Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich,
wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns, wie immer,
gute und konstruktive Beratungen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Dr. Max Lehmer herzlich zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen begangen
hat.
({0})
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich herzlich und
wünsche Ihnen alles Gute.
Es stehen einige Wahlen zu Gremien an, die wir ebenfalls vor Eintritt in die Tagesordnung erledigen sollten.
Am 31. Dezember enden turnusgemäß die Amtszeiten der Kollegen Ronald Pofalla und Ludwig Stiegler im
Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die
Fraktion der CDU/CSU schlägt als neues Mitglied den
Kollegen Dr. Michael Meister vor. Für die SPD-Fraktion
soll der Kollege Stiegler für eine weitere Amtszeit
bestellt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegen
Dr. Michael Meister und Ludwig Stiegler in den Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau gewählt.
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die ehemalige
Abgeordnete Gisela Hilbrecht als ordentliches Mitglied
aus der Vergabekommission der Filmförderungsanstalt
ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Angelika Krüger-Leißner vorgeschlagen. Darüber hi-naus ist
seitens der Fraktion der CDU/CSU vorgesehen, dass die
Kollegin Dorothee Bär dem Kollegen Wolfgang Börnsen
als stellvertretendes Mitglied im gleichen Gremium
nachfolgt. Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall; es fängt gut an
heute Morgen. Dann sind die Kolleginnen Angelika
Krüger-Leißner und Dorothee Bär als ordentliches
und stellvertretendes Mitglied in die Vergabekommission der Filmförderungsanstalt gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Neue Entwicklung am Arbeitsmarkt: Deutlicher Rückgang der Erwerbslosenzahl, mehr Beschäftigung und Entlastung der öffentlichen Haushalte
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
- Drucksache 16/3284 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
({4})
- Drucksache 16/3270 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig,
Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Annette Faße, Reinhold Hemker, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Nationale Naturlandschaften - Chancen für Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige
Regionalentwicklung
- Drucksache 16/3298 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({7})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestalten - wissenschaftsadäquate Arbeitsbedingungen schaffen
- Drucksache 16/3286 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Innenausschuss
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Zur Frage der Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze und
der Erforderlichkeit einer Generalrevision
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung ({9}), Marie-Luise Dött, Katherina Reiche ({10}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll gestalten - entschie-
den dem Klimawandel entgegentreten
- Drucksache 16/3293 -
ZP 6 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Petra Pau und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/369 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Josef Philip Winkler, Volker Beck ({11}), Wolfgang
Wieland, Claudia Roth ({12}) und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({13})
- Drucksache 16/218 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({14})
- Drucksache 16/2563 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({15})
Dr. Max Stadler
Josef Philip Winkler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Innenausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({17}),
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kettenduldungen abschaffen
- Drucksachen 16/687, 16/2563 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({18})
Dr. Max Stadler
Josef Philip Winkler
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirtschaft
- Drucksache 16/2794 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({19})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks,
Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Freiheit wagen
- Drucksache 16/3288 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Neues strategisches Konzept für die NATO
- Drucksache 16/3287 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({21})
Verteidigungsausschuss
Entgegen der ursprünglichen Ankündigung findet jedoch die für Freitag vorgesehene Aktuelle Stunde auf
Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
nicht statt.
Die Tagesordnungspunkte 14, 26 und 32 werden abgesetzt.
({22})
- Wir werden nach einer Kompensationslösung suchen,
Herr Kollege Westerwelle.
Gewiss hatten Sie auch zum Tagesordnungspunkt 23,
der nun ohne Aussprache abgehandelt werden soll,
längst eine Rede vorbereitet. Er soll nun zusammen mit
den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen werden. Es wäre
aber schön, wenn Sie trotzdem da wären.
Die Tagesordnungspunkte 6 und 7, 24 und 25, 33 und
34 sowie 35 und 36 werden jeweils getauscht.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Darf ich auch für diese vereinbarten Veränderungen
mit Ihrem Einverständnis rechnen? - Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Nun treten wir in die Tagesordnung ein.
Ich rufe die Punkte 3 a bis 3 d sowie den Zusatzpunkt 2
auf:
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2006
- Drucksache 16/2870 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({23})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Ilse Aigner, Katherina Reiche ({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Swen
Schulz ({25}), Jörg Tauss, Nicolette Kressl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mit Innovationsförderung den Aufbau Ost
weiter voranbringen
- Drucksache 16/3294 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({26})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationales Reformprogramm Deutschland
Innovation forcieren - Sicherheit im Wandel
fördern - Deutsche Einheit vollenden
- Drucksache 16/313 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({27})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({28})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2005
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Stephan
Hilsberg, Andrea Wicklein, Ernst Bahr ({29}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2005
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Joachim Günther ({30}), Cornelia Pieper,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2005
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus,
Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Lothar Bisky und der
Fraktion der LINKEN zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2005
- Drucksachen 15/6000, 16/650, 16/693, 16/692,
16/1200 Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Uwe Vogel
Dr. Ilja Seifert
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
- Drucksache 16/3284 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({31})
Haushaltsausschuss
Zum Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2006 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister Wolfgang Tiefensee für die
Bundesregierung.
({32})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 9. November ist ein geschichtsträchtiger Tag:
1918, 1938, 1989. Ich habe in der Zeit, in der ich Oberbürgermeister der Stadt Leipzig sein durfte, jedes Jahr an
der Gedenkstätte in der Gottschedstraße der brennenden
Synagogen in der so genannten Reichspogromnacht am
9. November 1938 gedacht.
In der deutschen Geschichte bekommt aber der
9. November durch das Jahr 1989 noch eine andere Akzentsetzung: Die Mauer ist gefallen. Endlich, nach
40 Jahren Diktatur, waren die Grenzen wieder frei und
die Menschen in den, wie wir heute sagen, neuen Bundesländern verfügten über alle demokratischen Rechte,
die ihnen zuvor versagt waren. Ich werde diesen Tag nie
vergessen. Ihm ging übrigens der 9. Oktober 1989 mit
den entscheidenden Demonstrationen in Dresden, Leipzig, Zwickau und anderswo voraus.
Jetzt sind wir im Jahr 2006. Mit dem Bericht zur deutschen Einheit ziehen wir wiederum, wie jedes Jahr, ein
Resümee. Wir stellen fest, es ist eine Menge erreicht,
aber es ist auch noch ein großes Stück Arbeit zu leisten.
Deshalb scheint mir am Anfang die Feststellung wichtig,
dass es ein Sowohl-als-auch gibt: Einerseits ist in unzähligen Politikfeldern, in den Städten und Gemeinden vieles gelungen; andererseits gibt es eine Reihe von schweren Sorgen, Ängsten und Herausforderungen.
Wenn man diesen Bericht liest, wird man feststellen,
dass schon in der Präambel auf diese Ambivalenz eingegangen wird. Diejenigen, die meinen, es sei alles gut, gehen fehl, und diejenigen, die meinen, die deutsche Einheit sei in keiner Weise vollendet, malen ein schwarzes
Bild an die Wand, das ebenfalls nicht der Realität entspricht und darüber hinaus demotiviert.
Wir haben in diesem Bericht in aller Offenheit sowohl
das Gute, das Gelungene angesprochen als auch darüber
berichtet, was noch zu tun ist. Vor Deutschland, und
zwar über alle Himmelsrichtungen hinweg, steht die
große Herausforderung, den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern so zu stabilisieren, dass er selbsttragend ist und spätestens im Jahr 2019
ohne Sonderzuwendungen in den großen, kleinen und
mittleren Städten und Gemeinden und im ländlichen
Raum eine Stabilität erzeugt, die uns in die Lage versetzt, dann im normalen Länderfinanzausgleich zu wirtschaften.
Die Herausforderung ist, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass die Disparität zwischen der Arbeitslosenquote West und der Arbeitslosenquote Ost beseitigt wird
und dass die Menschen, die mit ihren Händen und mit
ihrem Kopf das Geld selbst verdienen wollen, diese
Möglichkeit erhalten und nicht auf Alimente angewiesen
sind.
({0})
Wir haben ganz positive Entwicklungen zu verzeichnen. Nehmen Sie die industrielle Entwicklung: im ersten Halbjahr 2006 9,8 Prozent Zuwachs in den neuen
Bundesländern; in den alten Bundesländern sind es
4,4 Prozent. Nehmen Sie die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die gegenwärtig im Osten leicht stärker zunimmt als im Westen. Nehmen Sie
die Exportquote, die in den neuen Bundesländern stärker ansteigt, insbesondere - im Jahr 2005 18 Prozent
Steigerung - beim Export in die neuen Mitgliedstaaten
der EU. Wir partizipieren davon. Das sind positive Entwicklungen, die man auch an Industrieansiedlungen wie
First Solar in Frankfurt/Oder und AMD, dem neuen
Chipwerk in Dresden, festmachen kann.
Wir haben in dem Bericht sieben zentrale Felder beschrieben, auf denen wir ganz besonders tätig werden
wollen. Das erste dreht sich um die Investorenwerbung. Wir brauchen kleinere, mittlere, auch große Unternehmen aus Westeuropa, aus den USA, aus Japan, die
sich von den Vorzügen Ostdeutschlands überzeugen und
Unternehmen ansiedeln. Das ist bereits geschehen und
muss verbessert werden. Wir brauchen ein einheitliches
Bild, das wir nach außen kommunizieren. Dazu wollen
wir das Industrial Investment Council, die Einrichtung
für die neuen Bundesländer, mit Invest in Germany verbinden. Mit meinem Kollegen Glos haben wir die Weichen gestellt. Wir werden im nächsten Jahr, 2007, mit
noch mehr Geld als zuvor - statt 11 Millionen Euro sind
es 16 Millionen Euro pro anno - einen deutlichen Schub
bei der Akquise von Unternehmen für die neuen Bundesländer und für Deutschland insgesamt schaffen. Das ist
ein Auftritt, den wir dringend brauchen.
({1})
Wir wollen alle Wachstumskerne, die kleinen, mittleren und großen, und gleichzeitig den ländlichen
Raum um diese Zentren herum entwickeln. Vor dieser
Herausforderung stehen wir. Wir haben deshalb die
Investitionszulage zeitlich verlängert. Dies ermöglicht
es allen neuen Bundesländern, in der Breite Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Mittelstand ansiedelt. Es gibt ferner die GA-Förderung, die ganz speziell
in den Wachstumszentren und in den Wachstumsbranchen Impulse setzen wird.
Ich bin stolz darauf, dass wir mit einer Fülle von Programmen, die nicht zuletzt im Wirtschaftsministerium,
aber auch im Haus der Kollegin Schavan angesiedelt
sind, Instrumente für die neuen Bundesländer entwickelt
haben. In einer Innovationskonferenz, die die Kollegin
gestern abgehalten hat, ist ein Memorandum verabschiedet worden, mit dem deutliche Akzente gesetzt werden,
wie wir im Osten vorgehen wollen. Ich freue mich über
dieses gemeinsame Bemühen, die neuen Bundesländer
voranzubringen.
Wir müssen auch über den Arbeitsmarkt reden. Dort
gibt es positive Entwicklungen. Im Oktober dieses Jahres betrug die Arbeitslosenquote ungefähr 15,7 Prozent.
Das ist im Vergleich zu der Quote im Vorjahresmonat in
Höhe von 16,9 Prozent eine deutliche Verbesserung. Wir
hoffen und wir arbeiten daran, dass sich diese Entwicklung verstetigt. Denn das Hauptproblem in den neuen
Bundesländern ist eine sich zunehmend verfestigende
Langzeitarbeitslosigkeit. Immer mehr Menschen sind
über ein, über zwei, manche sogar drei Jahre weg vom
ersten Arbeitsmarkt und finden keinen Zugang in das
normale Arbeitsleben.
Wer die Situation in den neuen Bundesländern kennt
und sich damit beschäftigt, weiß, es geht nicht nur um
die Vermittlung von Arbeit, sondern es geht auch um den
Sinn des Lebens und um die Würde der betroffenen
Menschen. Neben der Weiterentwicklung der Wirtschaft
muss es daher unsere Hauptanstrengung sein, dass wir
Menschen in der Phase, in der sie keinen Platz am ersten
Arbeitsmarkt finden, eine würdevolle Beschäftigung
ermöglichen, damit sie ein sinnvolles Leben führen können.
({2})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der demografische
Wandel, von dem die neuen Bundesländer besonders
betroffen sind. Auch hier gibt es ganz unterschiedliche
Entwicklungen. Es gibt ländliche Regionen und kleinere
Städte, die an Bevölkerung verlieren. Insbesondere die
Jungen und Kreativen gehen; die Alterspyramide verBundesminister Wolfgang Tiefensee
kehrt sich dort. Auf der anderen Seite gibt es Städte, in
denen der Saldo nicht nur ausgeglichen ist, sondern die
eine positive Bevölkerungsentwicklung aufweisen.
Auch hier gilt: sowohl als auch.
Wir nutzen Instrumente wie den Stadtumbau Ost
- die Mittel für dieses Programm stocken wir deutlich
auf -, damit die Städte und Gemeinden reagieren können. Wir nutzen das Programm „Soziale Stadt“, um einen besonderen Fokus auf die örtliche Wirtschaft zu legen. Wir wollen etwas dafür tun, dass Jugendzentren
entstehen und dass ein generationenübergreifendes Wohnen möglich ist. Das alles sind Vorhaben, die besonders
in den neuen Bundesländern wichtig sind. Denn hier zeigen sich wie in einem Brennglas Entwicklungen, die
später in ganz Deutschland Wirkung zeigen könnten.
Wir müssen die mit diesen Entwicklungen verbundenen
Probleme insbesondere in den neuen Bundesländern in
den Griff bekommen.
Ich möchte den Bogen schlagen zum 9. November
1938. Mit großer Beunruhigung und mit Empörung sehen wir die Entwicklung in Bezug auf einen neuen
Rechtsradikalismus. Es kann nicht hingenommen werden, dass besonders in einigen Regionen in den neuen
Bundesländern zu bestimmten Tageszeiten Menschen
mit anderer Hautfarbe sich nicht sicher fühlen und sich
nicht auf die Straße trauen.
({3})
Aus diesem Grunde gilt es, insbesondere angesichts
des Spannungsfeldes 9. November 1938/9. November
1989 mit allen Anstrengungen, auch mit finanzieller Unterstützung, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Ich
wünsche mir, dass wir - dies ist im Bericht der siebte
Punkt - besonderen Wert auf die Förderung des zivilen
Engagements, also des Engagements der Bürgerinnen
und Bürger, auch in den neuen Bundesländern legen.
Politik kann viel. Sie kann Rahmenbedingungen setzen und finanzielle Ressourcen bereitstellen. Der Aufschwung Ost passiert aber vor allem vor Ort. Dazu sollten wir motivieren und unsere Unterstützung geben.
Vielen Dank.
({4})
Ich eröffne die Aussprache. Für die FDP erhält zunächst der Kollege Joachim Günther das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, Sie haben auf den denkwürdigen
9. November als einen geschichtsträchtigen Tag hingewiesen. Das ist richtig, dem gibt es nichts hinzuzufügen.
Wir haben heute trotzdem ein Novum, denn wir haben
zum zweiten Mal in diesem Jahr den Bericht zur Einheit
der Nation vor uns. Das liegt daran, dass wir im vergangenen Jahr in diesem Land überstürzt Neuwahlen durchgeführt haben. Daran muss man auch einmal erinnern! In
der Zeit nach den Neuwahlen gingen auch die Bürger im
Osten Deutschlands davon aus: Wir haben eine große
Koalition. Diese große Koalition kann große Entscheidungen bringen. Sie hat die Macht dazu. - Diese Menschen warten heute noch auf den Ruck, der durch unser
Land gehen könnte.
Wo sind Sie in vielen Bereichen mit Ihren Entscheidungen geblieben? Sie haben sich in der Koalition mit
sich selbst beschäftigt. Unsere Bevölkerung erwartet
Entscheidungen vor Ort, damit sie merkt: Dieses Land
wird regiert und wird nicht bloß verwaltet.
({0})
Auch das muss man noch einmal sagen: Ihr größter Reflex war zuerst der Griff in die Taschen der Bürger, indem Sie die höchste Steuererhöhung in der Geschichte
der Bundesrepublik auf den Weg gebracht haben. Das
trifft alle in Deutschland und das werden im nächsten
Jahr alle sehr deutlich spüren.
({1})
Unter diesen Gesichtspunkten müssen wir Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen, Abwanderungen und Investitionen in diesem Bericht betrachten. Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist zwar im Moment mit
9,8 Prozent zum Glück etwas niedriger, aber sie ist im
Osten mit 15,7 Prozent gegenüber 8,2 Prozent in den anderen Ländern fast doppelt so hoch. Allein diese Zahl
macht deutlich, dass die Arbeitsmarktprobleme in den
neuen Ländern von besonderer Bedeutung sind. Dem
Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze sind alle Anstrengungen unterzuordnen.
({2})
Die Kürzung von ALG II, über die Sie diskutieren, ist
in dieser Situation zweitrangig. Wir als FDP werden Sie
bei allen Maßnahmen unterstützen, die der Schaffung
neuer Arbeitsplätze dienen.
({3})
Wir werden Ihnen helfen, auch wenn es um Regelungen
geht, bei denen zur Diskussion steht, dass Arbeitsunwillige in Arbeit kommen. Wir werden Ihnen aber nicht dabei helfen, die Hilflosigkeit, die sich in vielen Ihrer Programme zeigt, auf dem Rücken der Arbeitslosen
auszutragen.
({4})
Wir werden auch nicht müde werden, darauf aufmerksam zu machen, dass Arbeitsplätze eben nicht durch
ABM oder durch Arbeitsmarktregulierungen entstehen.
Sie entstehen dann, wenn es den Unternehmen gut geht,
wenn sie Gewinne erwirtschaften können und investieren
und wenn auch ausländische Unternehmen sich wieder
verstärkt in Deutschland ansiedeln. Aus diesem Grund
haben wir als FDP für den Osten Deutschlands immer
wieder Sonderregelungen gefordert. Wir haben die
Schaffung von Modellregionen gefordert. Das sind
Dinge, die kein Geld kosten. Das Land Sachsen-Anhalt
hat Ihnen die Schaffung von Modellregionen angeboten.
Sie wollten den Modellversuch durchführen. Viele von
Ihnen - auch von der SPD - haben dies damals
Joachim Günther ({5})
unterstützt. Es ist nichts daraus geworden. Das sind
Dinge, die wir eigentlich verschenken.
Ich nenne auch den Solidarpakt. Wir als FDP haben
uns dafür eingesetzt, dass der Solidarpakt nicht gekürzt
wird, weil er dem Aufbau der Infrastruktur sowie innovationsfördernden Maßnahmen dient. Das sind die
grundlegenden Dinge, die der Osten Deutschlands für
den Aufschwung braucht.
({6})
Diese Mittel brauchen wir auch in den nächsten Jahren. Hier liegt die Betonung aber auf Investitionen. Es
ist gut, dass ich hier sagen kann, dass die Solidarpaktmittel 2005 in Sachsen auch ausschließlich für Investitionen eingesetzt wurden. Auch hierüber haben wir
schon öfter gesprochen. Es gibt Länder, die diese Mittel
für andere Zwecke einsetzen. Seit gestern ist in der
Presse nachlesbar, dass Sie scheinbar über eine neue Definition nachdenken. Zumindest der Ministerpräsident
von Thüringen hat diese Definition auf den Weg gebracht. Ich bin der Meinung, wir sollten nicht über neue
Definitionen nachdenken oder neue und andere Ausreden suchen. Wir sollten diese Mittel konsequent für Investitionen in den neuen Bundesländern einsetzen.
({7})
Zu Ostdeutschland als Standort für Direktinvestitionen: Herr Minister, diesen Punkt haben Sie vor kurzem
in einer Studie untersuchen lassen. Sie bestätigen, dass
Ostdeutschland ein idealer Standort für Investitionen aus
dem Ausland ist. Auch hier kann ich Ihnen sagen: Wir
haben bereits im Jahr 2004 einen Antrag eingebracht,
der dieses Konzept für die neuen Bundesländer gefordert
hat und der im Prinzip genau diese Standortvorteile zum
Inhalt hat. Hätten wir diesen unseren Antrag schon 2004
umgesetzt, hätte man sich diesen Bericht und die inzwischen verstrichene Zeit sparen können. Wir wären dann
einen großen Schritt weiter gewesen.
Zu den Investitionen zählen auch Investitionen in den
Straßen- und Schienenbau. „Rahmenplan für Verkehrsinvestitionen“ haben Sie Ihren so genannten Fünfjahresplan genannt. Herr Minister, Ihre Anpreisungen stehen
- das muss ich offen sagen - in einem offenen Widerspruch zur Realität.
({8})
Viele wichtige Projekte sind unberücksichtigt geblieben.
Nehmen wir nur einmal Sachsen - ich bin für konkrete
Zahlen -: 153 Projekte waren im Bundesverkehrswegeplan 2003 aufgeführt, 106 im Vordringlichen Bedarf.
Gerade einmal 36 sind jetzt im IRP übrig geblieben.
Wenn man diese genauer betrachtet, stellt man fest, dass
von diesen 36 Projekten bereits 31 im Bau, fertig gestellt
oder in der Planung sind. Es geht noch um fünf Neubauprojekte. Das ist meines Erachtens eine Situation, die mit
den Vorstellungen von vor zwei, drei Jahren nichts mehr
zu tun hat.
({9})
Grund dafür ist - das muss man sagen -, dass für den
Fernstraßenausbau nicht mehr Geld, wie Sie im Koalitionsvertrag angekündigt haben, zur Verfügung steht,
sondern weniger. 2007 sind es knapp 4,5 Milliarden
Euro. 2005 waren es 5,3 Milliarden Euro.
Nun kann man lange darüber diskutieren, wie das zustande kommt. Das ist im Regelfall ein einfacher Trick:
Man zieht die alte Mittelfristplanung heran; sie wurde
noch von der Regierung Schröder auf den Weg gebracht
und nie im Plenum beraten. Diese Zahlen nehmen Sie zur
Grundlage und das ist meines Erachtens einfach unfair.
Man könnte vieles zur demografischen Entwicklung
und zur Stadtentwicklung sagen; Sie haben es angesprochen. Hier gibt es viele positive und viele negative Beispiele. Die Stadtumbauprogramme sind - da gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht - erfolgreich. Sie haben uns in
vielen Bereichen vorangebracht.
Gestatten Sie mir, an diesem denkwürdigen
9. November zum Abschluss Folgendes zu sagen: Für
die Sicherung der Arbeitsplätze haben die ostdeutschen
Bürger - das möchte ich deutlich für sie feststellen - vieles auf sich genommen: weniger Urlaub, einen geringeren Verdienst und längere Arbeitszeiten. Da sie das auf
sich nehmen, sollten wir Politiker ihnen zumindest das
ermöglichen, was wir tun können. Schaffen wir endlich
schnellere Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie
und eine ordentliche Schulbildung! Wir sind dazu bereit.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Arnold Vaatz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Als ich heute vor
17 Jahren um 23 Uhr den Deutschlandfunk gehört hatte,
packte mich plötzlich das Entsetzen. Ich war keineswegs
begeistert. Denn ich konnte mir nur vorstellen, dass die
Regierung der DDR, um ihre Haut zu retten,
200 000 Leute in den Westen entkommen lässt in der
Vorstellung, mit dem Rest werde man leicht fertig. Das
war mein erster Gedanke.
({0})
- Ich finde es zynisch, dass Sie von dieser Bank aus darüber lachen.
({1})
Dieser 9. November ist eines der glücklichsten und
wirklich eines der größten Ereignisse, die die deutsche
Geschichte überhaupt zu bieten hat.
({2})
Man darf keinen Jahrestag der deutschen Einheit und des
Mauerfalls verstreichen lassen, ohne das zu betonen. Wir
verdanken diese Entwicklung zuallererst den Menschen
in Ostdeutschland.
({3})
Wir verdanken es allerdings nicht allein den Ostdeutschen. An dieser Stelle ist es notwendig, festzustellen:
Hätte die Politik von Michail Gorbatschow uns nicht ermutigt, zu handeln, unsere Besorgnisse und Ängste beiseite zu lassen und zu überwinden, wäre dieses Ereignis
nicht geschehen. Hätten die Solidarność, die ungarischen
und die tschechischen Freunde mit ihrem ständigen
Drängen nicht dafür gesorgt, dass die Situation offen
bleibt, hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft.
({4})
Auch vor dem Hintergrund, dass eine deutsche Bundeskanzlerin, die aus Ostdeutschland stammt, im nächsten
Jahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union
übernehmen wird, ist diese Entwicklung sehr bedeutend.
Sie hat Europa Frieden, Sicherheit und Integration gebracht und diejenigen nicht ausgeschlossen, die die notwendige Vorarbeit für den Mauerfall geleistet haben.
({5})
Leider gibt es auch Dinge, die uns bedenklich stimmen müssen. Ich halte es für einen Zynismus der Geschichte, dass gerade diejenigen, die sich zu DDR-Zeiten
mit der Abwesenheit von Demokratie arrangierten oder
sogar geholfen haben, die Diktatur zu stützen, im Allgemeinen damit rechnen konnten, dass ihnen ihre damals
erworbenen Besitzstände erhalten bleiben. Das wäre
nichts Schlimmes, wenn nicht auf der anderen Seite festzustellen wäre, dass diejenigen, die sich in Ostdeutschland für Demokratie und Freiheit eingesetzt und dafür
schwer gebüßt haben, heute damit konfrontiert sind, ihre
damaligen Besitzstände verloren zu haben. Das kann
nicht der Endzustand sein.
({6})
Aus diesem Grunde haben wir eine entsprechende
Regelung im Koalitionsvertrag getroffen. Wir wissen,
dass wir etwas für die Opfer der Diktatur in der DDR
tun müssen, insbesondere für diejenigen, die langjährige
Haftstrafen auf sich nehmen mussten. Kaum jemand
kann heute ermessen, was das bedeutet hat. Deshalb haben wir uns dazu bekannt, die Mittel für die Häftlingshilfestiftung aufzustocken und die Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden zu erleichtern. Wir
wollen auch eine Opferpension einrichten. Das ist Inhalt
unseres heute vorliegenden Entschließungsantrages. Ich
finde, das ist ein Schritt nach vorn. Ein entsprechender
Gesetzentwurf von einigen ostdeutschen Bundesländern
liegt bereits auf dem Tisch. Lasst uns zügig handeln; die
Leute werden älter. Wir sind hier schon viel zu lange in
Verzug.
({7})
17 Jahre nach dem Mauerfall ist sehr viel in Ostdeutschland geschehen. Wer davor die Augen verschließt, der lügt. Ich weiß nicht, wer von denen, die damals hilflos den allgemeinen Zerfall im Osten
aufzuhalten versuchten, sich in seinen kühnsten Träumen einen Ausbau unserer Infrastruktur ausmalen
konnte, wie wir ihn heute haben. Wir haben sanierte
Städte, saubere Flüsse, eine sauberere Luft und ein leistungsfähiges Straßennetz. Das alles ist Ergebnis gesamtdeutscher Solidarität. Ich nutze diesen Augenblick, um
dafür Dank zu sagen.
({8})
Ich halte es für eine großartige Leistung unserer Demokratie - übrigens für eine Leistung, um die uns die ganze
Welt beneidet -, dass die Auflegung des Fonds „Deutsche Einheit“ möglich war, dass zwei Solidarpakte auf
den Weg gebracht worden sind und dass es uns gelungen
ist, eine stärkere Annäherung von Ost und West zustande
zu bringen, als es in Italien in 150 Jahren gelungen ist.
Das ist die Realität.
({9})
Es wird immer wieder die Frage gestellt: Kann Gesamtdeutschland aus den Erfahrungen Ostdeutschlands
Nutzen ziehen? Seit letzter Woche sind wir so weit;
({10})
wir haben das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Damit ist erstmals eine Regelung,
die sich in Ostdeutschland bewährt hat, weil dadurch die
Bürokratie reduziert wurde, Kollege Günther, zu einer gesamtdeutschen Regelung geworden, zumindest dem Sinn
nach. Das halte ich für richtig und für gut. Ergebnis unserer parlamentarischen Arbeit ist auch, dass es uns in
haushaltspolitisch schwierigen Zeiten gelungen ist, die
Investitionszulage zeitlich zu verlängern. Dadurch soll
geholfen werden, die Arbeitsplatzdichte in Ostdeutschland zu erhöhen. Auch das halte ich für einen Erfolg.
({11})
Natürlich hat der Minister vollkommen Recht, wenn
er sagt: Die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit, bleibt in Ostdeutschland ein Kernproblem. In dieser Frage gibt es zwar noch lange keine Entwarnung. In diesem Jahr sehen wir aber zum ersten Mal
ein kleines Entspannungszeichen. Wir sollten nicht darüber hinwegsehen, dass wir nun zum ersten Mal seit
mehreren Monaten einen leichten Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland verzeichnen können.
({12})
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich die Arbeitslosigkeit in Sachsen auf dem niedrigsten Stand seit zehn
Jahren befindet. Das deutet darauf hin, dass unsere gemeinsame Arbeit beginnt, Früchte zu tragen. So viel Zeit
muss sein, um das einmal erwähnen zu können. Das Problem haben wir aber noch lange nicht gelöst.
Mit einem anderen Problem müssen wir uns ebenfalls
noch befassen: mit der Haushaltslage der ostdeutschen
Länder. Lassen Sie mich auch darauf kurz eingehen.
Wir hören regelmäßig, dass ein Großteil der Mittel aus
dem Solidarpakt falsch eingesetzt wird, nämlich zum
Stopfen von Haushaltslöchern. Die ostdeutschen Länder
sagten uns früher: Dann ändert doch die Kriterien. Dazu
sage ich: Mit diesen degressiv ausgestalteten Mitteln
kann ich keine einzige Stelle bezahlen. Auch Schuldendienst kann ich mit keinem Cent daraus leisten. Nach
dem Jahr 2019 werden die Solidarpaktmittel nämlich auf
null zurückgegangen sein. Demzufolge ist es gar nicht
möglich, die Mittel aus dem Solidarpakt II/Korb I anders
als in der beschriebenen Weise einzusetzen.
({13})
Das kann die Politik nicht wegdefinieren. Wir müssen
darauf achten, dass die Gelder bestimmungsgemäß ausgegeben werden.
({14})
Es würde auch keinen Sinn ergeben, wenn sich der
Bund verschuldet, um die ostdeutschen Länder zu entschulden. Es kann auch nicht sein, über die Ausgabe von
Solidarpaktmitteln zur Schuldentilgung zu reden, solange sich die ostdeutschen Länder Jahr für Jahr neu verschulden.
Aus diesen Gründen sollten wir es begrüßen, dass
sich die Länderfinanzminister mit dem Bundesfinanzminister im Juni dieses Jahres auf eine Definition des
Korbes I geeinigt und sich verpflichtet haben, die entsprechenden Mittel investiv einzusetzen. Diesen Übereinkünften müssen aber Taten folgen; auch das muss klar
sein.
Eine kurze Bemerkung zu dem Berlinurteil. In letzter
Zeit haben sich die Gemüter sehr damit beschäftigt. Ich
glaube, dass das Urteil für Berlin nicht leicht zu tragen
ist. Ein Urteil, das zur Folge hätte, dass sparsame Länder
für ihre Haushaltsdisziplin bestraft würden, hätte diesen
Ländern jedoch jede Motivation zur Fortsetzung ihrer
Politik der Haushaltsdisziplin genommen.
({15})
Aus diesem Grund sollte niemand mit diesem Urteil
hadern. Wir sollten vielmehr nach vorne schauen und
ausloten, welche Möglichkeiten es gibt, mit Berlin solidarisch zu sein. Dafür müssen allerdings drei Randbedingungen gelten: Das ist erstens die Absicht, Sparsamkeit nicht zu bestrafen, zweitens die Würdigung der
Leistungen, die Berlin als Hauptstadt für unser Land erbringt, und drittens die Nutzung aller Sparpotenziale, die
das Land Berlin hat.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({16})
Ich bin der Meinung, dass wir in Ostdeutschland alle
Möglichkeiten haben, vernünftige Vorkehrungen für die
Zukunft zu treffen. Unsere Förderpolitik war erfolgreich.
Es ist falsch, die Leuchtturmpolitik immer wieder in einen Gegensatz zur Förderung der ländlichen Räume zu
bringen. Wenn die Wachstumskerne aus der ersten Liga
absteigen, haben auch die ländlichen Gebiete nichts zu
lachen. Das muss klar sein. Durch die harte Arbeit der
Haushaltskonsolidierung und die klare Benennung der
Probleme in Ostdeutschland können wir die Menschen
überzeugen. Das sollten wir tun. Ich bin davon überzeugt, dass wir damit den destruktiven Kräften, insbesondere dem Rechtsradikalismus, den Boden entziehen.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
es richtig, Herr Minister, dass Sie auf die historische Bedeutung des 9. November in seiner ganzen Widersprüchlichkeit aufmerksam gemacht haben.
Ich finde es gut, dass es einen leichten Rückgang der
Arbeitslosigkeit im Osten gibt, aber - auch das geht aus
Ihrem Bericht eindeutig hervor - die Arbeitslosigkeit ist
im Osten noch immer doppelt so hoch wie im Westen
und die Löhne bleiben niedriger. Lediglich die Höhe der
Differenz zum Westeinkommen gestaltet sich von Branche zu Branche unterschiedlich. Ostdeutschland ist das
Experiment für ein Billiglohnland. Nach neoliberalen
Glaubenssätzen müsste eigentlich ein Paradies für das
Kapital entstanden sein. Das Kapital kommt trotzdem
nur äußerst zögerlich, wenn überhaupt.
({0})
Stattdessen wandert die Jugend in den Westen ab - eine
verhängnisvolle Entwicklung. Das darf so nicht bleiben.
Sie trösten sich immer wieder damit, dass es Differenzierungen im Osten gibt - völlig einverstanden, die gibt
es - und dass Sie manchen Leuchtturm in der Brache
ausmachen können. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe nichts gegen Leuchttürme - wie könnte ich
auch? Zumal auch meine Partei dort, wo sie in Regierungs- oder in kommunaler Verantwortung gestanden hat
und steht, zu deren Entwicklung einen Beitrag geleistet
hat und dies auch weiterhin tun wird.
({1})
Aber die Leuchttürme und die blühenden Spaßbäder
({2})
sind eben nicht das Ganze, sie sind nur ein Teil der
Wahrheit und sie können nicht verschleiern, dass der seit
nunmehr 16 Jahren gefahrene Regierungskurs gescheitert ist, ein Kurs, mit dem alles zu delegitimieren versucht worden ist, was einmal in der DDR gewesen war,
und der Aufbau Ost schlicht und dogmatisch als Nachbau West betrieben wurde. Nun leugne ich nicht, dass es
vernünftige Dinge gegeben hat, die man so übernehmen
konnte - um Gottes willen!
({3})
Aber mich stört die Dogmatik. Dieser Kurs ist gescheitert und das ist längst nicht nur ein Ostproblem, sondern
ein Problem des ganzen Landes, ein Einheitsproblem
eben.
({4})
Denn die ganze Republik muss sich den neuen Herausforderungen der Weltwirtschaft, des Klimawandels und
der Umbrüche in der Arbeitsgesellschaft stellen. Die
Transformation des Ostens ist dabei nur ein Teilaspekt.
Ein Umsteuern muss her, ein Neuanfang. Um diesen
in Gang zu setzen, bedarf es hin und wieder eines Rückblicks. Die Bilanz in Sachen Einheit ist unter anderem
deshalb teilweise so ernüchternd, weil der Kardinalfehler, der am Anfang gestanden hat, nämlich den Lebensalltag der Menschen in den alten Bundesländern
nicht um die Erfahrungen aus der DDR zu bereichern,
und zwar um die guten wie um die schlechten, nicht
überwunden worden ist.
({5})
Denn aus beidem muss und kann die vereinigte Gesellschaft lernen. Keine Bundesregierung seit 1990 hat
ernsthaft den Versuch unternommen, zu sondieren, welche der DDR-Erfahrungen interessant sein könnten. Alle
wurden ohne gründliches Nachfragen als Teufelszeug
ins Reich des Bösen verbannt, um das vereinfacht auszudrücken. Dabei gibt es Gutes und Bedenkenswertes; ich
sage das hier ganz sachlich
({6})
- ich komme zu den Beispielen -, aber auch mit einem
gewissen ostdeutschen Selbstbewusstsein.
Nehmen wir etwa das Gesundheitswesen, das auf einer Art Bürgerversicherung von allen für alle basierte
und mit seinen Polikliniken patientennah war.
({7})
Wenn Sie nun einwenden, dass es auch ärmer war, sage
ich Ja.
({8})
Es war auch technisch nicht immer auf dem höchsten
Niveau, da haben Sie Recht. Aber das lag weder an der
Bürgerversicherung noch lag es an den Polikliniken,
({9})
sondern es lag an dem zu geringen Bruttoinlandsprodukt.
({10})
Was also spricht dagegen, heute, wo das Bruttoinlandsprodukt viel höher ist, eine solidarische Bürgerversicherung unter Beachtung der vielen Erfahrungen und neuen
Erkenntnisse neu anzudenken
({11})
und damit eine Gesundheitsreform zustande zu bringen,
die die Bezeichnung „Reform“ verdient?
Nehmen Sie ferner das bis zur zehnten Klasse nicht
selektierende Schulwesen, durch das die Bestenförderung und das Mitnehmen der Schwächeren miteinander
verbunden wurden. Ich sehe das nicht kritiklos. Finnland
hat manches davon übernommen und den Fahnenappell
und andere Dinge - völlig zu Recht - weggelassen. Damit hat es PISA-Werte erreicht, die deutlich höher als die
deutschen PISA-Werte liegen.
({12})
Aber auch hier dominierte der ideologisch begründete
Nachbau West - koste es, was es wolle.
({13})
Wir sind uns darin einig, dass die DDR-Wirtschaft
nicht effizient genug war. Niemand will sie schönreden.
Natürlich war sie aber auch nicht ausschließlich Misswirtschaft.
({14})
Sie stempeln sie gerne als solche ab, weil Sie glauben,
damit eine immer währende Ausrede parat zu haben,
wenn heute in der Wirtschaft die Säge klemmt. Dabei
vergessen Sie, welche Politik Sie in den ersten fünf Jahren der deutschen Einheit betrieben haben.
({15})
Alle Betriebe, die den westdeutschen Unternehmen
Konkurrenz hätten sein können, haben Sie plattgemacht.
({16})
Das SKET Magdeburg ist ein Beispiel dafür. Ich will
aber nicht zu viele Beispiele nennen.
Es geht doch darum: Die komplette Delegitimierung
des Ostens hat die vereinigte Gesellschaft nicht gestärkt,
sondern geschwächt
({17})
und genau zu dem geführt, was Sie heute immer wieder
beklagen, nämlich zu einem ostdeutschen Selbstbewusstsein, mit dem zuweilen auch DDR-Positionen verteidigt werden, die nicht zu verteidigen sind. Dies ist ein
Ergebnis Ihrer Politik und nicht das Ergebnis einer wie
auch immer von der Linkspartei.PDS verordneten Ostalgie. Wir sind nicht ostalgisch, aber wir sagen deutlich:
Ein Umsteuern, ein Neuanfang muss her.
Hören Sie auf, den Aufbau Ost allein und ausschließlich als Nachbau West betreiben zu wollen! Beenden Sie
das Experiment, den Osten als Billiglohnland zu deklassieren!
({18})
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Renten für
gleiche Lebensleistungen - das muss auf der Tagesordnung stehen, wenn man es mit der Vereinigung ernst
meint.
Ich freue mich, dass die Regelsätze im SGB II für die
von Hartz IV Betroffenen in Ost und West nun endlich
gleich sind. Sie sind in Köln und Frankfurt an der Oder
zwar viel zu niedrig, aber wenigstens gleich hoch. Das
sehe ich wohl.
Meine Damen und Herren, wer den Leuten jeden Tag
einhämmert, dass Armut und Unterschichten unabänderliches Resultat von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Wirtschaftsglobalisierung sind, der verfängt
sich immer mehr in einer Falle der Ausweglosigkeit. Die
Menschen werden demotiviert und mit ihren Zukunftsängsten allein gelassen. Beginnen Sie doch endlich einmal, darüber nachzudenken, welche Chancen es böte,
die Ost-Erfahrungen auf ihren Zukunftsgehalt hin zu
überprüfen.
({19})
So kann vielleicht Einheit entstehen, eine Einheit, die
alle weiterbringt, die im Osten und die im Westen.
Ich bedanke mich.
({20})
Das Wort hat nun die Kollegin Göring-Eckardt für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich glaube, es ist gut, dass wir am Tag des Mauerfalls
noch einmal über die Bedeutung dieses Tages sprechen.
Schließlich hat er im Leben sehr vieler - wenn auch
nicht aller - sehr viel verändert.
Für uns alle hier hat sich zumindest verändert, dass
der Deutsche Bundestag in Berlin tagt. Für mich änderte
sich, dass ich in Freiheit und in Demokratie lebe und Abgeordnete dieses Hauses sein kann. Daneben konnte ich
übrigens meine mit ungefähr 15 Jahren begonnenen
Sparanstrengungen für eine Reise nach New York, die
ich als Rentnerin machen wollte - ich habe immer wieder 10-Mark-Scheine gespart -, etwas abkürzen. Inzwischen war ich schon in New York, obwohl ich noch nicht
Rentnerin bin.
({0})
Menschen, die sich sonst vermutlich nie begegnet wären, haben sich getroffen. Mein Kollege Volker Beck
hätte wohl nie seine familiären Spuren in Zwickau verfolgt, wenn die deutsche Einheit nicht Realität geworden
wäre. Herr Bisky, auch den Satz „Es war nicht alles
schlecht“ hätten wir ohne deutsche Einheit wahrscheinlich nicht in unseren Wortschatz übernommen.
An dieser Stelle will ich etwas zu der Frage sagen:
Wie war das eigentlich mit den DDR-Schulen? Ja, ich
finde es richtig, noch einmal darüber nachzudenken, ob
längeres gemeinsames Lernen verbunden mit stärkerer
individueller Förderung tatsächlich dazu führt, dass
mehr Kinder in der Schule Erfolg haben. Ich persönlich
bin davon überzeugt. Das kann man auch sagen, Herr
Bisky. Aber wenn man das sagt, dann muss man gleichzeitig auch darauf hinweisen, was dieses Schulsystem
mit vielen Kindern in der DDR gemacht hat: Es hat sie
ausgeschlossen und ihnen keine Entwicklungschance gegeben. Auch das muss in diesem Zusammenhang gesagt
werden, Herr Bisky.
({1})
Im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit
müsste ein Stichwort, das darin vorkommt und auf das
ich eingehen möchte, eigentlich eine viel größere Rolle
spielen: der demografische Wandel. In vielen Regionen
Ostdeutschlands ist ein Bevölkerungsrückgang um
30 Prozent zu verzeichnen, zum Teil sind sogar 50 Prozent prognostiziert. Diese Situation ist zu beklagen.
Wolfgang Tiefensee hat darauf hingewiesen, dass es
häufig gerade die Kreativen und die Leistungsträger
sind, die gehen.
Mir stellt sich vor diesem Hintergrund folgende
Frage: Wie können wir dieser Entwicklung begegnen
und dafür sorgen, dass die Menschen gerne bleiben bzw.
zurückkommen? Ich glaube, dazu müssten wir das
Thema Investitionen und Infrastrukturentwicklung ganz
neu definieren. Hierbei geht es nämlich nicht nur um
Straßen. Herr Vaatz, was die Straßen betrifft, haben wir
in Ostdeutschland schon ziemlich große Fortschritte gemacht. Es geht aber um viel mehr. Es geht um den Ausbau der Bildungsinfrastruktur, es geht um die Schaffung
familienfreundlicher Strukturen, damit die Menschen
bleiben und Investitionen im Osten getätigt werden, und
es geht - ich bin froh, dass dieses Stichwort im vorliegenden Bericht zum Stand der deutschen Einheit erwähnt wird - um die kulturelle Entwicklung, die für die
Identität sehr wichtig ist.
({2})
Ich sage das vor einem ganz konkreten Hintergrund:
Die thüringische Landesregierung diskutiert gerade sehr
vehement darüber, die Ausgaben für Kultur im gesamten Bundesland zu reduzieren. Unternehmerinnen und
Unternehmer aus Rudolstadt haben gefordert: Nehmt
uns unser Orchester und unser Theater nicht weg! Warum? Weil sie sich gesagt haben: Wir brauchen Fachkräfte, die wir in unsere Region holen wollen. Wir brauchen qualifizierte Menschen, die hier bleiben sollen.
Ihnen müssen wir etwas bieten können, was über den
Arbeitsplatz hinausgeht. - Deswegen ist die kulturelle
Infrastruktur in Ostdeutschland von so zentraler Bedeutung.
({3})
Sie ist natürlich auch dann wichtig, wenn es um die
Identität und die Bindung an die eigene Region geht. Die
soziale Lage in Ostdeutschland muss, wie ich glaube,
noch tiefgehender beleuchtet werden. Es ist gut, dass die
Arbeitslosigkeit auch in manchen Regionen Ostdeutschlands sinkt. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass
von der sinkenden Arbeitslosigkeit diejenigen am wenigsten betroffen sind, die es am nötigsten hätten: die
Langzeitarbeitslosen.
Die Spaltung der Gesellschaft ist im Osten Deutschlands ein besonders gravierendes Problem. Ich meine die
Spaltung in diejenigen, die drin sind, und diejenigen, die
schon lange draußen sind und auch draußen bleiben werden. Diesen Zustand dürfen wir nicht hinnehmen. Das
hat auf der einen Seite mit materieller Armut und auf der
anderen Seite mit dem zu tun, was wir mit dem Begriff
„Exklusion“ beschreiben. Wer nicht mitmachen und aktiv mitwirken kann, der wird sich auch nicht für seine
Region einsetzen. Das, was Sie, Herr Tiefensee, in diesem Zusammenhang gesagt haben, stimmt mich ein bisschen hoffnungsvoll. Ich hoffe jedenfalls, dass wir darüber noch mehr hören werden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir für die, die seit langem draußen sind - das gilt besonders für diejenigen,
von denen wir wissen, dass sie am ersten Arbeitsmarkt
keine Chance mehr haben -, über kurz oder lang mithilfe
eines öffentlich geförderten Sektors etwas tun müssen.
({4})
Bei den 1-Euro-Jobs hat sich eines sehr deutlich gezeigt: Die Betroffenen waren sehr froh über diese Beschäftigungsmöglichkeit, aber sie fragen sich, warum
diese Jobs auf einen kurzen Zeitraum befristet sind. Ich
glaube, wir tun uns als Gesellschaft einen Gefallen,
wenn wir deutlich machen, dass wir diese Menschen
brauchen, und wenn die vielen Möglichkeiten tatsächlich umgesetzt werden. Damit tun wir auch etwas für den
Einzelnen.
Zum Schluss. Der Bericht heißt ja „Bericht zum Stand
der deutschen Einheit“ und nicht: Bericht zum Aufbau
Ost. Es hat sicherlich auch etwas mit der Frage der Identität zu tun, dass es immer noch leichter ist, im Deutschen Bundestag Schwäbisch zu schwätzen, als im sächsischen Dialekt über Zwickau zu reden.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Wicklein,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, ich danke Ihnen
für diesen klaren und ehrlichen Bericht zum Stand der
deutschen Einheit. Es gibt unbestreitbar große Erfolge,
aber nach wie vor stehen wir auch vor Herausforderungen, die Sie bereits konkret benannt haben.
Herr Bisky, wem haben wir denn die großen Erfolge
zu verdanken? Diese enorme Leistung wurde doch von
den Menschen in Ostdeutschland vollbracht, die in den
letzten Jahren unglaublich viel dazulernen mussten.
({0})
Sie haben aber auch ihre eigenen Erfahrungen und Kompetenzen in diesen Prozess eingebracht. Das muss in diesem Zusammenhang ebenfalls deutlich gemacht werden.
Besonders erfreulich und bedeutend ist auch aus meiner Sicht das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe, das
in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres sogar
9,3 Prozent betrug und damit - das wurde bereits gesagt doppelt so hoch ist wie in den alten Ländern. Das ist aus
meiner Sicht ein deutliches Zeichen dafür, dass der
Strauß von Förderinstrumenten und Förderprogrammen
Wirkung zeigt, sei es die Investitionszulage, die Programmfamilie „Unternehmen Region“ oder auch die
Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Verbindet
man diesen Instrumentenmix zu einem Gesamtkonzept
und konzentriert man die Instrumente auf die regionalen
Stärken, dann werden Erfolge sichtbar.
Gerade mit der Gemeinschaftsaufgabe konnte in
Ostdeutschland viel erreicht werden. Mit diesem Instrument wurden allein in den Jahren 2003 bis 2005
6,2 Milliarden Euro von Bund und Ländern zur Verfügung gestellt und damit Investitionen in Höhe von über
24 Milliarden Euro angeschoben. Damit wurden mehr
als 66 000 Dauerarbeitsplätze und damit auch Ausbildungsplätze geschaffen.
Viele Beispiele in Ostdeutschland zeigen, dass die
Gemeinschaftsaufgabe ein wirkungsvolles Förderinstrument ist, das wir auch in Zukunft nicht weiter antasten,
sondern mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausstatten sollten. In Brandenburg zum Beispiel hat sich in
Schwarzheide durch die GA-Förderung ein wichtiger
Chemiestandort entwickelt. Allein bei der BASF sind
2 000 Mitarbeiter beschäftigt. Ringsherum haben sich
zahlreiche Dienstleistungsunternehmen mit weiteren
1 000 Beschäftigten angesiedelt.
Diesen Erfolgen stehen große Herausforderungen gegenüber, die wir politisch gestalten müssen. Ich möchte
etwas zu einem wichtigen Punkt anmerken, der schon
mehrmals angesprochen wurde. Ob in Schwarzheide
oder in Wismar: Das Hauptkriterium für die Ansiedlung,
aber auch für den Fortbestand von Unternehmen sind die
vorhandenen Fachkräfte. Ostdeutschland zeichnet sich
durch hoch motivierte, leistungsbereite und gut qualifizierte Fachkräfte aus. Diesen Standortvorteil haben wir.
({1})
Bereits heute wird aber in einigen Regionen und
Branchen ein Fachkräftemangel sichtbar. In Wismar beispielsweise, wo ich erst kürzlich war, sucht die dort ansässige Werft händeringend 20 Schweißer. Anderswo
werden Ingenieure gebraucht. Durch den dramatischen
Geburtenknick nach der Wende ist die Zahl der Grundschüler teilweise bis unter 50 Prozent gesunken. Hinzu
kommt die anhaltende Abwanderung. Ostdeutschland
hat allein in den Jahren 2001 bis 2004 jährlich
100 000 Menschen verloren. Viele Gutqualifizierte gehen, vor allem junge Menschen und Frauen. Obwohl die
ostdeutschen Universitäten Fachleute ausbilden, sinkt im
Osten Deutschlands der Bevölkerungsanteil mit Hochschulabschluss. Das ist kein Wunder; denn die Menschen gehen natürlich dorthin, wo Arbeit ist und wo sie
sich und ihre Familien von der Arbeit vernünftig ernähren können. Abwanderung und Geburtendefizite beschleunigen den Alterungsprozess der Bevölkerung. Sie
gefährden den Nachwuchs an Fachkräften und damit
letztendlich die wirtschaftlichen Entwicklungschancen
der ostdeutschen Bundesländer.
Was bedeutet das? Welche Schlussfolgerung muss die
Politik aus dieser Entwicklung ziehen? Wir müssen alles
daransetzen - hier gebe ich meiner Vorrednerin Recht -,
dass qualifizierte Fachkräfte in den ostdeutschen Regionen bleiben oder dorthin zurückkehren.
({2})
Die Gründe für den Fachkräftemangel sind sehr vielfältig. Manche Unternehmen haben sich nicht ausreichend
um ihren Nachwuchs gekümmert.
({3})
Die Unternehmen müssen begreifen, dass sie ohne Ausbildung ihre Zukunft aufs Spiel setzen.
({4})
Noch so viele Bundes- oder Länderinitiativen können die
Ausbildungsverantwortung der Betriebe nicht ersetzen.
In manchen Regionen brauchen wir nach wie vor eine
bessere Verzahnung von Schule und Wirtschaft. Wir
brauchen zudem eine bessere Verzahnung der Unternehmen mit den Arbeitsagenturen. Oftmals gehen Qualifizierung und Umschulung am regionalen Bedarf vorbei.
Noch einen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang ansprechen. Der Einkommensabstand zwischen
Ost und West ist in der Tat nach Jahren der Angleichung seit 1998 wieder größer geworden. Wir können
beobachten, dass sich der vermeintliche Standortvorteil
niedriger Löhne nach und nach ins Gegenteil verkehrt.
({5})
Deshalb sage ich: Qualifizierte Fachkräfte müssen auch
im Osten Deutschlands gutes Geld verdienen. Auch hier
appelliere ich in erster Linie an die Wirtschaft. Die
Lohnzurückhaltung muss dort aufgegeben werden, wo
es schon heute möglich ist, vernünftige Löhne zu zahlen.
Sonst gehen uns über kurz oder lang die Fachkräfte aus.
({6})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Ostdeutschland muss eine Perspektive bieten. Eine
gute Infrastruktur alleine reicht nicht; das ist richtig. Neben guten Kindergärten, Schulen und Universitäten sind
natürlich vernünftige Einkommen und die Lebensqualität ganz entscheidende Faktoren.
Die Debatte über den Stand der deutschen Einheit
heute, am 9. November, 17 Jahre nach dem Fall der
Mauer, ist sicherlich ein besonderer Tagesordnungspunkt. Aber sie ist keine gesondert ostdeutsche Debatte.
Gerade in einem föderalen Staat müssen wir immer das
Gemeinsame in der Politik betonen, wenn wir besonderen Herausforderungen gemeinsam gerecht werden wollen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
17 Jahren wurde die Mauer vom Osten her eingestoßen.
Die Ostdeutschen haben enormen Mut und Zivilcourage
gezeigt. Sie sind für Werte auf die Straße gegangen, die
uns in Deutschland wichtig sind.
({0})
Sie sind für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen. Sie haben an einen funktionierenden Rechtsstaat geglaubt und haben dafür gekämpft, dass die Einheit in Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat
wieder hergestellt wird.
Das, was wir nun, nach 17 Jahren, in einem Dresdener Gefängnis erleben, ist aber ein Justizskandal ohnegleichen. Er hat den Verlust von Vertrauen in den
Rechtsstaat zur Folge.
({1})
Wenn man den Menschen den Eindruck vermittelt, dass
dieser Rechtsstaat nicht mehr funktioniert, weil die Justiz in Sachsen, einem CDU-regierten Bundesland, versagt hat, dann, glaube ich, haben wir alle hier die Verantwortung, dafür zu sorgen,
(Stephan Hilsberg [SPD]: Was ist denn das für
ein Populismus, den Sie hier pflegen?
dass nicht nur im Bund, sondern auch in den Bundesländern nicht an Personal gespart, sondern mehr in das Personal der Justizvollzugsanstalten investiert wird.
({2})
Ich darf die Damen und Herren der Regierungskoalition daran erinnern: Sie haben im Rahmen der Föderalismusreform gefordert, dass die Länder die Zuständigkeit
für den Strafvollzug erhalten. Wir waren aus überzeugenden Gründen dagegen. Wenn jetzt die Länder die Zuständigkeit für den Strafvollzug haben, dann müssen Sie
dort, wo Sie regieren, Ihre Verantwortung wahrnehmen.
({3})
In Sachsen, in Dresden, ist diese Verantwortung nicht
wahrgenommen worden. Ich fordere die Bundeskanzlerin, die gerade nicht anwesend ist, auf, ihre CDU-Ministerpräsidenten an ihre Pflichten zu erinnern. Es ist uns
als Liberale wichtig, dass das Vertrauen in die Demokratie und den Rechtsstaat bleibt und noch wächst. Alles andere wäre erschütternd, insbesondere angesichts des
Falls der Mauer.
Wir reden über die Zukunft Deutschlands. Wir erleben, dass die Bundesregierung zurzeit eine Innovationskonferenz Ost abhält. Ich frage mich, ob das nicht wieder eine Beruhigungspille für die neuen Bundesländer
sein soll.
Frau Kollegin Pieper, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident, ich möchte keine Frage beantworten. Ich kann verstehen, dass sich der Kollege aus
Sachsen von meinen Worten tief beeindruckt fühlt und
darauf reagieren möchte. Ich kann nur noch einmal sagen: Nehmen Sie von der CDU dort Ihre Verantwortung
wahr, wo Sie regieren.
Innovationspolitik ist das Herzstück des Regierungshandelns, sagt die Bundesregierung. Das ist auch gut so.
Aber haben Sie die Weichen dafür wirklich gestellt?
Bereits die alte, rot-grüne Bundesregierung hat eine
Großforschungseinrichtung für die neuen Bundesländer
verlangt. Wir als Liberale haben für die Neutronenspallationsquelle, ein europäisches Projekt, geworben. Die
Bundesregierung hat nicht dafür Partei ergriffen. Wir
warten auf die Entscheidung der Bundesregierung über
das Biomasseforschungszentrum. Ich habe eine Anfrage
an die Bundesregierung gestellt. Die Entscheidung wird
immer wieder hinausgeschoben. Was die neuen Bundesländer brauchen, ist Tempo und Prioritätensetzung bei
Bildung und Forschung, aber nicht Zeitaufschub und
Verschiebebahnhöfe. So kommen wir mit dem Aufbau
Ost nicht voran.
({0})
Wir müssen die Prioritäten auf Investitionen in Bildung und Forschung setzen. Das sagte ich schon. Die
neuen Länder müssen an dem Ziel, 3 Prozent des BIP für
Forschung und Entwicklung auszugeben, mitarbeiten.
An den Landeshaushalten ist nicht zu erkennen, dass sie
das tun. Wenn ich an die Eigenkapitalschwäche insbesondere der mittelständischen Unternehmen denke, dann
frage ich mich, wie diese mithelfen sollen, dass zukünftig 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
und Entwicklung ausgegeben werden, insbesondere
wenn die Bundesregierung durch Steuererhöhungen und
steigende Lohnzusatzkosten die kleinen und mittelständischen Unternehmen ständig belastet. Die haben dann
keine Freiräume, um zu investieren und gemeinsam mit
Hochschulen in Forschungsprojekte zu investieren.
({1})
Sie haben jetzt die Forschungsprämie eingeführt.
Das halte ich für richtig. Aber auch da ist Ihnen, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, kein
großer Wurf gelungen. Sie bauen schon wieder ein bürokratisches Monstrum auf. Sie wollen Untergrenzen und
Obergrenzen festlegen. Das heißt, dass gerade kleine
Unternehmen - 80 Prozent der Unternehmen im Osten
Deutschlands sind Unternehmen mit fünf bis 20 Beschäftigten und haben nicht viel Eigenkapital - es sich
bei der Untergrenze, die Sie festlegen, gar nicht leisten
können, in Forschungsprojekte mit Hochschulen einzusteigen. Nach unseren Berechnungen werden Sie mit
dieser Forschungsprämie gerade einmal 3 bis 4 Prozent
der kleinen und mittelständischen Unternehmen ansprechen können.
Ich kann Sie nur ermuntern, mutiger zu handeln und
den großen Wurf zu wagen, anstatt die kleinen Trippelschritte zu gehen. Wir brauchen ein schnelleres Tempo,
gerade in den neuen Bundesländern. Sie kennen die
demografische Entwicklung. Viele junge Menschen
wandern ab, die Besten gehen in den Westen.
({2})
In den Hochschulen wird es in den nächsten Jahren
Überkapazitäten geben. Wir werden in den alten Bundesländern einen großen Bedarf an neuen Studienplätzen
haben, in den neuen Bundesländern werden wir einen
Überhang an Studienplätzen haben. Ich fordere die Bun6110
desregierung auf, beim Hochschulpakt zu handeln und
einen Teil der Mittel aus dem Hochschulpakt für die
neuen Länder bereitzustellen. Ich sage noch einmal, Herr
Minister Tiefensee: Die Idee, die Solidarpaktmittel zukünftig auch für die Finanzierung der Hochschulen zu
verwenden, ist gut. Tun Sie es doch auch endlich, und
zwar in Absprache mit den Ministerpräsidenten der
neuen Bundesländer.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege
Kretschmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Frau Kollegin Pieper,
woher haben Sie Ihre Informationen, aufgrund derer Sie
sich erdreisten, vor dem Parlament dieses Thema in dieser populistischen Art aufzugreifen? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Sie sich direkt vor Ort informiert haben
und wissen, was gestern und heute Nacht dort passiert
ist. Es ist unsäglich, ein so schwerwiegendes Thema hier
in dieser Art und Weise zu thematisieren.
({0})
Wer mit Lotterbuben Politik macht, verlottert die parlamentarischen Sitten. Dagegen möchte ich mich verwahren.
Es ist in der Tat ein schlimmer Fall gewesen, der da
gestern passiert ist.
({1})
Wir werden den Fall aufklären und Konsequenzen ziehen. Aber eines ist doch klar: Diese Nacht hat die Polizei
in Sachsen einen guten Job gemacht und sehr professionell gehandelt.
({2})
Nach menschlichem Ermessen gehört dieses Gefängnis
zu den modernsten und sichersten in unserem Land. Es
ist eine Frage des Anstands und der Seriosität, dass man
erst einmal eine Überprüfung vornimmt, sich dann ein
Urteil bildet und nicht sogleich hier polemisiert.
({3})
Zur Erwiderung erteile ich Frau Kollegin Pieper das
Wort.
Lieber Herr Kollege Kretschmer, dieser Justizskandal ist so schwerwiegend, dass er in der Debatte angesprochen werden muss. Ich sagte bereits, dass es um das
Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat geht, das wir
zurückgewinnen wollen. Es gibt viele Umfragen zum
Thema Demokratieverlust, die nachweisen, dass der
Glaube an den Rechtsstaat immer mehr verloren geht.
Dort, wo Sie regieren, haben Sie eine Verpflichtung, den
Rechtsstaat so zu sichern, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht den Eindruck erhalten, dass der Täter mehr
Schutzmaßnahmen genießt als das Opfer selbst.
Das, was das Opfer und seine Eltern empfinden, ist
dramatisch. Wir als liberale Partei werden diesen Fall
weiterhin beobachten. Wir werden im Hinblick auf den
Rechtsstaat alles daran setzen, dass in Justizvollzugsanstalten in Personal investiert und nicht daran gespart
wird.
