, der gerade freigesprochen wurde
({4})
- oder freigesprochen wird, wie wir alle wissen -,
({5})
oder ist es jemand wie Herr Ackermann von der Deutschen Bank? Dem würde ich zum Beispiel auch keine
Spielkonzession geben.
({6})
Meine Damen und Herren, weiterhin fordern Sie ein
ausgereiftes Sozialkonzept. Auch da kommt wieder die
bereits erwähnte Kollegin Breuel zum Vorschein.
({7})
Bei der Privatisierung ostdeutscher Unternehmen wurden von der Treuhand auch immer Sozialkonzepte verabschiedet. Es wurden Beschäftigungsgarantien und andere schöne Sozialmaßnahmen festgelegt. Doch keiner
hat sich daran gehalten. Es hat auch keiner kontrolliert.
Was Sie uns hier anbieten, ist doch „Sozial-Lametta“,
das, würde Ihr Antrag angenommen - was ja nicht passieren wird -, gleich nach Weihnachten wieder entsorgt
würde.
Wir als Linke sind der Auffassung, dass das staatliche
Wettmonopol die beste Voraussetzung ist, um die von Ihnen formulierten Anforderungen zu erfüllen. Eine Kommerzialisierung macht nur die privaten Wettbüros reich
und treibt die Menschen in die Arme von Zockern, denen das Schicksal der Spieler gleichgültig ist.
({8})
Ich bin keine Freundin von Glücksspielen und möchte
Ihnen jetzt den Spruch meiner Großmutter vortragen:
Wer wetten will, will auch betrügen. Das hat meine
Großmutter immer gesagt. Es trifft sicherlich nicht ganz
zu. Ich kenne aber mehr Menschen, die durch das
Glücksspiel unglücklich geworden sind, als solche, die
dadurch glücklich geworden sind.
Wir als Linke lehnen den Antrag der FDP ab und fordern gleichzeitig die Bundesregierung auf, das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts konsequent zu nutzen, um
die Wettsucht zu bekämpfen und illegale Wetten intensiver zu verfolgen.
Vielen Dank.
({9})
Martin Gerster hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir alle fragen uns: Was sind eigentlich die Motive dafür, dass die FDP schon wieder einen Antrag zum
Thema Sportwetten einbringt und im Eilverfahren hier
im Plenum debattieren will?
Die FDP hat doch einen Antrag im Verfahren, einen
Antrag, der in ganzen Passagen mit dem übereinstimmt
- nicht nur Halbsätze -, was uns hier vorgelegt wird,
werter Detlef Parr.
({0})
Dabei wissen Sie von der FDP-Bundestagsfraktion
doch ganz genau, dass die Ministerpräsidenten in zwei
Wochen die Problematik rund um die Sportwetten lösen
werden. Dann nämlich wird ein neuer Staatsvertrag unterschrieben, der unsere Jugendlichen, aber auch Erwachsene vor den Gefahren der Wettsucht so gut wie
möglich schützt und im Übrigen sicherstellt, dass der
Breitensport auch über die Wetteinnahmen gefördert
wird.
Wenn die FDP das nicht möchte, dann frage ich mich:
Warum bringt sie sich denn nicht dort ein, wo sie in den
Landesparlamenten und Landesregierungen auch Verantwortung trägt?
({1})
Warum unterstützt die FDP die Ministerpräsidenten
bei diesem neuen Staatsvertrag? Hier wird von der FDP
ein doppeltes Spiel betrieben. So sieht es aus:
({2})
Hier im Bundestag Schaufensteranträge einzureichen,
sich vor den Karren der privaten Wettanbieter spannen
zu lassen, sich aber über die Landesparlamente und die
Landesregierungen, in denen man selber Regierungsverantwortung trägt, nicht entsprechend zu engagieren.
Frau Homburger, ich freue mich, dass Sie hier sitzen.
Ich möchte nur an den 9. Mai dieses Jahres erinnern.
Vielleicht erinnern Sie sich auch an den Tag. Das war
der Tag, an dem wunderschöne Bilder produziert wurden. Da wurde nämlich der Koalitionsvertrag zwischen
CDU und FDP in Baden-Württemberg unterschrieben.
In diesem Koalitionsvertrag auf Seite 62 liest man - man
höre und staune -:
Auch zukünftig bedarf das Glücksspiel eines sachgerechten ordnungsrechtlichen Rahmens, der insbesondere die Anforderungen an den Jugendschutz
und die Suchtprävention beachtet.
Ja, wunderbar.
({3})
Ferner heißt es da:
Wir werden uns dafür einsetzen, dass ordnungsrechtlich begründete Abgaben aus dem Glücksspiel
auch zukünftig für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung gestellt werden.
({4})
- Entschuldigung! Lesen Sie mal weiter: Wir bekennen uns zum staatlichen Monopol.
({5})
Im Übrigen fordern Sie in Ihrem Antrag Unmögliches. Sie sagen: Die privaten Wettanbieter sollen eine
Lizenz erhalten, wenn sie einen inländischen Geschäftssitz vorweisen. Das passt doch gar nicht zusammen. Es
ist gerade die FDP, die den freien Markt in der Europäischen Union unterstützt. Die Kopplung an einen inländischen Geschäftssitz, wie in dem Antrag gefordert,
widerspricht der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit in Europa. Das passt überhaupt nicht zusammen.
Deswegen ist eine Beschränkung auf inländische Anbieter überhaupt nicht möglich. Bestätigt wird das Ganze
durch ein Gutachten von Professor Stein von der Universität Saarbrücken:
Ein auf wenige gewerbliche Anbieter begrenztes
Lizenzierungsmodell ist europarechtlich nicht realisierbar und kann keine Alternative zum staatlichen
Monopol sein.
Ich weiß nicht, ob der FDP-Fraktion dieses Papier bekannt ist. Es liegt aber auf dem Tisch und ist für jeden
frei zugänglich.
Lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Parr zu?
Ja.
Bitte schön, Herr Parr.
({0})
Mir liegt hier das Protokoll der Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtags von gestern vor. Ich zitiere
den Ministerpräsidenten:
Ich bin der Meinung, wir sollten die Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofes in Sachen
Placanica
- da geht es um die Probleme in Italien und andere abwarten.
Er sagt außerdem:
In den Gesprächen mit den Ministerpräsidenten und
Mitgliedern aus Fraktionen und Regierungen aus
den Ländern erkenne ich auch deren Unbehagen
und ihre Zweifel in Bezug auf den eingeschlagenen
Weg.
Wie beurteilen Sie diese Aussagen, die aus SchleswigHolstein kommen, vor dem Hintergrund, dass mittlerweile klar ist, dass in dieser Frage das Einstimmigkeitsprinzip gilt?
({0})
Ich würde sagen, wir sollten erst einmal abwarten,
was dabei herauskommt.
({0})
Wo ist denn eine Initiative der Bundesländer, in denen
die FDP an der Regierung beteiligt ist?
({1})
Ich sehe überhaupt keine. Sie hätten da doch die Möglichkeit, entsprechend zu agieren.
({2})
Ich kann nur noch einmal wiederholen: Die FDPBundestagsfraktion erweist dem Sport mit ihrer Initiative einen Bärendienst und geht der Kampagne der privaten Wettanbieter voll auf den Leim
({3})
und unterstützt eine für den Sport und die vielen Sportvereine schädliche Kampagne.
({4})
- Ich bin in keiner Weise für sinkende Sportförderung
verantwortlich.
Im Übrigen kann ich nur sagen: Der Sport steht überhaupt nicht auf der Seite der FDP-Bundestagsfraktion.
({5})
Ich habe hier eine entsprechende Mitteilung vom
Württembergischen Landessportbund. Es wird zunächst
die Position der Gegenseite dargestellt:
In dem Brief an die Sportvereine spricht der Präsident der Lottovermittler, Norman Faber, von erheblichen Umsatzeinbußen, die angeblich durch die
Werbebeschränkungen im geplanten Staatsvertrag
zu befürchten seien - worunter auch Sport, Kultur
und Wohlfahrt zu leiden hätten.
Der Württembergische Landessportbund stellt aber klar,
dass es sich ganz anders verhält. Wörtlich sagt der Präsident Klaus Tappeser - Klaus Riegert kennt ihn ja auch
ganz gut -:
Nur das staatliche Monopol mit seinen Zweckerträgen fördert das Solidarsystem des Sports in
Baden-Württemberg - und damit den Breiten- und
Spitzensport.
Ich würde mir wünschen, dass auch die FDP-Bundestagsfraktion nicht gegen den Sport und die Sportvereine
agieren würde, sondern zugunsten des Sports und der
Sportvereine.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile Winfried Hermann für Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die FDP ist auf ihrer rastlosen Suche nach
Zonen ohne Markt fündig geworden, nämlich beim
staatlichen Wettmonopol. Wenn man ihren Antrag genau liest, stellt man fest, dass sie nicht nur versucht, das
staatliche Wettmonopol zu beseitigen, sondern auch ein
neues Modell präsentiert.
({0})
Man könnte etwas zugespitzt sagen: Es ist das Modell einer Eier legenden Sportwettwollmilchsau.
({1})
Dieses Glücksschwein ist einerseits wettbewerbsgerecht,
gemeinwohlbelangeorientiert, nicht nur spielsüchtig machend, nein, diese auch bekämpfend. Es ist zugleich über
die nationalen Grenzen hinaus attraktiv. Es ist globalisierungsfest. Kurzum: Es ist kapital, liberal und sozial.
({2})
Es ist beschränkt und frei, es ist föderal, national und
global.
({3})
Jetzt kann man sagen: Das ist ein schönes Modell.
Man muss aber einmal ganz ernsthaft festhalten: Das
Marktmodell ist in der Tat für viele Bereiche eine sinnvolle Form des Suchens und des Bedienens. Dort, wo es
zu wenig Angebote an Produkten und Dienstleistungen
gibt, braucht man so ein Modell. Die Frage ist aber: Ist
ausgerechnet der Spielbereich angesichts der Tatsache,
dass es Wett- und Spielsucht gibt, ein Bereich, wo wir
über ein Marktsystem für ein Mehr an Spielangeboten
und für immer verrücktere Angebote sorgen müssen?
Brauchen wir hier wirklich mehr Effizienz usw.?
({4})
Brauchen wir das wirklich? Ist das Marktmodell wirklich das richtige Modell? Da kann ich nur sagen: Völlig
verfehlt; für diesen Bereich taugt das Marktmodell überhaupt nicht.
({5})
Meine Damen und Herren, wenn man wirklich etwas
gegen Spielsucht tun will, dann darf man das Angebot
nicht vermehren, sondern muss es beschränken und klar
und eindeutig kanalisieren.
({6})
Nun sagen Sie, Sie wollten das irgendwie kanalisieren.
Aber Sie geben nicht wirklich an, wie die Spielsucht bekämpft werden soll, und sagen auch nicht, wie man den
grundlegenden Widerspruch lösen will, der dadurch entsteht, dass man im Markt Wachstum braucht und immer
mehr von ebendem, was man bekämpfen will. Deswegen
taugt das Marktmodell in diesem Bereich überhaupt
nicht.
Ich bin froh, dass die Länder sich jetzt zu einem
Staatsvertrag durchgerungen haben, der sich ganz eindeutig zum Monopol bekennt.
({7})
- Die Länder haben sich bisher darauf verständigt. Wenn
Sie da mehr wissen, bin ich gespannt. Bisher höre ich
noch von keinem Bundesland, dass es diesen Staatsvertrag blockieren will.
({8})
- Da sind wir mal gespannt, ob die das wirklich machen.
Wir haben oft genug solche Sprüche gehört und am
Schluss sind die Leute dann doch eingeknickt.
Wir jedenfalls hoffen, dass dieser Staatsvertrag durchkommt; denn ich glaube, dass das die richtige Antwort
ist. Kollege Parr, Sie haben angesprochen, dass der
Hoyzer-Skandal und das Ganze unter den jetzigen Bedingungen stattgefunden haben. Das ist richtig. Aber
wollen Sie im Ernst diesen Bereich ausweiten und zu einem privaten Geschäft machen, in dem sich dann ziemlich viele Geschäftemacher tummeln werden? Natürlich
werden die Betrügereien dramatisch zunehmen, wenn
man diesen Markt anheizt und ausweitet. Dem leisten
Sie mit Ihrem Vorschlag Vorschub.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
und fasse zusammen. Das Angebot der FDP ist im
Grunde genommen sportschädlich.
({9})
Es kann allenfalls wenigen im Profisport nützen. Sie
sind das Sprachrohr des Profispitzenfußballs im DFB,
aber nicht des Breitensports.
({10})
Sie sind übrigens auch nicht interessensfrei, sondern wir
wissen, dass Sie mit den freien Wettbewerbsanbietern
von Sportwetten gut zusammenarbeiten und sich gerne
sponsern lassen. Das heißt, wir wissen, dass Ihre Interessen nicht nur ordnungsrechtlicher Natur sind, sondern
auch einen ganz konkreten materiellen Hintergrund haben.
Ihr Antrag ist nicht nur sportschädlich, sondern, wie
ich meine, letztendlich auch sozialschädlich.
({11})
Es ist das völlig falsche Modell für ein schwieriges Problem.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Dr. Peter Danckert hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Eigentlich können wir froh sein, dass das Jahr langsam zu Ende geht; denn wenn es noch mehr Sitzungswochen gäbe, dann hätten wir wahrscheinlich ein drittes
Mal das Vergnügen, den FDP-Antrag hier zu behandeln.
„Getretener Quark wird breit, nicht stark“, lieber Detlef.
({0})
Warum eigentlich der heutige Antrag? Der einzige
Unterschied zu der letzten Debatte vor wenigen Monaten
ist der, dass ihr diesmal keine öffentliche Veranstaltung
mit Unterstützung von Bet and Win gemacht habt. Der
Antrag ist derselbe, die Argumente sind dieselben;
({1})
es hat sich eigentlich überhaupt nichts verändert.
({2})
Die Situation ist so: Die Ministerpräsidenten werden
am 13. Dezember entscheiden. Das wissen wir ja; es ist
von meinem Freund Martin Gerster schon gesagt worden. Die FDP hätte es in der Hand - das wurde hier
schon ausgeführt; aber ich will es noch einmal unterstreichen -, das, was sie hier mit diesem Antrag angreift
- das staatliche Wettmonopol, das die Ministerpräsidenten im Auge haben -, zu verhindern, indem BadenWürttemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen
sich dagegen aussprechen.
({3})
Das macht ihr aber nicht und deswegen ist das ein unlauteres Vorgehen an dieser Stelle:
({4})
Da, wo man ein Gesetz als Koalitionspartner auf Länderebene glatt verhindern könnte, wird mitgestimmt und
hier im Bundestag macht ihr den Liberalen. So geht es
nicht; entweder - oder.
Das ist eine komplizierte Situation, Detlef Parr; aber
das muss einmal gesagt werden.
({5})
Das Verhalten an dieser Stelle ist völlig uneinheitlich.
({6})
Wir werden ja sehen, ob sich die Ministerpräsidenten am
13. Dezember verständigen.
({7})
Die Koalition hat ganz klar gesagt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März dieses Jahres zwei Möglichkeiten zulässt. Die Ministerpräsidenten haben die Initiative ergriffen; wir sind auf sie
angewiesen. Sie sind dabei, einen Staatsvertrag zustande
zu bringen. Ob dieser Staatsvertrag zur Folge hat, dass
all das umgesetzt werden kann, was man sich vorgenommen hat, ist in der Tat eine andere Frage. Ich will an dieser Stelle gar nicht verhehlen, dass ich in diesem Punkt
etwas skeptisch bin.
Ich fände es sehr gut, wenn wir uns einmal Gedanken
darüber machen würden, wer dahinter steht, anstatt immer über den gleichen Antrag zu reden. Dahinter stehen
Sportveranstalter, deren Veranstaltungen bzw. Spiele für
Wetten genutzt werden. Wir sollten über Leistungsschutzrechte nachdenken, wie es die Max-Planck-Gesellschaft gemacht hat. Seit wenigen Tagen liegt nämlich
ein Working Paper vor,
({8})
- soll ich „Working Paper“ noch übersetzen? -, in dem
man nachlesen kann, wie kompliziert die Materie ist.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Parr
zulassen?
Ja.
Bitte schön, Herr Parr.
({0})
Angesichts solcher Beiträge muss man natürlich Fragen stellen. Die FDP ist hier als eine Partei dargestellt
worden, die - das ist zumindest die Interpretation des
Kollegen Danckert - offensichtlich widersprüchlich reagiert.
({0})
Ich möchte den Innenminister des Landes SchleswigHolstein aus der gestrigen Debatte zitieren, Frau Kollegin Freitag. Er hat nämlich gesagt: Wer Monopole verteidigt, darf in der Regel als Ewiggestriger gelten. - Dem
ist nichts hinzuzufügen.
({1})
Ich denke, jeder hat mitbekommen, dass der Kollege
Parr nicht in der Lage ist, eine Frage zu stellen.
({0})
Das war eine Kurzintervention. Diese ist zwar nach unserer Geschäftsordnung vorgesehen, aber an einer anderen Stelle. Sei’s drum.
Wir haben eine Situation, in der wir alle gemeinsam
gut beraten wären, einmal an die Sportveranstalter zu
denken. Denn deren Veranstaltungen werden benutzt,
um Sportwetten durchzuführen. Wenn es beispielsweise
Fußballspiele nicht gäbe, dann gäbe es in dem Bereich
keine Wetten. Wir sollten also einmal darüber nachdenken, wo das Ganze anzusiedeln ist, im Bereich des Urheberrechts, im Bereich des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb oder an einer anderen Stelle. Das wäre sachgerecht und förderlich.
Wir sollten nicht jedes Mal über denselben Antrag im
Bundestag reden. Die Wiederholung alter Argumente
bringt nichts. Neue Argumente wurden von der FDP
nicht vorgetragen. Warten wir also ab, was uns die Ministerpräsidenten vorzutragen haben.
In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Die Fraktionen haben verabredet, die Vorlage auf
Drucksache 16/3506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation „ALTHEA“ zur weiteren StabiliVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
sierung des Friedensprozesses in Bosnien
und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der
Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem
NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen
Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
1575 ({1}) vom 22. November 2004, 1639
({2}) vom 21. November 2005 und 1722
({3}) vom 21. November 2006
- Drucksachen 16/3521, 16/3636 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3645 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Lothar Mark
Jürgen Koppelin
Alexander Bonde
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Ich sehe keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die SPD-Fraktion dem Kollegen Johannes Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute zu dieser Stunde über ein
europäisches Land und über Europäer wie Sie und mich.
Bosnien-Herzegowina liegt mitten in Europa. Auf diese
Formulierung werde ich noch zurückkommen.
Allerdings sprechen wir in diesem Fall über Menschen, denen die Erfolge unseres Kontinents der letzten
15 Jahre in Sachen Demokratie und Zusammenwachsen
nach wie vor nicht zuteil geworden sind. Bosnien-Herzegowina war als Teil des zweiten Jugoslawien sehr nah
am Westen. Den Menschen in den heutigen EU-Mitgliedstaaten in Mittelosteuropa und zumal in der unmittelbaren Nachbarschaft, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien, galt Bosnien-Herzegowina bis zum Krieg als ein
fast westliches Land, dessen Lebensstandard weit besser
war als der eigene. Man muss kein so genannter JugoNostalgiker sein, um das so zu sehen.
Dann plötzlich und für die meisten Beobachter auch
hierzulande unerwartet waren Sarajevo, Banja Luka und
Mostar nicht mehr Städte des jahrhundertelang gut eingeübten Zusammenlebens einer friedlichen Bevölkerung
mit einer Sprache, mit katholischen und orthodoxen Kirchen, Moscheen und Synagogen, sondern wurden zu
Zentren des mordenden Ethnonationalismus.
Ein sehr eindrucksvolles Bild dieser Jahre von 1991/
1992 bis 1995 vermittelte vor einigen Jahren der Film
„Ničija zemlja“ von Regisseur Danis Tanović unter dem
internationalen Titel „No Man’s Land“, übersetzt „Niemandsland“. Er gewann zahlreiche internationale Preise,
darunter den Golden Globe und einen Oscar. Ich nehme
an, einige von Ihnen kennen diesen Film. „No Man’s
Land“ spielt im Wesentlichen in einem Schützengraben,
der sich irgendwo in Bosnien-Herzegowina im Niemandsland zwischen den Frontlinien des Krieges befindet.
Diese Schützengräben hat die internationale Gemeinschaft damals nicht verhindert. Wegen falscher Wahrnehmung, gegenläufiger Interessen und falscher politischer Vorgaben der Europäer und der internationalen
Staatengemeinschaft waren die Blauhelme völlig überfordert und ihre Mission zum Scheitern verurteilt. Die
Menschen in Bosnien-Herzegowina haben das teuer bezahlt. Die Blauhelme, die seinerzeit geschickt wurden,
nannte man dort im Krieg „strumpfovi“, also
„Schlümpfe“. Das ist absolut keine respektvolle Bezeichnung und macht den Stellenwert dieser internationalen Truppe in den 90er-Jahren deutlich.
Heute, rund 15 Jahre nach dem ersten Schuss und elf
Jahre nach dem Frieden von Dayton, stimmen wir wieder über die Verlängerung eines Mandates in BosnienHerzegowina ab. Elf Jahre sind eine verdammt kurze
Zeit, wenn es um Wiederaufbau, Rückkehr, Versöhnung
und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen nach einem
Bürgerkrieg mit mehr als 200 000 Toten geht und Täter
und Opfer sich durchaus im selben Dorf bewegen und
sich dort begegnen. Ob Bosnien-Herzegowina noch
mehr Zeit bekommt, liegt auch an uns.
Die wirtschaftliche Lage in Bosnien-Herzegowina ist
schlimm. Organisierte Kriminalität, Zwangsprostitution,
Menschen-, Waffen- und Drogenhandel sind alltäglich
und brandgefährlich. Vordringlich ist deshalb jetzt die
Legalisierung der Ökonomie, weg von Schwarzmarkt
und Schwarzarbeit. Trotz Besserung der Beziehungen
gibt es nach wie vor die Spaltung in die Republika
Srpska und die Föderation. Die zwei prominentesten
Kriegsverbrecher Ratko Mladić und Karadžić bewegen
sich mutmaßlich auch in Bosnien-Herzegowina. Und sicherlich ist die international oktroyierte Verfassung eine
zu Recht ständig beklagte Katastrophe.
Das alles ist wahr und das sind große Probleme in
Bosnien-Herzegowina. Das eigentliche politische und
geistig-kulturelle Problem jedoch ist der Nationalismus
in diesem Land. Trotz der schlichten Tatsache, dass der
Frieden von Dayton eben nur als Waffenstillstand und
damit nur für einen Tag ein Erfolg war, trotz der allseits
und schon im Jahre 1995 bekannten Unzulänglichkeiten
der staatsrechtlichen Konstruktion muss uns klar sein: Es
ist nach wie vor in erster Linie der Nationalismus, der
dem Fortschritt in diesem Lande im Wege steht.
({0})
Johannes Jung ({1})
Es muss uns klar sein, dass die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina auch mit der denkbar schlechtesten
Verfassung eine vernünftige Politik betreiben könnten,
was sie nicht tun.
Wer das viel bemühte Wort „Ownership“ ernst nimmt,
muss seine Gesprächspartner in der Region mit Nachdruck auf diese Tatsachen hinweisen und penetrant Besserung einfordern. Das ist nicht einfach; denn die tonangebende Garnitur in den bisher bestimmenden drei
nationalen Parteien hat massive politische und wirtschaftliche Eigeninteressen, die absolut nicht mit dem
idealistischen Leitbild von einem vereinten, friedlichen,
demokratischen und EU-orientierten Bosnien-Herzegowina übereinstimmen.
Die Mission „Althea“ ist erfolgreich. Sie ist aber keineswegs deshalb erfolgreich, weil sie eine leichte Aufgabe hätte und daher überflüssig wäre.
({2})
So rosig ist die Lage nicht, als dass wir dort im
Jahre 2007 zum Beispiel für die Sicherheit von zurückkehrenden Flüchtlingen kein Militär mehr bräuchten und sei es nur für das subjektive Sicherheitsgefühl dieser
Rückkehrer.
Im Antrag der Bundesregierung werden einige Fortschritte in Richtung eines friedlichen und demokratischen Rechtsstaats, der selbstständig die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger gewährleisten kann, vollkommen
zu Recht festgestellt. Erwähnt werden diverse Reformen,
die uns Mut machen, und erfreulicherweise auch der Stabilitätspakt Südosteuropa mit einer Fülle von zivilen
Projekten.
Das Vorgängermandat SFOR hat verlorenes Vertrauen
zum Teil wieder zurückgewonnen. Seit zwei Jahren nun
ist „Althea“ unter Führung der EU die erfolgreiche Fortsetzung der internationalen Bemühungen um Sicherheit
und Stabilität in Bosnien-Herzegowina.
Zum Schluss möchte ich noch einen Blick auf die
Wahlen werfen, in die ich persönlich wieder einmal
große Hoffnungen gesetzt hatte. Die Vorherrschaft der
klassischen ethno-nationalen Parteien ist gebrochen. Ihre
Kandidaten waren in der Wahl für das Präsidium unterlegen, auch deshalb, weil sie Konkurrenz aus dem eigenen
Lager hatten. Der interessanteste Mann im neuen Präsidium ist Zeljko Komsic, der für eine übernationale Partei
angetreten ist und den wir dringend unterstützen sollten.
({3})
Schlussbemerkung: Alle Anstrengungen von innen
und von außen sind nur erfolgreich, wenn wir die Tür
zur Europäischen Union für die gesamte Region offen
halten.
({4})
Es darf nicht noch einmal ein europäisches Niemandsland im Südosten Europas geben und schon gar keine
neuen Schützengräben.
Die Begründung für „Althea“ ist die europäische Zukunft von Bosnien und Herzegowina. Deshalb ist der
Antrag zur Fortsetzung der Operation richtig. Deshalb
stimmt die SPD-Bundestagsfraktion diesem Antrag zu.
({5})
Ich danke allen zivilen und militärischen Aufbauhelfern in der Region und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe Dr. Rainer Stinner das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass heute der Botschafter von
Bosnien-Herzegowina der Debatte beiwohnt. Mit Ihrer
Genehmigung, Frau Präsidentin, darf ich ihn ganz herzlich begrüßen. Wir führen eine wichtige Debatte für Ihr
Land. Ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die FDPFraktion wird heute dem Antrag der Bundesregierung
auf Verlängerung des Mandates zustimmen. Wir zeigen
damit, dass wir weiterhin Verantwortung für die Stabilisierung und den Aufbau dieses wichtigen europäischen
Landes übernehmen. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Mandatsobergrenze - eher eine symbolische
Zahl, aber ein wichtiges Signal - von 3 000 auf
2 400 Soldaten reduziert hat. Das ist der richtige Schritt.
Sicherlich kann man in diesem Zusammenhang darüber diskutieren, ob und wann es richtig ist, die Zahl
der Soldaten vor Ort zu reduzieren. Aber leider, Herr
Minister Jung, haben Sie auch dieses Mal wieder mit einer eher unbedachten Äußerung in Bosnien und Herzegowina Unruhe ausgelöst, wie uns gestern Herr
Schwarz-Schilling sehr deutlich bestätigt hat. Sehr geehrter Herr Minister Jung, ich bitte Sie ganz herzlich, bei
Ihren öffentlichen Äußerungen darauf zu achten, welche
Wirkung sie im Ausland haben. Selbst wenn Sie das
verwundert, Herr Jung: Was ein deutscher Verteidigungsminister im Ausland sagt, wird in der Welt gehört das ist so. Deshalb ist es wichtig, dass wir das hier klarstellen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Klaeden zulassen?
Sehr gern lasse ich Zwischenfragen zu.
Bitte schön.
Herr Kollege Stinner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass zunächst einmal im Auswärtigen Ausschuss der Komment gilt, dass über Aussagen, die dort
gemacht werden, nicht öffentlich berichtet wird
({0})
und dass zum Zweiten die Aussage, die Sie hier dem
Kollegen Schwarz-Schilling in den Mund gelegt haben,
nicht zutreffend ist?
Ich kann nur darauf hinweisen, dass Herr SchwarzSchilling diese Einschätzung der Situation nicht gestern
im Ausschuss, aber durchaus in öffentlichen Äußerungen vorgenommen hat.
({0})
- Leider ist Herr Schwarz-Schilling heute nicht da, aber
dazu können Sie gerne Belege sehen.
Die Entscheidung über die Reduzierung des Kontingentes ist von den Entwicklungen in den nächsten Monaten abhängig. Drei Entwicklungen müssen wir genau
beobachten: Erstens. Eine Statusentscheidung über den
Kosovo wird sicherlich Auswirkungen auf die Situation
in der gesamten Region, insbesondere in der Republika
Srpska, haben. Zweitens müssen wir den Bericht über
die zu erwartende Entwicklung abwarten, den uns der
Beauftragte, Herr Schwarz-Schilling, im Februar vorlegen wird. Dieser Bericht wird sicherlich Auswirkungen
haben. Drittens. Was passiert eigentlich am 30. Juni des
nächsten Jahres, wenn das Mandat des OHR auslaufen
soll? All das müssen wir beobachten. Es ist sinnvoll, erst
dann die Entscheidung zu treffen, in welchem Umfang
das Kontingent der Soldaten eventuell zu reduzieren ist.
Die gute Nachricht lautet - da sind wir alle derselben
Meinung -: Gegenwärtig besteht keine Gefahr mehr,
dass es in diesem Land zu einem organisierten, bewaffneten Konflikt kommt. Diese gute Nachricht ist die Basis für die Überlegung, die Anzahl der Soldaten in diesem Land zu reduzieren.
Der Plan sieht bisher vor, dass das Mandat des Hohen
Repräsentanten am 30. Juni des nächsten Jahres ausläuft.
Herr Schwarz-Schilling hat in einer öffentlichen Sitzung
darüber gesprochen, dass es Überlegungen gibt - das
kann ja angebracht sein -, diesen Zeitplan zu verändern.
Ich bitte die Bundesregierung, uns ihre Position dazu
mitzuteilen. Hält sie an dem Fahrplan 30. Juni fest oder
gibt es Überlegungen, das Mandat OHR zu verlängern
und den Übergang auf die so genannte europäische Lösung entsprechend zu verschieben? Diese Informationen
wären für die Diskussion in diesem Hause interessant.
Das Jahr 2007 ist ein - in Anführungsstrichen - deutsches Jahr für das Land Bosnien-Herzegowina: Wir stellen den Hohen Repräsentanten, seit November stellen
wir mit einem deutschen Admiral auch den obersten
Kommandeur der EUFOR-Truppen und am 1. Januar
des nächsten Jahres übernehmen wir die EU-Ratspräsidentschaft. Umso wichtiger ist, dass wir dieser Verantwortung im Deutschen Bundestag nachkommen. Deshalb bedauere ich es außerordentlich, dass das Budget
des Auswärtigen Amtes für dieses Land, für das wir im
Jahr 2007 besondere Verantwortung übernehmen, in den
Haushaltsberatungen reduziert worden ist.
({1})
Ich bedauere es sehr, dass diese Mittel trotz der Bemühungen, die sich die so genannte Balkanfraktion parteiübergreifend gemacht hat, reduziert werden. Ich bitte die
Bundesregierung sehr herzlich, im Haushaltsvollzug zu
versuchen, diesen Fehler - es ist wirklich ein Fehler - zu
korrigieren und die entsprechenden Mittel einzusetzen.
Bosnien-Herzegowina hat wie alle anderen Länder
Europas durch die Vereinbarung von Thessaloniki eine
europäische Perspektive bekommen. Diese Perspektive
ist der Motor für die Entwicklung dieses Landes. Von
daher ist es sehr wichtig, diese Perspektive aufrechtzuerhalten. Der Kollege Jung hat vorhin schon darauf hingewiesen; wir sind uns darin völlig einig.
Der NATO-Gipfel in Riga hat mit dem Angebot des
Partnership-for-Peace-Programmes an dieses Land
ein weiteres deutliches Signal gesetzt. Die Frage ist tatsächlich, ob Bosnien-Herzegowina schon bereit ist, an
diesem Programm mitzuarbeiten. Das Angebot steht auf
jeden Fall. Die westliche Welt zeigt: Wir wollen diesem
Land helfen, wir wollen es unterstützen, damit es in Europa und in unsere Gemeinschaft eingeführt wird.
Wir wissen aber genau, dass die Hauptarbeit von diesem Land selbst geleistet werden muss. Es gibt einige
Signale dafür, dass dort einiges nicht so läuft, wie es laufen sollte. Der Verfassungsprozess, die Polizeireform
und weitere wichtige Reformprojekte stocken in Bosnien-Herzegowina im Augenblick. Unser Aufruf an dieses Land sollte lauten: Wenn ihr zu uns kommen wollt,
seid ihr willkommen; aber erst einmal müsst ihr eure
Hausaufgaben machen. Ich stelle immer wieder fest,
dass die insbesondere in Europa verbreitete Denkweise
von der guten Nachbarschaft in dieser Region insgesamt
leider völlig unterentwickelt ist. Wir hoffen, dass wir
auch auf diesem Gebiet Fortschritte machen.
Abschließend frage ich, ob wir eigentlich genügend
tun, damit der europäische Geist und das europäische
Denken in Bosnien-Herzegowina ankommen können.
Ich spreche das kritische Thema des Visaregimes an.
Meines Erachtens handelt die Europäische Union völlig
widersprüchlich. Auf der einen Seite erwarten wir, dass
dieses Land das europäische Denken, das europäische
Handeln und die europäischen Werte annimmt, verwehren den Bürgern dieses Landes aber den Weg nach
Europa. Wir haben ein extrem strenges Visaregime.
Abschließend bitte ich die Bundesregierung, im ersten
Halbjahr 2007 jedenfalls hier dafür zu sorgen, dass wir
deutliche Fortschritte machen, damit die Bürger Bosnien-Herzegowinas Europa wirklich kennen lernen können.
({2})
- Herr Bonde, ich habe Sie nicht verstanden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Vielleicht können Sie das bilateral besprechen.
Mein Appell lautet also: Visaregime verändern!
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz Josef
Jung.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Seit 1995 beteiligt sich Deutschland mit der Bundeswehr
an der Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien-Herzegowina. Ich denke, die Angehörigen der Bundeswehr haben hier einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines sicheren Umfeldes geleistet, in dem sich die
politische Normalisierung und der gesellschaftliche
Wiederaufbau des Landes vollziehen können. Deshalb
möchte ich im Rahmen dieser Debatte unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Helfern herzlich
für den Beitrag danken, den sie in Bosnien-Herzegowina
geleistet haben, um ein sicheres Umfeld, eine friedliche
Entwicklung und Stabilisierung in diesem Land zu gewährleisten.
({0})
Mittlerweile ist dieses Land auf einem guten Weg zu
einem multi-ethnischen, modernen und demokratischen
Rechtsstaat. Hier ist darauf hinzuweisen, dass es zunächst ein Erfolg der transatlantischen Politik war, aber
seit zwei Jahren eindeutig ein Erfolg der europäischen
Politik ist.
({1})
Der jüngste Meilenstein ist die ruhig und friedlich
verlaufene Wahl vom 1. Oktober dieses Jahres, bei der
die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ihre Vertreter
für die Parlamente und die Staatspräsidentschaft in eigener Verantwortung bestimmt hat. Deshalb war es wichtig, Kollege Stinner, dass es vor diesen Wahlen keine
Diskussionen gab, die ein falsches Signal ausgelöst hätten.