({0})
Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Katherina
Reiche von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Forschung und Innovation als Voraussetzungen für
Wachstum und Wohlstand sind für Ostdeutschland vielleicht noch wichtiger als für die alten Länder. Es ist
wichtig, dass wir während der Debatte zur deutschen
Einheit unser besonderes Augenmerk auch auf die Aspekte Forschung und Innovation lenken und Anträge
dazu beraten.
Jürgen Mlynek, ehemaliger Präsident der HumboldtUniversität Berlin und jetziger Präsident der HelmholtzGemeinschaft, hat einmal gesagt: Wenn aus Erkenntnisgewinn oder einer Entdeckung eine konkrete Anwendung wird, dann ist das Innovation. Kommt diese auf
den Markt und setzt sich durch, dann wächst die Wirtschaft und es entstehen Arbeitsplätze.
Forschung und Innovation bedeuten für die Menschen
in Ostdeutschland wirtschaftliche Hoffnung. Forschung
und Innovation bedeuten für sie, in die Zukunft zu
schauen. Sie bedeuten, Investitionen in den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland zu tätigen. Forschung und Innovation bedeuten auch, der demografischen Veränderung
Ostdeutschlands Paroli bieten zu können. Denn einigen
ostdeutschen Regionen droht bis zum Jahr 2010 ein
wahrer Aderlass. Durch Abwanderung und Geburtenrückgang könnten einigen der Regionen bis zu 60 Prozent der jungen Generation verloren gehen.
Durch den Umwälzungsprozess in Hochschulen und
Forschung wird auch in Zukunft eine flexible und breit
angelegte Förderung notwendig sein, um die in Ostdeutschland bestehenden Strukturdefizite ausgleichen zu
können. Wir haben viele effektive Maßnahmen beschlossen: die Hightech-Strategie, die Förderung von
Clusterbildung, das Förderprojekt „Unternehmen Region“. Zum jetzigen Zeitpunkt findet eine große Konferenz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit dem Ziel statt, die Innovationspolitik in den
neuen Ländern voranzubringen.
Katherina Reiche ({0})
Auch konnte mithilfe des Bundes und der Länder beispielsweise der Ausbau der Max-Planck-Institute abgeschlossen werden. Es gibt mittlerweile 18 dieser Institute, eine Forschungsstelle und ein Teilinstitut. Somit ist
die Max-Planck-Gesellschaft in Ostdeutschland mit annähernd dem gleichen Potenzial an Forschungseinrichtungen wie in Westdeutschland vertreten. Ähnliches
ließe sich für die anderen Forschungsorganisationen sagen.
Aber was muss noch geschehen? Ich meine, Ostdeutschland sollte zur Erfolgsgeschichte werden, exemplarisch für das Motto: Das Schicksal durch Forschung
und Innovation in die eigene Hand nehmen.
Wir müssen die Hochschulen weiter stärken. Ich habe
den Geburtenrückgang angesprochen. Gerade deswegen
dürfen keine qualitativ hochwertigen Studienplätze in
Ostdeutschland abgebaut werden.
({1})
Dafür zu sorgen, ist zunächst die Verantwortung der
Landesregierungen.
Wir brauchen - quasi komplementär - einen erfolgreichen Hochschulpakt. Ich appelliere an die alten Länder, zu helfen, zu unterstützen und solidarisch zu sein. Es
ist gut, dass Annette Schavan die Universitätsstädte
Greifswald, Magdeburg, Potsdam, Jena und Leipzig
durch eine Kampagne in den Fokus rücken möchte, unter dem Motto „Im Osten viel Neues“ oder auch „Entdecke den Osten!“.
Wir brauchen mehr Ausgründungen aus den Hochschulen. Die Hochschulen müssen Impulse in die kleinen und mittleren Unternehmen geben, um so einen besseren Technologietransfer zu erreichen.
Der Nachteil der ostdeutschen Wirtschaft ist sicherlich, dass es einen Mangel an sehr großen Unternehmenseinheiten gibt, die einen Input in die Hochschulen
geben. Auch der Anteil der betrieblichen Forschung in
Ostdeutschland ist immer noch geringer als in Westdeutschland. Während sich die großen Unternehmen in
Westdeutschland häufig selbstverständlich an die Hochschulen wenden, muss man in den neuen Ländern noch
umdenken. Die Universitäten müssen den ersten Schritt
machen und auf die KMUs zugehen. Nur so kann man
der schwächer ausgeprägten Netzwerk- und Clusterbildung entgegenwirken.
Dass es durchaus funktioniert, zeigt sich an den in den
vergangenen Jahren entstandenen Branchenschwerpunkten und innovativen Kompetenzfeldern: Mikroelektronik
in Dresden, Chemie in Halle oder Bitterfeld, Optoelektronik in Jena, Medizin und Biotechnologie in Berlin
oder Greifswald sowie Pflanzenzucht und Gentechnik in
Gatersleben und Potsdam.
({2})
All das sind Technologieschwerpunkte aus der Hightech-Strategie. Daher ist es wichtig, dass die HightechStrategie gerade in Ostdeutschland besonders erfolgreich
wird. Wir brauchen eine eindeutige thematische Fokussierung auf einzelne Technologiebereiche und die Vernetzung von universitärer und außeruniversitärer Forschung.
Wir können es uns durchaus leisten, regionale
Schwerpunkte zu setzen, zum Beispiel in der Biotechnologie. Innovationen in der Biotechnologie schaffen nicht
nur wettbewerbsfähige Produkte, sondern sie sichern vor
allem zukunftssichere Arbeitsplätze. Experten rechnen
damit, dass der Weltmarkt der Biotechnologieprodukte
weiter im zweistelligen Prozentbereich wächst. Angesichts dessen können wir uns aus der Grünen Pflanzenbiotechnologie nicht einfach verabschieden. Wir brauchen die Forschung und die Anwendung. Beides wird
durch die heutige Rechtslage behindert. Wir brauchen
eine Novelle des Gentechnikgesetzes; dazu gibt es
keine Alternative.
Nur Lippenbekenntnisse und das Singen des Hohen
Liedes auf die Forschung helfen nicht weiter. Wir haben
in Potsdam und in Gatersleben Forscher. Wir haben
große landwirtschaftliche Flächen und innovative Landwirte, die nur auf den Startschuss warten, um endlich
loslegen zu können. Wir brauchen ein positives Bild von
unserem Land und ein Klima der Freiheit und des Vertrauens. Forschung lebt von Freiheit, Neugier und Experimentierlust.
Lassen Sie mich mit den Worten von Professor
Winnacker enden:
Nur wer heute in die Wissenschaft investiert,
schlägt eine Brücke in die Zukunft!
Eine solche Brücke ist auch eine Brücke hin zu einer guten Zukunft in Ostdeutschland.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Roland Claus,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte Ihnen namens meiner Fraktion im
Rahmen dieser Debatte einen Antrag vorstellen, dessen
Entwurf schon großes Interesse weckte. Es geht uns um
die Zusammenführung der Bundesministerien in
Berlin. Wir verstehen das durchaus als einen Beitrag zur
Mitwirkung an der deutschen Einheit und nicht zur Behinderung der deutschen Einheit.
({0})
Seit 1994 wirkt das Berlin/Bonn-Gesetz. Es verteilt
Ministerien und Ämter auf die Standorte Bonn und Berlin. Um das vorab klarzustellen: Mit diesem Antrag geht
es nicht gegen die Region Köln/Bonn. Ich kann es auch
etwas populärer sagen: Keinem Bonner würde es durch
unseren Antrag schlechter gehen. - Das Berlin/BonnGesetz hat lange gewirkt, über zwölf Jahre. Es hat vielen
genutzt. Hier argumentieren wir in der Tat biblisch,
meine Damen und Herren: Ein Jegliches hat seine Zeit. Die Zeit dieses Gesetzes geht nun zu Ende.
({1})
Deswegen schlagen wir Ihnen vor, eine Änderung des
Berlin/Bonn-Gesetzes zu erarbeiten; denn wir dürfen uns
nicht an diese Zweiteilung gewöhnen.
Ich möchte nur die Fakten sprechen lassen. Die Situation ist die, dass 54 Prozent der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Ministerien nach wie vor am Standort
Bonn und nur 46 Prozent in Berlin arbeiten. In absoluten
Zahlen sind das 10 100 in Bonn und 8 800 in Berlin. Wir
sagen Ihnen: So kann man nicht regieren, jedenfalls
nicht gut regieren. Deshalb muss das verändert werden.
({2})
Natürlich wissen wir, dass Umzüge Veränderung bedeuten. Aber wer hat denn Hunderttausende Ostdeutsche
gefragt, die der Arbeit nachziehen mussten und diese
Veränderung auf sich genommen haben?
Es ist ein Antrag mit Augenmaß. Wir sagen: Das
Bundeskanzleramt soll beginnen, diesen Schritt zu vollziehen. Wir nehmen Einrichtungen aus, die ausdrücklich
einen regionalen Bezug haben. Einrichtungen, die mit
moderner Kommunikationstechnik ihre Funktion erfüllen können, können auch am Standort Bonn bleiben. Es
soll schrittweise und nach einem Stufenplan gehen.
Man soll uns bitte nicht mit dem Kostenargument
kommen; das ist unredlich. Man will eine Hauptstadt
entweder ganz oder gar nicht. Mit der Berlinentscheidung von 1991 ist diese Entscheidung gefallen.
({3})
Nirgendwo auf der Welt finden Sie eine solche Zweiteilung der Ministerien.
({4})
Nun stellen Sie sich mal einen Moment vor, die Abstimmung 1991, die knapp genug gewesen ist, wäre für
Bonn ausgefallen! Können Sie sich eine Sekunde lang
vorstellen, dass 54 Prozent der Beschäftigten dann in
Berlin ihren Arbeitsplatz gefunden hätten? Ich nicht,
meine Damen und Herren.
({5})
Interessanterweise wurde im Landtag von Nordrhein-Westfalen vor kurzem das gleiche Thema besprochen. Da gab es doch ziemlich harsche Worte: Die Debatte sei wegen der Zusammenrottung - so wörtlich! von Hinterbänklern zur Sommerpause entstanden; das
Thema sei so ähnlich bedeutend wie die Frage, ob Mallorca das 17. Bundesland sei. - Das spricht leider Bände
über den Zustand der deutschen Einheit.
Ich will auch die Häme im Bundestag zum Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Berlinentschuldung zur Sprache
bringen. Nun haben wir durch die Föderalismusreform
zwar eine Hauptstadtklausel, aber mit Ihrer Beschwörung des Wettbewerbsföderalismus helfen Sie überhaupt
nicht dabei, der deutschen Einheit hier einen Impuls zu
geben.
({6})
Wie immer Sie künftig mit diesem Problem umgehen:
Sie werden an der Lösung nicht vorbei kommen. Eines
Tages werden auch die Politologen feststellen: Die Partei
der wirklichen Einheit ist die neue Linke.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainer Fornahl, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, Herr Claus, die SED bzw. die PDS
bzw. die Linke, wie auch immer Sie sich nennen,
({0})
ist nie die Partei der Einheit gewesen und wird es auch
nie werden.
({1})
Ich fand es ziemlich perfide, wie Herr Bisky, der ja
hier den Anspruch erhoben hatte, Vizepräsident des Hohen Hauses zu werden, bei seiner Rede zum Stand der
deutschen Einheit und insbesondere zur DDR von 1949
bis 1990 die Situation eines Landes, in dem Diktatur, Totalitarismus und Indoktrination herrschten, schöngeredet hat.
({2})
Das entsprach nicht der Lebenswirklichkeit. Ich habe sie
jedenfalls so in Leipzig, wo ich mein Leben lang verbracht habe, nicht empfunden.
({3})
Ich denke, die Situation, die Minister Tiefensee in einem großen Bogen von den Erfolgen bis hin zu den Problemen beschrieben hat, entspricht der Wirklichkeit. Zugleich hat er damit auch die Potenziale aufgezeigt, die
wir haben, um den Rest des Weges bis hin zu dem Ziel
der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und
Westdeutschland gemeinsam gehen zu können.
({4})
Drei ganz zentrale Punkte spielen eine wichtige Rolle,
um das Ziel, dass Ostdeutschland ein dynamischer Wirtschaftsstandort wird und die Abwanderung von qualifizierten Leuten wie Fachkräften in andere Regionen
Deutschlands gestoppt wird, zu erreichen,
Notwendig ist zunächst einmal der weitere Ausbau
der Verkehrsinfrastruktur. Hier sind als Erstes die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zu nennen, die leider bisher nur zu zwei Dritteln realisiert sind. Darüber
hinaus haben wir wichtige Projekte mit einem EFREBundesprogramm, das von Bund und Ländern gemeinsam ausgearbeitet wurde, wie überregionale Verbindungen auch in Richtung zu unseren osteuropäischen Nachbarn auf den Weg gebracht.
({5})
Aber nicht nur diese großen Projekte, also nicht nur die
Autobahnen und die Eisenbahnfernverbindungen, sondern auch die vielen neuen Radwege, Fußwege und
Kreisstraßen haben die Lebensverhältnisse in den neuen
Ländern eindeutig verbessert. Diese sollen natürlich
auch dazu dienen, solche Lebensverhältnisse zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, zu Hause zu bleiben und nicht abzuwandern.
({6})
Das ist ein ganz wesentlicher Faktor.
Wir müssen nun aber die Verkehrsprojekte „Deutsche
Einheit“, so wie wir es in unserem Entschließungsantrag
formuliert haben, möglichst zügig umsetzen.
({7})
Um das zu schaffen, sind bei den Haushaltsberatungen
in den nächsten Jahren große Anstrengungen notwendig.
Ich will nur ein einziges Projekt herausgreifen, auf das ja
auch der Verkehrsminister immer wieder den Fokus seiner Bemühungen lenkt. Das ist das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2. Dieses zentrale europäische Verkehrsprojekt möglichst bald fertigzustellen, ist
wichtig und notwendig. Ich hoffe, dass mit der Entscheidung, die gestern gefallen ist, eine gute Lösung für die
Zukunft der Deutschen Bahn AG, die ja dabei für uns
wichtiger Partner ist, gefunden wurde und diese auch für
dieses Vorhaben ein Stück weit hilfreich ist.
({8})
Ein Zweites will ich ansprechen: Die Entwicklung der
regenerativen Energien in Ostdeutschland halte ich für
eine ganz zentrale Aufgabe. Darin steckt viel Potenzial,
weil dank moderner Technologie zum einen eine klimafreundliche, ökologisch orientierte Energiepolitik vorangetrieben werden kann und zum anderen hier neue, sichere Arbeitsplätze entstehen können. Dazu alle
Anstrengungen zu unternehmen, ist des Schweißes der
Edlen wert. Im Zusammenhang mit der Technologieförderung nicht nur bei Strom- und Wärmeproduktion, sondern auch für die Produktion von Kraftstoffen für neue
Motorengenerationen - mehrere Kolleginnen und Kollegen haben es schon angesprochen - möchte ich den
Blick auf das ins Auge gefasste deutsche Biomasseforschungszentrum richten, wo auch immer es seinen Sitz
haben sollte. Ich als Leipziger verweise, wenn Sie erlauben, ganz zurückhaltend auf meine Stadt, aber eine diesbezügliche Entscheidung ist überfällig. Sie müsste endlich gefällt werden.
({9})
Die Bundesregierung hat eine Bringschuld. Ich fordere
sie auf, möglichst schnell eine Entscheidung zu treffen.
({10})
Ein Drittes will ich hier ansprechen, was sehr wichtig
für Ostdeutschland ist, denn daraus können sich viele
Potenziale für Ostdeutschland ergeben. Das ist die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit der ostdeutschen Regionen mit unseren Nachbarn in Polen und
Tschechien. Wir haben dafür in den letzten Jahren viel
Geld in die Hand genommen, viel Unterstützung gegeben und auch die Regionen und Länder haben viel getan. Aber es gibt noch mehr zu tun. Durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit, durch wirtschaftliche
Kooperation, durch die Vernetzung von Wissenschaft
und Wirtschaft gibt es in diesem Gebiet noch viele Möglichkeiten, um etwas zu tun und neue Arbeitsplätze zu
schaffen bzw. alte zu sichern. Dazu gibt es von uns organisiert die Bundeseinrichtung des Zentrums Mittel- und
Osteuropa für Wirtschaft und Kultur, das seinen Sitz als
Fraunhofer-Institut in Leipzig hat. Das sollte langsam als
Zentrum eines Netzwerkes und Verbindungsglied zwischen Wissenschaft und Forschung konkret auf den Weg
gebracht werden, damit die Potenziale erschlossen werden können, die wir brauchen, um das Grundziel der
Schaffung von mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätzen erreichen zu können.
Ich glaube, wenn wir all das und vieles andere, was
schon gesagt wurde, in die Hand nehmen und nach vorn
schreiten, können und werden wir es schaffen. Packen
wir es an; es lohnt sich!
({11})
Ich erteile das Wort Peter Hettlich, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Joachim Günther, du hast in deiner Rede eben beklagt, dass wir zweimal in diesem Jahr über einen
Bericht zum Stand der deutschen Einheit debattieren.
({0}) [FDP]: Festgestellt!)
Aber ich finde, dieser Bericht ist - das sollte man vorweg sagen - von der Qualität durchaus anders als seine
Vorgänger. Gerade in der Analyse ist dieser Bericht - das
darf man durchaus einmal lobend erwähnen - relativ
realistisch und auch ehrlich. Das ist eine wichtige Feststellung. Ich habe es sehr bedauert, dass wir das in den
letzten vier Jahren unter Rot-Grün nicht hinbekommen
haben; das scheint hier eine neue Kultur der Ehrlichkeit zu sein.
Ich will auch ausdrücklich lobend erwähnen, dass ich
gesehen habe, dass das Bundeskabinett und auch die
Mitglieder dieses Hauses in starker Zahl hier vertreten
waren. Das war bei den Debatten über den Bericht zum
Stand der deutschen Einheit nicht immer so; manchmal
haben wir hier nur in kleiner Runde diskutiert.
({1})
Ich kritisiere aber, dass keiner der Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer auf der linken Seite
von mir sitzt.
({2})
Das finde ich sehr bedauerlich. In den letzten Jahren waren die Ministerpräsidenten immer hier. Das lag offensichtlich daran, dass zu den jeweiligen Zeiten Wahlen
anstanden. Ich finde, dass die Anwesenheit sehr wichtig
wäre; denn der Aufbau Ost ist nicht nur ein Thema des
Bundes, sondern auch ein Thema der Länder. Nur zusammen können wir diese große Herausforderung bewältigen.
({3})
Meine Damen und Herren, vieles ist gesagt worden.
Wir haben relativ gute Wachstumszahlen im produzierenden Gewerbe in Ostdeutschland; aber wir wissen,
dass das nicht ausreicht, um die Konvergenz zu erreichen. Das Wachstum in Ostdeutschland liegt nach wie
vor insgesamt hinter dem im Westen zurück. Zu einer
Konvergenz bräuchte man logischerweise mehr Wachstum in Ostdeutschland als in Westdeutschland. Davon
sind wir nach wie vor entfernt.
Auch wenn die Zahlen des Arbeitsmarktes sich besser
darstellen, müssen wir ehrlicherweise zugeben, dass
viele dieser Jobs nach wie vor in Teilzeitbereichen und
Niedriglohnbereichen entstanden sind. Eine Konsequenz, die daraus resultiert - die Kollegin Wicklein hat
das eben noch einmal angesprochen -, ist die niedrige
Kaufkraft in Deutschland. Ich habe es schon in meiner
letzten Rede gesagt: Die künftige Altersarmut in Ostdeutschland ist ein zentrales Problem. Diesem können
wir nicht nur mit dem Niedriglohnsektor, mit dem Argument, dass dadurch Arbeit geschaffen wird, begegnen,
sondern wir müssen hier auch andere Akzente setzen.
Aus unserer Sicht ist ganz klar: Wenn wir im Osten etwas schaffen wollen, dann müssen wir stärker in die
Köpfe, die Bildung und die innovativen Industrien sowie
die Produktionsbereiche, die tatsächlich gut bezahlte, angemessen bezahlte Jobs schaffen können, investieren.
({4})
Die Fehlverwendung ist kurz angesprochen worden.
„Täglich grüßt das Murmeltier“, könnte man sagen. Wir
hatten vor circa 14 Tagen eine Konferenz zum Thema
„Beton oder Köpfe“, über das wir mit Herrn Sarrazin
und dem Staatssekretär aus dem brandenburgischen Finanzministerium debattiert haben. Die Fehlverwendung
ist Fakt; darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren.
Es ist auch so, dass die Verwendung der Mittel des
Korbes I, da sie als Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen definiert sind, letzten Endes nicht in irgendeiner Form sanktioniert werden kann. Aber ich frage an
dieser Stelle auch die Bundesregierung: Was ist denn mit
dem Korb II? Sie versprechen uns seit langem, uns einmal die noch nicht näher spezifizierten Mittel aufzuschlüsseln. Ich sehe an dieser Stelle durchaus eine Möglichkeit milder Sanktion, indem den Ländern gesagt
wird: Wenn ihr die Mittel aus dem Korb I nicht richtig
verwendet, dann werden wir beim Korb II anders verfahren; denn sonst müssen wir jedes Jahr erdulden, dass in
der Presse über das Thema Fehlverwendung diskutiert
wird. - Hier sind Sie aufgefordert, zu handeln.
({5})
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, haben uns für die
nächsten Jahre einen Schwerpunkt gesetzt: Wir wollen
die endogenen Potenziale und vor allem die Köpfe in
Ostdeutschland stärken. Wir haben nach wie vor eine
Unternehmenslücke von 70 000 bis 100 000 Unternehmen. Trotz großer Anstrengungen bei der Werbung von
Investoren haben wir konstatieren müssen, dass wir es
nicht geschafft haben, die Lücke zu schließen.
Wir haben auch gesehen, dass die Zusammenlegung
von IIC und Invest in Germany sich letztendlich aus der
Tatsache ergibt, dass es immer weniger Investoren aus
dem Ausland und aus den westlichen Bundesländern
gibt.
Es ist ein Problem, dass die Betriebe in Ostdeutschland, die sich aus dem dortigen Potenzial entwickelt haben, zu klein sind und häufig genug als verlängerte
Werkbänke fungieren. Das heißt, sie sind letzten Endes
immer abhängig vom Wohlwollen der entsprechenden
Konzerne im Westen oder im Ausland. Hier müssen wir
andere Wege gehen.
Gerade angesichts des demografischen Wandels und
des Wegzugs junger, hoch qualifizierter Leute müssen
wir neue Perspektiven bieten. Eine Perspektive kann
sein, diesen jungen, talentierten Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbstständig zu machen. Da gibt es
viele Möglichkeiten für Existenzgründungen. Wir werden dieses Thema und auch das Thema der Finanzierung
von Existenzgründungen in den nächsten Jahren sehr
stark in diesem Haus vorantreiben. Wir werden da nicht
locker lassen. Aus unserer Sicht ist das einer der vielen
Schlüssel, um die Probleme in Ostdeutschland zu lösen.
Wenn wir über die Frage der Förderung in Ostdeutschland sprechen, dann kommen wir natürlich immer wieder auf die Cluster-Diskussion zurück. Hier
möchte ich einen neuen Aspekt in die Diskussion bringen. Das Max-Planck-Institut für Ökonomik mit Sitz in
Jena hat in einem sehr interessanten Artikel in „Technology Review“ darauf hingewiesen, dass sich Cluster etwas anders entwickeln, als wir immer gedacht haben.
({6})
Sie lassen sich nicht unbedingt von außen beeinflussen,
sondern sie sind sehr stark von inneren Impulsen abhängig.
Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Wir
müssen die endogenen Potenziale stärken; wir müssen
uns auf die jungen, talentierten Menschen konzentrieren.
Dann schaffen wir es möglicherweise, auch an anderen
Stellen neue Cluster zu bilden.
({7})
Ich werde im Anschluss an die Debatte zu der Veranstaltung „Im Osten viel Neues“ gehen. Es gibt dazu einen Antrag der Koalitionsfraktionen. Da schmücken sich
einige vielleicht mit fremden Federn; wir haben jedenfalls an dem Projekt „Unternehmen Region“ mitgearbeitet. Wir halten das für ein sehr gutes Projekt. Ich
werde es mir jedenfalls anschauen. Frau Pieper, ich kann
Ihnen nur empfehlen: Kommen Sie mit! Dann können
Sie auch noch etwas lernen!
Danke schön.
({8})
Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist
der Kollege Michael Kretschmer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost kann überall dort als gelungen bezeichnet werden, wo der Staat unmittelbar handeln konnte. Bei Schulen, Krankenhäusern und beim Straßenbau sind die
Erfolge offenkundig und unbestritten. Sorgen machen
uns der privatwirtschaftliche Bereich sowie die viel zu
geringe Zahl an Unternehmen und Arbeitsplätzen. Die
Koalition ist der Meinung, dass wir, um einen selbst tragenden Aufschwung zu erreichen, die Innovationspolitik
stärken und zu einem Herzstück der Aufbau-Ost-Strategie weiterentwickeln müssen.
Forschung und Entwicklung sind unserer Meinung
nach die Motoren des Aufbaus Ost. Mit neuen Produkten
und Dienstleistungen gewinnen die neuen Länder schon
heute im Wettbewerb. An vielen Stellen sind Erfolge
sichtbar. In der Nanoelektronik, im Automobilbau und in
der Automobilzuliefererindustrie sowie in der regenerativen Medizin oder der Biotechnologie liegen die neuen
Länder in der Forschung und Entwicklung nicht nur
deutschlandweit, sondern auch international an der
Spitze. Das macht Mut. Denn Innovation und die Einführung von neuen Technologien sind die Voraussetzungen dafür, in einer globalisierten Welt an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen und vorne mit dabei zu sein.
({0})
Deswegen hat das Bundesforschungsministerium in
dieser Woche zu einer Konferenz mit dem Titel „Im
Osten viel Neues“ eingeladen. Zu dieser Stunde treffen
sich Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer in Berlin, um gemeinsam zu beraten, wie man noch viel besser
die Forschung und Entwicklung zu einem Motor für den
Aufbau Ost machen kann. Wir sind dankbar, dass sich
gerade das Bundesforschungsministerium in diesem Prozess an die Spitze gestellt hat und dieser Tage ein Memorandum von Wirtschafts- und Wissenschaftsministern
aus den Bundesländern und von der Bundesforschungsministerin unterzeichnet werden konnte. Man will diesen
Prozess also gemeinsam auf den Weg bringen.
({1})
Wir wissen, dass wir Exzellenz brauchen und nicht
aus der Schwäche heraus handeln dürfen. Deswegen hat
das Bundesforschungsministerium vor einigen Jahren
die Programmfamilie „Unternehmen Region“ auf den
Weg gebracht. Das Ziel ist, vorhandene Potenziale auszubauen und sie zu Projekten mit Leuchtkraft zu entwickeln, um zu einer wirklichen Exzellenz zu gelangen.
Wir können heute, nach mehreren Jahren dieses Prozesses, sagen: Es ist gelungen. Auch wenn bei diesem
Exzellenzwettbewerb vor wenigen Wochen nur Dresden
erfolgreich war, so sieht man doch: Bei vielen hat nicht
viel gefehlt, dann wären auch sie international mit dabei
gewesen. Deshalb wollen wir schauen, dass dieser Prozess weiter forciert wird und dass dieser Wettbewerb in
der nächsten Zeit für die neuen Länder positiv ausgeht.
Wir wissen, dass es Zeit braucht, bis diese Exzellenz
und das Potenzial an wissenschaftlichen Einrichtungen
auch von den Unternehmen in den Regionen genutzt
werden kann. Das ist das Problem. Wir haben keine Zeit.
Wir haben aufzuholen. Die Arbeitslosigkeit ist - wie beschrieben - viel zu hoch, als dass wir uns zurücklehnen
könnten. Deshalb ist „Unternehmen Region“ ein Mittel,
um diesen Prozess abzukürzen und die Unternehmen in
den Regionen schneller an diesen Innovationen teilhaben
zu lassen.
({2})
Wir werden bis zum Jahr 2008 insgesamt
570 Millionen Euro für diesen Prozess ausgeben. Ein
Teil davon ist die Förderlinie Inno-Regio, bei der wir
schon heute sagen können, dass 7 500 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden sind. Es gibt 143 Neugründungen. Die Exportquote der beteiligten Unternehmen
ist um 30 Prozent gestiegen. Der Umsatz ist sogar um
50 Prozent gestiegen. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
({3})
Wir versuchen, die Kooperation von Universitäten
und Fachhochschulen in den Regionen zu verstärken.
Deswegen haben wir ein aus meiner Sicht richtiges Instrument eingeführt, nämlich die Forschungsprämie.
Wir sind dabei, im Rahmen des Hochschulpakts zu organisieren, dass die Studienkapazitäten in den neuen Bundesländern nicht abgebaut, sondern erhalten werden, sodass auch Studierende aus den alten Bundesländern
zunehmend in die neuen Bundesländer kommen. Das ist
eine große Chance für die innere Einheit und für das Zusammenwachsen. Es ist aber auch eine große Chance für
die neuen Bundesländer; denn natürlich können wir mit
innovativen Produkten nur dann erfolgreich sein, wenn
wir auch die klugen Köpfe und die jungen Wissenschaftler haben. Deshalb sollten wir alles daran setzen, dass
diese Kapazitäten erhalten bleiben.
({4})
Ich bin der Bundesforschungsministerin dafür dankbar, dass sie sich so sehr für dieses Ziel engagiert und
jetzt angekündigt hat, eine Imagekampagne für ein Studium in den neuen Bundesländern aufzulegen. Ich
glaube, dass dies eine gute Möglichkeit dafür ist, für diesen Standort zu werben.
({5})
Wir wissen, es bleibt viel zu tun. Wir sind nicht am
Ende eines Prozesses, sondern wir sind maximal in der
Mitte. Dennoch: Das, was wir in den letzten 16 Jahren
geschaffen haben, indem wir die kommunistische Missund Planwirtschaft beseitigt haben, kann sich sehen lassen. Ich bin der festen Überzeugung: Die Wiedervereinigung war und ist eine gewaltige und beispiellose patriotische Leistung der Deutschen füreinander.
({6})
Das macht mich stolz, auch wenn ich weiß, dass wir uns
damit nicht zufrieden geben können. Wir müssen weiter
an diesem Prozess arbeiten. Vor allem brauchen wir neue
Instrumente. Darüber sollten wir in den nächsten Wochen und Monaten intensiv diskutieren, um neuen
Schwung in den Aufbau Ost zu bringen.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz von
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einer Debatte zum Stand der deutschen Einheit sprechen wir natürlich auch über Perspektiven. Das bedeutet, dass wir
auch über Bildung und Forschung in Ostdeutschland
sprechen. In den Vorlagen für diese Debatte kommt dies
zur Geltung. Der Koalitionsantrag zur Innovationsförderung nimmt das Thema sogar gesondert auf.
Im Bereich der Innovationsförderung sind in den
letzten Jahren schon unter Rot-Grün verschiedene Programme und Maßnahmen umgesetzt worden, lieber Kollege Hettlich. Stichworte sind die Programme „Unternehmen Region“, „Inno-Regio“, „Inno-Profile“ und
„Innovative regionale Wachstumskerne“ sowie die Zentren für Innovationskompetenz usw. All diese Dinge haben Ostdeutschland nach vorn gebracht. Es gibt gute Erfolge. Wir sind auf dem richtigen Weg. Die Menschen
sind auf dem richtigen Weg. Dies sollte aus parteitaktischen Gründen von der Opposition nicht kleingeredet
werden.
({0})
Gleichzeitig müssen wir aber auch der Versuchung
widerstehen, die Lage schönzureden. Deshalb bedanke
ich mich ganz besonders für den Bericht der Bundesregierung. Der Weg ist noch weit. Der Osten befindet sich
mitten in einem Aufholprozess. Die erste Auswahlrunde
für Spitzenuniversitäten hat gezeigt, dass der Osten noch
nicht dort ist, wo er sein sollte.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Wir haben
in Ostdeutschland tolle Hochschulen und eine hervorragende Forschung und haben ermutigende Ergebnisse erzielt. Aber insgesamt ist diese Region noch nicht stark
genug.
Da stoßen wir auf ein Problem. Wettbewerb in der
Wissenschaftspolitik ist als neues Steuerungsinstrument richtig. Er belebt, bewegt und setzt Kräfte frei.
Aber natürlich muss auch entsprechende Wettbewerbsfähigkeit bestehen. Wettbewerb ist nur dann sinnvoll,
wenn die Teilnehmer mit Aussicht auf Erfolg konkurrieren können.
({1})
In der Forschung haben die westdeutschen Regionen einen Vorsprung von Jahrzehnten. Einige Länder haben
sich zudem traditionell eher auf die Forschung konzentriert und die Lehre lieber anderen überlassen; darauf
werde ich noch zurückkommen.
Das bedeutet: Die politische Seite muss aufpassen. Je
mehr Wettbewerb wir in diesem System erzeugen, desto
größer ist die Gefahr, dass sich Unterschiede manifestieren,
({2})
dass der eine Teil dauerhaft abgehängt bleibt, statt aufzuholen. Das kann sich letztlich ganz Deutschland nicht
leisten. Es liegt im vitalen Interesse aller Bundesländer,
dass Ostdeutschland aufholt.
({3})
Das führt mich zum geplanten Hochschulpakt. Er hat
zwei Komponenten: Die eine Komponente ist, dass für
die Forschung eine so genannte Overheadfinanzierung
eingerichtet wird. Das hilft forschenden Hochschulen
und ist unbestritten sinnvoll. Das führt natürlich auch
Swen Schulz ({4})
dazu, dass wieder die bereits forschungsstarken Hochschulen einen größeren Teil vom Kuchen abbekommen.
Die zweite Komponente des Hochschulpaktes ist,
dass Studienplätze finanziert werden sollen. Eine solche
Finanzierung benötigen wir in ganz Deutschland dringend. Nun haben wir aber eine sehr differenzierte Situation im deutschen Hochschulwesen. Im Westen werden
die Studienplätze immer knapper, während die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland dazu führt, dass es
mehr Studienplätze als Studierende geben wird. Es darf
nicht passieren, dass diejenigen Länder, die sich um die
Lehre gekümmert haben und im Rahmen der Exzellenzinitiative durchfallen, kein Geld für Studienplätze erhalten, weil sie ja so viele davon haben,
({5})
während diejenigen Länder, die zu wenig Studienplätze
haben, doppelt belohnt werden und neben den Mitteln
im Rahmen der Exzellenzinitiative auch noch Geld für
Studienplätze abgreifen.
Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Ostdeutschland geht beim Hochschulpakt leer aus und baut
Studienplätze ab, während sie im Südwesten der Republik teuer neu aufgebaut werden. Einen solchen Quatsch
sollten wir nicht mitmachen.
({6})
Dabei appelliere ich nicht nur an die Länder. Vielmehr
ist auch der Bund, sind Bundestag und Bundesregierung
gefragt.
Wir müssen die Menschen anregen, in den Osten zu
kommen. Darum ist es gut, dass in dem vorliegenden
Antrag der Koalition deutlich gemacht wird, dass die
ostdeutsche Hochschullandschaft gestärkt werden muss,
einem Abbau von Studienplätzen entgegengewirkt wird
und sogar Anreize zum Ausbau und zur Verbesserung
der Qualität der Lehre gesetzt werden sollen.
Studierende sind eine große Chance für Ostdeutschland. Doch gleichzeitig kosten Hochschulen bzw. gute,
attraktive Studienplätze Geld, das häufig nicht vorhanden ist. Schaut man sich das Berlinurteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Hauptstadt erst einmal
ordentlich an der Wissenschaft sparen soll, einmal genauer an, kommt man zu dem Ergebnis, dass das natürlich genau falsch ist. Wir müssen auf der politischen
Ebene andere Wege beschreiten.
Da ich schon beim Bundesverfassungsgerichtsurteil
und beim Thema Berlin bin, will ich als Berliner Abgeordneter etwas näher darauf eingehen. Die Lasten und
Anstrengungen Berlins sind in Karlsruhe nicht angemessen berücksichtigt worden.
({7})
Die Klage ist abgewiesen worden; das ist nun einmal so.
Umso wichtiger ist es, dass wir alle überlegen, wie wir
mit Berlin umgehen. Denn Berlin ist die Hauptstadt ganz
Deutschlands.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Volkmar Vogel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
heutige Debatte belegt es mit aller Deutlichkeit: Der Jahresbericht zur deutschen Einheit hat nichts an Bedeutung
und Notwendigkeit eingebüßt - auch heute nicht,
17 Jahre, nachdem die Mauer fiel. Es ist ein schöner Tag
und ich freue mich immer wieder, wenn der
9. November naht; einen Tag vorher hat mein Vater Geburtstag. Ich erinnere mich gerne an diesen Tag: An diesem Tag fiel die Mauer und seit diesem Tag geht es aufwärts im Lande.
({0})
Aus den Beiträgen meiner Vorredner, derer, die sich
zur deutschen Einheit bekennen und immer dafür gekämpft haben, wird deutlich: Die Bedeutung dieses Berichts wird sich in den nächsten Jahren wandeln. Es gibt
Regionen in den alten Bundesländern, die ähnliche
Strukturprobleme haben, wie wir sie gerade in den neuen
Bundesländern meistern. Die Lösungen für die neuen
Länder können Lösungen für die Probleme in den alten
Ländern sein; das wird in diesem Bericht deutlich.
({1})
Bestes Beispiel dafür sind das Infrastrukturbeschleunigungsgesetz, die Ermöglichung des Abiturs nach zwölf
Schuljahren und Regelungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, damit es in ihrem Betrieb weitergeht.
Es geht nicht mehr nur um die neuen Bundesländer, es
geht um unser ganzes Land. Darum ist dieser Bericht kein
Bericht zum Aufbau Ost, sondern - deshalb der Name ein Bericht zur deutschen Einheit. Er zeigt unstreitig die
Erfolge auf, die wir erzielt haben: die überproportionale
Steigerung der Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe und auch die hervorragende Infrastruktur in den
neuen Ländern, was keiner leugnen kann. Das ist doch
Beleg dafür, dass viel erreicht worden ist.
({2})
Die Menschen in den neuen Ländern können nicht
nur stolz sein; nein, sie sind stolz auf das, was erreicht
worden ist. Die Liebe zu ihrer Heimat prägt das wieder
gewonnene Selbstbewusstsein, das sich in den letzten
Jahren herausgebildet hat. Nichtsdestotrotz betrübt uns
alle die nach wie vor zu hohe Arbeitslosigkeit, die Abwanderung aus den Regionen und die demografische
Entwicklung. Daher muss alles, was zu Wachstum und
Beschäftigung führt, oberste Priorität haben. Es geht
nicht darum, wie in den letzten Jahren leider geschehen,
die Mängel immer besser zu verwalten. Nein, wir müssen unsere ganze Kraft daransetzen, diese Mängel gezielt zu beseitigen. Die Tendenz der letzten Monate belegt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. Die
Arbeitslosenquote sinkt - wenn sie auch immer noch zu
hoch ist - im Westen wie im Osten in gleicher Weise.
Ganz besonders wichtig ist, dass die Zahl der offenen
Stellen steigt, und zwar auch im Osten. Das lässt hoffen.
({3})
Die große Koalition steht für Kontinuität und vor allem für Planungssicherheit für die Menschen. Das belegt
auch der Ihnen vorliegende Entschließungsantrag. Der
Strukturwandel ist noch nicht abgeschlossen. Ihn auf hohem Niveau weiter zu fördern, bleibt unser erklärtes
Ziel. Es ist richtig und wichtig, dass der Solidarpakt bis
zum Jahr 2019 für die neuen Länder das entscheidende
Instrument ist. Ich möchte es noch einmal betonen:
156 Milliarden Euro bedeuten eine enorme Anstrengung
unseres Landes. - Angesichts dessen müssen wir uns
nicht verstecken. Vielmehr danken wir dafür, dass diese
Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Der Jahresbericht ist auch eine Art Halbzeitbilanz.
Nach 16 Jahren gibt es nicht mehr die neuen Länder. Ich
bin auch kein „Neuer Länderer“, sondern Thüringer;
darauf bin ich stolz.
({4})
Wir haben fünf neue Bundesländer, die sich eigenständig
entwickelt und ihren eigenen Weg, weg vom kommunistischen Zentralstaat, gefunden haben. Jedes Bundesland
hat seine spezifischen Stärken, aber auch seine spezifischen Schwächen und Defizite. Die besonderen Bedingungen jedes einzelnen Bundeslandes gilt es bei den derzeitigen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
über die Verwendung der Mittel aus dem Korb II des Sozialpakts zu berücksichtigen. Das entbindet die Länder
natürlich nicht von ihrer Verantwortung, mit diesen Mitteln sorgsam umzugehen und damit für Wachstum, Beschäftigung und Wirtschaftskraft zu sorgen. Wir müssen
aber begreifen, dass sich in den jeweiligen Ländern nach
16 Jahren ganz unterschiedliche Entwicklungspotenziale
und -konzepte herausgebildet haben. Wir sehen hoch
entwickelte Wachstumskerne und funktionierende ländliche Räume, ebenso aber leider immer noch Industriebrachen und strukturschwache Regionen. Ein Wachstumskern - um einen Vergleich zu verwenden - braucht
natürlich auch eine gesunde Schale. Die Schwerpunktförderung von Wachstumskernen und von regional spezifischen Stärken ist daher in unserer Förderstrategie
festzuschreiben.
Gestatten Sie mir noch einen Vergleich: Ein starker
Baum kann nicht ständig mit Dünger versorgt werden.
Er braucht auch ein starkes Umfeld, in das er seine Wurzeln treiben kann und aus dem er Nährstoffe ziehen
kann. Denken wir daher neben der richtigen und notwendigen Förderung von Clustern in den innovativen Branchen auch an die Entwicklungspotenziale im ländlichen
Raum. Nutzen wir sie künftig besser, gerade mit Blick
auf die Entwicklung der Ballungsräume. Damit leisten
wir einen Beitrag gegen die Landflucht und gegen die
Abwanderung junger Menschen.
({5})
Hier greifen die Vorschläge der Koalition, spezielle regionale Stärken, einschließlich des Tourismus, zu fördern.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Ja, Herr Präsident. - Darunter fällt auch die verstärkte
Förderung kleinteiliger, aber krisenfester mittelständischer Unternehmen und Handwerksbetriebe. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Landwirtschaft, die sich
in den nächsten Jahren verändern wird. Sie ist Wirtschaftsfaktor und Teil der Wirtschaft. Aufgrund der
Potenziale der Landwirtschaft im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe werden die Landwirte zu Energiewirten und Werkstofflieferanten. Landwirte werden ebenso
wie die Beschäftigten in allen anderen Bereichen eine
hohe Qualifikation brauchen. Deswegen kann ich mich
nur den Worten meiner Kollegen Katherina Reiche und
Michael Kretschmer anschließen: Bildung wird in den
nächsten Jahren ein Schwerpunktthema, gerade auch in
den neuen Ländern, sein.
Bei der Infrastruktur sind wir auf gutem Wege.
Herr Kollege, die werden Sie jetzt aber nicht mehr erläutern können.
({0})
Wir dürfen nicht nachlassen, damit wir das Notwendige erreichen. In Zukunft kommt es darauf an, gerade
im Bereich Bildung mehr zu investieren und sie den spezifischen Bedingungen der neuen Länder anzupassen.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Stephan Hilsberg, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte sprechend ist es wichtig, so
glaube ich, hervorzuheben, dass wir zu Recht über viele
Leistungen gesprochen haben, die im Zuge der deutschen Einheit von dieser Regierungsbank aus von allen
Regierungen getätigt wurden, auch wenn manche Fehler
zu beklagen waren. Vor allen Dingen ist aber festzuhalten, dass die Erfolge der deutschen Einheit zuallererst
auf der gesamtdeutschen Solidarität und der Leistungsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland beruhen.
({0})
Frau Pieper, die Erfolge beruhen nicht auf dem, was
Sie hier vorgetragen haben. Das war billiger Populismus; auch das muss gesagt werden. Ich habe gedacht,
man müsste die FDP umbenennen in „Frivoler Deutscher Populismus“. Das wäre angemessen.
({1})
Herr Bisky, zur Ostalgie, die in Ihrer Rede zum Ausdruck kam: In Ostdeutschland kann man natürlich
manch ein Gefühl wecken, wenn man an die scheinbar
so einfache Finanzierung des ostdeutschen Gesundheitswesens erinnert. „Die Wahrheit ist konkret“, sagt
Lenin, Herr Bisky. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass meine Tochter trotz exquisiter Behandlung
fast gestorben wäre, wenn wir nicht ein Medikament aus
Westberlin erhalten hätten. Solidarität gibt es eben nicht
erst jetzt; es gab sie auch zu Zeiten der Mauer. Das hatte
mit der Leistungsfähigkeit der Ärzte nichts zu tun.
Soll ich daran erinnern, dass eine der bekanntesten
Schriftstellerinnen Ostdeutschlands kurz vor Ende der
DDR, noch zu Mauerzeiten, fast vergiftet worden wäre,
weil das Bezirkskrankenhaus nicht in der Lage war, antiseptische Wäsche und Mullbinden zu organisieren? Das
war die Realität zu DDR-Zeiten.
({2})
Wenn wir heute erfreulicherweise zu verzeichnen haben, dass die Lebenserwartung in Ostdeutschland gravierend gestiegen ist, und zwar nicht, wie im Westen, in
normalem Maße, sondern gewaltig, dann müssen wir
feststellen, dass das kein Ergebnis des DDR-Gesundheitswesens ist, sondern eine Folge der deutschen Einheit und der Leistungsfähigkeit dieses Landes. Das gilt
es bei allem, was passiert ist, hervorzuheben.
({3})
Wir müssen in diesem Zusammenhang zwar über Probleme reden, man muss an dieser Stelle aber auch sagen,
dass vieles geleistet wurde und dass nicht alles so einfach ist, wie es die DDR vorgegaukelt hat.
Es geht uns nicht nur um Erfolge und wir reden die
Probleme nicht schön. Es ist bedrückend, wenn so viele
Menschen in Ostdeutschland ihre Situation als bedrückend empfinden. Es ist bedrückend, dass die Arbeitslosigkeit nach wie vor doppelt so hoch ist. Es ist bedrückend, wenn sich so viele Menschen sozial
ausgegrenzt fühlen. Darum müssen wir uns kümmern
und darum kümmern wir uns auch. Deshalb ist es wichtig hervorzuheben, dass, um aus dieser Situation herauszukommen, Fördermittel eine notwendige Voraussetzung sind, aber keine hinreichende. Probleme können
wir administrieren, wir können viele Rahmenbedingungen schaffen. Doch Mut, Selbstvertrauen, Kreativität
kann Politik nur anregen, sie kann sie nicht verordnen,
sie kann sie nicht in Gesetze schreiben. Diese Eigenschaften sind das Wichtigste, was man braucht. Die
Menschen selbst sind es, von denen die Kraft ausgehen
muss. Wir haben heute die Gelegenheit, an die Menschen zu appellieren, und nutzen sie. Doch es sind noch
immer zu wenige, die die Chancen nutzen.
({4})
Ich möchte daran erinnern: Von allen ehemaligen
COMECON-Ländern haben wir in Ostdeutschland heute
den höchsten Lebensstandard. Das ist sehr schön und ein
großer Erfolg. Wir haben heute in Ostdeutschland die
höchste Produktivität aller ehemaligen Warschauer-Vertrag-Staaten. Doch die Messlatte für die Produktivität,
dafür, dass die Betriebe existenz- und wettbewerbsfähig
sind, liegt nirgendwo so hoch wie in Ostdeutschland.
Deswegen reicht es nicht, nur eine nachholende Modernisierung zu machen.
Herr Kollege!
Wir müssen in Ostdeutschland Menschen, Betriebe,
Wissenschaftseinrichtungen haben, die sich zum Schrittmacher der Modernisierung machen, die selber Wege gehen und Lösungen suchen, die es in ganz Deutschland
noch nicht gegeben hat. Nur so werden wir die Probleme
lösen.
({0})
Herr Kollege!
Das ist mein letzter Punkt; gestatten Sie mir das noch! Dazu gehört, dass man sich der Werte, die dem zugrunde
liegen - Freiheit, Toleranz, Selbstvertrauen, Zivilcourage -,
bewusst sein muss, dass man sie ehren muss, nicht nur
heute, sondern auch mit Blick auf diejenigen, die ihre
Haut unter DDR-Bedingungen zu Markte getragen haben. Deswegen sehen wir uns verpflichtet, für eine angemessene Würdigung aller Opfer der SED-Diktatur einzutreten. Das gehört zur deutschen Einheit dazu.
({0})
Wir werden nicht zulassen, dass es hier zu einem
Schlussstrich unter die DDR-Vergangenheit kommt. Wir
werden diese Diskussion weiterführen und weiter ermöglichen. Denn Zukunftsgestaltung und die Würdigung der Vergangenheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Herr Bisky, man mag bedauern, dass Sie hier sitzen;
aber Wahlergebnisse sind Wahlergebnisse. Einen konstruktiven Beitrag haben Sie nicht geleistet. Ihre letzte
Äußerung, Sie seien im eigentlichen Sinne die Partei der
deutschen Einheit, das war der schönste Witz!
({1})
Was von Ihnen kommt, ist nur Populismus, etwa Ihr Antrag, die Regierung möge komplett nach Berlin umziehen. Der nützt uns doch nur dann, wenn wir ihn mit
Verwaltungsmodernisierung verbinden, wie mit dem
Bundesamt für Justiz geschehen. Auf diesem Weg gehen
wir weiter.
Die neuen Einrichtungen, um die es geht, die Bundesstiftung „Baukultur“, die nach Potsdam gekommen ist -
Herr Kollege Hilsberg!
Auf diesem Weg werden wir weitergehen, im Großen
wie im Kleinen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Die überragende Bedeutung, die der Deutsche Bun-
destag und auch das amtierende Präsidium der Behand-
lung dieses Themas unverändert beimisst, wird auch da-
ran deutlich, dass aus der vereinbarten 90-minütigen
Debatte eine zweistündige Debatte geworden ist. Wir
alle sind uns einig, dass noch vieles hätte vorgetragen
werden können, vielleicht auch müssen. Das wird bei der
weiteren Beschäftigung mit den der Debatte zugrunde
liegenden Unterlagen gewiss erfolgen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/2870, 16/313 und 16/3284 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/3294 zu Tages-
ordnungspunkt 3 b soll zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an den Haus-
haltsausschuss überwiesen werden.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3310
soll an dieselben Ausschüsse wie der Jahresbericht der
Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2006
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? -
Das sieht ganz so aus. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 3 d zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/1200. Unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
schuss in Kenntnis des Jahresberichts der Bundesregie-
rung zum Stand der deutschen Einheit 2005 auf Druck-
sache 15/6000 die Annahme des Entschließungsantrags
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
che 16/650. Hierzu liegt mir eine Erklärung des Kolle-
gen Carsten Müller nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor1). Wer stimmt für die gerade genannte Beschluss-
empfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss in Kenntnis des genannten Jahresberichts
die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/693. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung in Kenntnis des genannten
Jahresberichts die Ablehnung des Entschließungsantrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/692. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss-
empfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats ({0})
- Drucksache 16/2856 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deutschen Bundestages
- Drucksache 16/3199 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats
für Bio- und Medizinethik
- Drucksache 16/3289 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Einsetzung eines Ethik-Komitees des Deutschen Bundestages
- Drucksache 16/3277 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache erneut eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung der Bundesministerin Dr. Annette
Schavan das Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die ethische
Urteilsbildung ist Teil politischer Entscheidungsprozesse.
({0})
Uns, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und
den Mitgliedern der Bundesregierung, kann es niemand
abnehmen, uns gewissenhaft um eine ethische Urteilsfindung zu bemühen und politische Entscheidungen verantwortungsbewusst zu treffen. Das ist unser Königsrecht. Umso bedeutsamer ist es, dass wir den
Sachverstand von Experten nutzen. Auch das gehört zu
unserer Verantwortung.
({1})
Namens der Bundesregierung lege ich Ihnen heute
den Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats vor. Sein Themenspektrum resultiert aus
der dynamischen Entwicklung der Lebenswissenschaften und der Anwendung ihrer Verfahren und Ergebnisse
auf den Menschen. Damit sind Grundfragen betroffen,
bei denen es letztlich um unsere Pflicht zum Schutz des
menschlichen Lebens geht und die auf unserer Überzeugung hinsichtlich der Unantastbarkeit und Unverwirkbarkeit der Menschenwürde basieren, die allem politischen Handeln vorgelagert ist.
Die Freiheit der Forschung findet ihre Grenze genau
dort, nämlich bei der Achtung vor der Unantastbarkeit
der Menschenwürde. Weil sich die Lebenswissenschaften so dynamisch entwickeln und angesichts zunehmender Möglichkeiten - zum Beispiel durch medizinischtechnische Eingriffsmöglichkeiten auf menschliches Leben - werden wir in den kommenden Jahren wie in der
Vergangenheit auch herausgefordert sein, die Schutzfunktion wahrzunehmen, die dem Gesetzgeber aufgegeben ist.
In diesem Zusammenhang kann von uns erwartet
werden, dass wir unsere Aufgabe sachkundig wahrnehmen und dass allen Abgeordneten des Deutschen Bundestages und allen Mitgliedern der Bundesregierung der
gleiche Zugang zum entsprechenden Sachverstand ermöglicht wird. Uns Zugang zu diversem Sachverstand in
naturwissenschaftlich-medizinischer, ethischer, rechtlicher und sozialwissenschaftlicher Hinsicht zu ermöglichen, ist Sinn und Zweck des deutschen Ethikrats. Daher
soll ein Gremium eingerichtet werden, das unabhängig
und in voller Souveränität gegenüber dem Parlament und
der Regierung arbeitet.
Für das Verhältnis zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung einerseits und dem Deutschen Ethikrat andererseits ist der Respekt vor der wechselseitigen Souveränität zentral bedeutsam: der
Respekt des Parlaments und der Regierung vor dem
Deutschen Ethikrat und der Respekt des Ethikrats gegenüber dem Parlament und der Regierung. Deshalb schlagen wir vor, ein reines Expertengremium einzusetzen,
das die jeweils eigene Verantwortung deutlich werden
lässt. Der Ethikrat kann dem Parlament und der Regierung die Debatten und Prozesse der Entscheidungsfindung nicht abnehmen.
({2})
Umgekehrt muss der Ethikrat in seinen Beratungen
frei und souverän sein. Sie sind allen Parlamentsdebatten
vorgelagert. Das Parlament entscheidet frei, wie es mit
den Ratschlägen des Ethikrates umgeht. Deshalb halte
ich eine Vermischung der Mitgliedschaften für nicht
richtig.
({3})
Niemand von uns kann die eigenen Prozesse zur Bildung
eines ethischen Urteils an wenige andere delegieren. Anders gesagt: Dies ist unser Königsrecht als Abgeordnete;
bei diesem Thema können wir - anders als bei Fragen
der Finanz-, der Familien- oder der Forschungspolitik nicht jemand anderen beauftragen, sich für uns kundig
zu machen und unsere Entscheidungen vorzubereiten.
Das muss jeder von uns selbst leisten.
({4})
In Fragen der Ethik sind wir alle gleichermaßen und
unterschiedslos gefragt. Jede und jeder von uns ist Experte in ethischen Fragen, weil sie Teil der politischen
Entscheidungsfindung sind. Allerdings halte ich es für
notwendig, dass der Ethikrat durch Beschluss des Parlamentes eine Legitimation erhält. Kritik im Hinblick auf
die Legitimation haben wir bereits im Zusammenhang
mit der Gründung des Nationalen Ethikrates durch die
Vorgängerregierung bzw. den vormaligen Bundeskanzler
geübt, eine Kritik, die übrigens quer durch alle Parteien
geäußert wurde.
Deshalb wollen wir die Schaffung einer gesetzlichen
Grundlage für die Einrichtung des Deutschen Ethikrates
und seine Anbindung beim Präsidenten des Deutschen
Bundestags. Die Struktur des Deutschen Ethikrates entspricht seinen Aufgaben als einem Gremium der unabhängigen wissenschaftlichen Beratung. Die Zusammensetzung stellt sicher, dass in ihm ein interdisziplinäres,
plurales Spektrum sowie unterschiedliche weltanschauliche Ansätze vertreten sind. Durch die Zahl seiner Mitglieder wird einerseits ein ausreichend breites Spektrum
an Fachdisziplinen und Meinungen ermöglicht, andererseits aber auch die Arbeitsfähigkeit des Gremiums gewährleistet.
Die gesetzlichen Regelungen beschränken sich bewusst auf Kernelemente. Insbesondere die interne Organisation des Benennungsverfahrens, aber auch die Organisation der parlamentarischen Entscheidungsfindung
über Aufträge an den Deutschen Ethikrat wird der Bundestag selbst regeln.
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind die Aufgaben
des Deutschen Ethikrates beschrieben: Er berät sowohl
Bundestag als auch Bundesregierung. Er beschäftigt sich
mit den naturwissenschaftlichen, medizinischen, ethischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Fragen, die
sich im Zusammenhang mit der Forschung, mit den Entwicklungen bei den Lebenswissenschaften und mit der
Anwendung dieser Ergebnisse auf den Menschen ergeben.
Der Deutsche Ethikrat informiert die Öffentlichkeit
und fördert den gesellschaftlichen Diskurs als zentrales
nationales Forum. Um den Diskurs zu fördern, kann der
Deutsche Ethikrat öffentliche Veranstaltungen und Anhörungen durchführen. Er ist dabei an keine vorgegebene Form gebunden, sondern kann sich verschiedener
Methoden und Instrumente bedienen. Der Deutsche
Ethikrat erarbeitet Stellungnahmen und Empfehlungen
für Politik und Gesetzgeber und arbeitet mit vergleichbaren Gremien auf internationaler Ebene zusammen.
Die Struktur des Deutschen Ethikrates, die wir in unserem Gesetzentwurf vorschlagen, entspricht internationaler Praxis. Das gilt vor allem mit Blick auf unsere europäischen Nachbarn. Es ist wichtig, dass auch
Deutschland an diesem auf europäischer bzw. internationaler Ebene geführten Dialog über ethische Fragen in
den Lebenswissenschaften teilnimmt.
({5})
Der Deutsche Ethikrat erarbeitet seine Stellungnahmen im Auftrag des Bundestages oder der Bundesregierung und aufgrund eigener Beschlüsse und Entscheidungen. Auch das sichert seine Unabhängigkeit.
Wesentlich und konstituierend für den Deutschen
Ethikrat ist, dass seine Mitglieder unabhängig von staatlicher Einflussnahme sind. Nur so können sie Entscheidungen treffen, die sie nur vor ihrem Gewissen verantworten müssen. Das verbindet die Mitglieder des
Deutschen Ethikrates mit den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages und der Regierung: Sie sind in ethischen
Fragen ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich.
({6})
- Genau das sagte ich in diesem Satz, sehr verehrter Kollege Tauss.
({7})
- Vielen Dank. - Aus diesem Grund gibt es im Gesetzentwurf nur wenige gesetzliche Vorgaben über die Arbeitsweise.
Der Deutsche Ethikrat wird seine Entscheidungen als
unabhängiges Sachverständigengremium nur dann
glaubwürdig gegenüber der Öffentlichkeit vertreten können, wenn Parlament und Regierung als diejenigen, die
beraten werden, nicht gleichzeitig die Berater sind. Diese
beiden Rollen in dem Gremium zusammenbringen zu
wollen, halte ich für falsch.
({8})
Das ist gemeint, wenn ich von wechselseitigem Respekt
vor der jeweiligen Unabhängigkeit beider Partner in
ethischen Fragen der Lebenswissenschaften rede.
({9})
Die Veröffentlichung der Stellungnahmen, Empfehlungen und Berichte gewährleistet die Information von
Öffentlichkeit, Regierung und Parlament. In diesen Stellungnahmen können - wie bislang übrigens auch - abweichende Auffassungen einzelner Mitglieder aufgeführt werden. Das macht das Beratungsergebnis nach
außen transparent.
Mit dem Deutschen Ethikrat wollen wir auf gesetzlicher Grundlage ein ständiges und unabhängiges Sachverständigengremium zur wissenschaftsgeleiteten Politikberatung und zur Strukturierung des öffentlichen
Diskurses einrichten. Das ist letztlich ein Baustein, auf
den wir nach meiner Überzeugung künftig öfter zurückgreifen sollten, um in wichtigen politischen Fragen, die
die Zukunft unseres Landes betreffen, stärker den wissenschaftlichen Sachverstand zu nutzen.
({10})
Der Deutsche Ethikrat soll die Bundesregierung und
den Bundestag beraten. Wir sichern mit dem Gesetz eine
breite demokratische Grundlage für ein unabhängiges
Beratungsgremium, das den bioethischen Diskurs in der
Gesellschaft auf hohem Niveau begleitet und am internationalen bioethischen Diskurs beteiligt ist.
Die Unterscheidung zwischen Expertenberatung einerseits und den Debatten und der Entscheidungsfindung
in Parlament und Regierung andererseits ist konstitutiv
für den vorliegenden Vorschlag. Ich bitte Sie deshalb
herzlich um Ihre Unterstützung für diese Grundlage zur
Einrichtung eines Deutschen Ethikrates.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem von der Ministerin vorgestellten Gesetzentwurf
schlägt die Bundesregierung die Schaffung eines Deutschen Ethikrates als unabhängiges Beratungsgremium
für Parlament und Regierung vor. Wir als Liberale stehen diesem Vorhaben grundsätzlich sehr positiv gegenüber. Wichtig für diese Einschätzung ist für uns vor allem die Regelung, dass die Hälfte der Mitglieder des
Ethikrates vom Parlament berufen wird, wodurch der
Rat im Gegensatz zu seinem Vorgängergremium durchaus eine parlamentarische und demokratische Legitimation erhält. Das ist für uns ein entscheidender Punkt.
({0})
Das bedeutet aber auch, dass das Parlament aus unserer Sicht kein Parallelgremium braucht. Der Ethikrat besetzt den Platz eines Beratungsgremiums für Parlament
und Regierung. Er ist eben kein Expertengremium, das
hinter verschlossenen Türen tagt, wie es von Kollegen
der Linken, der Grünen, aber auch der SPD in letzter
Zeit gelegentlich formuliert wurde.
({1})
Der Ethikrat kann trotzdem die qualifizierte parlamentarische Debatte nicht ersetzen. Das sage ich sehr
deutlich in Richtung meines verehrten Kollegen Röspel,
der leider heute nicht hier sein kann. Ich wünsche ihm an
dieser Stelle gute Besserung!