Da wir jetzt einen Stufenplan - ich komme darauf zurück - vorbereiten, ist es notwendig, über die Fragen zu
diskutieren, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Aber ich will darauf hinweisen, dass es nicht
so ist, dass Bosnien-Herzegowina mit diesen Wahlen sozusagen bereits am Ziel angekommen ist. Gemeinsam
mit der internationalen Gemeinschaft sind noch eine
Reihe von Herausforderungen zu meistern.
Sie haben Christian Schwarz-Schilling angesprochen.
Es ist zu unterstreichen, dass er einen wichtigen Beitrag
leistet, um diesen Prozess positiv fortzuführen und zu einem guten Ergebnis zu bringen. Deshalb bin ich ihm
sehr dankbar - auch im Namen der Bundesregierung für den Einsatz, den er in Bosnien-Herzegowina leistet.
({2})
Trotz der Erfolge bestehen immer noch Risiken für
die Sicherheit und die Stabilität. Deswegen ist BosnienHerzegowina weiterhin auf die internationale, auf die
europäische Unterstützung angewiesen. Die Bundesregierung erkennt - ich habe es gerade dargelegt - die positive Entwicklung ausdrücklich an. Sie schlägt deshalb
vor, im Einklang mit unseren Partnern die Obergrenze in
dem heute zur Abstimmung stehenden Mandat von
3 000 auf 2 400 Soldaten zu senken. Das bedeutet keine
unmittelbare, einseitige Reduzierung vor Ort, sondern
dies ist mit den europäischen Partnern abzustimmen.
Aber es gibt erste Überlegungen - der kommandierende
General hat dies den europäischen Verteidigungsministern nachdrücklich vorgetragen - über den künftigen
Umfang der internationalen Präsenz. Ich hoffe, dass im
Dezember erste konkrete politische Entscheidungen zur
Reduzierung getroffen werden können. Es handelt sich
um einen Stufenplan, der davon ausgeht, dass wir im
ersten Halbjahr des nächsten Jahres mit der ersten Stufe,
also mit einer konkreten Reduzierung, rechnen können.
Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern verfolgen wir das Ziel, die Operation „Althea“ in Stufen erfolgreich zu beenden. Das ist wichtig für Bosnien-Herzegowina. Es wäre ein weiterer Meilenstein der
Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Wir müssen diesem Land dann
selbstverständlich auch die europäische Perspektive für
seine Weiterentwicklung geben, um es in eine gute Zukunft zu führen.
Ich will hinzufügen: Zu einem erfolgreichen Einsatz
gehört auch, dass man unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage - hierbei sind auch die Statusverhandlungen im Kosovo in den Blick zu nehmen - imstande ist,
ihn sachgerecht zu Ende zu führen. Diese Entscheidung
soll im Dezember dieses Jahres getroffen werden. Jetzt
ist es notwendig, dass dieses Mandat, wie vonseiten der
Bundesregierung vorgeschlagen, in reduziertem Umfang
fortgesetzt wird, um eine Stabilisierung und eine friedliche Entwicklung in Bosnien-Herzegowina zu gewährleisten. Deshalb bitte ich Sie namens der Bundesregierung um Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats.
Besten Dank.
({3})
Dr. Norman Paech hat das Wort für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es interessant, dass sich die Frau Bundeskanzlerin derzeit in der NATO genauso dem Druck anderer
Staaten erwehren muss, wie wir es gewöhnlich im Deutschen Bundestag tun müssen, wenn wir uns der Zustimmung zum Einsatz bzw. zur Verlängerung des Einsatzes
unserer Truppen im Ausland verweigern.
({0})
Ich hoffe allerdings, dass sie sich als genauso standhaft
erweisen wird und sich den Forderungen, die Truppen in
den Süden Afghanistans zu schicken, auch weiterhin
verweigern wird, wie auch wir uns in diesen Fragen immer wieder als standhaft erwiesen haben.
({1})
In Bosnien-Herzegowina ist die Situation zum Glück
ganz anders. Ich frage mich: Warum machen Sie es sich
eigentlich so schwer, dieser gänzlich anderen Lage endlich mit einem Rückzug des Militärs Rechnung zu tragen? Sie haben gute Ansätze vorgetragen. Herr Minister
Jung hat vor genau einem Monat angekündigt, die Truppen zurückziehen zu wollen. Damals hatte er - daran
darf ich Sie erinnern - prominente Unterstützung. Nicht
nur der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes, Herr
Gertz, hat ihn unterstützt, sondern auch Herr Struck, der
Vorgänger von Herrn Jung. Der Kollege Siebert von der
Unionsfraktion hat gesagt, dass die militärischen Aufgaben dort weitgehend erfüllt seien. Sogar Herr Westerwelle hat sich zu diesem Zeitpunkt für einen Abzug mit
Augenmaß ausgesprochen.
Dann aber wurde Herr Jung gescholten. Nun möchte
auch er selbst sich nicht mehr an seinen Vorschlag erinnern. Die Hauptkritik, die in den Regierungskreisen geäußert wurde, lautete, er hätte seinen Vorschlag nicht mit
der Überlastung der Bundeswehr, sondern allein mit
politischen Argumenten wie der Stabilisierung der Lage
begründen sollen. Hier hätte er ruhig auf seinen Soldaten
Gertz hören sollen. Denn er hat gesagt, dass man beim
zivilen Wiederaufbau seit dem Beginn des Bundeswehreinsatzes im Jahre 1995, also vor mehr als zehn Jahren,
derartige Fortschritte gemacht habe, dass das, was übrig
geblieben sei, nun wirklich keine militärische Aufgabe
mehr, sondern allenfalls eine Polizeiaufgabe sei.
({2})
Das war schon vor einem Jahr unser zentrales Argument, als wir die Verlängerung des Mandats abgelehnt
haben. Heute können wir unsere Bestätigung, dass wir
Recht hatten, im Antrag der Regierung nachlesen. Dem,
was Sie in Ihrem Antrag zum Aufbau des Justizwesens,
zur Polizeireform, zum Beitrag der Bundesregierung zur
Stabilisierung und zur Demokratisierung Bosnien-Herzegowinas und zur Tätigkeit von Herrn SchwarzSchilling geschrieben haben, kann man zustimmen oder
nicht. Aber eines ist klar - das hat auch Herr Stinner unterstrichen -: Es ist, und zwar zu Recht, an keiner Stelle
davon die Rede, dass die Situation in Bosnien-Herzegowina auch weiterhin eine Bedrohung des Weltfriedens
oder der internationalen Sicherheit darstellt. Darüber
sollte zwischen uns eigentlich Einigkeit herrschen.
Die einzigen Fehlentwicklungen, die Ihren Antrag begründen sollen, sind die organisierte Kriminalität und
die Korruption. Das gibt es aber auch bei uns. Wir würden doch nie auf den Gedanken kommen, diese Probleme mit dem Einsatz von Militär zu bekämpfen.
({3})
Wenn Sie meinen, dass die Institutionen in Bosnien-Herzegowina, die derartige Probleme eindämmen können,
nämlich Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz, der Lage
nicht gewachsen sind, dann fordern wir Sie auf: Stecken
Sie die 74 Millionen Euro, die Sie der Bundeswehr zur
Verfügung stellen wollen, in den Aufbau dieser Institutionen, damit sie in die Lage versetzt werden, Korruption
und Kriminalität zu bekämpfen.
({4})
Wenn Sie ferner meinen, dass die Präsenz des Militärs
für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung so wichtig sei
- Herr Schwarz-Schilling hat dies nicht nur im Ausschuss gesagt, sondern auch öffentlich -, dann bedenken
Sie, dass man dieses Gefühl viel besser mit sichtbarer
Präsenz ziviler Institutionen wie der Polizei und einer
funktionierenden Justiz erreichen kann. Stattdessen kürzen Sie die Mittel für den Stabilitätspakt für Südosteuropa von 30 Millionen Euro auf 15 Millionen Euro.
Das ist genau der falsche Weg.
({5})
Beim Gefühl der Sicherheit geht es um Psychologie.
Gerade ein Abzug des Militärs könnte der Bevölkerung
signalisieren, dass keine Kriegsgefahr mehr besteht, dass
das Land nunmehr auf einem eigenen, sicheren, souveränen Weg in die Zukunft ist. Mit einer anhaltenden Militärpräsenz würden Sie dagegen eine Gefahr vorspiegeln,
die in der Realität schon seit längerem nicht mehr besteht. Deswegen lehnen wir diesen Antrag nunmehr zum
zweiten Mal ab.
Danke sehr.
({6})
Ich erteile Marieluise Beck das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte ganz kurz einen etwas prekären Sachverhalt
ansprechen. Ohne dem umtriebigen Kollegen Stinner,
der sein Amt als Beauftragter des Deutschen Bundestages für Bosnien und Herzegowina wunderbar wahrnimmt, nahe treten zu wollen, muss ich sagen: Wir
Marieluise Beck ({0})
haben leider keine Deutsch-Bosnische Parlamentariergruppe. Ich halte das für einen Fehler. Bosnien ist ein
Land, zu dem es kaum engere Verbindungen geben
könnte, ein Land, mit dem wir in vielfältiger Weise verbunden sind. Die Bosnier sind sehr enttäuscht, dass es
bis jetzt eine solche Parlamentariergruppe noch nicht
gibt. Sie bräuchten dringend parlamentarischen Austausch mit uns, gerade weil die Nationalitäten und die
Ethnien in Bosnien es miteinander oft so schwer haben.
Ich würde darum bitten, dass wir, alle Fraktionen miteinander, darüber nachdenken, ob dieses Fehlen einer
entsprechenden Gruppe nicht zu heilen ist.
({1})
Dass eine Parlamentariergruppe, die sich mit Südosteuropa befasst, nach Serbien, Kosovo und Montenegro
fährt, aber um Bosnien herum, ist angesichts der politischen Bedeutung Bosniens und der Verbindungen, die
wir zu diesem Land haben, nicht angemessen.
Zu der heute anstehenden Entscheidung. Deutschland
ist mit dem Fall der Mauer politisch in ein neues Zeitalter gestoßen worden. Wir mussten lernen, dass erwartet
wird, dass wir an internationalen Interventionen teilnehmen. Auch wurde von uns die Einsicht erwartet, dass humanitäre Interventionen manchmal einen militärischen
Teil brauchen. Ich will meine Redezeit an Sie nicht verschwenden, Herr Paech. Aber dass Sie Srebrenica, die
Befreiung von Sarajevo und die Tatsache, dass das Ende
des Mordens erst mit der Militärintervention kam, einfach unter den Tisch fallen lassen, das ist unglaublich.
({2})
Wenn wir im Zusammenhang mit Bosnien eines gelernt
haben, dann doch das: Es kann sehr inhuman sein, nicht
militärisch zu intervenieren.
({3})
Zu der Entwicklung in Bosnien. Dieses Land befindet
sich im Stadium des Nation-Building. Das ist ein
schwieriger Prozess, der in jedem Land mit anderen Instrumentarien zu leisten ist. Aber offensichtlich ist es
überall ein Prozess, der unendlich viel Geduld braucht.
Es wäre absurd, jetzt, nach den vielen Jahren, nach den
Investitionen, die an Menschen und Finanzen geleistet
worden sind, durch Ungeduld, durch Kurzatmigkeit das
Erreichte zu zerstören. Deswegen ist es richtig, dass in
verringertem Umfang Truppen bleiben. Ich will noch
einmal sagen: Die Menschen in Bosnien - und zwar aller
Ethnien - wünschen sich den Verbleib von „Althea“.
Bosnien ist nach wie vor ein fragiler Staat; wir haben
vor kurzem darüber gesprochen. Als Folge von Dayton
hat Bosnien nach wie vor vollkommen unzureichende
Grundlagen. Es kann noch gar kein richtiger Staat sein,
weil seiner Verfassung fast alle wesentlichen Teile
fehlen, die eine Nation braucht: Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für demokratische Rechte, es gibt keine Finanzverfassung, es gibt keine Schul- und Wissenschaftsverfassung, es gibt bisher keine rechtspolitische Verfassung
und die unabhängige Justiz steckt in dramatischer Weise
noch in den Kinderschuhen.
Wenn man sich klar macht, dass dort ein Kriegsverbrecher in einer Entität zu einer Höchststrafe von 25 Jahren verurteilt werden kann, während es auf Staatsebene
bis zu 45 Jahren sind, dann wird die Absurdität sehr offensichtlich. Man sieht daran, dass es noch kein gemeinsames Bosnien gibt. Daran muss gearbeitet werden. Dafür braucht Bosnien noch Zeit.
Wir sollten noch einmal sehr gut überlegen, ob es
nicht doch zu früh ist, das OHR-Mandat im kommenden
Sommer abzuschließen und diesen Aktendeckel zuzumachen, weil damit die Bonn Powers verloren gehen.
Wegen der Zentrifugalkräfte, die es in dem Land derzeit
noch gibt, wegen des starken Nationalismus und wegen
der Unvollkommenheit der Verfassung plädiere ich dafür, dass in jedem Fall ein Weg dafür gesucht wird, dass
die Durchgriffsrechte für denjenigen, der dort als Repräsentant tätig sein wird - wer auch immer das sein wird -,
weiterhin bestehen bleiben. Ich glaube, man braucht sie
für den Aufbau dieses Landes und damit dieses Land in
Frieden erwachsen werden kann.
Schönen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion spricht Gerd Höfer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal hat man im parlamentarischen Spiel das
Glück, die Gelegenheit zu haben, das Land, über das
sich eine Streitfrage entwickelt hat, zu besuchen. Am
2. und 3. November 2006 war ich dank Peter Struck, der
das für die SPD-Fraktion verantwortet hat, und anderer
in Bosnien-Herzegowina.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir bestimmte
Dinge aus unserer eigenen Sicht auf ein Land projizieren, während wir von dem Land nur relativ wenig wissen. Auch dank der fürsorglichen Begleitung des Botschafters wurde mir bei diesem Besuch gezeigt, wie es
dort zurzeit in weiten Teilen aussieht. Wir wollen nicht
darum herumreden. Ich nehme an, der Kollege SchwarzSchilling, mit dem ich in der Botschaft in Sarajewo habe
reden können, wird nichts dagegen haben, dass ich sage,
dass er am 6. November 2006 dem „Spiegel“ ein Interview gegeben hat, in dem steht, dass die Ankündigung
von Dr. Jung, die Bundeswehr aus Bosnien abzuziehen,
dort eine Diskussionslawine ausgelöst hat.
Vier Tage vorher habe ich mir die Situation vor Ort
angeschaut. Dr. Stinner, man kann das eine so und das
andere anders sehen. Es gibt nichts, was nur gut oder nur
schlecht ist. Die Diskussionslawine, die dort ausgelöst
wurde, hat dazu geführt, dass man sich die Situation in
Bosnien-Herzegowina genauer anschaut. Ich sage einmal, was die „loyal“, die Zeitschrift der Reservisten, vor
wenigen Tagen veröffentlicht hat: Es ging von der Meinung eines Redakteurs, dass es dort einen schlafenden
Krieg gebe, bis hin zur Aussage, Bosnien-Herzegowina
sei relativ stabilisiert.
Liebe Kollegin Beck, ich bitte darum, nicht immer
den englischen Begriff „Nation Building“ zu verwenden.
In Bosnien-Herzegowina tut die Antwort auf die Frage
Not, ob sich dort eine Staatsbürgerschaft entwickelt,
gleichgültig welcher Ethnie irgendjemand angehört.
Eine Nation wird es nie werden.
In diesem Zusammenhang hatten natürlich auch die
Soldaten bestimmte Hoffnungen. Sie haben gesagt: Na
gut, wenn die plakative Aussage verwirklicht wird, dann
werden wir Weihnachten wieder zu Hause sein. - Aufgrund ihrer eigenen Einschätzung haben sie aber selbst
gesagt: Dass es so nicht gehen wird, kann man erkennen,
wenn man die Liaison and Observation Teams besucht
hat. Ich hatte die Gelegenheit, einen Vormittag lang ein
solches Team durch eine Kleinstadt mit etwa 5 000 bis
6 000 Einwohnern und deren Umfeld zu begleiten.
Auch von den Menschen in Uniform, die dort mitten
in der Gesellschaft wohnen, ist klar gesagt worden, dass
eine sich selbst tragende Sicherheitsstabilität ohne Unterfütterung durch ein militärisches Angebot in BosnienHerzegowina noch nicht besteht.
Meine Empfehlung weicht etwas von dem ab, was der
Bundesminister der Verteidigung ausgeführt hat. Wenn
man im Dezember mit einer Review beginnt, kann diese
möglicherweise nicht vor Januar abgeschlossen werden,
weil die Wahlen in Serbien auch eine Rolle spielen. Damit sind Risiken verbunden, die auf Bosnien-Herzegowina ausstrahlen können. Das geht auf eine unselige
Verfassungsbestimmung zurück; die Ethnien - übersetzt
heißt das: die Religionen - haben in Bosnien-Herzegowina ein Minderheitenrecht im Parlament erstritten.
Übertragen wir das einmal auf den Bundestag. Ich
nehme nur die zwei größten Religionen als Beispiel.
Man stelle sich vor, was hier los wäre, wenn die Protestanten - um einen veralteten Begriff zu gebrauchen - ein
Minderheitenvotum gegenüber den Katholiken hätten
oder umgekehrt.
Ich wage nicht einzuschätzen, wie die Wahlen in Serbien ausgehen und inwieweit sie nationalistische Tendenzen haben, zumal in der Verfassung festgeschrieben
ist, dass das Kosovo auf ewig serbisches Hoheitsgebiet
bleibt. Ich wage zurzeit nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Statusfrage des Kosovos geklärt wird
- in welche Richtung auch immer -, ob nicht separatistische und ebenfalls auf die Religionsgemeinschaft bezogene Auseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina
ausbrechen könnten. Denn das würde eine Signalwirkung haben. Von der Republik Srpska wurde seit langem angekündigt, dass ähnlich wie in Montenegro ein
Referendum darüber entscheiden soll, ob sich die Republik Srpska nach Serbien orientiert. Dadurch würde sich
das gesamte Staatsgebilde Bosnien-Herzegowina völlig
anders darstellen als heute.
Es gibt dort also noch jede Menge politische Risiken,
die wir begleiten müssen. Allein durch Polizeikräfte,
ohne dass die Stabilität von Soldaten bzw. der internationalen Gemeinschaft abgesichert wird, wird nichts zu erreichen sein.
({0})
Selbst wenn es inzwischen gelungen ist, ein Verteidigungsministerium für Bosnien-Herzegowina zu implementieren, sind die Soldaten, die von diesem Verteidigungsministerium befehligt werden sollen, immer noch
rein ethnisch und religiös geprägt. Die Republik Srpska
hat eine andere Struktur als die Allianz aus Kroaten und
Bosniern. Das ist in diesem Fall unproblematisch, weil
nicht von einem Krieg auszugehen ist.
Anders verhält es sich, wenn man diese Verhältnisse
auf die Polizeistruktur überträgt. Wenn der Innenminister keine Herrschaft über seine eigenen Polizeikräfte hat
und auch bei diesen ethnische oder religiöse Gesichtspunkte eine Rolle spielten, dann wäre das Ziel einer
selbst tragenden Stabilität sehr weit entfernt. Insofern ist
die Ankündigung des Ministers, die in unserem Bundestagsmandat festgelegte Obergrenze zu senken, richtig.
Das ist aber leider in Bosnien-Herzegowina so verstanden worden, dass die Zahl der 872 Soldatinnen und Soldaten, die sich zurzeit noch dort aufhalten, reduziert werden soll.
Dass die Obergrenze gesenkt werden kann, steht außer Frage. Wie weit man das machen kann oder soll,
sollte nach den Wahlen in Serbien bzw. nach einer Review im Dezember, Januar oder Februar entschieden
werden, wenn die wichtigen politischen Fragen geklärt
sind. Dann sollten wir uns allerdings an die mühselige
Aufgabe begeben, eine Exitstrategie zu entwickeln, die
allerdings konditioniert sein sollte. Eine Kondition
könnte unter anderem darin bestehen, dass es von der
Europäischen Gemeinschaft nicht hingenommen wird,
dass die Verfassung ein ethnisches Minderheitenvotum
vorsieht.
({1})
Diese Aufgabe fällt dann - wie Herr Dr. Stinner festgestellt hat - Gott sei Dank in die deutsche Hauptverantwortung, die sich durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, den deutschen Hohen Repräsentanten für
Bosnien-Herzegowina und einen deutschen Kommandeur ergibt. Ich denke, diese Aufgabe ist nicht nur hinreichend sinnvoll, sondern auch interessant. Denn dann
könnte ein Stabilitätsanker in einem Bereich entstehen,
der bisher noch nicht zur Ruhe gekommen ist und deshalb noch militärische Unterstützung braucht. Das
wurde mir bei meinem Besuch auch von den Militärs bestätigt. Sie sehen darin eine sinnvolle Aufgabe.
Ich bitte Sie herzlich um die breit gefächerte Zustimmung dieses Hauses.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem letzten Redner das Wort gebe, bitte ich darum, den Geräuschpegel zu senken.
({0})
Ich weiß, dass es untereinander viel zu besprechen gibt,
aber ich glaube, die Debatte ist zu wichtig.
Herr Kollege Freiherr zu Guttenberg, Sie haben das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den vergangenen Jahren ist in Bosnien-Herzegowina tatsächlich viel erreicht worden. Allerdings
verharrt auch vieles in Stagnation; Kollege Stinner und
Kollege Jung sowie andere haben in dieser Debatte darauf hingewiesen. Der gescheiterte Verfassungsprozess
ist das eine, die stockende Polizeireform das andere. Wir
können die Verantwortlichen vor Ort gar nicht mit genügend Nachdruck dazu aufrufen, beide Prozesse wieder in
Gang zu bringen und auf diesem Weg fortzuschreiten,
damit hier wieder Substanz geschaffen wird.
({0})
Die Errungenschaften, von denen wir sprechen, Herr
Kollege Paech - Frau Beck, hier gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht -, sind auch und gerade auf die unterstützenden Leistungen unserer Bundeswehrsoldaten vor
Ort zurückzuführen.
({1})
Daher können wir von einem erfolgreichen integrierten
Ansatz in Bosnien-Herzegowina sprechen, der den zivilen Ansatz mit dem militärischen verzahnt. Seitens der
Unionsfraktion gibt es genügend Gründe, unseren Soldaten wie den zivilen Kräften vor Ort sehr zu danken.
({2})
Dieser einmal im Jahr ausgesprochene Dank dürfte angesichts der Belastungen und Entbehrungen vor Ort sowie des Verzichts auf Familie und gewohnte Umfelder
- das gilt sowohl für die zivilen als auch für die militärischen Kräfte - manchmal etwas breiter ausfallen. Umso
unwürdiger ist die Behandlung durch manche hier im
Saal, die dem keine Beachtung schenken. Ich glaube, unsere Soldaten haben mehr verdient als das.
({3})
Die Arbeit des Hohen Repräsentanten Christian
Schwarz-Schilling wurde heute schon einige Male blumenreich hervorgehoben. Ich schließe mich diesem Reigen gerne an und danke ihm seitens der Unionsfraktion
für seinen Einsatz herzlich. Er ist jemand, der mit profundem historischen Wissen an die Sache herangeht und
die Region kennt, der aber, wenn es geboten ist, Härte
zeigt - Stichwort „Bonn Powers“ -, und zwar in Verbindung mit konstruktiven Ansätzen. Christian SchwarzSchilling, auch von unserer Seite herzlichen Dank für
diese Arbeit.
({4})
Noch ein Wort zur Entscheidung von Riga in den
letzten beiden Tagen, Serbien, Bosnien-Herzegowina
und Montenegro die Tür für PfP zu öffnen. Diese Tür
war bislang nur quietschend zu öffnen. Das Ausmaß der
Weisheit dieser Entscheidung werden wir wahrscheinlich erst nach den Wahlen in Serbien am 21. Januar
nächsten Jahres ermessen können. Mir ist sehr wichtig,
hervorzuheben, dass es in unserem Interesse liegt, dass
die Perspektive der NATO-Mitgliedschaft und die einer
europäischen Mitgliedschaft gerade im Hinblick auf Serbien aufrechterhalten wird. Aber wir dürfen mit unseren
Grundsätzen nicht brechen. In diesem Kontext ist es mir
- mit Blick auf die Bundesregierung - wichtig, deutlich
zu machen, dass wir auch nach der Entscheidung in den
letzten beiden Tagen immer wieder darauf hinweisen,
dass die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof all das erst begründet, was in Zukunft gewährleistet werden kann. Das ist ein sehr wichtiger
Punkt.
({5})
Deutschland wird im Rahmen der doppelten Präsidentschaft im kommenden Jahr - darauf wurde bereits
hingewiesen - aufgerufen sein, ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl, Kreativität und Fertigkeiten an den
Tag zu legen, insbesondere wenn es um die Lösung einer
der Schlüsselfragen dieser Region, den Status des
Kosovo, und darum geht, dies konfliktfrei zu gestalten
und ein Übergreifen dieses Problems auf Bosnien-Herzegowina zu verhindern, Stichwort „Republika Srpska“.
Wir müssen vorsichtig vorgehen.
Gerade vor diesem Hintergrund bleibt die Verlängerung der Mission „Althea“ das Gebot der Stunde und unverzichtbar. Wir müssen Konflikte vermeiden. Das lässt
sich nicht ohne eine militärische Präsenz herstellen. Von
daher ist die Verlängerung in unserem Interesse. Die
Union unterstützt den Antrag der Bundesregierung und
wird ebendiesem Antrag zustimmen.
({6})
Insgesamt handelt es sich bei „Althea“ in unseren Augen um ein Erfolgsmodell europäischer Verantwortung,
das für andere Partner kein Gegengewicht bedeutet und
das nicht im Gegensatz zu anderen Organisationen wie
der NATO entwickelt wurde; vielmehr gibt es Verschränkungen, Verzahnungen. Komplementäres Handeln
steht im Vordergrund. Ein solches Erfolgsmodell ist
letztlich ein Zukunftsmodell, möglicherweise auch für
andere Einsätze. Wir können stolz auf das sein, was mit
„Althea“ in der Region geleistet wurde. Wir haben immense Aufgaben zu lösen. Von daher ist die VerlängeKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
rung dieses Mandats notwendig. Wir bitten Sie alle um
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({7})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses, Druck-
sache 16/3636, zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 16/3521 anzunehmen. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen,
bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass
sie nur eine Stimmkarte einwerfen, die auch ihren Na-
men trägt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind
alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das scheint der Fall
zu sein. Ich eröffne hiermit die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der
Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Heizkostenzuschüsse für einkommensschwache Privathaushalte ermöglichen
- Drucksache 16/3351 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}))
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte Sie, Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen, und erteile das Wort dem Kollegen
Hans-Kurt Hill, Die Linke.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste und alle, die mir zuhören
oder die mir nicht zuhören!
1) Ergebnis Seite 6994 D
({0})
Rund 1 Million Menschen in Deutschland müssen dieses
Jahr Wohngeld in Anspruch nehmen. Die bisherige Art
dieser Mietzuschüsse ist völlig ungeeignet, um armen
Haushalten konsequent zu helfen. Das hat zwei Gründe:
Erstens. Die Energiekosten sind explosionsartig gestiegen. Zweitens. Ausgerechnet für Heizung und warmes
Wasser gibt es keinen Zuschuss.
Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Mieten sind in den letzten fünf Jahren um 5 Prozent gestiegen, aber die Energiekosten für Privathaushalte sind im
gleichen Zeitraum um 30 Prozent gestiegen.
({1})
Rechnen Sie einmal weiter! Allein der Anstieg der Energiepreise seit 2004 macht mittlerweile den Gegenwert
von fast zwei Monatsmieten aus.
Was ist mit dem Einkommen? Gerade in den unteren
Lohngruppen ist es praktisch gleich geblieben.
({2})
- Es ist eher weniger, ja.
({3})
Wer mit wenigen Hundert Euro pro Monat auskommen
muss, wohnt oft in schlecht isolierten Wohnungen, das
heißt zugige Fenster anstelle von Doppelverglasung, der
Geiz-ist-geil-Kühlschrank anstelle eines Energiesparmodells der Kategorie „AAA+“, Durchlauferhitzer mit hohem Verbrauch anstelle der Zentralheizung mit Warmwasserversorgung. So könnte man die Aufzählung
weiterführen. Ich bin mir aber sicher, dass Menschen mit
so wenig Geld in der Tasche uns in Sachen Energiesparen trotzdem noch einiges vormachen.
Wer aber glaubt, diese Bürgerinnen und Bürger könnten noch mehr Energie einsparen, hat den Ernst der sozialen Schieflage in Deutschland nicht begriffen.
({4})
Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist es unsere Pflicht, zu
handeln. Hier müssen wir handeln.
({5})
Der gravierende Mangel im Wohngeldgesetz muss sofort
behoben werden. Heiz- und Warmwasserkosten müssen für wohngeldberechtigte Haushalte in angemessener
Höhe erstattungsfähig werden.
({6})
- Ich entnehme der Unruhe: Jeder wird wieder fragen:
Woher soll das Geld kommen?
({7})
- Das sagen Sie in Ihrer Leichtfertigkeit. - Ich sage: Die
Gegenfinanzierung ist sehr einfach. Über die Mehrwertsteuer profitiert auch der Finanzminister vom jetzigen Energiepreiswucher. Schrauben die Energiekonzerne die Preise hoch, füllt sich auch Steinbrücks
Haushaltskasse. Erzählen Sie uns bitte nicht, Sie hätten
kein Geld, den armen Haushalten zu helfen! Sie haben in
den letzten Monaten eine beispiellose Steuerbefreiungsorgie zugunsten der Konzerne betrieben, und zwar ohne
dass die Bundesregierung dafür eine echte Gegenleistung verlangte.
Und wie ist es bei Wohngeldempfängern und Hartz-IVEmpfängern? Diese - das kann man nur immer wieder
sagen - müssen sich quasi für ein „Handgeld“ vor den
Behörden ausziehen.
Machen Sie endlich Schluss damit und geben Sie das
Geld an die Leute weiter, die es ehrlich brauchen! Denn
für die armen Haushalte in Deutschland kommt es noch
dicker:
Erstens. Die Mehrkosten für Energie werden sich in
diesem Winter gegenüber dem letzten Jahr noch einmal
verdoppeln.
Zweitens. Die von Ihnen beschlossene unsinnige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent bringt die armen Haushalte vollends in Existenznot.
Sagen Sie mir: Wie soll da noch eine gesellschaftliche
Teilhabe sichergestellt werden, wenn es heißt: keine
warme Wohnung und kein warmes Wasser und - in der
Konsequenz - kein Weihnachtsmärchenbesuch mit den
Kindern, kein Weihnachtsgeschenk, kein Besuch bei
Oma und Opa, kein Weihnachtsbraten oder sogar kein
Tannenbaum?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, machen Sie Schluss mit der Umverteilung von
unten nach oben! Sie entscheiden, ob es in Deutschland
in vielen Wohnungen kalt oder warm ist. Sie entscheiden
das.
({8})
Eines möchte ich Ihnen noch sagen: In diesem Land
ist keiner freiwillig arm.
({9})
Ich möchte nicht, dass in Deutschland jemand gezwungen ist, im Winter zu frieren, weil er sich die Heizung
nicht leisten kann. Ich sage Ihnen eines: In vier Wochen
ist Weihnachten! Tun wir etwas!
Vielen Dank.
({10})
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Antrag der Bundesregierung mit dem Titel „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“ zur
weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung
der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung
sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen
Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“, Drucksachen 16/3521 und 16/3636, bekannt: Abgegebene
Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 46, Enthaltungen 2. Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 534;
davon
ja: 486
nein: 46
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({11})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Bernward Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({15})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({16})
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({17})
Ingo Schmitt ({18})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({19})
Gerald Weiß ({20})
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Wolfgang Zöller
SPD
Dr. Lale Akgün
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({21})
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({22})
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({23})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Karl Diller
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({24})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({25})
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Iris Hoffmann ({26})
Frank Hofmann ({27})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({28})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({29})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({30})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({31})
Michael Müller ({32})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({33})
Michael Roth ({34})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({35})
Axel Schäfer ({36})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Silvia Schmidt ({37})
Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt ({38})
Carsten Schneider ({39})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({40})
Swen Schulz ({41})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Jörg-Otto Spiller
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Hans-Jürgen Uhl
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({42})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({43})
Heidi Wright
Uta Zapf
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Daniel Bahr ({44})
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({45})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({46})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Florian Toncar
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({47})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({50})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Undine Kurth ({51})
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({52})
Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Willy Wimmer ({53})
SPD
Petra Hinz ({54})
FDP
Joachim Günther ({55})
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Cornelia Hirsch
Inge Höger-Neuling
Dr. Barbara Höll
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({56})
({57})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Jörn Wunderlich
fraktionslos
Gert Winkelmeier
Enthalten
CDU/CSU
Peter Albach
FDP
Wir kehren zurück zur Debatte. Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion.
({58})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute einen Antrag der Fraktion
Die Linke, welcher Heizkosten- und Warmwasserzuschüsse für einkommensschwache Privathaushalte im
Rahmen der Wohngeldbewilligung ermöglichen soll.
Der Antrag stellt darauf ab, das Wohngeldgesetz entsprechend zu ändern. Kosten für Heizung und Warmwasser
sollen für wohngeldberechtigte Haushalte dauerhaft und
sogar noch in der jetzt laufenden Heizperiode 2006/2007
erstattungs- bzw. zuschussfähig werden.
({0})
Mit dem Antrag der Linken würden Inhalt und
Umfang des Wohngeldes signifikant erweitert werden.
Wohngeld wird Mietern und Eigentümern gezahlt, wenn
die Höhe ihrer Miete oder Belastung für angemessenen
großen Wohnraum die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihres Haushalts überfordert. Seit 40 Jahren werden
die Wohnkosten einkommensschwacher Mieter und
selbst nutzender Eigentümer durch das Wohngeld bezuschusst. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und
SPD steht:
Das Wohngeld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Wohnens dienen.
Wir haben dort aber auch klar und deutlich formuliert
- ich zitiere -:
Wohngeld ist keine Subvention, sondern eine Fürsorgeleistung.
Wir haben dies so festgeschrieben, da es zur Sanierung unserer Haushalte unerlässlich ist, alle Ausgaben
auf den Prüfstand zu stellen.
Außerdem haben wir festgelegt, dass Bund und Länder das Wohngeldrecht zügig mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen werden.
Vorarbeiten dazu wurden schon durch die Bauministerkonferenz getätigt. Wir sind optimistisch, dass der
daraus resultierende Gesetzentwurf im kommenden Jahr
beraten werden kann.
Bereits im Rahmen der Gesetzgebung zu Hartz IV
wurde das Wohngeld umfassend strukturell überarbeitet.
Hierbei wurde eine klare Abgrenzung der Zahlung des
Wohngeldes zum Transferleistungssystem für Hartz-IVEmpfänger vorgenommen. Wohngeld sollte wieder als
originär wohnungspolitisches Instrument auf einen
Kernbereich von Leistungsempfängern zurückgeführt
werden. Zu diesen Leistungsempfängern gehören Menschen, die zwar ihren allgemeinen Lebensunterhalt, nicht
aber ihre Wohnkosten vollständig durch eigenes Einkommen decken können. Als Wohngeldempfänger verbleiben nur noch Gruppen, die finanziell nicht in der
Lage sind, ihre Wohnkosten vollständig aus eigenem
Einkommen zu decken, und kein Arbeitslosengeld II erhalten. Überwiegend sind das Familienhaushalte von Geringverdienern und Haushalte von Arbeitslosengeld-IEmpfängern sowie Rentnerhaushalte.