({2})
Mit dem Deutschen Ethikrat werden wir ein Instrument der modernen Politikberatung an die Hand bekommen, dessen wir uns aber verantwortungsvoll bedienen müssen. Im Ethikrat selbst ist unsere Mitarbeit als
Parlamentarier - das ist unsere feste Überzeugung - wenig sinnvoll. Wir müssen uns nicht selbst Empfehlungen
aussprechen. Wir müssen uns nicht selbst beraten; das
hat die Ministerin eben richtig ausgeführt. Wir müssen
vielmehr über die gegebenen Empfehlungen entscheiden. Genau an dieser Stelle setzt unser Vorschlag an, einen parlamentarischen Beirat für Bio- und Medizinethik einzurichten. Ein solcher Beirat aus Abgeordneten
des Bundestages kann aus unserer Sicht die Ansprüche,
die die Ministerin in ihren Ausführungen eben formuliert
hat, sehr gut erfüllen sowie die bio- und medizinethische
Debatte vorantreiben. Mit dem Ethikrat als Beratungsgremium und dem parlamentarischen Beirat haben wir
eine klare Trennung zwischen Politikberatung und demokratischem Zustandekommen von wichtigen und
grundsätzlichen Entscheidungen. Herr Kollege Tauss,
ich glaube, dafür muss der Gesetzentwurf nicht geändert
werden. Wir müssen hier vielmehr entscheiden, wie wir
den Beirat konstituieren und mit welchen Befugnissen
wir ihn ausstatten. Auch Sie, Herr Tauss, hielten in den
letzten Tagen einen solchen Beirat für durchaus denkbar.
({3})
- Wir sollten an dieser Stelle nicht über das Urheberrecht
streiten. Hier geht es um die Sache.
Da wir uns, wie gesagt, nicht selbst beraten müssen,
ist aus unserer Sicht die Mitarbeit von Abgeordneten im
Ethikrat nicht notwendig. Herr Tauss, machen Sie doch
bitte Ihren Einfluss in den Koalitionsfraktionen geltend
und überzeugen Sie die Kolleginnen und Kollegen von
der Richtigkeit unseres Vorschlages, einen solchen parlamentarischen Beirat einzurichten.
({4})
Sie haben dann sicherlich auch Kolleginnen und Kollegen von der Union auf Ihrer Seite, die - wie Frau Aigner
beispielsweise - zwar keinen Änderungsbedarf beim Gesetzentwurf sehen, sich aber einen parlamentarischen
Beirat durchaus vorstellen können.
Lassen Sie uns am Anfang dieser Debatte, die wir
fraktionsübergreifend und im Konsens führen müssen,
weil es um ethische Fragen geht, ein Zeichen setzen, dass
es nicht um Regierung gegen Koalition geht, sondern darum, einen parteiübergreifenden Konsens zu finden. Ich
lade Sie in diesem Sinne herzlich ein, einen interfraktionellen Antrag auf Einrichtung eines parlamentarischen
Beirats zu erarbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Präsident! Wir sind heute sozusagen mit Prominenz in
Doppelfunktion besetzt. Ich freue mich, Herr Präsident,
dass Sie das Wort in dieser Debatte ergreifen wollen.
Lieber Herr Kollege Barth, recht herzlichen Dank für die
freundlichen Grüße an die Adresse unseres Kollegen
Röspel, der lieber hier wäre, als sich mit fürchterlichen
Schmerzen im Kreuz zu plagen. Aber so ist es nun einmal.
René Röspel muss man an dieser Stelle jedenfalls
Dank sagen. Er hat zusammen mit der Enquete-Kommission, der er vorgesessen hat, hervorragende Arbeit
geleistet. Ich glaube, die Arbeit dieser Enquete-Kommission hat den Deutschen Bundestag geehrt. Kollege Röspel hat wichtige Impulse gegeben. An dieser Stelle ist
daher Dank für die Ethikkommissionen angemessen.
({0})
In ethischen Grundsatzfragen hat dieses Haus nicht nur
große Erfahrung, sondern auch eine ausgesprochen hohe
Diskussionskultur entwickelt. Ich erinnere an die Debatten in der jüngeren Vergangenheit, beispielsweise über
Fragen der Patientenverfügung, den Hirntod, die Organspende oder die Forschung an embryonalen Stammzellen.
Wenn ich mein bisheriges parlamentarisches Leben Revue passieren lasse - das sind immerhin zwölf Jahre -,
dann muss ich sagen, dass es Sternstunden des Parlamentarismus waren, wie wir hierüber diskutiert haben und gemeinsam um Lösungen gerungen haben und zu Lösungen
- zum Teil fraktionsübergreifend - gekommen sind.
Wir hatten eine sehr diskursive Auseinandersetzung
im Sinne des Streits um das beste Argument. Aber um
solche Fragen geht es heute nicht. Ich habe mich gewundert, dass es im Vorfeld die eine oder andere Aufregung,
ausgelöst durch bestimmte Tickermeldungen, gab. Die
Bundesregierung hat heute - die Ministerin hat es bereits
angesprochen - einen Gesetzentwurf eingebracht, in
dem uns, dem Parlament, ein Vorschlag gemacht wird,
wie künftig eine sach- und fachkundige Beratung von
Regierung, Parlament und Gesellschaft in ethisch sensiblen Fragen insgesamt organisiert werden kann.
Über die Form und über das Verfahren dieser Beratung - Herr Präsident und Frau Präsidentin, ich glaube,
da sollten wir uns alle einig sein - entscheiden selbstverständlich wir hier im Bundestag. Das ist normaler parlamentarischer Brauch und auch nicht ungewöhnlich.
({1})
Dass ein solches Beratungsgremium wichtige Denkanstöße geben kann, hat der Nationale Ethikrat - hier
danke ich den bisherigen Vorsitzenden; ich nenne ausdrücklich Herrn Simitis und Frau Weber-Hassemer - eindrucksvoll gezeigt. Zuletzt hatten wir im Juli 2006 die
Veröffentlichung „Selbstbestimmung und Fürsorge am
Lebensende“, davor die Publikation „Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen“,
weitere Themen waren unter anderem die Genomuntersuchungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die Patientenverfügung, das Klonen oder die Biobanken.
Aus diesem Grunde halte ich es für richtig, dass wir uns
über eine sinnvolle Weiterentwicklung auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir sowohl mit EnqueteKommissionen hier im Deutschen Bundestag als auch
mit der Arbeit des Nationalen Ethikrates, wie er damals
unter Bundeskanzler Schröder eingerichtet worden war,
unterhalten. Das Verfahren ist damals von der Opposition
- nicht in allen Punkten zu Unrecht - kritisiert worden.
Auch wir hatten unter uns Diskussionen darüber, wo die
Kommission angesiedelt sein sollte, ob beim Parlament
oder anderswo. Damals aber hat sich die Bundesregierung so entschieden.
Es soll uns Beratung zuteil werden und es geht darum,
die Beratung von Bundesregierung und Bundestag zu
höchst sensiblen ethischen Fragen zu gewährleisten. Dabei soll einerseits größtmögliche Interdisziplinarität,
also die Zusammenarbeit vieler verschiedener Fachrichtungen in diesem Gremium, andererseits aber auch die
hinreichende und angemessene Repräsentanz einer pluralistischen Gesellschaft sichergestellt werden. Ich will
es überspitzt sagen: Ethische Fragen können wir nicht allein mit Kirchen diskutieren, aber ich kann mir in keinem Falle einen Ethikrat ohne Kirchen vorstellen. Das
ist Teil des Pluralismus, von dem ich rede.
({2})
Die qualifikatorische Breite des Ethikrats muss sichergestellt werden. Der Bundestag hat zusammen mit der Regierung die wichtige Aufgabe, an der Zusammensetzung
des Gremiums mitzuwirken. Wir wollen keine frei
schwebende Plattform für akademische Diskurse. Dies
war in der Vergangenheit nicht so und wird sicherlich
auch künftig nicht so sein.
In den letzten Tagen und Wochen haben wir viele
Briefe in unsere Abgeordnetenbüros bekommen. Wir
werden oft genug kritisiert, manchmal zu Recht, aber
nicht immer. Auch ein Parlament darf kritisiert werden
und unter öffentlichem Beschuss stehen, aber manche
Kritik hat der Bundestag nicht verdient - hier aber keine
Kritik, sondern der Ausdruck hohen Vertrauens in die
ethische Kompetenz des Bundestages. Die EnqueteKommissionen hatten ein großes Verdienst daran, dass
die Gesellschaft dieses hohe Vertrauen heute hat. In
zahlreichen Briefen - von Behindertenverbänden bis hin
zu kirchlichen Kreisen - wurde der Wunsch geäußert,
dass sich der Bundestag beteiligen soll. Das ist etwas,
was durchaus zur Anerkennung dieses Parlamentes beiträgt. Für dieses Vertrauen sollten wir uns an dieser
Stelle recht herzlich bedanken.
({3})
Wir werden jetzt zu prüfen haben, ob die parlamentarische Beteiligung, die wir gerne wollen, im Gesetzentwurf bereits hinreichend berücksichtigt ist. Wir meinen, nein. Da gibt es Dissens; im Zusammenhang mit
der Vorbereitung eines Gruppenantrags haben wir eine
Diskussion darüber gehabt, ob eine direkte Mitgliedschaft von Abgeordneten infrage käme. Nachdem nach
Diskussionen zu erkennen war, dass die Kolleginnen und
Kollegen der Union nicht mitmachen - das ist keine
Schuldzuweisung, sondern einfach ein Punkt, den man
konstatieren muss -, hat meine Fraktion - das sage ich
auch für René Röspel - die Auffassung vertreten, dass es
keinen Sinn macht, über eine solche Frage zu diskutieren, wenn die größte Fraktion nicht zustimmt. Sie ist
zwar nur vier Abgeordnete größer als unsere Fraktion,
aber sie ist es; am liebsten wäre es mir natürlich, wir wären die größte Fraktion.
Wir sehen in der Tat einige Probleme. Wie sieht es
mit einem Rat aus, der mit Parlamentariern durchsetzt
ist? Es spricht vieles dafür. Aber es stellt sich auch die
Frage: In welchem Verhältnis stünde eine solche Mehrheitsentscheidung im Ethikrat beispielsweise zum Abstimmungsverhalten im Parlament? Das ist eine wichtige
Frage, die entstünde: Wäre der Parlamentarier nicht
mehr Gleicher unter Gleichen in diesem Ethikrat, hat er
doch im Parlament die Letztentscheidungskompetenz?
Es gibt eine Reihe von Diskussionen, die wir, lieber
Kollege Winkler, unaufgeregt führen sollten. Es gibt
Gründe, die dafür sprechen, und solche, die dagegen
sprechen.
Ich glaube, dass der Ethikrat einen Legitimitätstransfer durch MdB-Beteiligung eigentlich nicht nötig hätte;
er wird anders als der Bundestag auch nicht allgemein
verbindlich entscheiden. In Europa wird das nicht anders
gehandhabt, aber wir werden sehen.
Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch eine kurze
Anmerkung zum Schluss. Wir gehen davon aus, dass der
Ethikrat eine hohe ethische Kompetenz haben sollte. Es
geht bei seiner Legitimität nicht um Entscheidungen allein. Die besondere Legitimität, von der wir im Hinblick
auf Abgeordnete reden, ist aber eine demokratische, zu
entscheiden. Und dieses muss der Ethikrat gerade nicht
leisten. Es geht nicht um mehr oder weniger Unabhängigkeit, sondern um ein angemessenes Rollenverständnis
sowohl für die Mitglieder eines wichtigen Beratungsgremiums als auch für die Mitglieder eines gesetzgebenden
Verfassungsorgans. Es kommt darauf an, wie es letztlich
gemacht wird. Diese Entscheidung trifft das Parlament.
Die Anregung der FDP für ein gemeinsames Vorgehen
finde ich interessant. Bei der Stammzellenforschung
mussten wir das leider ohne die FDP machen, aber in
ethischen Fragen haben wir uns sonst immer gefunden.
Lassen Sie uns darüber diskutieren! Dies ist nicht gegen
jemanden gerichtet. Es ist vielmehr das Bemühen, zu einer verantwortungsvollen Gestaltung der ethischen Debatten und der Beratungen des Parlaments und der Bundesregierung zu kommen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat Frau Kollegin Petra Sitte von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen: Ich habe
über viele Jahre in Sachsen-Anhalt Wissenschaftspolitik
mitgestaltet. Mein Ziel bestand dabei darin, Forscherinnen und Forschern, Lehrenden, Studierenden und anderen in diesem Bereich Beschäftigten möglichst optimale
Bedingungen zu schaffen. Das hieß, um Prioritäten bei
politischen Entscheidungen zu kämpfen. Das hieß auch,
Perspektiven der Adressaten zu übernehmen. Das hieß
aber vor allem, sich mit Inhalten von Forschung und
Lehre auseinander zu setzen.
Um verantwortungsbewusst langfristige Perspektiven zu konzipieren, ist es nach meinem Verständnis unabdingbar, sich mit Inhalten einzelner Wissenschaftsund Forschungsdisziplinen vertraut zu machen. Sich beraten und vor allem beraten zu lassen, ist für mich daher
Voraussetzung, um in diesem Bereich Kompetenzen zu
entwickeln. Erst diese Kenntnisse geben mir die Möglichkeit, Alternativen, mit denen vergleichbare Ergebnisse erzielt werden könnten, seriös zu bewerten und zu
entscheiden, ob nicht die neuen Möglichkeiten genutzt
werden sollten.
Das ist auch der Ansatz, mit dem ich Forschungs- und
Technologiepolitik betreibe. Vor diesem Hintergrund ist
so manche Argumentation im Zusammenhang mit dem
Ethikrat und/oder dem Ethikkomitee nur schwer nachvollziehbar. Ich kann mich nämlich nicht des Eindrucks
erwehren, dass bereits mit dieser Strukturdebatte mehr
oder weniger verdeckt auch eine inhaltliche Debatte
stattfinden würde. Diese Gremien sollen uns aber vor allem beraten. Ausschussarbeit und Entscheidungen durch
den Bundestag selbst sind durch sie nicht zu ersetzen.
Bioethische Fragen sind höchst sensibel, komplex
und berühren unser Leben tief.
({0})
- Genau! Es haben sich neue Entwicklungen vollzogen
und es sind Ergebnisse neu zu bewerten. Manche Entscheidungen müssen erst noch getroffen werden, andere
- bereits getroffene - müssen vielleicht geändert werden.
Deshalb müssen wir uns mit dem aktuellen Stand vertraut machen. In jeder Legislaturperiode kommen Abgeordnete des Bundestags erstmals ins Parlament - ich zum
Beispiel - und diese müssen sich teils völlig neue Kompetenzen in bioethischen Fragen erarbeiten. Jeder und
jede muss dafür eine reale Chance bekommen. Deshalb
brauchen wir deutlich mehr Beratung.
Natürlich weiß ich, dass es auch Abgeordnete gibt,
die sich mit bioethischen Problemen seit Jahren engagiert auseinander setzen. Sie haben zum Teil in EnqueteKommissionen und an gesetzlichen Entscheidungen mitgewirkt. Sie haben bereits in vielen Fragen Grundpositionen erarbeitet, die sie einbringen wollen und einbringen sollen.
Wenn ich auf die Ethikkommission des Bundestages
zurückschaue, dann erkenne ich, dass die Einsetzung des
Nationalen Ethikrates durch Kanzler Schröder schon ein
Versuch war, Einfluss auf Inhalte zu nehmen; jedenfalls
habe ich das so wahrgenommen. Tatsächlich haben dann
Enquete-Kommission und Nationaler Ethikrat aufeinander reagiert. Das war nicht immer spannungsfrei, klar.
Aber keine der beiden Strukturen war für die eine oder
die andere Grundposition letztlich zu instrumentalisieren. Beide Strukturen haben sich, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise, der Öffentlichkeit gestellt.
Ich will Ihnen sagen, dass für mich noch nicht feststeht, wie die Struktur am Ende auszusehen hat. Ich kann
mit Ethikrat und mit Ethikkomitee leben, auch wenn sie
zeitgleich nebeneinander arbeiten. Ich glaube, dass die
Entscheidungsfindung nicht einfacher wird, wenn zwei
Institutionen beraten.
({1})
Ob für die interessierte Öffentlichkeit mehr Verständlichkeit und Transparenz dabei herauskommen, ist
nicht sicher. Ich wünschte mir, uns gelänge ein Kompromiss, in dessen Folge wir zur Bildung von nur einer
Struktur kommen. In anderen europäischen Ländern
- das hat vorhin schon eine Rolle gespielt - ist das auf
teils vorbildliche und auch auf gesellschaftlich akzeptierte Weise geschehen.
Diskussionsbedarf sehe ich auch weiterhin im Hinblick auf den Modus der Besetzung:
Erstens in Bezug auf die Fraktionen. Da es - außer bei
der FDP - keine geschlossenen Fraktionsmeinungen gab
und gibt, sollte nicht der Fraktionsproporz entscheiden.
Wir sollten überlegen, wie es uns gelingen kann, dafür
zu sorgen, dass auch kleinere Fraktionen ihr differenziertes Meinungsbild einbringen können. Wir haben ein
solch differenziertes Meinungsbild.
Zweitens ist mir unklar, warum in dem Gesetzentwurf
zum Ethikrat hälftig Bundestag und Bundesregierung
Besetzungsvorschläge einbringen sollen, wenn es doch
letztlich darum geht, unabhängige Persönlichkeiten zu
berufen. Kann man bei uns im Bundestag nicht beispielsweise auf die Poolbildung bei Expertenanhörungen
zurückgreifen?
Drittens ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Ethikkomitees, das über eine Wahlperiode hinaus bestehen soll, zu klären. Wir binden damit immerhin auch
künftige Abgeordnetengenerationen. Sollte es letztlich
zur Bildung von nur einer Institution kommen, dann
hätte für mich auch der Vorschlag von Vizepräsident
Thierse, Abgeordneten durch beratende Stimme oder
über einen parlamentarischen Beirat direkten Zugang zu
den Sitzungen des Ethikrates zu ermöglichen, durchaus
einen gewissen Charme. Wie kommentierte doch unlängst die „Ärzte-Zeitung“ angenehm respektlos:
Wenn Parlamentarier wirklich wissen, worüber sie
abstimmen, erhöht dies dramatisch die Chance für
handwerklich saubere Gesetze.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Reinhard Loske für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden heute über die Zukunft der bioethischen und
biopolitischen Beratung in Deutschland. Wenn man das
tut, dann ist es angezeigt und vernünftig, einen kurzen
Blick zurückzuwerfen: Wie war es bisher? War es gut
oder schlecht? Gibt es Änderungsbedarf?
In den beiden hinter uns liegenden Legislaturperioden
war es so, dass wir als Deutscher Bundestag jeweils eine
Enquete-Kommission hatten, die zur Hälfte aus Sachverständigen und zur Hälfte aus Abgeordneten bestand.
Diese beiden Enquete-Kommissionen haben sehr gut gearbeitet. Sie haben schwierige Entscheidungen zur embryonalen Stammzellenforschung, zum Forschungsklonen, zur Biopatentierung und zur Gendiagnostik
vorbereitet. Weil diese Debatten so gut vorbereitet waren, gelten sie gemeinhin als sehr gut,
({0})
was sich unter anderem darin widerspiegelte, dass fast
alle Entscheidungen über Fraktionsgrenzen hinweg getroffen wurden.
Ich möchte von dieser Stelle den beiden Vorsitzenden,
Margot von Renesse und René Röspel, und natürlich allen Mitgliedern dieser Kommission dafür danken, dass
sie uns so sehr dabei geholfen haben, diese guten Entscheidungen zu treffen. Danke schön!
({1})
Die Regierung hat sich 2001 entschieden, ein eigenes
Ethikgremium einzurichten: den Nationalen Ethikrat. Es
ist bekannt, dass wir diesem Ethikrat immer mit Skepsis
begegnet sind, natürlich nicht was die Integrität seiner
Mitglieder betrifft. Im Gegenteil: Wir haben als Fraktion
sowohl mit Herrn Simitis als auch mit Frau WeberHassemer einen intensiven Austausch gepflegt. Beide
waren bei uns in der Fraktion zu Gast.
Wir haben im Ethikrat auch unsere inhaltlichen Positionen durchaus vertreten gesehen, jedenfalls zum Teil,
etwa durch Regine Kollek oder Hans-Jochen Vogel.
Aber dennoch hatten und haben wir eine kritische
Haltung zum Nationalen Ethikrat, im Wesentlichen aus
drei Gründen:
Der erste Grund ist die Sprache. Wir hielten es für
vermessen, ein Ethikgremium der Regierung als „Nationalen“ Ethikrat zu bezeichnen. Da erhebt die Regierung
einen Monopolanspruch, der ihr nicht zusteht.
({2})
Der zweite Grund. Die Verzahnung mit der Politik
fehlte ebenso wie die demokratische Legitimation
durch den Deutschen Bundestag. Das Konzept des Rates basiert nach unserer Einschätzung auf einem falschen
Dualismus: hier die kundige Zunft der professionellen
Ethiker, da die Rat suchende Politik, die Voten entgegennimmt und verarbeitet.
({3})
Dieser Dualismus ist falsch. Gerade in bioethischen Fragen trägt in unserer Gesellschaft auf Dauer nur das, was
diskursiv, also im Dialog zwischen allen Beteiligten, erarbeitet worden ist und dann auch von allen getragen
wird.
Der dritte Grund - das will ich hier ganz offen gestehen; das habe ich immer gesagt; deswegen kann ich es
auch hier sagen - ist natürlich die Skepsis gegenüber
dem, was der damalige Bundeskanzler Schröder geäußert hat. Es fiel damals das Wort von den Scheuklappen,
die der Bundestag in Sachen Gentechnik endlich abzulegen habe. So krankte der Nationale Ethikrat von Anfang
an daran, obwohl die Mitglieder gar nichts dafür konnten, dass ihm große Skepsis entgegengebracht wurde,
weil man vermutete, hier solle versucht werden, eine
„liberalere“ Gentechnikforschung durchzusetzen, dafür
Akzeptanz zu schaffen und die Enquete-Kommission zurückzudrängen.
Das waren unsere drei Gründe dafür, dass wir gegenüber dem Nationalen Ethikrat skeptisch waren.
Wir haben diese Politik kritisiert, aber verglichen damit, wie scharf Sie herangegangen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, war das regelrecht moderat. Bei Ihnen wurde häufig so getan - das ließe sich
anhand vieler Presseerklärungen nachweisen -, als sei
der Ethikrat ein Gremium von Schröders Gnaden, das
willfährig alles aufschreibe, was der Kanzler begehre.
({4})
Dazu muss man ganz klar sagen: Das war unfair. Das
Gremium hat durchaus gut gearbeitet.
In einem freilich hatte die Union Recht - das haben
wir ganz genauso gesehen -: Es fehlte die demokratische
Legitimation. Dazu will ich zwei Zitate bringen. Als das
Gremium eingerichtet wurde, hat der Vorsitzende der
Unionsfraktion, Friedrich Merz, in der Debatte gesagt:
Dieses Gremium … ist eine Zumutung für den
Deutschen Bundestag … Ich beobachte insbesondere bei diesem Thema mit großer Sorge eine voranschreitende Entparlamentarisierung der Politik
in Deutschland.
Die jetzige Kanzlerin, Frau Merkel, hat noch im Juli
2005 gesagt:
Wir sollten Entscheidungen aber wieder mehr im
Bundestag beraten und treffen und weniger in
Kommissionen … Die Kommissionitis von RotGrün hat uns nicht weiter gebracht. Ein Beispiel:
Der Nationale Ethikrat … Aber Entscheidungen
über Fragen der Bioethik und der modernen Medizin gehören ins Parlament und müssen dort auch
vorbereitet werden.
({5})
Das heißt, bei der Union lautete die Parole bis zur
Bundestagswahl - ich vereinfache etwas -: EnqueteKommission gut, Nationaler Ethikrat schlecht. Kaum
sind Sie von der Union an der Regierung, wird die Enquete-Kommission rasiert und der Nationale Ethikrat
fortgeschrieben.
({6})
Das verstehe, wer will. Es ist jedenfalls nicht glaubwürdig, es ist völlig unglaubwürdig.
Jetzt zum Entwurf von Frau Schavan für den deutschen Ethikrat. Zunächst einmal möchte ich etwas zur
Stilfrage sagen. Sie als Bundesregierung wollen jetzt
dem Parlament vorschreiben, wie es sich in Zukunft in
Sachen Bioethik beraten lassen soll. Das steht Ihnen aber
gar nicht zu, weil wir das selbst entscheiden.
({7})
Das Mindeste wäre gewesen, dass Sie in dieser Sache
einmal das Gespräch mit der Opposition gesucht hätten.
Aber nichts davon! Wir erfahren die Sache aus der Zeitung. Das ist einfach schlechter Stil. Ich bin auch darauf
gespannt, ob sich die SPD-Fraktion, der es ja ähnlich gegangen sein soll, das - wenn ich einmal so sagen darf gefallen lässt.
({8})
Dann zur Frage der Öffentlichkeit. Der Rat soll in
Zukunft im Regelfall hinter verschlossenen Türen tagen.
Das ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber dem bisherigen Standard des Ethikrats.
({9})
Wie da eine gesellschaftliche Debatte angestoßen werden soll, ist mir völlig schleierhaft. Das ist ein Thema,
das dringend Transparenz braucht. Bei einem solchen
Thema ist es wirklich nicht angemessen, die Tür zuzumachen und nur die Experten unter sich zu lassen. Das
lehnen wir ab.
Zur Zusammensetzung des Gremiums. Sie sagen,
dass Sie dem Gremium eine demokratische Legitimation
verschaffen und es beim Bundestag ansiedeln wollen.
Das war praktisch das Hauptargument, das Sie hier vorgetragen haben. Faktisch tun Sie aber etwas ganz anderes. Sie sichern sich praktisch eine doppelte Mehrheit.
({10})
Die Hälfte der 24 Mitglieder soll von der Regierung, die
andere Hälfte vom Parlament benannt werden. Faktisch
würde das unter den gegebenen Bedingungen bedeuten,
dass die große Koalition 21 von 24 Sachverständigen,
also fast 90 Prozent, benennen würde. Das ist eine krasse
Verletzung von Oppositionsrechten und zeugt auch von
einem Mangel an Respekt vor dem Souverän.
({11})
Jetzt zum Punkt der Einbindung der Abgeordneten.
Wir schlagen in unserem Antrag, der Ihnen heute auch
vorliegt, vor, dauerhaft ein Ethikkomitee des Deutschen
Bundestages einzurichten, das zur Hälfte aus Sachverständigen und zur anderen Hälfte aus Abgeordneten besteht. Die Mehrheit der Linksfraktion - daran zweifele
ich allerdings nach der eben gehaltenen Rede ({12})
und große Teile der SPD-Fraktion sehen das genauso.
Ich weiß auch, dass das viele Kolleginnen und Kollegen
aus der Union - jetzt bitte nicht klatschen - genauso sehen. Sie, Frau Ministerin, sagen dagegen, Abgeordnete
und die Politik insgesamt hätten im Ethikrat nichts zu
suchen, schließlich sollten ja gerade diese beraten werden. Der geschätzte Kollege Röttgen, der leider derzeit
nicht da ist - ich wollte ihn direkt ansprechen -, gefällt
sich darin, ironisch festzustellen, es wäre doch wohl ein
schlechter Witz, wenn Abgeordnete Abgeordnete beraten. Dazu kann ich nur sagen: Ha, ha! Wenn man dieser
seiner Logik folgt, könnten wir ab sofort sämtliche Enquete-Kommissionen und im Prinzip auch die Ausschussarbeit abschaffen.
({13})
Natürlich bin ich froh, wenn mich sachkundige Leute
zum Beispiel über haushaltspolitische Fragen, von denen
ich selber nicht viel verstehe, informieren. Von vielen
Abgeordnetenkollegen fühle ich mich gut beraten. Es
bringt, wie ich finde, auch überhaupt nichts, sich selber
nach dem Motto kleinzureden: Wenn Abgeordnete Abgeordnete beraten, dann kann dabei nichts Vernünftiges
herauskommen. Wenn man sich selber so schlecht
macht, beeindruckt das niemanden, ganz im Gegenteil:
Das führt nur zu weiterer Politikverdrossenheit.
({14})
Jetzt kommt noch etwas ganz Besonderes; ich habe
nämlich ein wenig recherchiert. Wie wenig glaubwürdig
Ihre Argumente, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, sind, sieht man besonders gut daran,
wenn man sich einmal die Mitgliedschaften in den verschiedenen Räten anschaut. Damals, als Sie die Regierungsverantwortung übernahmen, haben Sie gesagt, die
ganze Kommissionitis von Rot-Grün müsse verschwinden und das müsse alles ganz anders gemacht werden.
Was passiert jetzt? Es wird ein Rat nach dem anderen gebildet: der Ethikrat, der Forschungsrat, der Innovationsrat.
Den Innovationsrat habe ich mir einmal ganz genau
angeschaut. Wer sitzt da einträchtig neben den üblichen
Verdächtigen dieser Welt, wie den Heinrich von Pierers,
die überall dabei sind? Raten Sie einmal, wer da sitzt!
Die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel und die Bundesministerin Frau Dr. Schavan. Frau Schavan berät Frau
Schavan und Frau Merkel berät Frau Merkel. Daran
sieht man doch, dass Ihre ganze Argumentation in sich
zusammenfällt wie ein Kartenhaus.
({15})
Solch ein Gerede ist wirklich nicht glaubwürdig. Beim
Ethikrat versuchen Sie mit hoher Tonlage es so zu drehen, während Sie es beim Innovationsrat ganz anders
machen. Sie machen es, wie es Ihnen gerade passt. Das
merken die Leute aber.
Wir brauchen also - das ist die Position von uns Grünen - ein Ethikkomitee des Bundestages, in dem sowohl Abgeordnete als auch Sachverständige zusammenarbeiten. Wir brauchen dies erstens, weil die
bioethische Debatte zerfranst, wenn sie mal im Gesundheitsausschuss, mal im Forschungsausschuss und mal im
Rechtsausschuss beraten wird. Wir brauchen also einen
zentralen Ort für diese Debatte. Zweitens brauchen wir
dies auch, weil es nicht in erster Linie darum geht - das
sage ich als jemand, der selber viel Zeit in der Wissenschaft verbracht hat -, von irgendwelchen Profis dicke
Berichte entgegenzunehmen, sondern vor allem darum,
tragfähige gesellschaftliche Konsense in Fragen der Bioethik zu erarbeiten. Wir sind für Beratung, aber gegen
Outsourcing. Das möchte ich ganz klar sagen.
({16})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, liebe Frau
Schavan, dieser Gesetzentwurf kann so nicht bleiben.
Sorgen wir für mehr Öffentlichkeit, sorgen wir für eine
angemessene Beteiligung des Parlaments und sorgen wir
gemeinsam dafür, dass bioethische Fragen nicht wieder
zurückgepresst werden in einen falsch verstandenen
Fraktionszwang.
Danke schön.
({17})
Ich erteile nun dem Präsidenten des Hauses, unserem
Kollegen Dr. Norbert Lammert, das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Grundlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wie
aller Anträge der Fraktionen, die der heutigen Debatte zugrunde liegen, ist nach meinem Eindruck die offenkundig
gemeinsame Überzeugung, dass die Berücksichtigung
ethischer Ansprüche und Anforderungen überragende
Bedeutung beim Herbeiführen politischer Entscheidungen und ganz gewiss gesetzlicher Regelungen hat. Deswegen gehört bei der Sortierung dessen, was uns eint und
was uns vielleicht trennt, an den Beginn dieser ganz wichtige große Konsens: Wir sind uns alle darin einig, dass
dies ein überragendes Kriterium unserer Arbeit ist.
Im Vergleich zu dieser Grundsatzposition ist die zweifellos wichtige Frage, wie man diese notwendige Berücksichtigung organisiert, nun ganz gewiss keine Frage
des Prinzips, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit.
Sie ist deswegen nicht unwichtig; aber wir sollten sie
nicht auf die Höhe eines Prinzipienstreites rücken, sondern uns - wie das auch von mehreren Rednern in dieser
Debatte ausdrücklich angeregt worden ist - gemeinsam
darum bemühen, hier möglichst eine gemeinsame Regelung zu finden.
({0})
Nun gibt es, wie wiederum die vorliegenden Texte
deutlich machen, dazu unterschiedliche Vorstellungen.
Das finde ich nicht weiter Besorgnis erregend.
({1})
Es wäre fast ein bisschen merkwürdig, wenn es, jedenfalls am Beginn einer solchen Debatte, anders wäre.
Nach dem bisherigen Verlauf der Debatte schließe ich
keineswegs aus, dass es gelingen kann, eine gemeinsame
Regelung herbeizuführen.
({2})
Dass ich mich an dieser Debatte beteilige, hat diese
zwei Gründe: Erstens halte ich den Gesetzentwurf der
Bundesregierung für eine sehr geeignete Grundlage,
diese Klärung herbeizuführen, und zweitens möchte ich
ausdrücklich um den Konsens werben, den ich mir selber am Ende eines Beratungsprozesses dringend wünsche. Denn wenn wir uns hoffentlich darüber einig sind,
dass wir hier nicht nur über eine prinzipielle, sondern
über eine wichtige organisatorisch-technische Frage reden, dann sollte es möglich sein, dazu eine Übereinkunft
herbeizuführen,
({3})
zumal offenkundig - Herr Kollege Loske, mich hat Ihr
Beitrag nicht nur wegen der temperamentvollen Darbietung sehr beeindruckt - eine relativ breite Übereinstimmung über die Defizite der ersten Konstruktion, des Nationalen Ethikrates, besteht.
Auch bei kritischen Anmerkungen zum Gesetzentwurf, die ich nachvollziehen kann, muss eine faire Würdigung doch einräumen, dass es drei ganz wesentliche
Fortschritte gegenüber dem Status quo ante gibt: Erstens
wird Politikberatung hier nun nicht auf Regierungsberatung reduziert. Es wird sorgfältig, zu Recht und unverzichtbar der Eindruck vermieden, das Parlament sei einer Beratung in ethischen Fragen nicht bedürftig oder
eine solche Beratung finde exklusiv für die Bundesregierung statt. Das ist ein ganz wichtiger Fortschritt.
({4})
Zweitens wird eine völlig unnötige und im Ergebnis
wohl auch kontraproduktive Konkurrenz zwischen Regierung und Parlament vermieden und jedenfalls der
ernsthafte Versuch unternommen, in geeigneter Weise
eine Zusammenführung und Bündelung zu erreichen.
({5})
Drittens. Herr Kollege Loske, da fühle ich mich Ihnen
ganz nah. Sie haben vorhin eine etwas flapsige Bemerkung zum früheren Bundeskanzler gemacht, die ich mir
in dieser Formulierung ausdrücklich nicht zu Eigen mache.
({6})
- Der Kollege Tauss offenkundig auch nicht.
({7})
Aber Sie haben einen in der Sache unstreitig wichtigen
Punkt angesprochen. Der damalige Bundeskanzler hat
zur Erläuterung der Aufgaben des damaligen Nationalen
Ethikrates ausdrücklich ausgeführt:
Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht
vom Fortschritt in der internationalen Forschung
abkoppeln.
Das ist im Übrigen, wiederum für sich betrachtet, ein
zweifellos nicht nur legitimes, sondern wichtiges Ziel,
aber es kann ganz sicher nicht die erschöpfende Aufgabe
eines Ethikrates sein.
({8})
Denn wir wollen uns doch gerade in die Lage versetzen,
sicherzustellen, dass wir nicht der Eigendynamik der
Wissenschaft zum Opfer fallen und dass die Logik des
Fortschritts sich jedenfalls nicht alleine nach den Gesetzmäßigkeiten von Wissenschaft oder von Märkten vollzieht.
({9})
Unter diesem Gesichtspunkt haben wir - ich bedanke
mich ausdrücklich für die deutliche Zustimmung - offenkundig einen Fortschritt in unserer bisherigen Debatte. Es ist eine wesentliche Grundlage für die künftige
Organisation unserer Arbeit, wenn alle drei Punkte sichergestellt werden.
({10})
Herr Dr. Lammert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ilja Seifert?
Natürlich.
Nein.
- oder mit „Herr Kollege“?
({0})
Lieber Herr Kollege Lammert, da Exekutive und Legislative unterschiedliche Aufgaben haben und es damit
für beide einen unterschiedlichen Beratungsbedarf gibt,
steht das, was Sie gerade im Zusammenhang mit dem
zweiten Punkt als großen Fortschritt bezeichnet haben,
vielleicht doch etwas auf wackligen Füßen. Nebenbei
bemerkt: Wenn wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere eigene Position vertreten sollen, dann brauchen wir vielleicht doch andere Beratungsmechanismen
als die Regierung, die in einer ganz anderen Situation ist.
Stimmen Sie mit mir darin überein?
Herr Kollege Seifert, ich akzeptiere ausdrücklich,
dass das ein wichtiger Punkt ist, den man bedenken
muss, wenn man sich um die zweckmäßige Organisation
einer solchen Beratung bemüht. Ich komme für mich zu
der Schlussfolgerung, dass die Risiken, dass es möglicherweise zu einer Verdoppelung der Beratung kommt,
höher sind als die erhofften Vorzüge. Denn nach meinem
und offenkundig auch nach breitem Verständnis im
Hause soll ein solches Gremium bzw. sollen zwei solcher Gremien nicht operative Vorschläge machen, sondern sie sollen uns, der Regierung wie dem Parlament,
helfen, in diesen ungewöhnlich komplexen Materien ein
bisschen sicherer in der eigenen und am Ende unverzichtbaren individuellen Urteilsbildung zu werden. Ich
glaube nicht, dass dieser Prozess dadurch erleichtert
würde, dass wir auf der einen Seite ein Beratungsgremium für die Regierung und auf der anderen Seite ein
zweites Beratungsgremium für das Parlament haben.
({0})
Ein weiterer ernst zu nehmender Punkt ist der Hinweis auf die vorgesehene Trennung zwischen Beratung
und Entscheidung, also den Verzicht auf die Beteiligung
von Parlamentariern an diesem Gremium. Ich räume
ausdrücklich ein, dass es eine Reihe von beachtlichen
Argumenten gibt, die für eine solche Verbindung sprechen. Aber ich finde, man muss genauso nüchtern einräumen, dass es auch beachtliche Argumente gibt, die
dagegen sprechen. Niemand sollte vernünftigerweise
den Anspruch erheben, nur der eine bzw. der andere Weg
sei richtig.
({1})
Ich persönlich spreche mich für die im Gesetzentwurf
vorgesehene Lösung aus - ich spreche ausdrücklich
nicht für die Bundesregierung; ich rede als Mitglied dieses Hauses -, weil ich davon überzeugt bin, dass auch an
dieser Stelle die Vorzüge einer Trennung, soweit die
Trennung überhaupt möglich ist, größer sind als die erhofften Vorzüge bei der anderen Lösung. Ich will zwei
praktische Gründe und einen prinzipiellen Grund dafür
nennen.
Der erste praktische Grund ist: Würden wir dem Vorschlag folgen, ein auf Dauer eingesetztes Gremium aus
berufenen externen Beratern und Parlamentariern mit
dieser Aufgabe zu betrauen, würden wir zum ersten Mal
in der Geschichte des Deutschen Bundestages eine Enquete-Kommission auf Dauer einsetzen. Ich will darauf
aufmerksam machen: Das hat der Deutsche Bundestag
bisher immer sorgfältig vermieden.
({2})
Ich denke, das ist aus guten Gründen der Fall gewesen.
Wenn wir von dieser bisherigen Tradition abweichen
wollten, dann müssten wir schon bessere Gründe haben
als die, die genannt wurden und deren Stichhaltigkeit ich
eigentlich nicht sehe.
Der zweite praktische Grund ist: Wenn eine solche
Beratungsstruktur, die wir aufbauen wollen, nicht so
eng, sondern so breit wie möglich angelegt werden soll,
dann müssen wir die Möglichkeit aufrechterhalten, mit
dem Instrument der Enquete-Kommission zu begrenzten
Fragestellungen in den dafür vorgesehenen bewährten
Strukturen der Verbindung von externem Sachverstand
und beteiligten Kollegen Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten. Ich habe die ernsthafte Besorgnis: Würde
man jetzt - durchaus mit sehr ehrenwerten Motiven - in
dem Ethikrat Parlamentarier und Sachverständige zusammenführen, dann würde das Instrument der EnqueteKommission im Endergebnis für solche Zwecke verbraucht werden. Ich denke, daran können wir kein Interesse haben.
({3})
Ich komme nun zu dem prinzipiellen Punkt. Wir können alle miteinander kein Interesse daran haben, dass der
Eindruck entsteht, es gebe im Deutschen Bundestag eine
kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der große Rest sei
bei ethischen Fragen entweder nicht interessiert oder indifferent. Im Übrigen wäre dies nicht nur ein verheerender, sondern auch ein falscher Eindruck, der insbesondere in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre.
({4})
Nimmt man das alles zusammen, dann spricht schon
manches für die Grundannahme des Konzeptes, die in
dem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Das schließt
keineswegs aus, dass man über manche der vorgesehenen Formulierungen und Festlegungen noch einmal gemeinsam nachdenkt.
Dazu will ich gern drei Anregungen geben: Ich weiß
nicht, ob es notwendig ist, und habe gewisse Zweifel, ob
es klug ist, gleich in § 1 des Gesetzentwurfs, „Bildung
des Ethikrates“, zu schreiben: „Es wird ein unabhängiger
Sachverständigenrat zur Bewertung ethischer Fragestellungen in den Lebenswissenschaften gebildet.“ Ich halte
das für eine unnötige Verengung, weil es hier nach meinem Verständnis weder allein um Wissenschaft noch im
Kontext der Wissenschaften allein um Lebenswissenschaften geht, auch wenn wir alle miteinander darin
übereinstimmen, dass hier in der vorhersehbaren Zukunft besonders spannende Fragen liegen. Ich glaube,
dass das, was in § 2 des Gesetzentwurfes, „Aufgaben“,
beschrieben wird, die Intention besser klar macht, als es
mit dieser Verengung jedenfalls in der Überschrift angedeutet wird.
Wir sollten uns gemeinsam noch einmal die Öffentlichkeitsregelung ansehen, wenngleich ich dazu sofort
sagen will: Der Vorwurf der Geheimhaltung ist nicht
fair. Das, was im Gesetzentwurf vorgesehen ist, ist ziemlich präzise die Regelung, die der Deutsche Bundestag
für seine eigene Arbeit im Verhältnis von Ausschüssen
zum Plenum für bewährt und unverzichtbar hält. Wenn
wir das für angemessen für unsere eigene Arbeit halten
und wenn wir uns gewiss gegen den Vorwurf der Geheimhaltung parlamentarischer Beratungen wehren würden, dann sollte man einen solchen Vorwurf aus Gründen der Redlichkeit für einen analogen Vorschlag nicht
erheben.
({5})
- Na ja, Herr Kollege, ich glaube, das bedarf jetzt keines
besonderen Kommentars. - Die jeweilige Struktur ist
analog. Wir haben allerdings eine unterschiedliche Besetzung der Gremien. Ich wollte nur diese Anregung geben.
({6})
- Ja, aber das gilt doch für das Verhältnis, das wir untereinander für den abschließenden Entscheidungsprozess
haben, in der gleichen Weise. Wir alle können nicht an
all diesen Beratungen beteiligt sein.
Gleichwohl erlaube ich mir die Anregung, noch einmal darüber nachzudenken, ob man nicht statt der offenkundig etwas missverständlichen Formulierung: „Die
Beratungen … sind nicht öffentlich“ schlicht und ergreifend mit dem zweiten Satz beginnt, der dann heißt: „Der
Deutsche Ethikrat kann öffentlich beraten oder die Ergebnisse nichtöffentlicher Beratungen veröffentlichen.“
Damit hätte man, so finde ich, den Verdacht besser vermieden, der im Verlauf der bisherigen Diskussion deutlich geworden ist.
Schließlich nenne ich noch einen praktischen Aspekt,
bei dem ich denke, dass wir uns auf diesen sofort verständigen können: Die Geschäftsstelle soll nach diesem
Gesetzentwurf der Bundesregierung beim Bundestag angesiedelt werden. Das macht auf das Schönste klar, dass
auch die Bundesregierung einsieht, Herr Loske, dass die
Verteilung der Zuständigkeiten mit Blick auf die zu treffenden Entscheidungen so ist, wie Sie sich und wir alle
uns das vorstellen.
Herr Dr. Lammert, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ja, wenn ich noch diesen einen Satz sagen darf: Bei
der Formulierung zur Einrichtung der Geschäftsstelle
müssen wir allerdings sicherstellen, dass wir sie nicht in
der Weise in die Organisation der Bundestagsverwaltung
integrieren, dass wir am Ende für die Besetzung solcher
Kommissionen mit Mitarbeitern - sowohl was die Berufung als auch was deren Verbleib angeht - die gesamte
Palette des öffentlichen Dienstrechts unter besonderer
Berücksichtigung der Mitwirkung des Personalrats zur
selbst organisierten Folge haben.
({0})
Deshalb erlaube ich mir, den Kolleginnen und Kollegen
des federführenden Ausschusses dazu den zweckdienlichen Hinweis zu geben, so zu formulieren, dass wir in
die Lage versetzt werden, mit dieser Regelung den angestrebten Zweck möglichst wirkungsvoll zu erreichen.
Bitte schön, Herr Kollege Beck.
Herr Kollege Lammert, würden Sie mir, da Sie gerade
eine Analogie zu Bundestagsausschüssen hergestellt haben, darin zustimmen, dass die Mitglieder dieses Hohen
Hauses in Bezug auf Bundestagsausschüsse zumindest
immer das Recht haben - wenn auch ohne Melde-, Antrags- und Abstimmungsrecht -, einer Ausschusssitzung
bei Interesse an dem Verhandlungsgegenstand beizuwohnen, und dass insofern, führt man diese Analogie
weiter, immer dann, wenn es sich um ein Parlamentsberatungsgremium mit ausschussgleichem Charakter handelt, zumindest für die Mitglieder des Hohen Hauses jederzeit Öffentlichkeit hergestellt sein muss?
({0})
Herr Kollege Beck, der erste Teil Ihrer Frage ist natürlich rhetorisch. Wie sollte ich bestreiten, dass es so ist,
wie Sie gerade referiert haben? Was den zweiten Teil,
nämlich die Implikation, angeht, gehört sie zu einem der
Punkte, von denen ich meine, dass man darüber in Ruhe
nachdenken können muss.
({0})
Warum sollte man nicht beispielsweise die Regelung
vorsehen, dass für Mitglieder des Bundestages und der
Bundesregierung ein Zutrittsrecht zu einer nicht öffentlichen Beratung besteht? Ich halte das für einen Punkt,
der das gemeinsame Nachdenken lohnt.
({1})
Überhaupt möchte ich mit Nachdruck dafür werben
- damit komme ich in den verbleibenden Sekunden zum
Schluss -, dass wir uns bei diesem Thema, das uns offenkundig alle in gleicher Weise umtreibt und bei dem
wir alle in gleicher Weise nach einer angemessenen Lösung eines überragenden Problems suchen, mit allen zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten darum bemühen,
eine gemeinsame Lösung zu finden. Denn über eines besteht doch Konsens: Die Zuständigkeit für ethische Fragen lässt sich nicht delegieren - an welches Gremium
auch immer, weder an einen Ethikrat noch an eine Enquete-Kommission noch an parlamentarische Beiräte.
Am Ende ist die Entscheidung immer eine ganz individuelle. Jeder muss dafür mit seinem Namen, mit seiner
Person geradestehen. Die Entscheidung trifft mit Rechtswirkung dieses Parlament und niemand anderes.
Wenn das die gemeinsame Grundlage für die Arbeit
an diesem Gesetzentwurf ist, würde es mich sehr enttäuschen, wenn es uns nicht gelänge, dazu ein gemeinsames
Ergebnis zu finden.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anders
als meine Vorredner gehörte ich der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ an, war
der Obmann der FDP-Fraktion in diesem Gremium und
möchte deshalb einen kurzen Blick darauf werfen, womit sich diese Enquete-Kommission eigentlich befasst
hat. Wir haben uns mit der Palliativ- und Hospizversorgung, mit Organtransplantationen und der Forschung an
Kindern und nicht einwilligungsfähigen Personen befasst. Zu diesen Themen haben wir Zwischenberichte
vorgelegt. Wir haben über die Sterbehilfe und Allokation
im Gesundheitswesen diskutiert. Man muss ganz deutlich sagen: Aufgrund der Neuwahlen hat die EnqueteKommission ihre Arbeit beispielsweise an diesen beiden
Fragen nicht beenden können.
Auch der Nationale Ethikrat hat sich zuletzt mit der
Rationierung im Gesundheitswesen und dem Umgang
mit Demenzkranken beschäftigt. Nach Durchsicht des
vorliegenden Gesetzentwurfes stelle ich mir die Frage,
ob diese Themen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes
überhaupt im Deutschen Ethikrat diskutiert werden dürften. Denn im jetzigen Gesetzentwurf werden dadurch,
dass die Federführung jetzt neu beim Forschungsministerium liegt, Aufgabenstellungen formuliert, die extrem
forschungslastig sind. Aus meiner Sicht ist das eine Verengung, die der ethischen Debatte in Deutschland nicht
gut tut.
({0})
Deshalb bitte ich Sie, in den Ausschussberatungen
darauf zu achten, ob es nicht notwendig ist, die Aufgabenstellung des Deutschen Ethikrates zu verbreitern,
um nicht nur die Anwendung der Forschung am Menschen an sich, sondern beispielsweise auch Fragen, wie
die Finanzierung der Anwendung dieser Forschung erfolgen soll, einzubeziehen. Denn was nützt es den Menschen, wenn bestimmte Forschungsergebnisse zwar
existieren, das Gesundheitswesen deren Anwendung
aber nicht ermöglicht? Mein Petitum an dieser Stelle
lautet deshalb, dass wir den Gesetzentwurf nachbessern
sollten.
Grundsätzlich halte ich die Konstruktion des Deutschen Ethikrates für einen Fortschritt im Vergleich zu
der des Nationalen Ethikrates, und zwar deshalb, weil
vorgesehen ist, dass der Deutsche Bundestag eine Mitgestaltungsmöglichkeit bei der Berufung seiner Mitglieder hat.
Für die Diskussion über die Öffentlichkeit von Beratungen, die gerade stattgefunden hat, habe ich wenig
Verständnis. Denn was ist das Ziel der Debatte in diesem
Gremium? Das Ziel ist doch, dass sich Menschen zusammensetzen, aus unterschiedlichen Positionen heraus
Dinge entwickeln und miteinander kritisch darüber diskutieren. Es soll keine Veranstaltung sein, die auf offener
Bühne stattfindet. Das würde aus meiner Sicht der Qualität des Diskussionsprozesses schaden; denn dann
würde bei einer Live-Übertragung im Fernsehen jeder
Sachverständige überlegen, ob er eine Formulierung benutzt, die dem Mainstream oder der Political Correctness
möglicherweise nicht entspricht. Das darf in einem wissenschaftlich orientierten Gremium nicht sein. Deshalb
müssen die Sitzungen wie bei einer Enquete-Kommission nicht öffentlich sein.
({1})
Lassen Sie mich jetzt zu der Frage kommen, warum
es notwendig ist, ein politisches Gremium zu haben,
das sich im Parlament mit Ethik beschäftigt. Ein gutes
Beispiel für den Bereich Ethik steht heute auf der Tagesordnung. Bei dem letzten Tagesordnungspunkt am heutigen Tag geht es um die erste Beratung des Entwurfs
eines Gewebegesetzes. Nach der von den Parlamentarischen Geschäftsführern abgestimmten Tagesordnung
war dieser Tagesordnungspunkt für 3.20 Uhr morgens
vorgesehen. Das hat natürlich die Folge, dass alle Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben werden. Dabei geht es in diesem Gesetzentwurf um viele
ethisch schwierige Fragestellungen. Zum Beispiel haben
wir den Organhandel bewusst verboten. Auf der anderen
Seite müssen wir aufgrund der Weiterverarbeitungsmöglichkeiten des Gewebes Handelsstufen ansetzen. Die
Frage ist, wo wir sie ansetzen. Das ist nicht nur eine rein
wirtschaftliche, sondern auch eine ethische Frage. Diese
aber wird heute nicht im Parlament diskutiert.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Ja, gerne.
Lieber Herr Kollege, ungeachtet der Tatsache, dass
mir eine spannende Debatte wert wäre, sie auch um
3.20 Uhr zu führen - wir haben ja schon um 2 Uhr morgens, dann allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit, getagt -, möchte ich Ihnen eine Frage stellen, damit
hier keine Missverständnisse entstehen. Sind Sie wirklich der Auffassung, dass uns in dem von Ihnen genannten Punkt eine Enquete-Kommission weitergeholfen
hätte? Enquete-Kommissionen haben ja nicht die Aufgabe, ein aktuelles Gesetzgebungsverfahren vorzubereiten - das sollte unverändert den Ausschüssen vorbehalten sein -, sondern beschäftigen sich langfristig mit den
Grundlagen. Würden Sie das bitte klarstellen, weil ein
Missverständnis möglicherweise auch draußen zu Irritationen führt?
Herr Tauss, da stimme ich Ihnen völlig zu. Wir brauchen dafür gerade keine Enquete-Kommission. Bei vielen Fragestellungen haben wir kein Erkenntnisproblem,
sondern ein Entscheidungsproblem. Ethische Themen,
die eigentlich auf der Hand liegen, werden nicht vorangetrieben und vor allen Dingen nicht interdisziplinär diskutiert. Nehmen wir als Beispiel die Sterbehilfe. Wir
haben hier die Situation, dass Sachverständige, beispielsweise vom Deutschen Juristentag und der Bundesärztekammer, aufgrund ihrer Fachmotivation eine ganz
unterschiedliche Herangehensweise an diese Themen
haben. Deshalb müssen wir diese Themen ausschussübergreifend diskutieren. Wir wollen keine EnqueteKommission. Deshalb lehnen wir die Anträge der Grünen und der Linken ab, die im Prinzip auf eine EnqueteKommission ad infinitum hinausliefen.
({0})
Lassen Sie mich noch auf einige andere Inhalte eingehen, weil es wichtig ist, nach außen hin deutlich zu
machen, worum es bei dieser institutionellen Frage, über
die wir hier diskutieren, inhaltlich geht. Wir beschäftigen uns beispielsweise - ich habe das bereits angesprochen - mit Fragen, die sich auf das Lebensende beziehen. Hier gibt es eine große Agenda. Das Thema
Patientenverfügung zum Beispiel ist federführend
beim Rechtsausschuss angesiedelt. Der Rechtsausschuss befasst sich aber natürlich auch mit vielen anderen Themen. Seit es die angesprochene Enquete-Kommission nicht mehr gibt und sich kein Gremium im
Parlament um ethische Fragen kümmert, ist eine Diskussion über ethische Fragen im Parlament viel schwieriger
geworden, ein weiterer Grund aus meiner Sicht, hier zu
einer interdisziplinären Verankerung im Parlament zu
kommen.
Ein anderes Thema, das insbesondere Kollege Wodarg sehr stark in die Arbeit der Enquete-Kommission
eingebracht hat, befasst sich mit der Rationierung und
Priorisierung im Gesundheitswesen. Wir müssen erkennen, dass wir im Gesundheitswesen knappe Ressourcen haben und dies Prioritäten erfordert. Die Frage ist,
wer über die Prioritäten entscheidet. Momentan entscheidet nicht der Deutsche Bundestag. Die Rationierung findet im Wesentlichen in den Arztpraxen statt.
Mit dem Gesetzentwurf der Kollegin Ulla Schmidt
zur Gesundheitsreform wird das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen beauftragt,
nicht nur die Effektivität und Wirtschaftlichkeit bei gleicher Wirkung zu untersuchen, sondern auch Kosten-Nutzen-Analysen neuer Therapien durchzuführen. Die
Frage ist: Wofür machen wir diese Analysen? Diese
Analysen machen doch nur dann Sinn, wenn man hinterher Entscheidungen darauf aufbaut. Da stellt sich die
Frage: Wer trifft die Entscheidung, wenn Therapie A
besser als Therapie B ist, aber mehr kostet? In England
hat man die Regelung, dass ein Lebensjahr zusätzlich
nicht mehr als 30 000 Pfund kosten darf.
({1})
- Ja. Die Frage ist aber, wer entscheidet, wenn man diese
Prozesse weiterführt. Entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss, das Ministerium oder im Rahmen einer
offenen, fairen Debatte in diesem Parlament der Gesetzgeber, wie das in anderen Ländern der Fall ist? Das muss
man sich gut überlegen. Auch ich habe noch keine abschließende Antwort auf diese Frage. Das sind aber Fragen, die in einen Ethikbeirat gehören. Dort muss darüber
diskutiert werden, wie mit diesen ethischen Fragen nicht
nur in der Forschung, sondern auch im Gesundheitswesen umgegangen wird.
({2})
Ich möchte noch einen Hinweis zur Biomedizinkonvention des Europarates geben. Deutschland hat sie,
was der Auffassung der FDP widerspricht, nicht ratifiziert. Das enthebt den Deutschen Bundestag aber nicht
der Aufgabe, die Weiterentwicklung dieser Konvention
im Europarat parlamentarisch zu begleiten. Auch hier ist
ein interdisziplinäres Vorgehen notwendig.
Zum Abschluss eine herzliche Einladung seitens der
FDP-Fraktion. Wir haben Ihnen ein Modell vorgeschlagen, das geschäftsordnungsmäßig exakt dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung entspricht.
Wir haben ein übergreifendes, interdisziplinäres Gremium vorgeschlagen, das nur aus Abgeordneten besteht.
Es handelt sich dabei nicht um eine Enquete ad infinitum.
Es ist auch keine Vermischung mit dem Deutschen
Ethikrat, der aus unserer Sicht einen Fortschritt gegenüber dem Nationalen Ethikrat darstellt. Man kann beides
beschließen. Man muss die Instrumente nicht gegeneinander ausspielen. Ohne parlamentarische Begleitung
bleibt der Ethikrat aber ein Torso.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulla Burchardt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Lammert, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar - ich glaube, das im Namen aller Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion sagen zu können -,
dass Sie den Weg für einen Konsens gewiesen haben.
Das ist ein großer Fortschritt in der Debatte.
({0})
Wir haben folgende Sachlage: Seit Januar gibt es Bemühungen, einen interfraktionellen Gruppenantrag vorzulegen, der der Tradition des Umgangs mit solchen
Themen in diesem Hause entsprechen würde. Seit Oktober liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Eigentlich wird die Bundesregierung vom Bundestag beauftragt, etwas zu tun. Jetzt hat sie von sich aus dem
Bundestag Vorschläge gemacht, wie er sich beraten lassen soll.
({1})
Das ist ein bisschen ungewöhnlich. Herr Lammert, Sie
haben den Weg gewiesen und gezeigt, wie wir alle Vorlagen nutzen können, um in guter alter Tradition dieses
Hauses zu einem Konsens zu kommen.
Ich will nicht verhehlen, dass eine ganze Reihe meiner Kollegen ein wenig unglücklich darüber sind, dass
der Gruppenantrag keine Chance hatte, in diesem Hause
geprüft und debattiert zu werden, weil er keine Aussicht
auf Mehrheitsfähigkeit hatte. Das hatte mit Interventionen von außen auf die Fraktionsspitzen zu tun. Man
muss keinen Hehl daraus machen, dass Mitglieder der
Bundesregierung, aber auch Mitglieder des Nationalen
Ethikrates Einfluss genommen haben. Ich glaube, man
muss in Zukunft etwas vorsichtiger miteinander umgehen.
Es gibt immer außerhalb der Sachlogik liegende
Gründe, warum man bestimmte Dinge nicht weitertreibt.
Wir Sozialdemokraten sind an dieser Stelle überhaupt
nicht dogmatisch. Deswegen machen wir andere Vorschläge, wie wir zu einem Konsens kommen können.
Die Kollegen nach mir werden im Detail darauf eingehen.
Ich will darauf hinweisen, dass wir bis heute keine
wirklich sachlichen, rationalen Argumente gehört haben,
warum Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht
Mitglieder einer Ethikkommission sein können, ob beratend oder mitbestimmend, sei dahingestellt.
({2})
Der Haupteinwand, der gebracht wird, lautet - wir haben
es heute wieder gehört; ich möchte darauf etwas ausführlicher eingehen -: Ethische Beratung braucht unabhängigen Sachverstand. Mit anderen Worten: Über den verfügen Mitglieder des Bundestages nicht; das ist es doch,
was impliziert wird. Es fällt schwer, muss ich als langjährige und selbstbewusste Abgeordnete sagen, diese
Einschätzung nicht als populistische Pflege antiparlamentarischer Ressentiments zu werten.
({3})
Ich will zwei sachliche Hinweise geben, die die Absurdität dieses Einwands aufzeigen:
Erstens. Jeder Abgeordnete ist dank der Verhaltensregeln des Deutschen Bundestags allemal transparenter als
ein Wissenschaftler, von dem nicht bekannt ist, auf wessen Payroll er steht.
Zweitens. Frau Weber-Hassemer als Vorsitzende des
Nationalen Ethikrates ist ehemalige Richterin und beamtete Staatssekretärin. Warum soll sie in ethisch-moralischen Fragen sachverständiger sein als beispielsweise
der Mediziner Wolfgang Wodarg, unser ehemaliger
Sprecher in der Enquete-Kommission zu diesem Thema?
Mein drittes Argument kommt von einem Mitglied
des Ethikrates selbst. So sagte, was den Sachverstand betrifft, der Wissenschaftler van den Daele: „Unter Ethik
verstehen die Mitglieder das diskursive Ausbreiten und
Klären von Positionen und Argumenten; in diesem Sinne
sind auch die Wissenschaftler in den jeweiligen Gremien
Laien.“ Ich glaube, wir sollten uns das wechselseitige
Hin und Her betreffend Sachverstand zukünftig ersparen.
({4})
Ich will aber noch anmerken, dass es schon einen gewissen Hautgout hat, wenn der Einwand „mangelnder
Sachverstand“ von Abgeordneten zur Diskreditierung
der Positionen anderer Abgeordneter benutzt wird, gerade in dieser Frage. Ich greife damit die Äußerungen
des Abgeordneten Röttgen auf, der jüngst mit Blick auf
meinen Kollegen Röspel festgestellt hat, dieser wolle
sich als Abgeordneter nur selber beraten, dabei brauchten wir unabhängigen Sachverstand.