Mit der Wohngeldvereinfachung im Rahmen des
Hartz-IV-Gesetzes hat sich die Struktur der Wohngeldempfänger stark verändert. Die Anzahl der Empfänger
von Wohngeld ist erheblich zurückgegangen. Hierfür
gibt es zwei Gründe:
Erstens. Nach dem Ausschluss der Transferleistungsempfänger vom Wohngeldbezug sind bei weitaus mehr
Haushalten Unterkunftsleistungen des Transferleistungssystems an die Stelle des Wohngeldes getreten als erwartet.
Zweitens hat die Erweiterung der Zuverdienstmöglichkeiten im SGB II diese Entwicklung beschleunigt.
So gab es im Jahre 2004 in Deutschland rund
3,5 Millionen Wohngeldempfängerhaushalte. Nach ersten Schätzungen ist die Zahl aber stärker abgesunken als
erwartet. Am Jahresanfang 2006 bezogen noch rund
750 000 Haushalte Wohngeld.
Das Wohngeld senkt im Gegensatz zur Unterstützung
durch Transferleistungen die Mietbelastung durch einen
Zuschuss zur Bruttokaltmiete lediglich ab. Für den einzelnen Wohngeldempfänger bleiben Wohnkosten deshalb spürbar. Für ihn besteht somit immer ein Anreiz,
sich eine preisgünstigere Wohnung zu suchen oder Energie zu sparen. Zum Energiesparen gehört eben auch ein
schonender Umgang mit Wasser und der angemessene
Umgang mit der Heizung. Für ihn besteht deshalb immer
ein Anreiz, eine Wohnung mit niedrigen Heizkosten bei
der Wohnungssuche vorzuziehen.
({1})
Es entsteht somit ein Marktdruck - jetzt kommt der
Punkt - für Vermieter, bestehende Mietwohnungen energetisch zu optimieren, weil es eine Nachfrage nach optimierten Wohnungen gibt. Das sind notwendige und bewährte Anreizmechanismen, die wir als Union nicht
bereit sind, aufzugeben.
({2})
Ziel ist aber auch die Einhaltung einer tragbaren und
angemessenen Wohnkostenbelastung. Über die Angemessenheit der Höhe des staatlichen Zuschusses ist in
der Vergangenheit - das zeigt auch die heutige Debatte stets kontrovers debattiert worden. Ich erinnere mich an
Debatten beispielsweise in Landtagen, wo immer wieder
einmal der Antrag gestellt wurde, man solle den Zuschuss wegen der steigenden Nettokaltmieten erhöhen.
Es bestand somit immer schon das Begehren, den berechtigten Haushalten mehr Zuschüsse zu zahlen. Für
die Bestimmung der Angemessenheit der Höhe des
staatlichen Zuschusses ist meines Erachtens ein Mittelweg, der sich an der Leistungsfähigkeit des Staates und
den möglichen Eigenleistungen des Empfängerhaushaltes orientiert, zu wählen.
Die Linksfraktion greift das Thema nun nicht aufgrund der Steigerung der Nettomieten auf, sondern aufgrund der Steigerung der Heiz- und Warmwasserkosten. Im Ergebnis bleibt die politische Frage, was sich der
Sozialstaat noch zusätzlich leisten kann bzw. was der
Haushalt noch hergibt. Mein Fazit: Eine Übernahme der
Mehrbelastungen durch Neben- und Heizkosten wäre
energiepolitisch unvernünftig. Es würde dem Anreiz
zum sparsamen Umgang mit Energie zuwiderlaufen, bei
Mietern und vor allem auch bei Vermietern.
Aus fiskalischen und energetischen Gründen lehnt die
CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab.
({3})
Möchten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Hill
zulassen, Herr Kollege?
Nein, ich habe meine Rede schon beendet.
Sie sind schon am Ende Ihrer Rede. Vielen Dank.
Der Kollege Joachim Günther, FDP, hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte den Antrag, den die Linke hier gestellt hat,
nicht pauschal in Grund und Boden reden. Aber, Herr
Hill, was Sie zuletzt gesagt haben, war Polemik, die diesem Anliegen nicht gerecht wird.
({0})
Sie sind in einer Art mit den Gefühlen von Menschen
umgegangen, die jeglicher Realität entbehrt.
({1})
- Nein, ich werde es Ihnen erklären, ganz in Ruhe. - Ich
möchte zunächst sagen, warum wir Ihrem Antrag in dieser Art nicht zustimmen können, aber natürlich auch
Vorschläge machen, was man unternehmen kann.
Sie haben in Ihrem Antrag selbst Eckpunkte der Entwicklung auf dem Immobilienmarkt in den letzten fünf
Jahren dargelegt. Sie haben von einer Mieterhöhung um
5 Prozent gesprochen. Dazu muss man allerdings sagen,
dass es in unserem Land Gebiete mit Mieterhöhungen
und Gebiete mit Mietrückgängen gibt. Das heißt, die
Miete ist nicht das Problem, sondern die Betriebskosten.
({2})
Auch das wurde hier deutlich gesagt. Bei den Betriebskosten gab es deutliche Steigerungen: bei Gas rund
35 Prozent, bei Heizöl 33 Prozent, bei Strom 24 Prozent.
Ich nenne diese Zahlen ganz bewusst. Hinzu kommen
andere Nebenkosten. Für Wasser, Abwasser und Müll
kann man im Prinzip noch einmal 10 Prozent hinzurechnen. All das sind Kosten, die - damit geht keine Fraktion
in diesem Haus leichtfertig um - von einkommensschwachen Bürgern nur schwer getragen werden können.
Genau an dieser Stelle muss man die Frage stellen,
wie es zu diesen Kostensteigerungen gekommen ist. Da
muss man einmal genau hinschauen, zum Beispiel welche Steuererhöhungen wir in den letzten fünf Jahren
durchgeführt haben. Dann sieht man, wie die Ökosteuer
diese Kosten nach oben getrieben hat.
({3})
All das stellt einen Kreislauf dar, der meines Erachtens
auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise nicht zu durchbrechen ist.
({4})
- Dann rechnen Sie einmal durch, wie viel von der Gaspreiserhöhung durch die Steuererhöhungen zustande gekommen ist.
Wenn wir nach vorn blicken, sehen wir, dass es im
nächsten Jahr wieder einen großen Sprung geben wird:
durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte und durch die Erhöhung der Versicherungsteuer. Im Übrigen sind Sie als PDS an der Erhöhung der Nebenkosten direkt beteiligt. Schauen Sie nach
Berlin; da haben Sie die Grundsteuer kräftig angehoben. All das wird auf die Mieter niederprasseln und die
Mietnebenkosten noch einmal deutlich erhöhen.
({5})
Da reicht es nicht, die Bundesregierung aufzufordern,
das Wohngeldgesetz zu ändern und mehr Geld einzusetzen. Die Bundesregierung hat neben den einkommensschwachen Haushalten ja auch die ALG-II-Empfänger in
eine Situation gebracht, in der sie ihnen helfen muss. Sie
hätten sich einmal die Kosten anschauen sollen. Dann
hätten Sie festgestellt, dass die Finanzierung so einfach
nicht funktioniert. Es ist ein Teufelskreis, aus dem man
schlecht herauskommt.
Ein zweiter Punkt kommt hinzu; der Kollege Storjohann hat ihn schon angesprochen. Wenn wir Warmwasser und Heizung aus den Kosten herausnehmen und zusammen mit dem Wohngeld übernehmen lassen, wo
bleibt dann der private Anreiz, etwas einzusparen? Auch
das widerspricht dem Prinzip der Eigenverantwortung.
({6})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill
zulassen? - Bitte schön.
Herr Kollege Günther, Sie haben zu Recht angesprochen, dass die Mietpreissteigerungen nicht nur mit den
Energiekosten, sondern auch mit anderen Kosten zusammenhängen; es sind aber im Wesentlichen die Energiekosten. Da wir über die Finanzierung und die Teilhabe
der Gesellschaft sprechen, habe ich folgende Frage:
Wenn wir über den Emissionshandel 10 Prozent der
Emissionszertifikate versteigern würden, hätten wir
Mehreinnahmen von 5 Milliarden Euro, die wir zurzeit
der Energieindustrie schenken. Glauben Sie, dass wir im
Falle einer Versteigerung der Emissionszertifikate in der
Lage wären, den armen Haushalten die Kosten zu vergüten?
Ich kann mir sehr viele Punkte vorstellen, bei denen
man theoretisch eine finanzielle Grundlage zum Beispiel
für die Bezahlung von mehr Wohngeld nachweisen
kann. Ich weiß, wie oft es in diesem Haus schon eine
Diskussion über den Emissionshandel gegeben hat. Man
kann beispielsweise beschließen, den Einsatz in AfghaJoachim Günther ({0})
nistan nicht zu verlängern und das Geld umzuschichten.
Das sind aber alles Dinge, die das Wohngeld und den
Haushalt, an den es gezahlt wird, nicht betreffen.
Ich möchte das gleich weiterführen, weil das eine
Diskussion ist, um die sich viele im Moment leider etwas drücken. Es geht um die Zahlung von Unterkunft
und Heizung für die ALG-II-Empfänger. Ich habe das
einmal an einem Rechenbeispiel dargestellt, das sich auf
meinen Wahlkreis bezieht; die Zahlen sind je nach Kreis
sehr unterschiedlich: Eine Familie mit zwei Kindern erhält in unserem Wahlkreis einen Zuschuss für Wohnung
und Heizkosten in Höhe von bis zu 506 Euro im
Monat. - Ich muss das vereinfachen, sonst reicht die Zeit
nicht. - Eine Familie in vergleichbarer Größe mit einem
monatlichen Einkommen von 1 500 Euro in einer vergleichbaren Wohnung, die diese Miete kosten würde, bekommt im Moment 130 Euro Wohngeld. Das heißt, die
Familie, die ALG II bezieht, hat im Monat 100 Euro
netto mehr zur Verfügung als die Familie, die ihr Einkommen aus dem Niedriglohnsektor bezieht.
Angesichts dieses Sachverhalts muss man fragen:
Stimmt die Relation noch? Gibt es überhaupt einen Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen? Oder müssen wir nicht
darüber nachdenken, ein neues und für alle einheitliches
Wohngeld einzuführen?
({1})
Ich bin sicher: Wenn wir im Rahmen von ALG II weiterhin Wohnkosten, Heizkosten und andere Kosten komplett zahlten, wäre dies auf Dauer nicht oder nur sehr
schwer finanzierbar.
({2})
Die Länder würden große Probleme bekommen.
Unsere Schlussfolgerung ist deshalb, an den Grundlagen etwas zu ändern. Für uns gehört dazu, dass die Steuern gesenkt werden müssen. Wenn wir in dieser Richtung vorankommen, dann wird sich die Kostenspirale
nicht weiter drehen.
({3})
Für die SPD-Fraktion erteile ich Sören Bartol das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In ihrem Antrag fordert die Linke eine Änderung des
Wohngeldgesetzes. Sie wollen Wohngeldbeziehern die
Kosten für Heizung und Warmwasser dauerhaft und in
vollem Umfang erstatten. Sie begründen dies mit stark
gestiegenen Energiekosten. Unbestritten ist: Die Energiekosten sind gestiegen. Ob jedoch Transferleistungen
hier eine angemessene Reaktion darstellen, wage ich zu
bezweifeln. Aber dazu später mehr.
Zunächst zur Ausgangslage. Sie sprechen von
5,2 Millionen Haushalten in Deutschland, die laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 500 und
900 Euro auskommen müssen. Die Zahl ist zwar richtig;
sie hat aber nur wenig mit Ihrem Antrag zu tun. Die
große Mehrheit dieser Menschen ist durch Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter abgesichert. Mit den seit 2005 geltenden Änderungen des
Wohngeldrechtes sind sie vom Wohngeld ausgenommen. Bei ihnen werden die Unterkunftskosten nämlich
bereits im Rahmen der jeweiligen Sozialleistungen berücksichtigt. Konkret heißt das: Der Staat übernimmt die
angemessenen Wohnkosten inklusive Nebenkosten.
Diese Haushalte sind durch den Energiepreisanstieg
finanziell also nicht betroffen.
Damit sorgt der Gesetzgeber dafür, dass eine große
Gruppe Bedürftiger, die ihren Lebensunterhalt nicht aus
eigener Kraft bestreiten kann, abgesichert ist. Für
Arbeitslose etwa, die im Jahr 2004 mit fast 40 Prozent
die mit Abstand größte Gruppe unter den Antragstellern
von Wohngeld ausmachten, hat die Gesetzesänderung
gerade in dieser Hinsicht eine klare Verbesserung gebracht. Auch das kann an dieser Stelle ruhig einmal gesagt werden.
({0})
Der Bund zahlt jährlich Milliardenbeträge für Wohngeld und Unterkunftskosten im Rahmen von Hartz IV.
Allein für Wohngeld hat der Bund im Jahr 2005 über
1 Milliarde Euro ausgegeben. Im Haushalt 2006 ist genau 1 Milliarde Euro veranschlagt. Bis September dieses
Jahres waren davon 833 Millionen Euro verausgabt. Das
ist gut so. Denn damit leistet der Staat einen wesentlichen Beitrag, um eine angemessene Wohnraumversorgung für einkommensschwache Haushalte sicherzustellen. Wir stehen zu unserer sozialen Verantwortung.
Hier wird eines ganz deutlich: Ihre Mär von einem
Staat, der sich aus seiner sozialen Verantwortung stiehlt,
ist an den Haaren herbeigezogen. Die Gerechtigkeitsfrage, wie sie in Ihrem Antrag formuliert ist, stellt sich
an diesem Punkt gerade nicht.
Wenn wir über Bezieherinnen und Bezieher von
Wohngeld sprechen, reden wir über 1 Million Haushalte,
die in besonderem Maße von gestiegenen Energiepreisen
betroffen sind. Wohlgemerkt reden wir hier nicht über
Menschen mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum; wir reden über Menschen, die ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien aus eigener Kraft bestreiten können. Menschen, die jedoch angesichts hoher
Mietbelastungen oder anderer Lasten nicht in der Lage
sind, ihre Wohnung allein zu bezahlen, gewährt der Staat
einen Zuschuss zu den Wohnkosten. Wohngeld ist also
keine Leistung zur Sicherung des Existenzminimums. Es
ist ein ergänzender Beitrag.
Ganz klar: Wohngeld ist und bleibt ein essenzieller
Teil unserer Wohnungspolitik. Seit den 50er-Jahren sorgt
es dafür, einkommensschwachen Haushalten ein angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Es
ist ein wichtiges und bewährtes Instrument, das immer
als Zuschuss des Staates zur Bruttokaltmiete definiert
war - zum einen, weil es bewusst so angelegt ist, dass
die Bezieherinnen und Bezieher den Großteil ihrer
Wohnkosten selbst finanzieren, und zum anderen, um
den Bezug unnötig großer oder aufwendiger Wohnräume
zu verhindern und Anreize zum Energiesparen zu setzen.
Das halte ich für richtig.
({1})
Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass Nebenkostenabrechnungen aufgrund der stark gestiegenen
Energiepreise für viele Mieterinnen und Mieter zu einem
Problem geworden sind. Allein zum Energiesparen aufzurufen kann da wie Hohn klingen. Wenn aber Bezieherinnen und Bezieher von Wohngeld tatsächlich durch
eine Heizkostenabrechnung die Grenze des Existenzminimums unterschreiten sollten, haben sie die Möglichkeit, für den jeweiligen Monat ergänzende Leistungen zu
beantragen.
Klar ist aber auch: Der Staat kann nicht alles finanzieren, was irgendwie wünschenswert wäre. Er greift nur
dort ein, wo Hilfe nötig ist. Genau das tut er an dieser
Stelle. Ebenso klar gesagt werden muss: Wir können
nicht jedes Problem in diesem Land durch Transferleistungen lösen. Hohe Energiepreise verlangen eine andere
Reaktion.
Haben Sie sich einmal gefragt, welche Signalwirkung
sich für die Energiekonzerne aus Ihrem Antrag ergeben
würde? Die von Ihnen geforderte Änderung des Wohngeldgesetzes wäre ein Anreiz, die Energiepreise weiter
anzuziehen, da der Staat die Nebenkostenabrechnungen
seiner Bürgerinnen und Bürger ohnehin finanziert, sobald die Belastungsgrenze überschritten wird.
({2})
Auch auf Verbraucherseite kann die schlichte Übernahme der Kosten für Heizung und Warmwasser in voller Höhe keine Option sein. Sie würde vielmehr das, was
angesichts steigender Energiepreise und knapper werdender Ressourcen erforderlich und auch ökologisch
dringend notwendig ist, nämlich eine Verhaltensänderung der Verbraucher hin zu einem geringeren Energieverbrauch, konterkarieren.
Die Frage, welche politischen Konsequenzen hohe
Energiepreise und daraus resultierende steigende Wohnkostenbelastungen erfordern, wird in Ihrem Antrag unbeantwortet gelassen. Sie setzen sich in Ihrem Antrag
mit einem Symptom auseinander und ignorieren die Ursachen. Wie so viele Ihrer Forderungen bleiben Sie dabei
an der Oberfläche.
({3})
Nachhaltige Politik sieht anders aus. Ihr geht es um
Konzepte, die die Lebenssituation der Menschen in diesem Land nachhaltig und tief greifend verbessert. Was
bedeutet das im vorliegenden Fall der gestiegenen Energiekosten? Energieeffizienz heißt das Stichwort. Damit
Wohnen für alle bezahlbar bleibt, müssen wir die Wohnungen und Häuser energetisch weiter verbessern, um so
die Belastungen der Mieter und Eigenheimbesitzer zu reduzieren. Deshalb forcieren wir umfassende energetische Sanierungen des Gebäudebestandes, die gleichzeitig zur Reduktion von CO2-Emissionen beitragen.
Welche Wirkungen sich hier erzielen lassen, zeigen die
bisher ergriffenen Maßnahmen.
({4})
- Ich lasse die Zwischenfrage nicht zu.
Sie lassen sie nicht zu?
Nein. - Mit der Energieeinsparverordnung und dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm konnte der Heizenergieverbrauch je Quadratmeter Wohnfläche in den letzten
20 Jahren um etwa 40 Prozent gesenkt werden.
Diese Potenziale gilt es weiter auszuschöpfen. Deshalb haben wir die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf
1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Seit Beginn dieses Jahres wurde die energetische Sanierung von mehr als
550 000 Wohnungen mitfinanziert. Davon profitieren
Mieterinnen und Mieter durch sinkende Heizkostenabrechnungen; denn mehr als ein Drittel aller Energie in
Deutschland wird für das Heizen von Wohnungen und
die Warmwasseraufbereitung genutzt. Durch Sanierungen an Fassaden, die Verbesserung der Wärmedämmung
sowie die Modernisierung der Heizung und Fenster können Mieter und Hausbesitzer bis zu 25 Prozent Energie
sparen. Das senkt die Nebenkosten und die finanziellen
Belastungen der Haushalte.
Auch bei der Wohnungsauswahl wird die Energieeffizienz immer mehr zu einem Schlüsselkriterium. Hier
wird der Energieausweis neben dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm zu einem wichtigen Instrument für Mieterinnen und Mieter, das für Transparenz sorgen und längerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird.
Von diesen Maßnahmen und Angeboten profitieren
Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie Städte
und Gemeinden. Das Gebäudesanierungsprogramm ist
aber nicht nur ökologisch sinnvoll und ein wichtiger,
überfälliger Beitrag zum Klimaschutz. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist es ein Erfolg. Es sichert Arbeit
und Beschäftigung in Deutschland; denn mit jeder in die
Gebäudesanierung investierten Milliarde werden
25 000 Arbeitsplätze geschaffen. Das ist nachhaltige
Politik.
({0})
So wie die staatliche Förderung des Wohnungsbaus
und die Steigerung der Energieeffizienz einkommensschwachen Bevölkerungskreisen mittelbar helfen, eine
angemessene Wohnung zu erhalten, unterstützt das
Wohngeld durch einen Miet- bzw. Lastenzuschuss unmittelbar Mieter und Eigentümer, die hohe Mieten und
Lasten nicht tragen können. Hieran gibt es nichts zu rütteln. Die Koalition hat sich vorgenommen, das WohnSören Bartol
geld auf dieser Grundlage fortzuentwickeln, aber nicht
wie Sie durch einen Schnellschuss.
Ihr Antrag, in dem Sie die volle Übernahme der Heizkosten für einkommensschwache Haushalte fordern,
kennt kein Maß und keine Grenzen. Er ist, wie mein
Kollege von der FDP schon gesagt hat, populistisch.
Sinnvoll ist er aber ganz sicher nicht.
Danke schön.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Kurt Hill.
Herr Kollege Bartol, Sie haben die Energieeffizienz,
das Gebäudesanierungsprogramm und viele Dinge mehr
angesprochen, die mit Sicherheit notwendig sind und die
wir wie Sie unterstützen. Wenn Sie unseren Antrag zum
Haushalt gelesen haben, dann haben Sie feststellen können, dass wir, was das Gebäudesanierungsprogramm betrifft, sogar die doppelte Summe gefordert haben.
({0})
- Ich sage nur: 5 Milliarden Euro aus dem Emissionshandel und das alles wäre gar kein Problem.
({1})
Aber darum geht es mir gar nicht.
Es geht mir darum, dass arme Haushalte in Wohnungen wohnen, die all das, was Sie beschreiben, nicht haben. Diese Haushalte haben entsprechend hohe Nebenkostenabrechnungen, gegen die sie sich nicht wehren
können, und werden deshalb diesen Winter ein Problem
bekommen. Wir werden darüber noch zu reden haben.
({2})
Zur Erwiderung Herr Kollege Bartol.
Lieber Kollege Hill, genau so kennen wir die Linkspartei bzw. die PDS: überall das Doppelte, immer etwas
oben drauf, immer schön populistisch. Ich weiß nicht,
wie oft Sie die 5 Milliarden Euro aus dem Emissionshandel in dieser Debatte schon für dieses oder jenes verteilt haben.
({0})
Irgendwann muss einmal Schluss mit dem Verteilen
sein.
({1})
- Lassen Sie mich doch mal ausreden.
Wir müssen das Geld, das wir haben, zielgerichtet
einsetzen. Ich glaube, das haben wir getan. Wir halten
am Wohngeld fest. Die Koalition hat sich vorgenommen,
das Wohngeld weiterzuentwickeln. Es wird dabei sicherlich immer wieder zu Verbesserungen kommen. Ganz
wichtig ist: Die Wohnungen, in denen die Mieter wohnen, die Sie gerade angesprochen haben, sollen natürlich
auch energetisch saniert werden. Sie müssen einmal mit
Wohnungsbaugesellschaften reden. Unser CO2-Gebäudesanierungsprogramm wird doch angenommen; das ist
ein Auftakt in die richtige Richtung. Ich glaube, diesem
Auftakt wird auch noch einiges folgen, sodass wir irgendwann sagen können: Wir haben Wohnungen - ({2})
- Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Das ist
doch klar, Herr Hill.
({3})
- Man muss anfangen, ja. Wir fangen doch an. Das müssen Sie einfach mal zur Kenntnis nehmen.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Hill, als ich den Antrag gesehen habe, habe ich mir gedacht: Es lohnt sich auf jeden
Fall, darüber zu diskutieren. Wenn ich jetzt allerdings Ihren Vortrag Revue passieren lasse, muss ich ehrlich sagen, dass mir Bedenken kommen, wie ernst Sie es eigentlich mit Ihrem Antrag halten. Wir werden das aber
im parlamentarischen Verfahren diskutieren und dann
sehen, was letztendlich von der ganzen Sache übrig
bleibt.
Eines ist sicherlich unbestritten: Die Nebenkosten für
Heizung und Warmwasser sind gerade in den letzten beiden Jahren dramatisch angestiegen und belasten insbesondere Haushalte mit geringen Einkommen. Sie belasten
auch die Volkswirtschaft; denn wenn man die negativen
Effekte auf die Kaufkraft mit ins Kalkül zieht, dann dürfte
sich gerade bei den Beziehern niedriger Einkommen ein
durchaus signifikanter Effekt zeigen. Die Entlastungen,
die in den letzten Jahren durch Steuerreformen und auch
durch die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen bei
diesen Einkommensgruppen entstanden sind, dürften
durch die Steigerungen bei den Energiepreisen durchaus
aufgefressen worden sein.
Ich stimme dem Kollegen Hill übrigens zu, wenn er
darauf verweist, dass sich die Nebenkosten für Heizung
und Warmwasser zu einem bedeutenden Ausgabenposten für bestimmte Haushalte entwickelt haben. Ich
stimme ihm auch insofern zu, dass das nicht unbedingt
durch ein verändertes Heizverhalten korrigiert werden
kann.
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die sozialen Auswirkungen der Preissteigerungen natürlich vom
Ausgangsniveau der Nebenkosten abhängen. Die Frage
der Belastung der Haushalte steht in direkter Korrelation
mit dem Sanierungszustand der Gebäude. Es macht
schon einen gewaltigen Unterschied aus, von welchem
Nebenkostenniveau aus eine Preissteigerung um 30 Prozent verkraftet werden muss. Dadurch wird auch deutlich, dass Klimaschutz am Bau nicht nur eine ökologische und eine volkswirtschaftliche, sondern auch eine
erhebliche soziale Komponente darstellt und daher unsere volle Anstrengung benötigt.
({0})
Die beste Gegenmaßnahme bei hohen Nebenkosten ist
die Senkung des Gebäudeverbrauchs. Dazu muss ich
jetzt nicht mehr sagen; der Kollege Sören Bartol hat das
eben ausgeführt.
Es erscheint allerdings auf den ersten und vielleicht
auch auf den zweiten Blick ungerecht, wenn sich das
Wohngeld nicht an den Warmmieten, sondern an den
Kaltmieten orientiert. Dabei könnte durchaus die absurde Situation entstehen, dass ausgerechnet ein einkommensschwacher Haushalt für eine niedrige Kaltmiete eines unsanierten Gebäudes - weil er sich nicht mehr
leisten kann - benachteiligt wird, während die höhere
Kaltmiete eines energetisch sanierten Gebäudes bis zu
den Höchstbeträgen bezuschusst wird. Das müssen wir
in der Tat diskutieren. Ich habe mir noch kein abschließendes Urteil bilden können, ob und wie eine Novellierung des Wohngeldgesetzes hier tatsächlich Abhilfe
schaffen kann; denn es gibt noch einige offene Fragen,
die wir hier im parlamentarischen Verfahren klären müssen.
In Ihrem Antrag sprechen Sie von 5,2 Millionen Haushalten in Deutschland, die mit Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro auskommen müssen. Das sind sicherlich 5,2 Millionen Haushalte zu viel; das ist keine
Frage. Aber das Statistische Bundesamt hat im Oktober
mitgeteilt, dass Ende 2005 nur noch 781 000 Haushalte in
Deutschland rund 1,2 Milliarden Euro Wohngeld erhalten
haben. Jetzt frage ich mich natürlich, wie diese Lücke zu
erklären ist. Liegt das etwa daran, dass alle Haushalte, die
Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Altersgrundsicherung erhalten, aus der Wohngeldförderung herausfallen?
Oder gibt es eventuell noch eine Gruppe von Menschen,
die wir weder durch das eine noch durch das andere erreichen? Wie würde es sich auswirken, wenn wir die
Warmmiete als Bezugsgröße nehmen würden? Was
würde das kosten? Wir dürfen nicht vergessen, dass rund
500 000 der Wohngeldbezieher einen Anspruch auf lediglich 60 bis 90 Euro im Monat haben. Wie verteilen
sich die Wohngeldempfänger auf die unterschiedlichen
Wohnraumklassen? Wir müssen auch berücksichtigen,
dass nach 1992 Gebäudeklassen erstellt wurden, die höheren energetischen Ansprüchen gerecht werden. Es gibt
also eine ganze Menge Fragen, die wir beantworten müssen.
Wir nehmen Ihren Antrag durchaus ernst. Weniger
ernst kann ich allerdings Ihre Forderung nehmen, das
Wohngeldgesetz umgehend zu ändern, damit die Kosten
noch in dieser Heizperiode erstattungsfähig werden;
denn angesichts der schwierigen Haushaltslage und der
Zustimmungspflicht des Bundesrates halte ich eine derartige Forderung schlichtweg für populistisch und von
vornherein unerfüllbar.
({1})
Sie wissen doch selbst, wie lange ein Gesetzgebungsverfahren dauert. Ansonsten hätten Sie Ihren Antrag etwas
früher stellen müssen und nicht erst am 8. November
dieses Jahres.
Ich schlage Ihnen vor, dass Sie sich mit der rot-roten
Koalition in Berlin zusammensetzen. Vielleicht bringen
Sie sie ja dazu, sich parallel zu den Beratungen in unserem Hause an die Spitze der Bewegung zu setzen und
eine entsprechende Bundesratsinitiative zu initiieren.
Dann könnten wir nämlich sehr schnell sehen, wie sich
die anderen Bundesländer zu diesem Problem positionieren. Wir sichern Ihnen auf jeden Fall eine ernsthafte Beratung zu.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlage auf Drucksache 16/3351 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse mit Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz ({0})
- Drucksache 16/3038 - Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Jerzy Montag und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Befristungsregelungen im Gesetz
zur Entlastung der Rechtspflege und im
Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung
({1})
- Drucksache 16/3282 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 16/3640 Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Christine Lambrecht
Wolfgang Nešković
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatsekretär Alfred Hartenbach für
die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieses Gesetz ist von Praktikern für die Praxis gemacht. Nachdem der Regierungsentwurf im ersten
Durchgang im Bundesrat überwiegend Zustimmung gefunden hat, ist im Rechtsausschuss eine intensive und
wichtige Diskussion geführt worden. Themen waren in
erster Linie einzelne Vorschläge zum Strafrecht und zum
Jugendstrafrecht. Hierauf hat sich eine vom Rechtsausschuss durchgeführte Anhörung im Wesentlichen konzentriert. Diese Punkte werde auch ich jetzt aufgreifen.
Die Anhörung hat uns darin bestärkt, dass wir mit der
Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt auf dem
richtigen Weg sind; denn damit geben wir den Gerichten
mehr Flexibilität bei der Sanktionierung von Kleinkriminalität. Durch die vorgeschlagenen Änderungen wird die
bislang verkümmerte Verwarnung mit Strafvorbehalt zu
einer wertvollen Ergänzung im System der vorgerichtlichen und gerichtlichen Diversion.
Für die Neuregelung gibt es entgegen der Auffassung
des Bundesrates durchaus einen praktischen Bedarf. Der
klassische Anwendungsbereich der Verwarnung sind
diejenigen Fälle, in denen zwar ein Schuldspruch notwendig, eine Bestrafung jedoch nicht erforderlich ist.
Befremden hat das Argument des Bundesrates ausgelöst,
dass die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt
zu Einnahmeausfällen im Bereich der Geldstrafen führen
würde. Die Geldstrafe hat aber nicht den Zweck, den
Ländern Einnahmen zu verschaffen.
({0})
Das Sanktionensystem wird entgegen der Behauptung
des Bundesrates nicht ins Rutschen geraten. Neben den
potenziellen Geldstrafefällen, die künftig mit einer Verwarnung geahndet werden können, wird es sicher auch
Anwendungsfälle der Verwarnung geben, die heute mehr
schlecht als recht über § 153 a StPO gelöst werden und
nicht immer Akzeptanz in der Öffentlichkeit finden.
Auf dem Gebiet des Jugendstrafverfahrens haben
die Beratungen zu Änderungen geführt, die gut und sinnvoll sind. Ziel war und ist es, den Opferschutz auch im
Jugendstrafverfahren zu verbessern. Dabei muss ein
Ausgleich zwischen den Opferinteressen und den Besonderheiten des Jugendstrafrechts geschaffen werden. Welche Lösungen dieser Balance am besten gerecht werden,
ist eine schwierige Frage. Das hat auch das unterschiedliche Meinungsbild in der Anhörung gezeigt. Im Ergebnis war die Mehrheit des Rechtsausschusses der Auffassung, dass die im Regierungsentwurf vorgeschlagene
Ausweitung von Schutz- und Informationsrechten bei
schwersten Straftaten mit schwerer Verletzung des Opfers nicht ausreicht. Würde man das Opfer auch in solchen Fällen auf eine weitgehend passive Rolle im Strafverfahren beschränken, wäre dem legitimen Interesse
des Verletzten nicht ausreichend Genüge getan. Deshalb
soll im Ergebnis die Nebenklage gegenüber Jugendlichen nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern begrenzt
auf schwerste Verbrechen eröffnet werden.
Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Die offensiven Rechte der Nebenklage stehen
nun einmal in einem Spannungsverhältnis zu dem jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken; wir können
diesen Konflikt nicht leugnen. Wir können diese wichtige und grundlegende Entscheidung aber auch nicht auf
die Jugendrichter abwälzen, die nach den herrschenden
Vorgaben wohl meist gezwungen wären, gegen die Belange der Opfer zu entscheiden. Deshalb haben wir uns
entschlossen, die Zulassung der Nebenklage strikt an
den Belangen schwer geschädigter Opfer auszurichten.
Das ist ein plausibler und gut vermittelbarer Kompromiss zwischen den bislang vertretenen Auffassungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich
bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern dafür,
dass die Beratungen im Bundestag auch in so schwierigen und kontroversen Fragen wie den gerade angesprochenen zu guten Ergebnissen geführt haben, die letztlich
von einer soliden Mehrheit getragen werden. In diesen
Dank schließe ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unseres Ministeriums und des Rechtsausschusses ein,
die praktisch bis zur letzten Minute eine saubere Fleißarbeit geleistet haben.
({1})
Die dafür aufgewandte Zeit hat sich gelohnt. Jetzt allerdings wird ein zügiger Abschluss der Beratungen im Parlament und im Bundesrat umso dringlicher. Denn mit
dem Gesetz sollen drei für die Praxis wichtige Regelungen verlängert werden, die anderenfalls zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen würden: die Verlängerung der
Besetzungsreduktion bei großen Strafkammern - die für
die Länder große praktische Bedeutung hat -, die Verlängerung der Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden
in allgemeinen Zivilsachen sowie die Verlängerung des
Ausschlusses der Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen.
Einen Satz zum Schluss an den Kollegen Montag. Sicher werden Sie, lieber Kollege Montag, nachher mit Ihrer ganzen Argumentationskraft - das haben Sie im Ausschuss bereits getan - auf eine Vorschrift eindreschen,
nämlich die, dass man nachträglich bekannt gewordene
Tatsachen bei Widerruf der Bewährung verwerten darf.
Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Das haben nicht wir uns
aus den Fingern gesogen. Dies ist ein urgrüner Gedanke
Ihres früheren Kollegen und hessischen Justizministers
Rupert von Plottnitz. Ich finde, das war ein guter Gedanke.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Mechthild Dyckmans.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Häufig beginnen oder - wie eben - enden die Redebeiträge in den Debatten zur abschließenden Beratung von
Gesetzentwürfen über Reformen in der Justiz mit dem
Dank an die anderen Fraktionen und an die Berichterstatter für die gute Zusammenarbeit und die Bereitschaft,
in ausführlichen Berichterstattergesprächen zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.
({0})
Mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz ist mit dieser
guten Tradition leider gebrochen worden.
({1})
Die Bundesregierung hat dem Bundestag im Herbst einen Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Modernisierung
der Justiz zugeleitet. Diesen Gesetzentwurf haben wir
am 26. Oktober dieses Jahres in erster Lesung beraten.