Ich will im Namen der gesamten SPD-Bundestagsfraktion Folgendes klarstellen: Der Kollege Röspel hat
Sachverstand; das hat er mit seiner Arbeit hier im Deutschen Bundestag bewiesen. Er kommt zudem aus der biologischen Forschung. Mehr kann man in einer Person
vereint kaum erwarten. Er ist zu hundert Prozent unabhängig, er steht auf niemandes Payroll, er bezieht nur die
Diäten, die die deutschen Steuerzahler aufbringen. Er
besitzt die Fähigkeit, kritisch und hartnäckig zu hinterfragen; das stört manche, das wissen wir. Vor allen Dingen besitzt er den Mut, zu zweifeln, und das schließt
Selbstzweifel, Zweifel an der eigenen Position, ein. Das
macht die hohe moralisch-ethische Integrität seiner Person aus. Deswegen ist der Kollege Röspel in den vergangenen Jahren über die Grenzen unserer Fraktion hinaus
im ganzen Bundestag, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit ein anerkannter Gesprächspartner geworden
und genießt einen exzellenten Ruf. Das sollten diejenigen wissen, die sich so über ihn äußern.
({5})
Ganz abgesehen davon, dass für Herrn Röttgen das alte
biblische Wort gilt: Wenn man mit einem Finger auf jemanden zeigt, muss man sich immer im Klaren sein,
dass drei Finger auf einen selber zurückzeigen.
({6})
- Das wollten wir nicht ansprechen? Okay, dann streichen wir das aus dem Protokoll.
({7})
Was den Gesetzentwurf der Bundesregierung betrifft,
gibt es in mehrerlei Hinsicht Klärungsbedarf. Ich glaube,
die Kollegen Tauss, Loske und auch Herr Lammert haben mit ihren Hinweisen schon Etliches zusammengetragen.
Ich möchte noch einige Fragen aufwerfen: Wenn man
auf Unabhängigkeit so großen Wert legt, wie sieht es
dann mit der Prüfung der Unabhängigkeit der Mitglieder
des Ethikrates aus? Im Ethikrat sollen nicht nur Wissenschaftler vertreten sein, sondern auch sachverständige
Persönlichkeiten. Es sollen nicht nur Wissenschaftsthemen behandelt werden, sondern auch andere Themen.
Da fragt man sich natürlich: Wer repräsentiert die ökonomischen Belange in biomedizinischen Fragen? Ein
Vertreter des BDI, der BDA oder der Branche? Das sollten wir im Gesetzgebungsverfahren klären, damit Transparenz und Unabhängigkeit nicht nur im Hinblick auf
Abgeordnete, sondern auch im Hinblick auf Experten
diskutiert wird.
({8})
Meine nächste Frage betrifft die Finanzierung. „Für
den Bund entstehen keine Mehrkosten“, heißt es lapidar.
Aber: Aus welchem Einzelplan werden diese beglichen?
Und wenn die Kosten zu hundert Prozent vom Bundestag getragen werden, warum sollen wir nicht zu hundert
Prozent bestimmen?
Es ist ja interessant, Herr Lammert, dass ein Externer
die Fachaufsicht über die Geschäftsstelle ausüben soll.
Da sage ich als Ausschussvorsitzende: Warum sollen
dann nicht wir die Fachaufsicht über die entsprechenden
Sekretariate des Deutschen Bundestages haben? Da haben Sie ein ganz neues Fass aufgemacht.
({9})
Der letzte Punkt ist die Frage, wie Beratung als kontinuierlicher Diskursprozess organisiert werden und
funktionieren soll. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sind leider keine ausreichenden Hinweise dafür
enthalten. Erfolgreiche Beratung kann nur als diskursiver Prozess angelegt werden. Kollege Loske hat darauf
hingewiesen.
Jeder, der diesem Parlament angehört, weiß, wie die
Zuweisung von Vorlagen normalerweise vonstatten geht.
Neben den Hunderten von Berichten, die dem Bundestag
jährlich zugehen, erhalten wir dann noch einen weiteren
und zwischendurch noch einige Stellungnahmen. Diese
werden dann an einzelne Ausschüsse weitergeleitet. Dort
wird die Beratung darüber neben weiteren 20 Punkten
auf die Tagesordnung gesetzt. Jeder Ausschuss behandelt das Thema für sich alleine und gibt hinterher eine
Empfehlung ab oder nimmt die Vorlage nur zur Kenntnis. Im Plenum werden dann Entscheidungen mit Mehrheit getroffen. Das kann doch wohl kein vernünftiger
Beratungsprozess für dieses Thema sein. So können Entscheidungen des Deutschen Bundestages in biomedizinischen Fragen nicht vorbereitet werden.
({10})
Insofern setzen wir von der SPD darauf, zu einem
wirklich ganz ernsthaften und normalen Beratungsverfahren über den Gesetzentwurf zu kommen. Es verbietet
sich dabei, in parteipolitische Schubladen einsortiert zu
werden, aber auch die Koalitionsdisziplin kann an dieser
Stelle nicht angeführt werden. Wie der Kollege Lammert
es formuliert hat, gehen auch wir davon aus, dass wir
durch ein zeitlich anspruchsvolles und von allen akzeptiertes geregeltes Verfahren, das bei Gesetzgebungen ansonsten üblich ist, zu einem Konsens kommen.
Ich bitte, das Ganze ohne Druck und ohne den Hinweis darauf, dass Entscheidungen schnell exekutiert werden müssen, zu beraten. Alles andere wäre die schlechteste Voraussetzung für Vertrauen. Vertrauen brauchen
wir aber dringend, wenn unsere Zusammenarbeit mit
dem Deutschen Ethikrat in Zukunft im Interesse aller erfolgreich sein soll.
({11})
Nun erteile ich der Kollegin Monika Knoche für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Damen
und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich darf heute
für 46 Abgeordnete der Fraktion Die Linke zu Ihnen
sprechen, die es für notwendig halten, dass der Deutsche
Bundestag ein Ethikkomitee einrichtet.
Diese Idee fußt auf der Erfahrung, dass die EnqueteKommissionen des Deutschen Bundestages nicht nur
herausragende Leistungen erbracht haben, die es dem
Parlament ermöglicht haben, fundierte Entscheidungen
zu treffen, die jedoch nicht immer den Empfehlungen
der Enquete-Kommissionen entsprachen, sondern dass
sie darüber hinaus auch etwas geleistet haben, was wir
als Parlamentarier und als Politiker würdigen sollten:
Die Bevölkerung fühlte sich im deutschen Parlament
vertreten. Sie hat sich mit ihren Sorgen, Anliegen, Erwartungen und Hoffnungen, die mit den modernen biomedizinischen Fragen und mit dem Recht und der Ethik
in der modernen Medizin und Forschung verbunden
sind, bei ihren Parlamentarierinnen und Parlamentariern
aufgehoben gefühlt. Das partizipative Verfahren war außerordentlich ausgeprägt. Behindertenverbände haben
sich zusammengefunden und an den Debatten beteiligt.
Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, auf diese hervorragende Art von parlamentarischen Gremien zu verzichten.
({0})
Ethik geht alle an. Die Debatte über ethische Fragen
kann an niemanden und an kein Gremium delegiert werden. Wir wissen, dass wir als Abgeordnete in der Pflicht
sind, diese hohen und anspruchsvollen Aufgaben zu erfüllen und selbst Expertinnen und Experten in diesen
Fragen zu werden. Ich muss wirklich sagen, dass ich den
Diskussionsprozess zur Herausbildung dieses Gesetzentwurfs mit Erstaunen beobachtet habe. Ich fand das eigentümlich paternalistische Verständnis der Ministerin
Schavan gegenüber dem Parlament sehr erstaunlich.
({1})
Das Parlament braucht kein Beratungsgremium, das ihm
nahe bringt, um welche Dimension und Entscheidungstiefe es sich handelt.
Schauen wir uns doch die Tradition hier im Deutschen Bundestag an. Seit dem Veto gegen das so genannte Hirntodkonzept hat der Deutsche Bundestag hoch
qualifizierte und interdisziplinäre parlamentarisch-partizipative Debatten geführt,
({2})
durch die der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben
wurde, sich hier wiederzufinden. Es haben Veranstaltungen stattgefunden: Kirchen, Behinderten- und Frauenverbände haben Veranstaltungen von hoher Qualität
durchgeführt, um weit reichende Fragen wie die der
Weiterentwicklung und der Ausgestaltung der Grundrechtsprinzipien, der Menschenwürde und des Schutzes
des Lebens in eine neue Gestalt und in eine Gesetzesform zu bringen.
Was haben wir als Abgeordnete erlebt? Wir haben erlebt, dass die Expertinnen und Experten aus dem Bereich
der Wissenschaft - ob es Human- oder Geisteswissenschaftler oder auch andere waren - die Erfordernisse des
Gesetzgebers gar nicht so genau kennen. Wir als Abgeordnete sind und bleiben die letzte Instanz, wenn es darum geht, die Fragen zu entscheiden, die uns als Gesetzgeber aufgegeben sind. Wir müssen uns vor Augen
führen, dass wir eine grundrechtsdogmatische Entscheidung zu treffen haben. Wir müssen herausfinden: Wie
kann die Forschung weiterentwickelt und gleichzeitig
die Menschenwürde gewahrt werden? Das sind die Herausforderungen, vor denen das Parlament in all diesen
Fragen steht.
Schauen wir uns einmal an, wie weit reichend, gut
und tragfähig die bisherigen Entscheidungen waren. Ich
betone: Nicht alle Empfehlungen der Enquete-Kommission wurden Gesetzesrealität. Aber die Vorschläge, die
sie als Ergebnis ihrer Arbeit vorgelegt hat, waren qualitativ um Welten besser als das, was zuvor Realität war;
das gilt sowohl für das Organtransplantationsgesetz als
auch für das Stammzellforschungsgesetz. Das wird auch
dann der Fall sein, wenn es um den Umgang mit genetischen Daten und ähnliche Themen geht. Warum also
sollte das deutsche Parlament hinter einer solchen Erfolgsgeschichte zurücktreten?
Wir haben uns auf internationaler Ebene ein sehr gutes Renommee erarbeitet, vor allem aufgrund der Art
und Weise, wie wir dieses Thema in diesem Hohen
Hause, dem deutschen Parlament, behandelt haben. Ich
habe, ebenso wie die vielen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner unseres Antrags, nichts dagegen, dass die
Regierung ein Expertengremium einsetzt. Das ist ihr gutes Recht. Das ist auch richtig und wichtig. Aber das
Parlament ist der Souverän. Das Parlament selbst muss
über die Kompetenz verfügen, darüber zu entscheiden,
wie diese hoch interessanten Fragen beraten werden sollen.
({3})
Ich denke, wir würden gut daran tun, uns an die Erfolge vorangegangener Enquete-Kommissionen zu halten und uns für ein Gremium zu entscheiden, dessen Einrichtung uns die Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages ermöglicht. Wir sind frei zu entscheiden,
wie wir die Geschäftsordnung des Bundestages ausgestalten.
Ich bitte Sie, im Rahmen unseres Diskussionsprozesses zurückzufinden zu der Ehre, die wir gespürt haben,
und dem Stolz, den wir empfunden haben, als es uns gelungen ist, die als „Sternstunden des Parlaments“ bezeichneten Entscheidungen zu treffen. Führen wir diese
Tradition fort! Die Linke unterstützt dieses Ziel mit ihrem vorliegenden Antrag.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Geis für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Skandal um den südkoreanischen Klonforscher Hwang hat gezeigt, dass seriöse Politikberatung auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften
dringend notwendig ist. Solche Politikberatung findet in
allen Staaten der westlichen Welt statt. Es handelt sich
dabei immer um unabhängige, wissenschaftliche Gremien, die das Parlament und die Regierung beraten.
Auch bei uns gab es in der letzten Legislaturperiode
ein solches Gremium. Es ist nicht ganz fair, dass die
Grünen der Regierung jetzt vorwerfen, sie würde ein
neues Gremium installieren, das nicht so stark legitimiert ist, wie Sie sich das vorstellen, und ihr Vorgehen
sei nicht gerade parlamentarisch. Denn Sie selbst haben
in der letzten Legislaturperiode die Einsetzung des parlamentarisch überhaupt nicht legitimierten Nationalen
Ethikrates mitgetragen.
({0})
Sie waren an der letzten Regierung doch selbst beteiligt.
Deswegen ist das, was Sie jetzt sagen, nicht fair. Ich
weise Ihren Vorwurf zurück.
({1})
Auch ist es nicht fair, der Regierung vorzuwerfen, sie
hätte ihren Gesetzentwurf nicht rechtzeitig vorgelegt
bzw. das Parlament nicht früh genug darüber informiert.
Unser Gesetzentwurf ist der SPD-Fraktion noch vor der
Sommerpause zugegangen. Die Regierung hat ihn beschlossen und an den Bundesrat weitergeleitet.
({2})
Der Bundesrat hat dazu Stellung genommen. Es war also
genug Zeit, darüber zu diskutieren.
({3})
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme keinerlei
Einwendungen vorgetragen, weder von SPD-regierten
Ländern noch von Ländern, in denen die FDP mitregiert.
({4})
Der Bundesrat hat unserem Gesetzentwurf also zugestimmt. Das bedeutet, dass im Grunde genommen dasselbe Gesetzgebungsverfahren stattfand, wie es auch
sonst immer der Fall ist.
({5})
Deswegen verstehe ich die Aufregung nicht, dass Sie
nun behaupten, unser Gesetzentwurf sei sozusagen vom
Himmel gefallen und nicht rechtzeitig vorbereitet worden.
({6})
Ich glaube aber, für uns kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir ein solches Gremium brauchen.
({7})
- Ich bedanke mich für die Zustimmung, Herr Tauss. Wir brauchen ein solches Gremium - dessen Zuständigkeitsbereiche aber nicht zu umfangreich sein dürfen,
weil es dann uferlos würde - für die Entwicklung in den
Lebenswissenschaften, weil sich in diesem Bereich das
Wissen sozusagen überschlägt. Dieses Wissen muss
transformiert werden, damit Regierung und Parlament
eines rationalen, modernen Staates es nutzen können, um
die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Wir brauchen das Wissen aus der Forschung und der
Gesellschaft, um auf staatlicher Ebene die richtigen Entscheidungen zu fällen. Das ist unbestritten. Dem stimmt
jeder zu. Deshalb ist es auch völlig richtig, dieses Gremium jetzt einzurichten und es durch das Parlament zu
legitimieren. Je stärker die Legitimation durch das Parlament ist, desto höher ist das Ansehen dieses Gremiums.
Auch wenn im Einzelnen über die im Gesetzentwurf
vorgeschlagenen Regelungen diskutiert werden kann
- die weitere Beratung kann in den Ausschüssen stattfinden -: Alles in allem halte ich den Gesetzentwurf für
richtig und zustimmungsfähig. Wir brauchen das vorhandene Wissen, um auf staatlicher Ebene richtige Entscheidungen zu fällen.
Es geht aber nicht allein um das Wissen. Der Staat
dient nicht nur der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit und der Schaffung eines sozialen Ausgleichs.
Der Staat ist nicht nur eine pluralistische Funktionsgemeinschaft, sondern er muss seine Entscheidungen
- weil es sich in der Regel um Wertentscheidungen
handelt - immer auch ethisch begründen. Das ist zwar
auch aus der Mitte des Parlamentes und vonseiten der
Regierung möglich - das will ich nicht absprechen -,
aber es ist auch richtig, das vorhandene Wissen zu nutzen und über die ethischen Grundlagen Rat von außen
einzuholen, nämlich von Wissenschaftlern, die sich täglich von morgens bis abends damit beschäftigen. Der
Staat muss diese Möglichkeiten nutzen; um nichts anderes geht es.
({8})
Es geht nicht darum, dass der Staat irgendwelche
Zwecke verfolgt, und es geht auch nicht um einfache
Entscheidungen. Vielmehr hat der Staat, wie gesagt, in
der Regel Wertentscheidungen zu treffen. Der Staat ist
nicht nur ein Wissensstaat, sondern auch - wie
Böckenförde festgestellt hat - ein sittlicher Staat. Insofern ist nicht nur die Transformation des Wissens, sondern auch die Übermittlung der ethischen Grundlagen
notwendig. Das ist die Aufgabe des Ethikrates.
Ich meine, dass wir dem Gesetzentwurf zustimmen
sollten.
Danke schön.
({9})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte erinnert mich an die große Ernsthaftigkeit
und den Respekt vor den verschiedensten Positionen, als
in diesem Parlament seinerzeit über die Stammzellforschung debattiert worden ist.
({0})
Darauf müssen wir uns auch deshalb beziehen, weil sich
in der Debatte um die Stammzellforschung in der deutschen Öffentlichkeit beispielhaft und auch zur Ehre des
Parlamentarismus und der Abgeordneten eine große
Souveränität in der Sache gezeigt hat. Daraus haben sich
eine starke Legitimation der seinerzeit verabschiedeten
Regelungen und eine gute Balance im politischen Entscheidungsprozess ergeben.
Ohne jemanden abwerten zu wollen, möchte ich mit
diesem Punkt an die Ausführungen von Herrn Lammert
anknüpfen. Sie sind zwar als Abgeordneter ans Rednerpult getreten, aber Sie haben gesprochen wie ein Präsident. Ich glaube, dass damit auch in diese Debatte Souveränität, Legitimation und Balance eingebracht worden
sind, an die wir anknüpfen können.
({1})
Wir haben eine gemeinsame Überzeugung: Nach unserem Verfassungsverständnis der Gewaltenteilung ist es
völlig legitim, dass die Regierung einen Gesetzentwurf
einbringt. Er wird deshalb im Parlament beschlossen,
weil es die höchste Legitimation hat, die ein Gremium
in Deutschland, in einer Demokratie haben kann. Es
herrscht daher breiter Konsens darüber, dass eine parlamentarische Einsetzung und Legitimierung zu einer Aufwertung des Gremiums, aber auch der Anliegen beitragen, die in einem solchen Rat behandelt werden.
Herr Lammert, es ist bemerkenswert, dass Sie die
Fragen betreffend die Lebenswissenschaften in den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen gestellt haben. Angesichts
des Dualismus aus Ethikrat und Enquete-Kommission
haben wir durchaus registriert, dass dort keineswegs nur
Fragen betreffend die Lebenswissenschaften, sondern
- um es einfach auszudrücken - Lebensfragen erörtert
werden.
({2})
Das mag zwar ein zu einfacher Begriff sein, aber er umfasst das, was Sie intendiert haben und was sich hinter
der ethischen Aufgabenstellung verbirgt.
Trotz aller Übereinstimmung möchte ich die Zeit für
souveräne, eigene Gedanken nutzen. Erstens. Wir haben
eben festgestellt, dass die Debatte nicht entlang der
Fraktionsgrenzen verläuft, sondern die gleiche Qualität
hat wie die damalige Stammzelldebatte. Passt es zu einem durch Parlamentsbeschluss aufgewerteten und sozusagen ins höchste Recht gesetzten Gremium - und das
in einer Konstanz, was ebenfalls zur Aufwertung beiträgt -, dass es zwei Delegationen gibt, nämlich die
durch das Parlament und die durch die Regierung? Sicherlich trägt es zur Aufwertung bei, wenn die Regierung delegiert und das Parlament legitimiert. Angesichts
dieser zwei Wege sollte man aber vielleicht darüber
nachdenken, ob nicht alle Mitglieder, die in diesem Gremium gleichberechtigt diskutieren sollen, in gleicher
Weise durch das Parlament legitimiert werden müssen.
Bislang ist vorgesehen, dass die Mitglieder quasi durch
zwei Gewalten zusammengeführt werden.
({3})
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage,
ob nicht in einem aus der Breite und mit der Souveränität des Parlaments delegierten Sachverständigenrates
eine bessere Repräsentanz aller vorhanden sein muss. Es
handelt sich hier um eine Dopplung; denn das Parlament
soll die Delegation der Regierung absichern. Das harmoniert aber nicht miteinander.
Die zweite Frage ist: Die Stammzelldiskussion hat
beispielhaft verdeutlicht, dass sich Abgeordnete nicht
über den Sachverstand und die Erkenntnisse der Wissenschaft erheben, sondern im Dialog offen sind und dies
aufnehmen und verarbeiten. Dies muss auch hier unser
Anliegen sein. Herr Loske, Chapeau vor Ihrer Rede, in
der Sie das Outsourcing hart kritisiert haben. Aber wo
verknüpfen wir dies? Nur im Dialog ist ein Konsens über
ethische Fragen möglich. Ethik gründet sich nie nur auf
Entscheidungen, sondern immer auch auf Konsens in der
Gesellschaft. Die Verknüpfung dieser beiden Punkte ist
aber in dem Vorschlag der Regierung noch nicht hinreichend berücksichtigt, insbesondere nicht bei der Institutionalisierung, um es positiv zu formulieren.
Ich frage daher: Kann ein unterstützender parlamentarischer Beirat aus Abgeordneten parallel zu einem
Sachverständigenrat einen institutionalisierten Dialog
führen? Dieser Punkt lässt sich auch in den Anträgen der
drei Oppositionsfraktionen finden. Es darf doch nicht
verboten sein, darüber nachzudenken, ob nicht nur dem
Sachverständigrat ein Entscheidungsrecht, sondern auch
den Abgeordneten ein Rede- und Debattierrecht eingeräumt werden sollte. Das würde sinnfällig machen, wie
der Dialog dort geführt und beispielhaft für die Gesellschaft organisiert werden kann. Dies mag man bedenken, wenn es um die Weiterentwicklung des Vorschlags
geht. Frau Sitte, ich meine aus Ihrer Rede herausgehört
zu haben, dass Sie sich durchaus ein Teilnahmerecht sowie ein Rede- und Diskussionsrecht vorstellen können.
Es stellt sich schließlich drittens noch die Frage nach
der Öffentlichkeit. Natürlich kann man hier unterschiedliche Perspektiven aufzeigen. Die Regierung empfiehlt in ihrem Gesetzentwurf im Prinzip, nicht öffentlich zu tagen. Aber man kann auch der Meinung sein,
dass grundsätzlich öffentlich getagt werden soll. Das
Gremium sollte jedenfalls die Souveränität haben, zu
entscheiden, über welche Fragen es nicht öffentlich diskutieren will. Diese Perspektive dürfen wir nicht verloDr. Ernst Dieter Rossmann
ren gehen lassen, nämlich dass Ethikfragen an die Gesellschaft gerichtet sind und diese nicht nur aus der
Gesellschaft aufgenommen und in einem Kreis stellvertretend für die Gesellschaft debattiert werden.
Ich will mit etwas enden, was mich beeindruckt hat.
Als der erste Ethikrat eingerichtet wurde und der designierte Vorsitzende, Herr Simitis, gefragt wurde, was ihn
eigentlich in besonderer Weise zum Vorsitz des Ethikrats
qualifiziere, hätte er seine ganze wissenschaftlich-juristische Reputation anführen können. Herr Simitis sagte
aber: Fachlich nichts, aber vom Gestus, von der Haltung
her, die Offenheit, die Souveränität, das Bemühen um
ethische Grundfragen. Er hätte es auch einfacher sagen
können: die Klugheit in der Sache.
({4})
Das ist es, was im Ethikrat zusammengebracht werden muss: Klugheit in der Sache. Man kann das auch auf
die Politik beziehen. Herr Präsident Lammert, Sie haben
Klugheit von uns eingefordert. Aber Klugheit sortiert
sich nicht nach Mehrheiten, schon gar nicht in diesem
Fall.
({5})
Klugheit organisiert sich nach Beteiligung und nach
Konsens. Das wünschen wir uns.
Vielen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in diesem Hause, wie ich finde, eine lange
und gute Tradition der inhaltlichen Diskussion über ethische, bioethische Fragen. Mich freut - mein Kollege
Rossmann hat es schon angesprochen -, dass wir auch
mit dieser Debatte, in der es ausdrücklich „nur“ um
Strukturfragen geht, eine gute Debatte begonnen haben.
Wenn wir uns überlegen, wo wir in den letzten Jahren
einen Diskurs über solche Fragen führen konnten, dann
müssen wir feststellen, dass es drei institutionalisierte
Orte gab - wenn diese auch nicht miteinander zu vergleichen sind -, nämlich die Enquete-Kommissionen, den
Nationalen Ethikrat und in ganz besonderem Maße den
Deutschen Bundestag. Wichtig ist, deutlich zu machen,
dass die Entscheidung über solche Fragen, wenn auch
Diskurs- und Beratungsmöglichkeiten in diesen Institutionen vorhanden waren, immer beim Deutschen Bundestag lag und sie auch immer beim Bundestag liegen
wird.
({0})
Deshalb ist es mir auch wichtig, auf Sie, Frau Knoche, einzugehen. Mein Selbstbewusstsein wird nicht deswegen geringer, weil wir eine Beratungsinstitution haben.
({1})
Unsere Entscheidung ist deswegen souverän, weil
vorher der Diskurs geführt worden ist und wir auf dessen
Basis selbstständig im Parlament entscheiden. Ich kann
nicht verstehen, dass gesagt wird, unser Selbstbewusstsein würde dadurch geringer. Ich finde eher, dass das
Gegenteil richtig ist und wir souveräner werden, wenn
wir vorher die Möglichkeit haben, mit Sachverständigen
zu beraten.
Die erste Lesung, die wir heute haben, muss der Auftakt für eine Debatte darüber sein, wie in Zukunft der
Diskurs fortgesetzt werden kann, gerade weil wir veränderte Rahmenbedingungen haben. So besteht eine veränderte Rahmenbedingung darin, dass es diese EnqueteKommission nicht mehr gibt. Das heißt, es besteht Anlass, darüber nachzudenken, wo wir in Zukunft diesen
Diskurs verorten können und - das halte ich für die entscheidende Frage, über die wir noch ausführlich werden
sprechen müssen - wie wir die Sachverständigenberatung mit der parlamentarischen Beratung verzahnen
können. Darauf müssen wir bei der ausführlichen Beratung des Gesetzentwurfes genauer schauen.
Es macht Sinn, die bisherigen Stärken dieser Beratungsinstitutionen, die es gab, aufzugreifen. Bei aller
Kritik an der Frage, wie der Nationale Ethikrat zustande
kam, muss man doch auch sehen, dass die Entscheidungen, die er für sich selbst getroffen hat, und die Beratungen, die er geführt hat - das ist ganz deutlich in jedem
Bericht zu spüren -, überhaupt nicht beeinflusst waren.
Es gab sehr ausführliche Minderheitenvoten. Da hat sich
die Souveränität der Institution gezeigt. Diese Stärke
sollten wir jetzt aufgreifen.
({2})
Auch die interdisziplinäre Zusammensetzung
- diese betrifft nicht nur die verschiedenen Wissenschaften, sondern auch die ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründe, die die Mitglieder dieses Ethikrats
hatten - sollten wir unbedingt wieder aufgreifen, nutzen
und einbringen. Diese sollten wir mit dem verbinden,
was ich als Stärke der Enquete-Kommission empfunden
habe. Deren Spezifikum ist die Zusammenfügung der
Sachverständigenberatung mit dem Diskurs der Parlamentarier. Wir sollten noch einmal gemeinsam überlegen, wie wir diese Stärke aufgreifen und in das Gesetz,
das wir zum Schluss verabschieden wollen, einbringen
können.
Wenn wir diesen Gesetzentwurf beraten, müssen wir
Folgendes bedenken: Erstens. Wie entsteht dieses Gremium? Wie wird es benannt und in welcher Verantwortung benennen wir es? Es macht natürlich Sinn, noch
einmal über die schwierige Frage zu diskutieren, ob wir
die Mitglieder des Gremiums hälftig benennen oder ob
wir die Legitimation aller Experten in diesem Gremium
auf die gleiche Art und Weise verankern. Meine Vorredner haben das auch schon angesprochen.
Wir sollten auch überlegen, welche Brücke wir bauen
müssen, um den Diskurs zwischen denen, die zum
Schluss parlamentarisch beraten und entscheiden werden, und den Sachverständigen zu ermöglichen. Ich will
noch einmal betonen: Es geht nicht um Machtstrukturen.
Für mich geht es vielmehr darum, dass wir den besten
Weg finden, um den Austausch zwischen Parlamentariern und Sachverständigen institutionell möglichst gut
zu verankern.
({3})
Es lässt sich über die Frage eines Beirats durchaus
miteinander diskutieren. Wir haben überhaupt noch nicht
festgelegt, wie er aussehen könnte. Mir ist es aber schon
wichtig, nicht zu sagen, wir wollen zwei Parallelgremien, aber auch nicht zu sagen, wir wollen nur eines alleine. Wir wollen eine möglichst gute Zusammenarbeit
zwischen der Institution, die zum Schluss entscheidet,
und der Institution, die berät, hinbekommen. Ich freue
mich, dass heute angeklungen ist, dass wir ausreichend
Zeit und Möglichkeiten haben werden, uns Gedanken
darüber zu machen, wo es hingehen soll.
Ich bin der Überzeugung - das möchte ich abschließend sagen -, dass wir eine möglichst große Akzeptanz
dieses Deutschen Ethikrats erreichen werden, wenn wir
eine möglichst breite, konsensuale Verankerung dieser
Institution erreichen. Dabei stellt sich auch die Frage,
wie breit diese hier im Parlament getragen wird. Die
möglichst hohe und breite Akzeptanz des Deutschen
Ethikrats wird nicht nur symbolisch sein, sondern wird
- da bin ich mir sicher - die atmosphärische und tatsächliche Grundlage dafür legen, dass er seine Aufgaben
bestmöglich wahrnehmen kann. Deshalb sollten wir
diese erste Lesung als Auftakt dafür nutzen, um den besten Weg zu ringen. Wir sollten dabei immer daran denken - darin möchte ich Herrn Lammert unterstützen -,
dass wir ein gemeinsames Ziel haben und es darum geht,
für die besten Wege zu diesem gemeinsamen Ziel zu
streiten.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/2856, 16/3199 und 16/3289 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/3277 - Tagesordnungs-
punkt 4 d - soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage
auf Drucksache 16/3199 - Tagesordnungspunkt 4 b -
überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Anerkennungs- und Vollstreckungs-
ausführungsgesetzes
- Drucksache 16/2857 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Budapester Übereinkommen vom 22. Juni 2001
über den Vertrag über die Güterbeförderung
in der Binnenschifffahrt ({0})
- Drucksache 16/3225 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Weingesetzes
- Drucksache 16/3226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Haager Übereinkommen vom 13. Januar 2000
über den internationalen Schutz von Erwachsenen
- Drucksache 16/3250 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Haager Übereinkommens vom
13. Januar 2000 über den internationalen
Schutz von Erwachsenen
- Drucksache 16/3251 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Grindel, Wolfgang Börnsen ({5}), Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg
Tauss, Monika Griefahn, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Schaffung eines kohärenten europäischen
Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher Medien- und
Kommunikationspolitik in Europa machen
- Drucksache 16/3297 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
ZP 3 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
({7})
- Drucksache 16/3270 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Jerzy
Montag und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Befristungsregelungen im Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege und im Einführungsgesetz zur
Zivilprozessordnung ({9})
- Drucksache 16/3282 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Reinhold Hemker, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Nationale Naturlandschaften - Chancen für
Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und
nachhaltige Regionalentwicklung
- Drucksache 16/3298 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({12})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestalten wissenschaftsadäquate Arbeitsbedingungen
schaffen
- Drucksache 16/3286 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 40 a bis
40 o und zu Tagesordnungspunkt 23. Es handelt sich um
die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 40 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Tierzuchtrechts sowie
zur Änderung des Tierseuchengesetzes und
des Tierschutzgesetzes
- Drucksache 16/2292 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14})
- Drucksache 16/3299 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Bärbel Höhn
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3299, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes
- Drucksache 16/2855 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({15})
- Drucksache 16/3319 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Silke Stokar von Neuforn
- Bericht des Haushaltsausschusses ({16}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3323 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Alexander Bonde
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3319, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit ebenfalls einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
3328. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der
FDP und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 40 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
14. März 2006 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Französischen Republik
über den Bau einer Eisenbahnbrücke über den
Rhein bei Kehl
- Drucksache 16/2860 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({17})
- Drucksache 16/3224 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt auf Drucksache 16/3224, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 d:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Jemen über
die Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2861 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 16. Juni 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Ägypten über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2862 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
19. und 20. April 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen
Republik Afghanistan über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2863 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
10. August 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen
Republik Timor-Leste über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/2864 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18})
- Drucksache 16/3304 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/
3304, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn Sie damit
einverstanden sind, können wir über die vier Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann sind diese vier Gesetzentwürfe mit
den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke - sie hat dagegen gestimmt - angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Eichgesetzes
- Drucksache 16/2920 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/3305 Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Rupprecht ({1})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3305, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksachen 16/2951, 16/3285 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 16/3306 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3317 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({4})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3306, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/
Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Transparenzrichtlinie-Gesetzes
- Drucksache 16/2952 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5})
- Drucksache 16/3261 Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Rehberg
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/
3261, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 40 h bis 40 o: Dabei geht es um
die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 40 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 118 zu Petitionen
- Drucksache 16/3127 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 118 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 119 zu Petitionen
- Drucksache 16/3128 6144
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
- Drucksache 16/3129 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 120 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
- Drucksache 16/3130 Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 121 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller anderen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
- Drucksache 16/3131 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 122 ist bei Gegenstimmen der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 123 zu Petitionen
- Drucksache 16/3132 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 123 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
- Drucksache 16/3133 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 124 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der Fraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
- Drucksache 16/3134 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 125 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Ablehnung durch die Fraktion der
FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 23:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze bei innergemeinschaftlichen
Verstößen
- Drucksache 16/2930 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14})
- Drucksache 16/3307 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Elvira Drobinski-Weiß
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3307, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Zur Frage der Praxistauglichkeit der HartzGesetze und der Erforderlichkeit einer Generalrevision
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({15})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gegenwärtig geistern ja einige Debatten durch
die Republik, die durch Herrn Rüttgers angestoßen wurden und die es wert sind, dass man darüber nachdenkt.
Das macht es notwendig, den einen oder anderen Punkt
deutlich anzusprechen.
Es geht vor allen Dingen um die Frage: Waren die
Hartz-Gesetze erfolgreich oder nicht?
({0})
Die Frage ist sehr einfach zu beantworten, wenn man
sich einmal überlegt, mit welchem Ziel man angetreten
ist. Ich möchte hier an das erinnern, was Herr Hartz am
16. August 2002 im Französischen Dom zu Berlin gesagt hat: Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen.
Unser Ziel ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren
um 2 Millionen zu reduzieren. - Die Realität kennen wir
alle: Das war die größte politische Scharlatanerie, die
wir in den letzten Jahren in diesem Land erlebt haben.
({1})
Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist eingetreten. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, Billigjobs verdrängen reguläre Arbeitsverhältnisse, versicherungspflichtige Beschäftigung ist zurückgegangen.
({2})
Diese Reform ist gescheitert, meine Damen und Herren.
({3})
Deshalb ist eine Generalrevision von Hartz IV richtig.
Natürlich muss man das Arbeitslosengeld I länger zahlen. Das sage ich ganz bewusst in Richtung SPD. Jeder
weiß, dass jemand, der älter als 50 ist und seinen Job
verliert, eher das Bundesverdienstkreuz bekommt, als
noch einmal einen neuen Job zu finden.
({4})
Ich weiß überhaupt nicht, warum gerade in Ihrer
Fraktion Aufregung entsteht, wenn nun das Arbeitslosengeld I wieder einigermaßen vernünftig gezahlt werden soll, sodass man nicht direkt nach einem Jahr beim
Arbeitslosengeld II mit 345 Euro Regelsatz landet. Wo
da die Logik sein soll, wenn Sie als Sozialdemokraten
dagegen sind, verstehe ich nicht.
Ich weiß auch nicht, warum Sie Angst haben, einen
Fehler zuzugeben. Herr Hartz ist weg wegen unredlichen
Lebenswandels. Herr Schröder hat inzwischen ein Buch
geschrieben. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben,
als unredlich darin vorzukommen.
({5})
Sie können einfach wieder sozialdemokratische Politik
machen. Fangen Sie doch mal damit an!
({6})
Auf etwas möchte ich dabei deutlich hinweisen:
({7})
Es ist an dieser Stelle natürlich Vorsicht geboten. Es ist
sinnvoller, das Arbeitslosengeld I nicht nur danach zu
bemessen, wie lange ein Arbeitnehmer eingezahlt hat,
sondern auch danach, wie alt jemand ist. Das war die alte
Regelung, die wir beim Arbeitslosengeld I hatten. Die
war vernünftig, weil die Arbeitslosenversicherung eine
Risikoversicherung ist und weil es einfach so ist, dass
man im Alter ein höheres Risiko hat.
({8})
Das ist das eine.
Das Zweite ist etwas ganz anderes, nämlich die Vorschläge, die mit den Rüttgers-Positionen verbunden sind.
Da muss man genau hinschauen. Es gibt keinen Grund,
über eine Gegenfinanzierung nachzudenken, wenn die
Bundesagentur 10 Milliarden Euro Gewinn macht.
({9})
Warum muss man eigentlich bei anderen sparen, wenn
offensichtlich das Geld sprudelt, und zwar auf Kosten
der Arbeitslosen, bei denen man eingespart hat?
Deshalb sage ich Ihnen, meine Damen und Herren:
Das, was Ihr zweiter Vorschlag beinhaltet, ist eigentlich
- da hat Müntefering Recht - eine Sauerei. Sie wollen
wieder einführen, dass beim Arbeitslosengeld-II-Bezug
sozusagen die Alten für die Jungen sowie die Jungen für
die Alten in der Familie einstehen sollen; nur vor diesem
Hintergrund soll Geld gezahlt werden. Ich will Ihnen sagen, wo Sie da abgeschrieben haben. Ich zitiere aus dem
Antrag der CDU-Landesverbände. Dort heißt es, im Gegenzug zu Ihren Vorschlägen werden die alten Regelungen der Sozialhilfe „zur gegenseitigen Einstandspflicht
von Eltern für ihre Kinder, auch von Kindern für ihre
Eltern“ wieder eingeführt. Sie wollen also beim Arbeitslosengeld II dafür sorgen, dass der Streit wieder in die
Familien kommt. Sie wollen dafür sorgen, dass die Sozialpolitik letztendlich abgeschafft und ihre Aufgabe
wieder in die Familien verlagert wird. Das ist Ihr Vorschlag und das ist ein politischer Skandal, meine Damen
und Herren.
({10})
Was Sie hier vorschlagen, ist nichts Neues und ist relativ einfallslos. Wir wissen ja, dass es in der CDU enge
Verbindungen zur Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gibt; ich erwähne Herrn Göhner. Nun
heißt es in dem BDA-Papier „Konsequente Reform von
‚Hartz IV‘ - 10-Punkte-Plan der BDA“ vom 31. Juli
- ich zitiere -:
Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips muss die gegenseitige Unterstützung von Eltern und Kindern
wie bei der früheren Sozialhilfe wieder Vorrang vor
staatlicher Unterstützung erhalten.
Sie haben ja nicht einmal etwas Neues geschrieben,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU!
({11})
Sie haben schlichtweg nur das BDA-Papier abgeschrieben.
Dieser sozialpolitische Vorschlag ist ein Trojanisches
Pferd: Sie tun so, als würden Sie das Arbeitslosengeld I
sinnvollerweise erhöhen wollen; eigentlich wollen Sie
aber beim Arbeitslosengeld II, bei den Ärmsten der Armen, weiter sparen.
({12})
Ein weiterer Skandal ist, dass Sie hier bei der Armutsdebatte so tun, als hätten Sie mit der Armut in dieser Republik nichts zu tun. Sie sind nicht ursächlich dafür verantwortlich; aber mit Ihren Hartz-Gesetzen haben Sie
maßgeblich zur Armut, auch zur Kinderarmut, in diesem
Lande beigetragen. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
({13})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe den Eindruck, Herr Ernst, Ihnen fehlen
die Auftritte auf sozialdemokratischen Parteitagen. Auch
bei der IG Metall ist es ein bisschen schwierig geworden, nachdem Sie in eine Partei gegangen sind, die zumindest nicht bei allen im DGB hoffähig ist.
Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, als ich den
Titel dieser Aktuellen Stunde gelesen habe: „Zur Frage
der Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze und der Erforderlichkeit einer Generalrevision“. Ich habe den Titel extra mitgenommen; das kann man kaum auswendig lernen. Das ist doch eher der Titel einer Doktorarbeit an
einer marxistisch-leninistischen Institution.
({0})
Sie können uns nicht erklären, warum dieses Thema
jetzt aktuell sein soll. Was Sie von der Linken/PDS eigentlich wollen, ist doch klar: Sie wollen jede Woche im
Bundestag mit abgegriffenen sozialistischen Winkelementen durchs Plenum laufen und den Leuten etwas
vorgaukeln.
({1})
Wir werden dagegenhalten. Sie können jede Woche wiederholen, was Sie jetzt machen. Ihre Rezepte sind abgegriffen. Das Modell - es hatte einen Namen: DDR - hat
überall dort, wo es ausprobiert wurde, versagt. Denn die
DDR ist untergegangen.
({2})
Am Ende hatten nicht alle mehr, sondern alle nichts
mehr gehabt. Danach folgte die größte friedliche Revolution gegen genau das Modell, das Sie nun ständig neu
in die Debatte zu bringen versuchen. Wir halten aber dagegen.
({3})
Sie betreiben eine Art Populismusolympiade - auch
Herr Gysi wird gleich seinen Auftritt haben ({4})
- ja, ich freue mich schon darauf -: schneller, besser,
weiter. Sie wollen die Besten sein, indem Sie allen etwas
versprechen. Am Ende werden Sie aber Ihre Versprechen nicht halten können.
Ich will ein paar Beispiele nennen. Was machen Sie
im Rahmen der Haushaltsberatungen? Sie fordern, die
Regelsätze für das Arbeitslosengeld II von 345 auf
420 Euro zu erhöhen.
({5})
Das ist ein altes Thema. Sie wollen damit locker die
Ausgaben um 5,8 Milliarden Euro auf 27,2 Milliarden
Euro erhöhen. Wenn man Sie dann fragt, woher Sie das
Geld nehmen wollen, dann kommen Sie mit den alten
Hüten, die kein Mensch mehr hören kann.
Bei den Leistungen für die Unterkunft, über die es
zwischen Bund und Ländern Verhandlungen gegeben hat
- das Ergebnis ist ein Bundeszuschuss in Höhe von
4,3 Milliarden Euro -, fordern Sie eine Erhöhung auf
5,7 Milliarden Euro. Das ist alles nicht mehr nachvollziehbar. Sie wollen locker 10 Milliarden Euro draufsatteln, sagen aber keinem Menschen, woher Sie das Geld
nehmen wollen.
({6})
Mit Ihrer Politik der Mehrausgaben werden Sie aber
scheitern. Denn das Geld ist nicht da. Wir müssen eine
Politik für den Arbeitsmarkt machen und dürfen nicht
einfach nur immer mehr Geld ausgeben.
({7})
Was fällt Ihnen zum Thema Überschuss bei der Bundesagentur für Arbeit ein? Da fällt Ihnen nichts anderes
ein, als das Geld zu nehmen und für irgendein Programm
auszugeben.
({8})
Wir müssen aber das Geld den Menschen zurückgeben,
die es einbezahlt haben. Damit schaffen wir Raum für
die Senkung der Lohnnebenkosten und für die Schaffung
von Arbeitsplätzen.
({9})
Jetzt werde ich ruhiger; denn die Veränderungen finden längst statt. Die Oktoberzahlen belegen, dass es einen Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um fast
500 000 auf jetzt 4 Millionen gibt. Wir haben vor allen
Dingen im Bereich der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung eine Trendumkehr; Sie haben vorhin falsche Zahlen genannt. Seit September 2000 ging im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
- unter diesen Bereich fallen die Menschen, die Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge zahlen - die Zahl der
Stellen in einem Zeitraum von 65 Monaten um
1,7 Millionen zurück. Aber seit Mai dieses Jahres ist es
der neuen Koalition gelungen, eine Trendwende herbeizuführen. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es
260 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Das führt zu positiven Effekten wie
Wirtschaftswachstum und Mehreinnahmen der Sozialkassen. Diesen Weg müssen wir gehen. Er ist die konsequente Alternative zu dem, was Sie hier ständig in Aktuellen Stunden vorleiern.
({10})
Sie fordern, dass es eine totale Hartz-Revision geben
muss. Ich sage Ihnen: Seit es die neue Koalition gibt,
sind wir ständig dabei, an den Stellen konsequent zu
Veränderungen zu kommen, an denen etwas nicht funktioniert.
({11})
Wir haben Veränderungen an mehreren Stellen durchgeführt. Sie wissen das; denn Sie waren in den meisten Fällen dagegen. Sie interessiert eben nicht, ob eine Maßnahme bezahlbar und sinnvoll ist. Nach Ihrer Meinung
ist es immer besser, Geld für Maßnahmen auszugeben,
egal ob sie sinnvoll sind oder nicht. Ihr Weg ist aber
falsch.
({12})
Wir wollen an weiteren Stellen, die nicht funktionieren, konsequent zu Veränderungen kommen. Wir sind
zurzeit dabei, in einer Arbeitsgruppe der Koalition konstruktiv über das Thema Arbeitsmarkt zu diskutieren.
Wir sind voll im Plan und werden Ihnen entsprechende
Vorschläge vorlegen. Ich vermute, dass sie Ihnen nicht
gefallen werden. Wir sind auch dabei, alle Maßnahmen,
die es im Bereich der Hartz-Gesetzgebung gibt, zu bewerten und gegebenenfalls zu einer Bündelung zu gelangen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig. - Wenn Sie also etwas Neues
wollen, dann fangen Sie neu an zu denken, und kehren
Sie nicht zu den alten gescheiterten Dingen zurück, die
wir alle erlebt haben; gerade Sie, Herr Gysi!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist jetzt ungefähr vier Jahre her, dass die Feierstunde zu den Hartz-Gesetzen im Französischen Dom
auf dem Gendarmenmarkt stattgefunden hat. Damals hat
Herr Hartz, der übrigens ebenso wie Sie, Herr Ernst, IGMetall-Mitglied ist, weshalb Sie vielleicht etwas netter
zu ihm sein sollten,
({0})
gesagt, dass die Arbeitslosigkeit mit dem von ihm vorgelegten Konzept innerhalb von zwei Jahren halbiert werden könne. Jetzt stellen wir fest, dass die Bundesregierung die Trendwende am Arbeitsmarkt verkündet. Der
Kollege Meckelburg hat eben mit Begeisterung festgestellt, dass fast 300 000 sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse mehr da sind. Das finde
auch ich gut. Wenn man allerdings zur Kenntnis nimmt,
dass zwischen 2001 und 2005 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren
gegangen sind, dann ist das eine leichte Besserung, es ist
aber noch lange keine Trendwende. Da brauchen wir uns
nichts vorzumachen!
({1})
Politik hat etwas mit der Wahrnehmung der Realität
zu tun. Die Hartz-Gesetzgebungen bestehen nicht nur
aus Hartz IV. Dazu gehört noch mehr. Vielleicht erinnert
sich manch einer von Ihnen noch an schöne Dinge wie
den Jobfloater oder den virtuellen Arbeitsmarkt, der einmal 65 Millionen Euro kosten sollte, dann aber bei
233 Millionen Euro endete. So muss diese gesamte Gesetzgebung auf die Details und auf die Frage, was sie gebracht hat, abgeklopft werden. Die öffentliche Diskussion kümmert sich nur um Hartz IV. Es ist aber weit
mehr damit verbunden. Insgesamt muss man sagen: Die
Reformen sind nicht gescheitert, aber sie sind auf dem
besten Wege dazu. Man kann allerdings noch etwas ändern.
Ein Kardinalfehler dieser Reform bestand in der
Mischzuständigkeit. Hier waren wir, Herr Kollege Meckelburg, im Vermittlungsausschuss übrigens immer einer Meinung. Wenn jemand tatsächlich glauben sollte,
dass man dann, wenn man aus zwei Behörden - der Bundesagentur und der Kommunalverwaltung - noch eine
dritte Behörde, die Arbeitsgemeinschaft, schafft, Geld
sparen kann, dann ist das jemand, der sich garantiert
auch die Hose mit der Kneifzange anzieht oder mit dem
Klammerbeutel gepudert ist. Es ist eine einfache Lebenswahrheit: Wer zu zwei Behörden eine dritte gesellt,
der gibt in aller Regel mehr Geld aus und spart nichts
ein. Das war der erste Kardinalfehler.
({2})
Die inhaltliche Begründung für die Kommunalisierung, die wir immer gefordert haben, ist vom Bundes6148
sozialgericht noch einmal deutlich dargestellt worden.
Man kann zum Beispiel bei den Kosten für Wohnungen
keine bundesweite Tabelle zugrunde legen, weil die Lebenshaltungskosten an den verschiedenen Orten unterschiedlich sind. Natürlich sind die Kommunen dichter an
den Bedürfnissen und den Problemen der Menschen
dran. Deshalb sollte man diesen Kardinalfehler auch
endlich korrigieren. Ich will noch einmal deutlich festhalten: Die FDP-Bundestagsfraktion war - ich glaube,
neben der Fraktion Die Linke - die einzige, die das so
genannte Optionsgesetz wegen nachgewiesenen Unsinns
abgelehnt hat.
({3})
Wir haben andere Vorschläge dazu gemacht, wie man
zu einer besseren Betreuung der Arbeitsuchenden kommen kann. Immerhin gibt die Bundesrepublik Deutschland mit allen betroffenen Haushalten pro Jahr
696 Milliarden Euro für Soziales aus. Man kann nicht
behaupten, dass das wenig Geld wäre. Offenkundig
kommt es nicht dort an, wo es hingehört. Wenn wir aber
jetzt die Möglichkeiten nutzen würden, die Arbeitsvermittlung in kommunaler Trägerschaft zu organisieren
und mit einem Budgetsystem für den Bund einen Anreiz,
vernünftige Gesetze zu machen, und für die Kommunen
einen Anreiz, die Menschen schnell und sachgerecht zu
betreuen, zu schaffen, dann hätten wir für die betroffenen Bürger deutlich günstigere Bedingungen und Einsparungen in den öffentlichen Haushalten.
Wir haben ein zukunftsweisendes Konzept zur Auflösung der Bundesagentur für Arbeit. Selbst wenn deren
Vorstandsvorsitzender sagt, er sei der erfolgreiche Manager eines Großunternehmens, so muss man doch zur
Kenntnis nehmen, dass die meisten Kunden mit den
Leistungen der BA nicht zufrieden sind. Im Rahmen dieses Auflösungskonzeptes ist ein Budgetkonzept vorgesehen, in dem die Finanzierung organisiert ist. Der Bund
gibt den Trägern der Arbeitsagenturen vor Ort ein den
regionalen Bedingungen des Arbeitsmarktes entsprechendes Budget an die Hand. Sie haben dann den Anreiz, gut zu sein, weil sie die Hälfte des nicht verbrauchten Budgets behalten können. Der Bund hat dann den
Anreiz für gute Gesetze, weil er die andere Hälfte des
eingesparten Geldes zurückbekommt. Sie können Menschen mit Anreizen integrieren. Mit Anreizen können
Sie dafür sorgen, dass Verschiebebahnhöfe endlich aufgelöst werden.
({4})
Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob es nicht
sinnvoll wäre, auch das Schonvermögen der betroffenen
älteren Menschen noch einmal zu überdenken. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich im Vermittlungsverfahren mehrfach dafür geworben habe, dass wir das
Schonvermögen für Ältere größer ausgestalten. Es kann
wirklich kaum jemand nachvollziehen, dass die Politik
die Bürgerinnen und Bürger völlig zu Recht auffordert,
Eigenvorsorge für das Alter zu betreiben, und dass derjenige, der das nicht tut, staatliche Unterstützungsleistungen bekommt, derjenige aber, der gespart hat, diese Ersparnisse erst einmal zum wesentlichen Teil aufbrauchen
muss, ehe er unterstützt wird. Da ist der Anreiz, das Geld
vorher auszugeben und zu konsumieren, natürlich wirtschaftlich nachvollziehbar und deutlich größer. Deswegen sollte man hier neue Wege gehen. Sie haben unsere
Unterstützung, wenn Sie das tun wollen.
Der letzte Punkt, den ich in meiner kurzen Redezeit
ansprechen möchte - er ist mir sehr wichtig -, sind die
so genannten Überschüsse bei der Bundesagentur; wir
haben es schon gestern thematisiert. Alle, vor allem die
Bundesregierung, aber auch die PDS, tun so, als wenn
dort jetzt unheimlich viel Geld verdient würde. Lassen
Sie mich eines ganz deutlich festhalten: All das Geld,
was dort übrig ist, ist den Arbeitnehmern und Arbeitgebern vorher zu viel weggenommen worden. Deswegen
muss man jeden Beitragssenkungsspielraum nutzen, um
das Geld zurückzugeben.
({5})
Das gilt auch für die anderen sozialen Sicherungssysteme, zum Beispiel für die Rentenversicherung. Sie haben angekündigt, die Rentenbeiträge im kommenden
Jahr auf 19,9 Prozent zu erhöhen. Aber Sie wissen
selbst, dass ein Beitrag von 19,7 Prozent ausreichen
würde. Dass Sie diesen Beitragssenkungsspielraum nicht
voll auszunutzen, begründen Sie nur mit dem Argument,
die Planungssicherheit für die Betriebe und die betroffenen Menschen erhalten zu wollen. So werden Sie den
Faktor Arbeit nicht entlasten. Im Gegenteil: Sie ernten
auf der einen Seite Unverständnis bei den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern und auf der anderen Seite machen Sie es immer schwerer, Arbeit in Deutschland zu
schaffen. Aber von mehr Beschäftigung profitieren Sie
doch im Augenblick.
Herr Niebel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin bei meinem letzten Gedanken, Herr Präsident. Mehr Beschäftigung führt zu mehr Steuerzahlern und
mehr Beitragszahlern, was Sie im Endeffekt strahlend
auf der Regierungsbank sitzen lassen kann und den Menschen in diesem Land ein Stück weit mehr Perspektive
bietet. Kehren Sie um zu mehr Freiheit! Machen Sie das,
was die Bundeskanzlerin zu Beginn ihrer Regierungszeit
in ihrer Regierungserklärung gefordert hat: Wagen Sie
mehr Freiheit!
({0})
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es stimmt: In den letzten vier Jahren haben wir
die Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik deutlich veränParl. Staatssekretär Gerd Andres
dert. Mit den ersten drei Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - im Volksmund „Hartz I“
bis „Hartz IV“ genannt - hat die frühere Bundesregierung die Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen
Dienstleistungsunternehmen umgestaltet. Statt Arbeitslosigkeit weiterhin vorwiegend zu verwalten, stehen
mittlerweile die Stärkung der Vermittlung in Arbeit und
die Einsetzung effizienter, kostengünstiger Methoden
und Ansätze im Mittelpunkt. Wir haben in der Arbeitsmarktpolitik eine Menge umgekrempelt. Ich füge ganz
gelassen hinzu: Diese Reformen zeigen jetzt Erfolge.
({0})
Neben dieser Reform der Organisation haben wir mit
der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige eine echte Strukturreform
durchgeführt. Es gibt jetzt die einheitliche, bedarfsabhängige staatliche Fürsorgeleistung der Grundsicherung
für Arbeitsuchende. Ihre Einführung war richtig; niemand außer den Linken bezweifelt das. Diese Reform
war völlig richtig und wir haben sie umgesetzt.
({1})
Diese Leistungen bringen uns allen Vorteile. Die
Maßnahmen zur Eingliederung der Hilfesuchenden
übernimmt jetzt eine Stelle. Es wird nicht mehr wie früher unterschieden, wer Kunde des Sozialamtes, des Arbeitsamtes oder des Wohnungsamtes ist. Diese Veränderung ist sehr bedeutsam. Denn mittlerweile werden die
Energien darauf verwendet, Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht mehr darauf, zu klären, welches Amt für
wen zuständig ist. Für die Hilfesuchenden liegt der Vorteil darin, dass sie die Leistungen nun aus einer Hand erhalten. Sie müssen nicht mehr von Amt zu Amt, von
Pontius zu Pilatus laufen.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende besteht nunmehr seit etwas mehr als 23 Monaten. In der Einführungsphase gab es Reibungsverluste; wer würde das bestreiten. Das kann aber nicht verwundern; denn
schließlich galt es, eine der größten Sozialreformen der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen
und ins Laufen zu bringen. Dass dies nicht von heute auf
morgen funktioniert, zeigt uns der Blick ins Ausland.
Dort hat es bis zu fünf Jahre gedauert, bis vergleichbar
tiefe Reformen wirklich mit Leben erfüllt waren und ihre
Wirkung entfalten konnten.
Die Anfangsphase ist mittlerweile geschafft. Jetzt
werden alle Energien und Ressourcen auf die Überwindung von Hilfebedürftigkeit konzentriert. Aufgabe der
Politik ist es, die Rahmenbedingungen dafür so optimal
wie möglich zu gestalten.
Wir haben in kurzer Zeit zwei umfassende Gesetze
zur Revision des SGB II, also des Arbeitslosengeldes II,
umgesetzt. Wir haben aus den Anfangsfehlern gelernt.
Wir haben immer gesagt: Hierbei handelt es sich um ein
„lernendes“ Gesetzgebungsverfahren; wir müssen nachsteuern und nachjustieren. Das haben wir gemacht.
Alle Fachleute sagen uns - zuletzt bei einer Sachverständigenanhörung am 26. Oktober -: Die Reform
braucht Zeit, damit sie wirken kann. Verändert nicht
schon wieder die Tatbestände! Lasst den Menschen in
den Agenturen und den Arbeitsgemeinschaften Zeit, dies
jetzt richtig umzusetzen. - Uns wird gesagt, so die Sachverständigen, das geltende Recht enthalte ausreichende
Handlungsmöglichkeiten für die Akteure vor Ort. Rechtliche Veränderungen sollten auf ein Mindestmaß reduziert werden. Das Allerletzte, was die Praxis jetzt
gebrauchen könne, seien ständig neue öffentlichkeitswirksame Forderungen - nach Gesetzesänderungen,
nach Leistungskürzungen, nach einer Generalrevision.
Wenn uns die Praktiker sagen: „Wir haben, was wir
brauchen; jetzt lasst es uns auch anwenden“, dann sind
wir gut beraten, dies ernst zu nehmen und danach zu
handeln. Deshalb macht es auch keinen Sinn, zum jetzigen Zeitpunkt die Zuständigkeit für die Umsetzung des
SGB II infrage zu stellen. Damit sind zum einen die Arbeitsgemeinschaften befasst, die aus kommunalen Trägern und der Agentur für Arbeit gebildet wurden, und
zum anderen die 69 Optionskommunen, die das SGB II
alleine umsetzen. Diese Aufgabenverteilung hat der Gesetzgeber bewusst als Experiment bis 2010 zugelassen,
um zu sehen, wer es besser macht. Wir werden die Ergebnisse evaluieren und Bundestag und Bundesrat bis
Ende 2008 einen Bericht darüber vorlegen. Dann wird
Bilanz gezogen und entschieden, wie es weitergeht. So
ist der Fahrplan.
Zusammengefasst: Die Forderung nach Generalrevision ist blanker Populismus. Ich denke, der Gesetzgeber
sollte sich zurückhalten und die getroffenen Maßnahmen
wirken lassen. Ich will aber nicht verschweigen, dass es
auf der Ebene der Verwaltung durchaus Handlungsbedarf gibt. Wir werden sorgfältig prüfen und zu entscheiden haben, welche Rahmenbedingungen besser werden
müssen; denn das Zusammenspiel der verschiedenen
Akteure läuft noch nicht optimal.
An der Umsetzung des SGB II sind der Bund, die
Bundesagentur für Arbeit, die Kommunen, die zugelassenen kommunalen Träger und die Bundesländer beteiligt.
({2})
Ich denke, es ist wichtig, dass jeder der Beteiligten seine
Aufgaben und seine Rolle genauso kennt wie deren
Grenzen. Die Finanzierung der Grundsicherung nach
dem SGB II ist überwiegend Sache des Bundes; er trägt
etwa 80 Prozent der Kosten. Niemand will das ändern.
Dieses finanzielle Engagement muss aber praktische
Konsequenzen haben, und die hat es auch. Es muss der
Grundsatz gelten: Die Kompetenzen folgen der Finanzierung. - Das bedeutet schlicht und einfach, dass diejenigen, die die finanzielle Verantwortung haben, auch die
Durchführungsverantwortung haben und sie entsprechend wahrnehmen.
({3})
Der Bund - niemand sonst - trägt den größten Teil der
Kosten. Beide Träger, die Kommunen und wir, haben
dafür auch die Durchführungsverantwortung.
Aus diesem Grundsatz ergeben sich konkrete Fragen,
die wir klären müssen: Welche Rolle hat die Bundesagentur für Arbeit? Was dürfen die Kommunen und die
zugelassenen kommunalen Träger? Wie weit dürfen die
Länder Einfluss nehmen? - Wenn es gelingt, dass alle
Beteiligten ihre Rolle und die Rolle der anderen akzeptieren, dann sind wir auf dem Weg zu mehr Effizienz
beim SGB II ein großes Stück vorangekommen.
Klärungsbedarf gibt es übrigens auch beim Personal,
das die Grundsicherung der Arbeitssuchenden vor Ort
umsetzt. Ich will nur drei Punkte nennen: die Wahl von
Personalräten, die Qualifizierung von Mitarbeitern und
die Klärung der tariflichen Situation. Ziel muss nach
meiner Überzeugung sein, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird,
({4})
egal ob der Mitarbeiter von der Kommune oder von der
Arbeitsagentur kommt.
Das alles klingt nach Arbeit im Detail. Ich sage ganz
deutlich: Das ist es auch. Es gilt jetzt, das zu tun, was für
ein besseres Funktionieren der Reform noch notwendig
ist. Diese Arbeit ist anstrengend, aber sie lohnt sich, weil
sie den Menschen, die händeringend nach Arbeit suchen,
in ihrer schwierigen Situation weiterhelfen wird. Ständige Forderungen nach einer Generalrevision - das sage
ich in Richtung derer, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben - oder die Ablehnung der Hartz-Gesetze helfen nicht weiter, gleich von welcher Seite sie kommen.
({5})
Das Schönste an den Reden von Herrn Niebel ist, dass
er vorschlagen kann, was er will; da er in der Opposition
ist, werden alle Vorschläge und Forderungen, die er formuliert, nicht gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie werden
sich nicht durchsetzen.
({6})
Umgekehrt gilt das natürlich auch für diejenigen, die
diese Aktuelle Stunde beantragt haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
gestehen, dass ich diese Aktuelle Stunde etwas merkwürdig finde. Ich bin nämlich immer davon ausgegangen, dass in einer Aktuellen Stunde auch die aktuellen
politischen Debatten geführt werden.
({0})
Weder vonseiten der CDU/CSU noch von Herrn Andres fiel ein Wort zu dem, was hier inszeniert wird. Nach
„Deutschland - ein Sommermärchen“ inszeniert die
CDU jetzt offensichtlich ein Wintermärchen. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen fordert die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I. Dann
geht er in die Umkleidekabine und fragt den Spiegel:
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der So-zialste
im ganzen Land? Der Spiegel antwortet ihm tatsächlich,
sagt aber zu seinem Missvergnügen:
({1})
Herr Rüttgers, Ihr seid der Sozialste hier, aber Oskar Lafontaine, hinter den roten Bergen, bei den roten Zwergen, ist noch tausendmal sozialer als Ihr!
({2})
Was lernen wir daraus? Die Frage, wer soziale Politik
macht und wer nicht, ist nicht durch einen Blick in den
Spiegel zu beantworten. Dafür muss man die Konzepte,
die hinter diesen Vorschlägen stehen, genau ansehen.
Herr Meckelburg, dabei entzaubert sich das holde Spiegelbild doch sehr schnell. Dann sieht man, dass es sich
eben nicht um ein Märchen handelt, sondern um ein
scheinheiliges Politikmanöver, das das Etikett „sozial“
wahrlich nicht verdient.
Dieser Plan hat nämlich eine derbe soziale Schieflage.
Davon sind übrigens nicht nur die Jungen, die Frauen
und diejenigen betroffen, die unterbrochene Erwerbsbiografien haben. Dass die alle zu Verlierern werden, ist
ganz offensichtlich. Dieses Konzept ist auch für diejenigen eine Mogelpackung, für die Sie vorgeblich etwas tun
wollen, nämlich für die älteren Arbeitslosen. Für die allermeisten der betroffenen Älteren würde diese Regelung zu einer krassen Verschlechterung führen. Derzeit
erhalten über 55-Jährige 18 Monate lang Arbeitslosengeld I, wofür sie nur drei Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung einzahlen müssen. Der Vorschlag von
Herrn Rüttgers, der ganz offensichtlich von vielen von
Ihnen getragen wird, würde zwar zugegebenermaßen
dazu führen, dass die Bezugsdauer um sechs Monate angehoben würde. Dafür müssten sie aber 40 Jahre lang
ununterbrochen einzahlen.
({3})
Mit anderen Worten: Ein 55-Jähriger müsste ab dem
15. Lebensjahr ununterbrochen einzahlen, damit er zwei
Jahre lang Arbeitslosengeld I beziehen kann. Was ist daran fortschrittlich? Was ist daran sozial?
({4})
Die Fehlanreize in Richtung Frühverrentung kommen
noch hinzu. Sie reden immer von einer Lebensarbeitszeitverlängerung, machen aber eine Politik, die in eine
ganz andere Richtung zielt.
({5})
Dieser Vorschlag stellt den Charakter der Arbeitslosenversicherung auf den Kopf. Er zielt in die völlig falsche
Richtung. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die
Erwerbsbiografien werden immer diskontinuierlicher. Es
gibt immer mehr Unterbrechungen in den Erwerbsbiografien. Daher müssen wir die sozialen Sicherungssysteme in genau die andere Richtung reformieren.
({6})
Dieser Vorschlag ist eine Fahrkarte in die Vergangenheit.
Rüttgers segelt unter der Fahne der Gerechtigkeit, aber
dieses Schiff hat eine starke soziale Schlagseite.
({7})
Heute Morgen habe ich in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, Herr Müntefering habe den Kampfruf
ausgegeben: Auf sie mit Gebrüll!
({8})
Ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe Müntefering.
Doch jetzt wollen wir mal sehen, ob der Vizekanzler ordentlich zubeißen kann.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die SED/PDS und ihre Gefolgschaft in der heutigen Aktuellen Stunde am 17. Jahrestag des Falls der
Mauer die Frage nach der Praxistauglichkeit der HartzGesetzgebung stellen und eine Generalrevision fordern,
kann man sich die Antwort sehr leicht machen. Ich zitiere Herrn Dr. Klaus von Dohnanyi, einen Mann, der
sich von Anfang an, seit 1990, mit den sozialpolitischen
und strukturpolitischen Herausforderungen des Umbaus
der neuen Bundesländer beschäftigt:
Wenn wir die vorliegenden Prognosen über die Altersentwicklung, die Folgen der Geburtenlücken
und die Vorausschätzungen der Kosten, die beide
Tendenzen verursachen werden, berücksichtigen,
dann führt jede ehrliche Rechnung zu zwei Ergebnissen: Erstens: Wir werden für diese Aufgabenfelder zukünftig einen größeren Teil von unseren privaten Einkommen abgeben müssen. Zweitens: Es
wird zwangsläufig für die Bürger unterschiedliche
Niveaus der Versorgung geben, je nachdem, wie
viel jeder Einzelne für die Versorgung zusätzlich
einbringen kann oder einzubringen bereit ist.
Zusammenfassen kann man das so: Mehr Hilfe zur
Selbsthilfe, mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibilisierung in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens, stärkere Bündelung aller Kräfte.
Diesem Anspruch sind wir vor reichlich drei Jahren
nachgekommen. Erinnern wir uns: Das Nebeneinander
zweier staatlicher steuerfinanzierter Fürsorgesysteme - der
Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe - war ineffizient und
intransparent, ja auch ungerecht. Trotz vergleichbarer
Leistungen gab es für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe
und für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger keine arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen aus einer Hand. Für die
Teilnahme an einer Qualifizierungs- oder Beschäftigungsmaßnahme war weniger die Zweckmäßigkeit der Maßnahme entscheidend als vielmehr die Art des Leistungsbezuges. Darüber hinaus stand in der Praxis in beiden
Systemen zu oft die Leistung zum Lebensunterhalt im
Vordergrund und nicht die Überwindung der Arbeitslosigkeit. Natürlich waren und sind die Akzente in den neuen
Bundesländern explizit differenzierter, weil es große
strukturelle Veränderungen in den Griff zu bekommen
gilt. Die Sozialhilfe orientierte sich - das müssen wir uns
vergegenwärtigen - am soziokulturellen Existenzminimum, die Arbeitslosenhilfe am zuletzt erzielten Einkommen. Die Niveauunterschiede beider Systeme wurden
noch verstärkt dadurch, dass bei der Bedürftigkeitsprüfung unterschiedliche Einkommens- und Vermögensgrenzen, unterschiedliche Freibeträge für Erwerbseinkommen,
so genannte Hinzuverdienstgrenzen, und unterschiedliche
Regelungen für die Zumutbarkeit einer aufzunehmenden
Erwerbstätigkeit galten.
Hieraus resultierte eine Vielzahl von Problemen.
Leistungsbezieher aus den beiden Systemen wurden bei
den Integrationsbemühungen der Träger unterschiedlich
behandelt; auch das müssen wir uns vergegenwärtigen.
Es entstand die Tendenz, die finanziellen Lasten zwischen Sozialhilfeträgern und Bundesagentur zu verschieben. Deswegen war das Zusammenlegen von Sozialhilfe
und Arbeitslosenhilfe richtig, ja alternativlos.
({0})
Natürlich kann niemand mit der Grundsicherung, die
wir jetzt auf einen in West und Ost einheitlichen Betrag
festgelegt haben, große Sprünge machen; das sehen wir
auch. Natürlich sind wir zum Handeln aufgefordert,
wenn in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit die Bemühungen des Einzelnen um einen Arbeitsplatz auf dem
ersten Arbeitsmarkt mangels Angeboten wiederholt
ohne Erfolg bleiben. Wir kennen diese Herausforderung
und wir kümmern uns darum. Deshalb ist es richtig, dass
wir uns auf die Senkung der Lohnnebenkosten konzentrieren, weil wir dadurch auch den Beziehern unterer
Einkommen helfen, indem wir ihre Kaufkraft stärken.
({1})
Natürlich macht es betroffen, dass vor allem Alleinerziehende mit Kindern ihr Monatseinkommen mit sehr
viel Kreativität einteilen müssen, um über die Runden zu
kommen. Die Wahrheit ist aber auch, dass es schon immer soziale Konstanten gegeben hat, die durch Einkommensunterschiede geprägt waren. Ich möchte ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass das auch in der DDR
der Fall war.
Da die Redezeit in der Aktuellen Stunde kurz bemessen ist, will ich nur noch sagen: Es ist wichtig, dass wir
uns den Problemen des Arbeitsmarktes stellen. Dadurch
wird die in den Hartz-Gesetzen vorgenommene Gewichtung anders aussehen. Deshalb sind wir in der großen
Koalition auf dem richtigen Weg.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Michalk, mich wundert es ein wenig, dass Ihnen am Tag
der Öffnung der Mauer nur die SED einfällt. Ich finde,
Ihnen sollten auch die CDU und die Bauernpartei der
DDR einfallen, mit denen Sie sich so erfolgreich vereinigt haben, ohne das je aufgearbeitet zu haben.
({0})
Herr Meckelburg, Sie haben darauf hingewiesen, dass
wir jede Woche zum gleichen Thema mit Winkelementen durchs Haus gehen.
({1})
Ich darf Ihnen etwas erklären: Es handelt sich um eine
Aktuelle Stunde, für die Herr Rüttgers thematisch gesorgt hat, nicht wir. Das sollten Sie bei dieser Gelegenheit nicht vergessen.
({2})
Herr Meckelburg, Sie haben dann gesagt, dass aufgrund der entsprechenden Instrumente bereits die DDR
gescheitert ist. Ich will Ihnen selbst das einmal erklären.
({3})
Die private Wirtschaftsmacht wurde in der DDR gebrochen und es entstand eine Mangelwirtschaft mit geringer
Produktivität. Die staatliche Macht wurde nicht gebrochen, sondern geradezu zur Absolution hochgetrieben.
({4})
Die Folge waren Produktivitätsmängel und vor allen
Dingen große Einschränkungen bei Demokratie und
Freiheit. Daran und nicht an der Arbeitslosigkeit ist die
DDR gescheitert. Selbst das bringen Sie durcheinander.
Es tut mir furchtbar Leid, Herr Meckelburg.
({5})
Ich komme zu Rüttgers zurück. Er hat einen vernünftigen Vorschlag unterbreitet - zumindest laut den Medien -, dass nämlich ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld I erhalten sollen. Das klingt gut. Dass Herr
Beck als Vorsitzender der SPD dem gleich widerspricht,
will mir wirklich nicht in die Birne.
({6})
Es tut mir wirklich Leid. Als Vorsitzender der SPD
müsste man doch sagen, dass die Idee erst einmal richtig
ist. Wenn man das aber selber gekürzt hat, will man natürlich nicht dazu stehen.
Herr Rüttgers hat allerdings Vorschläge dazu gemacht, wie andere Arbeitslose das finanzieren sollen. Es
ist wirklich sozial unerträglich, zu sagen: Die einen sollen etwas mehr erhalten, dafür erhalten die anderen Arbeitslosen deutlich weniger. - So kann eine soziale Lösung dieser Probleme nicht aussehen.
({7})
Das würde natürlich zum Nachteil der Bezieher von
ALG II und von Eltern in ihrem Verhältnis zu bereits erwachsenen Kindern geschehen.
Ich sage Ihnen eines: Das alles kann man machen.
Man kann sagen, dass die einen für die anderen haften.
Damit helfen Sie aber nur einer Berufsgruppe, nämlich
meiner, den Rechtsanwälten, weil es viele Prozesse geben wird. Die Familien zerstören Sie damit aber. Das
kann unmöglich der Weg sein, den wir hier einschlagen.
({8})
Herr Meckelburg, auch Ihr nächstes Argument fand
ich interessant. Sie sprachen davon: Es gibt kein Geld.
Gleichzeitig machten Sie aber keinen Vorschlag, wie
man das bezahlen soll. Das sagen Sie im November 2006 im Ernst. Die erwarteten Steuermehreinnahmen des Bundes liegen in diesem Jahr bei 9 Milliarden Euro.
({9})
Die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit, die die
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung erhält, liegen
bei etwa 10 Milliarden Euro. Sie wollen jetzt eine Unternehmensteuerreform durchführen,
({10})
durch die Sie den Konzernen schon wieder Steuern in
Höhe von 8 Milliarden Euro schenken. Gleichzeitig sagen Sie, dass die Empfänger von 345 Euro die längere
Zahlungsdauer des Arbeitslosengeldes I finanzieren sollen. Das ist doch einfach indiskutabel. Wir haben das
Geld doch, wir müssen es nur anders verteilen.
({11})
Sie haben in dieser Gesellschaft eine breite Armut organisiert. Aber Sie haben auch Reichtum organisiert.
Das geht seit Jahren so. Das behaupte nicht nur ich. Es
gibt wissenschaftliche Studien und andere Untersuchungen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Jeden Tag
kann man in den Zeitungen lesen - übrigens setzen sich
auch rechte bzw. konservative Autoren mit dieser Frage
auseinander -: Wenn die Armut weiter in diesem Maße
zunimmt und der Reichtum gleichzeitig so stark wächst,
ist das gesellschaftszerstörerisch.
Es gibt zwar ein paar verblendete Linke, die denken,
dass das zu einer Stärkung der politischen Linken führt.
Ich sehe aber die große Gefahr, dass diese Entwicklung,
wenn wir so weitermachen, eine Stärkung der Rechten
zur Folge haben wird.
({12})
Wir brauchen eine Gesellschaft, die wesentlich mehr Solidarität beweist. Das muss man organisieren.
({13})
Solange die Menschen uns wählen, sollten Sie noch
zufrieden sein.
({14})
Das könnte auch ganz anders aussehen. Das sage ich insbesondere in Richtung SPD. Sie haben in den letzten sieben Jahren schließlich mit dazu beigetragen, dass der
Reichtum gestärkt und die Armut organisiert wurde. Das
werden Sie nicht los. Werden Sie endlich wieder sozialdemokratisch!
({15})
Ich frage Sie - ich bleibe bei Ihrem Argument: kein
Geld -: Sind Sie bereit, eine Vermögensteuer einzuführen? Sagen Sie doch einmal: Die Vermögenden in unserer Gesellschaft sollen entsprechend Art. 14 Abs. 2 unseres Grundgesetzes ihren Beitrag leisten. Dort steht
immer noch:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
({16})
Ich bitte Sie: Es gibt in Deutschland Milliardäre! Sind
sie den ganzen Tag damit beschäftigt, sich eine Birne
darüber zu machen, wie sie ihre Milliarde so einsetzen,
dass sie dem Allgemeinwohl dient?
({17})
Wir schlagen vor, dass sie einen Teil ihres Geldes abgeben und wir dieses Geld gleich im Interesse des Allgemeinwohls einsetzen. Das wäre der Situation angemessen.
({18})
Der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer ist um
11 Prozentpunkte gesenkt worden. Wollen Sie daran etwas ändern? Nein, Sie wollen daran nichts ändern. Ihre
Politik trifft immer die gleiche Gruppe. Immer sind es
die Arbeitslosen, die Kranken und die Rentnerinnen und
Rentner, die die Kosten unserer Gesellschaft zahlen sollen.
({19})
Deutschland ist die einzige Industriegesellschaft, in der
ein Rückgang der Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verzeichnen ist. Die USA, Großbritannien, Frankreich und weitere EU-Länder gehen andere
Wege. Bei uns ist die Entwicklung der Löhne negativ.
({20})
Das ist nicht gut und das darf nicht so bleiben. Deshalb
brauchen wir eine Generalrevision von Hartz IV. Dieses
Gesetz hat sich nicht bewährt.
({21})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus
von der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Dr. Gysi, es war ganz nett, dass Sie zumindest zum
Schluss Ihrer Rede - ich glaube, es war die drittletzte
Bemerkung, die Sie gemacht haben - auf das Thema der
heutigen von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde hingewiesen haben.
({0})
Ansonsten haben Sie wieder einmal eine sehr populistische Rede gehalten, die uns mittlerweile schon bekannt
ist.
({1})
Ich komme noch darauf zu sprechen, was Populismus in
einer Gesellschaft bewirken kann.
Lassen Sie mich bitte etwas zu den Vorschlägen von
Herrn Rüttgers sagen.
({2})
Es ist das gute Recht der CDU, auf ihren Parteitagen Anträge zu beschließen; darüber wollen wir nicht richten.
({3})
Aber, Frau Pothmer, es gibt einen Koalitionsvertrag.
Dieser Koalitionsvertrag gilt.
({4})
Ihn werden wir abarbeiten. Darin steht aber nichts davon, dass wir den Antrag, der demnächst vielleicht auf
dem CDU-Parteitag beschlossen wird, ebenfalls abzuarbeiten haben. Vielleicht werden wir uns einmal über ihn
unterhalten. Aber zurzeit ist er für uns nicht diskutabel.
({5})
- Herr Niebel, Sie zeichnen sich immer durch qualifizierte Reden und Zwischenrufe aus.
({6})
Unter einem Mangel an Selbstbewusstsein haben Sie ja
sowieso noch nie gelitten.
({7})
Lassen Sie mich jetzt einige Anmerkungen zum
Thema der heutigen Aktuellen Stunde machen. Ja, ich
stimme den Linken zu, dass einige Korrekturen der
Hartz-Gesetze notwendig sind. Das gilt insbesondere im
Hinblick auf Hartz IV. Ja, es muss nachjustiert werden,
aber nicht so, wie Sie es wollen. Es muss dort nachjustiert werden, wo bürokratische Hemmnisse abzubauen
sind, wo Schnittstellenprobleme aufgetreten sind und wo
technische Möglichkeiten besser genutzt werden könnten, aber auch dort, wo es zu Fehlanreizen gekommen
ist.
Sie haben überhaupt nicht davon gesprochen, welche
Probleme die Menschen haben, die in der Vermittlung
tätig sind, die sich mit diesen Problemen auseinander zu
setzen haben und die in den letzten zwei, drei Jahren
gute Arbeit gemacht haben. Diese Menschen klammern
Sie aus.
Wir wissen, dass in den Argen zum Teil einiges im
Argen liegt und die Arbeitsweise der Beschäftigten verbessert werden muss. Es ist nicht hinnehmbar - das sage
ich dem gesamten Haus sehr deutlich -, dass in den Argen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter beschäftigt
sind, die eine halbe Stunde benötigen, um einen Arbeitsuchenden per PC zu erfassen. Es ist nicht hinnehmbar,
dass das Personalvertretungsrecht dort nicht gewährleistet ist und es unterschiedliche Ebenen der Mitbestimmung gibt. Es ist nicht hinnehmbar, dass dort über das
Direktionsrecht gestritten wird, und es ist auch nicht hinnehmbar, dass in den Argen eine Vielzahl befristeter
Einstellungen vorgenommen worden ist. Wir wollen dafür sorgen, dass klare Arbeitsverhältnisse geschaffen
werden.
({8})
Trotzdem - dies gilt es festzuhalten - haben die Argen und die Optionsgemeinschaften bzw. die Optionskommunen und die Arbeitsagenturen sehr gute Arbeit
geleistet. Zum ersten Mal seit fünf Jahren liegt die Arbeitslosenquote wieder unter 10 Prozent. Das hängt zwar
mit der Konjunkturentwicklung zusammen, aber auch
mit den Gesetzen, die die Vorgängerregierung und diese
Koalitionsregierung auf den Weg gebracht haben.
({9})
Lassen Sie mich einige Zahlen nennen. Wir haben
471 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Davon
sind 101 000 Arbeitslose unter 25 Jahren und 86 000
über 50; 82 000 beziehen nicht länger ALG II. Wir haben fast 300 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mehr als vor einem Jahr.
({10})
- Wenn Sie fragen, woher diese Zahlen stammen, dann
sollten Sie einen Blick in die statistischen Angaben der
Bundesagentur für Arbeit werfen. Auch uns reichen
diese Zahlen nicht aus. Wir müssen mehr tun. Wir müssen Jobs, Jobs und noch mehr Jobs schaffen, damit wir
mehr Menschen in Arbeit bringen. Wir haben zurzeit
noch über 800 000 Arbeitsplätze zur Verfügung - die
Zahl wurde bereits genannt -, die es zu besetzen gilt.
({11})
- Die Wirtschaft; das ist richtig.
Sie von den Linken fordern hingegen immer nur die
Erhöhung der finanziellen Transferleistungen für die
Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie
erwecken den Eindruck, dass mit finanziellen Transferleistungen alles zu regeln ist. Damit produzieren Sie aber
auch soziale Kälte.
({12})
Das ist gefährlich; denn die populistischen Illusionen,
die Sie mit Ihren Reden erzeugt haben,
({13})
sind so gefährlich, wie soziale Kälte unmenschlich ist.
Beide sind im Kern unmoralisch und helfen den Menschen nicht. Sie führen vielmehr in die Sackgasse und
machen unfrei. Das gebe ich Ihnen mit auf den Weg.
Herr Kollege Ernst, ich habe selbst 36 Jahre in der Industrie gearbeitet. Die Kolleginnen und Kollegen in der
Industrie wissen Ihre Beiträge zu schätzen. Besuchen Sie
sie doch in den Betrieben und erzählen Sie ihnen dasWolfgang Grotthaus
selbe wie hier! Dann werden Sie schon die entsprechenden Antworten gekommen.
({14})
Wir werden die Hartz-Gesetze zu gegebener Zeit evaluieren. Das ist 2008 vorgesehen. Bis dahin werden wir
an den Stellen nachjustieren, an denen organisatorische
Probleme auftreten, aber auch erkennbare Fehlanreize
entstanden sind.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Einer Generalrevision in Ihrem Sinne, Herr Kollege
Ernst, werden wir nicht zustimmen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Franz Romer von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Gysi, wenn ich mich richtig erinnere, waren Sie im Berliner Senat doch in einer verantwortlichen Position. Was aber haben Sie gemacht? Sie
haben sich in die Büsche geschlagen,
({0})
nach dem Motto „Die Ratten verlassen das sinkende
Schiff“.
({1})
Liebe Kollegin Pothmer, wenn Sie Rüttgers zitieren,
muss ich Ihnen entgegenhalten, dass sich meine Erwerbsbiografie ohne Unterbrechung über mehr als
40 Jahre erstreckt. Bei Ihnen oder bei den Linken gibt es
sicherlich Leute, die 20 Jahre Politologie studiert haben,
um sich anschließend mit dem Vorruhestand zu beschäftigen.
({2})
Wir sprechen heute auf Verlangen der Linken über die
Praxistauglichkeit der Hartz-Gesetze. Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen belegen, dass die gewünschten Effekte
langsam eintreten. Die Zahl der Arbeitslosen ist gesunken und - das ist noch viel wichtiger - die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten ist wieder gestiegen.
Die Arbeitslosenquote liegt zum ersten Mal seit 2002
wieder unter der magischen 10-Prozent-Marke. Man
kann nicht sagen, dass damit das Problem der Arbeitslosigkeit in unserem Land gelöst ist. Dennoch ist eine Verbesserung spürbar. Auch die Hartz-Gesetze unterstützen
mit der Strategie „Fördern und Fordern“ die Erholung
des Arbeitsmarktes.
Bevor wir über die Praxistauglichkeit der Reform
sprechen, müssen wir feststellen, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe von allen
Seiten befürwortet wurde. Der Erfolg, der heute offensichtlich ist, spricht für sich. Es war eine richtige Entscheidung. Nach einiger Erfahrung mit dem Gesetz haben wir in dieser Legislaturperiode die Reform noch
einmal optimiert. Wir haben es geschafft, dass ehemalige
Sozialhilfeempfänger wieder in die Vermittlung gelangen und es nicht zu einer lebenslangen Sozialhilfekarriere kommt. Der Schwerpunkt wurde von der bloßen
Zahlung des Lebensunterhalts auf die Wiedereingliederung der erwerbsfähigen Hilfebezieher verlagert. Ich
will nicht verschweigen, dass die Bedingungen für die
Arbeitslosenhilfeempfänger schwieriger geworden sind.
Jedoch gibt es nur so genügend Anreize, um eine Integration in den Arbeitsmarkt zu gewähren.
({3})
Ich kann aus meinem Wahlkreis Biberach auf ganz
besondere Erfahrungen mit Hartz IV zurückgreifen. Der
Landkreis Biberach ist eine der wenigen Optionskommunen,
({4})
die die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Eigenregie durchführen.
({5})
Dabei ist der Landkreis sehr erfolgreich. In den letzten
anderthalb Jahren, also seit der Einführung des Arbeitslosengeldes II, konnte der Landkreis Biberach die Zahl
der Langzeitarbeitslosen fast halbieren. Allein im ersten
Halbjahr 2006 betrug der Rückgang ein Drittel. Diese
Zahlen zeigen, dass es gegen den Bundestrend möglich
ist, Langzeitarbeitslose an der wirtschaftlichen Erholung
teilhaben zu lassen. Für mich liegen die Vorteile des Optionsmodells auf der Hand - das haben wir von der
Union immer gesagt -: Die Kommunen können vor Ort
schnelle und flexible Entscheidungen treffen. Probleme
bei der Zusammenarbeit zwischen der Bundesagentur
für Arbeit und den Kommunen oder Kompetenzgerangel
und Zuständigkeitsprobleme gibt es hier nicht. Im Landkreis Biberach konnten zudem Wohlfahrtsverbände,
freie Träger und die einzelnen Kommunen für die Integration von Langzeitarbeitslosen gewonnen werden.
({6})
Die heute stattfindende Debatte halte ich für unangebracht. Wir haben die Reform gerade verbessert und sehen nun erste Erfolge. Aber schon wird die Praxistauglichkeit von der Linksfraktion in Zweifel gezogen. Ich
frage mich, was Sie eigentlich wollen, etwa einen weiteren
Anstieg der Zahl der Langzeitarbeitslosen? Man kann sicherlich über die eine oder andere Regelung sprechen,
genauso wie über die Ausführung vor Ort durch die Arbeitsgemeinschaften oder die Optionskommunen, wie
sie von mir vorgestellt wurde. Grundsätzlich ist aber das
Arbeitslosengeld II der richtige Weg. Die Zahlen sprechen dafür.
({7})
Die Übernahme der Unterbringungskosten konnte
aufgrund der Steuermehreinnahmen des Bundes großzügig geregelt werden. Auch im Allgemeinen gibt es
Grund zu Optimismus. Die Konjunktur zieht endlich an.
Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Steuereinnahmen steigen.
Für die Sozialkassen gibt es endlich wieder Mehreinnahmen. Die Bundesagentur für Arbeit bildet Überschüsse,
die es eventuell erlauben, den Beitragsatz in der Arbeitslosenversicherung um weitere 0,5 Prozentpunkte im
nächsten Jahr zu senken. Ich versuche schon seit Frühjahr dieses Jahres, diesen Vorschlag in die Diskussion
einzubringen.
Herr Kollege Romer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Alles in allem gibt es nach knapp einem Jahr Regierungspolitik unter Führung der Union positive Impulse.
Dies gilt nach anfänglichen Startschwierigkeiten auch
bei Hartz IV.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer
würde bezweifeln, dass es in unserem Land Armut gibt?
Das ist nicht zu bezweifeln. Die Frage, wie man Armut
sinnvoll nachhaltig bekämpfen kann, wird aus unserer
Sicht nicht durch die Höhe der Alimentierungen beantwortet, sondern dadurch, welche Chancen und Möglichkeiten wir den Menschen bieten, sich aus ihrer Situation
mithilfe des Staates zu befreien. Das ist die entscheidende Frage.
({0})
Sie sagen, Hartz habe Armut geschaffen. Ich sage in
aller Deutlichkeit: Armut hat es in diesem Land immer
gegeben. Sie war nur versteckt, in der Sozialhilfe, und
wir haben - das ist der eigentliche Skandal - die Menschen alleine gelassen. Wir haben sie ignoriert und ihnen
keine Chancen geboten. Ein großes Ziel der Hartz-Gesetzgebung war, die Menschen aus der Anonymität und
Chancenlosigkeit herauszuholen. Das zumindest ist uns
gelungen.
({1})
Niemand bezweifelt - ich schon gar nicht -, dass es
notwendig ist, das, was wir mit dieser großen Reform
auf den Weg gebracht haben, immer wieder auf seine
Wirksamkeit zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern. Die große Koalition hat in der Koalitionsvereinbarung dazu Punkte benannt. Ich gehe noch darüber hinaus. Sozialdemokraten haben verschiedentlich gesagt,
dass wir über einen öffentlichen Beschäftigungssektor
nachdenken müssen, aber nicht über die klassischen Instrumente wie ABM, die keine Chance geboten haben,
sondern nur Warteschleifen waren, sondern über einen
wirklichen öffentlichen Beschäftigungssektor, der den
Chancenlosen die Möglichkeit der Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung eröffnet. Um Teilhabe geht
es. Armut bemisst sich nicht nur nach der Höhe der Alimentierung, sondern auch über Teilhabechancen. Das
unterscheidet uns in der Tat; denn Sie von der Linken sagen zur Teilhabe von Menschen an der Gesellschaft
nichts. Sie reden über die Höhe der Alimentierung.
({2})
Die Frage, ob man eine Generalrevision braucht, will
ich mit einer Aussage des Chefs der Bundesagentur für
Arbeit, Weise, beantworten, der sagt: Die Politik sollte
den Mut haben, an beschlossenen Reformen mindestens
drei Jahre festzuhalten. Erfahrungen mit vergleichbaren
Reformen im Ausland zeigen, dass es sogar bis zu fünf
Jahre dauern kann, bevor sie wirken. Wir sollten das
weiterentwickeln, was wir haben. Abrupte Wechsel wären fahrlässig. Verlässlichkeit ist gefragt. Die Menschen
wollen wissen, woran sie sind. - Ich finde, er hat völlig
Recht. Die Erfahrungen im Ausland zeigen genau, dass
solche großen Reformen, solche Paradigmenwechsel
Zeit zur Wirkung brauchen. Wir sollten alles dazu tun,
uns nicht auf eine Diskussion wie die von Niebel und anderen einzulassen, die sagen, das sei das Schönere und
Bessere, und wir sollten Herrn Niebel nicht bei seinem
persönlichen Rachefeldzug gegen seinen alten Arbeitgeber unterstützen. Wir sollten schauen, wo die besten und
wirksamsten Elemente sind. Wir sollten die Best-Practise-Beispiele heraussuchen und anhand dieser vor Ort
die Arbeit organisieren und strukturieren.
Ich gebe unumwunden zu, dass es bei uns eine Diskussion über die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
gegeben hat. Wir hatten damals im Rahmen der Einführung der Hartz-Gesetzgebung insbesondere für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine längere Übergangsfrist gefordert. Das ist an den Ministerpräsidenten
der CDU-geführten Länder gescheitert. Das muss man
so sagen. Man schafft Vertrauen aus meiner Sicht nicht
damit, dass man die Frage des Bezugs von Arbeitslosengeld I aufwirft, sondern damit, dass man darüber
nachdenkt, welche Chancen Menschen haben, die arbeitslos werden. Ich will mit der Genehmigung des
Herrn Präsidenten aus einer Pressemitteilung vom 9. November, freigegeben ab 10.30 Uhr, zitieren:
Zu alt für den Job, zu jung für die Rente - das ist für
viele Menschen heute bittere Realität. Wir konnten
aber mit vielen Projekten modellhaft zeigen, dass es
auch anders geht, dass selbst ältere Arbeitslose bei
entsprechender Unterstützung durchaus Chancen
auf dem Arbeitsmarkt haben
Weiter heißt es: Es muss verhindert werden,
dass ältere Beschäftigte bereits beim Bekanntwerden von Betriebseinschränkungen jeden Mut und
Elan fallen lassen, eine neue Arbeit zu finden. Die
Projekte zeigen erfolgreiche Wege für Ältere in den
Arbeitsmarkt. Diese Beispiele geben nicht nur
Hoffnung, sie machen stärker.
Ein Stück weiter heißt es dann:
Menschen resignieren, wenn ihnen das gesellschaftliche Umfeld falsche Signale setzt. Die Politik hat
in den vergangenen Jahren mit einem Abbau der
Anreize zur Frühverrentung die Herausforderungen des demografischen Wandels intensiv aufgegriffen. Diesen Weg heißt es jetzt gemeinsam konsequent fortzuführen.
Das sage ich zu der aktuellen Debatte, die mein Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen ausgelöst hat.
Die Aussagen stammen aus einer Pressemitteilung des
Arbeitsministers Karl-Josef Laumann und der Chefin der
Regionaldirektion NRW der BA, Christiane Schönefeld.
Vor diesem Hintergrund sage ich: Wo Herr Laumann
recht hat, hat er recht. Er hat die Prioritäten richtig benannt. In erster Linie geht es nicht darum, den Chancenlosen eine höhere Alimentierung oder einen längeren Arbeitslosengeldbezug einzuräumen, sondern darum, ihnen
Chancen einzuräumen. Herr Laumann hat an dieser
Stelle völlig Recht.
({3})
Übrigens: Wer in der Union angesichts der Äußerungen von Herrn Rüttgers Angst vor einer Sozialdemokratisierung der Partei hat - das möchte ich auch Herrn
Gysi sagen -, dem kann ich alle Zweifel nehmen. Die
Forderungen von Herrn Rüttgers haben mit Sozialdemokratie gar nichts zu tun. Sozialdemokraten würden niemals Generationen gegeneinander ausspielen oder die
Sippenhaft wieder einführen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Linkspartei, die eigentlich mehr mit immer neuen Namensgebungen als mit politischen Inhalten beschäftigt
ist - man hat das heute wieder gemerkt -, hat eine Aktuelle Stunde zur Frage der Praxistauglichkeit der HartzGesetze und der Erforderlichkeit einer Generalrevision
beantragt. Leider muss man feststellen, dass dazu keine
Vorschläge gemacht wurden; es wurde lediglich gesagt,
man solle darüber nachdenken. Zudem wurde dieses Mal
auf den alten Spruch der Linken verzichtet: Hartz muss
weg. Möglicherweise hat sich die Linke mittlerweile
doch besonnen und erkannt, dass Änderungen notwendig sind.
Man muss der Fraktion der Linken sagen, dass unsere
Sozialpolitik auf der Grundlage der Hartz-Reformen, die
zu einer Neuordnung der Sozialpolitik geführt haben,
gut ist.
({0})
Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurde von allen Fraktionen getragen. Sie war eine
gute Idee, die gemeinsam umgesetzt wurde.
({1})
Wie bei allen bedeutenden Maßnahmen in der Gesetzgebung ist es auch hier entscheidend, genügend Zeit für
die Umstellung einzuräumen. Es wurden neue Verwaltungen, neue Zuständigkeiten und neue Leistungen geschaffen. Die Bürgerinnen und Bürger werden durch die
neuen Leistungsgesetze besser gestellt; insbesondere die
Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands werden
gegenüber früheren Jahren, insbesondere gegenüber der
Situation bis vor 17 Jahren, als das bankrotte SED-Regime zusammenbrach, besser gestellt. Sie von der Linksfraktion stehen heute in der Tradition dieser Sozialpolitik: Sie rufen wieder nur nach höheren Leistungen, ohne
zu klären, wer das bezahlen soll. Sie wollen zur Finanzierung der Sozialpolitik neue Schulden aufnehmen und
diese den künftigen Generationen auflasten.
({2})
Ich glaube, dass sich die neue Bundesregierung nach
einem Jahr angesichts ihrer Erfolge nicht verstecken
muss. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Ich gebe zu,
dass sie immer noch zu hoch ist. Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisse ist im Vergleich zum Vorjahr
um 270 000 gestiegen. Dadurch hat sich die Finanzausstattung unserer sozialen Sicherungssysteme verbessert.
Es ist auch eine Anerkennung wert, dass letztes Jahr
im Rahmen dieser Sozialgesetzgebung, der Hartz-Reformen, über 40 Milliarden Euro für die soziale Absicherung der Menschen ausgegeben wurden, und zwar für
ALG II, die Kosten der Unterkunft, für Eingliederungsmaßnahmen und für 1-Euro-Jobs. Das ist die großartige
Leistung einer Volkswirtschaft, einer sozialen Marktwirtschaft. Sie versetzt uns in die Lage, die Haushaltspolitik in Zukunft so zu gestalten, dass soziale Leistungen
stärker mit erwirtschaftetem Geld untermauert werden
und weniger neue Schulden zur Finanzierung der Sozialpolitik aufgenommen werden müssen. Dies ist der Erfolg dieser Bundesregierung.
Wir können jetzt vor allen Dingen feststellen - nachdem Kollege Gysi in seiner Rede darauf hingewiesen
hat, dass es in Deutschland ungerecht zugeht, ist er weggegangen; jetzt nimmt er einen anderen Termin wahr -,
dass unsere Steuereinnahmen sprudeln. Das bedeutet,
dass uns aufgrund gestiegener Körperschaft- und Gewerbesteuereinnahmen - beide Steuern werden von
Unternehmen gezahlt - sowie gestiegener Einkommensteuereinnahmen mehr Steuermittel zur Verfügung stehen. Diese Mittel sind das Fundament der Wirtschaftspolitik der neuen Bundesregierung. Diese Politik zielt auf
mehr wirtschaftliche Dynamik. Mehr wirtschaftliche
Dynamik bedeutet für die Menschen in unserem Land
letztendlich mehr Arbeitsplätze und mehr soziale Sicherheit. Deshalb ist die Arbeit dieser Bundesregierung und
der sie tragenden Fraktionen darauf ausgerichtet, mehr
Arbeitsplätze zu schaffen und nicht über eine höhere
Alimentierung von Arbeitslosen zu streiten.
({3})
Dies ist unser Auftrag und an ihn werden wir uns auch
weiterhin halten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, zum wievielten Male wir eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema durchführen. Fest steht schon
- ich als vorletzte Rednerin kann dies sagen -: Was wir
von Ihnen heute gehört haben, waren die immer gleichen
Argumente; ernsthafte Lösungsansätze waren wieder
nicht dabei. Diese Aktuelle Stunde bringt uns keinen
Millimeter weiter.
Neu war allerdings die sprachliche Akrobatik, mit der
Sie von der Linken immer wieder versucht haben, zu
verschleiern, dass Sie hier immer wieder die gleichen
Reden halten wollen. Auch ich habe gestutzt, als ich von
diesem Thema erfahren habe. Ich dachte, das hört sich
nach einer sehr zähen wissenschaftlichen Abhandlung an aber weit gefehlt! Alles, was wir von der Linken heute
gehört haben, hatte weder etwas mit Wissenschaft noch
mit wirtschaftlicher, arbeitsmarktpolitischer oder sozialpolitischer Vernunft zu tun.
({0})
Weder nehmen Sie eine ehrliche und genaue Analyse
der tatsächlichen Situation vor noch eine realistische
Einschätzung der Entwicklung der letzten Jahre. Sie ziehen auch keine Schlussfolgerung für politisches Handeln. Ich muss feststellen: Es geht Ihnen nicht um ein
ernsthaftes Bemühen, sondern wieder einmal um ein
bisschen Krawall. Ich muss zum wiederholten Male
auch feststellen: Alle Botschaften, die Sie hier verkünden, sind so beschränkt,
({1})
so knapp und simpel, dass sie auf ein Plakat passen.
Mehr haben Sie nicht zu bieten.
Das Wort „Generalrevision“ heißt, wenn ich es richtig
einschätze, doch so viel wie „allgemeine Rückschau“.
Genau das ist es, was Sie tun: Sie schauen zurück und
Sie wollen in der Entwicklung zurückgehen. Das zeigen
Ihre populistischen Forderungen.
({2})
Das ist ökonomisch wie auch arbeitsmarktpolitisch vollkommen kontraproduktiv. Vor allen Dingen hilft es den
Menschen nicht, die darauf hoffen, dass wir ihnen Chancen für gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigung eröffnen. Haben Sie sich schon einmal ernsthaft gefragt,
was es für die ehemaligen 600 000 Sozialhilfeempfänger
bedeuten würde, wenn wir ihnen die Möglichkeiten der
Förderung und Vermittlung, die Hartz IV nun eröffnet
hat, nehmen würden?
Auch ich bin etwas ungeduldig, was die Entwicklung
betrifft. Ich wünschte mir, dass sie schneller vonstatten
geht. Fakt ist doch auch, dass in diesem Jahr die ersten
Erfolge erkennbar sind: Es gibt 122 000 Vermittlungen
von Langzeitarbeitslosen mehr als im letzten Jahr. Die
Zahl der Arbeitslosen ist im Vorjahresvergleich zurückgegangen; die Quote liegt nun bei unter 10 Prozent. Die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist
gestiegen, auch in den neuen Ländern. All das ignorieren
Sie. Das dürfen wir doch nicht einfach kleinreden; denn
an diesen ersten Erfolgen waren ganz viele Menschen
beteiligt.
({3})
Dass die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von
Hartz IV größer sind als die bei der Umsetzung von
Hartz I bis Hartz III, bestreitet auch keiner. Wir sind dabei, die größte Sozialreform in der Bundesrepublik
durchzuführen. Dazu gehört, dass man immer wieder
überprüft, verbessert und optimiert. Das tut die große
Koalition. Wir tun das angestrengter und intensiver als je
zuvor. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir in diesem
Jahr die Regelsätze in Ost und West angeglichen haben.
Wir haben Fehlanreize abgeschafft. Wir haben Qualifizierungsmöglichkeiten für Jugendliche verbessert und
Verwaltungsabläufe vereinfacht. Alles das ist in diesem
Jahr schon passiert und es wird weitergehen.
Es gibt noch eine Reihe von Punkten im SGB II, die
wir verbessern können, bessere Förderung von einigen
Zielgruppen wie den älteren und den jugendlichen Arbeitslosen, verbesserte Weiterbildung, Schaffung des
dritten Arbeitsmarkts und - ich will das erwähnen, weil
es meine Position ist - die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns. An all diesen Dingen arbeiten wir. Das
bedeutet doch aber nicht, dass das SGB II praxisuntauglich ist.
({4})
Gehen Sie vor Ort! Überzeugen Sie sich! Reden Sie
mit den Menschen! Dann werden Sie feststellen, dass
wir in diesem Jahr höhere Integrationszahlen haben. Es
gibt differenziertere und mehr Maßnahmen als im letzten
Jahr. Wir haben vor allem hoch motivierte Mitarbeiter,
die mit dem SGB II auch immer besser umgehen können
und Synergieeffekte nutzen.
Den anfänglichen Problemen zum Trotz können wir
feststellen: Die Argen und die Optionskommunen funktionieren immer besser. Von einer geringen Praxistauglichkeit kann keine Rede sein.
Es geht auch nicht um Generalrevision. Es geht darum, jede mögliche Verbesserung der Hartz-Gesetze zu
erkennen und umzusetzen - und das mit dem Blick nach
vorn.
Ziel all unserer Bemühungen im Interesse der Menschen muss die Integration in Arbeit sein; denn das hilft
den Menschen wirklich. Daran sollten Sie sich beteiligen!
Danke.
({5})
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich
das Wort dem Kollegen Andreas Steppuhn von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Mein sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorredner aus meiner Fraktion haben schon deutlich gemacht, was wir von dieser Debatte
halten. Ich verzichte jetzt auf Wiederholung.
Schon bei der gestrigen Aktuellen Stunde zu den Erfolgen der Arbeitsmarktpolitik ist sehr deutlich geworden: Wir können uns darüber freuen, dass es auf dem
Arbeitsmarkt in Deutschland beschäftigungspolitisch
vorwärts geht, und das ist gut so.
Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen sprechen eine sehr
deutliche Sprache. Dennoch ist es wichtig, darüber nachzudenken, was eine Weiterentwicklung von Arbeitsmarktpolitik zukünftig leisten kann und soll, welche
Rahmenbedingungen für einen Beschäftigungszuwachs
verbessert werden müssen, damit weitere positive beschäftigungspolitische Effekte erzielt werden können.
Die von Bundesarbeitsminister Franz Müntefering in
den vergangenen Wochen durchgeführten fünf Anhörungen zu den verschiedenen Komplexen der Arbeitsmarktpolitik haben zum Ziel gehabt, unter Einbeziehung
von Experten zu eruieren, was wir besser machen können und sollten. Solche Anhörungen werden nicht als
Selbstzweck durchgeführt, sondern um die richtigen
Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen. Daher
plädiere ich an dieser Stelle dafür, die Ergebnisse der
Anhörungen sorgsam zu analysieren, auszuwerten und
dann zu entscheiden, welche Schritte in der Zukunft eingeleitet werden müssen. Einfach nur pauschal zu formulieren „Hartz IV muss weg“ oder „Wir brauchen eine
Generalrevision der Arbeitsmarktpolitik“, wie Sie es hin
und wieder gern tun, meine Damen und Herren von der
Linkspartei, ist schlichtweg zu wenig.
({0})
So etwas in den Raum zu stellen, ohne gleichzeitig
Lösungen für die Zukunft aufzuzeigen, ist meines Erachtens, ehrlich gesagt, zu wenig. Es kommt darauf an, dass
wir Arbeitsmarktpolitik sorgsam fortentwickeln und
hierbei handwerkliche Fehler möglichst vermeiden.
Im Übrigen sagen uns all diejenigen, die tagtäglich
vor Ort mit der Arbeitsmarktpolitik zu tun haben - damit
meine ich zum Beispiel die Vertreter von Argen oder optierenden Kommunen -, dass es besser ist, den bislang
eingeschlagenen Weg beizubehalten, die damit verbundenen Maßnahmen wirken zu lassen und sie in einem
überschaubaren zeitlichen Rahmen zu bewerten, anstatt
immer wieder Veränderungen vorzunehmen. Bedenken
müssen wir auch den Verwaltungsaufwand, den wir mit
jeder Veränderung auslösen.
Sicherlich ist an dieser Stelle auch kritisch zu überprüfen, wie wir eine stärkere Vernetzung von kommunalem Know-how und lokalen Ressourcen mit der nach
wie vor zentralistisch organisierten Bundesagentur und
ihrer nicht immer überschaubaren Regelorientierung
hinbekommen.
({1})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir
können in den Medien immer wieder Forderungen von
Ihrer Seite vernehmen, die im Grunde nichts anderes besagen als: Wir müssen bei der Arbeitsmarktpolitik weiter
sparen, und zwar deutlich, und am besten auch noch
gleich über weitere Leistungskürzungen nachdenken.
Immer wieder taucht ja diese Diskussion in den Medien
auf. Ich sage sehr deutlich: Leistungskürzungen werden
mit uns Sozialdemokraten nicht machbar sein.
({2})
Zu den Vorschlägen von Herrn Rüttgers, dem
selbst ernannten Arbeiterführer von Nordrhein-Westfalen, ist ja schon einiges gesagt worden. Ich halte es für
unredlich, von einer längeren Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für einige Bezieher zu sprechen, was ja an
sich nicht schlecht ist, gleichzeitig aber die Sauereien,
die für andere damit verbunden sind, nicht zu nennen.
Damit gaukelt man den Menschen etwas vor. Ich halte
das für einen Akt der Volksverdummung. Vielleicht sagen Sie ihm das einmal.
({3})
Statt bei den Menschen zu sparen, gilt es mehr denn
je, die Arbeitsmarktpolitik so effektiv wie möglich zu
gestalten. Lassen Sie uns unsere Kraft darauf verwenden, gemeinsam zu überlegen, wo und wie wir Deutschland beschäftigungspolitisch voranbringen können.
({4})
Drei wesentliche Aspekte sind hierbei wichtig:
Es muss uns erstens gelingen, jungen Menschen früh
einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zur stellen und
ihnen damit eine berufliche Perspektive zu geben. Das
tun wir. Wir müssen alle jungen Menschen in Arbeit
bringen. Der Ansatz, insbesondere unter 25-jährige
junge Menschen gezielt zu fördern, ist daher der richtige
Weg.
Der zweite Aspekt ist, das man vom bisherigen Prinzip beim Hinzuverdienst abgeht. Wir fördern damit zukünftig mehr Leistungsbereitschaft und Arbeitswillen
und verhindern zugleich Schwarzarbeit. Auch ich
glaube, dass es nach der Ausweitung des Entsendegesetzes und der damit verbundenen Schaffung von Mindestlöhnen für das Gebäudereinigerhandwerk unsere nächste
Aufgabe sein muss, die Mindestlöhne auf weitere Branchen auszudehnen, auch wenn Angela Merkel das zurzeit nicht will.
({5})
Hierüber sind wir Sozialdemokraten uns übrigens mit
den Gewerkschaften einig wie lange nicht mehr. Dieses
dient auch dazu, den Abstand zwischen dem, was man
bei Arbeitslosigkeit erhält, und dem, was man für die
tagtägliche Arbeit bekommt, wieder größer werden zu
lassen, damit sich Arbeit zukünftig wieder mehr lohnt.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, der so genannten Generation 50 plus. Hier müssen wir Sozialdemokraten ehrlich
und kritisch anmerken: Die Beschäftigungssituation bei
den Arbeitnehmern über 50 Jahren ist unbefriedigend.
Hier müssen wir etwas tun, indem wir zum Beispiel verstärkt dafür Sorge tragen, dass sich der Beschäftigungsanteil älterer Arbeitnehmer erhöht.
Meine Damen und Herren, man kann über Arbeitsmarktpolitik trefflich streiten. Das haben wir heute getan. Das muss auch so sein. Deshalb appelliere ich an
Sie, gemeinsam und konstruktiv nach den besten Lösungen zu suchen. Genau dieses erwarten die Menschen von
uns. Scheindebatten helfen uns und den Menschen in
keiner Weise auch nur annähernd ein Stück weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine
Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Steuerflucht wirksam bekämpfen
- Drucksache 16/2524 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren beschäftigt uns im Zusammenhang mit der Höhe der
Einkommensteuer eine Frage. Es wird nämlich behauptet, dass bei hohen Einkommensteuersätzen die Gefahr
zur Steuerflucht bestünde, weil sich gerade dann die
Best- und Besserverdienenden einen anderen Wohnsitz
suchten, an dem sie geringere Steuern bezahlen. Als Begründung für eine Senkung des Spitzensteuersatzes bei
der Einkommensteuer musste immer wieder die Behauptung herhalten, nur so könne diesem Begehren Einhalt
geboten werden. Wir glauben, dass das falsch ist und
man das Problem anders lösen kann.
Es war im Wahlkampf 2005, wie ich glaube, als sich
Herr Müntefering überall gegen Michael Schumacher
wandte und sagte, es sei ein starkes Stück, dass dieser
seinen Wohnsitz in der Schweiz nehme, wo er eine Vereinbarung über die Höhe seiner Steuer treffen konnte,
und somit als deutscher Staatsangehöriger keine Steuern
in Deutschland bezahle.
({0})
Wir alle haben auch erlebt, dass es zu einem Strafverfahren gegen Boris Becker kam, weil er zu viele Tage in
Deutschland war und deshalb sein Wohnsitz in Monte
Carlo nicht anerkannt werden konnte.
Ich kenne noch eine nette Geschichte. Bei einem
Empfang von Herrn Stoiber war einmal jemand - ich
nenne hier einmal keinen Namen -, der kurz vor 24 Uhr
sagte, er müsse jetzt gehen, weil er sonst noch einen Tag
mehr Aufenthalt in Deutschland habe, was zur Steuerpflicht führen könne. So haben sich die Zustände in diesem Lande verändert. Also muss man darüber nachdenken, was man dagegen macht.
Wir haben einen Antrag eingebracht, der das Problem
für Deutschland lösen würde. Mit diesem Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzulegen, wonach deutsche Staatsangehörige mit ihrem Welteinkommen in Deutschland haften, unabhängig davon, wo sie
ihren Wohnsitz haben.
({1})
Es soll aber keine Doppelbesteuerung geben, sondern
die Steuern, die sie in einem anderen Land bezahlen,
werden selbstverständlich angerechnet; sie müssen nur
die Differenz bezahlen.
Nun können Sie natürlich sagen, das Ganze sei wieder
ein wahnsinnig sozialistisches Projekt und deshalb nicht
realisierbar. Dagegen spricht, dass es geltendes Recht in
den USA ist. Die sind ja vieler Dinge verdächtig, aber
nicht, sozialistisch zu sein. Insofern glaube ich, dass dieses Argument nicht zieht.
Aber es wäre ein großer Vorteil und es wäre auch moralisch gerechtfertigt. Ich möchte kurz darauf eingehen.
Die meisten deutschen Staatsangehörigen, die ihren
Wohnsitz in einem anderen Land nehmen, vor allen Dingen in Monaco oder Luxemburg, weil sie möglichst geringe Steuern zahlen wollen, haben Steuergelder in
Deutschland in Anspruch genommen. Sie sind in der Regel hier zur Schule gegangen und haben in der Regel hier
studiert, und zwar zu einer Zeit, als es noch keine Studiengebühren gab. Das heißt, sie haben Steuergelder anderer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Anspruch
genommen. Nun verdienen sie selbst gut und suchen sich
einen Wohnsitz in einem anderen Land, um möglichst
keine Steuern in Deutschland zu zahlen. Das darf einen
nicht nur ärgern, sondern dagegen muss man etwas tun.
({2})
Das Zweite ist: Sie bleiben ja deutsche Staatsangehörige. Dafür haben sie gute Gründe, ganz unterschiedliche: kulturelle, politische, aber auch juristische. Dadurch dass sie deutsche Staatsangehörige bleiben,
bleiben wir ihnen gegenüber verpflichtet. Das finde ich
richtig; damit hier kein Missverständnis aufkommt.
Wenn ein solcher deutscher Staatsangehöriger in Untersuchungshaft kommt oder entführt wird oder ein anderes
schweres Schicksal erleidet, kümmert sich die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland um ihn. Das ist
richtig; dazu sind wir gegenüber deutschen Staatsangehörigen nach unserem Grundgesetz auch verpflichtet.
Aber wenn das alles richtig ist - wenn sie als Kinder und
Jugendliche und zum Teil auch für ihre Kinder die Steuergelder in Deutschland in Anspruch genommen haben,
wenn sie die Hilfe der Bundesregierung in Anspruch
nehmen, sobald sie in Gefahr kommen -, dann muss es
auch eine Selbstverständlichkeit sein, dass sie selbst ihrer Steuerpflicht in Deutschland nachkommen. Man
kann nicht nur von den anderen leben, ohne etwas zu geben. Das müssen wir ihnen sagen.
({3})
Deshalb ist unser Antrag fair. Sie müssen ja nicht
mehr bezahlen. Die Steuern, die sie in Luxemburg, Monaco, der Schweiz oder Österreich bezahlen, werden voll
angerechnet; das ist ganz klar. Aber die Differenz müssen sie bezahlen. Damit stehen sie nicht schlechter und
nicht besser da als die deutschen Staatsangehörigen, die
in Deutschland wohnen und leben. Ich finde das absolut
gerecht. Was die Kostenunterschiede zwischen den einzelnen Ländern angeht, sind sie frei in ihrer Entscheidung, wo sie ihren Wohnsitz nehmen.
Natürlich können Sie sagen, es besteht die Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit abzugeben. Das
ist richtig. Dann sind sie nicht mehr steuerpflichtig.
Dann sind wir ihnen gegenüber in bestimmten Situationen aber auch nicht mehr verpflichtet. Das wird jedoch
ein ganz kleiner Teil sein. In den USA hat sich übrigens
nach kurzer Zeit herausgestellt, dass schon 30 Prozent
der US-Bürgerinnen und -Bürger im Ausland diese Steuerdifferenz bezahlen. Die USA sind also einen guten
Schritt weitergekommen; das macht ziemlich viele Millionen Dollar aus, die das Land zusätzlich erhält.
Auch wir brauchen dieses Geld. Ich fände es richtig,
den sehr gut Verdienenden und den Reichen zu signalisieren: Zieht hin, wohin ihr wollt, bleibt deutsche Staatsangehörige, ihr habt eure Rechte in Anspruch genommen, ihr habt von den Steuergeldern anderer gelebt, auch
das ist in Ordnung. Aber wir verlangen von euch die Differenz, nicht mehr und nicht weniger. - Dann sind wir
bei der Bestimmung des Spitzensteuersatzes viel eigenständiger, weil wir auf das Argument der Steuerflucht
diesbezüglich keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchen.
Danke.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Gysi, Sie haben sehr ausführlich eine
Selbstverständlichkeit beschrieben. Denn Sie haben gesagt, dass Sie es gerecht finden, wenn Gutverdienende,
die den deutschen Staat während ihrer Ausbildung in
Anspruch genommen haben, ihm einen Teil der Kosten
erstatten sollten. Dieser Selbstverständlichkeit können
alle Kolleginnen und Kollegen zustimmen. Diesen Punkt
stellt keiner infrage.
({0})
In Ihrem Antrag mit dem Titel „Steuerflucht wirksam
bekämpfen“ gehen Sie ähnlich vor. Darin erwecken Sie
den Eindruck, als könne man durch die schlichte Umstellung bei der Besteuerung vom Wohnsitzprinzip auf
das Staatsangehörigkeitsprinzip die reichen, abzockenden Steuerpflichtigen, die durch deutsche Steuergelder groß geworden sind, zur Besteuerung im Inland
zwingen. Anderthalb Seiten widmen Sie diesem Thema.
Leider haben Sie der Frage der Umstellung in Ihrer Rede
nicht eine Minute gewidmet.
({1})
In dem ersten Teil der Begründung Ihres Antrages beschäftigen Sie sich ausschließlich mit solchen Personen,
die schon jetzt mit ihrem Welteinkommen in Deutschland einkommensteuerpflichtig sind. Sie beschreiben
nämlich nur Fälle von Steuerhinterziehung. Dass Steuerhinterziehung keiner von uns akzeptiert, ist auch völlig
klar. Woraus ziehen Sie also den Optimismus, dass die,
die schon heute unter dem bestehenden System Steuern
hinterziehen, es bei einem Systemwechsel künftig nicht
mehr tun? Ich glaube, da spielt die Hoffnung bei Ihnen
eine größere Rolle als das Gesetz, das Sie heute verabschieden wollen.
({2})
Sie wollen Deutsche im Ausland zu einem Wohnortwechsel mit der Begründung veranlassen, sie hätten
schließlich das Schul- und Hochschulsystem in Deutschland in Anspruch genommen. Ein besseres Plädoyer für
Studiengebühren kann ich mir kaum vorstellen. In diesem Fall würde nämlich jeder, der diese Leistung in Anspruch nimmt, dafür zahlen.
({3})
Aber nun zu den einzelnen Gründen, warum ich diesen Systemwechsel trotz der ärgerlichen Fälle von Umzügen von Großverdienern in so genannte Steueroasen
für nicht sinnvoll halte. Der Systemwechsel ist nicht Ihre
Idee. Denn darüber wird schon diskutiert, seitdem wir
über das Steuerrecht reden.
({4})
Ganz viele Diskussionen haben das Ergebnis hervorgebracht, dass ein solches Vorgehen nicht sinnvoll ist. Ich
will Ihnen einige wenige Argumente dazu sagen.
Sie werden wohl nicht annehmen, dass die deutsche
Seite einseitig einen solchen Wechsel vollziehen kann.
Auch Sie werden völkerrechtliche Verträge nicht missachten wollen; auch Sie kennen die Doppelbesteuerungsabkommen.
({5})
- Es geht gar nicht um die Frage, ob es erlaubt ist, sondern darum, ob es sinnvoll ist. Ich werde Ihnen darlegen,
warum es nicht sinnvoll ist.
Wenn wir es tatsächlich schaffen sollten, in der EU
diesen Vorstoß zur Harmonisierung, den wir im Moment
im Bereich der Unternehmensteuer versuchen - damit
hat auch die Frage zu tun, ob die Besteuerung an das
Staatsbürgerschaftsrecht geknüpft werden sollte -, mit
Erfolg durchzusetzen, dann gäbe es auf einen Schlag
mehr als 3,8 Millionen zusätzliche Steuer- und Anrechnungsfälle in den deutschen Finanzbehörden. Denn all
diejenigen europäischen Ausländerinnen und Ausländer,
die in Deutschland wohnen und hier ihre Steuern zahlen,
hätten dann ein Recht darauf, dass die Steuern, die sie in
Deutschland zahlen, auf die Steuern in ihrer Heimat angerechnet werden.
({6})
Die meisten dieser Fälle sind Lohnsteuerfälle. Das
heißt, es gibt zusätzliche 3,8 Millionen Akten in den Finanzämtern, in denen entsprechende Bescheinigungen
für die Finanzämter in den Heimatländern ausgestellt
werden müssen.
({7})
Selbst wenn man der Meinung ist, dass es Sinn ergibt,
3,8 Millionen zusätzliche Steuerfälle zu schaffen, dann
muss man aber berücksichtigen, dass zu diesen
3,8 Millionen Fällen noch 1,5 Millionen Fälle hinzukommen, in denen Deutsche ihren Wohnsitz im Ausland
haben. Diese Menschen können wir zurzeit, da sie keine
Einkünfte in Deutschland haben, auch nicht als beschränkt Steuerpflichtige führen. Damit wären wir schon
bei 5,3 Millionen zusätzlichen Fällen, die von Finanzverwaltungen bearbeitet werden müssen. Wenn es sich
dabei nur um deutsche Vorgänge handeln würde, wäre es
schon ein bürokratischer Hammer. Über die internationalen Probleme in diesem Zusammenhang will ich erst
gar nicht sprechen.
({8})
Aber damit nicht genug. Sie sprechen nicht nur von
europäischen Ländern, in denen Sie Deutsche besteuern
wollen, sondern Sie sprechen auch von Drittländern.
Wenn es uns innerhalb der nächsten Jahre tatsächlich gelingen sollte, über 90 Doppelbesteuerungsabkommen so
zu verändern, dass das Staatsangehörigkeitsprinzip in
diese Abkommen aufgenommen wird, dann kämen zu
den 5,3 Millionen neuen Steuerfällen, die ich gerade genannt habe, sehr schnell weitere 3 Millionen Fälle hinzu,
die aus allen Ländern der Welt kommen und die bis jetzt
einkommensteuerpflichtig waren, aber künftig die Anrechnung deutscher Steuern im Ausland begehren. Damit sind wir dann bei 8,3 Millionen zusätzlichen Steuerfällen. Die armen Finanzbeamten bearbeiten diese Fälle
- wir müssten einmal die dadurch entstehenden Kosten
gegenrechnen -, ohne dass es in den meisten Fällen zu
steuerlichen Mehreinnahmen kommen würde. Denn aufgrund der Steuern, die im Wohnsitzland gezahlt werden,
werden keine Steuern in Deutschland anfallen.
({9})
- Herr Spieth, Sie können sich gerne melden. Dann kann
ich Ihnen zuhören. Während ich rede, kann ich Sie aber
nur schwer verstehen.