Nur auf Druck der Opposition hat überhaupt eine Anhörung stattgefunden,
({2})
die allerdings von der Koalition so kurzfristig terminiert
war, dass es nur unter großen Mühen gelang, überhaupt
Sachverständige zu finden, die trotz der kurzen Vorbereitungszeit bereit waren, an der Anhörung teilzunehmen.
Nur wenige Tage nach der Anhörung hat der Rechtsausschuss den Gesetzentwurf abschließend beraten. Zeit für
eine ausführliche oder gar intensive Auswertung der Anhörung bestand somit nicht, Herr Staatssekretär. Es war
auch bei der Koalition keinerlei Interesse erkennbar, mit
der Opposition in dem einen oder anderen Punkt zu einer
gemeinsamen Lösung zu kommen.
({3})
Das war in der vergangenen Wahlperiode, als es um das
1. Justizmodernisierungsgesetz ging, noch ganz anders.
Auch damals waren die Fronten anfänglich verhärtet und
die Positionen der Fraktionen lagen weit auseinander.
Dennoch ist es nach der Anhörung und weiteren Berichterstattergesprächen gelungen, sich auf eine gesetzliche
Regelung zu einigen, der im Ergebnis alle Fraktionen
zugestimmt haben.
({4})
Es ist gute Tradition, dass Justizreformen im Rechtsausschuss einmütig beschlossen werden. Die Justiz gehört zu den Kernaufgaben des Staates. Daher ist es besonders wichtig, dass die gesetzlichen Grundlagen für
die Arbeit der Justiz vom gesamten Bundestag getragen
werden.
({5})
Am parlamentarischen Verfahren zum 2. Justizmodernisierungsgesetz wird deutlich, dass die Koalition an
diesem Konsens offensichtlich kein Interesse mehr hat.
Der Verzicht auf eine gemeinsame Suche nach dem besten Weg lässt in mir die Sorge reifen, dass die große Koalition der Justiz nicht mehr den Stellenwert beimisst,
der ihr eigentlich gebührt.
({6})
Nun zur Sache.
({7})
- Ja. Ich habe aber noch etwas Zeit, Herr Kollege Gehb. Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Regelungen,
die auch von der FDP unterstützt werden. So werden
viele Anregungen aus der Justiz umgesetzt, die zu einer
Verfahrensbeschleunigung und zu einer Entbürokratisierung führen. Als besonderes Beispiel nenne ich die
Einführung eines spezifischen Wiederaufnahmegrundes
für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat und das Urteil auf
dieser Verletzung beruht. Zu begrüßen ist auch der Vorrang von Wiedergutmachungsansprüchen der Opfer bei
der Vollstreckung von Geldstrafen. Auch eine stärkere
Verankerung des Opferschutzgedankens im Jugendstrafverfahren entspricht langjährigen Forderungen der FDP.
({8})
Dennoch ist fraglich, ob die weit reichenden Änderungen bezüglich der Anwendbarkeit der Nebenklage im
Jugendstrafverfahren nicht dem Erziehungsgedanken
des Jugendstrafrechts zuwider laufen. Hier hätte ich mir
eine breitere und intensivere Diskussion gewünscht, zum
Beispiel über die Frage, ob mit der Nebenklage auch Beweisantrags- und Rechtsmittelrechte verbunden sein dürfen.
({9})
Wie ich eingangs geschildert habe, hatte man an einer
solchen Diskussion allerdings kein Interesse.
Was uns jedoch unabhängig von dem nicht hinzunehmenden Verfahren zur Ablehnung Ihres Gesetzentwurfs
zwingt, ist die geplante Änderung der Strafprozessordnung, wonach Straftäter künftig auch dann in Haft bleiben sollen, wenn sie eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand erreicht haben. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtspraxis ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt, und zwar nicht nur aufgrund des
Fehlens einer gesetzlichen Grundlage. Vielmehr hat das
Gericht die Legitimation einer solchen Regelung grundsätzlich in Zweifel gezogen.
({10})
Dennoch will die Bundesregierung genau dieses Verfahren jetzt gesetzlich verankern. Wir halten eine solche Regelung für verfassungsrechtlich äußerst bedenklich.
({11})
Bemerkenswert waren die Ausführungen, die Vertreter der Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuss hierzu
gemacht haben. Dort wurde beispielsweise gesagt, das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoße auf Unverständnis und verkenne die wirklichen Bedürfnisse der
Praxis. Bisher bestand im Rechtsausschuss der Konsens,
dass wir uns von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leiten lassen. Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts haben uns immer den Rahmen
vorgegeben, in dem wir uns als Gesetzgeber bewegt haben. Daher finde ich es höchst bedenklich, wenn die Koalition nun zu einer anderen Bewertung kommt und
meint, im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf müsse die
Rechtsprechung aus Karlsruhe nicht so ernst genommen
werden, wenn sie Forderungen aus der Praxis zuwider
laufen. Diesen Weg wird die FDP nicht mitgehen.
Da in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt
wird, dass die zur Gewährleistung einer erneuten Inhaftierung von den beteiligten Gerichten und Staatsanwaltschaften zu veranlassenden Maßnahmen zu aufwendig
seien, stelle ich für die FDP fest: Die Anordnung von
freiheitsentziehenden Maßnahmen und die damit verbundenen Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen
sind jeden Aufwand der Gerichte und Staatsanwaltschaften wert.
Kollegin Dyckmans, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Mein letzter Satz: Wer hier mit Entbürokratisierung
und Verfahrensbeschleunigung argumentiert, legt die
Axt an die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich an kein Gesetz erinnern, das, wie
die Kollegin Dyckmans es glauben macht, vom Himmel
fiel. In aller Regel haben Gesetzentwürfe eine lange Vorgeschichte. Ich möchte Ihnen das am Beispiel des
2. Justizmodernisierungsgesetzes gerne demonstrieren.
Aber fangen wir in aller Ruhe von vorne an.
Jedes Jahr am 22. März findet in ganz Deutschland
der Tag des Kriminalitätsopfers statt. Opferschutzorganisationen wie der Weiße Ring erwähnen lobend Tausende
von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zahllose Stunden
in die Opferbegleitung und Opferbetreuung investieren,
die mit den Opfern schwere Stunden teilen. Ich glaube,
das ist doch ein Lob dieses Hauses wert.
({0})
Am 22. März eines jeden Jahres werden aber nicht nur
Opferhelfer gelobt, da werden auch berechtigte Forderungen an die Politik artikuliert. Ich kann mich an viele
dieser Veranstaltungen am 22. März erinnern, an der
Politiker teilgenommen und Beifall geklatscht haben.
Das reicht aber nicht aus - man muss berechtigte Interessen auch umsetzen.
Im Zusammenhang mit dem Opferrechtsreformgesetz, das in der letzten Legislaturperiode zu deutlichen
Verbesserungen des Opferschutzes geführt hat, habe ich
am 13. November 2003 in diesem Haus eine Rede gehalten. An diesem 13. November 2003 habe ich auf eine
Lücke im Opferschutz hingewiesen, nämlich die, dass es
nahezu keinen effektiven Opferschutz im Jugendstrafverfahren gibt. Ich habe die damalige rot-grüne
Bundesregierung ultimativ aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Nebenklage im Jugendstrafverfahren vorgesehen wird. Frau Kollegin Dyckmans, ich kann mich nicht daran erinnern, dass in diesem
Zusammenhang von Ihnen der Einwand kam, dem stehe
der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts entgegen.
({1})
- Dann nehme ich meine Vorhaltungen gegenüber der
Kollegin Dyckmans zurück und richte diese an die Kolleginnen und Kollegen der FDP.
({2})
Die Bundesregierung nimmt den Opferschutz ernst
und hat mit dem 2. JuMoG einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Die Regierungskoalition bringt den
Opferschutzgedanken voran. Auch die Oppositionsfraktionen geben sich zugegebenermaßen redlich Mühe. Was
wird mit diesem 2. Justizmodernisierungsgesetz von der
Bundesregierung vorgeschlagen? Opferschutz im Jugendstrafverfahren, wie wir ihn in der Praxis schon nahezu haben: eine Stärkung der Beteiligungsrechte, eine
Stärkung der Informationsrechte - mehr nicht! So funktioniert effektiver Opferschutz nicht. Jeder, der in diesem
Bereich tätig ist, weiß, was ich meine. Stattet man
Opferschutz und Nebenklage nicht mit Aktivrechten, mit
Rechtsmitteln, aus, bleibt dies eine stumpfe Waffe.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der großen
Koalition, dass sie mir auf meinem Weg, der eben weiter
ging als dieser „Opferschutz light“ im Jugendstrafverfahren, gefolgt sind. Ich weiß, dass man es sich nicht
leicht gemacht hat. Über den immer wieder vorgebrachten Gedanken, dass Opferschutz im Jugendstrafverfahren dem Erziehungsgedanken entgegensteht, wurde
heftig debattiert. Ich empfehle jedem opferpolitischen
Siegfried Kauder ({3})
Bedenkenträger, im Kommentar von Ostendorf zum Jugendgerichtsgesetz Anmerkung 8 zu § 80 JGG nachzulesen, in dem es noch heute heißt:
Auch geringe erzieherische Bedenken stehen den
berechtigten Interessen des Verletzten entgegen.
Ich empfehle den Bedenkenträgern auch, die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Amtlichen Sammlung, 41. Bd., S. 288 f. zu lesen: Wir haben schon Opferschutz im Jugendstrafverfahren und haben aus diesem
Bereich auch belastbare Informationen. Im so genannten
verbundenen Verfahren, wenn also Jugendliche mit Heranwachsenden und Erwachsenen auf der Anklagebank
sitzen, gibt es die Nebenklage schon. Keiner hat bisher
Bedenken geäußert, dass dadurch der Erziehungsgedanke konterkariert würde. Das ist auch nicht so. Genau
der Bereich des verbundenen Verfahrens zeigt, dass so
wie Strafverteidiger ihre prozessualen Rechte verantwortungsvoll wahrnehmen, dies auch Nebenklagevertreter tun. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Der
Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts steht einem
Opferschutz nicht entgegen.
({4})
Herr Staatssekretär Hartenbach hat es dankenswerterweise schon erwähnt: Wir haben uns für eine Lösung
entschieden, die meines Erachtens von allen Fraktionen
dieses Deutschen Bundestages mitgetragen werden
kann. Die Nebenklage soll nicht in jedem Jugendstrafverfahren zugelassen werden, sondern nur dann, wenn
das Opfer besonders belastet worden ist, wenn es also
um Verbrechen gegen Leib und Leben geht, wenn es um
Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht
oder wenn es um Verbrechen gegen die persönliche Freiheit geht. Auch dort haben wir eine Trennlinie eingezogen: nur dann, wenn es zu schwerwiegenden seelischen
oder körperlichen Schädigungen gekommen ist oder
wenn die Gefahr solcher Schädigungen bestanden hat!
Das ist also ein ganz sanfter Einstieg in die Nebenklage.
Ich halte ihn für vertretbar.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle, ein Zeichen zu setzen, auch wenn bei den übrigen Bereichen
des 2. Justizmodernisierungsgesetzes Bedenken bestehen sollten. Es wäre ein gutes Zeichen für alle Kriminalitätsopfer, wenn Sie zeigen würden, dass nicht nur am
22. März eines jeden Jahres, sondern auch heute der Tag
des Kriminalitätsopfers ist. Wir sehen es ja: Wir haben
heute über den Gesetzentwurf zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen entschieden und im nächsten Tagesordnungspunkt werden wir über das Opferentschädigungsgesetz reden. Geben Sie sich einen Ruck und
stimmen Sie diesem Gesetz zu.
({5})
Lassen Sie mich noch etwas zum Rechtsinstitut der
Verwarnung mit Strafvorbehalt sagen. Herr Staatssekretär Hartenbach hat die Bedenken der Länder artikuliert, dass dies möglicherweise zu Einnahmeausfällen
führen würde. Nicht einmal das stimmt.
({6})
Wer in § 59 a des Strafgesetzbuches schaut, der weiß,
wie eine Verwarnung mit Strafvorbehalt abläuft.
({7})
Statt einer Geldstrafe wird eine Geldbuße festgesetzt.
Wer praktische Erfahrungen hat, der weiß, dass die Verwarnung mit Strafvorbehalt oftmals dann eingeführt
wird, wenn gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt
wurde. Ich erlebe es immer wieder, dass das Gericht dem
Verteidiger in solchen Fällen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt anbietet, aber darauf hinweist, dass es davon
ausgehe, dass die im Strafbefehl festgesetzte Geldstrafe
als Geldbuße festgesetzt wird.
({8})
Es kommt also nicht zu einem Einnahmeausfall.
({9})
Diese Verwarnung mit Strafvorbehalt ist ein hervorragendes Scharnier zwischen der Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a der Strafprozessordnung
und einer Geldstrafe.
So, wie es eine Freiheitsstrafe zur Bewährung gibt,
soll es auch eine Geldstrafe zur Bewährung geben. Der
Anwendungsbereich ist ohnehin klein genug. Deswegen
war es gut, diesen Anwendungsbereich moderat zu öffnen und die Klauseln zu lockern. Ich bin der Meinung,
dass dieses Rechtsinstitut damit auch eine Berechtigung
in der Rechtspolitik haben wird.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Kauder hat eine elegante Volte gemacht, indem
er das Ganze auf eine Frage des Opferschutzes reduziert
hat. Das ist natürlich nicht richtig. Dieser Gesetzentwurf
hat einen ganz anderen Umfang. Die Frau Kollegin von
der FDP hat das ja bereits dargelegt.
Sie werden damit vor dem Verfassungsgericht wahrscheinlich erneut in Teilen scheitern. Es ist eine bewährte Übung in diesem Haus, dem höchsten deutschen
Gericht sozusagen einmal die Leviten zu lesen, indem
man Gesetzentwürfe verabschiedet, die geltenden Gesetzen entgegenstehen. Ich erkenne anhand der Zwischenrufe, dass Sie diese ganz merkwürdige Einstellung haben. Sie wissen alle, welch hohe Hürden vor einer
Wiedereinsetzung stehen. Wenn Sie sagen, aus Gründen
der Praktikabilität ließen Sie die Leute in Haft, offenbart
dies eine Rechtsgüterabwägung, die mich erschreckt. Ich
sage Ihnen das ganz offen.
Sie haben auch kein Wort darüber verloren - das sind
für Sie wahrscheinlich Peanuts -, dass der bargeldlose
Zahlungsverkehr eingeführt wird. Sie verkennen immer wieder, wie viele Menschen in diesem Land nicht an
dem bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen können.
Sie verkennen auch, was es eigentlich heißt, dass Sie bei
der Nichtzulassung immer wieder mit der Grenze von
20 000 Euro operieren. Es gibt Leute, für die das kein
Problem ist, es gibt aber auch Menschen, die Recht suchen und für die das ein Problem darstellt.
All diese Dinge sind hier nicht zur Sprache gekommen. Ich sage aber ganz offen: Diese verblassen sogar
vor der Art und Weise, wie Sie dieses Gesetz durchgepeitscht haben.
({0})
Herr Kollege Kauder, es mag ja sein, dass der Entwurf
für Sie eine lange Vorgeschichte hat; trotzdem kann die
Bevölkerung dieses Landes von ihrem Parlament die
parlamentarische Behandlung eines Gesetzentwurfs
verlangen. Die Tatsache, dass Sie die entsprechende Anhörung, die Sie ursprünglich selbst nicht durchführen
wollten, auf zehn Minuten nach Schluss der letzten
Haushaltswoche terminiert haben
({1})
- die Frau Kollegin hat das bereits gesagt -,
({2})
zeigt im Grunde genommen nichts anderes, als dass Sie
weder an einer Anhörung noch an einer vertieften Diskussion über Ihre Gesetzesvorhaben interessiert sind.
({3})
Sie sind nicht daran interessiert.
({4})
An den Schulen unseres Landes wird eine Vorstellung
von parlamentarischen Verfahren vermittelt, die Sie
längst ad acta gelegt haben. Sie machen Ihre Gesetze
vorher selber - wo auch immer - und dann werden sie
hier abgenickt. Auf diese Art und Weise kann ein Parlament nicht funktionieren. Wir sind auch nicht bereit,
eine solche Art und Weise hinzunehmen.
Dass Sie das Thema sechs Tage nach dieser Farce von
Anhörung im Parlament beraten wollen, vertieft den
Eindruck nur noch mehr.
({5})
Denn wir leben leider in einem Land, in dem in zunehmendem Maße von Interessierten, manchmal auch von
Interessenverbänden und von der Regierung Gesetze gemacht werden. Aber die üblichen parlamentarischen
Verfahren zur Rechtsfindung werden nicht mehr gewährleistet.
Wir jedenfalls sind nicht bereit, das zu tolerieren.
Selbst wenn man dem Gesetz in Teilen positiv gegenübersteht,
({6})
erzwingt allein die Tatsache, wie Sie in dieser Frage mit
dem Parlament umgehen, das Nein zu diesem Vorhaben.
({7})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die
Art und Weise des Zustandekommens des Gesetzes will
ich nicht eingehen. Dazu haben meine Vorrednerinnen
und Vorredner alles Notwendige gesagt. Nur zu Ihnen,
Herr Kollege Hartenbach: Sie können nicht ernsthaft behaupten, dass wir seit der Einbringung des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung eine „intensive Beratung“ durchgeführt haben.
Ich komme sogleich zur Sache. Der Gesetzentwurf
enthält etliches Positives. Das will ich an den Anfang
meiner Ausführungen stellen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
stellt bisweilen - es ist zwar selten, aber es kommt vor auch gegenüber deutschen Gerichtsurteilen fest, dass
diese Menschenrechte verletzen. Nachdem es in der
Strafprozessordnung bereits geregelt ist, soll nun auch in
der Zivilprozessordnung ein Wiederaufnahmegrund wegen einer Menschenrechtsverletzung durch gerichtliche
Urteile in Zivilsachen eingeführt werden. Das ist auch
für Verwaltungsverfahren und andere Verfahrensarten
vorgesehen. Das halten wir für richtig.
Die Ausweitung der Verwarnung mit Strafvorbehalt
ist bereits erwähnt worden. Das findet unsere volle Zustimmung.
Auch dass Opferansprüche in der Vollstreckung jetzt
vor der Vollstreckung von Geldstrafen zum Zuge kommen sollen - das ist sozusagen eine praktische Form des
Opferschutzes -, findet unsere Zustimmung.
({0})
Es wäre deswegen schön gewesen, wenn wir über die
anderen Punkte, die hoch streitig sind, intensiv und in
Ruhe hätten reden können, weil wir dann vielleicht auch
unter den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern zu
einem guten Ergebnis gekommen wären. Die Zeit ist
nicht geblieben.
Ich begründe aber auch, warum wir Grünen leider
diesem Gesetzentwurf die Zustimmung verweigern müssen. Es geht nicht an, dass gegenstandslos gewordene
Freiheitsentziehungen, die nur aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung ergehen können, allein deswegen
wieder aufleben sollen, weil derjenige, der durch sie
belastet war, im Wege einer Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand in eine für ihn günstigere Position gekommen ist.
Es ist Irrsinn, dass jemand ein Grundrecht erstreitet
- nämlich das Recht auf rechtliches Gehör - und als
Dank dafür von der Justiz die sofortige Inhaftierung verfügt wird.
({1})
Das geht nur dann, wenn ein Gericht wiederum in einer
neuen Entscheidung darüber befindet. Das ist eigentlich
ein völlig klarer Gedanke.
({2})
Es ist mir völlig unklar, warum Sie diese Regelung haben passieren lassen.
Der Widerruf einer Strafaussetzungsentscheidung ist
eine Entscheidung, die nur nach strengen rechtsstaatlichen Regeln durchgeführt werden kann. Wenn eine Entscheidung eines Gerichts vorliegt, mit der jemand mit
günstiger Sozialprognose in die Freiheit entlassen wird,
dann ist der Widerruf einer solchen Entscheidung nur
dann möglich, wenn ganz gewichtige Gründe - wie Wiederaufnahmegründe zulasten eines Angeklagten oder
Beschuldigten - dafür sprechen. Keinesfalls darf es aber
ausreichen, dass irgendwelche Tatsachen, die dem Gericht zuerst unbekannt waren, dann aber bekannt wurden, zulasten einer solchen Entscheidung eingewendet
werden, obwohl sich der Betroffene nach der Entscheidung des Gerichts in der Sache selbst, in punkto seiner
Bewährung, gar nichts hat zuschulden kommen lassen.
So etwas geht nicht.
Zum Schluss zum Jugendstrafverfahren. Herr Kollege
Kauder, Sie sagen, dass Sie keine stumpfen Schwerter
wollen. Wir waren ja für den Ausbau der Opferrechte
im Jugendstrafverfahren. Wir wollten zusammen mit
Ihnen und der Bundesregierung das Informationsrecht,
das Akteneinsichtsrecht, das Anwesenheitsrecht und das
Beistandsrecht in das Jugendstrafgerichtsverfahren implementieren. Sie denunzieren nun diese Mittel als
stumpfe Waffen und sagen, was Sie im Jugendstrafrecht
tatsächlich wollen: scharfe Waffen.
({3})
Ich sage Ihnen: Wir wollen gar keine Waffen im Jugendstrafverfahren; denn dieses Verfahren eignet sich nicht
für ein solches Vorgehen. Deswegen sind wir auch gegen
die Nebenklage im Jugendstrafverfahren.
({4})
Wir müssen den gesamten Gesetzentwurf ablehnen,
so Leid es uns um die positiven Punkte tut.
Danke schön.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Stünker.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Maurer, in Sachen Rechtsstaatlichkeit sollten Sie uns, glaube ich, keine Belehrung erteilen.
({0})
Im „Tagesspiegel“ vom 30. November dieses Jahres findet sich im Zusammenhang mit der auch in meinen
Augen nicht akzeptablen Einstellung des MannesmannFalls von Ihrem rechtspolitischen Sprecher und stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Wolfgang Nešković, Folgendes:
Der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, Wolfgang Nešković, fordert dagegen eine
unabhängige Instanz, die Verabredungen wie im
Mannesmann-Prozess anfechten kann. Zur Not
muss das Parlament die Möglichkeit einer Überprüfung bekommen.
Wer solche populistischen Äußerungen, die schon die
Gewaltenteilung negieren, den Journalisten in die Feder
diktiert, der muss mit uns über Rechtsstaatlichkeit nicht
mehr diskutieren.
({1})
Dazu kann ich nur sagen: Das Zentralkomitee der
SED lässt grüßen! Der Arbeiter- und Bauernstaat hebt
gerichtliche Entscheidungen hinterher wieder auf. Irgendwann ist es wieder so weit, dass Richterbriefe geschrieben werden, Herr Kollege.
({2})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist nicht mehr da.
Sonst hätte ich noch etwas zu ihrer Äußerung gesagt,
dass man den § 153 a der Strafprozessordnung überprüfen sollte. Das will ich jetzt nicht machen. Aber so viel
Populismus in der Rechtspolitik war noch nie, wie gegenwärtig von der Opposition in diesem Hause offenbart
wird!
({3})
- Nun komme ich zu Ihnen, Herr Montag.
({4})
Ich erlaube mir, mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus der Pressemitteilung Nr. 1537 der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vom 29. November 2006 zu zitieren:
Gegen den Willen von Schwarz-Rot konnte die Opposition dennoch wenigstens kurzfristig eine Sachverständigenanhörung durchsetzen.
Herr Kollege Montag, bleiben Sie bitte bei der Wahrheit!
Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir es, die diese
Anhörung gegen Ihren Willen - weil Sie keinen Termin
mehr vor Weihnachten finden konnten - durchsetzen
mussten.
({5})
Herr Kollege Montag, natürlich haben wir von Anfang
an das Recht der Opposition, eine Anhörung zu beantragen, akzeptiert. Wir haben gesagt: Jawohl, wir machen
die Anhörung. Auch wenn Sie vor Weihnachten keine
Zeit mehr hatten, haben wir uns die Zeit genommen, um
darüber zu beraten.
Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Montag?
Von Herrn Montag immer!
({0})
- Frau Präsidentin, haben Sie diesen Zwischenruf gehört? - Das will ich dem Kollegen Maurer nicht durchgehen lassen. Er hat mich eben einen Winkeladvokaten
genannt.
Ich werde es prüfen.
Gut. - Das aus Ihrem Mund, Herr Kollege Maurer!
Bitte, Herr Montag.
Ich habe diesen Zuruf nicht gehört. Aber ich weiß genau, dass der Kollege Maurer ein Anwalt ist und Sie ein
Richter sind.
({0})
An Sie, Herr Kollege Stünker, habe ich die Frage, ob
Sie bereit sind, hier vor dem Plenum zu bestätigen, dass
nicht die große Koalition, nicht die Mehrheit in diesem
Hause, den Antrag gestellt hat, eine Anhörung im
Rechtsausschuss zum 2. Justizmodernisierungsgesetz
durchzuführen, sondern dass dies die Oppositionsparteien waren, und es deswegen richtig ist, dass es auf Antrag der Opposition überhaupt zu einer solchen Anhörung gekommen ist?
Sind Sie auch bereit, hier im Plenum zu bestätigen,
dass die Terminierung selbstverständlich in den Händen
der Mehrheit und nicht in den Händen der Minderheit
liegt und dass es deswegen Sie, die große Koalition, waren, die den tatsächlich nicht ganz sauberen Vorschlag
gemacht haben: wenn schon in einer Haushaltswoche,
dann schreiten wir am Freitag Nachmittag zu dieser Anhörung? Wir als Minderheit konnten uns gegen diese
durch die Mehrheit bestimmte Terminierung nicht wehren. Sie werden aber doch wohl bestätigen können, dass
trotz allem wenigstens ich an dieser Anhörung teilgenommen habe.
Herr Kollege Montag, ich kann drei Viertel von dem,
was Sie gesagt haben, bestätigen. Das ist richtig.
({0})
Sie hatten mir gesagt: Beantragen Sie die Anhörung,
dann brauchen wir sie nicht zu beantragen! - Das ist in
Ordnung, das haben wir schon oft so gemacht.
Nicht ganz richtig ist die Darstellung der Terminfrage. Wir hatten Ihnen, der Opposition, mehrere Termine angeboten. Wir hatten sogar um eine Ausnahmegenehmigung des Präsidenten für die Haushaltswoche
gebeten. Das ist abgelehnt worden. Daher mussten wir
auf den Termin ausweichen, an dem die Haushaltswoche
beendet war, um noch fristgemäß die Anhörung durchführen zu können. Sie, Herr Kollege Montag, waren anwesend und haben wie immer sachgemäß zu der Anhörung beigetragen.
({1})
Lassen Sie mich noch zu zwei Punkten eine Anmerkung machen. Herr Kollege Montag hat mit Verve die
für Laien schwer zu durchschauende Vorschrift des
§ 47 Abs. 3 ({2}) der Strafprozessordnung vorgetragen.
Das betrifft die Frage der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand. Ich will dazu nur eines sagen, Herr Kollege Montag: Lesen Sie bitte auch Satz 2 und Satz 3. Wir
stellen sicher, dass, wenn Wiedereinsetzung gewährt
wird, sich das wiedereinsetzende Gericht unmittelbar
mit der Haftfrage beschäftigen muss. Aus unserer Sicht
wird Art. 104 Abs. 2 des Grundgesetzes in diesem Fall
eingehalten.
({3})
Daher sehen wir die verfassungsrechtlichen Probleme,
die Sie haben, nicht. Trotzdem, Frau Dyckmans, erlaube
ich es mir und lasse es mir nicht nehmen, Entscheidungen auch des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu hinterfragen. Das Recht nehme ich mir als frei gewählter
Abgeordneter in diesem Hause heraus. Das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen.
({4})
Noch ein weiterer Punkt: Ich bin sehr froh darüber,
dass wir mit diesem Gesetz die Verwarnung mit Strafvorbehalt ausweiten können. Ich habe überhaupt nicht
verstanden, dass in einigen Stellungnahmen dazu geschrieben wurde, eine solche Vorschrift setze das Wertegefühl der Menschen in diesem Land gegenüber der
Geldstrafe außer Kraft. Meine Damen und Herren, wenn
die Schuldfeststellung durch ein Urteil gegeben ist und
lediglich die Geldstrafe sozusagen zur Bewährung ausgesetzt wird, wird das Wertegefühl der Menschen in keiner Weise beeinträchtigt. Viel eher ist das der Fall, wenn,
wie im Mannesmann-Verfahren geschehen, das Verfahren nach § 153 a StPO gegen die Zahlung einiger Millionen Euro eingestellt wird. Das beeinträchtigt das Wertegefühl der Menschen viel mehr als die Ausdehnung der
Verwarnung mit Strafvorbehalt.
({5})
Ein Zweites dazu -
Kollege Stünker, es tut mir Leid, diese Aufzählung
können wir nicht mehr beenden.
Frau Präsidentin, einen Satz muss ich noch sagen dürfen. - Es wurde gesagt, dem Staat gehe Geld verloren,
wenn wir die Verwarnung mit Strafvorbehalt ausdehnen.
Dazu eine Anmerkung: Er spart sogar Geld, Herr Kollege Kauder, und zwar insofern, als dann die Ersatzfreiheitsstrafen weniger werden, die sonst dazu führen würden, dass die Menschen wieder in den Knast müssten.
Der Staat spart also Haftplätze.
Schönen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Modernisierung der Justiz, Drucksa-
che 16/3038. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/3640, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan-
trag auf Drucksache 16/3674? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Antragsteller bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent-
wurf eines Justizmodernisierungsauskopplungsgesetzes
auf Drucksache 16/3282. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3640, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der
Opferentschädigung bei Gewalttaten
- Drucksache 16/1067 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild Dyckmans,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Opferentschädigung bei Terrorakten im Ausland sicherstellen
- Drucksache 16/585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
an dieser Stelle an zwei schreckliche Ereignisse erinnern, die sich bereits vor einigen Jahren abgespielt haben.
Fall Nummer eins. Ein deutscher Staatsangehöriger,
ein Vater, fährt mit seinen beiden Kindern nach Mallorca
und tötet sie dort. Die Mutter, die in Deutschland zurückgeblieben ist, bekommt einen Schock. Sie macht
viele Monate später Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend. Wiederum nach einigen Jahren
gerichtlicher Auseinandersetzung teilt ein deutsches Gericht dieser Mutter mit: In der Sache steht Ihnen ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz eigentlich
zu; aber leider sind Ihre Kinder am falschen Ort getötet
worden. Wären sie auf Helgoland getötet worden, dann
würden Sie Geld bekommen. Aber weil es auf Mallorca
geschehen ist, bekommen Sie nichts.
Fall Nummer zwei. In Mölln und in Solingen brannte
jeweils ein Haus wegen einer neonazistischen Tat ab.
Dabei sind einige türkische Mädchen verbrannt. Sie waren zu Besuch bei ihren türkischen Verwandten, die seit
vielen Jahren in Deutschland lebten. Die Hinterbliebenen der toten Mädchen haben ebenfalls Anträge nach
dem Opferentschädigungsgesetz gestellt. Auch diesen
Hinterbliebenen wurde von einem deutschen Gericht
letztendlich mitgeteilt: Eigentlich haben Sie einen Anspruch; aber leider befinden Sie sich im falschen Verwandtschaftsverhältnis zu den Verwandten, die Sie besucht haben. Wären die getöteten Mädchen Verwandte
ersten oder zweiten Grades gewesen, hätten Sie etwas
bekommen; bei einem Verwandtschaftsverhältnis dritten
Grades bekommen Sie nichts. Es waren nur Kusinen
bzw. Nichten und deswegen bekommen Sie nichts.
Diese beiden Fälle haben mich seit Jahren bewegt. Ich
weiß, dass einige von Ihnen - wir haben viele Male darüber gesprochen - von diesen Fällen auch bewegt waren und bewegt sind. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Versuch unternommen, hier eine gesetzliche
Abhilfe zu schaffen. Wir waren uns unter den Rechtspolitikern und auch unter den Sozialpolitikern eigentlich
so gut wie einig darüber, dass wir den zweiten Fall - da
geht es um Ausländer, die zu Besuch in Deutschland
sind - dadurch lösen wollen, dass wir nicht nur Verwandte ersten und zweiten, sondern auch Verwandte
dritten Grades in den Schutzbereich des OEG aufnehmen, und zwar aus der Überlegung heraus, dass es sich
um Straftaten handelt, die in Deutschland geschehen,
weswegen die Schutzpflicht des deutschen Staates gebietet, nach dem Territorialitätsprinzip auch für solche
Personen die Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz entstehen zu lassen.
Der erste Fall ist zugegebenermaßen etwas komplexer; denn es handelt sich um Straftaten im Ausland. Deswegen haben wir gesagt, dass wir für deutsche Staatsangehörige und ihnen gleichgestellte EU-Ausländer sowie
Ausländer mit festem langjährigen Aufenthalt in
Deutschland wenigstens die Hereinnahme in die Billigkeitslösung des Opferentschädigungsgesetzes erreichen
wollen.
Wir Grünen haben jetzt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Auch wenn die Koalitionsmehrheit
den Rechtspolitikern das zu meinem völligen Unverständnis aus der Hand genommen hat - wir können darüber nicht im Rechtsausschuss beraten; das tut der Sache aber überhaupt keinen Abbruch; das können wir
auch in jedem anderen Ausschuss sachgerecht diskutieren -, würde ich mir wünschen, dass die Tatsache, dass
der Gesetzentwurf von uns kommt, für Sie kein Anlass
wird, ihn abzulehnen. Ich bitte Sie dringend, sich damit
sachlich intensiv zu beschäftigen und in der Sache eine
gemeinsame Lösung zu finden.
({0})
Ich will Sie zum Schluss daran erinnern, das Bundeskanzlerin Merkel am 10. Oktober bei der 30-Jahr-Feier
des Weißen Ringes hier in Berlin erklärt hat, das Opferentschädigungsgesetz sei ein sehr fortschrittliches
Gesetz. Ich darf nun zitieren: Es ist aber eines, das kontinuierlich weiterzuentwickeln und an die sich verändernden Gegebenheiten anzupassen ist.
Genau dies ist der Vorschlag von uns Grünen, nämlich das Opferentschädigungsgesetz den sich ändernden
Gegebenheiten anzupassen und dafür zu sorgen, dass
solche Fälle wie die, die ich beschrieben habe, sich nicht
mehr wiederholen.
Danke.
({1})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Paul
Lehrieder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und
Herren! Lieber Kollege Jerzy Montag, keine Angst: Wir
haben keine Bedenken, einem guten Gesetzentwurf der
Grünen zuzustimmen, aber er muss wirklich gut sein.
({0})
Nicht weil „grün“ draufsteht, werden wir ihn ablehnen.
Wir werden ihn gleichwohl ablehnen.
Wir beraten heute den Antrag der FDP und den Gesetzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz der Grünen. Die Thematik ist nicht neu; Sie haben darauf hingewiesen, Herr Montag. Es geht im Wesentlichen um
tragische Schicksale und um die Erkenntnis, dass für die
Betroffenen etwas getan werden muss. Dennoch lehnen
wir den Antrag der FDP und den Gesetzentwurf hier und
heute ab.
Ursprünglicher Sinn und Zweck des Opferentschädigungsgesetzes ist, demjenigen eine Entschädigung zuzugestehen, den der Staat als Träger des Gewaltmonopols
nicht zu schützen vermochte. Davon erfasst sind deutsche Staatsbürger und Ausländer, die unter § 1 Abs. 4
und 5 des Opferentschädigungsgesetzes fallen. Das Gesetz sieht für Opfer von Gewaltverbrechen nach § 1
Abs. 1 momentan einen Anspruch auf Versorgung vor,
soweit die Schädigung im Geltungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes, also im Inland oder auf einem
deutschen Schiff oder Flugzeug, eingetreten ist. Es gilt
insoweit das Territorialitätsprinzip.