({10})
Nun zum Bürokratieaufwand. Sie haben das Beispiel USA genannt. Bei dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und den USA fällt auf,
dass der Passus, der sich mit Amtshilfe beschäftigt, der
längste Passus ist. Ich will nur wenige Zitate aus diesem
Abkommen anführen:
Auf entsprechendes Ersuchen der zuständigen Behörde eines Vertragsstaates stellt die zuständige Behörde des anderen Vertragsstaates,
- jetzt kommt es wenn möglich, Informationen … in Form von …
Büchern, Kontoauszügen und Schriftstücken … zur
Verfügung.
Oder:
Jeder der Vertragsstaaten bemüht sich, für den anderen Vertragsstaat … Steuerbeträge zu erheben.
Absolut am besten finde ich:
Ersucht ein Vertragsstaat … um Informationen, so
beschafft der andere Vertragsstaat die Informationen … auf die gleiche Weise und im gleichen Umfang, als handele es sich bei der Steuer des erstgenannten Staates um eine Steuer des anderen Staates.
Liebe Kollegen, diese Regelungen stehen in einem
DBA mit den USA. Das ist ein Staat, der mit seiner Bürokratie und mit seinen Steuerflucht- und Steuerhinterziehungsproblemen mit der Bundesrepublik einigermaßen vergleichbar ist. Ich stelle mir gerade ein DBA mit
einem Staat vor, der ganz offen für sich als Steueroase
wirbt, und welches die Formulierung enthält: Der Staat
zieht die Steuern genauso ein wie bei eigenen steuerpflichtigen Bürgern. Ja, dann können wir nicht mit vielen Steuereinnahmen rechnen; denn genau damit werben
diese Staaten.
({11})
Ich erinnere noch einmal an die Zielgruppe, die wir
alle gemeinsam zur Steuerzahlung bringen wollen. Wir
wollen nicht den ehrlichen Familienvater, der aus beruflichen Gründen ins Ausland zieht, knebeln und mit zusätzlichen Bürokratiekosten belasten. Ich nehme an, das
wollen Sie auch nicht. Wir meinen auch nicht die freundliche Studentin, die sich im Studium verliebt und dann
im Ausland bleibt. Wir reden von denen, die sich überall
auf der Welt die Rosinen aus dem Kuchen picken und
die Solidarität nicht einmal buchstabieren können. Wie
Sie gegen Steuerhinterziehungen vor allem angesichts
der Doppelbesteuerungsabkommen vorgehen wollen,
bleibt die Frage. Meiner Meinung nach ist das mit Ihrem
System nicht möglich.
Selbst wenn wir es trotz all der bürokratischen
Schwierigkeiten, die ich eben angesprochen habe, schaffen, einen Steuerbescheid zu erlassen - in den meisten
Fällen ist es sehr unwahrscheinlich, dass dann tatsächlich für den deutschen Fiskus noch Steuern dabei herauskommen -, so bleibt die Durchsetzung des Steueranspruchs verdammt schwer. Ich zitiere hierzu Professor
Dr. Peter Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, aus der Anhörung zum SEStEG zur Frage
Amtshilfe im Ausland: Was dies bedeutet, wird klar,
wenn man allein daran denkt, dass das Verfolgen eines
Steueranspruchs ins Ausland bereits daran scheitern
könnte, dass wir in den einzelnen EU-Staaten über den
diplomatischen Verkehr Finanzverwaltungsakte schicken müssen. Im Verhältnis zu Polen dauert das zwei
Jahre.
Hier geht es nur um die Zusendung der Bescheide.
Man kann sich vorstellen, wie viel schwieriger es ist,
eine Vollstreckung im Ausland durchzuführen. In ganz
vielen Fällen werden wir hier keine weiteren Möglichkeiten haben.
Wir alle haben das gleiche Ziel. Wir wollen, dass
Leistungsfähige in dieser Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Wir wollen, dass sie dieser Gemeinschaft ein bisschen von dem, was der Staat ihnen an Rechtssicherheit,
Freiheit, Gesundheitsfürsorge oder Bildung gegeben hat,
in dem Augenblick, in dem sie selber leistungsfähig
sind, wieder zurückgeben. Lassen Sie uns gemeinsam
mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, die uns das Steuerrecht gibt, gegen die Unbelehrbaren vorgehen. Wir sind
aktuell dabei. Wir sind dabei, im Rahmen des SEStEG
Wegzugsbesteuerungen einzuführen. Wir sind im Außensteuerrecht dabei, auf das deutsche Besteuerungsrecht zu achten. Wir werden mithilfe der durch die neue
Unternehmensteuerreform eingeführten Zinsschranke
Gewinnverlagerungen ins Ausland verhindern und wir
werden auf EU-Ebene weiter versuchen, dieses Problem
in den Griff zu bekommen.
Wir haben Mittel. Der Rechtsstaat braucht nicht zu
kapitulieren. Lassen Sie mich aber an diejenigen, die im
Grunde zu diesem Sozialsystem Deutschland stehen, sagen: In der Regel sind Reiche nicht die Tennis spielenden Erben, die nicht wissen, was Arbeit ist. In den meisten Fällen sind Reiche und Gutverdiener die, die viel
arbeiten, häufig hohe Risiken eingehen und unsere Gesellschaft noch ein ganzes Stück weiterbringen können.
Wenn wir diesen Menschen - wie Sie es vorhaben - dauerhaft 50 bis 60 Prozent ihres Einkommens wegnehmen,
dann brauchen wir uns - so glaube ich - auch nicht zu
wundern, wenn sie diesem Rechtsstaat den Rücken kehren.
({12})
Leistung und das, was man behalten darf, müssen im
Gleichgewicht stehen.
({13})
Deshalb sollten wir uns auf die Missbrauchstatbestände konzentrieren, die Sie eben so schön im Einzelnen dargestellt haben. Wir haben die rechtlichen Möglichkeiten. Durch die von Ihnen gezeigten Verfahren
wird deutlich, dass wir das Handwerkszeug dazu haben.
Lassen Sie uns nicht den Weg einschlagen, den Sie vorgestellt haben. Dieser wird nicht zu mehr Steuereinnahmen, sondern nur zu mehr Bürokratiekosten führen. Deshalb halten wir das nicht für sinnvoll.
({14})
Jetzt hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem von der Fraktion
Die Linke eingebrachten Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, das Außensteuerrecht so zu
reformieren, dass deutsche Staatsangehörige unabhängig
von ihrem Wohnsitz oder ihrem gewöhnlichen Aufenthalt mit ihrem gesamten Einkommen - also mit ihrem
Welteinkommen - unbeschränkt steuerpflichtig sind.
Zur Begründung Ihres Antrages kann ich Ihnen, Herr
Gysi, nur sagen: Es stimmt, dass vor allem einige besonders gut verdienende Sportlerinnen und Sportler, Künstlerinnen und Künstler, Unternehmerinnen und Unternehmer sowie andere Personen die Bundesrepublik
Deutschland verlassen, um sich zum Beispiel in der
Schweiz, in Liechtenstein oder Monaco niederzulassen.
Aus Sicht der FDP kann ich nur anmerken: Österreich
sollten Sie in Ihren Antrag noch aufnehmen; dieses Land
haben Sie wahrscheinlich übersehen.
({0})
Da die Linkspartei in der Begründung ihres Antrages
hervorhebt, dass es sich bei dem angegebenen Wohnsitz
nicht selten um einen Scheinwohnsitz handelt, und insofern auf einen erfolgreichen deutschen Tennisspieler hinweist, der in 2002 für Schlagzeilen sorgte, darf festgestellt werden, dass es sich in diesem Fall wohl um
Missbrauch handelte
({1})
und dieser Missbrauch als Steuerhinterziehung angeklagt und geahndet wurde. Insofern sollten Sie auch diesen Passus Ihres Antrages überprüfen; denn in diesem
Fall wurde das Recht falsch genutzt und der Fiskus hatte
entsprechende Zugriffsmöglichkeiten. Der Missbrauch
wurde geahndet. Dies ist also aus meiner Sicht kein Argument für Ihr Anliegen. Wenn jemand gegen Gesetze
verstößt, dann hat der Staat die Möglichkeit, gegenüber
demjenigen, der gegen Gesetze verstoßen hat, tätig zu
werden.
({2})
Für den Geltungsbereich des Einkommensteuergesetzes gilt der fundamentale Unterschied zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht. Unbeschränkt steuerpflichtig sind diejenigen Personen, die
ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
haben. Anknüpfungspunkt für die unbeschränkte Steuerpflicht ist also die Ansässigkeit in der Bundesrepublik
Deutschland und nicht die Staatsangehörigkeit. Besteuert werden die inländischen und die ausländischen Einkünfte. Das heißt, Deutschland legt bei der Besteuerung
schon derzeit das Welteinkommen zugrunde. Im Rahmen von Doppelbesteuerungsabkommen verzichtet
Deutschland jedoch in weitem Umfang auf die Belastung der kompletten Beträge, sodass das Welteinkommensprinzip wesentliche Durchbrechungen erfährt.
Es gibt aber zum Beispiel den Progressionsvorbehalt. Das heißt, die in anderen Ländern gezahlten Steuern werden freigestellt und diese Einkünfte müssen hier
nicht mehr versteuert werden. Aber dieses im Ausland
erzielte Einkommen wird bei der Ermittlung des Steuersatzes zur deutschen Bemessungsgrundlage addiert. Der
Bürger wird dann in Deutschland mit einem höheren
Steuersatz, also nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit, besteuert. So ist das derzeitige Recht.
Eine Anknüpfung der unbeschränkten Steuerpflicht
an die Staatsangehörigkeit ist allerdings, auch wenn Sie
das Beispiel Amerika zu Recht erwähnen, die absolute
Ausnahme auf dieser Welt. Nur in den Vereinigten Staaten und in Liberia gilt das Staatsangehörigkeitsprinzip.
Liberia als Beispiel für die von Ihnen in Ihrer Rede dargestellten etwas populistischen Forderungen heranzuziehen, ist etwas zweifelhaft. Denn ich weiß nicht, wie stark
die diplomatische Kraft Liberias ist, für seine Staatsbürger tätig zu werden. Die USA und Liberia wenden dieses
Prinzip also an. Sie agieren anders als wir.
Wir agieren im europäischen Gesamtkontext. Würden
wir so vorgehen, wie Sie es vorgeschlagen haben, würde
dies dazu führen, dass man an dieser Stelle einen enormen Verwaltungsaufwand hätte. Alle Doppelbesteuerungsabkommen müssten neu verhandelt werden, wobei
ich sage: Wenn das prinzipiell überall gelten soll, könnte
man darüber reden. Aber man sollte sich natürlich über
die Konsequenzen im Klaren sein; deshalb spreche ich
diese an.
Es wäre also verwaltungsmäßig sehr schwierig. Es
wäre auch schwierig, ein solches Prinzip gegenüber anderen Ländern durchzusetzen. Denn andere Länder
müssten dem deutschen Fiskus entsprechende Mitteilungen machen, wenn der Steuerpflichtige selbst dies nicht
macht. Aber da er keinen Wohnsitz in Deutschland hat,
wird er dies vermutlich auch nicht tun. Sie hätten keine
vernünftige Sanktionsmöglichkeit. Angesichts der Tatsache, dass ein Recht entwickelt werden soll, das dann gar
nicht genutzt werden kann, müssten auch Ihnen als Jurist
- wir tragen eine ähnliche Frisur, Herr Kollege Gysi die Haare zu Berge stehen.
({3})
Denn wir Juristen finden es nie gut, wenn ein Recht entwickelt wird, das dann überhaupt nicht angewandt werden kann. Zumindest dieses Argument müsste Sie überzeugen.
Ich bin der Auffassung - das ist der politisch wichtige
Punkt -, dass man nicht wieder den Weg, der in den letzten Jahren beschritten wurde und auch derzeit wieder beschritten wird, gehen kann, nämlich zu schauen, wo es
Missbrauch gibt, und dann den Missbrauch zu beschränken, weil das System an sich gut ist. Wir müssen feststellen, dass es im internationalen Wettbewerb Systeme
gibt, die auch im Steuerrecht wettbewerbsfähiger sind
als wir. Deshalb brauchen wir eine Vereinfachung und
Verschlankung des Steuerrechtes sowie eine Senkung
der Steuersätze bei Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
Warum sind denn die anderen Länder interessanter
geworden? Weil sie Reformen durchgeführt haben. Ich
möchte nicht, dass Menschen aus rein steuerlichen
Gründen Deutschland verlassen. Ich möchte, dass sie in
Deutschland bleiben. Ich möchte sogar, dass mehr Menschen nach Deutschland kommen. Dies dürfen sogar Österreicher, Schweizer und auch Luxemburger sein. Sie
sollen ruhig nach Deutschland kommen. Wenn sie ihren
Wohnsitz hier haben, werden sie hier steuerpflichtig.
Das setzt aber voraus, dass wir unser Land ein bisschen
attraktiver machen. Denn unser Land ist schön, wir haben eine Superinfrastruktur und eine tolle Bevölkerung.
Wir sollten viel mehr Menschen dazu bringen, ihren
Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen. Das aber setzt
Reformen in unserem Lande voraus. Ihr Antrag ist leider
eher dazu angetan, diese Reformen aufzuschieben, als
ihnen zum Durchbruch zu verhelfen.
Wir müssen die Menschen und auch Kapital in unser
Land locken. Deshalb begrüßen wir als FDP, dass die
schwarz-rote Koalition jetzt die Abgeltungssteuer in die
Diskussion eingebracht hat.
({4})
Herr Kollege Thiele!
Wir dürfen dem Kapitalabfluss aus Deutschland nicht
zusehen, sondern müssen Kapital nach Deutschland holen, damit es hier versteuert wird und zu einer Erhöhung
des Steueraufkommens beiträgt.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Herr Gysi, Sie haben ein Problem angesprochen, das jedem Parlamentarier, der Wahlkreisarbeit macht, immer wieder begegnet. In großflächigen Schlagzeilen in mehr oder weniger bekannten
Zeitungen wird immer wieder auf solche ungerechten
und unsozialen Fälle hingewiesen und gesagt, der Staat
müsse etwas machen. So etwas kommt natürlich immer
gut an.
Das ist auch Kern Ihres Antrages. Sie beschreiben das
zugrunde liegende Problem sehr ausführlich und sagen,
der Staat müsse etwas tun, wie Sie es bei vielen politischen Themen machen. Sie versäumen es aber in Ihrer
etwas populistischen Art, die sich sehr einfach liest, einen vernünftigen Vorschlag zu machen, wie das Problem
beseitigt werden kann, ohne in einen bürokratischen
Wust zu verfallen, in politische Reflexe, die dem Kernproblem überhaupt nicht dienlich sind.
Natürlich ist das, was Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, ein Problem. Tatsächlich leiden viele nicht
darunter, dass das geltende Steuerrecht in diesen Fällen
nicht anwendbar ist - Herr Thiele ist gerade darauf eingegangen -, sondern darunter, dass ein solches Verhalten
illegal ist. Von staatlicher Seite werden Verfahren wegen
Steuernachzahlungen eingeleitet, weil sich diese Menschen nicht nach deutschem Steuerrecht verhalten haben.
Dieses Problem wird aber auch durch ein solches Gesetz
nicht gelöst.
Sie haben die USA als Beispiel angeführt. Ich kann
Ihnen nur raten, sich einmal mit dem IRS in Verbindung
zu setzen und zu fragen, welche Probleme die USA mit
Steuerflüchtlingen haben, obwohl es dort ein derartiges
Gesetz gibt. Ein solches Gesetz hält die Menschen doch
nicht davon ab, Geld aus dem Land zu bringen, wenn sie
irgendwo eine Nische entdecken, egal ob sie sich dadurch illegal verhalten oder nicht. Hier müssen Sie
gründlich trennen, Herr Gysi.
({0})
Es gibt Menschen, die sich illegal verhalten, und Menschen, die sich auf moralische Art und Weise nicht legal
verhalten. Menschen, die gut verdienen, stehlen sich aus
der Gesellschaft heraus, während sie sich gleichzeitig
von unserer Gesellschaft hochjubeln lassen. Das ist ein
gesellschaftliches Problem.
({1})
Ich möchte dieses Problem einfach einmal aufzeigen.
Kann es sein, dass jemand, auch wenn er nicht gegen
Recht und Gesetz verstößt, sich aber in eine gewisse
moralische Verfehlung begibt, hier zu einem Idol, zum
Ehrenbürger seiner Heimatstadt wird und ihn die ganze
Gesellschaft bejubelt?
({2})
Das kann doch nicht sein. Wir alle sind verantwortlich
dafür, eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen.
({3})
Wir sollten auch unser Verbraucherverhalten auf
das Verhalten der Unternehmen abstimmen. Die Verbraucher sind gefragt, ob sie das Verhalten der Unternehmen mit ihrem Verbraucherverhalten unterstützen oder
sanktionieren. Die Gesellschaft muss endlich wieder
breitflächiger denken, weg von den großen Überschriften in Zeitungen, und sich einmal anschauen, was im
Land passiert. Sie dürfen nicht auf der einen Seite kritisieren, aber auf der anderen Seite die entsprechenden
Fanartikel kaufen, damit derjenige, der sein Geld im
Ausland versteuert, noch mehr Einkommen zur Verfügung hat.
({4})
Darüber müssen wir einmal ehrlich reden.
Noch ein Punkt ist mir sehr wichtig. Nicht alle Menschen, die in diesem Land gut verdienen, sind Steuerflüchtige. Es gibt eine große Anzahl von Menschen in
unserem Land, egal ob sie selbstständig sind, ob sie
Sportler oder Künstler sind, ob sie vielleicht auch reiche
Erben sind, die hier ihren Wohnsitz haben, hier Steuern
zahlen und nicht wenig Geld ausgeben, in diesem Staat
als Mäzen, als Sponsor, als Spender oder als Stiftungsgründer sehr viel Gutes zu tun. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn in einer solchen Debatte immer wieder Menschen, die viel Geld haben, automatisch irgendwelchen
Gruppen zugeordnet werden. Damit tut man nämlich den
Menschen, die sich in diesem Lande sehr vielseitig engagieren, unglaublich Unrecht. Ich glaube, darüber sollte
man in unserer Gesellschaft einmal diskutieren.
({5})
Zu Ihrem Antrag. Ich sehe darin keine praktikable Lösung. Außer den USA - das wurde gerade angesprochen praktizieren nicht viele Länder diese Regelung. Auch
wenn es in den USA praktiziert wird, heißt das nicht,
dass dadurch das Problem hundertprozentig gelöst
würde. Herr Thiele, es hilft auch nicht, die Steuern immer stärker zu senken, um Steuerflucht immer unattraktiver zu machen. Wenn ein Mensch keinen moralischen
Anspruch hat, dann sind selbst 5 Prozent Steuern zuviel
für ihn, weil er diese 5 Prozent woanders sparen könnte.
Wir müssen endlich einmal an das Selbstverständnis und
an die Moral der Menschen appellieren. Wir müssen
wahrnehmen, dass in diesem Staat jeder sein Säckchen
zu tragen hat. Derjenige, der viel verdient, hat vielleicht
ein größeres zu tragen als derjenige, der wenig hat. Wir
müssen aber endlich einmal lernen, dass wir alle zu diesem Staat gehören.
({6})
Die Doppelbesteuerungsabkommen, die wir haben,
funktionieren sehr gut. Ich stelle es mir gruselig vor, mit
über 90 Staaten in neue Verhandlungen einzutreten.
Diese Staaten haben nämlich ihre eigenen Interessen und
warten nicht darauf, dass Deutschland mit solchen Ideen
kommt. Sie werden nicht mit offenen Armen dastehen
und sagen: Endlich, daran haben wir schon lange gedacht. Diese Regelung würde das ganze System verkomplizieren.
Mich würde auch persönlich interessieren, wie Sie
sich das vorgestellt haben. Deutsche Staatsbürger, egal
wo sie wohnen, versteuern ihr Einkommen. Wenn sie es
im Ausland verdienen und dort versteuern, wird das angerechnet. Die Differenz müssen sie in Deutschland zahlen. Was ist denn, wenn die Steuerpflicht im Ausland höher ist? Zahlt Deutschland die Differenz dann zurück?
({7})
- Dann ist es halt nur Norwegen. Sagen Sie mir doch
einmal, wo Sie diesen Fall in Ihrem Gesetzentwurf untergebracht haben.
({8})
- Herr Gysi, das glaube ich nicht. Das wird schwierig
werden, weil Sie nicht in unserem Ausschuss sind.
Um genau solche Fälle geht es. Auch andere Länder
werden ihre Besteuerung verändern. Was ist denn mit
den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die in Deutschland
leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben?
Was ist denn, wenn sie in ihrem Heimatland deutlich weniger Steuern zahlen müssen? Zahlt Deutschland dann
etwas zurück? Was machen Sie mit diesen Fällen? Herr
Gysi, das ist die Realität, mit der Sie sich auseinander
setzen müssen. Das sind die Probleme der Bürgerinnen
und Bürger, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf mit ins
Boot nehmen. Davon gibt es in Deutschland nicht nur einige, sondern verdammt viele. Damit muss man sich einmal auseinander setzen.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bewundere Ihr Gespür für „unbürokratische“ Gesetzesideen. Dieser Vorschlag ist ein Beispiel dafür, wie man Gesetze so unbürokratisch wie möglich entwickeln und anwenden kann.
({9})
- Sie haben Recht. Damit kennen die sich aus -. Ich
würde mich freuen, wenn Sie mir eine Statistik vorlegen
könnten, aus der sich auf den Cent genau ergibt, mit welchem bürokratischen Aufwand Sie rechnen.
({10})
Welche Einnahmen planen Sie ein? Das würde mich interessieren. Ich glaube nämlich nicht, dass es unserem
deutschen Steuersystem besonders gut zu Gesicht
stünde, wenn wir unsere Beamtinnen und Beamten um
Zigtausende aufstocken müssten, um zu schauen, wie
viele Steuern in allen anderen Ländern der Welt gezahlt
werden.
({11})
Die rechtliche Ausgestaltung würde mich ebenfalls
interessieren. Soll Deutschland dann per Strafbefehl in
der Schweiz oder in Liechtenstein Steuern einziehen?
Das Problem ist: Recht zu haben, ist schön; Recht zu bekommen, ist aber etwas anderes.
({12})
Ich weiß, was jetzt kommt: Die Menschen sind fällig,
wenn sie wieder nach Deutschland zurückkommen. Ich
glaube nur nicht, dass viele wiederkommen werden,
Herr Gysi. Das ist das Problem. Frau Tillmann hat gefragt, ob Sie die Studentin, die sich in Frankreich verliebt hat, bestrafen wollen. Herr Gysi sagte hinter mir:
„Nein, die meinen wir nicht!“ Genau diese Studentin ist
aber betroffen, weil sie in Frankreich lebt. Herr Gysi, ob
Sie das nun wollten oder nicht: Von diesem Gesetz wäre
sie betroffen.
Meine Fraktion hat kein Verständnis für eine so unpraktikable Lösung. Ich plädiere dafür, dass wir das Problem und vor allem den gesellschaftlichen Aspekt in der
Öffentlichkeit diskutieren. Bestimmte Dinge dürfen einfach nicht mehr passieren und sollten nicht mehr passieren können. Wir müssen mit unseren bestehenden Möglichkeiten die vorhandenen Fälle konsequent verfolgen.
Wir dürfen sie nicht unter den Teppich kehren oder Amnestien vornehmen. Ich glaube, das sind wir den Menschen, die ihre Steuern in Deutschland regulär zahlen,
schuldig. Wir sollten nicht in politische Reflexe verfallen und glauben, dass wir ein Problem einfach per Gesetz lösen könnten und die Welt dann in Ordnung wäre.
Herr Gysi, Sie wissen genau, wie ein anderer Staat, den
Sie sehr gut kennen, das Problem der Abwanderung von
Fachkräften zu lösen versucht hat. Doch auch die Mauer
hat nicht geholfen. Genauso wenig hilft Ihr heutiger Vorschlag Deutschland, seine Steuerflüchtigen in den Griff
zu bekommen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, die meisten hier im Raum sind sich einig, dass
der vorliegende Vorschlag nichts taugt.
({0})
Was vorgeschlagen wird, ist nicht administrierbar, und
wir bekommen genau dasselbe Problem wie an anderer
Stelle auch: dass im Gesetz etwas steht, was nicht durchsetzbar ist. Das widerspricht dem Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und hätte deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand. Solche Gesetze
zu machen, gibt keinen Sinn, sondern führt nur zu noch
mehr Frustration. Sie beklagen zu Recht, dass viele, besonders reiche Menschen sich aus unserem Land verabschieden und ihren Wohnsitz der Steuer wegen verlegen.
Das ist natürlich eine moralische Frage. Aber, Frau Violka, mit einem Appell unsererseits ist es nicht getan.
Wenn wir der Empörung in unserer Gesellschaft gerecht
werden wollen, müssen wir konkrete Veränderungen in
unserem Land vornehmen. So weit würde ich auch
Herrn Thiele zustimmen, der gesagt hat, man kann nicht
bloß zuschauen und warme Worte verlieren, sondern
man sollte auch etwas tun. Aus der großen Koalition war
an konkreten Vorschlägen nicht viel und nichts Substanzielles zu hören. Ich würde deswegen gern ein paar konkrete Vorschläge machen, was man tun könnte:
Stichwort Anrechnung. Wir sind für den Wechsel zur
Anrechnungsmethode, aber nur bei Menschen, die ihren
Wohnsitz in Deutschland haben; hier ist es administrierbar. Wenn wir den Progressionsvorbehalt berücksichtigen können, können wir auch eine Anrechnung vorsehen. Das wäre schon etwas, um Steuerflucht zu
bekämpfen.
Zweitens müssen wir auf der Ebene der Europäischen
Union darauf hinarbeiten, das Erfordernis der Einstimmigkeit in Steuerfragen zu überwinden, damit wir die
Steueroasen, die sich in der Europäischen Union befinden, sinnvoll bekämpfen und die Amtshilfe verbessern
können. Das müssen wir dringend tun. Denn das Legitimationsdefizit der Europäischen Union hat auch damit
zu tun, dass die Menschen sie nicht als einen Ort der Lösung solcher Gerechtigkeitsfragen, wie wir sie gerade
diskutieren, empfinden. In diese Richtung muss gerade
während der Präsidentschaft der Bundesrepublik
Deutschland im Europäischen Rat Entscheidendes passieren.
Frau Tillmann, Sie haben im Hinblick auf die Vorschläge der Linkspartei von einem bürokratischen Hammer gesprochen. Ich stimme Ihnen zu: Das geht so nicht.
Aber es gibt einen weiteren bürokratischen Hammer, den
insbesondere Ihre Partei ständig verteidigt und der ein
Grund dafür ist, dass wir unser Steuerrecht auch bei
Auslandssachverhalten nicht richtig durchsetzen können: der Riesenapparat von 16 Landessteuerverwaltungen. Auch deshalb können wir den inländischen Bezug
von Auslandssachverhalten nicht richtig ermitteln. Wir
sollten in dieser Richtung weiterkommen, wir sollten in
Deutschland verändern, was wir in Deutschland verändern können,
({1})
um nicht beim Appell zu bleiben, sondern in der Substanz weiterzukommen.
({2})
Herr Kollege Schick, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Tillmann?
Ja.
Bitte schön, Frau Tillmann.
Herr Kollege Schick, teilen Sie mit mir die Auffassung, dass in Deutschland für jedes ausländische Land
bereits eine Steuerbehörde zuständig ist und dass eine
mögliche Zersplitterung der Zuständigkeit auf die
16 Steuerverwaltungen mit dem Föderalismusbegleitgesetz schon erheblich eingeschränkt wurde? Teilen Sie
mit mir darüber hinaus die Auffassung, dass der Bund
die Kosten für eine bundeseinheitliche Steuerverwaltung - Bundespensionen und IT-Kosten - im Moment
gar nicht schultern kann?
({0})
Zum zweiten Punkt zuerst: Natürlich muss man die
Frage, wie der Übergang zu gestalten ist, ausdiskutieren.
Solche Praktikabilitätsprobleme haben wir auch bei anderen Bund-Länder-Angelegenheiten lösen können.
({0})
Hinsichtlich Ihrer ersten Frage ist es so: Auch wenn
es eine jeweilige Zuständigkeit gibt, schaffen es die
Steuerbehörden doch nicht einmal bei Umzügen im Inland, rechtzeitig zu koordinieren; das werden Ihnen alle
bestätigen, die in der Steuerverwaltung arbeiten. Das ist
ein wesentlicher Grund dafür, dass wir auch bei Auslandssachverhalten nicht richtig ermitteln können.
({1})
- Richtig, es geht aber immer um einen inländischen Bezug. Wenn Sie eine Wegzugsbesteuerung einführen wollen, dann brauchen Sie eine entsprechende inländische
Basis. Das gilt auch, wenn Sie das Anrechnungsverfahren durchsetzen wollen und insbesondere bei allen Fällen von Steuerhinterziehung.
({2})
Ich fordere die Linkspartei auf, nicht nur populistische Anträge ins Plenum einzubringen,
({3})
sondern Änderungsanträge, die konkrete Probleme lösen. Heute diskutieren wir zum Beispiel noch einmal
über das SEStEG, in dem es um die Wegzugsbesteuerung
geht, und auch bei der Befassung mit den Doppelbesteuerungsabkommen haben Sie dazu die Möglichkeit. Ich
würde mich freuen, wenn es dann Substantiierteres von
Ihnen gäbe.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2524 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
- Drucksache 16/1940 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Höfken, Birgitt Bender,
Dr. Harald Terpe, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
- Drucksache 16/1068 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 16/3201 ({1}) Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Segner
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ich weise darauf hin, dass ein Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP vorliegt, der sich auf beide genannten Gesetzentwürfe bezieht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht jetzt um ein möglicherweise tödliches
Thema; denn „Rauchen kann tödlich sein“.
({0})
Das steht auf den Packungen und das sollten wir ernst
nehmen.
Mit dieser Thematik beschäftigen sich nicht nur die
Bundesregierung und dieses Parlament, sondern auch
die Europäische Union. Heute geht es unter anderem um
die Umsetzung der Tabakwerberichtlinie - das ist der
aktuelle Anlass -, welche die EU-Kommission bis zum
31. Juli 2006 von uns gefordert hat. Die Bundesregierung hat beim EuGH Klage gegen die Tabakwerberichtlinie erhoben; denn wir bestreiten die Rechtskompetenz
der Europäischen Union, in diesem Sektor tätig zu werden. Bei dieser Rechtsauffassung bleiben wir nach wie
vor.
({1})
Es zeigt sich immer mehr, dass die Europäische
Union - dabei ist der Europäische Gerichtshof das
Machtzentrum - Regelungskompetenzen an sich zieht,
ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Natürlich
müssen wir uns aber dem Spruch des EuGH unterwerfen. Nachdem nun der Schlussantrag des Generalanwalts
vorliegt, müssen wir von einer Abweisung der Klage
ausgehen. Deshalb schlagen wir vor, die EU-Richtlinie
eins zu eins umzusetzen. Wir müssen dabei beachten,
dass die Tabakwerberichtlinie das grundsätzliche Werbeverbot für Tabakerzeugnisse in Presse, Internet und
Rundfunk sowie ein Sponsoringverbot enthält. Dies ist
das eine Thema.
Rauchen bewegt uns in Deutschland und in diesem
Parlament aber auch an anderer Stelle - dies ist ein davon unabhängiges Thema -, nämlich dann, wenn es um
den Nichtraucherschutz geht. Ich habe mir in meinem
Büro vorhin noch eine andere Zigarettenschachtel angeschaut. Auf der steht:
Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer
Umgebung erheblichen Schaden zu.
({2})
Das ist ein Warnhinweis an Sie. Wir leben in einem
freien Land und es stellt sich natürlich die grundsätzliche
Frage nach der Eigenverantwortung.
({3})
Wo endet die Freiheit des Einzelnen? Natürlich bestreitet
niemand dem Raucher das Recht, zu rauchen. Das soll
auch in Zukunft so sein. Aber die Freiheit des Rauchers
endet dort, wo sie die Gesundheit des anderen tangiert.
Deshalb arbeiten die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung an einem Nichtraucherschutzgesetz. Wir
sind der Meinung - davon sind wir ausgegangen -, dass
beim Nichtraucherschutz die Selbsteinsicht, die Eigenverantwortung und die Freiwilligkeit die ersten, die richtigen und die wichtigsten Schritte wären.
({4})
- Ja.
An die Selbsteinsicht glaubt der Deutsche Bundestag
seit 1994. Jedes Jahr führen wir erneut eine solche Debatte und treffen eine Entschließung.
({5})
Heute, im Jahr 2006, müssen wir allerdings feststellen:
Selbsteinsicht und freiwillige Selbstbeschränkung zum
Schutz der Nichtraucher funktionieren nicht.
({6})
Nun ist Handeln angesagt. Ich bestätige, was Kollege
Binding von der SPD-Fraktion heute an die Öffentlichkeit gebracht hat. Dazu möchte ich kurz Stellung nehmen.
Wie also sehen die Eckpunkte dieses in den nächsten
Wochen und Monaten in den Fraktionen zu beratenden
Entwurfs eines Gesetzes zum Nichtraucherschutz aus?
Unser Ziel ist kein generelles Rauchverbot, sondern ein
wirksamer Nichtraucherschutz: Dein Rauch darf nicht
mein Rauch sein und meine Gesundheit tangieren.
Die Koalitionsfraktionen orientieren sich bei ihrer Arbeit an folgenden Eckpunkten - wir werben um Ihre Zustimmung; denn letztlich sind wir auf die Zustimmung
dieses Hauses angewiesen -:
Erstens. Wir werden ein Rauchverbot in allen öffentlichen Einrichtungen des Bundes, der Länder und der
Kommunen vorschlagen.
({7})
Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln soll ein generelles
Rauchverbot gelten,
({8})
es sei denn - diese Regelung muss für den Bürger nachvollziehbar sein -, es gibt abgetrennte und für das Rauchen ausgewiesene Räume. Ich glaube, das ist eine klare
Botschaft für Raucher und betroffene Nichtraucher.
Der zweite Punkt betrifft die gastronomischen Betriebe. Das ist brisant und darüber wird in der Öffentlichkeit breit diskutiert. In Deutschland gibt es 250 000
gastronomische Betriebe. Selbstverständlich streben wir
gemeinsam mit ihnen eine praktikable und unbürokratische Lösung an, auch im Interesse der 1 Million Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der vielen Millionen
Gäste in der Gastronomie.
In Speisewirtschaften soll ein Rauchverbot gelten,
nicht jedoch in Schankwirtschaften. Eine solche Abgrenzung, die sich auch im Gaststättenrecht findet, streben
wir gemeinsam an. Die Regel soll in Speisewirtschaften
das Rauchverbot sein; eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn dafür vorgesehene, abgetrennte Räume bestehen. Das ist auch eine klare Botschaft an die Gastronomie.
Diese Eckpunkte werden wir in den nächsten Wochen
und Monaten gemeinsam weiterentwickeln und darüber
insbesondere mit der Gastronomie diskutieren müssen;
denn wir streben, wie gesagt, eine praktikable Lösung
an. Für die Bundesregierung bzw. die Koalitionsfraktionen stelle ich fest: Eine praktikable Lösung muss auch
eine wirksame Lösung sein. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht das Ziel eines effektiven Nichtraucherschutzes. Es muss etwas passieren. Wir dürfen kein Gesetz auf den Weg bringen, in dem nur Andeutungen
gemacht werden. Wir wollen einen effektiven Nichtraucher- bzw. Gesundheitsschutz. Es ist unbestritten, dass
Rauchen tödlich sein kann und dadurch auch Nichtraucher gefährdet werden. Ich lade Sie ein, diesen Weg in
den nächsten Wochen gemeinsam mit uns zu beschreiten.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edmund Peter
Geisen, FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
acht Jahren bezweifeln die Bundesregierung und der
Bundestag die Rechtmäßigkeit der EU-Richtlinie zum
Tabakwerbeverbot. Nun - wenige Wochen vor dem entscheidenden EuGH-Urteil - geht die Bundesregierung in
die Knie und lässt im vorauseilenden Gehorsam ein Gesetz beschließen.
Ich frage Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition: Warum dies? - Die angeblich drohenden
Strafzahlungen können es wohl nicht sein. Die haben Sie
schließlich in Ihrer Begründung zum Gesetzentwurf explizit herausgestrichen; alle anderen Punkte sind wortgleich mit dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen.
Die Bundesregierung muss sich fragen lassen, warum sie
mit der Klage damals nicht auch die Aussetzung des
Vollzugs beantragt hat.
Verehrter Herr Staatssekretär Müller, ich halte es auch
nicht für legitim, wenn Sie nun versuchen, von Ihrer
180-Grad-Drehung in der Sache abzulenken, indem Sie
die Umsetzung der Richtlinie mit dem Nichtraucherschutzgesetz begründen. Das sind zwei verschiedene
Paar Schuhe.
({0})
Kann es sein, dass Sie damit gewisse Kreise in Ihrer
Koalition ruhig stellen wollen?
({1})
Oder bedienen Sie sich etwa - wie viele andere auch des hochsensiblen Themas des Nichtraucherschutzes,
um populistisch über Ihren schlechten Gesetzentwurf
hinwegzutäuschen?
({2})
Wir sprechen heute über den Gesetzentwurf zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes; wir reden nicht
über ein Nichtraucherschutzgesetz. Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um Werbeverbote und die
Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Nationalstaaten. Das ist der Grund, warum die damalige
Bundesregierung Klage vor dem EuGH erhoben hat.
Wissen Sie eigentlich, welche Konsequenzen Ihre Gesetzesinitiative hat? Der Bundesrat hat dies in seiner ablehnenden Stellungnahme sehr deutlich gemacht: Erstens wecken Sie Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Klage
und schmälern ihre Erfolgsaussichten. Zweitens verzichten Sie ohne Not auf die Klärung einer Reihe von Zweifelsfragen durch die Urteilsbegründung. Das Urteil des
EuGH bzw. dessen Hinweise sollen also für Sie keine
Rolle spielen. Das nenne ich paradox.
({3})
Die Eile, mit der diese Gesetzesänderung verabschiedet wird, steht im krassen Widerspruch zu früheren Aussagen des Agrarministers. Sie ist juristisch höchst zweifelhaft und hat nicht überschaubare Konsequenzen.
Hatte Minister Seehofer nicht noch Ende letzten Jahres verkündet, man werde das Urteil des EuGH abwarten, bevor man die strittige Tabakwerberichtlinie in
Gesetzesform gießt, und dies mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet? Hatte nicht Ihre Bundesregierung,
meine Damen und Herren der SPD, die Klagen selber
eingereicht, übrigens mit Rückendeckung der grünen
Ministerin? Lieber Peter Bleser, hatte nicht die damalige
Oppositionsfraktion der CDU/CSU 2003 einen Antrag
eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert
wurde, zu klagen? Jetzt plötzlich scheinen regierungsinterne Gründe all diese berechtigten Bedenken vom Tisch
zu wischen.
Die FDP wendet sich grundsätzlich gegen EU-Werbeverbote für legale Produkte. Die Gründe dafür sind erstens die Verbraucherbevormundung und zweitens das
Subsidiaritätsprinzip. Eine Wirtschaft ohne Werbung ist
eine tote Wirtschaft. Dazu gibt es viele Beispiele aus der
Vergangenheit.
({4})
Das Tabakwerbeverbot ist unserer Meinung nach nur
der Beginn für Werbeverbote in anderen Bereichen. Ich
denke dabei an Alkohol, Süßwaren und Automobile. Das
ist kein Verbraucherschutz; das ist Verbraucherbevormundung.
({5})
Wir gehen stattdessen vom mündigen Verbraucher aus,
den man nicht vor sich selber schützen muss.
Natürlich gelten für Kinder und Jugendliche andere
Regeln.
({6})
Hier ist aber auch die Wirtschaft in der Pflicht. In diesem
Zusammenhang werden wir auch noch über das Nichtraucherschutzgesetz diskutieren.
Im Kern geht es bei der Umsetzung des Tabakwerbeverbots um die grundsätzliche Kompetenzabgrenzung in
der EU nach dem Subsidiaritätsprinzip. Es geht um die
Brüsseler Regelungswut. Auch das Bundesverfassungsgericht verfolgt diese Entwicklung aufmerksam. Sie
werden noch davon hören. Die FDP hat sich immer dagegen gewehrt, unsere Gesellschaft bis ins Detail durchzuregeln und zu bevormunden. Auch Aufklärungskampagnen und gesellschaftlicher Druck zeigen Wirkung,
wie Sie wissen, und führen immer häufiger zu freiwilligen Einschränkungen und Selbstverpflichtungen.
Aus all diesen Gründen lehnt die FDP-Fraktion den
Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie den de facto
identischen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
ab. Wir bitten Sie, meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages, eindringlich um Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Die meisten Zwölfjährigen rauchen. Der Rest ist bereits
zu betrunken, um die Packung zu öffnen.“
({0})
Dies ist ein „echter Harald Schmidt“ und beleuchtet
schlaglichtartig das Problem. Zunehmend mehr Kinder
und Jugendliche rauchen viel früher. Viel zu viele Kinder und Jugendliche rauchen. Sie rauchen nicht eine Zigarette irgendwo hinter einer Hecke, sondern mehr oder
weniger öffentlich und regelmäßig. Das Rauchen von
Kindern und Jugendlichen wird dadurch begünstigt, dass
sie tagtäglich rauchenden Erwachsenen und Zigarettenwerbung begegnen und dass sie bislang ungehindert Zugang zu Zigarettenautomaten haben. Das muss bei Kindern und Jugendlichen den Eindruck erwecken: Rauchen
ist etwas Normales, vielleicht sogar etwas Erstrebenswertes. Dem müssen wir entgegentreten.
Wir können gar nicht oft genug sagen, dass Tabak,
auch wenn er eine legale Droge ist, Sucht erzeugt. Zigarettenrauchen ist heute das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko. Insbesondere Zigarettenrauch führt zu
schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemwegserkrankungen. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass man Werbung für ein solches Produkt macht. Daher begrüßen wir
es außerordentlich, dass nun die europäische Tabakwerberichtlinie auch in Deutschland umgesetzt wird.
Ich möchte einige Punkte erwähnen, die in der
Tabakwerberichtlinie geregelt sind. Diese Richtlinie
verbietet, für Tabakerzeugnisse in der Presse oder anderen gedruckten Erzeugnissen zu werben. In dem Umfang, in dem Werbung in der Presse verboten ist, ist sie
auch im Internet verboten. Unternehmen, deren Haupttätigkeit Herstellung oder Verkauf von Tabakerzeugnissen
ist, ist es untersagt, ein Hörfunkprogramm zu sponsern.
Es ist der Tabakindustrie des Weiteren verboten, eine
Veranstaltung oder Aktivität zu sponsern, die grenzüberschreitende Wirkung hat, zum Beispiel die Formel 1.
Hörfunk- und Fernsehwerbung sind in Deutschland
schon seit 1975 verboten.
Das Gesetz wird dazu beitragen - ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass wir den Gesetzentwurf heute
beschließen -, dass wir das Rauchen in Deutschland eindämmen und die schädlichen Folgen des Passivrauchens zurückdrängen. Der Tabakrauch enthält über
4 800 verschiedene Substanzen. Bei über 70 Substanzen
ist nachgewiesen, dass sie krebserregend sind oder in
Verdacht stehen, Krebs zu erzeugen. Die chemische Zusammensetzung des Passivrauchs, also des Nebenstroms
der Zigarette, gleicht qualitativ der des Tabakrauchs.
({1})
- Herr Parr, das stimmt sehr wohl. Sie ignorieren typischerweise wieder Tatsachen.
({2})
Für die im Passivrauch enthaltenen Kanzerogene können keine Wirkungsschwellen definiert werden, unterhalb deren keine Gesundheitsgefährdung zu erwarten
wäre.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Parr?
Ich möchte meinen Satz gerne zu Ende bringen. Auch kleinste Belastungen durch Tabakrauch können
zur Entwicklung von Tumoren beitragen.
Bitte schön, Herr Parr.
Frau Kollegin Volkmer, wie beurteilen Sie denn die
neuesten Ergebnisse einer Studie der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung, in der festgestellt wird, dass
sich der Trend in Deutschland, nicht zu rauchen, permanent fortsetzt, dass mittlerweile nur noch 26 Prozent der
Bevölkerung rauchen und dass die Zahl der Jugendlichen, die nie eine Zigarette in der Hand gehabt haben,
auf mittlerweile weit über 60 Prozent gestiegen ist?
Diese Ergebnisse beruhen auf Aufklärungsmaßnahmen,
die auf Einsicht und Überzeugung statt auf gesetzliche
Maßnahmen setzen.
Herr Parr, das, was Sie gerade gesagt haben, ist eine
einseitige Darstellung.
({0})
Es ist tatsächlich so, dass die Zahl der Jugendlichen, die
nie eine Zigarette in die Hand genommen haben, steigt.
Aber 40 Prozent nehmen eben doch eine Zigarette in die
Hand. Diese Gruppe wird immer jünger - auch im jugendlichen Alter wird schon regelmäßig geraucht - und
sie raucht immer öfter.
({1})
Sie werden mir sicher Recht geben - das ist auch das
Ziel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung -,
wenn ich sage: Kampagnen und Aufklärung sind richtig
und wichtig. Aber ebenso wichtig ist eine Unterstützung
für das Nichtrauchen dadurch, dass Werbung für Zigaretten verboten wird.
({2})
Es ist vorhin schon darauf hingewiesen worden, dass
Deutschland gegen die EU-Tabakwerberichtlinie geklagt
hat. Das habe ich stets für falsch gehalten. Auch wenn
der Hintergrund dieser Klage juristischer Art ist, ist dieses Vorgehen als mangelnder Wille verstanden worden,
das Rauchen einzudämmen. Ich begrüße es, dass die
Bundesregierung diesen Verdacht nun ausräumt, auch
wenn die Klage offiziell nicht zurückgezogen ist.
Als Ärztin lege ich besonderen Wert auf Prävention.
({3})
Dabei kann man feststellen: Rauchen ist ansteckend. Die
Auswertung der Angaben von 22 000 Studienteilnehmern aus Regionen in ganz Deutschland ergab: Besonders viel wird in den Großstädten geraucht, wo die
Dichte an Zigarettenwerbung und Zigarettenautomaten
sehr hoch ist.
({4})
In einer epidemiologischen Studie der Universität
Greifswald kommt man zu folgendem Ergebnis - ich zitiere -: Viele Raucher im Bekanntenkreis oder im Stadtbild regen zur Nachahmung an. Wir wissen jetzt, wo
Prävention am nötigsten ist, und fordern eine stärkere
Ächtung von Tabakwerbung und Rauchen in öffentlichen Räumen.
Werbung für Tabakwaren ist auch nach dem InKraft-Treten dieses Gesetzes leider immer noch möglich, da wir die Umsetzung der EU-Richtlinie eins zu
eins vornehmen. Davon bleiben aber nationale Regelungen unberührt. Nach wie vor kann mit Plakaten im gesamten öffentlichen Raum für Zigaretten geworben werden. Kinder und Jugendliche können dem nicht
entgehen. Auf dem Weg zum Kindergarten, in der
Schule, in den Jugendklubs oder in der Disco werden
rauchende Menschen vorgeführt, die schön, jung, reich,
fröhlich und cool sind. Dagegen kommt die Erziehung
im Elternhaus und in den Institutionen sehr schwer an.
({5})
Aus meiner Sicht ist es deshalb unabdingbar, dass
dieses Haus in einem nächsten Schritt die Plakatwerbung
für Tabakwaren verbietet. Das liegt allein in der nationalen Gesetzgebungskompetenz, das nimmt uns keiner ab.
Ich bleibe trotzdem dabei: Die Änderung des bestehenden Vorläufigen Tabakgesetzes, die wir heute beraten,
unterstützt die Aktivitäten dieses Hauses zum Zurückdrängen des Rauchens in der Öffentlichkeit und damit
auch den Schutz vor den Folgen des Passivrauchens.
Dieses Gesetz leistet gerade für Jugendliche einen
Beitrag, Rauchen eine Absage zu erteilen und Nein zu
sagen, wenn ihnen eine Zigarette angeboten wird. Wenn
für das Rauchen nicht mehr geworben werden darf, ist
ein Rauchverbot leichter umzusetzen.
({6})
Schon Johann Wolfgang von Goethe wollte nicht passivrauchen. Ohne von der Gefahr wissen zu können,
schrieb er - ich zitiere -:
Wer ist denn imstande, in das Zimmer eines Rauchers zu treten, ohne Übelkeit zu empfinden?
Leider bleiben die Raucher nicht in ihren Zimmern.
Stattdessen tragen sie neben dem üblen Geruch zahllose
die Gesundheit schädigende Feinstaubpartikel in die
Atemluft ihrer Mitmenschen.
({7})
Ich trete deshalb mit vielen Kolleginnen und Kollegen dafür ein, dass öffentliche Gebäude und öffentliche
Verkehrsmittel rauchfrei werden.
({8})
Es darf niemand gezwungen sein, passiv rauchen zu
müssen, um am öffentlichen Leben in allen Facetten teilnehmen zu können. - Herr Parr, ich weiß nicht, ob im
Bundestag nicht noch geraucht wird. Ich persönlich
finde immer noch Räume - auch im Reichstagsgebäude -,
in denen geraucht wird. Wir sind also noch weit davon
entfernt, dass in allen öffentlichen Räumen nicht geraucht wird.
({9})
Das gilt auch, wenn man im Zug fährt. Auf der Strecke zwischen Dresden und Berlin, die ich regelmäßig
nutze, verkehren Züge mit Großraumwagen, in denen es
ein paar Raucherplätze und daneben auch Nichtraucherplätze gibt. Sie glauben doch nicht, dass der Rauch nicht
auch zu den Nichtrauchern zieht. Das ist doch lächerlich!
({10})
Wir - das heißt viele Kolleginnen und Kollegen hier
im Bundestag - sind der Meinung, dass wir nicht nur ein
Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden brauchen, sondern dass wir auch ein Rauchverbot in Gaststätten brauchen.
({11})
Wir müssen auch in Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass Beschäftigte in der Gastronomie tagtäglich
extrem gefährlicher Schadstoffbelastung ausgesetzt sind.
Diesen Zustand als Arbeitnehmer zweiter Klasse können
wir nicht verantworten.
Von einem Rauchverbot in Gaststätten würden übrigens alle profitieren, sowohl die Nichtraucher als auch
die Raucher. Viele Raucher unterstützen inzwischen unsere Aktivitäten. Von einem Rauchverbot würden - das
zeigen die Erfahrungen in den europäischen Nachbarländern deutlich - letztlich sogar die Gastronomen profitieren. Hinzu kommt, dass, perspektivisch gesehen, die
Aufwendungen des Gesundheitswesens für die Folgen
des Passivrauchens sinken werden. Das ist ein hoch erwünschter Nebeneffekt.
Frau Kollegin!
Das Erste Gesetz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes ist ein Schritt von mehreren, die getan werden müssen. Es schränkt die Tabakwerbung deutlich ein.
Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Bei der
Frage des Tabakkonsums herrscht eine recht unübersichtliche, teilweise auch etwas paradoxe Situation; ich
nenne nur wenige Beispiele:
Der Verbraucherschutzminister Seehofer initiiert eine
Nichtraucherschutzkampagne, klagt aber gleichzeitig
vor dem EuGH gegen das Tabakwerbeverbot.
({0})
Die Regierungskoalition lehnt Anträge zu einem nationalen Werbeverbot ab. Dann legt die Bundesregierung
einen Gesetzesentwurf vor - aber nur, um einer Klage
der Europäischen Kommission zuvorzukommen -, hält
jedoch gleichzeitig ihre eigene Klage beim EuGH aufrecht.
Das alles ist recht unübersichtlich seitens der Regierung. Andererseits erhebt und erhöht sie die Tabaksteuer angeblich, um die Krankenkassen zu finanzieren.
({1})
Dann verteilt sie das Geld wieder im Bundeshaushalt.
Die Rauchenden sind es letztlich, die den Staat durch
Steuern mitfinanzieren. Aus diesen Mitteln werden dann
aber noch immer Steuersubventionen für den Tabakanbau finanziert.
({2})
Die FDP ist gänzlich gegen ein Tabakwerbeverbot,
weil - und das ist interessant - sie keine Klassifizierung
des Staates akzeptiert, die Produkte in gute und böse einteilt. Sie vergisst dabei aber offenbar, dass die völkerrechtsverbindliche Drogenbekämpfung die strikte Trennung in legale und illegale Drogen vorsieht. Damit wird
das FDP-Postulat von der Selbstverantwortung des mündigen Menschen doch etwas unglaubwürdig und darüber
hinaus dazu beigetragen, dass eine beträchtliche Kriminalitätsrate in der Bevölkerung existiert.
({3})
Es stellt sich also genauso die Frage: Was will die FDP?
Wir Linke sagen: Trotz der bekannten beträchtlichen
individuellen gesundheitlichen Folgen, die auftreten
können, ist das Rauchen eine kulturell integrierte Droge.
Verbieten werden wir das Rauchen deshalb nie.
({4})
Was unserer Meinung nach jedoch verboten werden
muss, ist die Werbung für den Konsum eines offenkundig gesundheitsschädigenden Stoffes. Mehr noch: Wir
wollen vor allem auch Kinder und Jugendliche dadurch
schützen, dass ein unbefristetes Verbot der Werbung in
allen Printmedien und Kinos greift. Auch Großveranstaltungen sollen nicht gesponsert werden dürfen. Ebenso
muss verboten sein, dass Tabakerzeugnisse kostenlos abgegeben werden. Auch ich selber bin der Meinung, dass
es schöner ist, in einem Tabakfachgeschäft einzukaufen,
als überall auf Zigarettenautomaten zu stoßen. Darüber
hinaus wäre das ein guter Präventionseffekt.
Wir alle machen uns bewusst, wie gesundheitsschädlich das Rauchen ist. Wir wissen auch, dass den Zigaretten nach wie vor Krebs und Sucht erzeugende Stoffe
beigemengt werden, was vor allen Dingen darauf abzielt,
Kinder und Jugendliche abhängig zu machen.
Nach Betrachtung der Vorgänge hier im politischen
Raum finde ich, dass man sich schon für ein konsequentes Werbeverbot aussprechen muss. Nur ein konsequentes Werbeverbot korrespondiert wirklich sinnhaft mit einem Gesetz zum Schutz Nichtrauchender, das von
einigen hier im Haus präferiert wird.
Ein Verbraucherschutzminister, der gegen das Tabakwerbeverbot auf EU-Ebene klagt und hier nur wegen
drohender Regresszahlungen ein Gesetz vorlegt, ist
nicht glaubwürdig und auch nicht konsequent. Ich bin
der Meinung, der Staat muss immer - auch in der Tabakpolitik - Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit für sein Tun beanspruchen können. Die Eingriffstiefe einer gesetzlichen
Verbotsregelung muss ihre Rechtfertigung finden. Diese
Rechtfertigung kann hier darin bestehen, dass es sich um
Gesundheitsschutzmaßnahmen handelt.
Wie dem auch sei, der vorliegende Gesetzentwurf findet unsere Unterstützung. Ich möchte im Übrigen empfehlen, dass die Regierung in Bezug auf ihr Verhalten
gegenüber der Kommission einmal darüber nachdenkt,
ob sie mehr oder weniger Regelungskompetenz in Brüssel angesiedelt sehen möchte. Schaut man sich ihr vehementes Eintreten für den gescheiterten Verfassungsentwurf - in Deutschland ist er übrigens noch nicht
ratifiziert - an, dann muss man schon sagen, dass sie auf
europäischer Ebene eine stimmige Verbraucherschutzpolitik bisher nicht entwickelt hat.
Danke.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschland ist bis heute für die Tabakindustrie die Insel der Seligen. Man muss sagen: Dieser Bundesregierung muss jede fortschrittliche Maßnahme zum
Mindestschutz der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der Jugendlichen, vor dem Passivrauchen abgerungen werden.
({0})
Ich danke natürlich auch den Kolleginnen und Kollegen,
die sich dafür einsetzen.
Die FDP und gerade diese Bundesregierung stellen
die gesundheitspolitische Forderung auf, dass diejenigen
stärker belastet werden, die an Krebs erkrankt sind und
sich nicht ausreichend geschützt haben.
({1})
Außerdem fordern Sie mehr Selbstverantwortung.
Gleichzeitig verhindern Sie mit Ihrer Weigerung,
Schutzmaßnahmen zu beschließen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Selbstverantwortung auch wahrnehmen können. Das ist ein unglaublicher Zynismus, der da
betrieben wird.
({2})
Sie, die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen,
aber auch die FDP, sind in der Pflicht, solche Maßnahmen zu ergreifen, die diesen Selbstschutz ermöglichen.
Das bedeutet insbesondere die Einschränkung von Werbung. Wir diskutieren hier über die Umsetzung der
EU-Tabakwerberichtlinie; der Gesetzentwurf soll heute
verabschiedet werden. Ich meine, das ist allenfalls ein
erster Schritt.
({3})
Dass Jugendliche Opfer der Werbung sind und zum
Rauchen verführt werden, ist inzwischen erwiesen. Die
Wirksamkeit der Werbung belegen zum Beispiel die
vorgelegten Studien. Die Tabakindustrie hat in den
90er-Jahren eine halbe Milliarde D-Mark in Tabakwerbung investiert. Dieses Geld hat sie nicht investiert, damit die Werbung nicht wirkt, sondern damit sie erfolgreich ist. Das war sie auch. Was sind dagegen die
2,5 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen, die
dann bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ausgegeben wurden?
({4})
Das ist doch alles lächerlich. Gegen eine Industrie, die
Milliarden massiv für die Tabakwerbung einsetzt, können Sie nicht auf Aufklärung setzen.
({5})
Im Übrigen werden nicht nur Jugendliche von den
Aktivitäten der Tabakindustrie und dem Lobbyismus gefangen, sondern auch die Abgeordneten. Wir werden uns
die Formulierungen im Gesetz zum Schutz vor Passivrauchen, die Sie uns vorlegen wollen, genau ansehen.
Aber man muss ganz klar sagen: Für den Bereich der
Gastronomie ist das fast eine Eins-zu-eins-Umsetzung
der Forderungen des Verbandes der Zigarettenindustrie.
Unsere Motivation, hier tätig zu werden - das gilt für
viele Abgeordnete -, sind die Arbeitnehmerinnen in
der Gastronomie. Da arbeiten etwa 8 000 schwangere
Frauen, die vom Zigarettenrauch betroffen sind. Viele
dieser Frauen arbeiten in den Bereichen, die Sie nun ausgerechnet nicht schützen wollen.
({6})
Wie wollen Sie auch unter Berücksichtigung Ihrer Gesundheitspolitik verantworten, dass diese Frauen unter
solchen Bedingungen arbeiten müssen? In anderen Bereichen dürfte kein Mensch unter solchen Bedingungen
arbeiten. Deswegen ist das, was Sie da vorlegen, wie ich
finde, nicht ausreichend.
({7})
Noch ein letztes Wort zur Tabakwerbung. Da gebe ich
dem Staatssekretär Müller ausdrücklich Recht. Das gilt
auch für Herrn Minister Seehofer, der gesagt hat: Wir
hatten über viele Jahre den Versuch mit der Selbstverpflichtung der Tabakindustrie. All das hat keinen Erfolg gezeigt. Das haben wir auch bei der Selbstverpflichtung der Tabakindustrie gesehen, keine Werbung vor
Jugendeinrichtungen zu platzieren; das „Forum Rauchfrei“ hat mehrmals darauf hingewiesen. Gerade gestern
hat es wieder einmal Beschwerde gegen die Werbung
von Philip Morris vor einer Grundschule in der Urbanstraße in Kreuzberg eingelegt. - So viel zur Selbstverpflichtung.
Wir müssen dazu kommen, dass das, was jetzt EUweit gilt, auch national umgesetzt wird. Es gilt also, national zusätzlich das Verbot von Werbung auf Plakaten
zu erlassen, eine Begrenzung in Kinos einzuführen
Frau Kollegin!
- ja - und das Sponsoring im Inland genauso zu verbieten wie auf der Europaebene.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Vorläufigen Tabakgesetzes, Drucksache 16/1940. Der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3201 ({0}), den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in der zweiten Beratung mit den Stimmen der
Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der GesetzentVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
wurf ist damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/3329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
Der Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt.
Unter Nr. II seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Gesetzentwurf der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes auf Drucksache 16/1068 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und
FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten
- Drucksache 16/2922 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/3320 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ralf Brauksiepe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Es ist wirklich ein Jammer, nicht nach
FDP- und PDS-Rednern sprechen zu dürfen. Sie liefern
einem immer noch Steilvorlagen. Schade, das entfällt
heute.
({0})
Die Aktionäre deutscher Unternehmen sollten sich
glücklich schätzen, dass es hier Aufsichtsräte gibt.
Sie sollten auch die Mitbestimmung lieben lernen.
Gewiss sind Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaftsfunktionäre in den Aufsichtsräten lästig. Sie
bieten aber auch Schutz gegen die allzu große
Selbstherrlichkeit der Chefs.
Das war in der „Financial Times Deutschland“ vom
14. Januar 2003 zu lesen, also in einer Zeitung, der Arbeitnehmernähe sicherlich nicht zugeschrieben werden
kann. Es sind wahrlich kluge Sätze, die da niedergelegt
sind.
Die Auseinandersetzungen um die Unternehmensmitbestimmung halten seit Jahren an. Zuletzt wurde dies
beim Deutschen Juristentag im September deutlich. Pround Kontrapositionen standen sich hier so vehement gegenüber, dass es zu keiner Beschlussfassung kam.
Die Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen an Unternehmensorganen ist kein auf Deutschland begrenztes Phänomen. In zahlreichen EU-Ländern
finden sich Vertretungsmodelle. Von den 25 EU-Ländern
haben elf eine starke Grundlage für Unternehmensmitbestimmung mit mindestens einer Drittelbeteiligung von
Arbeitnehmern im höchsten Unternehmensorgan. In
weiteren sieben Ländern gibt es ein mittleres Niveau an
Unternehmensmitbestimmung. Diese erleichtern zum
Teil, wie beispielsweise Frankreich, die Vertretung von
Belegschaftsaktionären. Auch von den neuen Mitgliedstaaten kennen lediglich vier Länder keine oder nur
schwache Mitbestimmungsrechte. Die Mitbestimmung
ist also keinesfalls ein Sondermodell Deutschlands, wie
so oft behauptet wird.
({1})
In der Tat ist allerdings die paritätische Unternehmensmitbestimmung nur in Deutschland und Slowenien
weit verbreitet,
({2})
Aber auch andere Länder kennen eine starke Unternehmensmitbestimmung. Nur ein Beispiel: In Deutschland
gilt die paritätische Mitbestimmung für Unternehmen
mit mehr als 2 000 Beschäftigten und die Drittelbeteiligung für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten.
In Dänemark dagegen gilt die Drittelbeteiligung bereits
für Unternehmen mit mehr als 35 Arbeitnehmern, in
Schweden liegt der Schwellenwert bei sage und schreibe
25 Arbeitnehmern.
Den hohen Stellenwert einer Mitbestimmungskultur
hat auch der europäische Gesetzgeber erkannt. Dies
schlägt sich in der Verschmelzungsrichtlinie nieder, die
wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eins zu eins in
deutsches Recht übertragen. Mit der bei der Europäischen Gesellschaft gefundenen Kombination aus Verhandlungslösung und flankierender Auffangregelung ist
ein entscheidender Schritt zu einem sozialen Europa gelungen. Grundprinzip ist und bleibt das Vorher-Nachher-Prinzip. Damit werden die bestehenden Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
weitgehend gesichert. Es wird deutlich, dass Europa
keine Veränderung der nationalen Mitbestimmungsmodelle verlangt, sondern sie im Gegenteil akzeptiert und
schützen will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nachvollziehbar, warum die BDA fordert, bei der Umsetzung
der Verschmelzungsrichtlinie von der Umsetzung der
SE-Richtlinie abzuweichen.
({3})
Das Modell ist erfolgreich und es wird auch bei der Verschmelzung von Kapitalgesellschaften erfolgreich sein.
({4})
Der Verzicht auf eine Auffanglösung, wie von der BDA
gefordert, käme einem Ausverkauf der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleich. Wir würden die Mitbestimmung durch die Hintertür abschaffen.
({5})
Erste positive Erfahrungen bei der Neugründung
von SEs sind bereits zu verzeichnen. Bei Allianz, MAN
Diesel, Plansee und Elcoteq wurden Verhandlungen über
die neue Form der Mitbestimmung schnell und im Sinne
beider Parteien - also sowohl im Sinne des Managements als auch im Sinne der Arbeitnehmerseite - abgeschlossen. Die meisten großen SE-Gründungen haben
bislang in Ländern mit starken Mitbestimmungstraditionen stattgefunden. Das beweist doch, dass starke Mitbestimmungsrechte einer effizienten Unternehmensreorganisation nicht im Wege stehen.
({6})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Unsäglichkeit
Guido Westerwelle
({7})
hat erklärt, er wolle die Gewerkschaftsfunktionäre entmachten; sie seien die wahre Plage in Deutschland.
Guido Westerwelle will keine Gewerkschaftsvertreter im
Aufsichtsrat; von Fremdbestimmung ist die Rede.
Das ist blanker Unsinn.
({8})
Renommierte Arbeitgeber bekennen sich zu Gewerkschaftsvertretern im Aufsichtsrat. Ich zitiere den Telekom-Personalvorstand, Heinz Klinkhammer: Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat „halte ich für
unverzichtbar. Die haben einen Blick von außen und
können vermittelndes Element sein“.
({9})
Auch mögliche Interessenkonflikte der Gewerkschaftsvertreter werden als weiteres Gegenargument ins
Feld geführt. Interessenkonflikte bestehen aber auch bei
anderen Aufsichtsratsmitgliedern. Die Großbanken beispielsweise sind in den meisten Aufsichtsräten vertreten.
Wer garantiert, dass die Banken ihr Interesse zum Wohle
des jeweiligen Unternehmens hintanstellen? Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen 1979 das Mitbestimmungsgesetz klar als verfassungsgemäß anerkannt,
auch die Externenregelung in § 7.
Meine Damen und Herren der FDP, für Sie ist das
Einprügeln auf die Mitbestimmung doch geradezu ein
Steckenpferd geworden.
({10})
Eins kann man Ihnen nicht vorwerfen, nämlich dass Ihre
Feindbilder nicht klar aufgebaut sind.
Entgegen einer landläufigen Annahme gibt es jedoch
keine empirisch nachweisbare Erforderlichkeit, Regelungsinstrumente der deutschen Mitbestimmung zu
überarbeiten. Die neuesten internationalen Untersuchungen zeigen vielmehr, dass Deutschland aus Investorensicht der attraktivste Investitionsstandort in Europa ist.
Weltweit rangiert Deutschland nach den USA und China
an dritter Stelle. So die Ergebnisse der aktuellen Umfrage „Kennzeichen D: Standortanalyse 2006“, die Ernst
& Young durchgeführt haben.
Amerikanische Unternehmer halten Deutschland für
den bevorzugten Holdingstandort. Das zeigt das aktuelle Businessbarometer der amerikanischen Handelskammer. Gerade die hohe Bewertung Deutschlands als
Standort von Verwaltungszentralen spricht gegen einen
negativen Einfluss der Unternehmensmitbestimmung bei
der Standortwahl.
({11})
Meine Damen und Herren der FDP, Sie, die die paritätische Mitbestimmung als Irrweg bezeichnen und ihr
den Garaus machen wollen, führen regelmäßig die Studie der Federal Reserve Bank of St. Louis aus dem Jahr
2002 an. Danach soll die Unternehmensmitbestimmung
die Kapitalbeschaffung hemmen und den Aktienkurs
senken. Im Gegensatz zu dieser Studie ziehen einige
neuere Studien den Schluss, dass es keine „Börsen-Discount-Wirkung“ der Unternehmensmitbestimmung gibt.
({12})
Frick kommt in einer Untersuchung von 2004 - wir
hatten ihn im Übrigen hier bei der Sachverständigenanhörung - zu dem Ergebnis:
Einzelne Gerichtsurteile zur Mitbestimmung im
Aufsichtsrat beeinflussen den Kurs börsennotierter
Aktiengesellschaften ebenso wenig wie die Einführung und die höchstrichterliche Bestätigung des
Mitbestimmungsgesetzes die Kapitalmarktperformance der davon besonders betroffenen Branchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die SPD sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die wichtigste Ressource eines
Unternehmens.
({13})
Arbeitnehmer wollen qualifiziert, motiviert und eigenverantwortlich arbeiten. Nachhaltiges Wachstum ist eher
zu erreichen, wenn die Menschen an den grundsätzlichen Unternehmensentscheidungen beteiligt sind. Die
vereinbarte Regelung zur Verschmelzungsrichtlinie ist
ein wichtiger Schritt, um Mitbestimmungsrechte zu siAnette Kramme
chern. Sie ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu
einem sozialen Europa.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen!
Werte Gäste! Ich beginne mit einem Zitat:
Es gibt keine … Grundlage dafür, zu glauben, wir
wären eine Insel in Europa und könnten noch etwas
regeln. Das wird nicht der Fall sein. Verantwortlich
handelt der, der der Unternehmensmitbestimmung
eine europäische Perspektive bietet.
So weit - man beachte - die Worte von Herrn Röttgen,
CDU, am 29. Oktober 2004. Recht hat er. Jetzt müssten
Sie nur noch danach handeln.
({0})
Aber wie Sie handeln, kennen wir schon von Ihrem
Wahlversprechen bezüglich der Merkel-Steuer.
Die FDP-Fraktion hält es nach wie vor für falsch, die
Ergebnisse der Biedenkopf-Kommission zum Ende des
Jahres abzuwarten. Diese Kommission befasst sich mit
der Zukunft der Mitbestimmung vor dem Hintergrund der
Globalisierung. Der Sachverständige Professor Dr. Nagel
meinte, dass dies nationale Fragen seien, während wir
heute über grenzüberschreitende Sachverhalte reden, und
dass deshalb der vorliegende Gesetzentwurf unabhängig
von den Ergebnissen der Biedenkopf-Kommission
schnell beschlossen werden sollte. Heute kann man um
die ganze Welt fliegen. Ostsee-Shrimps werden zum Pulen nach Thailand verschifft. Da kann man nicht mehr
zwischen nationalen und internationalen Bezügen unterscheiden. Es geht schließlich um die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen.
Einstimmig hörten wir von den Sachverständigen in
der Anhörung, dass im Grunde alle wissenschaftlichen
Studien zu dem Ergebnis kommen, dass die Mitbestimmung positive Auswirkungen hat. So weit die Wissenschaft. Erst gestern haben wir hingegen vom Institut der
deutschen Wirtschaft gehört, dass die paritätische Mitbestimmung die Unternehmen im internationalen Vergleich
und bezüglich des Wettbewerbs benachteiligt. Laut einer
Umfrage des IW sieht die Hälfte der befragten Firmen
durch die Mitbestimmung Investitionsentscheidungen
verzögert. Das ist die Realität in den Unternehmen.
({1})
Der Sachverständige Professor Dr. Frick äußerte die
Auffassung, dass paritätisch mitbestimmte Unternehmen
nicht schlechter seien als drittelparitätisch bestimmte.
Doch wo liegt dann der Nutzen der paritätischen Mitbestimmung? Das kann doch kein Selbstzweck sein. Wenn
wir hier diskutieren, welche Studien mitbestimmte, nicht
mitbestimmte und drittelmitbestimmte Unternehmen negativ oder positiv bewerten, dann muss man fragen: Was
hilft das den Menschen, die keine Arbeit haben?
({2})
An diesem Punkt gilt dasselbe, was auch beim Kündigungsschutz gilt: Ihr Fehler ist, dass Sie sich nicht in die
Lage der ausländischen Investoren versetzen. Für den
ausländischen Investor ist es egal, ob er in Spanien, in
der Tschechischen Republik oder in Deutschland investiert. Lassen Sie mich an dieser Stelle den Sachverständigen Professor Dr. Thüsing zitieren: Meine Vorstellung,
dass ein englischer Fusionskandidat ein deutsches Unternehmen und vielleicht ein französisches Unternehmen
mit gleichen Bedingungen wählen kann und sich dann
aus Liebe zur deutschen Mitbestimmung für Deutschland entscheidet, entspricht nicht meinen Erfahrungen.
Von den Gralshütern der Mitbestimmung wird immer
wieder angeführt, dass sich durch die paritätische Mitbestimmung die Arbeitnehmer mit dem Betrieb identifizieren können. Das stimmt. Aber ich sage Ihnen: Eine Drittelmitbestimmung mindert den Grad dieser Identifikation
mit dem eigenen Betrieb nicht.
({3})
Dass sich die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit identifizieren
können, hängt von vielen Dingen ab, auch davon, dass
ihre Meinung gehört wird - aber nicht nur.
Auch wenn es alle anderen Fraktionen in diesem
Haus gerne so darstellen, weil es ein schönes Feindbild
ist: Wir, die FDP, sind für Mitbestimmung.
({4})
Wir sind Befürworter der Mitbestimmung. Aber wir sehen auch die Realität. Wir wollen weder dem Arbeitnehmer die Mitsprache streitig machen noch glauben wir,
dass sich damit alle Probleme lösen ließen. Wir wollen
Deutschland zukunftsfest und wettbewerbsfähig machen. Jedes Gesetz, das auch nur einen Arbeitsplatz verhindert - wie ebendieses -, darf eigentlich nicht beschlossen werden.
({5})
Zur Auffangregelung. Solange die Auffangregelung
in dem geplanten Umfang vorgesehen ist, werden Verhandlungen kaum Erfolg bringen. Wie brachte es der
Sachverständige Professor Thüsing auf den Punkt: Welchen Verhandlungsanreiz hat derjenige noch, der das
Maximum schon erreicht hat? Wenn ein Scheitern der
Verhandlungen bedeutet, dass wieder die deutsche paritätische Mitbestimmung greift: Wo liegt dann der Anreiz, zu verhandeln?
CDU, CSU und SPD haben im Koalitionsvertrag festgelegt, sie wollten sich dafür einsetzen, dass das europäische Gesellschaftsrecht durch eine zügige Verabschiedung der Richtlinie über die grenzüberschreitenden Sitzverlegungen von Kapitalgesellschaften weiterentwickelt
wird. Diesen Anspruch erfüllt das vorliegende Gesetz
nicht. Der Sachverständige Wolf meinte: Die Umsetzung
der Verschmelzungsrichtlinie wäre dann gelungen, wenn
man die Flexibilitätsreserven, die in der Verschmel6178
zungsrichtlinie vorhanden sind, umsetzt. - Das machen
Sie an vielen Punkten nicht.
({6})
Ich habe schon im ersten parlamentarischen Durchgang gesagt, dass die gegebenen Flexibilitätsspielräume
hätten genutzt werden müssen, um bei der Verschmelzung Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen
zu verhindern. Sonst verhindert man die Schaffung
neuer Arbeitsplätze. Der vorliegende Gesetzentwurf
zeigt: Sie denken, alle Welt warte nur auf unsere deutsche Mitbestimmung. Das ist aber nicht so. Sie meinen,
Sie könnten die deutsche Mitbestimmung in alle Welt
exportieren, obwohl sich die Welt um uns herum ändert.
Für diejenigen, die darauf nicht reagieren, gibt es einen
Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. In diesem Sinne ein freundliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({7})
Der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Nachdem der Kollege Haustein mit
einem freundlichen Glückauf aus dem Erzgebirge geschlossen hat, will ich mit einem freundlichen „Grüß
Gott“ aus dem fränkischen Weinland beginnen.
({0})
- Nein, ich habe keinen Wein mitgebracht.
Mitbestimmung ist in diesem Hohen Hause konsensfähig. Das entnehme ich allen Äußerungen, die ich bisher von der SPD, von den Grünen, von uns sowieso, aber
auch von der FDP und von der Linkspartei ohnedies gehört habe. Herr Kolb, die Frage ist nur: Wie? Da haben
Sie völlig Recht. Europas Wirtschafts- und Arbeitswelt
befindet sich mitten in einem tief greifenden Wandlungsprozess, der auch Deutschlands Unternehmen seit geraumer Zeit voll erfasst hat. Hier werden Sie mir Recht
geben. Das Stichwort ist Internationalisierung. Großunternehmen fusionieren über die Grenzen, deutsche
Unternehmen wie MAN Diesel und Allianz wandeln
sich in Europäische Gesellschaften um. In den Sog der
Wandlung gerät zwangsläufig auch die Mitbestimmung
der Arbeitnehmer. Entwicklungen von einer solchen Dynamik und Tragweite erfordern somit grenzübergreifende Beobachtung und Regelung, damit in vielen Jahren Erworbenes nicht unter die Räder gerät. Herr Ernst,
bei Mitbestimmung sollten Sie aufpassen. Das ist Ihr
Thema. Ich weiß, Sie sprechen nach mir.
Hier setzt die EU-Richtlinie 2005/56/EG an. Sie soll
- auf deutsches Recht übertragen - die grenzüberschreitende Verschmelzung deutscher Kapitalgesellschaften
mit Kapitalgesellschaften anderer EU-Mitgliedstaaten
regeln. Die Richtlinie normiert damit erstmals gemeinsame Rahmenbedingungen für diesen Vorgang und
schafft - was rechtliche und tatsächliche Hindernisse betrifft - Abhilfe. Sie enthält die gesellschaftsrechtlichen
Grundregeln über Verfahren, Wirksamwerden und
Rechtsfolgen einer grenzüberschreitenden Verschmelzung und für die daraus hervorgehende nationale Gesellschaft.
Ich begrüße außerordentlich, dass die Bundesregierung Art. 16 der Richtlinie in einen gesonderten Gesetzentwurf übertragen hat. Er regelt die Auswirkungen
grenzüberschreitender Verschmelzungen auf die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer und wird so seiner
Bedeutung entsprechend herausgestellt. Die betriebliche
Mitbestimmung wird, wie schon die erste BiedenkopfKommission 1972 in ihrem Sachverständigenbericht
vorgelegt hat, durch vier zentrale Zwecke gerechtfertigt:
die Menschenwürde, das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Demokratisierung und die Machtbindung. Diese
Grundsätze gelten weiter und sind Teil unseres Sozialstaatprinzips.
Die Union hat die betriebliche Mitbestimmung mit
auf den Weg gebracht. Sie fühlt sich dieser Tradition
auch weiterhin verpflichtet.
({1})
- Die FDP darf auch klatschen, sie war dabei.
({2})
- Herr Kolb, hier können Sie ruhig mitklatschen.
Mitbestimmung gehört zu einem sozialen und wirtschaftlich erfolgreichen Europa. Es ist deshalb ganz in
unserem Sinne, wenn dieses Europa die nationalen Mitbestimmungsmodelle anerkennt und sichern will. Es ist
gut, wenn die europäische Verschmelzungsrichtlinie nun
zügig umgesetzt wird. Zu deren Inhalt ist grundsätzlich
zu sagen, dass aus einer grenzüberschreitenden Verschmelzung keine europäische, sondern eine nationale
Rechtsform hervorgeht. Das unterscheidet sie von der
Europäischen Gesellschaft oder der Europäischen Genossenschaft. Da in den Mitgliedstaaten der EU unterschiedliche Mitbestimmungsregeln gelten, kann es geschehen, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmer
einer der beteiligten Gesellschaften bei Anwendung des
jeweiligen nationalen Rechts eingeschränkt wird. Der
europäische Gesetzgeber will dem mit seiner Richtlinie
vorbeugen, indem er die Mitbestimmung im Fall einer
Verschmelzung auf dem Verhandlungsweg sichern will.
Für die Mitbestimmungsverhandlungen gelten die
folgenden Voraussetzungen:
Erstens. Eine der an der Verschmelzung beteiligten
Gesellschaften ist mitbestimmt und hat in den sechs Monaten vor der Verschmelzung mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt.
Zweitens. Das innerstaatliche Recht, das für die aus
der Verschmelzung entstandene Gesellschaft maßgeblich
ist, gewährleistet nicht mindestens den gleichen Umfang
an Mitbestimmung, wie er in den beteiligten GesellPaul Lehrieder
schaften bestand. Grundlegend ist das Vorher-nachherPrinzip, nach dem sich die vorhandenen Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer auch in der aus der Verschmelzung hervorgegangenen Gesellschaft wiederfinden müssen.
Eingeleitet werden die Mitbestimmungsverhandlungen mit den Arbeitnehmern von der Unternehmerseite.
Sie informiert die betroffenen Arbeitnehmervertretungen
über das Verschmelzungsvorhaben sowie über die Identität der beteiligten Gesellschaften und die Zahl der Beschäftigten. Auf Unternehmensseite werden die Verhandlungen von den Leitungsorganen der beteiligten
Gesellschaften geführt. Auf Arbeitnehmerseite ist ein
besonderes Verhandlungsgremium zu errichten. Dabei
sollen alle Arbeitnehmer der betreffenden Gesellschaften im Verhandlungsgremium repräsentiert sein.
Praxisnahe Verhandlungslösungen haben immer
Vorrang vor gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen.
Da die zugrunde liegende Richtlinie lediglich Mindestvorgaben aufstellt, ist es in den Verhandlungen möglich,
praxisnah auf die spezielle Situation der geplanten Gesellschaft einzugehen. Auf diese Weise können neben
bewährten Mitbestimmungssystemen, die auch schon
bisher flexible Lösungen im Sinne der Arbeitnehmer ermöglichten, gegebenenfalls Mischformen oder neue
Konzepte und Verfahren entwickelt werden.
Sollte eine Verringerung bestehender Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer beschlossen werden,
sieht die Richtlinie besondere Abstimmungsregelungen
im Verhandlungsverfahren vor. Erforderlich ist dann
eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des besonderen Verhandlungsgremiums, die wiederum zwei Drittel der Arbeitnehmer vertreten und aus
mindestens zwei Mitgliedstaaten kommen. Der Grundgedanke des Schutzes erworbener Rechte bleibt somit
gewahrt.
In der schriftlichen Vereinbarung zwischen den Unternehmensleitungen und dem Verhandlungsgremium
soll erstens der Geltungsbereich der Vereinbarung, zweitens der Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Vereinbarung und ihre Laufzeit, drittens die Zahl der Mitglieder
des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans, viertens das
Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder
wählen, und fünftens die Rechte dieser Mitglieder festgelegt werden.
Erst nachdem das Verfahren über die Mitbestimmung
abgeschlossen ist, kann eine aus der Verschmelzung hervorgegangene Gesellschaft registriert werden. Scheitert
der Verhandlungsprozess, der bis zu sechs Monate dauern kann, tritt eine Auffangregelung zur Sicherung der
Mitbestimmungsrechte in Kraft.
Bei innerstaatlichen Verschmelzungen, die einer
grenzüberschreitenden Verschmelzung folgen, richtet
sich die Mitbestimmung primär nach den nationalen
Regelungen, also in Deutschland nach den Mitbestimmungsgesetzen. Nur wenn diese den Mitbestimmungsumfang nicht hinreichend sichern, gilt die Mitbestimmung kraft Vereinbarung oder Auffangregelung - Frau
Kollegin Kramme hat hierauf bereits hingewiesen -, die
in der aus der Verschmelzung entstandenen neuen Gesellschaft besteht, und zwar für einen Zeitraum von drei
Jahren nach deren Eintragung.
Noch kurz etwas zu den Kosten des Gesetzes. Die für
Kapitalgesellschaften anfallenden Kosten, zum Beispiel
für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat, entstehen auch bei einer innerstaatlichen Verschmelzung. Wie hoch diese letztlich sind, hängt vom konkreten Einzelfall ab. Eine Rolle spielt zum Beispiel, wie
viele Gesellschaften an einer Verschmelzung beteiligt
und wie groß diese sind. Darüber hinaus baut die Wahl
von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat, die aus
dem Inland kommen, auf bestehende Arbeitnehmerstrukturen auf und ist auch deshalb kostengünstig.
Sicher ist an der vorgesehenen Umsetzung der so genannten Verschmelzungsrichtlinie noch nicht alles optimal. Einiges, gerade was die Mitbestimmung betrifft,
wird weiter beobachtet und reguliert werden müssen. Ich
denke hier zum Beispiel an mittelfristige Auswirkungen
auf die Arbeitsbedingungen im nationalen Bereich und
an die Tarifautonomie.
Alles in allem ist der vorliegende Entwurf ein gelungener Schritt, Mitbestimmung auch unter sich verändernden Rahmenbedingungen und in internationalem
Rahmen zu gewährleisten.
({3})
Gerade aus dem Ziel der Rechtssicherheit heraus ist es
deshalb geboten, diesem Gesetz zuzustimmen.
Danke schön. - Frau Präsidentin, nachdem Sie als
Fränkin
({4})
die Uhr wegen meiner freundlichen Begrüßung zwei Minuten später eingestellt haben, beende ich meine Rede
etwas eher.
({5})
Herr Kollege, wir sehen hier natürlich, dass Sie keine
Redezeit übrig gelassen haben.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Fraktion
Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Mitbestimmung ist ein elementarer Baustein
unserer Demokratie und der Wirtschaft. Ich möchte aber
hier auf einen kleinen Etikettenschwindel, den wir auch
beim Kündigungsschutz haben, aufmerksam machen. Jeder, der von Mitbestimmung ein wenig versteht, weiß,
dass es sich dabei nicht um eine echte Mitbestimmung
im Sinne von Parität handelt. Jeder, der wirklich etwas
davon versteht, weiß vielmehr, dass der Vorsitzende
nach dem Mitbestimmungsrecht immer von der Arbeit6180
geberseite kommt, damit ein Zweitstimmrecht hat und
die Arbeitnehmerseite, selbst wenn sie sich einig wäre,
obwohl ein leitender Angestellter dazugehört, immer
überstimmen kann. Es gibt also keine Mitbestimmung,
sondern nur ein Informationsrecht. Es ist dringend notwendig, dass ein solches Recht eingeräumt wird. Eigentlich wäre es noch viel notwendiger, für echte Mitbestimmung zu sorgen, indem man eine echte Parität schafft.
Die Gegner der Mitbestimmung sollten sich überlegen, ob nicht die Abschaffung oder das Schleifen des
Mitredens im Betrieb, selbst wenn es heute keinen echten Einfluss garantiert, zu einer Situation führt, in der
sich nur der Herr im Hause mit seinem Standpunkt
durchsetzt. Wäre es tatsächlich modern, wenn der Eigentümer eines Betriebs oder seine Vertreter sagen könnten,
wo es langgeht, ohne dass die Arbeitnehmer Einfluss haben und sich wehren können?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Sehr gerne.
Herr Kollege Ernst, Sie stellen die Parität infrage und
bezweifeln, dass sie eine echte Mitbestimmung gewährleistet. Können Sie mir erklären, welchen Unterschied es
dann macht, ob es eine Drittelparität und eine Vollparität
gibt?
Das erkläre ich Ihnen gerne. Wenn mehr Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat sitzen - die Mitbestimmung
im Aufsichtsrat gewährleistet eine formale, nicht aber
eine echte Parität -, können natürlich auch mehr Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat mitentscheiden.
({0})
- Wenn Sie eine Antwort von mir wollen, müssen Sie
zuhören. - Damit wird vermieden, dass sich Politik in
kleinen Zirkeln abspielt, wie es bei den Arbeitgebern in
der Regel der Fall ist. Wenn wir die Mitbestimmung an
dieser Stelle ausweiteten, würden wir den Arbeitnehmern im Aufsichtsrat, insbesondere wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen geht, mehr Möglichkeiten geben.
Dann würden Vorgänge wie jene bei BenQ und bei anderen Unternehmen in dieser Republik nicht derart negative Folgen haben. Wenn die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat die Möglichkeit zur echten Mitbestimmung
hätten, würden sie kaum wie die Kapitaleigner für eine
Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland stimmen, um
mehr Rendite einzufahren.
({1})
- BenQ ist in Insolvenz gegangen, weil zum Beispiel die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Siemens nicht
ausreichte, um so etwas zu verhindern.
({2})
Ich verstehe Ihre Frage so, dass Sie mit mir dafür kämpfen wollen, dass sich etwas ändert. Das können wir machen.
Wie beim Kündigungsschutz stellen sich bei der Mitbestimmung die Verhältnisse anders dar, als der Titel des
Gesetzentwurfs vermuten lässt. Bereits in erster Lesung
haben wir daran erinnert, dass der hohe Anteil ausländischer Konzerne, die in Deutschland tätig sind und dem
Mitbestimmungsrecht unterliegen, dafür spricht, dass
das deutsche Modell der Mitbestimmung, wie es sich
momentan darstellt, erfolgreich ist. Von den 767 Unternehmen, die dem deutschen Mitbestimmungsgesetz unterliegen, gehören rund 30 Prozent zu ausländischen
Konzernen. Nach einem Gutachten von Professor
Kempen zeigen zudem aktuelle Untersuchungen, dass
Deutschland aus Investorensicht der attraktivste Investitionsstandort in Europa ist, weltweit rangiert er
an dritter Stelle, nach den USA und China.
Wir haben also nicht das Problem, dass wir uns zurückhalten müssen.
Die Linke begrüßt die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, die Interessenvertretung der Beschäftigten auch
im Verschmelzungsfall sicherzustellen. Zur vollständigen Einlösung dieses Anspruchs sollten einige Regelungen noch präziser gefasst werden. Insbesondere ist die
Festlegung notwendig, dass dem nach einer Verschmelzung fortbestehenden Gesamtbetriebsrat ein autorisierter Gesprächs- und Verhandlungspartner gegenübersteht. Geschieht dies nämlich nicht, läuft die im
Gesetzentwurf vorgesehene Bewahrung der Arbeitnehmervertretung unter Umständen darauf hinaus, dass
zwar die Arbeitnehmervertretung fortbesteht, aber auf
der Unternehmerseite kein Verhandlungspartner existiert. Daher sollte das Gesetz sicherstellen, dass auch die
Leitung eines europäischen Unternehmens den
rechtlichen Verpflichtungen eines Arbeitgebers aus
der deutschen Gesetzgebung
nachkommt. Dies hat der Gutachter Hawreliuk in der
Anhörung vorgeschlagen.
Die Bundesregierung ist nicht nur gefordert, die Mitbestimmung auf europäische Unternehmen auszuweiten,
sondern auch, das deutsche Mitbestimmungsrecht europafest zu machen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Derzeit
ist es deutschen Unternehmen möglich, eine GmbH &
Co KG in eine britische Limited umzuwandeln und damit das deutsche Mitbestimmungsrecht zu umgehen. Ein
solches Mitbestimmungsdumping schadet der europäischen Idee und den betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern; es sollte unverzüglich durch den Gesetzgeber abgestellt werden.
Wir müssen nicht nur Mitbestimmungslücken schließen, sondern auch dafür Sorge tragen, dass zukünftig die
durch Beschäftigungsabbau und Unternehmensverlagerung entstehenden Risiken für die Beschäftigten stärker
als bisher zum Gegenstand der Mitbestimmung werden.
Die zunehmende Finanzmarktorientierung von UnterKlaus Ernst
nehmen bringt es mit sich, dass dem Ziel einer hohen Eigenkapitalrendite gute Arbeitsbedingungen und die Arbeitsplatzsicherheit geopfert werden. Ein Beispiel für
diese Politik habe ich Ihnen gerade gegeben. Aus Sicht
der Beschäftigten kann die Antwort auf diese Entwicklung nur in einem Ausbau der Mitbestimmung bei Standort- und Investitionsentscheidungen liegen.
Unser Fazit ist: Mitbestimmung ist gut für Beschäftigte und Unternehmen. Damit das so bleibt, muss die
Mitbestimmung weiterentwickelt werden. Dafür wird
die Linke gemeinsam mit den Gewerkschaften konkrete
Vorschläge entwickeln.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Häufige
Folge neuer europäischer Regelungen ist, dass sich die
Standards nicht im oberen Bereich ansiedeln, sondern es
zu so etwas wie einem Rennen nach unten kommt und
entsprechende Errungenschaften abgebaut werden. Bei
der Verschmelzungsrichtlinie und dem heute zu beratenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der Regelungen - ich
sage das ausdrücklich - ist das nicht der Fall.
Ich finde, es ist eine gute und richtige Entscheidung
- mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben das bereits gesagt -, dass man sich an dem Land orientiert, in
dem die Mitbestimmung auf dem höchsten Niveau ist.
Ich finde es gut, dass die Mitbestimmung nicht über die
Verschmelzungsrichtlinie ausgehebelt wird. Das halte
ich persönlich für eine richtige und gute Entwicklung.
({0})
Auf europäischer Ebene sollte das häufiger einmal der
Fall sein.
Herr Ernst hat gesagt, Mitbestimmung sei für die Arbeitnehmerseite heute so etwas wie Mitreden, ohne Einfluss nehmen zu können. Ich halte dieses Argument in
der Sache für völlig falsch. Herr Kollege Ernst, wir müssen doch gerade die Stärke des Mitbestimmungsrechts
besser in den Vordergrund rücken. Denn der Grund dafür, dass mitbestimmte Unternehmen in Deutschland
keine Standortnachteile und nachweislich keine schlechtere, sondern häufig eine bessere Performance als andere
Unternehmen haben, ist, dass eine ganze Reihe von Problemen infolge der Einbindung von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern in den Aufsichtsräten einer vernünftigen Lösung zugeführt werden können, was in anderen
Ländern so nicht der Fall ist. Mitbestimmung ist einer
der Gründe, warum das Risiko für Streiks in Deutschland weit geringer ist als in anderen Ländern.
({1})
Insofern halte ich Mitbestimmung anders als die FDP
nicht für einen Standortnachteil, sondern für einen
Standortvorteil.
({2})
Darüber hinaus sollten wir uns abgewöhnen, den Aufsichtsrat in ein Arbeitgeberlager und ein Arbeitnehmerlager zu unterteilen. Wir haben die Regelungen für Corporate Governance in den letzten Jahren ganz bewusst
geändert. Jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied als solches hat - auch das sollte man deutlich sagen - eine Verantwortung für das Unternehmen. Wenn man ein bisschen aus diesem Lagerdenken herauskommt, dann kann
ein Aufsichtsrat in der Regel auch besser funktionieren.
Im Extremfall kann man auch einmal vor Gericht stehen,
weil man im Aufsichtsrat eine nicht ganz so vernünftige
Entscheidung getroffen hat, wie im Falle des Kollegen
Zwickel, der zurzeit in Düsseldorf vor Gericht steht. Auf
der Anklagebank sitzt nicht nur Herr Ackermann. Nicht
nur er hat sich wegen der sehr hohen Abfindung bei der
Übernahme von Mannesmann durch Vodafone zu rechtfertigen.
({3})
Ich finde es bemerkenswert, dass die FDP die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
zentrales Problem der Aufsichtsratsarbeit ansieht, ihr
eine ganze Reihe anderer Punkte aber offensichtlich
ziemlich egal ist. Ich finde, dass es ein Problem unserer
Aufsichtsratsstruktur ist, dass 18 Manager allein 160 Aufsichtsratsmandate in der Hand haben. Das heißt, dass
sich in der Hand von wenigen, im Übrigen sehr alten
Männern ein erhebliches Entscheidungs- und Machtpotenzial ballt. Dass sie nicht immer sachgerechte und
vernünftige Entscheidungen treffen, sondern manchmal
auch nach Gutsherrenart entscheiden, kann man zurzeit
bei Herrn Piëch, bei VW, beobachten. Man kann es aber
auch bei dem einen oder anderen „Kleinfeld-Spieler“ in
der deutschen Wirtschaft ganz gut erkennen.
Ich meine, dass diese aus der Tradition der Deutschland AG, die sich längst aufgelöst hat, abgeleitete
Machtballung in den Händen weniger Aufsichtsratsmitglieder - im Grunde genommen bildet sich so etwas wie
ein Methusalem-Aufsichtsrat heraus - ein größeres Problem für die deutsche Wirtschaft ist und eher angegangen werden sollte.
({4})
Ich meine, dass wir den Einfluss der Manager auch hier
zurückdrängen können, indem wir die Zahl der Aufsichtsratsmandate, die jemand übernimmt, limitieren.
Das wäre eine Reform, die Standortvorteile mit sich
bringen würde.
({5})
Deutschland ist das Land, in dessen Wirtschaft
Frauen - im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern - den
geringsten Anteil an Führungspositionen haben. Wir
sind im Hinblick auf die großen Unternehmen sogar
schlechter als Saudi-Arabien. Die einzige Ausnahme
stellen die Aufsichtsräte dar - weil wir gesetzlich geregelt haben, dass sich die Zahl der Arbeitnehmervertreterinnen an der Zahl der weiblichen Beschäftigten des Unternehmens orientieren muss. Diese Regelung sollte man
auf die Arbeitgeberseite ausdehnen.
({6})
Es würde den Unternehmen nutzen, wenn mehr Frauen
in den Aufsichtsräten wären, insbesondere weil die alten
Männer, die heute das Sagen haben und viel Unfug machen, dann in den wohlverdienten Ruhestand geschickt
würden.
Vielen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Kollegen! Wir beraten heute abschließend über das Gesetz zur Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer
Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten. Ich hatte das besondere Vergnügen, in der ersten Lesung die Vor- und Nachteile dieses
Gesetzes ausführlich darlegen zu dürfen. Ich will mich
heute darauf beschränken, die Inhalte der Anhörung sowie die Beratungen im Ausschuss zu bewerten, und die
Kernpunkte herausarbeiten.
Bevor ich das tue, möchte ich einen Aspekt vorab
nennen, der in der Debatte bisher viel zu kurz gekommen ist. Wir bemängeln immer wieder, dass auf der europäischen Ebene die soziale Dimension nicht genügend
berücksichtigt wird - ein Urteil, das quer durch alle Parteien immer wieder geäußert wird. Man muss sich einmal fragen, warum das so ist, woran das liegt. Einer der
Gründe ist darin zu sehen, dass die Mitgliedstaaten die
ihnen eigene Zuständigkeit für die Sozialpolitik behalten
wollen. Damit geben wir der Europäischen Union wenig
Spielraum, sich in sozialpolitischen Angelegenheiten zu
profilieren.
Die Richtlinie, die wir in nationales Recht umsetzen,
ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich die Europäische Union, wenn sie die Möglichkeit bekommt, sehr
wohl um die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kümmert. In dieser Richtlinie wurde nicht
nur im Interesse der Gesellschafter bzw. der Aktionäre
eine Lücke im europäischen Gesellschaftsrecht geschlossen. Die Europäische Union hat sich dabei ganz
bewusst den Interessen der Arbeitnehmer und deren Vertretung angenommen. Diesen ganz zentralen Aspekt hat
in der ganzen Debatte kein einziger Redner angesprochen.
({0})
Als jemand, der auch für europapolitische Fragen zuständig ist, möchte ich noch einen anderen Aspekt aufgreifen: Es heißt immer wieder, die Europäische Union
ziehe Kompetenzen an sich, ohne den Grundsatz der
Subsidiarität zu beherzigen. Auch diese umzusetzende
Richtlinie zeigt, dass die Subsidiarität von der europäischen Ebene sehr wohl ernst genommen wird und dass
die Europäische Union dem nationalen Gesetzgeber oft
Handlungsspielräume lässt. Es war ja genau die Kritik
der FDP, wir hätten diese Handlungsspielräume nicht
konsequent genutzt.
Die Diskussion, die wir geführt haben, war insgesamt
sehr ideologiefrei. Die Partei Die Linke hat sogar selbst
eingeräumt - Kollege Dreibus hat das gestern in der
Ausschusssitzung deutlich gemacht -, dass sie in der
Anhörung von den Vorzügen der Mitbestimmung überzeugt werden konnte. Insofern hat sich die Anhörung für
Sie gelohnt. Ich dachte bisher, dass Sie schon vorher davon überzeugt gewesen wären, dass die Mitbestimmung
in Deutschland sinnvoll ist. Wenn diese Anhörung dazu
beigetragen hat, Sie zu überzeugen, dann war sie sicherlich sinnvoll. Sie alle kennen die Debatten, die wir darüber geführt haben, ob nicht unnötig Steuergelder verschwendet worden sind.
Ich möchte einen Punkt herausgreifen, den die FDP
kritisiert hat. Sie haben gesagt, dass Sie nicht glauben,
dass es innerhalb der Betriebe zu sinnvollen Lösungen
kommen wird, weil es die so genannte Auffanglösung
gibt. Wenn nach den Verhandlungen also kein Ergebnis
erzielt worden ist, dann greift diese ein und es gilt das
Vorher-nachher-Prinzip. - Damit stellen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und insbesondere auch
den Betriebsräten in den Unternehmen ein schlechtes
Zeugnis aus. Gerade in der Vergangenheit hat sich nämlich deutlich gezeigt, dass sich die Betriebsräte sehr bewusst auch für die Interessen der Betriebe einsetzen und
dass sie für vernünftige Lösungen offen sind. Das haben
Sie den Betriebsräten mit Ihrer Kritik abgesprochen.
({1})
Ich glaube, wir sollten das Gesetz einfach einmal auf
uns wirken lassen. An dem Thema Mitbestimmung wird
der Standort Deutschland weder scheitern noch genesen.
Das ist ein Baustein von vielen. Mit diesem Gesetz haben wir letztendlich sichergestellt, dass deutsche Unternehmen in Europa wettbewerbsfähig bleiben. Jetzt sollten wir zunächst einmal abwarten, wie dieses Gesetz
wirkt, bevor wir weitere Dinge auf den Weg bringen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Regelungen über die Mitbestimmung der
Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Kapitalge-
sellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, Druck-
sache 16/2922. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/3320, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit dem gleichen Stim-
menergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis e sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Cornelia Behm, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine radikale und konsequente Klimapolitik
- Drucksache 16/3283 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Klares Signal für die Kyoto-II-Verhandlungen
auf der UN-Klimakonferenz in Nairobi setzen
- Drucksache 16/3026 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimapolitischen Zertifikatehandel in Deutschland nachhaltig und verantwortungsvoll gestalten - Nationalen Allokationsplan grundlegend
überarbeiten
- Drucksache 16/3051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Klimaschutz-Offensive 2006
- zu dem Antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Klimawandel wirksam bekämpfen Deutschland muss Vorreiter bleiben
- Drucksachen 16/242, 16/59, 16/898 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({4})
Michael Kauch
Undine Kurth ({5})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard
Loske, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kfz-Steuer klimafreundlich reformieren CO2-Ausstoß und Verbrauch als Bemessungsgrundlage
- Drucksachen 16/2073, 16/3197 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({7}), Marie-Luise Dött, Katherina
Reiche ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll gestalten entschieden dem Klimawandel entgegentreten
- Drucksache 16/3293 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben im Moment eine enorme Verdichtung klimawissenschaftlicher und klimapolitischer Nachrichten und
Neuigkeiten. Im Februar nächsten Jahres wird das
Gremium der Klimawissenschaftler der Vereinten Nationen seinen neuen Bericht vorlegen. Man darf vielleicht
salopp sagen: Dieser Bericht lässt befürchten, dass alles
noch schlimmer als bislang angenommen wird, wenn
wir nicht vorsorgend handeln.
Vor wenigen Tagen ist der so genannte Stern-Bericht
erschienen. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank,
Nicholas Stern, hat systematisch untersucht, was die Klimavorsorge und die Anpassung an Klimaveränderungen
kosten würden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Klimavorsorge um ein Vielfaches günstiger als die Anpassung an Klimaveränderungen ist. Zur Vorsorge kommt
es aber nicht von selbst, sondern sie muss politisch promoviert und tatsächlich betrieben werden. Daran hapert
es im Moment noch. Die Kosten der Anpassung an Klimaveränderungen können um den Faktor 20 über den
Kosten der Klimavorsorge liegen. Deswegen ist das ein
weiteres dringendes Plädoyer dafür, zu handeln.
({0})
In den letzten Tagen und Wochen ist an die Öffentlichkeit gelangt, dass das Sekretariat der Vereinten Nationen und auch die EU-Kommission die nationalen
Emissionsberichte systematisch durchgegangen sind.
Man muss leider sagen, dass sie zu dem Ergebnis kommen, dass viele EU-Staaten ihre Klimaschutzziele, ihre
Kioto-Ziele, zu verfehlen drohen. Es ist noch nicht zu
spät. Sie können noch erreicht werden. Aber in vielen
Fällen sieht es nicht gut aus. Deswegen muss die EUKommission jetzt Druck machen. Das ist für die Glaubwürdigkeit der europäischen Klimapolitik sehr wichtig.
({1})
In genau dieser Zeit findet nun die Nairobikonferenz
statt, an der in der nächsten Woche der Herr Minister
und eine Parlamentarierdelegation teilnehmen werden.
Meine politische Einschätzung dieses Themas lautet: Es
wäre wirklich verheerend, wenn sich der Eindruck verfestigen würde, dass zwar die Signale aus der Wissenschaft immer alarmierender werden, die Konferenzkarawane aber unbeeindruckt weiter zieht. Die neuen
Kenntnisse, die wir jetzt haben, müssen sich auch in der
Art und Weise niederschlagen, wie in Nairobi vorgegangen wird. Der Ernst der Lage muss erkannt werden.
({2})
In diesen Prozess müssen wir jetzt eintreten, um im
nächsten, spätestens aber im übernächsten Jahr verbindliche Ziele für die Zeit nach dem Jahr 2012 zu vereinbaren. Dabei müssen wir mehr Staaten einbeziehen - vor
allen Dingen China und Indien -, allerdings noch nicht
unbedingt mit absoluten Reduktionszielen, wohl aber in
Form von Sektorzielen für bestimmte Bereiche, etwa für
die erneuerbaren Energien, oder in Form von Effizienzzielen.
Wir müssen darauf hinwirken, dass die positiven Signale, die gegenwärtig aus den Vereinigten Staaten,
insbesondere aus dem Nordosten des Landes und aus
Kalifornien, zu vernehmen sind, endlich dazu führen,
dass die USA ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden. Denn Unilateralismus ist nicht nur in Sachen Militär ein Problem, sondern auch und ganz besonders in Sachen Klimaschutz.
({3})
Darüber hinaus müssen wir den armen Ländern dabei
helfen, sich an die Klimaveränderungen anzupassen. Insofern fügt es sich vielleicht ganz gut, dass die Klimakonferenz in Nairobi stattfindet. Denn Afrika ist ein
Kontinent, der, obwohl er nur einen Bruchteil zur Verursachung des Problems beiträgt, in ganz besonderer
Weise von den Folgen des Klimawandels betroffen ist.
Hier müssen wir unserer Verantwortung nachkommen.
Ich möchte die Bundesregierung gerne auffordern, die
beiden im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaften
Deutschlands - die EU-Ratspräsidentschaft und die Präsidentschaft der G 8 - zu nutzen, um die Themen Klimaschutz und Energiesicherheit verstärkt in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Wir Grüne glauben, die
wichtigste Maßnahme in diesem Zusammenhang wäre,
dass sich Deutschland auf nationaler Ebene endlich verbindlich die Erreichung des 40-Prozent-Ziels bis zum
Jahre 2020 vornimmt, um einen Beitrag dazu zu leisten,
dass sich dann auch die Europäische Union zu einem
Klimaschutzziel von 30 Prozent bis zum Jahr 2020 wird
durchringen können. Diese Vorreiterrolle Deutschlands
ist sehr wichtig.
({4})
Nun möchte ich von den Höhen der Weltpolitik und
der europäischen Politik noch kurz in die Niederungen
der nationalen Politik hinabsteigen und feststellen: Für
uns Grüne ist der Umgang mit dem Emissionshandel,
der uns in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird, der entscheidende Lackmustest für die Glaubwürdigkeit der Regierung.
({5})
Unsere Kritik am jetzigen Allokationsplan ist:
Erstens. Die darin aufgeführten Ziele sind nicht anspruchsvoll genug. Sie verlangen von den Energieversorgungsunternehmen und von der Energie verbrauchenden Industrie, bis zum Jahr 2012 Ziele zu erreichen, die
sie bereits im Jahr 2005 erreicht haben. Das kann nicht
richtig sein. Das ist zu anspruchslos.
({6})
Zweitens. Im Allokationsplan betreiben Sie im Rahmen des Emissionshandels eine viel zu starke Bevorzugung der Kohle. Für Kohle und Erdgas gelten die gleichen Emissionsrechte. Das kann nicht richtig sein. Am
schlimmsten aber ist die 14 Jahre lang andauernde Garantie für bereits gebaute Kraftwerke, dass sie keinen
Beitrag zur Emissionsreduktion leisten müssen. Das
würde bedeuten, dass Kraftwerke, die erst 2012 ans Netz
gehen, bis zum Jahr 2026 in Sachen Emissionsreduktion
nichts unternehmen müssten. Auch das kann nicht richtig sein.
({7})
Deswegen fordern wir die Einführung eines brennstoffunabhängigen Benchmarks und die deutliche Kürzung
der Frist von 14 Jahren.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsidentin. Ich glaube, es ist ein großer Fehler, dass die Bundesregierung die Möglichkeit, 10 Prozent der Emissionszertifikate zu versteigern - diese Möglichkeit ist in der
EU-Richtlinie ausdrücklich vorgesehen -, nicht nutzt.
Andere Länder tun das. Bei einer Größenordnung von
50 Millionen Tonnen und einem Zertifikatepreis von
10 Euro pro Tonne würde das Einnahmen von ungefähr
500 Millionen Euro generieren. Dieses Geld könnten wir
für die Auflegung eines Effizienzprogramms gut verwenden.
Herr Kollege, Sie müssen Ihren letzten Punkt etwas
kürzen.
Ich bin sofort fertig. Ich wäre sogar schon fertig,
wenn Sie mich nicht unterbrochen hätten. Entschuldigung!
({0})
Wenn wir auf der Lernkurve nach oben kommen wollen, müssen wir dieses Instrument endlich anwenden.
Dafür werden wir uns im Rahmen der parlamentarischen
Beratungen einsetzen.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Göppel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist gut auf seine beiden Präsidentschaften
und auf die Konferenz in Nairobi vorbereitet. Es ist
schön, wenn die Opposition mehr fordert als die Koalition in dem sehr ambitionierten Antrag, den sie heute
vorgelegt hat. Auf diesen Antrag wird mein Kollege Andreas Jung noch eingehen.
Ich möchte an dieser Stelle meinen persönlichen Eindruck schildern, den ich bei meiner Teilnahme an zwei
Konferenzen in Buenos Aires und Montreal gewonnen
habe. Seit der Zeit ist mir immer stärker bewusst geworden, dass der Erfolg entscheidend davon abhängt, wie
die Entwicklungsländer in den Prozess des Klimaschutzes einbezogen werden. Am Ende dieses Weges muss
zweifellos jedem Menschen auf der Erde dasselbe Recht
zugestanden werden, die Atmosphäre zu nutzen.
({0})
Insofern gehen wir auf der Konferenz das Thema an,
indem die europäischen Delegationen versuchen, ein
Bündnis mit den Entwicklungsländern zu schließen. Ich
denke, dass wir damit weiterkommen. Man könnte zwar
einwenden, dass Nairobi weit von Berlin entfernt ist,
aber ich habe bei den beiden anderen Konferenzen erlebt, dass sehr genau zugehört und beobachtet wird, was
wir in Deutschland machen. Es hat sich gezeigt, dass
sich die konkreten Maßnahmen, die die große Koalition
auf den Weg gebracht hat, im Vergleich zu vielen anderen Ländern durchaus sehen lassen können.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle unserer Bundeskanzlerin
ausdrücklich dafür danken, dass sie sich so klar positioniert hat.
({2})
Ich verweise zum Beispiel auf die Verdoppelung der
Energieproduktivität bis 2020. Das ist ein entscheidender Punkt.
Was die Bereiche Wärme, Strom und Verkehr angeht,
ist festzustellen, dass die gewaltige Aufstockung der
Mittel für das Gebäudesanierungsprogramm durch die
große Koalition in Bezug auf den deutschen Altbaubestand einen der größten Beiträge zum Thema Klimaschutz darstellt.
({3})
Auch dass es gelungen ist, mit dem Marktanreizprogramm finanziell einen entscheidenden Schritt nach
vorne zu kommen, ist ein Beleg für unsere Ernsthaftigkeit.
({4})
Ich halte das deshalb für wichtig, weil man - ähnlich
wie im Familienleben - andere nur überzeugen kann, indem man mit eigenem Beispiel vorangeht.
Hinsichtlich der Stromerzeugung bin ich davon überzeugt, dass wir von den zentralen Großkraftwerken wegkommen müssen, weil dabei die Abwärme nicht ausreichend nutzbar ist.
({5})
- Beifall ist immer schön.
({6})
Wir werden - wie der Präsident des Umweltbundesamtes gestern im Umweltausschuss festgestellt hat - zunehmend zu dezentralen Kraftwerken mit KraftWärme-Kopplung übergehen, weil wir damit die Wärme
näher an die Verbraucher heranbringen und sie dadurch
nutzbar machen. Das ist ein großer Maßnahmenblock.
Ich denke, dass die Maßnahmen, die mit dem Aktionsplan - zum Beispiel mit dem europäischen Programm „Energy Star“ zur Kennzeichnung von Haushaltsgeräten - eingeleitet worden sind, einen weiteren
Beitrag leisten.
Im Verkehrsbereich bieten uns sicherlich auch die Initiativen unserer Kollegen im Europäischen Parlament im
Zusammenhang mit den Verbrauchsobergrenzen für Autos eine Richtschnur für die Zukunft. Denn derzeit zeigen die Analysen über das Tempo des Klimawandels,
dass man mit freiwilligen Vereinbarungen nur einen begrenzten Zeitraum überbrücken kann.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass die konkreten
Maßnahmen, die die Koalition eingeleitet hat, wichtige
Voraussetzungen für die Verhandlungsposition der deutschen Delegation in Nairobi sind. Einige Parlamentarier
werden unseren Minister begleiten. Unser Ziel ist, dass
in Nairobi eine Nachfolgeregelung für das jetzige Abkommen nach dem Jahr 2012 vereinbart wird. Herr Minister Gabriel, Sie haben bei der Vertretung der deutschen Interessen, unsere volle Unterstützung, aber auch
bei dem Versuch, den Entwicklungsländern deutlich zu
machen, dass der Einsatz energiesparender Technologien
auch für sie der Weg zu mehr Wohlstand und weg von
Armut bedeutet und ihnen eine Zukunftsperspektive in
der Welt eröffnet.
({7})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst
danke ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, dafür, dass künftig den Oppositionsfraktionen offenbar immer mitgeteilt wird, wie die Verhandlungen in
der Koalition abgelaufen sind. Sie haben uns freundlicherweise Ihren Antrag im Änderungsmodus zugesandt.
Dem konnten wir entnehmen, dass die Koalition ihre
Ankündigung, die EEG-Fördersätze 2007 zu überprüfen,
gestrichen hat. Das ist eine interessante Information
auch für die Kollegen von der Union, die nicht dem Umweltausschuss angehören.
({0})
Kommen wir aber zum eigentlichen Thema, zu den
Anträgen, die die FDP und die Grünen eingebracht haben. Nach der aktuellen Studie der Internationalen Energie-Agentur werden die CO2-Emissionen bis 2050 global um 137 Prozent steigen - von einer Minderung kann
also keine Rede mehr sein -, wenn wir nicht umsteuern.
Das Zeitfenster für ein Umsteuern wird zunehmend kleiner, wenn wir die Zwei-Grad-Ziele einhalten wollen.
Die Internationale Energie-Agentur stellt zudem fest,
dass vor allem bei der Energieeffizienz und der CO2-Abscheidung bei entsprechenden Technologien das größte
globale Einsparpotenzial vorhanden ist, und das noch
vor den in Deutschland immer sehr streitig diskutierten
Technologien Kernkraft und erneuerbare Energien. Der
Grund dafür liegt insbesondere in China. Die dort vorhandene Kohle wird verbrannt werden, egal ob wir das
gut oder schlecht finden. Die Frage ist nur, mit welcher
Technologie. Wir als Liberale sind der Meinung, dass
den Technologien zur Verringerung der CO2-Abscheidung eine Schlüsselrolle beim Klimaschutz zukommt.
({1})
Eine Hauptaufgabe der deutschen Präsidentschaft in
der EU und der G 8 wird sein, Indien, China und die Vereinigten Staaten für ein neues Klimaschutzprogramm zu
gewinnen. Viel zu lange hat die Bundeskanzlerin dem
britischen Premierminister Tony Blair die alleinige Führung in der Klimapolitik überlassen, obwohl Deutschland im nächsten Jahr die Präsidentschaften innehat. Wer
ist denn zu Arnold Schwarzenegger gefahren und hat in
den USA für Klimaschutz geworben? Das war Tony
Blair und nicht Angela Merkel. Wer hat denn den
„Stern“-Report über die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels in Auftrag gegeben? Das war Tony Blair und
nicht Angela Merkel. Es ist gut, dass die Kanzlerin in
der letzten Woche aufgewacht ist und entsprechende Signale gesandt hat. Aber Signale sind noch kein Programm für die Präsidentschaften.
({2})
Die Bundesregierung muss dringend ein Konzept für
eine internationale Klimaoffensive vorlegen. Insbesondere der Emissionshandel bedarf neuer Impulse. Er
muss auf alle klimarelevanten Wirtschaftssektoren ausgedehnt werden, auch auf den Luftverkehr. Zudem sollten einzelne Bundesstaaten der USA am internationalen
Emissionshandel teilnehmen können. Aber was tut denn
die Bundesregierung im Bereich der Technologiekooperation? Der Umweltminister fährt durch die Welt und
wirbt richtigerweise für den Einsatz erneuerbarer Energien. Ich stelle aber fest, dass er eigentlich gar nicht dafür zuständig ist. Zuständig für die Exportförderung erneuerbarer Energien ist Ihr Parteifreund Glos, Herr
Göppel. Herr Glos verschläft alle Chancen, die sich in
diesem Bereich bieten. Wo ist denn Herr Glos unterwegs? Er verschläft dieses Thema. Ich bitte Sie, Herr
Göppel, wecken Sie ihn auf.
({3})
Im Entwicklungshilfeministerium sieht es auch nicht
besser aus. Ich bin Mitglied der Parlamentariergruppe
für das südliche Afrika. Wenn man durch die afrikanischen Länder fährt, dann fragt man sich, warum mitten
in der Wüste ein Dieselgenerator läuft. Warum erzeugen
die Länder, die uns besonders nahe stehen, keine Sonnenenergie?
({4})
In Sachen Klimaschutz liegt es schon auf nationaler
Ebene im Argen. Man kann nicht, Herr Gabriel, das Ziel,
den Ausstoß von Treibhausgasen um 80 Prozent zu mindern, ausrufen und in der Zeitung glänzen, aber gleichzeitig einen Nationalen Allokationsplan vorlegen, in
dem die Minderungsziele, wie Herr Loske schon gesagt
hat, zu niedrig sind. Es fehlen bei der Reserve für Neuanlagen 18 Millionen Tonnen CO2, die Sie für den
Atomausstieg, den auch diese Regierung nicht rückgängig machen will, brauchen. Neuanlagen werden für
14 Jahre privilegiert, womit die Technologie, die bis
2012 eingesetzt wird, für die nächsten Jahre festgeschrieben wird. Das ist ein Anreizprogramm für die
Kohleverstromung, wie wir sie heute haben. Es ist kein
Anreiz, neue Technologien zu entwickeln, die uns vielleicht ab 2020 mit der CO2-Abscheidung zur Verfügung
stehen. Der Nationale Allokationsplan ist völlig kontraproduktiv.
({5})
Ein entscheidender Fehler dieser Regierung ist aber
die Weigerung der Kollegen Glos und Gabriel, die Emissionsrechte zu versteigern. Es tut mir Leid: Sie werden
gleich wieder erzählen, der Strommarkt sei noch vermachtet und es gebe noch keinen Wettbewerb. Deshalb
werden die Stromkonzerne den Verbrauchern erzählen,
dass sie noch einmal die Preise erhöhen müssen. Herr
Gabriel, das glauben Sie doch selbst nicht. Sie glauben
doch nicht, dass nach der Diskussion, die wir in den vergangenen Monaten geführt haben, noch irgendein Verbraucher dies den Stromkonzernen durchgehen ließe. Ich
freue mich darüber, dass sowohl in der SPD als auch in
der CDU/CSU Stimmen laut werden, diese Entscheidung zu korrigieren. Ich muss zum Beispiel Frau Reiche,
die sich damit brüstet, die Versteigerung voranzutreiben,
sagen, dass sie das in der Koalition durchsetzen muss
und das nicht den Kollegen Glos und Gabriel überlassen
darf.
({6})
Wir haben mit der Versteigerung die große Chance,
die Stromkonzerne von ihren Windfall Profits zu befreien
und eine Umverteilung herbeizuführen. Das müsste doch
eigentlich der SPD gut gefallen. Diese Umverteilung erfolgt von den Stromkonzernen zu den Verbrauchern,
wenn Sie das Aufkommen nutzen, um die Stromsteuer zu
senken. Genau das will die FDP. Wir laden Sie herzlich
ein, diesen Weg mit uns zu gehen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kauch, wenn Sie mich richtig zitieren würden, dann
ginge es ja. Ich habe immer gesagt - das ist auch die Position der Bundesregierung -, dass wir nicht für die Versteigerung von Emissionszertifikaten sind, solange wir
nicht sicherstellen können, dass das Geld am Ende nicht
von den Verbrauchern geholt wird. Bei Ihnen herrscht
sozusagen das Prinzip Hoffnung. Sie haben große Reden
gehalten und gefordert, dass wir die Zertifikate versteigern sollen. Sie sagen, die Verbraucher werden sich das
nicht bieten lassen. Wenn diese am Ende die Zeche zahlen, sind Sie der Erste, der hier steht und uns beschimpft,
dass wir nichts gegen steigende Strompreise unternommen haben.
({0})
Das können Sie machen und das ist Ihr gutes Recht, es
hat aber mit der Realität wenig zu tun.
Wir bekommen hoffentlich in diesem Jahr - das ist
auch meine Antwort an Herrn Loske - eine Entscheidung des Bundeskartellamts. Diese wird uns dann Auskunft über die Frage geben, ob wir etwas gegen die kostenlose Einpreisung unternehmen können. Wenn das der
Fall sein sollte, wird sich in der Bundesregierung bestimmt eine völlig andere Haltung zum Thema Auktionierung entwickeln. Nur um mehr Geld im Haushalt einnehmen zu können, machen wir die Auktionierung nicht
mit. Denn wir wollen vorher wissen, von wem das Geld
kommt. Es gibt einige Menschen in Deutschland, die
weniger als ein Bundestagsabgeordneter verdienen. Für
die ist die Frage, wie hoch die Energiepreise sind, eine
Frage, die etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat.
Darum geht es in dieser Diskussion auch.
({1})
- Sie verstehen von der Frage, wie es den Menschen, die
ein niedrigeres Einkommen als Sie haben, nicht sehr
viel. Das weiß ich.
({2})
- Frechheit hin oder her, Sie müssen hier das Recht der
freien Rede akzeptieren.
({3})
- Sie haben in der Vergangenheit der Bundesrepublik
Deutschland mehr Mehrwertsteuererhöhungen mitgemacht, als diese Regierung das jemals könnte. Dafür ist
die FDP verantwortlich.
({4})
Ich möchte Ihnen noch etwas zu Frau Merkel sagen.
Sie sprechen hier davon, was Tony Blair alles Tolles gemacht hat. Dass es aber überhaupt zum Kiotoprotokoll
gekommen ist, lag in der Verantwortung der damaligen
Umweltministerin und heutigen Bundeskanzlerin. Das
sollten Sie der Wahrheit gemäß dann auch sagen.
({5})
Herr Glos und ich haben manche Meinungsverschiedenheit. Aber bei der Exportförderung erneuerbarer
Energien gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung. Im Hinblick auf dieses
Thema können Sie beobachten, dass wir inzwischen
75 Prozent der Windenergieanlagen, die in Deutschland
hergestellt werden, ins Ausland verkaufen. Das ist eine
Realität der Politik der Bundesregierung und kein Sprücheklopfen im Plenum.
({6})
Ich möchte noch zu ein paar Details etwas sagen. Ich
stimme dem Kollegen Loske ausdrücklich darin zu, dass
es das Ziel der Politik der Bundesregierung und Europas
sein muss, nach der 8-Prozent-Reduktion des CO2-Ausstoßes bis 2012 im Jahr 2020 europaweit bei 30 Prozent
Reduktion zu landen. Das ist die Position, die wir in den
europäischen Gremien vertreten und es ist auch die Position im Rat der Regierungschefs. Sie wissen, dass die logische Konsequenz ist, dass Deutschland den Ausstoß
um 40 Prozent reduzieren muss, weil es andere Länder
in Europa mit einem schwächeren wirtschaftlichen Entwicklungsstand gibt, die nicht so stark reduzieren können.