Warum ist das so? Laut amtlicher Gesetzesbegründung trifft den Staat und seine Organe nur in diesem Bereich die Verantwortung für die Sicherheit der Menschen. Das hat dazu geführt, dass bereits in mehreren
Fällen die Entschädigung versagt wurde, weil der Tatort
im Ausland lag. Exemplarisch verweise ich auf den Fall
einer Mutter, deren Kind in Mallorca ermordet wurde Herr Montag, Sie haben gerade dasselbe Beispiel gebracht. Ihr wurde unter Hinweis auf das Territorialitätsprinzip ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz für den Schockschaden vom Bundessozialgericht
versagt.
Für die Betroffenen spielt es keine Rolle, wo das Gewaltverbrechen begangen wurde, denn Trauer und Leid
kennen kein Territorialitätsprinzip. Paradoxerweise kann
aber ein Ausländer, soweit er die Voraussetzungen des
§ 1 Abs. 4 und 5 des Opferentschädigungsgesetzes erfüllt, bei Schädigung in Deutschland einen Versorgungsanspruch erwerben. Hier wird die große Lücke im derzeit gültigen Gesetz deutlich.
Nun bringt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf ein, der das Territorialitätsprinzip über den Weg des § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes aufgeben will. Was Sie hier fordern, liebe
Kolleginnen und Kollegen, hätten Sie in besserer Form
schon lange haben können. Die CDU/CSU-Fraktion hat
mit ihrem kompetenten Referenten Siggi Kauder
({1})
bereits im Jahre 2003 einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt, um eben dieses Problem zu beseitigen.
Rot-Grün hat ihn abgelehnt.
Indem Sie zusätzlich fordern, dass Menschen ohne
deutsche Staatsangehörigkeit, die mit dauerhaft in
Deutschland lebenden Menschen bis zum dritten Grad
verwandt sind und sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, auch noch unter das Opferentschädigungsgesetz fallen sollen, schießen Sie weit über das
Ziel hinaus.
({2})
In Härtefällen ist für diese Personengruppe bereits jetzt
eine Entschädigung nach Paragraph 10 b des Opferentschädigungsgesetzes möglich. Das wissen Sie.
Was die Versorgung deutscher Terroropfer im Ausland angeht, so sei an die Adresse der FDP gesagt: Seit
dem Jahre 2002 sind im Bundeshaushalt beim Generalbundesanwalt Gelder für die Soforthilfe in solchen
Fällen eingestellt, für das Jahr 2007 immerhin
300 000 Euro. In der Vergangenheit haben aus diesem
Topf deutsche Opfer der Terroranschläge in den USA am
11. September und der Attentate von Djerba und Bali erhebliche Zahlungen erhalten. Das zeigt, dass wir diese
Menschen mit ihrem Leid nicht alleine lassen.
Nur für den speziellen Fall der Terrorangriffe eine
Anspruchslösung zu konstruieren, wie es die FDP in ihrer Begründung fordert, ist sicherlich zu kurz gegriffen.
Es geht ganz allgemein um alle Schädigungen im Ausland.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die CDU/
CSU im Kern für die Erweiterung des Opferentschädigungsgesetzes um die Fälle der Schädigung im Ausland
ist. Das können Sie im Gesetzentwurf aus dem Jahre
2003 bereits nachlesen, allerdings nicht in der Form, wie
es die Grünen hier und heute in ihrem Gesetzentwurf
vorlegen.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Rede des Kollegen Lehrieder hat gerade deutlich gemacht, wie unterschiedlich manchmal die Diskussionen
ausfallen, je nachdem, ob man in der Opposition oder in
der Regierung ist. Manches, was man vorher als änderungsbedürftig unterstützt hat, wird auf einmal als wohl
gelungen gelobt, beispielsweise der Härtefonds beim
Generalbundesanwalt. Als wir gemeinsam in der Opposition waren, waren wir, wenn ich mich recht entsinne,
auch gemeinsam der Auffassung, dass es nicht bei dieser
Ermessensentscheidung bleiben soll, sondern dass wir
diejenigen, die ein schweres Schicksal haben, die Opfer
eines Terroranschlages im Ausland geworden sind, mit
Rechtsansprüchen ausstatten wollen.
({0})
Das bleibt auch der Wunsch der FDP. Deshalb haben wir
diesen Antrag eingebracht.
Wie sich die Rolle verändern kann, haben wir auch
bei den Grünen gesehen. Herr Lehrieder, Ihr Hinweis ist
richtig: All das, was die Grünen jetzt vortragen, hätten
sie schon unglaublich lange haben können.
({1})
Sie waren viele Jahre in der Regierung.
Ich erinnere mich an, wie ich finde, sehr gute Berichterstattergespräche und bin deshalb sehr traurig, dass ich
von Ihnen, Herr Lehrieder, die Botschaft höre: Da ändert
sich nichts.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Kollege Kauder war dafür verantwortlich, dass es bei Ihnen einen,
wie ich finde, sehr bemerkenswerten Antrag auf Änderung des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 2003
gegeben hat. Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die
Rede des Kollegen Kauder - ich glaube, das war im Jahr
darauf -, in der er uns Defizite aufgezeigt hat, die von
mir geteilt worden sind.
Ich glaube, dass wir das, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat, dass es nämlich hier im Deutschen
Bundestag Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich in
besonderer Weise für den Schutz der Opfer einsetzen,
nicht so leichtfertig aufgeben sollten, wie das vorhin von
Ihnen gemacht wurde.
({2})
Ich finde, dass wir uns wieder zusammensetzen sollten und dabei schauen sollten, was wir machen können
und was nicht, und dass wir das mit Augenmaß tun sollten. Sie, Herr Lehrieder, haben zu Recht am Antrag der
Grünen kritisiert, dass man das Gefühl hat, da und dort
fehle es an Augenmaß. Wir können uns natürlich gegenseitig in den Forderungen überbieten; zugleich müssen
wir aber sehen, dass das Ganze von den Ländern zu bezahlen ist, die zu Recht von uns erwarten, dass wir auf
das Machbare Rücksicht nehmen. Danach zu suchen,
was einerseits machbar und bezahlbar ist, andererseits
aber auch den Interessen der Opfer gerecht wird, ist, wie
ich finde, des Schweißes der Edlen wert.
Wir bieten jedenfalls unsere Mitarbeit an. Ich bin
auch ganz sicher, dass der Kollege Kauder dafür offen
ist - er ist immer dafür offen gewesen. Auch der Kollege
Montag war bei diesen Gesprächen immer außerordentlich hilfreich. Ich denke, wir sollten den Versuch unternehmen, uns zusammenzusetzen und zu schauen, was zu
machen ist. Für die FDP-Bundestagsfraktion erkläre ich
jedenfalls Bereitschaft dazu.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Opferentschädigungsrecht - das klang auch schon
bei den Ausführungen meiner Vorredner an - beinhaltet
eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten. Es regelt eine eigenständige staatliche Entschädigung jenseits der allgemeinen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe für
diejenigen, die der Staat mit seinen Polizeiorganen nicht
vor einer vorsätzlichen Gewalttat hat schützen können.
Es wurden jetzt Fälle beschrieben, die im Rahmen einer Erweiterung der Opferentschädigung einbezogen
werden sollten. Alle diese Fälle stimmen sehr nachdenklich und es ist schwierig, Fälle wie den der hilflosen
Rentnerin, die überfallen wird, wie den des Missbrauchs
von Kindern oder auch den des Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldige Passanten schwer verletzt
oder getötet werden, zu bewerten. In all diesen Fällen
liegt ein tätlicher Angriff auf Leib und Leben der Betroffenen vor und es kommt auf den zumindest bedingten
Vorsatz der Täter, aber nicht ihre Motive an, damit die
Opferentschädigung greifen kann. Umfang und Höhe
der nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erbringenden Leistungen richten sich nach dem Bundesversorgungsgesetz.
So neu ist das alles allerdings nicht, sondern wir reden
bereits länger darüber; der Kollege Montag hat im Prinzip die Geschichte der Beratungen beschrieben. Auch in
der letzten Legislaturperiode hat es darüber zwischen allen Fraktionen, nicht nur den Koalitionsfraktionen, intensive Beratungen gegeben. Das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales war mit an diesem Prozess beteiligt. Es ist auch deutlich geworden, dass das bisherige
Opferentschädigungsgesetz an einigen Stellen durchaus
einiger Ergänzungen und Änderungen bedarf. Über andere Punkte konnte bei diesem Prozess allerdings keine
Einigung erzielt werden. So könnte man davon sprechen,
dass es zurzeit so eine Art Zwischenergebnis gibt, das allerdings nicht befriedigt. Diejenigen, die sich damit befassen, sind deswegen der Meinung, dass man da noch
einmal herangehen sollte.
Im vorliegenden Entwurf wird zunächst einmal vorgeschlagen, den Personenkreis bei Inlandstaten zu
erweitern. Diese Frage spielte schon bei den parlamentarischen Beratungen zur Novelle des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 1993 eine Rolle. Es ist zu Recht
auf den damaligen Hintergrund hingewiesen worden,
nämlich die Schandtaten in Solingen und Mölln. Die damals vorgenommenen Beschränkungen waren allerdings
politisch gewollt. Auch heute geht es darum - das klang
eben auch ein Stück weit aus Ihren Schlussworten heraus, Herr van Essen -, mit Augenmaß zu argumentieren
und zu schauen, was haushalterisch möglich und tolerabel ist.
Man muss aber auch darüber sprechen, was Akzeptanz findet. Deswegen ist eine generelle Einbeziehung
aller ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden in
den umfassenden Schutzbereich des Gesetzes nicht vertretbar.
({0})
- Ganz ruhig, ich komme Ihnen ja jetzt entgegen, Herr
Kollege Montag. - Ihr Vorschlag, sozusagen die Verwandten dritten Grades einzubeziehen, unter Beibehaltung der Härteregelung für sonstige Touristen und Geschäftsreisende, ist zumindest sehr diskussionswürdig.
Darüber sollte man sprechen. Auf jeden Fall muss man
an dieser Stelle ganz deutliche Grenzen ziehen.
({1})
Ich glaube auch, dass man wahrscheinlich ganz einfach und schnell den Begriff Lebenspartnerschaft einfügen kann, denn das ist lediglich versäumt worden; das
hätte bereits in § 1 Abs. 6 Ziffer 1 des Opferentschädigungsgesetzes eingefügt werden müssen.
({2})
Die Bundesregierung begrüßt, dass der vorliegende
Gesetzentwurf auf so genannte Regelleistungen verzichtet. Das ist objektiv so. Ein solcher Vorschlag wäre
auch aus rechtssystematischen Gründen abzulehnen, da
es an dem entsprechenden so genannten Aufopferungstatbestand fehlt. Ich glaube, wir müssen diese Debatte so führen, dass nicht der Eindruck entsteht, der
Staat könne außerhalb seines Hoheitsgebietes die Menschen so bewahren, dass ihnen kein Leid geschieht, oder
ihnen wirksamen Schutz garantieren. Erwägenswert
wäre von daher allenfalls die Schaffung einer Entschädigungsmöglichkeit aus Billigkeitsmotiven, wie auch
Sie es vorschlagen. Rechtssystematisch bietet sich dafür
eine Anlehnung an die Regelung des § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes an. Ich denke, dass man die genaue Ausgestaltung einer solchen Regelung noch ausführlich diskutieren sollte.
Wenn man einmal einen Strich unter die Beratungen
und den vorliegenden Gesetzentwurf ziehen und eine
Bewertung vornehmen will, passt wieder der Begriff des
Zwischenergebnisses. Im Kern muss man sagen, dass
der Prozess ein Stück weit auch dem Ende der Legislaturperiode zum Opfer gefallen ist. Deshalb wäre es ein
guter Weg, wenn sich an dieser Stelle sowohl die Rechtspolitiker wie auch die Haushaltspolitiker und die Sozialpolitiker noch einmal zusammensetzen und den Versuch
unternehmen würden, unter Einbeziehung der Eckpunkte, die hier von allen Rednern, auch von mir, vorgetragen worden sind, zu einer Regelung zu kommen.
Denn es geht ja nicht um Mehrheitsverhältnisse; das hat
man an jeder Stelle herausgehört. Alle stellen fest, dass
es ein Defizit gibt, dass man nicht zu viel versprechen
darf, dass man die politische Akzeptanz im Auge behalten muss. Ich denke, uns eint das Ziel, den Menschen,
die Opfer von Straftaten werden, auch in den bisher
nicht geregelten Bereichen unter vertretbaren Gesichtspunkten - sowohl was die Finanzmittel wie auch was die
politische Akzeptanz angeht - zu helfen und sie nicht allein zu lassen.
Ich möchte auch gegenüber allen Fraktionen anregen,
einen solchen Prozess zu initiieren. Unser Haus und die
kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind
gerne bereit, diesen Prozess, wie man so schön sagt, ergebnisorientiert zu fördern und zu begleiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Jörn
Wunderlich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grundgedanke des Opferentschädigungsgesetzes ist die Verantwortung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger
vor Gewalttaten und Schädigungen durch kriminelle
Handlungen zu schützen und denjenigen Opfern zur
Seite zu stehen, die nach dem bürgerlichen Recht keinen
hinreichenden Schutz und Schadensersatz in Anspruch
nehmen können.
An dem vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen wir
- ich denke, das geht hier durch alle Reihen - den Versuch zum Paradigmenwechsel weg von der Perspektive
des Staates hin zur Opferperspektive. Besonders deutlich zeigt sich dieser Fakt an den vorgeschlagenen Regelungen zur Entschädigung von Straftaten im Ausland
- diese Sichtweise entspricht auch der Intention meiner
Fraktion - sowie der vorgeschlagenen Anpassung des
Opferentschädigungsgesetzes an das Lebenspartnerschaftsgesetz. Es ist schon erwähnt worden, dass das
letztlich nur vergessen worden ist. Zu unterstützen ist
auch die Forderung, dass weiterhin diejenigen von Entschädigungen ausgeschlossen werden sollen, die durch
eigenes Verhalten, insbesondere durch die Wahl eines
gefährlichen Reiseziels, fahrlässig handeln.
Trotzdem komme ich an einigen kritischen Bemerkungen zu der vorliegenden parlamentarischen Initiative
nicht vorbei. Sie, meine Damen und Herren von den
Grünen, schlagen in Ihrem Entwurf vor, den Kreis der
Anspruchsberechtigten gemäß Opferentschädigungsgesetz auch auf die Menschen auszudehnen, die sich nur
vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten und mit
einem dauerhaft hier lebenden Menschen bis zum dritten
Grad verwandt sind.
Wenn man sich schon richtigerweise dazu entschließt,
§ 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes auszuweiten, dann hätte dies nicht so halbherzig geschehen dürfen. Wie Herr Lehrieder schon gesagt hat: Es ist die Verantwortung des Staates, für die Menschen auf seinem
Territorium einzustehen. Sind denn Menschen, die sich
hier aufhalten und die nicht dritten Grades mit hier Lebenden verwandt sind, schlechtere Menschen? Ihr Vorhaben, aus rein finanziellen Erwägungen nicht alle Opfer
von Gewalttaten auf dem Territorium der Bundesrepublik gleichzustellen und in gleicher Weise zu entschädigen, nenne ich Rechtsansprüche nach Kassenlage gestalten. Ich denke, das darf nicht sein.
({0})
Wir fordern gleiche Entschädigungsleistungen für alle
Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik
Opfer von Gewalttaten werden, unabhängig von ihrer
Staatsangehörigkeit, von ihrem Aufenthaltsstatus oder
ihren verwandtschaftlichen Beziehungen.
Eine weitere kritische Anmerkung. Wenn wir uns mit
der Ergänzung bzw. Erweiterung des Opferentschädigungsgesetzes befassen, dann hätte ich eigentlich erwartet - aber wir befinden uns erst in der ersten Lesung; es
folgen noch die Berichterstattergespräche -, dass wir uns
weiteren notwendigen Änderungen zuwenden. Denn
nach wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbrechen, deren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine
Grundrente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente eines Westdeutschen beziehen. Hier sehe ich noch genügend Raum, um den vorliegenden Gesetzentwurf in den
Ausschussberatungen inhaltlich anzureichern, sofern der
politische Wille für die wirklich großen Schritte vorhanden ist.
Aber immerhin: Der Anfang ist gemacht. Es ist schon
signalisiert worden, dass man konstruktive Berichterstattergespräche führen will, in denen man ausloten kann,
inwieweit diese Forderungen umsetzbar sind. Um mit
den Worten von Aristoteles zu sprechen: „Der Anfang ist
die Hälfte vom Ganzen.“ In diesem Sinne hoffe ich, dass
wir tatsächlich konstruktive Berichterstattergespräche
führen und dass auch die zweite Hälfte dieses Ganzen in
das Gesetzgebungsverfahren einfließen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Siegfried
Kauder das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich bin im Jahr 2002 mit einem ausgearbeiteten Gesetzentwurf unter dem Arm voller Enthusiasmus in den Deutschen Bundestag eingezogen. Es hat
sich dabei um das Gesetz zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes gehandelt. Lassen Sie mich betonen: Ich habe sehr schnell Wegbegleiter über die Fraktionsgrenzen hinaus gefunden. Die Diskussion, die wir
heute führen, zeigt, dass dieses sachliche und konstruktive Arbeitsklima weiterhin besteht. Ich würde darauf
gerne zurückgreifen.
({0})
Es ist so, wie es der Kollege van Essen und der Kollege Montag gesagt haben: Wir hatten unser Ziel fast erreicht. Aber jetzt muss man einmal die Möbel wieder geraderücken. An was ist es eigentlich gescheitert? Es ist
gescheitert an der Kostenfolge für die Länder. Ich habe
damals schon folgenden Gesichtspunkt erwähnt: Das
Opferentschädigungsgesetz beinhaltet ein Territorialitätsprinzip, das schon nach bestehendem Recht leicht
durchbrochen ist. Denn es gilt auch auf deutschen Schiffen und in deutschen Botschaften im Ausland mit einer
Besonderheit: Geschieht eine Straftat auf einem deutschen Schiff, sitzen die Länder sozusagen nicht mit im
Boot. Die gesamte Entschädigung zahlt der Bund; die
Länder sind daran nicht mit einer bestimmten Quote beteiligt.
Man kann nun schnell die Argumentationskette erkennen, auf die sich die Länder berufen: Verlässt ein
Reisender das Schiff und begibt sich auf fremdes Terrain, so ist eine etwaige Entschädigung eine Sache des
Bundes, weil ein Bezug zum Bundesland des Reisenden
nicht besteht. An dieser endlosen Diskussion sind wir
gescheitert, zumal noch das Ende der Legislaturperiode
herannahte.
Ich bin der Meinung, dass man diese Überlegung wieder aufgreifen sollte. In diesem Zusammenhang will ich
nicht verschweigen, dass es eine Bund/LänderArbeitsgruppe gibt, die sich weitergehende Gedanken
gemacht hat. Ich habe auf mehreren Fachtagungen erfahren, wie Opferentschädigungen im Ausland geregelt
werden. In Österreich ist man schon weiter; dort gilt das
Territorialitätsprinzip nicht.
Aber auch in anderen Ländern ist man, was das Verfahren anbelangt, schon weiter als in Deutschland. In
den angelsächsischen Ländern ist die Opferentschädigung völlig anders als bei uns geregelt. Dort gibt es ein
Gremium, das aus ehrenamtlichen Mitarbeitern entsteht,
die nach typisierten Sachlagen entscheiden, ob eine Pauschale gezahlt wird. In wenigen Wochen wird eine
Opferentschädigung zugesprochen. Ist das Opfer damit
nicht einverstanden, kann es ein Rechtsmittel einlegen.
Dann ist der Rechtsweg abgeschlossen.
Deswegen lasse ich diese Diskussion in der BundLänder-Kommission gerne zu. Dort macht man sich Gedanken, ob man Opferentschädigungen nicht mit Pauschalen abarbeiten kann. Denn das derzeit geltende
Opferentschädigungsgesetz ist, was die Abwicklung anbelangt, ein bürokratisches Monstrum. Es gibt im Rahmen des Opferentschädigungsrechtes Verfahren, die
fünf, sechs und sieben Jahre durch mehrere Instanzen
gehen; das sage ich Ihnen ganz klar. Es ist mir lieber, ein
Opfer bekommt weniger, aber sofort und auf der Stelle,
als dass es sich mit einem belastenden Verfahren über
viele Jahre beschäftigen muss.
({1})
Deswegen möchte ich Sie alle recht herzlich dazu einladen, diese Diskussion fortzuführen. In den angelsächsischen Ländern hat sich die Praxis bewährt, dass man
die Entschädigung pauschal abarbeitet. Es gibt aber auch
die andere Überlegung, die Opferentschädigung den Gemeindeversicherungsverbänden zu übertragen, was mir
nicht so schmeckt wie die Pauschallösung. Ich wiederhole: Ich lade Sie alle recht herzlich ein. Ich bin der Meinung, dass die Berichterstatter der letzten Legislaturperiode sich an einen Tisch setzen sollten. Ich begrüße
die Initiative, die Sie gestartet haben. Das ist für mich
ein Merkposten, dieses Gesetz, das ich sicher nicht vergessen habe, wieder gerne mit Ihnen zu debattieren.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/1067 und 16/585 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für Ar-
beit und Soziales liegen soll. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung
der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beiträge und Beitragszuschüsse in der Alterssicherung der Landwirte für das Jahr 2007
- Drucksache 16/3268 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/3637 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gregor Amann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit
für weitere Beitragssenkungen verwenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz ({2}), Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit
für Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwenden
- Drucksachen 16/3091, 16/2509, 16/3637 Berichterstattung:
Abgeordnete Gregor Amann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen stand die mittelfristige und langfristige
Entwicklung der Rentenpolitik im Zentrum der Diskussion. Jetzt geht es um die aktuelle Situation der Rentenversicherungsbeiträge und der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Es bleibt dabei: Kalkulierbarkeit,
Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit sind auch bei diesem
Thema die Orientierungsmarken.
Bereits im Koalitionsvertrag wurde festgelegt, dass
der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf
19,9 Prozent angehoben und gleichzeitig die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 auf 4,5 Prozent sinken
sollen. Vier Jahre lang ist es trotz schwieriger ökonomischer Situation gelungen, die Beitragssätze in der Rentenversicherung stabil bei 19,5 Prozent zu halten. 2005
wurde vereinbart, den Beitragssatz 2007 auf 19,9 Prozent festzulegen und mittelfristig unterhalb eines Beitragssatzes von 20 Prozent zu bleiben, um auch vor dem
Hintergrund der ökonomischen Entwicklung eine solide
Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sicherzustellen.
Nun freuen wir uns über die ökonomische Entwicklung und die heutige finanzielle Situation in der Rentenkasse. Nimmt man die Daten des Schätzerkreises hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung für die nahe
Zukunft zur Kenntnis, dann wäre sogar unter Einhaltung
der Nachhaltigkeitsrücklage von 0,2 Monatsausgaben
ein Beitragssatz von 19,7 Prozent möglich.
({0})
- So verlockend das ist - Sie folgen diesen Verlockungen ja hemmungslos -:
({1})
Es gilt, über den Tag hinauszuschauen, Herr Kollege, finanzielle Solidität zu gewährleisten,
({2})
einen grundsätzlichen Kurs zu halten und nicht zickzack
zu fahren.
({3})
Deswegen sei auf Folgendes hingewiesen: Die Entwicklung würde, wenn wir dem so folgen würden, bei
gleich bleibender Datenbasis dazu führen, dass der Rentenversicherungsbeitrag 2008 auf 20,1 Prozent steigt.
Die bestehende gesetzliche Verstetigungsregelung
sorgt dafür, dass der Rentenversicherungsbeitrag erst
dann wieder gesenkt werden darf, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage 1,5 Monatsausgaben überschreitet. Das
wollen wir nicht. Das wäre nicht gut für die Konjunktur.
Das wäre auch für den Bundeshaushalt nicht gut, weil
dann zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro
({4})
oder Leistungskürzungen, wie das sogar einige vorschlagen, erforderlich sind. Wir lehnen Kürzungen ab.
({5})
Wir wollen keine zusätzlichen Finanzmittel. Wir wollen
Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit.
Deshalb bleibt es bei den 19,9 Prozent, auch damit
wir auf dem langen Pfad bis 2020 unter der Größe von
20 Prozent bleiben. Nicht der schnelle 5-Euro-Blick ist
hier für Berechenbarkeit Ausdruck, sondern derjenige,
der sich auf die Perspektiven verlässt, die auch der SoParl. Staatssekretär Franz Thönnes
zialbeirat durchaus so gesehen hat. Dieses Gremium, das
sich aus Arbeitgebervertretern, Gewerkschaftsvertretern
und Wissenschaftlern zusammensetzt, unterstützt uns
auf diesem Kurs.
Man muss natürlich auch deutlich sagen: An anderer
Stelle senken wir. Wir reduzieren den Arbeitslosenversicherungsbeitrag über das hinaus, was schon beschlossen war; wir reduzieren nämlich jetzt auf 4,2 statt auf
4,5 Prozent. Damit werden die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler um 2,2 Milliarden Euro entlastet. Das
Gesamtvolumen der Entlastungen beträgt sogar 17 Milliarden Euro. Damit wird ganz deutlich: Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden hinsichtlich ihrer
Lohnnebenkosten ein Stück weit entlastet und haben
netto mehr im Portemonnaie.
({6})
Ich will noch hinzufügen, dass man denjenigen, die
nach weiterer Reduzierung rufen, nicht folgen darf. Wir
machen nur das, was solide finanziert werden kann;
denn darauf zählen die Menschen, die wollen, dass es
weiterhin eine gute aktive Arbeitsmarktförderung
gibt. Das ist gewährleistet. Deswegen braucht man auch
den Skeptikern nicht zu folgen, die glauben, die aktive
Arbeitsmarktpolitik würde nicht weitergehen.
Für den Eingliederungstitel für 2007 stehen weiterhin
3,3 Milliarden Euro zur Verfügung, und das, obwohl sogar mit weniger Arbeitslosen gerechnet wird. Darin sind
200 Millionen Euro für ein Integrationsfortschrittsprogramm enthalten, mit dem ganz besonders Menschen gefördert werden sollen, die unsere Hilfe benötigen. Weitere 218 Millionen Euro aus dem Eingliederungstitel
gehen gezielt in die Förderung von Jugendlichen, unter
anderem zur Finanzierung von 12 500 Ausbildungsplätzen in außerbetrieblichen Einrichtungen. Insgesamt stehen 13 Milliarden Euro für aktive Arbeitsförderung in
2007 zur Verfügung. Das ist - gerade angesichts der guten Konjunktur - ein ordentlicher Beitrag, der den Menschen, die keine Arbeit haben, helfen wird, wieder Arbeit zu finden.
Die 317 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die wir jetzt mehr haben im Vergleich zum November des vorigen Jahres, sind wirklich gute Mutmacher, die uns bestätigen, dass das Geld auf diesem Kurs
gut investiert ist. Auch die Senkungen und die Reduzierungen, die stattfinden, werden nichts daran ändern, dass
die Konjunktur weiter gefördert wird; denn der moderaten Belastung von 4 Milliarden Euro stehen 17 Milliarden Euro an Entlastung gegenüber. Das macht 13 Milliarden Euro als Nettoentlastung. Das ist gut für die
Menschen, für die Wirtschaft und für die Konjunktur in
diesem Land und das wird das Land auch weiter nach
vorne bringen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, Sie können das drehen und wenden
wie Sie wollen: Die 13 Milliarden Euro Entlastung, die
Sie jetzt quasi als Geldsegen den Versicherten zurückgeben wollen, haben Sie sich doch am Anfang dieses Jahres bei den Unternehmen längst geholt.
({0})
Durch den „13. Monatsbeitrag“ haben Sie 22 Milliarden
Euro in die Sozialkassen vereinnahmt. Deswegen ist es
nicht redlich, wenn Sie hier behaupten, Sie täten nun etwas ganz Tolles.
({1})
Im Übrigen, Herr Staatssekretär, hat die Anhörung
ganz deutlich gezeigt, dass das Maßnahmenpaket, das
Sie hier heute zu vertreten haben - bestehend aus der
Rentenbeitragssatzerhöhung, einer Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags, einer absehbaren Erhöhung
des Krankenversicherungsbeitrags und der Mehrwertsteuererhöhung -, im Ergebnis das Wachstum im Jahr
2007 erheblich belastet und die sozialen Sicherungssysteme wieder destabilisiert.
({2})
Der Sachverständige Professor Horn hat in der Anhörung gesagt, dass das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr durch den negativen Impuls aus dem Regierungshandeln um über 1 Prozentpunkt niedriger
ausfallen wird, als es bei einer ungebremsten Entwicklung der Fall wäre. Statt 2,5 Prozent plus x werden wir
1,5 Prozent minus x haben. Das bedeutet, das Wachstum
wird wieder unter die Beschäftigungsschwelle sinken.
Das ist das Problem.
({3})
Die Trendumkehr führt auch dazu, dass die sozialen
Sicherungssysteme wieder stärker belastet werden.
Deswegen kann ich nicht verstehen, Herr Staatssekretär,
dass die Bundesregierung im Rentenversicherungsbericht für 2007 und 2008 weiterhin von einem Beschäftigungszuwachs ausgeht: 2007 um 0,6 Prozent und 2008
um 0,4 Prozent. Das ist sehr optimistisch, zumal im Jahr
2006 bei einem Wachstum von 2,4 Prozent gerade einmal ein Beschäftigungszuwachs von 0,5 Prozent erzielt
wurde. Da passt doch irgendwo etwas nicht zusammen.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, ein Beitragssatz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent wäre eigentlich ausreichend. Die Koalition verteidigt die Erhöhung auf 19,9 Prozent - auch Sie haben das getan damit, dass ansonsten schon im Jahr 2008 eine Anhebung des Beitragssatzes auf über 20 Prozent erforderlich
wäre. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass mit dem
Rentenversicherungsbericht 2006 die Rechtfertigung für
diese Argumentation entfallen ist; denn in vier von neun
Szenarien der möglichen Entwicklung von Beschäftigung und Löhnen - Herr Staatssekretär, aus meiner Sicht
sind das die wahrscheinlicheren - muss der Beitragssatz
für 2008 auf über 20 Prozent angehoben werden. Das ist
die Wahrheit.
({4})
Ich habe den Bericht dabei und könnte Ihnen meine Ausführungen im Detail belegen.
Man muss schon ein sehr großer Optimist sein, wenn
man Ihren Versprechungen folgt, der Beitragssatz zur
Rentenversicherung könne über 2012 hinaus - in der Debatte heute Morgen hieß es sogar: bis 2020 - bei
19,9 Prozent gehalten werden.
({5})
Herr Schaaf, von den Koalitionsfraktionen hat zumindest die SPD diesbezüglich aufgrund der Erfahrungen in
der Vergangenheit jede Glaubwürdigkeit verloren.
({6})
Sie haben immer wieder versprochen, die Beiträge würden zumindest stabil bleiben, wenn nicht sinken. Im Ergebnis sind sie aber von Mal zu Mal weiter angestiegen.
({7})
Immer deutlicher wird - darauf will ich noch hinweisen -, dass die große Koalition bei den Lohnzusatzkosten einen Paradigmenwechsel vorbereitet. Spielräume
für eine Absenkung der Gesamtbelastung werden vorsätzlich nicht genutzt. Was mich besonders hellhörig
macht, ist, dass man des Öfteren aus den Reihen der Koalition hört, eine weitere Absenkung sei jetzt nicht mehr
so vordringlich. Herr Weiß, dabei war im Koalitionsvertrag doch alles noch recht klar formuliert: Die Lohnzusatzkosten, die Sozialversicherungsbeiträge, sollten dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden.
({8})
In 2007 liegen sie bei 40,6 Prozent.
Ich frage Sie, wann in dieser Legislaturperiode wollen
Sie an die Schwelle von 40 Prozent herankommen, wenn
nicht jetzt? Der Beitragsdruck in der Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung lässt es doch überhaupt nicht wahrscheinlich erscheinen, dass die Beiträge
noch einmal sinken könnten. Im Gegenteil: Sie werden
sich weiter noch oben entwickeln. Das ist die Realität.
({9})
Jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Hinweis - der
Kollege Brandner hat das neulich im Ausschuss versucht -,
Sie hätten die 40 Prozent längst mehr als erreicht; der
Prozentsatz sei sogar niedriger, weil der Pflegebeitrag
gegenfinanziert werde und man den Krankenversicherungszusatzbeitrag der Arbeitnehmer separat betrachten
müsse. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen
Koalition, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen,
dass Sie hier versuchen, das Ziel einfach umzudefinieren
und die Argumentation nur noch auf die gemeinsam von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten Beitragssätze abzustellen.
({10})
Ich finde, Sie verpassen eine Chance, wenn Sie nicht
alle Spielräume für eine Beitragssenkung konsequent
nutzen. Erst Ihre Politik des fehlenden Mutes schafft
nämlich die Voraussetzungen dafür, dass die Beiträge
tatsächlich steigen müssen. Jeder Unternehmer würde
anders handeln. Er würde den Spielraum ausschöpfen,
um die gute Entwicklung des Jahres 2006 zu verstärken
und fortzusetzen.
({11})
Zum Schluss: Es ist bedrückend, zu sehen, dass die
große Koalition offensichtlich den gleichen Fehler
macht wie die Vorgängerregierung unter Gerhard
Schröder 1998. Damals hat man bei Amtsantritt und gut
laufender Konjunktur keine Reformen eingeleitet. Man
hat die Bürger erst einmal kräftig zur Ader gelassen.
({12})
Als die Konjunktur dann wieder nachgelassen hat, hat
man zunächst mit unsystematischen Einsparmaßnahmen
begonnen. Erst nach einem Lernprozess von einigen Jahren wurden mit der Agenda 2010 echte Reformansätze
eingebracht. Unser Land hat wirklich nicht so viel Zeit
zu verlieren, dass man diesen Leidensweg noch einmal
gehen könnte.
({13})
Dazu fällt mir nur ein: Ein kluger Mensch lernt aus
den eigenen Fehlern, ein weiser Mensch lernt aber auch
aus den Fehlern anderer. An Weisheit scheint es in dieser
großen Koalition wahrlich zu fehlen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Beitragsfestsetzung schafft die
große Koalition die Voraussetzungen für Verlässlichkeit
und Sicherheit bei der Rente einerseits und für eine dauerhafte Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge andererseits. Wir geben eine klare Botschaft an die Wirtschaft und an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Deutschland: Die Chancen für mehr Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland werden von der großen
Koalition und ihrer Politik nach Kräften unterstützt und
beflügelt.
({0})
Herr Kollege Dr. Kolb, was Sie gesagt haben, stimmt
schlichtweg nicht.
({1})
Peter Weiß ({2})
Sie haben behauptet, die Bundesregierung würde in ihrem am Mittwoch im Kabinett verabschiedeten Rentenversicherungsbericht den Beschäftigungszuwachs der
nächsten Jahre zu optimistisch schätzen.
({3})
- Doch, das haben Sie gesagt. Sie haben gesagt, wir würden von zu optimistischen Annahmen ausgehen.
Sie haben gesagt, dass die Beitragssätze zur Rentenversicherung für die kommenden Jahre höchst problematisch seien.
({4})
Herr Kolb, der Sozialbeirat hat in seiner Stellungnahme
zum Rentenversicherungsbericht genau das Gegenteil
von dem, was Sie sagen, festgestellt.
({5})
Ich zitiere:
Der Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich, dass die mittelfristigen ökonomischen Grundannahmen für den
Rentenversicherungsbericht 2006 vorsichtiger
({6})
als in den vergangenen Jahren festgesetzt wurden.
… Die Berechnungen zeigen, dass sich die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich
verbessert hat und mittelfristig weitgehend gesichert ist.
Das ist ein positives Urteil und das Gegenteil von
dem, was Sie, Herr Kolb, hier festgestellt haben.
({7})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Sie haben es selbst vorgetragen, es wurde der Komparativ verwendet. Die Schätzung ist ehrlicher als in der
Vergangenheit, aber leider doch noch ein bisschen zu optimistisch.
Das habe ich aber gar nicht in meiner Rede gesagt.
Sie hätten mir zuhören sollen. Ich habe gesagt: In vier
von neun Varianten - es werden drei verschiedene Beschäftigungsszenarien mit drei verschiedenen Lohnentwicklungsszenarien kombiniert - kommen 20 oder mehr
Prozent Rentenversicherungsbeitrag in den Jahren 2008,
2009 und 2010 heraus. Stimmen Sie mir zu, dass damit
Ihre Behauptung nicht mehr haltbar ist, es sei auf jeden
Fall - egal was passiert - möglich, den Rentenversicherungsbeitrag bei 19,9 Prozent zu halten? Ich verstehe
nicht, warum die Bundesregierung diese Szenarien überhaupt in ihren Rentenversicherungsbericht aufnimmt,
wenn solche Negativszenarien von vornherein ausgeschlossen werden können. Können Sie mir zustimmen?
({0})
Herr Dr. Kolb, nein, ich kann Ihnen nicht zustimmen,
weil Sie hier bewusst Nebelkerzen werfen.
({0})
Es war schon immer so, dass im Rentenversicherungsbericht mehrere Varianten dargestellt werden. Wir richten uns politisch zu allen Zeiten an der mittleren Variante
aus. Sie ist einigermaßen sicher gerechnet und besagt,
dass wir die Beitragsziele, die wir uns politisch gesetzt
haben, einhalten können, nämlich dass wir unter
20 Prozent Beitragssatz bei der Rentenversicherung bleiben.
({1})
Sie können den gesamten Rentenversicherungsbericht
und den Bericht des Sozialbeirates lesen. Sie werden
Folgendes finden: Bei diesem Rentenversicherungsbericht ist die Bundesregierung hinsichtlich des Wirtschaftswachstums und der Entwicklung der Zahl der
Beschäftigten von deutlich niedrigeren Annahmen ausgegangen als der Sachverständigenrat. Deswegen rechnet die Bundesregierung mit deutlich konservativeren
Annahmen als die Sachverständigen. Sie hat sich also
auf die besonders sichere Seite gestellt.
({2})
Deswegen können Sie das, was im Rentenversicherungsbericht steht, nicht plötzlich problematisieren und nicht
kritisieren, dass da vielleicht zu gut gerechnet worden ist
oder Unwägbarkeiten drin sind.
({3})
Sie müssten eigentlich sagen: endlich eine Bundesregierung, die bewusst vorsichtig rechnet, der von den
Sachverständigen sogar vorgehalten werden kann, dass
sie viel besser hätte rechnen können. Das ist das Ergebnis des Rentenversicherungsberichtes. Deswegen ist das,
was Sie hier festgestellt haben, schlichtweg falsch.
({4})
Sie haben, Herr Kollege Kolb, echte Reformen angekündigt. In der nächsten Sitzungswoche findet die erste
Lesung eines großen Reformvorhabens, der Rente mit 67,
statt. Die große Koalition geht echte Reformen an. Es ist
die FDP, die sich in einem Bundesparteitagsbeschluss
leider darauf festgelegt hat, dass sie gegen die Rente mit
67 ist.
({5})
Peter Weiß ({6})
Wenn hier jemand Reformen macht, dann doch die große
Koalition und nicht die FDP.
({7})
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, sehr gerne. Selbstverständlich darf Kollege Kolb
eine weitere Frage stellen.
Ich mache allerdings darauf aufmerksam, dass sich
die Antwort ein wenig auf die Frage beziehen sollte.
({0})
- Ja. Das habe ich schon gemerkt.
Frau Präsidentin, ich würde es sehr begrüßen, wenn
sich die Antwort auf meine Frage beziehen würde.
Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass die FDP auf ihrem Bundesparteitag in Rostock in einem Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik fair
und generationengerecht gestalten“ sechs Punkte beraten
und fünf von ihnen beschlossen hat,
({0})
zum Beispiel einen Schritt, Herr Kollege Brauksiepe, zu
dem Sie sich nie werden durchringen können, nämlich
die Frühverrentung, die uns pro Jahr immerhin 7 Milliarden Euro kostet, unverzüglich zu beenden? Darüber hinaus ging es um die Altersteilzeit, die 58er-Regelung
und weitere Maßnahmen wie die Entfernung des Kündigungsschutzes als eigenständiger Tatbestand im Kündigungsschutzgesetz.
({1})
Das waren sehr mutige Beschlüsse.
({2})
Was die Anhebung des regulären Renteneintrittsalters
betrifft, haben wir uns noch nicht festgelegt.
Könnte es sein, dass eine Frage mit einem Fragezeichen enden muss? Den Werbeblock zu Ihrem Parteitagsantrag können wir vielleicht verschieben.
({0})
Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass wir uns im Hinblick auf die Anhebung des
regulären Renteneintrittsalters noch nicht festgelegt haben,
({0})
weil wir glauben, dass man nicht einfach, wie Sie es getan haben, das bisherige feste Renteneintrittsalter durch
ein höheres festes Regeleintrittsalter ersetzen kann, sondern dass man von neuem überlegen und den Menschen
einen flexiblen Renteneintritt ermöglichen muss,
Kollege Kolb, versuchen Sie, zum Abschluss Ihrer
Frage zu kommen.
- weil zwei Drittel der Menschen in diesem Land genau das wollen?
({0})
Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr
Kollege Weiß?
({1})
Herr Kollege Dr. Kolb, zunächst danke ich Ihnen sehr
herzlich für die Darlegung der Beschlüsse des Bundesparteitags der FDP.
({0})
Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Bundesvorsitzende der FDP, der verehrte Herr Westerwelle, erst
kürzlich in einem Interview mit einem landesweit bekannten politischen Magazin geäußert hat
({1})
- ich wollte im Parlament keine Schleichwerbung machen; deswegen habe ich mich neutral ausgedrückt -,
dass sich die FDP gegen die Festlegung einer neuen Regelaltersgrenze bei 67 Jahren ausspreche.
({2})
Im Übrigen würden wir uns sehr freuen, wenn die
FDP im Rahmen der parlamentarischen Beratungen unseres Gesetzentwurfs, die wir im Frühjahr des nächsten
Jahres durchführen werden,
({3})
doch noch die Kurve kriegen und unserem Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Beratung zustimmen
würde.
({4})
Peter Weiß ({5})
Wir sind sehr gespannt und freuen uns darauf.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, den Beitragssatz
zur Rentenversicherung schreiben wir bei 19,9 Prozent
fest. Das bedeutet, so die Voraussage des Schätzerkreises, dass er bis zum Jahr 2012 konstant bleibt. Ausgerechnet dabei wollen FDP und Grüne nicht mitmachen.
Sie wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung für
das kommende Jahr bei 19,7 Prozent festsetzen. Der
Schätzerkreis sagt uns voraus, dass der Beitragssatz
dann im Jahr 2008 auf 20,1 Prozent angehoben werden
müsste; das hat der Staatssekretär schon vorgetragen.
({7})
Die Verstetigungsregelung hätte zur Folge, dass der Beitragssatz bis zum Jahre 2010 bei 20,1 Prozent verbleiben
würde.
Jetzt muss jeder von uns - das kann auch jeder - eine
ganz einfache Rechnung aufmachen und sich fragen:
Welche Lösung ist für die deutsche Wirtschaft und für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem
Strich günstiger? FDP und Grüne wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent bis zum
Jahre 2010 auf 20,1 Prozent erhöhen. CDU/CSU und
SPD wollen ihn im nächsten Jahr bei 19,9 Prozent festsetzen und diese Beitragssatzhöhe bis zum Jahre 2012
beibehalten. Unter dem Strich ist die Lösung von Grünen und FDP für die deutsche Wirtschaft und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich teurer als
der Vorschlag der großen Koalition.
({8})
Um es ganz einfach zu sagen: Durch die Anträge von
FDP und Grünen würden die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich belastet. Die
große Koalition hingegen entlastet die Wirtschaft und
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({9})
Diese Wahrheit muss deutlich ausgesprochen werden.
({10})
FDP und Grüne wollen einen rentenpolitischen Zickzackkurs. Die große Koalition sorgt für Verlässlichkeit.
Das ist ein Faktum.
({11})
Das ist nicht nur die Sichtweise eines Abgeordneten
der Koalition, sondern das hat auch der Sozialbeirat ausdrücklich festgestellt; auch darauf hat der Herr Staatssekretär bereits hingewiesen. Ich zitiere den Sozialbeirat
noch einmal:
Angesichts der mit der Anhebung des Beitragssatzes auf 19,9 Prozent mittelfristig verbundenen Stabilisierung des Beitragssatzes begrüßt der Sozialbeirat diesen Schritt … Mit der dadurch möglichen
Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Rentenversicherung kann nach Einschätzung des Sozialbeirats einer anhaltenden Diskussion über die finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung
in der Öffentlichkeit entgegengewirkt werden.
Genau so ist es. Deswegen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen: Machen wir einen vernünftigen Schritt, sorgen
wir für einen stabilen Rentenversicherungsbeitrag!
Kollege Weiß, nachdem mithilfe der FDP Ihre Redezeit mehr als verdoppelt wurde,
({0})
bitte ich Sie, jetzt wirklich zum Schluss zu kommen.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin, ich wollte, um bei Ihnen
noch Gnade zu finden, gerade zu meinem Schlusssatz
ansetzen.
({0})
Einen Satz.
Wir wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung
so festsetzen, dass er möglichst viele Jahre stabil bleibt.
Unter dem Strich bringt das den Arbeitnehmern und der
Wirtschaft eher Entlastung als Belastung. Gleichzeitig
senken wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf
den seit 20 Jahren niedrigsten Stand. Das ist die gute
Botschaft für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und die Wirtschaft in unserem Land.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Volker
Schneider das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 0,2 Prozentpunkte oder 0,4 Prozentpunkte rauf bei
der Rentenversicherung, 0 Prozentpunkte oder 0,3 Prozentpunkte runter bei der Arbeitslosenversicherung, das
waren die zentralen Diskussions- und Streitpunkte in unserer heutigen Diskussion.
Volker Schneider ({0})
({1})
- Das war schon etwas vorher, lieber Kollege Schaaf. Das waren die bisherigen Beratungen in Plenum, Ausschuss und Anhörungen: Null-Komma-Beträge, und
doch hatte man teilweise den Eindruck, es würden die
für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland
entscheidenden Debatten ausgetragen.
Die Annahme, dass eine Senkung der Lohnnebenkosten in dem hier diskutierten Umfang wesentliche
Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit auf die Beschäftigungssituation hat, gehört - schöne Grüße an Herrn Rüttgers! - in
den Zyklus der Lebenslügen. Arbeitnehmer, die sich Gedanken um ihre Rente machen oder die sich vor Arbeitslosigkeit fürchten, hätte bei unseren Diskussionen wahrscheinlich das Gefühl beschlichen, im falschen Film zu
sitzen. Die Bereitschaft, in eine Versicherung einzuzahlen - das gilt auch für die Sozialversicherung -, und die
Frage, wie viel man zu zahlen bereit ist, sind doch auch
davon abhängig, was man im Schadensfall von dieser
Versicherung erwarten darf. Fragen Sie sich doch einmal, mit wie viel Zustimmung man unter den pflichtversicherten Kunden der Renten- oder Arbeitslosenversicherung rechnen darf! Oder umgekehrt: Meinen Sie
nicht, es ist einem Arbeitnehmer relativ egal, ob er nun
19,5 oder 19,7 oder 19,9 Prozent an die Rentenversicherung zahlt, wenn er dafür das Gefühl hat, seinen Lebensabend unter halbwegs gesicherten Bedingungen gestalten zu können?
({2})
- Erwarten Sie von der Linken etwas anderes?
({3})
Wir haben im Ausschuss signalisiert, dass wir uns mit
einer Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf
19,9 Prozent hätten einverstanden erklären können.
Doch missverstehen Sie das nicht als grundsätzliche Zustimmung zu Ihrer Rentenpolitik! Denn es ist uns nicht
entgangen - Frau Schewe-Gerigk, passen Sie jetzt auf;
das ist, glaube ich, auch Ihr Anliegen -,
({4})
dass die Anhebung des Beitragssatzes entbehrlich gewesen wäre, hätte die Bundesregierung nicht die Beitragszahlung für Empfänger von Arbeitslosengeld II halbiert.
({5})
Wir wünschen uns im Interesse der Beitragszahler wieder mehr Kontinuität in der Rentenversicherung. Dann
macht es keinen Sinn, den Beitrag so auf Kante zu nähen, wie sich das die Grünen und die FDP wünschen.
({6})
Derzeit wird insbesondere in den Reihen der CDU/
CSU - wir haben es eben aber auch von Staatssekretär
Thönnes gehört - fast schon penetrant betont, dass der
Sozialbeirat die mittelfristigen ökonomischen Grundannahmen ausdrücklich als realistisch lobt. Dazu eine Anmerkung: Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Ihre Annahmen dieses Mal mehr der Realität entsprechen, als wir
das von der Vergangenheit gewohnt sind. Ich wünsche
mir das insbesondere deshalb, weil wir wieder mehr Verlässlichkeit in der Rentenversicherung brauchen. Mit
dem Vertrauen der Menschen in die Zukunft der Rente
ist die Politik viel zu lange viel zu fahrlässig umgegangen.
({7})
Nicht alle teilen Ihre Zuversicht so, wie der Sozialbeirat das tut. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge
nennt den Bericht realitätsfern und kritisiert insbesondere die Annahmen zur künftigen Lohnentwicklung.
({8})
Bei unterstellten Lohnsteigerungen von im Mittel
2,5 Prozent muss man wirklich keine Kassandra sein,
um eine gewisse Skepsis an den Tag legen zu können.
({9})
Wie dem auch sei, in die Verlegenheit, Ihnen halbherzig zustimmen zu müssen, haben Sie uns gar nicht erst
gebracht, weil Sie die Arbeitslosenversicherung nun
wirklich bis an die Grenze fahren. Dabei behaupten Sie
auch noch: Die Beitragssatzsenkung führt zu keinen Einschränkungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die
aktive Arbeitsmarktförderung wird auf hohem Niveau
stabilisiert. Dies wird auch in den Folgejahren der Fall
ein. - Herr Staatssekretär, das haben einige Sachverständige in der Anhörung durchaus anders gesehen.
({10})
Wir haben das Gefühl, dass sich einige der Arbeitslosen angesichts ihrer realen Situation schlicht verhöhnt
vorkommen, weil sie nicht verstehen können, dass auf
der einen Seite Überschüsse erzielt und deshalb die Beiträge gesenkt werden, während ihnen auf der anderen
Seite oft nicht adäquat geholfen wird.
Überschüsse müssen denen zurückgegeben werden,
die Beiträge gezahlt haben. Zusätzliche arbeitsmarktpolitische Leistungen und die längere Zahlung des Arbeitslosengeldes I auch, ohne dass dabei Ältere gegen
Jüngere ausgespielt werden, hätten den Betroffenen
mehr geholfen als eine Senkung der Beiträge, die denen,
die zwischenzeitlich arbeitslos geworden sind, definitiv
nicht hilft. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die fünf Wirtschaftsweisen bringen den widersprüchlichen Reformkurs der Bundesregierung zutreffend auf
den Punkt - ich zitiere -:
Trotz der guten konjunkturellen Entwicklung blieben die Anstrengungen in den wichtigen Politikfeldern im Dickicht widerstreitender Interessen stecken.
Diese Bilanz des Sachverständigenrats bezüglich der
Politik der großen Koalition im ersten Regierungsjahr
gilt auch für das Vorhaben der Bundesregierung, das
heute zur Abstimmung steht.
Der Sachverständige Professor Horn - er wurde von
der Koalition als Sachverständiger benannt und schon
vielfach zitiert ({0})
hat Ihnen die konjunkturdämpfende Wirkung der Erhöhung der Mehrwertsteuer bescheinigt.
({1})
Hinzu kommt die Erhöhung der Renten- und der Krankenkassenbeiträge. Laut Professor Horn droht eine Senkung des Wachstums bis unterhalb der Schwelle, ab der
eine positive Beschäftigungswirkung erzielt wird. Sie
halten aber eisern an der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung fest. Offenbar brauchen Sie die wortgetreue
Umsetzung des Koalitionsvertrages, weil die Koalition
Ihnen sonst vielleicht auseinander bricht.
({2})
Aktuelle Entwicklungen und neu entstandene Spielräume interessieren Sie dabei einfach nicht. Dazu zählen
im Bereich der Rentenversicherung höhere Einnahmen
in Höhe von 700 Millionen Euro und Einsparungen des
Bundes beim zweckgebundenen Bundeszuschuss für
Kindererziehungszeiten in Höhe von 300 Millionen
Euro. Auf der Belastungsseite der Rentenversicherung
steht die gesunkene Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld I, die zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden.
Dann wird nämlich nur noch die Hälfte der Versicherungsbeiträge entrichtet, was auch wieder 2 Milliarden
Euro ausmacht.
Durch die unerwarteten Steuermehreinnahmen wird
Ihnen der Spielraum gegeben, die Einsparung bei den
Rentenbeiträgen für Langzeitarbeitslose auszusetzen.
({3})
Mit den dadurch gewonnenen zusätzlichen 2,1 Milliarden Euro könnten Sie im kommenden Jahr auf die geplante Beitragssatzsteigerung bei der Rentenversicherung verzichten.
({4})
Das hat uns auch der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund bestätigt.
({5})
Die rentenversicherten Arbeitnehmer würden dadurch
entlastet.
Angesichts der, wie wir heute gehört haben, knapp
4 Millionen Arbeitslosen und dem weiterhin hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen bei bislang fehlender Förderung der Beschäftigung ist die weitere Senkung der
Arbeitslosenbeiträge ein Signal zum falschen Zeitpunkt.
({6})
Frau Kollegin Pothmer, die Bundesagentur für Arbeit
ist nicht zum Sparen da, sondern sie soll qualifizieren
und vermitteln.
({7})
Über die progressive Beitragssenkung wollen wir die arbeitsmarktpolitisch effektivere Steuerung und Gestaltung der Lohnnebenkosten erreichen. Die Koalitionsfraktionen bleiben mit ihrem Antrag weit dahinter
zurück.
Wir wollen die ungenutzten Überschüsse für eine arbeitsmarktpolitische Prioritätensetzung der BA verwenden.
({8})
Für uns steht ein Sonderprogramm für Ausbildung
an erster Stelle, das wir auch weiterhin - also auch nach
dem absehbaren Beschluss der Senkung des Beitrages
auf 4,2 Prozent - fordern. Die hierfür erforderlichen
650 Millionen Euro sind gut angelegt; denn sonst sind
die Ausbildungsverlierer von heute die fehlenden Fachkräfte von morgen.
({9})
Auch darüber haben wir heute Morgen in der Debatte
bereits gesprochen.
Aber auch die bessere Qualifizierung bisher vernachlässigter Gruppen bzw. die gezielte Förderung der
Beschäftigungsfähigkeit von älteren Arbeitslosen gehören auf die Agenda der Bundesagentur für Arbeit.
Meine Ausführungen sollen verdeutlichen, dass wir
Grüne die Weichen anders stellen. Wir lehnen die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge und die weitere
Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ab
und werden Ihrem Gesetzentwurf daher nicht zustimmen.
({10})
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Gregor Amann
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um die Anhebung des Rentenversicherungsbeitrages auf 19,9 Prozent zum 1. Januar 2007 zu begründen,
reichen eigentlich zwei Wörter aus - meiner Ansicht
nach hat das auch keiner der Oppositionsredner widerlegt -: Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, und zwar
sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber.
({0})
Wenn wir jetzt den Beitragssatz auf 19,9 Prozent anheben, dann bleibt er für mehrere Jahre stabil und wir müssen die 20-Prozent-Grenze nicht überschreiten.
Herr Dr. Kolb hat vorhin wieder einmal behauptet, die
SPD sei bei den Beitragssätzen in der Rentenversicherung nicht glaubwürdig.
({1})
Wenn man die Beiträge in der Rentenversicherung über
Jahrzehnte hinweg betrachtet, dann wird deutlich, dass
gerade in der Zeit Ihrer Mitregierung die Rentenversicherungsbeiträge den größten Sprung gemacht haben.
({2})
Insofern frage ich mich, wer glaubwürdiger ist: die SPD
oder Herr Dr. Kolb?
({3})
Es ist durchaus legitim, zu fordern, den Beitrag kurzfristig nicht über 19,7 Prozent anzuheben. Aber das führt
bei den Beiträgen zu einer Achterbahnfahrt oder zu steigenden Zuschüssen in die Rentenkasse aus Steuermitteln
im Jahr 2008. Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf verhindern. Wir werden nachher über die Alternativen Zickzackkurs oder Verlässlichkeit abstimmen.
({4})
Ich komme nun zu den beiden Anträgen der Opposition. Zunächst zu den Grünen: Auf Ihr Progressivmodell
will ich angesichts der Kürze meiner Redezeit jetzt nicht
eingehen. Wir werden über diesen Themenkomplex
noch diskutieren. Wie Sie wissen, gibt es eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung zum Thema Niedriglohnsektor.
Was die Verwendung der Überschüsse der Bundesagentur für Qualifizierungs- und Förderangebote angeht, darf ich Sie daran erinnern, dass Herr Weise - immerhin Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für
Arbeit - im Ausschuss ausgeführt hat, dass der Eingliederungstitel im nächsten Jahr mit 3,3 Milliarden Euro in
der gleichen Höhe im Haushalt eingestellt ist wie in diesem Jahr, und zwar bei niedrigeren Arbeitslosenzahlen.
Das bedeutet pro Kopf also mehr.
Alle Anforderungen der lokalen Agenturen wurden
befriedigt. Wie uns mitgeteilt wurde, wurde keine einzige abgelehnt. 218 Millionen Euro der Gesamtsumme
werden gezielt für die Förderung von Jugendlichen eingesetzt, unter anderem zur Finanzierung von 12 500 Berufsausbildungen in außerbetrieblichen Einrichtungen.
Wir Sozialdemokraten begrüßen das und halten weitergehende Forderungen, wie sie in Ihrem Antrag gestellt
werden, nicht für sinnvoll.
Unser Ziel kann es nicht sein, den Markt mit außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen zu überschwemmen und
die Wirtschaft damit aus ihrer Verantwortung zur Schaffung betrieblicher Arbeitsplätze zu entlassen.
({5})
Zum Antrag der FDP: Sie wollen den Beitragszahlern
in Form von weitergehenden Beitragssenkungen ihr
Geld zurückgeben.
({6})
Das klingt zunächst einmal vernünftig,
({7})
aber Sie verschweigen dabei, dass die Bundesagentur für
Arbeit seit 1988 Zuschüsse in zweistelliger Milliardenhöhe aus dem Bundeshaushalt bekommen hat.
({8})
Wenn Sie die kumulierten Überschüsse mit dem
Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr und in den
nächsten Jahren verrechnen, dann bleibt für längere Zeit
nichts mehr für eine Beitragssenkung übrig, nicht einmal
für die, die wir heute Abend beschließen wollen.
({9})
Was den zweiten Teil Ihres Antrags hinsichtlich der
effizienteren Strukturen in der Arbeitsverwaltung angeht, handelt es sich, glaube ich, um die übliche NiebelKlausel in FDP-Anträgen zur Bundesagentur.
({10})
Sie wollen offensichtlich nicht wahrnehmen, dass die
Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit bereits in
Gang ist.
Wir werden Ihren Antrag aus diesem Grund ablehnen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie werden gestatten, dass ich zum Rentenversicherungsbeitrag nichts mehr sage. Ich habe den Eindruck,
dass ich gegen 21.40 Uhr FDP, Grüne und Linke nicht
mehr davon überzeugen kann, dass unser Gesetzentwurf
vernünftig ist. Insofern gebe ich die Hoffnung auf.
Kollege Dr. Kolb, schade und außerordentlich bedauerlich ist allerdings, dass die FDP der Senkung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung nicht
zustimmt. Schließlich sind wir Ihrem Ansinnen nachgekommen, freie Spielräume bei der Bundesagentur für
Arbeit zu nutzen.
({0})
Das will ich einmal so festhalten, Herr Kollege Dr. Kolb.
Sie haben schon einmal einen Antrag eingebracht; darüber haben wir bereits diskutiert. Natürlich haben Sie
gewusst, dass wir uns auf diesem Weg bewegen.
({1})
Daher konnten Sie den jetzigen Antrag ungehindert einbringen. Er ist von der Grundintention her sicherlich vernünftig. Wir werden das so machen. Umso bedauerlicher
ist, dass Sie sich einer weiteren Beitragssatzsenkung verschließen.
({2})
- Richtig, sogar verweigern.
Es ist klar, dass das Geld bei der Bundesagentur für
Arbeit nicht für irgendwelche Zwangsbeglückungsmaßnahmen ausgegeben, sondern denjenigen zurückgegeben
wird, die es erwirtschaftet haben: den Beitragszahlern in
unserem Land, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern.
({3})
Das heißt, der Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung sinkt nicht um 2 Prozentpunkte, sondern um
2,3 Prozentpunkte auf 4,2 Prozent. Dieser Beitrag kann
in den nächsten Jahren gehalten werden. Die Arbeitgebervertreter haben uns in der Anhörung mit auf den Weg
gegeben, dass Beitragssatzsenkungen dann am meisten
Sinn machen, wenn sie nachhaltig sind.
({4})
Genau das machen wir jetzt. Wenn sich die gute Arbeitsmarktentwicklung fortsetzt, wird man sehen, ob weitere
Spielräume für Beitragssatzsenkungen entstehen.
Herr Dr. Kolb, lassen Sie mich ein Stück weit meiner
Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, auf welchen
Rat Sie seit neuestem hören. Sie bemühen seit der Anhörung Herrn Professor Horn, der - zugegeben - gesagt
hat, dass die Mehrwertsteuererhöhung einen stark
dämpfenden Effekt haben werde. Ich finde, es ist bemerkenswert, dass Sie ausgerechnet diesen Mann zum Kronzeugen Ihrer Politik machen. Herr Dr. Kolb, es interessiert mich, ob Sie dem Herrn Professor Horn auch an
anderer Stelle folgen. In der Anhörung hat er behauptet
- Sie waren dabei -:
Deutschland ist heute sehr wettbewerbsfähig, wir
haben die niedrigsten Arbeitskostensteigerungen
innerhalb des Euroraumes seit längerer Zeit.
({5})
Er sagt weiter:
Demnach hätte die Lohnsteigerung um 1 bis 2 Prozentpunkte höher ausfallen können, ohne dass es zu
einer nachhaltigen Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit gekommen wäre.
({6})
Eine verrückte Welt, kann ich dazu nur sagen. Herr Kollege Dr. Kolb, vielleicht erläutern Sie uns das einmal.
Oder kann es vielleicht nicht doch sein, dass Sie nur das
herausgesucht haben, was Sie gebrauchen konnten?
Wenn ja - das soll ja gelegentlich vorkommen -, dann
geben Sie es zu.
Tatsache ist jedenfalls, dass der gute Sachverständige
Horn mit seiner Meinung zur Mehrwertsteuererhöhung
ziemlich alleine dasteht. Ich möchte zitieren - das ist
heute über die Agenturen gelaufen -:
„Wir denken, dass die Dynamik nach Bremsspuren
zu Beginn des nächsten Jahres doch trägt und der
Aufschwung weitergeht“, erklärte vor kurzem IfoKonjunkturexperte Klaus Abberger.
Ein weiteres Zitat:
„Den robusten Konjunkturaufschwung wird auch
die Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr
nicht aufhalten können“, meint auch PostbankChefvolkswirt Bargel.
({7})
Diese Zitate ließen sich beliebig fortsetzen. Lassen wir
uns einfach überraschen, wie es im nächsten Jahr aussieht.
Abschließend möchte ich noch auf eines hinweisen,
weil Sie gesagt haben, wir deuteten etwas um.
Kollege Müller, da der Kollege Kolb nicht so lieb
war, auch Ihnen die Redezeit zu verlängern, müssen Sie
jetzt bitte Ihren Schlusssatz sprechen.
Ich will nur auf eines hinweisen: Es lässt sich im „Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft“
nachlesen, dass die Sozialversicherungsbeiträge endlich
unter 40 Prozent liegen werden. Ich stelle Ihnen die Unterlage gern zur Verfügung. Erstmals seit 1995 wird die
Summe der paritätisch finanzierten Sozialversicherungsbeiträge im kommenden Jahr vermutlich die 40-ProzentMarke unterschreiten. Ich finde - auf besonderen
Wunsch von Frau Pothmer sollte ich das festhalten -, das
ist ein guter Tag für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes über die Festsetzung der Beitragssätze in
der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beiträge und
Beitragszuschüsse in der Alterssicherung der Landwirte
für das Jahr 2007, Drucksache 16/3268. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/3637, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15 b. Unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/3091 mit dem Titel „Überschüsse der
Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen
verwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist
die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Antragsteller angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3637 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/2509 mit dem Titel
„Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es gibt keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit gegen die Stimmen der Antragsteller angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({0}), Martin Zeil, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Fortentwicklung der Internationalen Rechnungslegungsstandards im Rahmen der Präsidentschaft Deutschlands in EU und G8 thematisieren
- Drucksache 16/3341 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Hartfrid
Wolff hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Internationale Bilanzierungsstandards werden für die Wirtschaft in Deutschland immer wichtiger. Kapitalmarktorientierte Unternehmen müssen die IFRS anwenden. Für
Konzernabschlüsse anderer Unternehmen und für Einzelabschlüsse aller Kapitalgesellschaften besteht ein
Wahlrecht zur Anwendung der internationalen Rechnungslegungsvorschriften. Gleichzeitig muss weiterhin
ein Abschluss nach dem deutschen HGB, auch aufgrund
des Maßgeblichkeitsgrundsatzes für steuerliche Zwecke,
erstellt werden.
Der Großteil deutscher Unternehmen besteht aus mittelständischen, nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen. 8 Prozent davon bilanzieren nach IFRS, andere
planen, dazu überzugehen. Der Druck auf die mittelständische Wirtschaft, nicht nur nach HGB zu bilanzieren,
wächst. Für die Kreditgewährung und auch beim Rating
hat ein IFRS-Abschluss immer größere Bedeutung. Deshalb ist es dringend geboten, dass eigene Standards für
kleine und mittlere Unternehmen schneller verwirklicht
werden.
({0})
Die internationalen Bilanzierungsstandards sind in
der derzeitigen Form für die meisten mittelständischen
Unternehmen nicht geeignet. Ihnen liegt als Grundgedanke unter anderem die Kapitalmarktorientierung der
Gesellschaften zugrunde. Die Bundesregierung hat auf
mehrere Anfragen der FDP-Fraktion mitgeteilt, dass sie
unsere Sorge bezüglich der Kompatibilität der internaHartfrid Wolff ({1})
tionalen Rechnungslegungsstandards mit der stark mittelstandsorientierten deutschen Wirtschaftsstruktur und
den Besonderheiten des deutschen Gesellschaftsrechts
teilt. Hier ist vor allem die Kommanditgesellschaft mit
ihrem jederzeit kündbaren Gesellschaftskapital zu erwähnen.
Vielfach steht gerade für kleine und mittelständische
Unternehmen, aber auch für große Familienunternehmen
in Deutschland die über Generationen gehende Werterhaltung im Vordergrund, welche ihren Niederschlag
auch in der Rechtsform findet. Deshalb sind den Entscheidern sowohl im IASB als auch in der EU-Kommission die besonderen deutschen Interessen des Mittelstands zu verdeutlichen und deshalb sind eigene Formen
der Bilanzierungsstandards für den Mittelstand
schnellstmöglich zu entwickeln.
({2})
Deutsche Unternehmen müssen vielfach nicht nur die
IFRS anwenden. Zum Beispiel bei einer Börsennotierung in den USA besteht auch für deutsche Unternehmen
eine zusätzliche Bilanzierungspflicht nach den amerikanischen Standards. Am 27. Februar dieses Jahres hat
man sich auf einen Konvergenzfahrplan zwischen IFRS
und den amerikanischen Bilanzierungsstandards bis
2008 geeinigt. Der Ausgang ist noch offen.
Die Annäherung der Bilanzierungsstandards ist
grundsätzlich zu befürworten. Es ist wichtig, gegenüber
dem Verhandlungspartner Vereinigte Staaten eine starke,
einheitliche und europäische Position zu vertreten.
({3})
Gerade die Einheitlichkeit der europäischen Position ist
hier bedeutsam.
Die Präsidentschaft Deutschlands in der EU und der
G 8 bietet die ideale Grundlage, die Interessen der deutschen Wirtschaft verstärkt nach außen zu tragen und deren bessere Berücksichtigung zu fördern. Es ist traurig,
Herr Staatssekretär, dass dieses Thema in den Planungen
zur EU-Ratspräsidentschaft bisher mit keinem Wort erwähnt ist. Vor diesem Hintergrund fordert die FDP die
Bundesregierung auf, sich erstens auf europäischer
Ebene für eine stärkere Berücksichtigung der Interessen
deutscher Unternehmen, insbesondere des Mittelstandes,
bei der Fortentwicklung der IFRS einzusetzen, zweitens
darauf hinzuwirken, dass die Anwendung der IFRS für
nicht kapitalmarktorientierte, mittelständische Unternehmen weiterhin auf freiwilliger und nicht auf verpflichtender Basis erfolgt, und, dass Deutschland drittens in
der EU und der G 8 auf eine langfristige und sichere Finanzierung des IASB hinwirkt und die Konvergenz mit
den Amerikanern vorantreibt.
({4})
Rechnungslegungsvorschriften haben für die Außendarstellung von Unternehmen eine besondere Bedeutung
und sie beeinflussen auch die Unternehmenskultur; das
darf man nie vergessen. Dabei sind natürlich die Interessen von Anlegern und in- und ausländischen Investoren
sowie von Wettbewerbern und Geschäftspartnern deutscher Unternehmen und von Kreditinstituten zu berücksichtigen. Andererseits muss auch eine individuelle
Entscheidungshoheit im Rahmen der Bilanzierungsvorgaben bestehen bleiben, zum Beispiel beim Maßstab der
Werterhaltung.
Aufgrund der dargestellten wachsenden Relevanz internationaler Rechnungslegungsstandards ist es von herausragender Bedeutung, die deutschen Interessen und
insbesondere die Interessen des Mittelstandes in den
Entwicklungen der internationalen Bilanzierungsstandards zu stärkerer Bedeutung zu verhelfen. Die Präsidentschaft Deutschlands in der EU und der G 8 bietet die
ideale Grundlage, diese Interessen verstärkt nach außen
zu tragen und durchzusetzen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einem attraktiven Finanzplatz gehört ein modernes und transparentes Bilanzrecht. Dass wir alle daran
interessiert sind, haben die konstruktiven Beratungen
zum Bilanzrechtsreformgesetz in der vergangenen Legislaturperiode gezeigt. Hierbei spielt aufgrund eines
globalisierten Marktes auch eine Rolle, dass die Bilanzierungsregelungen möglichst international akzeptiert
werden.
({0})
Für kapitalmarktorientierte Unternehmen sind wir mit
den International Financial Reporting Standards, IFRS,
auf einem guten Weg. Für kleine und mittlere Unternehmen können diese Standards noch nicht die Lösung sein.
Eine Anpassung an die Belange von kleinen und mittleren Unternehmen ist für die Bilanzierung deutscher Unternehmen wichtig.
({1})
Dies haben sowohl die Bundesregierung als auch die
Koalitionsfraktionen in der Vergangenheit deutlich gemacht.
Schon im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD
haben wir uns für eine Fortentwicklung bestehender Regelungen ausgesprochen. Wörtlich heißt es dort:
Die Arbeiten auf EU-Ebene zur Schaffung einer
einheitlichen konsolidierten Bemessungsgrundlage
werden wir aktiv mitgestalten, um ein modernes
und wettbewerbsfähiges Bilanzsteuerrecht zu entwickeln.
Weiter heißt es:
Die Modernisierung des Bilanzrechts und die wechselseitige Anerkennung deutscher, europäischer
und amerikanischer Rechnungslegungsvorschriften
sind vordringliche Maßnahmen zur Stärkung des
Finanzplatzes Deutschland.
Darüber hinaus haben wir in den zurückliegenden
Monaten intensive Gespräche mit betroffenen Unternehmen, Banken, Wirtschaftsprüfern und anderen Sachverständigen geführt. Die Klausurtagung der Arbeitsgruppe
der CDU/CSU-Fraktion im Januar 2007 wird dieses
Thema zum Gegenstand haben.
({2})
Dankenwerterweise haben Sie, liebe Kollegen der
FDP, zur Diskussion beigetragen, indem Sie allein in
diesem Jahr drei Kleine Anfragen zu diesem Thema gestellt haben.
({3})
Mit Ihren Fragen haben Sie sehr deutlich auf die Probleme bei der Umsetzung internationaler Bilanzierungsstandards für den deutschen Mittelstand hingewiesen.
Die Antworten der Bundesregierung waren sehr detailliert und gaben gute Hinweise auf den derzeitigen Stand
des Verfahrens.
({4})
Vor dem Hintergrund der Anfragen und der Antworten ist mir heute etwas unverständlich, warum Sie diesen
Antrag vorlegen; denn Ihre Forderungen in den Anfragen sind jeweils weitestgehend erfüllt worden.
({5})
Auch halte ich die Aussage in Ihrem Antrag, durch
das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, über das wir im
kommenden Jahr diskutieren werden, solle die Rechnungslegung nach HGB an die internationalen Standards, IFRS, angenähert werden, für durchaus diskussionsbedürftig. Zuvor ist von uns erst einmal die Frage
zu klären, ob wir uns von der Einheitsbilanz, also der
einen Bilanz für die Besteuerung und den Gläubigerschutz, ohne weiteres verabschieden wollen.
({6})
Zwei Bilanzen bedeuten zweimal Bürokratiekosten.
Auch die Bundesregierung hat sich dazu wesentlich
vorsichtiger geäußert. Sie will das Bilanzrecht zwar modernisieren und nicht mehr zeitgerechte Wahlrechte abschaffen; eine Annäherung an internationale Bilanzierungsmaßstäbe muss ihres Erachtens jeweils im
Einzelfall geprüft werden.
Sie stellen Forderungen an die Bundesregierung auf.
Unter den Nrn. 1 und 2 fordern Sie die Bundesregierung
auf, sich sowohl beim International Accounting Standards Board als auch bei der EU-Kommission für die Interessen des deutschen Mittelstandes einzusetzen. Die
Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage
auf Drucksache 16/704 macht die Haltung der Bundesregierung hinsichtlich der Einwirkung auf den IASB deutlich. Darin heißt es:
Der IASB ist eine weltweit tätige private Organisation von Rechnungslegern. Er arbeitet im Bereich
der Rechnungslegung eng mit den nationalen Standardsettern zusammen.
Auf Initiative gerade des Deutschen Rechungslegungs Standards Committee arbeitet der IASB derzeit an
einer Änderung des International Accounting
Standard 32. Das ist genau der, zu dem Sie eben richtigerweise dargestellt haben, dass er durch die Umqualifizierung von Eigen- in Fremdkapital bei Personengesellschaften den kleinen und mittleren Unternehmen Sorge
bereitet.
Ob der IAS 32 nach einer Änderung für deutsche mittelständische Unternehmen geeignet ist, lässt sich erst
beurteilen, wenn die geänderte Fassung vorliegt. Wenn
der Entwurf vorliegt, dann sind die deutschen Unternehmen aufgefordert, dazu intensiv Stellung zu nehmen,
was - das nur als Nebenbemerkung - bei der ursprünglichen Verabschiedung des IFRS nicht nur von der Bundesregierung, sondern offensichtlich auch von den Unternehmen selbst vergessen wurde. Rechtsverbindlich
für europäische Unternehmen werden die vom IASB erlassenen IFRS erst durch die Anerkennung seitens der
EU.
Sie haben die Bundesregierung gefragt, ob sie auf europäischer Ebene Einfluss nimmt. Die Bundesregierung
hat Ihnen bereits mitgeteilt, dass sie selbstverständlich in
den betreffenden EU-Gremien vertreten ist und dort sehr
wohl die Interessen deutscher Unternehmen wahrnimmt.
({7})
- Das ist ihre Pflicht, auch ohne dass sie von der FDP
dazu aufgefordert wird. Ich will Ihnen ja nachweisen,
dass das Pferd nicht mehr zum Reiten getragen werden
muss, sondern schon auf der Bahn ist.
({8})
Darüber hinaus sehen wir keine Notwendigkeit für
eine gesonderte Initiative der deutschen Präsidentschaft.
Es ist ausgesprochen wichtig - Sie haben sehr deutlich
darauf hingewiesen -, europäisch einheitlich vorzugehen, um die deutschen Interessen durchzusetzen. Ein
Sonderweg kann da eher schaden als nützen. Deshalb
glauben wir, dass der Weg der Regierung richtig ist, die
Interessen Deutschlands im europäischen Kontext zu
vertreten.
In Nr. 3 Ihres Antrags fordern Sie die Regierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass die Anwendung der Internationalen Bilanzierungsstandards bei mittelständischen Unternehmen auch weiterhin auf freiwilliger
Basis erfolgt.
({9})
Ich frage Sie: Wieso können Sie diese Frage beantworten, bevor Sie überhaupt wissen, wie die internationalen
Bilanzierungsstandards für mittelständische Unternehmen aussehen?
({10})
- Die Frage muss nicht von uns beantwortet werden. Wir
müssen den Entwurf der Standards sehen und können
dann entscheiden, ob diese Standards im mittelständischen Bereich freiwillig anzuwenden sind oder ob sie so
passend für unsere Unternehmen sind, dass wir sie sogar
verpflichtend machen sollten.
({11})
- Die Wirtschaftsminister der Länder beurteilen natürlich den jetzigen und nicht den künftigen IFRS. Den
können sie noch nicht kennen, weil er noch nicht vorliegt.
Unabhängig davon hat das Bundesministerium eindeutig klargestellt, dass es weder geplant ist, die IFRS
zur Besteuerungsgrundlage zu machen, noch geplant ist,
dass sie sich maßgeblich auf die steuerliche Gewinnermittlung auswirken.
Der vierte Forderungspunkt verweist darauf, dass sich
die Bundesregierung in den Verhandlungen zum Konvergenzfahrplan zur gegenseitigen Anerkennung von
IFRS und US-GAAP, den amerikanischen Bilanzierungsstandards, für die Interessen der deutschen Wirtschaft stark machen soll.
Ganz offensichtlich haben Sie die Antworten auf Ihre
Fragen gar nicht gelesen. Dann hätten Sie nämlich erkennen können, dass die Bundesregierung das seit Monaten, wenn nicht seit Jahren auch tut. Auch da gibt es
keinen Bedarf, zusätzlich von Ihnen aufgefordert zu
werden.
Abschließend zu Ihrer Forderung nach Mitwirkung an
einer langfristigen und sicheren Finanzierung des
IASB. Die Bundesregierung ist in den einschlägigen
europäischen Gremien vertreten, um eine angemessene
Lösung zur Sicherstellung der Finanzierung des IASB zu
finden. Wir vertreten die Auffassung, dass es sich hierbei
um ein privates Unternehmen handelt und deshalb die
freiwillige Finanzierung durch die Unternehmen die
oberste Option sein sollte.
Liebe Kollegen der FDP, da verwundert es schon sehr,
dass ausgerechnet Sie in dem Augenblick, in dem es finanzielle Schwierigkeiten gibt, sofort nach staatlicher
Finanzierung rufen. Eigentlich wäre es an Ihnen, gegenüber den mittelständischen Unternehmen deutlich zu
machen, dass es im eigenen Interesse dieser Unternehmen liegt, dass der IASB auch mit deutscher Beteiligung
finanziert wird.
Das Erste, was Sie tun: Sie schreien nach staatlicher
Förderung. Das passt nicht so richtig in Ihr Konzept, da
Sie ja sonst von Subventionsabbau und staatlichem
Finanzabbau sprechen.
Wir haben ausreichend Diskussionsstoff für die Debatten zum angekündigten Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Ich glaube, dass die Antworten auf die Anfragen seitens der Regierung eine gute Grundlage sind.
Wir werden die aufgeworfenen Fragen im nächsten Jahr
diskutieren. Ich freue mich darauf. Ich würde mich
freuen, wenn all das, was Ihnen geantwortet wurde, bei
Ihnen auch ankäme.
Diese Regierung braucht nicht zum Jagen getragen zu
werden. Sie ist Motor dieser Initiative. Wir werden sie
dabei unterstützen.
({12})
Den Beitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen
wir zu Protokoll.1)
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich ein sehr unerotisches Thema, das
wir heute Abend besprechen, aber es ist hoch interessant.
Denn die internationalen Rechnungslegungsstandards sind ein wichtiges Thema für die deutsche Wirtschaft. Die zunehmende Bedeutung der Standards dürfen
wir nicht unterschätzen. Ich bin in diesem Punkt mit den
Damen und Herren Abgeordneten der FDP-Fraktion
ganz einer Meinung, wie auch Sie, Frau Tillmann.
Sie haben allerdings - darauf hat Frau Tillmann
schon hingewiesen - die einzelnen Punkte Ihres Antrages auch schon zum Gegenstand einer Reihe von
schriftlichen Fragen gemacht. Den Antworten der Bundesregierung werden Sie entnommen haben, dass wir
dem Thema die nötige Aufmerksamkeit widmen, und
zwar unabhängig von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und dem G-8-Gipfel. Um genau zu sein: Wir tun
dies bereits seit den Verhandlungen zur IAS-Verordnung
- IAS steht für: International Accounting Standards und die begannen bekanntlich im Jahre 2002. Wie schön,
dass jetzt endlich auch die Wirtschaftspartei, die Kolleginnen und Kollegen aus der FDP, auf den Geschmack
gekommen sind.
Wir haben Ihnen auch ein höchst persönliches JuniorTrainingsprogramm geboten. Ich stelle fest, verehrter
Herr Wolff, Sie waren ein gelehriger Schüler, sonst hätten Sie nämlich einen solch schönen Antrag nicht stellen
können. Leider ist der Antrag überflüssig, weil all das,
was Sie darin fordern, bereits gemacht wird.
({0})
1) Anlage 4
Es ist gerade so, als ob Sie Joachim Löw auffordern
würden, er solle endlich das Training für die deutsche
Fußballnationalmannschaft übernehmen. Aber das
macht er schon lange.
Genauso machen wir das auch. Die Standards spielen
eine wichtige Rolle für die Unternehmen aus Deutschland und Europa, die an der New Yorker Börse gelistet
sind. Es ist zeitaufwendig und kostenintensiv, wenn sie
zusätzlich zu ihrem IFRS-Abschluss, also dem International-Financial-Reporting-Standards-Abschluss, noch
einen Abschluss nach amerikanischen Standards vorlegen müssen.
({1})
Auf europäischer Seite müssen wir deshalb entschlossen auf eine baldige Anerkennung der IFRS einwirken.
Dafür hat sich Frau Bundesministerin Zypries auch persönlich gegenüber Kommissar McCreevy eingesetzt.
Die EU-Kommission wird den Konvergenzprozess in
den nächsten zwei Jahren aktiv begleiten
({2})
und für gleiche Bedingungen für Emittenten innerhalb
und außerhalb der Gemeinschaft sorgen. Man muss uns
nicht, wie Frau Tillmann es schon gesagt hat, zum Reiten zu scheuchen. Wir machen das.
Wir haben aber selbstverständlich auch die Belange
der nicht an den Kapitalmärkten notierten Unternehmen
im Blick. In der Arbeitsgruppe des IASB, des International Accounting Standards Board, zum Thema „IFRS für
kleine und mittlere Unternehmen“ treten wir dafür ein,
für mittelständische Unternehmen echte Erleichterungen und vor allem praktikable Regelungen zu schaffen.
({3})
- Wir arbeiten, wir schwätzen nicht!
({4})
Was nützen die besten Standards, wenn sie in der Praxis
zu kompliziert sind und Unternehmen plötzlich ohne Eigenkapital dastehen? Allerdings ist noch offen, inwieweit das IASB dem nachkommen wird. Umso wichtiger
ist es, dass mittelständischen Unternehmen eine vollwertige Alternative zu den IFRS zur Verfügung steht. Dieses
Ziel verfolgen wir in Deutschland mit der Erarbeitung
eines Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes.
({5})
Auch das ist Ihnen gesagt worden. Offensichtlich haben
Sie da aber nicht gut zugehört.
({6})
- Hören Sie mir doch jetzt wenigstens einmal zu. Sie
könnten noch etwas lernen.
({7})
Auf EU-Ebene gibt es nach der letzten Erhöhung der
Schwellenwerte für kleine und mittlere Unternehmen
Überlegungen, weitere Erleichterungen im Zusammenhang mit den Bilanzrichtlinien vorzunehmen. Dabei
möchte ich betonen: Die Überlegungen gehen keineswegs dahin, dem Mittelstand die Anwendung von IFRS
vorzuschreiben. Daher sehe ich auch keinen Handlungsbedarf für die deutsche Ratspräsidentschaft und erst
recht nicht für die G-8-Präsidentschaft.
({8})
Dies gilt im Übrigen auch für die Frage nach der
IASB-Finanzierung. Der Ecofin-Rat hat sich im Juli einhellig dafür ausgesprochen, das bisherige Finanzierungssystem auf der Grundlage freiwilliger Beiträge zunächst
fortzusetzen.
({9})
- Da dürft ihr ruhig klatschen; das ist gut. - Herr Kley
hat als deutsches Mitglied der IASC-Foundation bei den
Unternehmen in Deutschland erfolgreich für die Sache
geworben, wofür ihm nochmals herzlich gedankt sei. Es
handelt sich also nicht um eine staatliche Intervention.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion.
Ihr Rundumschlag in Sachen Rechnungslegung - der
war ja sehr spannend und sehr schön - in allen Ehren,
Sie müssen sich aber am Ende entscheiden, was Sie wollen: international akzeptierte Standards oder hundert
Prozent HGB. Beides passt jedenfalls nicht ganz zusammen.
({10})
Wir können ja noch einmal ein ganz persönliches
Kolloquium veranstalten.
({11})
Es war jedenfalls sehr nett mit Ihnen.
Vielen Dank.
({12})
Die Reden der Kollegen Jerzy Montag von den Grü-
nen und Klaus Uwe Benneter von der SPD nehmen wir
zu Protokoll.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3341 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der
Transparenzanforderungen in Bezug auf
Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten
Markt zugelassen sind, und zur Änderung der
Richtlinie 2001/34/EG ({0})
- Drucksachen 16/2498, 16/2917 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 16/3644 Berichterstattung:
Abgeordnete Georg Fahrenschon
Frank Schäffler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Aussprache
eine halbe Stunde dauern soll. Gibt es Widerspruch? Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Nina Hauer von der SPD-Fraktion das
Wort.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute abschließend über die Umsetzung der
EU-Transparenzrichtlinie in nationales Recht. Dabei
geht es um einen einheitlichen europäischen Standard,
der für mehr Transparenz in börsennotierten Unternehmen sorgen soll.
Es gibt ja derzeit eine öffentliche Debatte nicht nur in
der Politik, sondern auch in den Medien darüber, welche
Rolle Private-Equity-Unternehmen am Finanzmarkt und
in unserer Unternehmenslandschaft spielen. Am beachtenswertesten bei diesen ist, dass sich ihre Geschäfte
zum größten Teil im Verborgenen abspielen.
Unser Interesse ist aber eigentlich, dass der Finanzmarkt in Deutschland transparenter und offener wird;
denn die Anleger müssen darauf vertrauen können, dass
die Bilanz des Unternehmens, in das sie investieren wollen, richtig ist, dass die kursrelevanten Informationen,
die notwendig sind, um Entscheidungen zu treffen, regelmäßig und rechtzeitig erfolgen und dass es Informationen darüber gibt, wem das Unternehmen gehört und
wie sich die Eigentumsverhältnisse verändern.
({0})
Deswegen haben wir bei der nationalen Umsetzung
darauf geachtet, die Meldeschwelle, ab der eine Veränderung von Unternehmensanteilen, zum Beispiel dadurch, dass sich ein Anteilseigner einkauft, bekannt gemacht werden muss, von 5 auf 3 Prozent abzusenken.
Die FDP spricht sich in ihrem Antrag vehement dagegen
aus. Lieber Kollege Schäffler, ich kann das verstehen;
der Kampf gegen den Abstieg auf 5 Prozent und dann
auf 3 Prozent mag eine FDP-Eigenschaft sein.
({1})
Für Ihre Partei kann ich das akzeptieren,
({2})
für den Finanzmarkt aber nicht. Denn die großen Finanzmärkte, mit denen wir uns vergleichen sollten, haben
schon längst niedrigere Meldeschwellen. Großbritannien
hat 3 Prozent, Italien 2 Prozent. Sie sprechen in Ihrem
Antrag davon, dass die meisten Länder eine höhere Meldeschwelle hätten. Ich sage Ihnen bei allem Respekt vor
diesen Ländern - Slowakei, Zypern, Estland -: Das sind
keine Vorbilder und nicht die Konkurrenten, mit denen
unser Finanzmarkt sich messen muss.
Deswegen sollten wir uns so orientieren, dass wir unseren Anlegern mehr Transparenz bieten können. Dadurch soll auch öffentlich deutlich werden, wem Unternehmen gehören. Wir wollen mit dieser Meldeschwelle
ja auch verhindern, dass sich jemand anschleicht. Wir
haben die Veränderungen im Fall der Deutschen Börse
alle öffentlich nachvollziehen können. Es muss für ein
Unternehmen gar nichts Schlechtes sein, wenn jemand
seine Anteile langsam aufstockt. Aber bei der schlechten
Präsenz auf unseren deutschen Hauptversammlungen
kann es schon Auswirkungen haben, wenn jemand seinen Anteil von 2 auf 3 Prozent erhöht. Dadurch können
unter Umständen wesentliche Unternehmensentscheidungen beeinflusst werden. Das ist der Grund, warum
wir wollen, dass dieser Vorgang, der an sich in Ordnung
ist, transparenter erkennbar wird.
Was bei der Diskussion um die Umsetzung der EURichtlinie immer eine Rolle spielt, ist die Frage, ob das
eins zu eins geschehen ist oder nicht. Wir bekennen uns
zu der Partei, der wir angehören; manche bekennen sich
zu dem Fußballverein, dem sie angehören. Aber muss
man denn aus der Frage einer Eins-zu-eins-Umsetzung
eine Religionsfrage machen? Wir haben die Richtlinie
„eins zu eins plus“ umgesetzt. Wir haben natürlich die
Wahlrechte, die uns die Europäische Union einräumt,
genutzt, um damit auf unsere spezielle Situation eingehen zu können. Ich meine, das ist uns auch gelungen.
Wir haben bei den Halbjahresberichten, die zwischen den Jahresabschlüssen liegen, darauf geachtet,
dass die Prüfungen der Prüfstelle materiell und nicht formell sind. Von einer formellen Prüfung hat kein Anleger
etwas; er hat nur etwas von einer materiellen Prüfung.
Wir wollen, dass sich unsere Anleger auf die Prüfung
verlassen können.
Wir haben aber umgekehrt auch gesagt, wir brauchen
nicht noch mehr Bürokratie und keine unnötige Belastung für die Unternehmen. Das ist auch der Grund,
warum wir auf die Durchsicht durch Wirtschaftsprüfer
verzichtet haben. Das war nicht nur der Vorschlag einiger Marktteilnehmer, sondern es war unser politischer
Wille, dass an dieser Stelle keine unnötige Bürokratie
geschaffen wird.
({3})
Die Prüfung von Halbjahresberichten erfolgt dann,
wenn es einen Anlass dazu gibt, nicht stichprobenartig.
Auch das haben wir nach langem Abwägen beschlossen,
damit es weniger Bürokratie gibt, aber ein deutliches Signal an die Investoren erfolgt, dass ein Unternehmen,
wenn es Unregelmäßigkeiten oder anderen Anlass zur
Prüfung gibt, ordentlich geprüft wird.
Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass, wie es in
der Richtlinie vorgesehen ist, die Zeitrahmen, die wir geben, so nah am realen Marktgeschehen sind, dass die
Unternehmen sie auch einhalten können. Wenn Zwischenmitteilungen abgegeben werden müssen, dann ist
es weniger gut, diese in einem starren Zeitrahmen einzufordern; vernünftiger ist es, da für Flexibilität zu sorgen,
wie das auch andere große Finanzmärkte machen. Ich
habe gerade schon Großbritannien erwähnt. Wir haben
uns daran ein Beispiel genommen. Ich finde, das steht
dem deutschen Finanzmarkt gut an.
({4})
Wir legen eine Entschließung vor, an der sich alle
Fraktionen des Parlaments beteiligen. Denn wir wollen,
dass die Umstellung, wonach Meldungen nicht mehr in
deutschen Tageszeitungen, in den Börsenpflichtblättern,
erscheinen sollen, sondern auf Internetplattformen
- diese sollen nach diesem Gesetz europaweit zugänglich sein und in denen sollen europaweit Informationen
gesammelt werden -, einer Prüfphase unterzogen wird.
Es wird eine Frist von anderthalb Jahren geben. Wir fordern von unserer Regierung einen Bericht darüber, wie
diese Umstellung funktioniert hat.
({5})
Wir wollen unsere Investoren und Anleger nicht verwirren. Jemand, der gerne in der Zeitung nachliest, wie
sich die Situation des Unternehmens, in das er investiert,
verändert hat, soll die Chance haben, das auch weiterhin
auf diese Weise zu tun. Wir müssen aber nachprüfen, ob
die Anleger diese Möglichkeit in Anspruch nehmen.
Deswegen legen wir diese Entschließung vor und fordern die Bundesregierung zu einem Bericht auf. Ich
denke, das ist dem Regelungsanlass angemessen. Ich
freue mich, dass die Abstimmung darüber einvernehmlich erfolgt ist.
Ich denke, dass wir im Rahmen der nationalen Umsetzung dieser Richtlinie ein Gesetz beschließen, das dazu
beitragen wird, dass wir europaweit Standards haben
werden, die für mehr Transparenz und die für Großinvestoren, aber auch für Kleinanleger für mehr Informationen über Unternehmen, in die sie investieren, sorgen werden. Das stärkt den Finanzplatz Deutschland.
Deswegen können wir mit dieser Umsetzung sehr zufrieden sein.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Wir erkennen aber an, dass der Gesetzentwurf im Ausschuss noch verbessert wurde und einige
von der Bundesregierung geplante bürokratische Belastungen, die bereits zu erheblicher Unruhe in der Wirtschaft geführt hatten, zurückgenommen wurden. Wir
lehnen den Gesetzentwurf, wie gesagt, ab, weil er dennoch über die Eins-zu-eins-Umsetzung einer europäischen Richtlinie hinausgeht.
({0})
- Dazu komme ich gleich.
Neben den von der Richtlinie vorgegebenen acht Meldeschwellen führen Sie seitens der Koalition eine zusätzliche Meldeschwelle bei 3 Prozent ein, wie Sie das im
Übrigen auch beim REITs-Entwurf tun. Sie hatten in Ihrem Koalitionsvertrag - an dieser Stelle wird man daran
erinnern dürfen - zum Stichwort „Integration des europäischen Finanzbinnenmarktes“ ausgeführt, dass Sie
Richtlinien nur noch eins zu eins umsetzen wollen. Hier
halten Sie sich nicht daran. Die Union ist der Heuschreckenrhetorik der SPD wieder einmal auf den Leim
gegangen. Es ist bemerkenswert, dass Sie das Beispiel
der Deutschen Börse, des Hortes des Kapitalismus in
Deutschland, heranziehen, um diese zusätzliche Meldeschwelle einzuführen.
Hinter dieser Geschichte steckt am Ende ein relativ
einseitiges Verständnis des Kapitalmarktes. Sie sprechen
von „Anschleichen“. Dabei geht es darum, dass ein Investor, der in ein Unternehmen investieren will, sich am
Ende als Eigentümer an diesem Unternehmen beteiligen
will. Wenn ein Vorstand einer Aktiengesellschaft dies
nicht will, kann er seine Aktionäre davon überzeugen,
ein Delisting zu beschließen oder die Aktien in Namensaktien umzuwandeln. Das Unternehmen kann auch von
vornherein ausschließen, an die Börse zu gehen. Die
Börse ist keine Einbahnstraße.
Sie vergessen, dass das Unternehmen nicht den Vorständen, sondern den Aktionären gehört.
({1})
Das mussten sehr schmerzhaft die Deutsche Börse und
die Herren Seifert und Breuer erfahren.
Die zusätzliche Meldeschwelle führt - das hat die Anhörung im Ausschuss belegt - ganz klar zu einem Wettbewerbsnachteil für den Finanzplatz Deutschland. Wenn
Sie argumentieren, dass in Großbritannien ebenfalls die
3-Prozent-Schwelle gilt, dann sage ich Ihnen, dass uns
ein kleiner Wettbewerbsvorteil ganz gut anstünde und
sehr gut für den deutschen Finanzplatz wäre.
Ganz konkret wurde in der Anhörung angeführt, dass
die Aktionäre diese Meldungen nicht automatisch vornehmen können, sondern jede Meldung manuell ausgeführt werden muss. Dies konterkariert das ansonsten von
Ihnen zumindest rhetorisch vertretene Ziel des Bürokratieabbaus. Gerade kleinen börsennotierten Unternehmen,
also mittelständischen Unternehmen, werden Sie mit der
3-prozentigen Meldeschwelle schaden, da sich dann Investmentfonds und Investoren sehr genau überlegen
werden, ob sie ein meldepflichtiges Engagement wählen
oder nicht.
Im Ausschuss hat die SPD dies „eins zu eins plus“ genannt; auch Sie, Frau Kollegin Hauer, haben es gerade
erwähnt. Für die Union sprach der Kollege Fahrenschon
von „eins plus eins gleich drei“. Diese neue Art der
Arithmetik ist sehr bemerkenswert. Das kennen wir von
der schwarz-roten Koalition schon genügend; denn eine
ähnliche Argumentation wurde bei der Mehrwertsteuererhöhung gewählt. Da hieß es: Zwei plus null gleich
drei. Das ist eine Analogie, die zu erwähnen sich zu dieser späten Stunde lohnt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Schäffler, Sie haben ja eine ordentliche
Ausbildung zum Diplom-Betriebswirt gemacht. Gegebenenfalls haben sich da der Besuch von Vorlesungen und
der Erwerb von Scheinen in der Volkswirtschaftslehre
nicht ergeben. Ich will allerdings darauf hinweisen, dass
die Studenten der Volkswirtschaftslehre im ersten Semester lernen und verinnerlichen, dass Märkte dann am
wirkungsvollsten sind, wenn alle Marktteilnehmer zeitnah und gleichmäßig über dieselben Informationen verfügen. Denn erst dann erfüllen der Markt und der damit
gefundene Preis ihre Lenkungsfunktion optimal. Das
heißt, Transparenz ist an dieser Stelle, wenn Sie so wollen, das Blut im Kreislauf der Markteffizienz; denn darauf kommt es an.
Lieber Herr Kollege, dass die FDP jetzt auf einmal
Gefallen an intransparenten Vorgängen findet,
({0})
können Sie der interessierten Öffentlichkeit an keiner
Stelle nachvollziehbar erklären. Dass Sie die politische
Entscheidung, statt bei der 5-Prozent-Schwelle zu bleiben, eine Schwelle von 3 Prozent festzulegen, quasi
hochstilisieren, um einen Grund zu finden, sich aus der
Verantwortung für den deutschen Finanzmarkt herauszustehlen, wirft ein schlechtes Zeichen auf die zukünftigen
Arbeiten zur Verwirklichung des europäischen Finanzmarktes.
({1})
Aus gutem Grunde sind in der europäischen Transparenzrichtlinie in Bezug auf die Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, eine ganze Reihe von
Pflichten vorgesehen: Pflichten zur Finanzberichterstattung, Pflichten zur Mitteilung und Veröffentlichung von
Veränderungen des Stimmrechtsanteils, Pflichten zur
Lieferung von notwendigen Informationen für die Wahrnehmung von Rechten aus Wertpapieren und Pflichten
zur Veröffentlichung und Speicherung wichtiger Kapitalmarktinformationen. Man muss hinzufügen: Das sind
Pflichten, die man nicht nur in Deutschland erbringen
muss, sondern die auch von allen auf den Wertpapiermärkten handelnden Akteuren auf dem gesamten europäischen Binnenmarkt abzuarbeiten sind. Das sind gute
Pflichten.
({2})
Diese Pflichten leisten im volkswirtschaftlichen
Sinne einen wichtigen Beitrag dazu, die Wirksamkeit,
die Offenheit, die Integrität und die Transparenz der europäischen Kapitalmärkte zu stärken. Denn ein echter
Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen setzt voraus,
dass alle Anleger - ob nun die kleinen oder die großen problemlos und voller Vertrauen über Grenzen hinweg
investieren können.
An dieser Stelle muss man sagen: Die Argumentation,
die 5-Prozent-Schwelle sei im Vergleich zur 3-ProzentSchwelle in Großbritannien ein Marktvorteil, nimmt Ihnen keiner ab. Denn wenn es einen Markt gibt, bei dem
weltweit anerkannt ist, dass die Kräfte des Marktes, des
Angebots und der Nachfrage, optimal wirken können,
dann ist dies in London. Dass wir schlechtere Bedingungen als in London schaffen wollen, nimmt uns kein internationaler Anleger ab. Wir müssen es mindestens
gleich gut machen wie Großbritannien.
({3})
Die CDU/CSU ist mit zwei Zielen an die nationale
Umsetzung gegangen. Wir haben uns einerseits vorgenommen, dass deutsche Unternehmer durch die nationale Umsetzung nicht stärker in die Pflicht genommen
werden, als nach der Richtlinie notwendig ist. Gleichzeitig war es allerdings auch von Anfang an unser Interesse,
dass der Anlegerschutz und die Transparenz durch die
nationale Umsetzung erhöht werden. Dass wir uns darüber hinaus bereits im Koalitionsvertrag mit unserem
Koalitionspartner darauf geeinigt haben, eine weitere
Regelung einzuführen, um Übernahmen durch Hedgefonds oder andere Investoren frühzeitig aufzeigen zu
können, ist unser gutes Recht. Dieses Gesetz zeigt den
politischen Willen und abermals die Handlungsstärke
der großen Koalition in Fragen des Finanzmarkts und
der Regulierung.
({4})
In den Berichterstattergesprächen konnten in diesem
Sinne wesentliche Änderungen auch gegenüber dem Kabinettsbeschluss erreicht werden. Wichtige Anregungen
aus der Anhörung und Vorschläge des Bundesrats wurden aufgegriffen. Damit haben wir einen guten Beitrag
zur Eins-zu-eins-Umsetzung geleistet. Ich will mich an
der Stelle bei allen Berichterstatterkollegen und auch bei
der Arbeitsebene des Bundesfinanzministeriums ganz
herzlich für die sachliche, kollegiale und an der Sache
orientierte Arbeit bedanken.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will in aller Kürze auf
die fünf wichtigsten Änderungen eingehen, weil sie zeigen, mit welcher Intensität wir uns mit der Umsetzung
auseinander gesetzt haben, und weil sie begründen, warum wir mit gutem Gewissen der nationalen Umsetzung
zustimmen können.
Erstens. Im ursprünglichen Gesetzentwurf sollten
Halbjahresberichte sowohl bei Vorliegen eines konkreten Verdachts auf Rechnungslegungsverstöße als auch
stichprobenhaft in gleicher Frequenz wie die Jahresabschlüsse einer Prüfung durch die BaFin oder die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung unterzogen werden. Wir konnten gemeinsam durchsetzen, dass das
materielle Enforcement, bei dem wir aus gutem Grund
geblieben sind, nun allerdings bei den Halbjahresberichten nur dann angewandt wird, wenn ein konkreter Anlass
vorliegt. Eine stichprobenhafte Überprüfung ist in
Deutschland nicht zulässig.
({6})
Das hat Vorteile für alle Beteiligten, weil wir frühzeitig
Rechtsklarheit für den Jahresabschluss herstellen und
weil wir die Unternehmen in die Lage versetzen, in
Streitfällen frühzeitig das Enforcement anzurufen und
die Fragen klären zu lassen.
Zweitens. Die Kollegin Hauer ist auf die Veränderungen bezüglich der prüferischen Durchsicht schon eingegangen. In Zukunft liegt in Deutschland die Beantwortung der Frage, ob die Abschlüsse von einem
Wirtschaftsprüfer durchgeschaut werden sollen, in der
Hand und im Ermessen des Emittenten. Da ist sie auch
gut aufgehoben.
({7})
Drittens. Bezogen auf den Bilanzeid sah die ursprüngliche Regelung vor, dass unrichtige Versicherungen der gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft
im Rahmen des Bilanzeids zum Jahresabschluss als
Straftatbestand erfasst werden. Dies hätte auch bei
Nichtabgabe einer entsprechenden Versicherung gegolten. Wir sind, glaube ich, mit Augenmaß an die Fragestellung herangegangen und haben durch die Änderungen herbeigeführt, dass es bei Nichtabgabe eines
Bilanzeids nun nicht mehr zu strafrechtlichen Sanktionen kommt. Wir haben das rechtssystematisch richtig
eingeordnet: Die Nichtabgabe des Bilanzeids wird nun
als Ordnungswidrigkeit betrachtet. Daneben übernehmen wir das allgemein geltende Grundverständnis über
Meldungen „nach bestem Wissen“ in den Wortlaut des
Gesetzes.
An einer weiteren Stelle ist es uns gelungen, die Parallelität zum EHUG und zum TransparenzrichtlinieUmsetzungsgesetz herauszuarbeiten. Wir haben nämlich
im Bericht des Finanzausschusses klargestellt, dass hinsichtlich der Bußgeldvorschrift des § 104 a des Handelsgesetzbuchs die Einführung eines elektronischen Handelsregisters zwar weiter vorangebracht wird, dass der
Anwendungsbereich dieser Vorschrift aber lediglich auf
Kapitalmarktunternehmen beschränkt ist. Das heißt, der
deutsche Mittelstand und die Personengesellschaft werden nicht unter das Dach des elektronischen Handelsregisters und auch nicht unter die Bußgeldvorschrift gezogen.
({8})
Viertens. Wir haben erreicht, dass die Zwischenmitteilung der Geschäftsführung in Zukunft flexibel in einem Zeitraum zwischen zehn Wochen nach Beginn und
sechs Wochen vor Ende des betroffenen Sechsmonatszeitraums erstellt wird.
Fünftens, last but not least, haben wir bei den Veröffentlichungspflichten die Chance ergriffen, mit einem
Zwischenbericht der Bundesregierung zur Mitte des
Jahres 2008 noch einmal innezuhalten, um abwägen zu
können, inwieweit die Veröffentlichung von Meldungen
über Internet tatsächlich praktikabel ist und ob wir 2009
die Möglichkeit nutzen wollen, alle Meldungen, auch die
Ad-hoc-Meldungen und die so genannten Final-TermMeldungen, im Internet zu veröffentlichen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit dem
vorliegenden Entwurf eines Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes eine gute nationale Umsetzung abgeschlossen haben. Zum Schluss meiner Rede will ich
noch einmal auf die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre zu sprechen kommen, lieber Kollege Schäffler.
Transparenz ist aus mikroökologischer Sicht von elementarer Bedeutung für das Funktionieren eines Marktes und
seiner Effizienz. Makroökonomisch darf man jedoch die
Kosten der Transparenz nicht außer Acht lassen. Also
muss auch hier die Regel gelten, dass die Kosten immer
in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen für die
Anlieger stehen müssen. Beim TUG ist diese Balance
gelungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Die Reden der Kollegen Dr. Axel Troost von den
Linken und Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die
Grünen nehmen wir zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes, Drucksachen 16/2498 und
16/2917. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3644, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen
bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3675. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3644 empfiehlt der Finanzausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Petra Pau, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung
- Drucksache 16/3536 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Die Reden der Kollegen Günter Baumann und
Manfred Kolbe, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD,
Dr. Max Stadler, FDP, Jan Korte, Die Linke, und Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen, werden zu Protokoll
genommen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3536 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 5
2) Anlage 6
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung über die
Beschäftigung schwerbehinderter Men-
schen im öffentlichen Dienst des Bundes
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßel-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Recht statt Pflicht - Einschränkungen
behinderter Menschen bei der Teilhabe am
öffentlichen Leben entgegenwirken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
am öffentlichen Leben konsequent sichern
- Drucksachen 16/1100, 16/1476 Nr. 1.3, 16/949,
16/853, 16/2840 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Kipping
Die Reden der Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU,
Karin Evers-Meyer von der SPD, Jörg Rohde, FDP,
Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen, und Franz Thönnes für die Bundesregie-
rung werden zu Protokoll genommen.3)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/2840. Unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des
Berichts der Bundesregierung über die Beschäftigung
schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des
Bundes auf Drucksache 16/1100 eine Entschließung an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/949 mit dem Titel „Recht statt
Pflicht - Einschränkungen behinderter Menschen bei der
Teilhabe am öffentlichen Leben entgegenwirken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und den
Linken bei Enthaltung der FDP-Fraktion.
3) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2840
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/853 mit dem Titel „Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben
konsequent sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von FDP
und den Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine wirksame Bleiberechtsregelung für
langjährig in Deutschland geduldete Personen
- Drucksache 16/3340 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Josef Philip Winkler vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({4})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Innenministerkonferenz ist mit ihrem Beschluss zum
Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge nicht
nur weit hinter den Erwartungen der Kirchen und Flüchtlingsorganisationen zurückgeblieben. Sie ist auch - das
muss man einmal festhalten - der großen Koalition in
Gänze in den Rücken gefallen. Denn wir haben hier erst
vor 14 Tagen ganz andere Töne gehört.
Allerdings muss man sagen: Das Gerangel zwischen
den Koalitionsfraktionen - Herr Kollege Körper, da Sie
anwesend sind, beschimpfe ich Sie gleich persönlich erinnerte an die beiden alten Herren, die in der Muppet
Show auf dem Balkon sitzen. Herr Körper und Herr Bosbach haben sich beschimpft und gesagt: Es stimmt ja gar
nicht, dass die Eckpunkte so sind, wie du sagst, dass wir
sie beschlossen hätten. Ich muss ehrlich sagen: Das war
kein Beispiel für gute Regierungsarbeit in dieser Koalition.
({0})
Eine Verlängerung der Duldung, wie von der Innenministerkonferenz jetzt beschlossen, reicht uns und den
Menschen nicht. Dieser Aufenthaltstatus, der unsicher
ist, schreckt Arbeitgeber ab. Schließlich gilt die so genannte Residenzpflicht. Der Aufenthalt ist auf den Landkreis oder den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt.
Außerdem haben wir in unserer Republik völlig
unterschiedliche Auslegungen. In einer Millionenstadt
wie Köln haben 100 Prozent der geduldeten Ausländer
keine Arbeitserlaubnis bekommen; das konnte ich heute
in der Zeitung lesen. In einer so großen Stadt wie München haben 90 Prozent der Geduldeten eine Arbeitserlaubnis bekommen.
({1})
- Bitte? Sie sind nicht laut genug, Frau Kollegin Philipp.
({2})
- Nein, es ist so. 90 Prozent haben eine Arbeitserlaubnis,
60 Prozent davon kommen deshalb völlig ohne Sozialleistungen aus und immerhin 30 Prozent mit nur teilweise Sozialleistungen. Warum in Köln 100 Prozent
keine Arbeitserlaubnis bekommen, ist völlig unverständlich und zeigt, dass der Beschluss der Innenministerkonferenz hier zu kurz greift.
Es ist so, dass sich das, was bisher umgesetzt wurde
- in Bayern gibt es beispielsweise schon einen Landeserlass -, von Bundesland zu Bundesland ganz extrem
unterscheidet. In Bayern reicht es schon, wenn die Kinder eine negative Schulabschlussprognose haben, um
aus der Bleiberechtsregelung zu fallen. In Hamburg hingegen müssen sie nur nachweisen, dass sie die Schule
besuchen. In dem einen Fall bekommen sie eine Aufenthaltserlaubnis und in dem anderen nicht. Dies alles geschieht unter dem gleichen Beschluss der Innenministerkonferenz. Dies ließe sich jetzt noch mit 20 oder
30 Beispielen fortsetzen. Dafür reicht meine Redezeit
nicht.
Um dieses Kuddelmuddel zu überwinden, fordern wir
die große Koalition erneut auf, eine bundesgesetzliche
Regelung zu treffen, um einheitlich vorgehen zu können.
({3})
Eine Verknüpfung der Bleiberechtsregelung mit einer
Verschärfung des Aufenthalts- bzw. Asylbewerberleistungsgesetzes lehnen wir ab. Denn die Leistungen, die die
Asylbewerber bzw. die Geduldeten bekommen, sind
schon um ein Drittel geringer als der Sozialhilfesatz. Man
muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass diese
Regelung, wie beschlossen wurde, um ein Jahr verlängert
werden soll. Das finden wir inhuman und unsozial.
({4})
Eine wirksame gesetzliche Bleiberechtsregelung für
die von diesem Beschluss der Innenministerkonferenz
nicht betroffenen Geduldeten sollte nach unserer Meinung zumindest folgende Kriterien erfüllen: Die
Begünstigten sollten keine Verlängerung des rechtswidrigen Status der Duldung, sondern sofort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das Bleiberecht darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob bereits eine
Arbeitsmöglichkeit besteht; das Kölner Beispiel, dass
die Ausländerbehörden zum Teil keine erteilen, habe ich
angeführt. Es dürfen keine überzogenen Anforderungen
an die Erfüllung der Mitwirkungspflichten gestellt werden. Der Nachweis von Deutschkenntnissen darf nicht
zur Voraussetzung gemacht werden.
({5})
- Es ist wichtig, dass sie Deutsch lernen. Aber man darf
Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für das Bleiberecht machen. Denn die Betroffenen hatten überhaupt
keinen Anspruch darauf, Deutschkurse zu besuchen,
weil sie gar nicht integriert werden sollten. Schließlich
ist ihr Aufenthalt nicht rechtmäßig. Man muss zumindest
eine Übergangsfrist einführen und den Betroffenen sagen, dass sie ein Jahr, nachdem sie ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen haben, Deutschkenntnisse erworben haben müssen. Mit einer solchen Regelung wäre ich
durchaus einverstanden. Aber man darf Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung erklären. Das lehnen wir
ab.
Außerdem muss klar sein - das ist der wichtigste und
letzte Punkt -, dass diejenigen, die potenziell unter eine
gesetzliche Bleiberechtsregelung fallen - Sie haben ja
angekündigt, eine solche Regelung in Angriff nehmen
zu wollen -, nicht mehr abgeschoben werden. Aus NRW
zum Beispiel hören wir, dass Familien nach Afghanistan
oder in den Irak abgeschoben werden sollen. Auch aus
Hamburg gibt es solche Meldungen. Ich muss sagen:
Das lehnen wir mit aller Vehemenz ab. Niemand, der
unter diese Regelung fallen könnte, darf in Nacht-undNebel-Aktionen kurz vor ihrem In-Kraft-Treten abgeschoben werden. Dafür werden wir uns weiterhin einsetzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Josef Winkler hat an die beiden Alten in der
Muppet Show, an Waldorf und Statler, erinnert.
({0})
Sie haben sich nicht gegenseitig beschimpft, sondern sie
haben diejenigen beschimpft, die unten aufgetreten sind.
Die Art und Weise, wie Sie Ihren Antrag vorgestellt
haben, hat mich eher an Miss Piggy erinnert: So, wie sie
schönzureden versucht, dass ihre Frisur toll ist, so haben
auch Sie Ihren Antrag schönzureden versucht.
({1})
- Vergleiche sind eine schwierige Angelegenheit.
Bei aller Scherzhaftigkeit und allen Nachtgedanken,
die man um diese Uhrzeit haben kann, muss ich sagen:
Dieses Thema ist zu ernst. Sie haben den Beschluss der
Innenministerkonferenz nicht richtig dargestellt. Wichtig
ist, dass im Interesse der betroffenen Menschen schnell
für Rechtssicherheit gesorgt wurde. Viele von ihnen haben
sich schon bei den Ausländerbehörden darum bemüht, in
die Bleiberechtsregelung einbezogen zu werden.
Da Sie die Kölner Ausländerbehörde angesprochen haben und ich sehe, dass der Kollege Uhl anwesend ist,
möchte ich darauf hinweisen, dass wir die Qualität der Arbeit der Kölner Ausländerbehörde im Rahmen der Beratungen des Visa-Untersuchungsausschusses zu schätzen
gelernt haben.
Ich kann nur feststellen: Das, was Sie gesagt haben,
hat mit der Beschlusslage der Innenministerkonferenz
wirklich nichts zu tun. Natürlich müssen die Ausländerbehörden jetzt das umsetzen, was die Innenminister
beschlossen haben; so ist es gedacht. Man soll dann ein
Aufenthaltsrecht bekommen, wenn man eine Arbeit hat
oder - auch das haben Sie etwas verkürzt dargestellt wenn man ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen
kann.
({2})
Dann fällt man aus der Nachrangigkeitsprüfung heraus.
({3})
- Herr Kollege Wolff, die Bleiberechtsregelung wurde
von Innenministern der CDU/CSU, der SPD und, wenn
ich das sagen darf, der FDP erarbeitet; ich meine den
„guten Wolf“, den Innenminister von Nordrhein-Westfalen.
Sie müssen sich also entscheiden, ob Sie nur die große
Koalition oder auch den Innenminister von NordrheinWestfalen beschimpfen wollen; denn auch er war daran
beteiligt. Wenn man Zurufe macht, sollte man etwas vorsichtiger sein.
({4})
- Herrn Müntefering fragen wir jeden Tag
({5})
und wir bekommen jeden Tag gute Antworten.
({6})
Aber jetzt ernsthaft: Es macht schon Sinn, wenn wir
ein Bleiberecht an eine Beschäftigung koppeln. Unser
Grundsatz bleibt natürlich - da stimmen wir mit der großen Mehrheit unserer Bevölkerung überein -: Wir wollen keine Zuwanderung in die Sozialsysteme, wir wollen, wenn überhaupt, eine Zuwanderung in den
Arbeitsmarkt. Das hat nicht nur finanzielle, sondern
auch integrationspolitische Gründe: Wir wissen doch
ganz genau, dass derjenige, der von Sozialleistungen
lebt, oftmals auch in einer Parallelgesellschaft lebt, kein
Deutsch spricht, keinen Kontakt hat zu Kollegen. Wir
wollen damit auch erreichen, dass diejenigen, die auf
Dauer bei uns leben, auch signalisieren, dass sie wirklich
angekommen sind in unserem Land und bereit sind, sich
hier wirtschaftlich, aber auch sprachlich, gesellschaftlich
und kulturell zu integrieren. Deswegen ist es keine sachfremde Verknüpfung, wenn man sagt: Es gibt ein Bleiberecht für diejenigen, die Arbeit haben oder ein Arbeitsangebot nachweisen.
({7})
Kollege Winkler, Sie haben das Asylbewerberleistungsgesetz angesprochen. Es macht doch nun wirklich
keinen Sinn, Asylbewerbern oder Geduldeten den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, dadurch stark zu begrenzen, dass man ihnen nach drei Jahren höhere Sozialleistungen in Aussicht stellt.
({8})
Es muss doch genau andersherum sein: Es muss sich
lohnen, eine Arbeit aufzunehmen. Weil die Innenminister hier nicht hartherzig vorgegangen sind, sondern das
Problem gesehen haben, dass vor allen Dingen Familien
mit Kindern selbstverständlich so hohe Sozialleistungen
in Anspruch nehmen können, wie es mit niedrig qualifizierter Beschäftigung an Lohn nicht zu erreichen wäre,
haben sie in ihren Beschluss hineingeschrieben, dass
man überwiegend nicht von Sozialleistungen abhängig
sein soll, dass man seinen Lebensunterhalt überwiegend
aus Beschäftigung bestreiten soll. Auch dabei haben die
Innenminister die soziale Lage der Familien, denen wir
ein Bleiberecht geben wollen, denen die Innenminister
ein Bleiberecht geben wollen, sehr wohl im Blick.
({9})
Das festzustellen, ist entscheidend, weil Sie in Ihrem
Antrag auch ein paar andere Bedingungen monieren, die
die Innenminister beschlossen haben. Es ist schon merkwürdig - das muss man auch um diese Zeit in aller Deutlichkeit sagen -, wenn Sie schreiben:
Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt werden.
Zu Deutsch: Sie wollen auch ein Bleiberecht für diejenigen, die ihren langen Aufenthalt vorsätzlich selbst
verschuldet haben, die selbst verschuldet haben, dass
ihre Kinder in einem für sie fremden Land aufwachsen
mussten. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer über seine
Identität nachhaltig getäuscht hat, wer sich dagegen zur
Wehr gesetzt hat, dass Passersatzpapiere ausgestellt werden, wer sich durch Untertauchen einer möglichen Abschiebung entzogen hat, der kann doch nicht im Ernst
ein Bleiberecht bekommen!
({10})
Das wird mit der CDU/CSU nicht zu machen sein!
Wir müssen uns einmal deutlich vor Augen führen,
dass wir auch eine gewisse Mindestsorgfaltspflicht gegenüber den Mitarbeitern in Ausländerbehörden, bei der
Länderpolizei und bei der Bundespolizei haben, die mit
der Rückführung von Ausländern nun wirklich ein
schwieriges Geschäft zu erledigen haben. Leuten ein
Bleiberecht zu geben, die jahrelang vorsätzlich gegen
das geltende Recht verstoßen haben,
({11})
wäre natürlich keine Motivation für diese Mitarbeiter,
ihre schwierige Arbeit zu verrichten. Da würden wir
Leute mit einem Bleiberecht belohnen, die es nicht verdient haben.
({12})
Es geht auch nicht um Zahlen, lieber Kollege Winkler. Ein Bleiberecht ist dann gut, wenn die Fälle erfasst
werden, bei denen man wirklich sagen muss: Aus humanitären Gründen - weil die Menschen bei uns verwurzelt
sind, weil jetzt Deutschland ihre Heimat ist - oder auch
aus dem Interesse unseres Landes ist es nicht vertretbar,
sie jetzt noch in ihr ursprüngliches Herkunftsland abzuschieben. Wenn wir das sagen können, dann haben wir
eine gute Bleiberechtsregelung. Ich bekenne deutlich: In
diesem Sinne haben die Innenminister der Länder eine
gute Bleiberechtsregelung geschaffen. Nun haben die Innenminister der Länder von einer Stufenlösung gesprochen, die sehr kurzfristig durch ihre Vereinbarung in
Vollzug gesetzt worden ist, und einer möglichen weiteren Altfallregelung etwa in Form eines § 104 a Aufenthaltsgesetz. Darüber befinden wir uns in der Koalition in
der Tat in einer intensiven Diskussion.
Für uns als Innenpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt dabei exakt der gleiche Grundsatz wie
für alle Landesinnenminister: Wir wollen keine Zuwanderung in die Sozialsysteme, wir wollen eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, wir wollen Humanität und
Rechtsstaatlichkeit miteinander verbinden und wir wollen mehr und nicht weniger für die Integration tun. Ich
hoffe, wir kommen hier ein gutes Stück voran.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP begrüßt es, dass die Innenministerkonferenz einen
Beschluss über eine Bleiberechtsregelung gefasst hat.
Hartfrid Wolff ({0})
Das war überfällig und hat meiner Meinung nach etwas
zu lange gedauert.
Dadurch wird langjährig geduldeten Ausländern die
Chance auf einen Daueraufenthalt gegeben, wenn sie
wirtschaftlich und sozial faktisch in der Bundesrepublik
integriert sind. Mit einer solchen Bleiberechtsregelung
werden in vielen Tausenden Fällen für beide Seiten kostspielige und nervenaufreibende Streitigkeiten über das
Aufenthaltsrecht von Menschen beendet, die in Wahrheit
längst Teil unserer Gesellschaft sind. Den Betroffenen
und ihren Familien wird dadurch die notwendige Sicherheit für eine verlässliche Lebensplanung gegeben.
({1})
- Herr Maurer, Entschuldigung, Herr Tauss, ich weiß gar
nicht, warum Sie dazwischenrufen.
({2})
- Entschuldigung. - In vielen Fällen dient die Bleiberechtsregelung auch den Interessen mittelständischer
Unternehmen, in denen die Betroffenen seit Jahr und Tag
arbeiten bzw. beschäftigt sind.
Die FDP fordert, dass der IMK-Beschluss von den
Ausländerbehörden wohlwollend umgesetzt wird. Vor
allem das Kindeswohl muss wesentlicher Bestandteil der
Entscheidungen sein. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, jetzt schnellstmöglich eine gesetzliche Bleiberechtsregelung zu schaffen. Eine bundesgesetzliche
Regelung hat gegenüber der Regelung durch die Innenminister den Vorteil der klaren Verbindlichkeit. Dies
schafft Rechtssicherheit und macht die Regeln in rechtsstaatlicher Weise transparent. Insofern stehen wir dem
Antrag der Grünen mit einer gewissen Sympathie gegenüber.
Allerdings halten wir nichts davon, die Bedingung
„gut integrierte Geduldete“ inhaltsleer zu lassen.
({3})
So lehnen die Grünen die von uns geforderte Mitwirkungspflicht leider ab. Natürlich weisen die Grünen zu
Recht darauf hin, dass der Zugang zu Sprachkursen und
Arbeitsplätzen für Geduldete bislang erschwert oder sogar unmöglich war. Allerdings reicht die Frist von knapp
einem Jahr durchaus aus, um Sprachkenntnisse zu erwerben. Wenn ich mich richtig erinnere, dann lautete der
Beschluss der Innenministerkonferenz, dass das Bestehen des Sprachkurses A 2 gefordert wird. Das ist keine
riesige Hürde.
Wer sich sechs oder gar acht Jahre lang geduldet im
Land aufgehalten hat, der kann nach dem Zuwanderungsgesetz auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen
Deutsch gelernt haben. Es gibt jedenfalls sehr viele gute
Beispiele dafür. Ich denke, wir sollten die Integration
nicht nur als eine Bringschuld des Staates ansehen, sondern vor allem die aktive Mitwirkung der Zuwanderer
einfordern.
({4})
Die Grünen erwecken mit ihrem Antrag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein dadurch, dass sie
sich acht Jahre lang hierzulande aufgehalten haben, ohne
aktiv etwas für ihre Integration zu tun, einen Anspruch
auf ein Bleiberecht erwirken. Das erscheint mir wenig
plausibel. Die Integration ist das entscheidende Merkmal. Dabei ist Arbeit aber ein entscheidender Faktor. Damit gebe ich Ihnen wieder Recht.
Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist ein wichtiges Kriterium. Dies dient der Sicherstellung, dass keine
Überinanspruchnahme der Sozialleistungen oder ein
Missbrauch erfolgt. Dies dient aber auch der Integration.
Durch die Arbeit wird es den Zuwanderern ermöglicht,
finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, wodurch nicht
nur das Selbstwertgefühl der Berufstätigen, sondern
auch ihrer Familienangehörigen gefördert wird. Daneben werden durch die Arbeit soziale Kontakte ermöglicht und eine Akzeptanz in der Bevölkerung geschaffen.
Dies ist auch im Interesse der Gesellschaft als Ganzes.
({5})
Im Zusammenhang mit der bundesgesetzlichen Regelung muss die Arbeitserlaubnis allerdings ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelt werden und im Vorfeld müssen Hürden für den Zugang zum Arbeitsmarkt
beseitigt werden.
({6})
Ansonsten ist das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zu können, nicht praktikabel. Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss gewährleistet sein
und darf nicht durch Überbürokratisierung verhindert
werden.
Der Antrag der Grünen erscheint uns alles im allem
vorwiegend als Schnellschuss. Ich habe aber die Hoffnung, dass es möglich sein wird, hier im Hause fraktionsübergreifend eine konsensfähige Lösung zu finden,
wenn sich sowohl Herr Winkler als auch Herr Grindel
ein bisschen bewegen.
Die FDP hat eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, um auszuloten, welche Chancen bestehen, eine sachlich sinnvolle, möglichst weit reichende
und doch auch das Integrationserfordernis möglichst klar
präzisierende Bleiberechtsregelung zu finden.
Wir hoffen, dass es der Bundesregierung gelingt, konsensfähige Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP wird
diesbezüglich parlamentarische Beratungen konstruktiv
begleiten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal darf ich - ohne oberlehrerhaft wirken zu
wollen - die Gelegenheit nutzen, um eine Korrektur anzubringen. Lieber Josef Winkler, wenn wir über das
Bleiberecht für langjährig in Deutschland geduldete
Ausländerinnen und Ausländer reden, dann handelt es
sich nicht um einen - wie von Ihnen versehentlich gesagt
worden ist - rechtswidrigen, sondern um einen rechtmäßigen Aufenthalt. Das ist sicherlich ein Lapsus Linguae,
den Sie hoffentlich im Protokoll korrigieren, damit nicht
andere Sie womöglich daran festmachen, was sicherlich
weder in Ihrem noch in meinem Interesse wäre.
Meine zweite Bemerkung zu meinen Vorrednern richtet sich an Herrn Grindel. Ich bin es fast ein bisschen
leid, dass bei diesem Thema immer wieder von der
Zuwanderung in die Sozialsysteme die Rede ist, und
zwar deswegen, weil die Leute schon da sind.
({0})
Sie sind schon in den sozialen Sicherungssystemen, soweit sie noch keine Arbeit haben.
Deswegen ist es nicht richtig, zu sagen, sie kämen zu
uns, um Sozialhilfe zu beantragen. Sie sind nämlich
schon da. Insgesamt sind es ungefähr 200 000, darunter
rund 50 000 Kinder und Jugendliche. Dass sie nicht arbeiten dürfen und damit außerstande sind, für sich und
ihre Familien den Lebensunterhalt zu bestreiten - es
wurden bereits einige Fallbeispiele genannt -, haben wir
als Gesetzgeber verursacht. Das ist die Krux.
({1})
Ansonsten ist es schon fast ein Quantensprung in der
öffentlichen und auch politischen Diskussion in diesem
Hause, wenn wir im Einzelnen über die Frage diskutieren, wie ein Bleiberecht gewährt werden soll. Denn ich
erinnere mich noch an Zeiten, als es nicht unter allen
Fraktionen im Deutschen Bundestag üblich war, festzustellen, dass wir ein Bleiberecht wollen. Vielmehr gab es
einige - ich will jetzt keine Namen oder Fraktion nennen -,
die die Notwendigkeit dringend bestritten haben.
({2})
- Richtig. Heute sagen das alle - auch die ganz Forschen
und Mutigen -, Gott sei Dank. Ich habe immer noch im
Ohr, was früher gesagt wurde: Vielleicht können wir irgendwann 10 Prozent der 200 000 abschieben; wenn wir
großes Glück haben, sind es 20 Prozent. Deswegen muss
es in unser aller Interesse sein - nicht nur, aber auch wegen der betroffenen Menschen -, eine umfassende und
klare Bleiberechtsregelung zu finden.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, bei dem ich möglicherweise zu seinem Erstaunen feststelle, dass Herr
Grindel Recht hat. Der Innenministerbeschluss ist in
einem entscheidenden Punkt besser, als ich hier noch am
9. November eher kritisch-sorgenvoll angemerkt habe.
Er ist deswegen besser, weil er nicht nur diejenigen begünstigt, die tatsächlich bereits eine Arbeit haben bzw.
an dem darauf folgenden Montag Arbeit gehabt haben,
sondern weil er den Betroffenen, die über eine Duldung
verfügen, die Möglichkeit gibt, bis zum 30. September
2007 eine Arbeit zu suchen, um ihnen dann eine Aufenthaltserlaubnis zu geben, aus der wiederum die Berechtigung zum gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt
folgt. Ich finde, dass dieser Punkt eine besondere Bedeutung hat und vielleicht sogar eine gewisse Trendwende
darstellt.
Ich bin mir auf der anderen Seite - aus der Sicht der
Arbeitgeber - aber auch darüber klar, dass jemand, der
nur eine Duldung vorweisen kann, bei der heutigen Arbeitsmarktlage größere Schwierigkeiten hat, Arbeit zu
finden, als jemand, der über eine Aufenthaltserlaubnis
verfügt und einige Jahre bleiben kann.
Die Optimisten und Gutgesonnenen gehen davon aus,
dass aufgrund der von der IMK beschlossenen Bleiberechtsregelung vielleicht sogar 40 000 bis 60 000 Menschen in Deutschland bleiben können. Ich fürchte hingegen, dass diese Zahl deutlich zu hoch gegriffen ist. Aber
das sind alles Spekulationen. Es bleibt abzuwarten, wie
die Regelungen in den einzelnen Bundesländern angewandt werden. Das wird sicherlich sehr unterschiedlich
gehandhabt.
Die Innenminister selber, aber auch die Bundespolitiker betrachten die Regelung mittlerweile ganz entspannt
als einen ersten, aber wichtigen Schritt, Herr Winkler.
Sie meinen nicht unbedingt, dass man uns damit in den
Rücken fällt. Ich hatte am 9. November dargelegt, wie
meine kritischen Bemerkungen zu dem, was aus der Beschlussfassung der Innenministerkonferenz drohte, einzuordnen sind und warum ich glaube, dass eine gesetzliche Regelung in der Tat besser wäre. Ich will Ihnen
gerne sagen, wo nach meiner persönlichen Meinung eine
gesetzliche Altfallregelung - inwieweit wir das in der
Koalition durchsetzen können, ist eine ganz andere
Frage - mehr Klarheit bringen könnte und wie wir sie
umfassender ausgestalten könnten. Eigentlich wäre wünschenswert gewesen, nicht mit einer Mindestaufenthaltsfrist von sechs oder acht Jahren zu operieren, sondern
- um möglichst viele Menschen zu erfassen - von vier
Jahren bei Familien mit minderjährigen Kindern und von
sechs Jahren bei Alleinstehenden auszugehen. Ich hoffe,
dass wir die Kraft haben, den Bezug von lediglich ergänzender Sozialhilfe - Herr Grindel, Sie haben das dankenswerterweise schon in die IMK-Regelung hineininterpretiert; ich bin nicht ganz so optimistisch durchzusetzen. Eines ist jedenfalls völlig klar. Nicht nur
für die Betroffenen, sondern für uns alle und insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme ist es allemal
besser, wenn Familien ihren Lebensunterhalt überwieRüdiger Veit
gend selbst bestreiten können und vielleicht lediglich in
der Spitze auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind.
Das ist weniger und - mit Verlaub - billiger, als wenn sie
dem Staat völlig auf der Tasche liegen, weil sie gar
nichts anderes dürfen.
({3})
Unterschiedlicher Auffassung mögen wir in der Frage
sein, wie Familienangehörige zu behandeln sind, wenn
sich Vater oder Mutter im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ganz korrekt verhalten haben oder wenn
ein Mitglied der Familie straffällig geworden ist. Wir
Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das nicht
zwangsläufig dazu führen darf, dass alle anderen Familienmitglieder sozusagen im Wege der Sippenhaft von
der Anwendung der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen sind. Hier brauchen wir differenzierte Regelungen.
Ich persönlich betone: Wenn sich ein einziges Familienmitglied entgegen unserer Rechtsordnung verhalten hat
oder verhält, dann darf das nicht bedeuten, dass der gesamten Familie gesagt wird: Ihr habt Deutschland sofort
zu verlassen.
({4})
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen,
der nach meinem Dafürhalten in der Innenministerregelung ein bisschen vernachlässigt wurde. Das ist die
Frage, wie wir die als Minderjährige ganz allein nach
Deutschland eingereisten jungen Leute behandeln. Wenn
wir mit sehr viel Geld dafür gesorgt haben, dass junge
Menschen, die mit zwölf, 13 oder 14 Jahren hierher gekommen sind, keine Verwandten mehr weder im Herkunftsland noch irgendwo sonst auf der Welt haben und
vielleicht schon ihren Schulabschluss hier gemacht haben - manche haben erst in Deutschland eine Schule
kennen gelernt -, beispielsweise in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe bei uns integriert wurden, dann
kann es nicht richtig sein, den Betreffenden zu sagen: In
dem Augenblick, in dem ihr volljährig werdet, ist jeder
Schutz weg und ihr habt Deutschland sofort zu verlassen. - Das ist inhuman und absolut unvernünftig.
({5})
Noch einmal: Es darf nicht wahr sein, dass wir zuerst
Tausende im Monat ausgeben, diese Menschen in
Deutschland zu integrieren, um dann die ganze staatliche
Energie darauf zu verwenden, sie loszuwerden, und zu
sagen: Wenn ihr volljährig seid, interessiert uns das alles
nicht; dann geht dorthin, wo immer ihr jemanden findet.
- Wahrscheinlich finden sie hier niemanden. Dafür brauchen wir entweder eine Regelung in § 25 Abs. 5 des
Aufenthaltsgesetzes - das würde ich eindeutig bevorzugen - oder zumindest eine klare Regelung im Gesetz
über die Altfälle. Ich meine, dass hier eine Mindestverweildauer von vier Jahren ausreichend wäre.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss zu dem kommen, was
Bundesminister Franz Müntefering gerade erarbeitet. Ich
halte es für richtig und vernünftig, dass seine Position
lautet: Wir wollen mindestens 100 000 von den rund
200 000 in Deutschland geduldeten ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern hier dauerhaft integrieren. Wir wollen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis geben. Ich kann das nicht ausschließlich von dem K.-o.Kriterium „vorhandener Arbeitsplatz“ abhängig machen,
sondern ich muss ihnen auch dann eine Arbeitserlaubnis
geben, wenn sie einen Arbeitsplatz in Aussicht haben
oder sich zumindest sehr ernsthaft und intensiv um einen
Arbeitsplatz bemühen. Es gibt genügend Möglichkeiten,
das zu kontrollieren. Über diese Formulierungen sind
wir intensiv im Gespräch. Ich hoffe, dass wir zu Lösungen kommen. Dabei wäre es aus Sicht der SPD-Fraktion
ein nicht zu unterschätzender Preis und keinesfalls begrüßenswert, wenn man das Asylbewerberleistungsgesetz ändern müsste. Wünschenswert wäre, wenn wir zu
dem Ergebnis kämen: Wer sich vier Jahre in Deutschland geduldet aufgehalten hat, der soll einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das fände
ich wichtig und erfreulich.
Zum Schluss zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen: Ihr Antrag ist wegen seiner
Argumentation zur Unterstützung des gemeinsamen Anliegens, von dem ich eingangs sagte, dass es erfreulich
ist, dass wir alle darüber reden und im Grundsatz einer
Meinung sind, willkommen. Aber, in aller Bescheidenheit, wir hätten dieser Unterstützung nicht unbedingt bedurft, weil wir uns seit Monaten in intensiven Gesprächen mit unserem neuen Koalitionspartner um eine
Lösung bemühen. Lassen Sie uns das weiter auf dieser
Ebene verfolgen. Dann mag vielleicht etwas Vernünftiges für die Betroffenen und unsere Gesellschaft dabei
herauskommen.
Danke schön.
({7})
Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion
Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3340 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Jetzt haben wir noch fünf Tagesordnungspunkte, die
alle zu Protokoll genommen werden. Ich bitte Sie, trotz-
dem noch anwesend zu bleiben, damit wir das formal
richtig zu Ende bringen können.
1) Anlage 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ingbert Liebing, Katherina Reiche ({2}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco
Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser
schützen
- Drucksachen 16/3089, 16/3624 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dirk Becker
Angelika Brunkhorst
Eva Bulling-Schröter
Cornelia Behm
Die Reden, die zu Protokoll genommen werden, sind
von den Kollegen Ingbert Liebing, CDU/CSU, Gabriele
Groneberg und Dirk Becker von der SPD, Angelika
Brunkhorst, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 16/3624 zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sensible
Ökosysteme in der Tiefsee besser schützen“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3089
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke, im Übrigen mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Patrick Döring, Horst Friedrich ({4}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Defizite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten
in der Seeschifffahrt beseitigen
- Drucksachen 16/1158, 16/2736 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hof-
1) Anlage 9
reiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umweltfreundliche Stromversorgung von
Schiffen in Häfen unterstützen
- Drucksache 16/2791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Bei den Reden, die zu Protokoll genommen werden,
handelt es sich um die Reden der Kollegen Enak Ferle-
mann, CDU/CSU, Annette Faße und Dr. Margrit Wetzel
von der SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée
Menzner, Die Linke, und Rainder Steenblock, Bündnis
90/Die Grünen.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/2736 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Defizite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1158
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2791 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({6}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung ({7})
KOM ({8}) 91 endg.; Ratsdok. 7301/06
- Drucksachen 16/1207 Nr. 1.12, 16/3639 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Veronika Bellmann
Dr. Martin Schwanholz
Alexander Ulrich
Es handelt sich bei den Reden, die zu Protokoll ge-
nommen werden, um die Reden der Kollegen Veronika
Bellmann, CDU/CSU, Dr. Martin Schwanholz, SPD,
2) Anlage 10
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Markus Löning, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, und Rain-
der Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Stellungnahme anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens
- Drucksache 16/3227 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wir nehmen die Reden der Kollegen Dr. Günter
Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD, Sabine Leut-
heusser-Schnarrenberger, FDP, Wolfgang Nešković,
Die Linke, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und
des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach
zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3227 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ({10}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten An-
1) Anlage 11
2) Anlage 12
nette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern
- Drucksache 16/3609 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({11})
Sportausschuss
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir nehmen die Reden der Kollegen Jürgen Klimke,
CDU/CSU, Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Ernst Burgba-
cher, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke und Dr. Anton Hof-
reiter, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3609 zur Federführung an den Ausschuss für Tourismus und zur Mitberatung an den Sportausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an
den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Dezember 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.