Wenn wir im Durchschnitt 30 Prozent erreichen wollen, gilt Burden-Sharing und wir werden 40 Prozent davon tragen müssen. Da gibt es überhaupt keinen Streit in
der Sache. Es ist übrigens auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarung, dass wir 30 Prozent erreichen wollen.
({7})
Was mich stört, ist nicht die Tatsache, dass Sie schreiben, dass wir noch mehr machen müssen. Was mich
stört, sind Aussagen wie die von Ihrem Kollegen Fell in
der Pressemitteilung von gestern. Er schrieb, in Nairobi
gebe sich der Umweltminister als Klimaschützer und
hierzulande bediene er nur die SPD-Industrieklientel. Es
stört mich nicht, dass Sie mich damit angreifen.
({8})
Mich stört vielmehr, dass damit eine Gefahr beschrieben
wird, die Herr Loske selbst genannt hat, nämlich die Enttäuschung darüber, dass nicht alle Probleme gelöst worden sind, wenn man aus Nairobi zurückkommt. Wenn
Sie Leuten Mut machen wollen, beim Kampf um Klimaschutz mitzumachen, dann dürfen Sie nicht die realen
Erfolge, die es gibt, kaputt- und schlechtreden.
Ich nenne Ihnen ein paar Erfolge, die Sie bewusst verschweigen. Es ist diese Bundesregierung, die jedes Jahr
1,4 Milliarden Euro für die energetische Gebäudesanierung zur Senkung des CO2-Ausstoßes einsetzt.
({9})
Sie haben sich bei Ihren Forderungen nicht einmal getraut, die Hälfte von 1,4 Milliarden Euro einzuklagen.
({10})
- Wo sind denn Ihre Haushaltsanträge in Höhe von
1,4 Milliarden Euro? Ich sage Ihnen, was Sie beantragt
haben. Sie haben im Haushaltsausschuss gerade beantragt, 25 Millionen Euro mehr in Marktanreizprogramme
für erneuerbare Wärmeenergien zu investieren. Angenommen wurde aber der Antrag der Koalitionsfraktionen
in Höhe von zusätzlichen 40 Millionen Euro im Bereich
der erneuerbaren Energien.
({11})
Herr Fell hat doch schon Pressemitteilungen über das
Versagen der Koalitionsfraktionen vorbereitet, bevor es
überhaupt im Haushaltsausschuss zu Beratungen des
Koalitionsantrages gekommen ist. Sie schreiben Papier
voll. Wir sorgen dafür, dass wir im Haushalt Geld für aktive Klimaschutzpolitik haben. Das ist der Unterschied
zwischen uns beiden.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell?
Ausnahmsweise nicht, weil die Redezeit ohnehin fast
zu Ende ist.
Ich will nur noch einige wenige Punkte nennen. Im
Gegensatz zu Ihnen haben wir die Mittel für Forschung
und Entwicklung im Bereich erneuerbare Energien
im Haushalt fast verdoppelt. Wir sind am Ende dieser
Legislaturperiode bei fast 100 Millionen Euro. Sie haben
vorher das Geld abfließen lassen bei der Förderung der
erneuerbaren Wärme in die Forschung und Entwicklung.
Wir haben in dem Bereich der Förderung erneuerbarer
Wärmeenergie im Jahr 2006 insgesamt 50 Millionen
Euro mehr als in Ihrer Regierungszeit gehabt. Wir satteln
jetzt 40 Millionen Euro drauf und verdoppeln die Zahl
der Anträge, die wir genehmigen können. Sie erklären
hier aber, die Regierungskoalition tue nichts für den Klimaschutz. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis, das Sie
sich hier selbst ausstellen.
({0})
Wir setzen um, was im Hinblick auf die Ausrüstung
von Offshore-Windenergieanlagen geplant war. Sie haben das alles vorher debattiert; wir setzen das um.
({1})
Anstatt zu sagen, gut, dass ihr das macht, erklären Sie
öffentlich, wir brächten nichts zustande. Ich finde, Sie
sollten froh sein, dass wir die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass Ihre Versprechen von uns eingelöst werden können.
({2})
Sie haben nämlich vergessen, diese Voraussetzungen zu
schaffen.
Zum Thema Nationaler Allokationsplan. Sie haben
gemeinsam mit Sozialdemokraten dafür gesorgt, dass
der CO2-Ausstoß in der ersten Phase des Emissionshandels um 2 Millionen Tonnen gesunken ist. Wahrscheinlich war mehr nicht möglich. Dank unserer Politik wird
der CO2-Ausstoß pro Jahr um mindestens 15 Millionen
Tonnen sinken. Dennoch stellen Sie sich hierhin und sagen: Es ist aber schlimm, dass der CO2-Ausstoß in eurer
Regierungszeit um mehr als das Siebenfache, verglichen
mit unserer Regierungszeit, gesenkt wird. Wo bleibt in
dieser Debatte eigentlich die Glaubwürdigkeit?
({3})
- Frau Künast, dadurch, dass Sie dazwischenrufen, wird
das, was Sie gesagt haben, nicht besser.
({4})
Frau Künast, ich kann gut damit leben, dass sich ein
grüner Abgeordneter hierhin stellt und sagt: Uns reicht
das alles nicht; ihr müsst mehr schaffen, als ihr euch bisher vorgenommen habt. Das kann ich gut verstehen. Ich
finde nicht in Ordnung, dass Sie sich nicht trauen, zu sagen, dass für den Klimaschutz in elf Monaten dieser Regierungskoalition mehr erreicht wurde als jemals zuvor
in der Bundesrepublik Deutschland.
({5})
Ich finde, mindestens das sollten Sie sagen, und zwar
nicht deshalb, weil wir so besonders gut sind, sondern
deshalb, weil die Daten, die Herr Loske genannt hat, natürlich dazu führen, dass der politische Druck zur Veränderung in diesem Bereich heute wesentlich stärker als
früher ist.
Sie sollten denjenigen, die sehr dafür kämpfen, dass
es in Deutschland eine bessere Klimaschutzpolitik gibt,
nicht dadurch in den Rücken fallen, dass Sie alles
schlechtreden, was hier gemacht wird. Ich finde, die Bilanz nach elf Monaten kann sich wirklich sehen lassen.
Wir sind noch lange nicht am Ende des Weges. Wir müssen deutlich mehr schaffen; aber wir haben eine Menge
erreicht. Man kann von Ihnen nur verlangen, dass Sie,
bevor Sie solche Pressemitteilungen schreiben, wenigstens einmal die Realitäten des Bundeshaushalts zur
Kenntnis nehmen. Ein Blick ins Gesetzbuch - auch das
Haushaltsgesetz ist eines - erleichtert gelegentlich die
Rechtskenntnis.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Hans-Josef Fell.
Herr Minister, Sie haben soeben behauptet, dass Ihre
Koalition mehr für den Klimaschutz mache, als es in den
Zeiten der rot-grünen Koalition der Fall gewesen sei.
({0})
Ich kann das nur zurückweisen. Es ist unter der rot-grünen Regierung und vor allem durch die gemeinsame Arbeit im rot-grünen Parlament nämlich sehr viel für den
Klimaschutz auf den Weg gebracht worden. Ich verweise
nur auf die gemeinsame Arbeit mit der SPD.
({1})
- Die Gesetze wurden im Parlament beschlossen; deswegen hat das Parlament einen sehr großen Beitrag dazu
geleistet.
Auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz muss ich nicht
hinweisen. Es wirkt und deswegen sind die Ausbauraten
so hoch.
Ich möchte auf Ihren Vorwurf in Bezug auf das
Marktanreizprogramm eingehen. Die große Koalition
hat gestern im Umweltausschuss einen Aufstockungsantrag zum Marktanreizprogramm abgelehnt, der von
Bündnis 90/Die Grünen gestellt wurde. Im Umweltausschuss lag dazu kein Antrag der großen Koalition vor.
Das habe ich kritisiert und daran halte ich fest.
Ich begrüße, dass im Haushaltsausschuss heute eine
Aufstockung dieser Mittel beschlossen wurde. Dies tut
Not. Ich möchte aber betonen, dass wir eine Aufstockung um 25 Millionen Euro immer unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit eines Wärmegesetzes befürwortet haben. Durch ein solches Wärmegesetz könnte
die Ablösung des in immer größere Finanznöte kommenden Marktanreizprogramms geregelt werden. Auf
diese Weise können neue Technologien, zum Beispiel
durch Erdwärme, Bioenergien und solare Energien
- Stichwort „solare Großspeicher“ -, unterstützt werden.
Das Marktanreizprogramm ist bereits seit diesem
Sommer gestoppt, obwohl es mit etwa 200 Millionen
Euro ausgestattet ist. Nun haben Sie da um einige zig
Millionen erhöht - die Zahl ist mir noch nicht genau bekannt -; aber dies wird nicht ausreichen, um im kommenden Jahr den Wünschen der Bevölkerung nach
Wärme aus erneuerbaren Energien entsprechen zu können.
Andererseits haben Sie verkündet - das ist sehr bedauerlich -, dass Sie kein Gesetz für Wärme aus erneuerbaren Energien auf den Weg bringen wollen. Genau
das ist das Problem. Sie weigern sich, mit einem neuen
Wärmegesetz einen starken Ausbau dieses Bereichs auf
den Weg zu bringen. Sie schaffen es mit dem heutigen
Beschluss noch nicht einmal, im Marktanreizprogramm
genügend Geld für die Unterstützung der Bürger beim
Ausbau der erneuerbaren Energien zur Verfügung zu
stellen.
Ich möchte noch etwas zu der Unterstützung sagen,
die Sie über den Zertifikatehandel geben. So wie der Nationale Allokationsplan nach Ihrem Vorschlag aussieht,
ist das eine klare Unterstützung - ({2})
Herr Kollege Fell, Ihre drei Minuten für die Kurzintervention sind um.
Ich komme zum Schluss. - Nachdem Sie das so auf
den Weg gebracht haben - so geschieht das im Moment
auch schon -, finden wir landauf, landab neue Ankündigungen für neue Kohlekraftwerke. Alle berufen sich auf
den Vorschlag zum Nationalen Allokationsplan, wie er
von Ihnen vorgelegt wurde. Wie Kohlekraftwerke zum
Klimaschutz beitragen sollen, ist mir ein Rätsel.
Herr Kollege Fell, Ihre drei Minuten sind um.
Herr Minister, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
gern auf die angesprochenen Positionen eingehen.
Erstens. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich
nicht gesagt habe, unter Rot-Grün sei nichts passiert. Ich
habe vielmehr gesagt: In elf Monaten hat diese Koalition
in Sachen Klimaschutz mehr auf den Weg gebracht, als
das jemals zuvor geschehen ist. Das lag nicht daran
- auch das habe ich erwähnt -, dass wir an dem Thema
sozusagen intellektuell näher dran sind, sondern daran,
dass die politische Lage - Herr Loske hat die Berichte
zitiert - dazu geführt hat, dass die gesellschaftliche
Dynamik deutlich zugenommen hat. Das ist der Grund
dafür, dass sich die Koalition diesem Thema wesentlich
stärker gewidmet hat als die Vorgängerregierungen.
Ich weiß doch auch, dass vorher andere Konstellationen verantwortlich dafür waren, dass nicht mehr getan
werden konnte.
({0})
- Frau Künast, Ihr Kollege hat ein paar Positionen vorgestellt. Lassen Sie doch einfach zu, dass jemand antwortet.
({1})
Sie haben offensichtlich ein massives Problem damit,
dort zu sitzen, wo Sie sitzen. Das verstehe ich. Aber lassen Sie mich ihm doch wenigstens antworten. Das ist
eine Frage der Fairness.
({2})
Ich nenne Ihnen dazu ein paar Zahlen, Herr Kollege
Fell. Allein im ERP-Förderkreditprogramm des Jahres
2005 standen unter den Umweltschutzprogrammen bis
zum Monat Oktober 2005 rund 1 Milliarde Euro zur Verfügung. Im gleichen Zeitraum dieses Jahres sind unter
dieser Bundesregierung 1,7 Milliarden Euro dafür ausgegeben worden. Das können wir so fortführen. Es ist
schlicht und ergreifend eine Tatsache - wir reden hier,
wie Sie auch, über Haushaltsmittel -, dass wir wesentlich mehr Geld für den Klimaschutz zur Verfügung stellen.
Sie können sagen, das reiche Ihnen nicht, aber tun Sie
in Ihren Pressemitteilungen doch nicht so - da finden
sich Beschimpfungen, die wir sprachlich von Ihnen
sonst gar nicht gewöhnt sind -, als würde hier überhaupt
nichts passieren. Sie machen Menschen, die sich um den
Klimaschutz kümmern, auch dadurch mutlos, dass Sie
nicht bereit sind, zu akzeptieren, dass hier eine Menge
passiert ist, dass sich die Anstrengung lohnt, dass sich
Bürgerinitiativen bilden, dass in den Parteien debattiert
wird, dass wir eine öffentliche Diskussion haben und
dass das Wirkung zeigt, auch in der Regierungspolitik,
auch in der Politik der großen Koalition.
Sie sollten die Menschen also nicht mutlos machen,
sondern ihnen eher sagen: Wir dürfen bei den Anstrengungen im Klimaschutz nicht nachlassen und müssen
weitermachen. Sie sollten nicht alles das, was hier in
Deutschland schon passiert ist, kaputtreden.
({3})
Zweitens. Ich sage Ihnen noch einmal, was Sie beim
Marktanreizprogramm für Wärme aus regenerativen
Quellen zugelassen haben. Am Ende sind 2005
131 Millionen Euro für Wärme aus erneuerbaren Energien ausgegeben worden. Wenn der Haushaltsausschuss
so beschließt, wie die Koalitionsfraktionen das beantragt
haben - ich gehe davon aus, dass das geschieht -, werden es nun 214 Millionen Euro. Das ist eine Differenz
von 83 Millionen Euro. Es ist nicht ganz wenig, was da
zur Verfügung gestellt wird. Wir werden vermutlich
mehr als doppelt so viele Anträge wie im Vorjahr fördern
können.
Sie sollten einmal sagen: Das ist eine gute Sache, vielen Dank; das habt ihr gut gemacht, wir haben es nicht so
gut hinbekommen, weil die Sozis - vielleicht - nicht
mitmachen wollten. Wenn das Ihre Auffassung ist, können Sie das doch ruhig sagen.
Herr Minister, auch Ihre drei Minuten für die Beantwortung sind zu Ende.
Frau Präsidentin, letzter Satz: Zur Frage des Emissionshandels sage ich Ihnen das, was auch der Kollege
Kauch vorgebracht hat; da bin ich seiner Auffassung. Sie
können zwar die Augen davor verschließen, aber es wird
Nationen in der Welt geben,
Herr Minister!
- die Steinkohle nutzen. Dafür müssen wir Technologien mit höheren Wirkungsgraden und CO2-Abscheidung entwickeln;
Herr Minister!
- sonst zerstören sie das Klima.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, für Ihre Geduld.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Klimaschutz rechnet sich - diese Nachricht ist nicht
wirklich neu. Der Bericht von Nicholas Stern lässt an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und auch keinen
Zweifel daran, dass verhinderter Klimaschutz irgendwann Volkswirtschaften erdrosseln kann. Falls es noch
ein paar langfristig denkende Manager in Deutschland
geben sollte, dann sollte dieser Bericht diese Herren, wie
ich meine, eigentlich beunruhigen. Schließlich tritt die
Klimaschutzpolitik in der Bundesrepublik seit Jahren auf
der Stelle, abgesehen vom EEG und vom Wärmesanierungsprogramm. Ich will damit nicht sagen, dass nichts
passiert ist. Aber wenn Sie sich unseren Antrag anschauen, stellen Sie fest, dass wir die Ziele wesentlich
höher gesteckt haben. Ich denke, es könnte noch wesentlich mehr passieren. Das würde im Übrigen auch Arbeitsplätze schaffen. In diesem Bereich wünschen wir
uns jedenfalls mehr.
({0})
Wo hakt es denn? Denken wir an die Verkehrspolitik
oder an das Desaster beim Emissionshandel - wieder
einmal. Hier muss noch mehr passieren, übrigens auch
dann, wenn das dazu führte, dass sich Klimaschutz nicht
rechnete; denn Nichtstun zerstört die Lebensgrundlagen
von Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt.
Klaus Töpfer - ich denke, er ist nicht Mitglied unserer
Partei ({1})
nennt so etwas „ökologischen Rassismus“.
Die Bundesregierung will mehr Klimaschutz; dies hat
sie jedenfalls vielfach erklärt. Das wird sie sicherlich auf
der ab Montag in Nairobi stattfindenden Klimakonferenz auch wieder erklären. Doch wer international punkten will, sollte auch daheim seine Hausaufgaben machen
- Herr Göppel hat das schon ausgeführt -; denn so etwas
stärkt die Verhandlungsposition.
Im Zusammenhang mit Nairobi müssen wir natürlich
auch über die Vorbereitung der neuen Verpflichtungsperiode ab 2012 reden. Hier wäre es hilfreich, wenn Sie,
Herr Minister, für das Ministersegment vom Bundestag
in der nächsten Woche ein wegweisendes Mandat für
eine ambitionierte Klimapolitik daheim bekämen. Das
würde für Sie von Nutzen sein.
({2})
Ambitionierte Klimapolitik kann für Deutschland allerdings nicht bedeuten, bis 2020 lediglich 30 Prozent
weniger Treibhausgase als 1990 ausstoßen zu wollen.
({3})
Das ist vielleicht für die Europäische Union ein anspruchsvolles Ziel, nicht aber für uns. Schließlich ist der
Bundesrepublik fast die Hälfte der bisherigen Einsparungen durch den Zusammenbruch der energieintensiven
ostdeutschen Industrie in den Schoß gefallen. Den anderen europäischen Staaten dürfte das nicht entgangen
sein.
Die logische Kette ist doch so: Anspruchsvolle Ziele
im Kiotoprozess durchzusetzen kann nur gelingen, wenn
Europa eine vernünftige Vorgabe macht. Weil die Bundesrepublik mit der kommenden Übernahme der EURatspräsidentschaft eine besondere Rolle in der EU-Delegation spielt, haben Sie, Herr Minister, tatsächlich die
Chance, hier etwas voranzutreiben. Dafür braucht es jedoch eine Verpflichtung Deutschlands, eine Reduktion
in Höhe von mindestens 40 Prozent zu erreichen, so wie
wir es in unserem Antrag fordern. Dies erleichtert es den
anderen Staaten Europas, sich auf das gemeinsame Ziel
einer Verringerung um 30 Prozent einzulassen.
Eine solche Verpflichtung erfordert einen grundlegenden Wandel in der Klimapolitik der Bundesrepublik. So
kann es nicht sein, dass der Emissionshandel zwar als
Hauptinstrument der deutschen Klimapolitik gepriesen
wird, aber es in der konkreten Ausgestaltung so aussieht,
dass jeder Kohleverstromer bei Neuinvestitionen bekommt, was er will und angeblich auch braucht. Das darf
einfach nicht sein.
({4})
Wie sollen so die Preise wirken? Für einen Wechsel bei
den Brennstoffen hin zu emissionsärmeren Technologien
gibt es da wenig Anreize. Zudem - das haben wir ja bereits in unserem Emissionshandelsantrag im Frühsom6192
mer gefordert - müssen die Zertifikate versteigert werden und dürfen eben nicht verschenkt werden; denn wer
den Energieversorgern zusätzliche Milliardengewinne
zuschustert - wir sprechen, nicht zu vergessen, über
5 Milliarden Euro -, kann auf die Lenkungswirkung von
Marktpreisen beim Emissionshandel lange warten. Wir
hoffen, dass Sie, Herr Umweltminister, Ihre Position ändern und nunmehr wenigstens die Versteigerung jener
10 Prozent der Zertifikate zulassen.
Noch einmal zum Thema „soziale Preise“, wie Sie es
nennen. Hier sind wir natürlich anderer Meinung als die
FDP. Wir haben Anträge eingebracht. Darin fordern wir
unter anderem, dass die Gewinne in Höhe von 5 Milliarden Euro abgeschöpft werden. Außerdem wollen wir,
dass sozial Schwache unterstützt werden, weil die Energiepreise so hoch sind. Wir wollen eben nicht, dass in
diesem Jahr zum ersten Mal Menschen in ihren kalten
Wohnungen sitzen, weil sie die Preise nicht bezahlen
können. Sie sollten sich überlegen, was Sie hier tun. Das
ist nicht ökologisch und vor allem nicht sozial.
({5})
Doch noch einmal zurück zu Nairobi. Der Klimawandel ist mittlerweile Realität. Millionen Menschen
leiden bereits unter den Folgen der globalen Erwärmung.
Deutschland muss daher in Nairobi die zugesagten Mittel für den UN-Fonds zur Anpassung an den Klimawandel verdoppeln. Zudem würden schon ein paar Hunderttausend Euro es vielen Ländern ermöglichen, mit am
Verhandlungstisch zu sitzen. Wir - und ich denke, auch
Sie - wollen diesen Menschen die gleichen Chancen geben. Die Zahlungen in den Fonds für die Unterstützung
der Teilnahme von Verhandlern aus den ärmsten Ländern der Welt müssen also deutlich erhöht werden, damit
auch von dort Fachleute und Dolmetscher anreisen können. Das ist unsere Art von Solidarität.
Wir haben nur eine Welt; das muss uns immer bewusst sein. Schützen wir sie! Darum stimmen Sie unserem Antrag zu!
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich bin
sehr dankbar, dass wir diese Debatte heute hier so führen
können. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle sagen, dass
ich auch dankbar bin für die recht hohe Übereinstimmung, die ich in den heute vorliegenden Anträgen gefunden habe. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die
Rhetorik hier und der Kern der Anträge ein bisschen
voneinander abweichen und dass entweder der eine oder
die andere aus der Opposition den Koalitionsantrag
({0})
nicht richtig gelesen hat oder dass Sie nicht richtig glauben wollen, was in dem Antrag steht.
({1})
Ich glaube, es ist ein sehr guter Antrag. Ich sage das ausdrücklich an die Unionsfraktion: Es ist ein Antrag, mit
dem wir die Vorreiterrolle, die wir europaweit und weltweit einnehmen und einnehmen wollen, noch einmal
deutlich unterstreichen.
Gerade ist von einigen wieder deutlich formuliert
worden, dass wir uns in Deutschland zum 40-ProzentZiel bekennen sollten. Wir bekennen uns in unserem Antrag zu diesem Ziel. Wir beziehen uns nämlich auf die
Forderung der Energie-Enquete-Kommission und haben
sie uns zu Eigen gemacht. Das steht in dem Antrag; lesen
Sie es bitte nach. Wir sagen: Wenn Europa die Emissionen bis 2020 um 30 Prozent reduziert, dann sind wir bereit, sie um 40 Prozent zu reduzieren. Ich glaube, das ist
eine gute Position, die die Vorreiterrolle unterstreicht und
dem Minister und auch der Kanzlerin Rückendeckung
für die internationalen Verhandlungen gibt.
({2})
Wir erleben in der Tat gerade eine neue Dimension in
der internationalen Klimaschutzdebatte, weil es eben
nicht nur - das wäre schon Grund genug - um ökologische Aspekte geht, sondern viel stärker - der Stern-Bericht ist angesprochen worden - auch um ökonomische
und soziale Auswirkungen. Ich will noch einmal unterstützen, was der Minister gesagt hat: Wir müssen darauf
achten, dass wir nicht einen gewissen Fatalismus in die
Debatte bringen. Wir müssen uns sehr ambitionierte
Ziele setzen; aber wir müssen aufpassen, dass wir den
Menschen keine Angst machen. Wir müssen ihnen deutlich machen, dass das, was wir vorhaben, auch erreichbar ist.
Was wir im Bereich des Klimaschutzes vorhaben,
geht an die wirtschaftlichen Grundlagen; das ist richtig.
Aber es gibt Möglichkeiten, unsere Wirtschafts- und Lebensweise entsprechend zu verändern, sodass die hohe
Lebensqualität gewahrt bleibt. Es ist unsere Aufgabe
- in Deutschland und in Europa -, ein Stück weit einen
Weg aufzuzeigen, wie man unter dem Gesichtspunkt des
Klimaschutzes Entwicklungen organisieren kann. Die
Entscheidungen, die zu treffen sind, haben unsere Generationen zu treffen, die, die auch hier im Deutschen Bundestag versammelt sind; denn alle sind sich einig, dass
wir noch zehn bis 15 Jahre Zeit haben, einen anderen
Weg einzuschlagen.
Die Rolle Deutschlands dabei ist eine zentrale; das
wird uns bei Gesprächen mit internationalen Partnern
immer wieder gesagt. Es ist nicht so, dass wir das weltweite Klimaproblem durch die Reduktion der Emissionen in Deutschland lösen könnten; das ist schon richtig.
Aber wir haben die Vorreiterrolle. Es gibt einen Dominoeffekt. Wenn wir wollen, dass China, Indien und andere Schwellen- und Entwicklungsländer mit dazu kommen, dann muss es uns gelingen, die USA ins Protokoll
einzubeziehen. Um das zu erreichen, muss es uns gelingen, Europas Vorreiterrolle zu stabilisieren. Dazu ist es
notwendig, dass sich Deutschland ambitioniert verhält.
Deswegen ist es notwendig, dass wir uns zum 40-Prozent-Ziel bekennen.
Der Minister hat eine ganze Menge zu der sehr spannenden Debatte und Auseinandersetzung mit den Grünen gesagt. Deshalb muss ich das an dieser Stelle abkürzen. Ich will nur noch einmal ausdrücklich betonen, dass
ich diese Debatte und die Anträge gut finde. Ich kann
viele meiner Positionen darin wiederfinden.
Eine Bemerkung zur Debatte um den NAP. Man muss
zumindest zur Kenntnis nehmen, dass der NAP II besser
ist als der NAP I.
({3})
Das sagen uns auch die Fachleute, die die Grünen beraten. Die Forderungen, die vonseiten der FDP gestellt
werden, sind sehr interessant. Ich frage mich aber, ob die
FDP auch nur die Hälfte dieser sehr mutigen Positionen
vertreten würde, wenn sie in der Regierung wäre.
({4})
Ich glaube, das ist nicht der Fall.
({5})
Man muss schon darauf achten, aus welcher Position
Forderungen, manchmal populistische Forderungen, gestellt werden. Das soll aber nicht heißen - auch das will
ich betonen -, dass es keine Debatten im Rahmen des
ZuG geben soll. Wir werden eine entsprechende Diskussion führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Jung von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
sind im Laufe der Debatte schon etliche Klimakonferenzen genannt worden. Dazu gehört natürlich die Konferenz von Kioto. Josef Göppel hat auf seine Teilnahme an
den Konferenzen von Montreal und Buenos Aires hingewiesen.
Die erste Konferenz, die der Ausgangspunkt für diese
Entwicklung gewesen ist, war die Konferenz von Rio
im Jahre 1992, also vor 14 Jahren. Dort ist es zum ersten
Mal gelungen, einen weltweiten umweltpolitischen Konsens herzustellen und für die Erreichung der Ziele Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Umweltentwicklung einen
konkreten Handlungsrahmen vorzugeben. Die Teilnehmer an dieser Konferenz sagten - ich habe heute noch
mit meinem Vorgänger als Abgeordneter für den Wahlkreis Konstanz, Hans-Peter Repnik, gesprochen, der der
stellvertretende Leiter der deutschen Delegation war -,
beeindruckender als die Fakten und die konkreten Ergebnisse sei etwas Unsichtbares gewesen, nämlich die
Ernsthaftigkeit und die Überzeugung, mit der alle Teilnehmer ans Werk gegangen sind. Man hat das damals
den Geist von Rio genannt. Mit diesem Geist wurden
Dinge möglich, die für lange Zeit unerreichbar schienen.
Ich glaube, an diesen Geist müssen wir in Nairobi anknüpfen. Ich bin der Überzeugung: Die Chance dafür ist
so groß wie schon lange nicht mehr; denn es gibt - auch
das ist schon gesagt worden - ein neues Bewusstsein auf
diesem Gebiet. Die neuen Studien, die über die ökologischen Entwicklungen Auskunft geben, aber auch die
Studien, die die ökonomische Tragweite des Klimawandels zeigen, führen in breiten Bevölkerungsschichten
und in vielen Ländern der Welt zu der Erkenntnis: Es
muss gehandelt werden. - Ich glaube, das muss der Ausgangspunkt sein.
Was haben wir in den letzten 14 Jahren erreicht? Es
gab sicherlich Fortschritte; wir sind Schritt für Schritt
vorangekommen. Trotzdem muss auch heute gelten: Es
müssen Dinge möglich werden, die bisher unmöglich
schienen; denn eines ist noch nicht gelungen: der Durchbruch. Wenn man die Zahlen nüchtern betrachtet, dann
kann man feststellen, dass es einen Anstieg der Treibhausgasemissionen gibt und dass sich die Temperaturerwärmung beschleunigt. Jetzt ist die Zeit, zu handeln. Wir
müssen den Rückenwind nutzen, indem wir die Erkenntnisse, die wir in der Zeit nach Rio gesammelt haben, verwerten. Welches sind diese Erkenntnisse? Heute ist
völlig unbestritten - das war lange Zeit unter Wissenschaftlern ein Streitpunkt -: Erstens. Es gibt einen Klimawandel. Zweitens. Dieser Klimawandel ist von Menschen gemacht. Drittens. Dieser Klimawandel spielt sich
nicht weit weg von uns ab. Es sind nicht nur die Südseeinseln und andere ferne Regionen betroffen. Der Klimawandel ist bei uns angekommen.
({0})
Ich kann das sehr direkt verfolgen. Für meine Heimat,
die Bodenseeregion, gibt es neue Studien, die belegen,
dass diese Region besonders betroffen sein wird. Es wird
neue Tier- und Pflanzenarten geben, die das Ökosystem
gefährden. Landwirte und speziell Obstbauern werden
auf neue Sorten, die dürreresistenter sind, umsteigen
müssen, wenn der Klimawandel fortschreitet. Auch die
Hochwassergefahr wird drastisch steigen.
All das zeigt uns: Wir müssen jetzt handeln; die Zeit
drängt. Wenn wir das Zwei-Grad-Ziel erreichen wollen
- das ist schon genannt worden -, nämlich keine Erwärmung, die höher liegt als 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, dann schließt sich das Zeitfenster in
zehn bis 15 Jahren. Deshalb müssen wir handeln, bevor
es zu spät ist. Ich finde es daher ausgesprochen gut, dass
wir uns in unserem Koalitionsantrag, der - da stimme
ich dem Kollegen Schwabe zu - ausgesprochen ambitioniert ist, dazu bekennen, dass dieses Ziel international
verbindlich werden muss.
({1})
Andreas Jung ({2})
Aus all diesen Gründen kommt der Konferenz von
Nairobi eine entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen
den Grundstein für ein anspruchsvolles und ehrgeiziges
Klimaregime für die Zeit nach 2012 legen. Auch hier
müssen wir sagen: Die Zeit drängt. Wir müssen jetzt
handeln, damit dies rechtzeitig gelingt.
Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass die Bundesregierung den Klimaschutz im Rahmen der Präsidentschaften in der G 8 und im Europäischen Rat als herausragendes Thema bezeichnet. Auch dazu bekennen
wir uns in dem Antrag. Ich begrüße ausdrücklich, dass
sich sowohl die Bundeskanzlerin als auch Minister Gabriel immer dazu bekannt haben. Herr Kollege Kauch, es
ist sicherlich ein netter Versuch, es so darzustellen, als
wäre Blair der Treiber und Merkel die Getriebene. Minister Gabriel hat das Notwendige dazu gesagt. Im Übrigen kann es mich nicht wirklich überzeugen, wenn Sie in
Ehrfurcht darauf verweisen, dass Tony Blair zu Schwarzenegger gefahren sei, um ihn von der Notwendigkeit
des Klimaschutzes zu überzeugen. Ich denke, wenn wir
etwas erreichen wollen, dann wird man wohl zu Bush
fahren müssen, und das wird Angela Merkel tun.
({3})
Die entscheidende Aufgabe für die Zeit nach 2012
wird es sein, Lösungen für diese Fragen zu finden: Wie
gelingt es, die USA und Schwellen- und Entwicklungsländer in diesen Prozess einzubeziehen? Wie gelingt es,
diejenigen zum Mitmachen zu bewegen, die bisher außen vor stehen? - Dabei kommt den USA als größtem
Emittenten, auch mit dem weltweit höchsten Pro-KopfAusstoß an Treibhausgasen die Schlüsselrolle zu. Es
muss gelingen, deutlich zu machen, dass es hier vielleicht um die entscheidende Herausforderung des
21. Jahrhunderts geht, und zwar ökologisch, ökonomisch
und humanitär betrachtet. Meine persönliche Auffassung
ist die: Es muss vermittelt werden, dass kein Staat der
Welt auf Dauer als globale Führungsmacht akzeptiert
werden kann, der sich in der Frage des Klimaschutzes
verweigert.
({4})
Ich meine, das ist die Aufgabe des Klimaschutzprozesses unter deutscher Präsidentschaft.
Der zweite Schritt ist, Schwellen- und Entwicklungsländer einzubeziehen. Ich nenne hier China, Indien, Brasilien, Mexiko, Südafrika und andere Länder,
die wirtschaftlich aufschließen. Wir müssen diese Länder in Sachen Umweltschutz an Bord holen; sonst wird
es nicht gelingen, den Anstieg der Treibhausgasemissionen aufzuhalten. Aber, ich bekenne mich hier ausdrücklich dazu und ich bin dankbar, dass wir dies in unserem
gemeinsamen Antrag ebenfalls getan haben: Andere zu
überzeugen und mit ins Boot zu holen wird nicht gelingen, wenn wir uns selber auf Erreichtem ausruhen und
sagen: Wir waren in der Vergangenheit gut. Wir waren
vielleicht Vorreiter, jetzt aber sind die anderen dran.
Deshalb ist es richtig, wenn wir fordern, dass die Europäische Union ihre Zielvorgabe einer 30-prozentigen
Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020 einhalten muss. Dann aber müssen wir selber bereit sein,
mehr zu erreichen. Wir bekennen uns in unserem Antrag
ganz ausdrücklich zu unseren Enquete-Kommissionen
zu den Themen Energie und Klima, die zu dem Schluss
gekommen sind, dass wir in Deutschland erheblich über
die Vorgabe der EU hinausgehen müssen. Als Hausnummer wurde ein Prozentsatz genannt, der von allen Rednern hier als richtig empfunden wurde: eine Reduktion
der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent.
({5})
Ich glaube, in diese Richtung muss es gehen. Wir müssen Vorreiter bleiben. Wir wissen, dass der Weg dahin
nicht einfach sein wird; wir müssen uns anstrengen.
Ich beziehe mich dabei auf die Maßnahmen im Inland, die Josef Göppel genannt hat, auf die Effizienzrevolution. Hier haben wir sicherlich viel geleistet; Minister Gabriel, Josef Göppel und andere haben darauf
hingewiesen. Wir müssen aber noch mehr machen. Ich
glaube, wir sind hier auf einem guten Weg. Ich wünsche
mir, dass wir uns in Deutschland, aber auch im internationalen Prozess auf das zurückbesinnen, was ich zu Beginn genannt habe: den Geist, der Unmögliches möglich
macht. Darauf zähle ich.
Herzlichen Dank.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Marco Bülow von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will mit einem
Auszug aus einer französischen Kindergeschichte beginnen, die zeigt, wie die Situation im Augenblick ist:
In einem Gartenteich wächst eine Lilie, die jeden
Tag auf die doppelte Größe wächst. Innerhalb von
dreißig Tagen kann die Lilie den ganzen Teich bedecken und alles andere Leben in dem Wasser ersticken. Aber ehe sie nicht mindestens die Hälfte der
Wasseroberfläche einnimmt, erscheint ihr Wachstum nicht beängstigend; es gibt ja noch genügend
Platz, und niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden, auch nicht am 29. Tag; noch ist ja die
Hälfte des Teiches frei. Aber schon am nächsten
Tag ist kein Wasser mehr zu sehen.
Ich glaube, das verdeutlicht die Situation, die derzeit in
Bezug auf den Klimawandel besteht. Viele denken, wir
haben noch genug Zeit und noch sind die Auswirkungen
nicht so schlimm, dass man in dieser Welt nicht mehr leben kann. Deswegen glauben wir, dies gehe so weiter.
Ich weiß zwar, dass das Gott sei Dank nicht mehr alle
glauben; das zeigen die vorliegenden ambitionierten Anträge. Aber wir haben diese Diskussion auch auf internationaler Ebene zu bestehen.
Täglich gibt es neue Meldungen und Studien, die bestätigen, wie schlimm die Situation ist. Es gibt eine
wachsende Erkenntnis. Jetzt ist es höchste Zeit, diese
wachsende Erkenntnis auf nationaler und internationaler Ebene in konkrete Handlung umzusetzen. Das
muss an vorderster Stelle stehen.
({0})
Ich bin sehr froh - das ist deutlich gemacht worden -,
feststellen zu können, dass wir an manchen Stellen vorangekommen sind. Ich meine das Gebäudesanierungsprogramm und das Marktanreizprogramm. Ich glaube,
dass das der richtige Weg ist und dass weitere Programme in anderen Bereichen folgen müssen. Aber wir
müssen auch auf internationaler Ebene vorankommen;
denn wir wissen, dass wir nur so eine Chance haben.
Herr Kauch, Sie haben hier zwar großes Engagement
an den Tag gelegt; ich nehme es Ihnen auch ab. Aber
nehmen wir einmal an - Gott sei Dank ist es nicht so gekommen -, Westerwelle wäre Außenminister geworden.
Ich sehe schon, wie er als Erstes in die USA gereist wäre
und für den Klimaschutz gekämpft hätte. Das wäre sicherlich ein Außenminister gewesen, der alles in die
Waagschale geworfen hätte, damit wir in Deutschland
den Klimaschutz vorantreiben können. Ehrlich gesagt,
ich kann dies kaum glauben und wahrscheinlich glauben
es die meisten draußen auch nicht.
({1})
Aber es ist ja schön, wenn die FDP uns ein bisschen
treibt. Ich habe nichts dagegen.
Es gibt immer noch Dinosaurier, die es zu überzeugen
gilt. Einer wurde genannt - Bush -, aber es gibt noch
mehr. Deswegen geht es jetzt nicht darum, dass er nicht
mehr den Einfluss hat, den er noch vor den Kongresswahlen hatte. Es gibt aber nicht nur Dinosaurier, sondern
auch Faultiere, und zwar diejenigen, die wissen, dass ein
Klimawandel kommt, dies aber verschweigen oder verdrängen wollen. Auch diese müssen wir überzeugen
oder, falls dies nicht gelingt, zumindest an den Rand
drängen und unser Engagement in den Mittelpunkt stellen.
Die Debatte, die wir hier führen, ist keine Umweltdebatte mehr, auch wenn sie im Umweltbereich geführt
wird. Es handelt sich längst um eine ökonomische und
soziale Debatte. In diesen Mittelpunkt müssen wir sie
stellen; denn die ökonomischen Auswirkungen sind
frappant. Sie werden uns einholen.
Die Wirtschaft wird unter hohen Energiepreisen und
den Katastrophen, die in einzelnen Bereichen über uns
hereinbrechen werden, zu leiden haben. Sie wird zahlen
müssen. Nicht nur die Versicherer, sondern mittlerweile
auch immer mehr Beratungsagenturen - man sieht daran, wie wichtig dieses Thema wird - warnen vor dem
Klimawandel und weisen darauf hin, wie sich die Situation entwickeln wird, wenn wir heute investieren.
Deutschland und Europa müssen nicht nur eine Führungsrolle übernehmen, weil es wichtig ist, die anderen
Staaten mitzuziehen, sondern auch deswegen, weil sich
dies ökonomisch auszahlen wird. Denn diejenigen, die
im Rahmen der Klimadebatte vorangehen werden, werden diejenigen sein, die die Vorteile einheimsen. Diejenige Volkswirtschaft, die sich auf den Klimawandel einstellt und nicht nur die entsprechende Technologie
verkauft, wird die wenigsten Auswirkungen ökonomischer Art zu erwarten haben.
Wir müssen deshalb die Vorreiterrolle übernehmen
und vor dem 29. Tag am Gartenteich handeln, sodass wir
den 30. Tag noch erleben und dieser Gartenteich sowohl
Lilien hat als auch Fische in ihm herumschwimmen und
wir ökonomisch weiter handlungsfähig bleiben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3026 und 16/3051 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/3283 zu Tagesordnungspunkt 8 a soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss,
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, zur Drucksache 16/898. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
242 mit dem Titel „Klimaschutz-Offensive 2006“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Linken bei Enthaltung des Bündnisses 90/
Die Grünen und Gegenstimmen der FDP-Fraktion.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/59
mit dem Titel „Den Klimawandel wirksam bekämpfen Deutschland muss Vorreiter bleiben“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDPFraktion.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf
Drucksache 16/3197 zu dem Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Kfz-Steuer
klimafreundlich reformieren - CO2-Ausstoß und Verbrauch als Bemessungsgrundlage“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2073 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Gegenstimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion
Die Linke.
Zusatzpunkt 5. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/3293 mit dem Titel „Die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll gestalten - entschieden dem Klimawandel entgegentreten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/
Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erleichterung von Planungsvorhaben für
die Innenentwicklung der Städte
- Drucksachen 16/2496, 16/2932 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 16/3308 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidrun Bluhm
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die
an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Saal zu
verlassen, damit die anderen den Ausführungen folgen
können. - Als erstem Redner erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann für die Bundesregierung das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Gesetzentwurf, über den wir heute entscheiden, ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der
Städte als Wirtschaftsstandorte und als Orte des Wohnens, des Lebens und des Arbeitens. Insbesondere in den
Städten und Gemeinden konzentrieren sich die Herausforderungen, die sich aus dem wirtschaftlichen und demografischen Wandel ergeben. Die Siedlungsentwicklung muss sich deshalb wieder stärker auf die
Innenstädte, auf die Wiederherstellung und Sicherung
funktionsfähiger, urbaner Stadtzentren und Stadtquartiere konzentrieren.
({0})
Auch der Arbeitsmarkt profitiert von einer weiteren Erleichterung von Investitionen.
Dieses Gesetz ist für die Planung in den rund
13 000 Städten und Gemeinden in unserem Land von
großer Bedeutung. Die Planungspraxis wird durch die
neuen Regelungen spürbar erleichtert und vor allen Dingen beschleunigt. Investitionen werden zunehmend in
die Innenstädte gelenkt. Die Formel für das Städtebaurecht lautet künftig: schnelle und konzentrierte Verfahren
bei Investitionsvorhaben zur Stärkung der Innenentwicklung, Verfahren nach den allgemeinen Anforderungen
und mit förmlicher Umweltprüfung dagegen insbesondere bei Vorhaben auf der grünen Wiese. Das vereinfacht
Investitionen innerhalb der Städte und Gemeinden und
vermeidet Flächenverbrauch - und das ist gut so.
({1})
Kernpunkt ist, dass es jetzt ein Verfahren zur
beschleunigten Bebauungsplanung gibt. Dafür sorgen
eine konzentrierte Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung, der Verzicht auf eine förmliche Umweltprüfung
mit umfangreichen Formalien und die Möglichkeit, gegebenenfalls auch ohne vorhergehende Prüfung, Änderungen des Flächennutzungsplanes vorzunehmen.
Was die Berücksichtigung der Belange der Umwelt
angeht: Es bleibt dabei, dass die Umweltauswirkungen
eines Vorhabens zu berücksichtigen sind. Außerdem ist
es wohl unbestritten, dass es der Umwelt nutzt, wenn wir
im Innen- und nicht im Außenbereich bauen.
Es gibt weitere Verbesserungen durch dieses Gesetz:
die Schaffung und Sicherung der für die verbrauchernahe Versorgung bedeutsamen zentralen Versorgungsbereiche; das ist auch im Interesse einer Stärkung der
Innenstädte. Darüber hinaus soll die Sicherung und Entwicklung der zentralen Versorgungsbereiche jetzt ausdrücklich in den bei der planerischen Abwägung zu berücksichtigenden Belangekatalog aufgenommen werden.
Das ist übrigens ein Ergebnis des Praxistests, auf den ich
gleich noch zu sprechen komme. Der Abschluss von Sanierungsverfahren wird erleichtert und beschleunigt. Die
Praktikabilität des Vorhaben- und Erschließungsplans
wird zur Stärkung der Innenentwicklung erhöht. Im Interesse der Rechtssicherheit werden schließlich die Fristen
zur Geltendmachung von Fehlern der Bebauungspläne
und die Fristen für Normenkontrollverfahren generell
auf ein Jahr verkürzt.
In den Ausschussberatungen ist eine allgemeine Öffnungsklausel für Business-Improvement-Districts hinzugekommen. Grundlage der BIDs, wie man sie abgekürzt nennt, sind Eigeninitiative und Selbstverpflichtung
der Grundeigentümer und Gewerbetreibenden mit dem
Ziel, den lokalen Standort aufzuwerten. In einigen Bundesländern bestehen hierzu bereits gesetzliche Regelungen. Wir stellen im Städtebaurecht des Bundes klar, dass
solchen Aktivitäten der Landesgesetzgeber nichts entgegensteht.
Ich möchte mich angesichts meiner Stimmlage - Sie
hören schon: Ich krächze ein wenig - ein bisschen kürzer
fassen. Wir haben uns schon in der ersten Lesung sehr
sachbezogen unterhalten. Ich bedanke mich bei allen, die
mitgearbeitet haben, bei Frau Weis und Herrn Götz.
Aber auch Herr Döring, Herr Hettlich und Frau Bluhm
haben sich redlich Mühe gegeben. Wir haben in vielen
Fällen Konsens hergestellt. Auch wenn wir heute keinen
einstimmigen Beschluss bekommen werden, glaube ich,
es hat sich gelohnt. Ich bedanke mich natürlich auch bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses
und ganz besonders bei den Städten Bocholt, Bochum,
Forst, Freising, Leipzig und Reutlingen, die im Rahmen
des vom Deutschen Institut für Urbanistik betreuten Praxistests einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben.
Die kommunalen Spitzenverbände haben dieses Gesetz ausdrücklich begrüßt. Auch Anregungen von ihnen
und vonseiten der Länder sind in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen.
Ich muss noch erläutern, warum meine Anwesenheit
auf der Regierungsbank nur noch Minuten dauern kann:
Als ich zum Rednerpult gekommen bin, habe ich gehört,
dass ausgerechnet jetzt - nachdem ich ungefähr sieben
Stunden gewartet habe - im Haushaltsausschuss der Einzelplan 12 aufgerufen wird. Das heißt, andere Stellen
des Parlaments sind der Meinung, ich solle schnell herüberkommen. Hier sitzen aber auch Staatssekretär
Lütke Daldrup, der sehr intensiv an diesem Verfahren
mitgearbeitet hat, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Hauses. Sie können also sicher sein, dass
wir Anregungen und Kritik, aber hoffentlich auch Lob
von Ihnen sehr wohl zur Kenntnis nehmen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Herr Staatssekretär, es bleibt zu erwähnen, dass das
Plenum auch vor dem hohen Haushaltsausschuss Vorrang hat. Wenn Sie hier vonnöten sind, können Sie natürlich nicht in den Haushaltsausschuss gehen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich, ich denke, im Namen aller Kollegen
des Hauses, sagen: Herr Kollege Großmann, nach einer
etwas längeren Auszeit sind Sie wieder voll im Gefecht
und halbwegs auf dem Damm. Gute Besserung weiterhin! Schön, dass Sie wieder mit uns streiten und diskutieren können, auch im Haushaltsausschuss dann.
({0})
Wenn man Bauen und Planen im Innenbereich einer
Stadt oder einer Gemeinde beschleunigen und verbessern
will, muss man den Innenbereich gegenüber dem Außenbereich privilegieren. Das wird mit diesem Gesetz für
Planungsvorhaben bis 20 000 Quadratmeter und, in einem zweiten Schritt, bis 70 000 Quadratmeter möglich.
Das ist gut für die betroffenen Kommunen. Deshalb findet dieses Gesetz die Unterstützung der FDP-Fraktion.
Wir haben in den Diskussionen und in der Berichterstatterrunde einige Nachbesserungen erreichen können, insbesondere was die zentralen Versorgungsbereiche betrifft.
Damit können auch hierfür zusätzliche beschleunigte
Planungen vorgenommen werden. Das ist ein gutes Signal für all diejenigen, die wissen, dass Menschen sich nur
dann in den Innenbereichen unserer Kommunen ansiedeln, wenn sie nicht auf die grüne Wiese fahren müssen,
um eine Kiste Wasser oder ein Pfund Butter zu kaufen,
sondern diese Versorgung auch in ihrer unmittelbaren
Nähe sicherstellen können.
({1})
Wer vitale Städte haben will, der muss vermeiden,
dass die Städte ausfransen. Den Ausfransungstendenzen
wird mit diesem Gesetz begegnet. Das ist gut und auch
das unterstützen wir. Deshalb ist der Bürokratieabbau,
die Verfahrensverschlankung, die hier vorgeschlagen
wird, ein richtiger Schritt. Es war bemerkenswert, dass
die Kommunen, die das in dem Planspiel vorbereitet haben, das weitestgehend unterstützen.
Ich will nicht verhehlen, dass wir als Freie Demokraten uns an einer Stelle noch mehr gewünscht hätten.
Ursprünglich hatte die Bundesregierung vorgesehen,
mithilfe einer so genannten Genehmigungsfiktion Bauanträge, die aufgrund eines beschleunigt erstellten B-Planes gestellt werden, nach Ablauf einer Frist als genehmigt anzusehen, wenn die Kommune nicht widerspricht.
Es war nicht verwunderlich, dass die Kommunen diese
Regelung im Planspiel nicht schön fanden. Bauverwaltungen finden es in der Regel nicht gut, wenn sie nicht
mehr genehmigen müssen und etwas automatisch genehmigt wird. Das liegt in der Natur der Sache. Da denken
sie auch in Stellenkegeln.
Ich glaube aber, dass wir die Idee der Genehmigungsfiktion auch bei anderen Themen noch einmal stärker
aufgreifen sollten. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen,
ob wir es im Rahmen des Bürokratieabbaus nicht auch in
diesem Bereich schaffen können, bei Anträgen, die auf
der Grundlage geltenden Rechts gestellt werden, zu
einer automatischen Genehmigung zu kommen. Ich
denke, das wäre ein Bürokratieabbau, der den Namen
auch verdient hätte.
({2})
Dieser eine Aspekt, der sich nicht durchsetzen ließ,
weil die Beteiligten noch nicht so weit sind, führt aber
nicht dazu, dass wir das Gesetz ablehnen. Wir werden es
unterstützen. Von dieser Stelle aus sage ich auch ganz
deutlich: Die Städte und Gemeinden, die Kommunen,
sind jetzt am Zug. Sie müssen beschleunigt planen wollen. Ich wäre dankbar, wenn wir in vielleicht zwei oder
drei Jahren einen Bericht von der Bundesregierung erhalten könnten, aus dem hervorgeht, wie oft dieses beschleunigte Planen im Innenbereich der Städte Anwendung gefunden hat, ob es Schwerpunkte in gewissen
Kommunen gibt
({3})
- die Motte fühlt sich hier bei uns auch ganz wohl ({4})
und ob diejenigen, die beschleunigt geplant haben, bei
der Umsetzung wichtiger infrastruktureller Vorhaben in
ihrer Stadt am Ende tatsächlich auch den Beschleunigungseffekt erzielt haben, den wir uns von diesem Gesetz versprechen. Vielleicht ist das dann ein weiterer
Einstieg, um auch andere Maßnahmen des Bürokratieabbaus im Baubereich anzugehen. - So weit zu dem Gesetz
zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte.
Theodor Heuss hat einmal gesagt: Ohne starke Städte
ist kein Staat zu machen.
({5})
Wir haben uns an diesem Wort orientiert. Recht hat er.
Deshalb geht es in diesem Bereich weitestgehend Hand
in Hand weiter.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter
und dritter Lesung abschließend über das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte und entscheiden nachher darüber. Damit
haben wir ein weiteres wichtiges Ziel dieser Koalition
erreicht.
Im Koalitionsvertrag steht unter der Überschrift
„Stadtentwicklung als Zukunftsaufgabe“ unter anderem
- ich zitiere -:
Zur Verminderung der Flächeninanspruchnahme
und zur Beschleunigung wichtiger Planungsvorhaben, vor allem in den Bereichen Arbeitsplätze,
Wohnbedarf und Infrastrukturausstattung, werden
wir das Bau- und Planungsrecht für entsprechende
Vorhaben zur Stärkung der Innenentwicklung vereinfachen und beschleunigen.
Wir werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen
erhalten und wenn nötig ausbauen, um die Innenstädte als Einzelhandelsstandorte zu erhalten sowie
um die lokale Ökonomie und die Nutzungsvielfalt
zu stärken.
Heute können wir Vollzug melden. Wir haben unser Ziel
bereits im ersten Regierungsjahr dieser Koalition erreicht.
Lassen Sie mich Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, im Namen meiner Fraktion Danke
sagen. Auch danke ich den Planspielgemeinden. Sie haben durch ihre Mitwirkung einen maßgeblichen Anteil
an der zügigen Beratung und an der Qualität dieses Gesetzentwurfes. So war es möglich, frühzeitig und in enger Zusammenarbeit mit den Kommunen Probleme zu
lösen und Defizite auszuräumen. Uns allen empfehle ich,
die im Bau- und Planungsrecht seit Jahrzehnten bewährte Tradition der vorbereitenden Planspiele auch in
Zukunft fortzuführen. Schließlich danke ich auch Ihnen,
Herr Staatssekretär Großmann - schön, dass Sie noch
hier sind -, Ihrem Kollegen, Herrn Lütke Daldrup, und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Hauses für
die sehr konstruktive Zusammenarbeit bei den verschiedenen Beratungen bis zum heutigen Tage.
({0})
Wir schaffen mit diesem Gesetz neue Handlungsspielräume für die Länder, für die Kommunen und für
private Investoren. Wir schützen durch Stärkung der
Innenentwicklung den Außenbereich und damit Natur
und Umwelt. Wir bauen massiv Bürokratie ab. Wir erleichtern Investitionen, vor allem wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen und innerstädtischem Wohnraum oder um die Infrastrukturausstattung geht. Wir
stärken die Urbanität der Städte und Gemeinden. Und
wir geben den Kommunen neue Instrumente an die
Hand, damit sie sich mit ihren Planungen verstärkt und
leichter als bisher auf die Innenstädte konzentrieren und
damit Flächen außerhalb der Siedlungen schonen können.
Wir alle wissen: Es ist wesentlich einfacher, auf der
grünen Wiese ein neues Baugebiet auszuweisen, als im
Innenbereich zusammen mit sehr vielen anderen Beteiligten Planungen anzugehen. Deshalb war und ist es
richtig, dass wir es den Gemeinden künftig ermöglichen,
für die Innenentwicklung Bebauungspläne zu schaffen,
die in einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren
aufgestellt werden können. Schnelle, unbürokratische
Verfahren im innerstädtischen Bereich müssen in Zukunft im Wettbewerb mit Bebauungsplanverfahren auf
der grünen Wiese die Gewinner von Investitionsentscheidungen sein.
({1})
So verbessern wir die Möglichkeit zur schnellen
Schaffung von Arbeitsplätzen und schützen gleichzeitig
die Umwelt. Deshalb ist es verantwortbar und richtig,
dass wir bei der Innenentwicklung auf eine formelle Umweltverträglichkeitsprüfung mit dem damit verbundenen
aufwendigen Verfahren einschließlich der Erstellung eines Umweltberichts verzichten, zumal europarechtlich
dazu keinerlei Notwendigkeit besteht. Es ist auch richtig,
bei innerörtlichen Projekten unter bestimmten Voraussetzungen auf einen naturschutzrechtlichen Ausgleich zu
verzichten. Ein naturschutzrechtlicher Ausgleich macht
im Außenbereich Sinn. Aber innerörtlich ist diese Forderung schwer nachvollziehbar.
Wir sollten alles tun, um unsere Innenstädte und Ortskerne zu stärken. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung müssen wir uns mehr denn je auf die
Belebung der innerörtlichen Brachflächen - ob Industrie-, Bahn-, Post- oder Konversionsbrachen - konzentrieren. Wir wollen, dass eine Renaissance pro Innenstadt entsteht. Innenentwicklung und Nachverdichtung
durch kleinteilige Ergänzungen im Siedlungsbestand
bieten erhebliche Kostenvorteile gegenüber Siedlungsentwicklungen und sind ökologisch und ökonomisch
sinnvoller.
Die Kunst besteht darin, Antworten auf die folgenden
Fragen zu finden: Wie können wir ohne Geld des Steuerzahlers die Innenstädte, aber auch Stadtteilzentren und
Dörfer als Orte sozialer und kultureller Begegnungen
stärken und so die Lebensqualität der dort lebenden
Menschen erhöhen? Wie schaffen wir eine nachhaltige
Investitionspolitik, durch die die Ökonomie und die
Ökologie der Stadtentwicklung miteinander vereint werden?
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen - der Herr
Staatssekretär hat dieses Thema auch angerissen -: Wir
haben lange darüber diskutiert, wie wir private Initiativen bei der Stadtentwicklung rechtlich einbinden. Private Initiativen entstehen in Deutschland vermehrt, ob
zur Errichtung von Kinderspielplätzen, Gewerbeparks
oder Wohnungen. Diesem aus dem angelsächsischen
Raum kommenden berechtigten Anliegen, das in der
Fachwelt unter dem schönen Namen „Business-Improvement-Districts“ bekannt ist, wollen wir Rechnung tragen.
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir im
Baugesetzbuch keine detaillierten Regelungen treffen
sollten, die einheitlich von Flensburg bis Berchtesgaden
gelten. Die Ansichten zu diesem Thema und die damit
verbundenen Ansprüche sind zu differenziert und unterschiedlich. Ganz im Sinne des Föderalismus und im
Geiste der Föderalismusreform wird die Ausgestaltung
des neuen § 171 f des Baugesetzbuches daher Aufgabe
der Länder werden.
Der Vorschlag ist ein Angebot an die Kommunen und
Investoren, einvernehmlich Lösungen zu finden. Wir
schaffen die Option. Ob und wie die Länder und Kommunen damit umgehen, ist ihre Sache. Damit wird unser
Ziel erreicht, dass Bürgerschaft und Immobilienwirtschaft in die städtebaulichen Entscheidungen der Kommunen stärker einbezogen werden können.
Lassen Sie mich noch einige Punkte ansprechen, die
uns wichtig sind. Wir haben eine weitere Anregung aus
dem durchgeführten Praxistest aufgegriffen und die Erhaltung und Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche
neu als Belang der Bauleitplanung benannt. Die Verbesserung einer verbrauchernahen Versorgung ist vor allem
für ältere Menschen von Bedeutung.
Wir schaffen für die Kommunen wesentliche Erleichterungen beim Abschluss und der Abrechnung von
Sanierungsverfahren. Vereinfachte Abrechnungsregelungen befreien die Städte und Gemeinden von überflüssiger Bürokratie. Die im bestehenden Recht vorhandene
Pflicht der Gemeinden, ihre Flächennutzungspläne alle
15 Jahre überprüfen zu lassen, wird ersatzlos gestrichen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Kommunen sehr wohl in der Lage sind, eigenverantwortlich zu
beurteilen, ob und wann sich ihre Stadtentwicklung verändert. Sie können das mit Sicherheit besser beurteilen
als wir von Berlin aus. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Regelung und Gängelung.
Mit der Streichung der Überprüfungspflicht für Flächennutzungspläne werden den Kommunen unnötige
Kosten erspart. Gleichzeitig wird auch hier überflüssige
Bürokratie abgebaut.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir schaffen heute ein Gesetz für eine moderne Stadtentwicklung,
das im Sinne der Subsidiarität den Ländern und Kommunen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, unserem Anspruch „Vorfahrt für Arbeit“ gerecht wird, neuen privaten Initiativen der Bürgerinnen und Bürger und der
Immobilienwirtschaft eine rechtliche Basis schafft und
gleichzeitig neue Perspektiven für die Innenentwicklung
unserer Städte und Gemeinden eröffnet.
Wir schaffen ein Gesetz, das Natur und Umwelt
schützt und damit auch einen Beitrag zum Klimaschutz
- wir haben vorhin eine Debatte zu diesem Thema geführt - leistet, Verfahren vereinfacht und beschleunigt,
Bürokratie vor allem in den Rathäusern abbaut und damit Zeit und Steuergelder spart. Wir leisten damit nach
unserer Auffassung einen wichtigen Zukunftsbeitrag im
Hinblick auf den wirtschaftlichen und demografischen
Wandel in unserer Gesellschaft.
({2})
Die Städte und Gemeinden haben es in der Hand, den
großen Instrumentenkasten, den das Baugesetzbuch bietet, zu nutzen und das Instrument herauszugreifen, das
für ihren Patienten Innenstadt am besten geeignet erscheint.
Die erste Beratung des Gesetzentwurfs fand vor eineinhalb Monaten statt. Wir haben es geschafft, unseren
ehrgeizig gesteckten Zeitplan einzuhalten, innerhalb weniger Wochen die parlamentarischen Beratungen abzuschließen und ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen.
Es kann nach der erwarteten Zustimmung des Bundesrates am 1. Januar kommenden Jahres in Kraft treten. Ich
bin sicher, dass die Kommunen die neuen Möglichkeiten, die wir heute beschließen, sehr schnell aufgreifen
werden, Herr Kollege Döring, damit in Deutschland zügig investiert werden kann, neue Arbeitsplätze entstehen
und die Qualität unserer Innenstädte weiter verbessert
wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidrun Bluhm von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stellen Sie
sich einmal vor, Sie wohnen in einer Stadt und schauen
von Ihrem Balkon auf einen begrünten Platz und vielleicht sogar auf einen See. Plötzlich kommt ein Investor,
der dort ein Einkaufszentrum bauen, Handel ansiedeln,
Arbeitsplätze und Umsätze schaffen will. Damit er das
Vorhaben durchführt, wird ihm ein schnelleres Verfahren
ermöglicht und er wird von der Verpflichtung zum Grünausgleich in der Innenstadt befreit. Dann verändert sich
nicht nur Ihre Aussicht aus dem Fenster, sondern Ihre
Immobilie ist vielleicht nur noch die Hälfte wert.
Wenn wir also selbst betroffen sind, sehen wir vieles
egoistisch. Wenn Sie dann im Planverfahren der Verwaltung Ihre Bedenken schriftlich mitteilen, müssen Sie
feststellen, dass diese in dem beschleunigten Verfahren
kein Gewicht haben.
Frau Kollegin Bluhm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Döring?
Bitte.
Bitte schön, Herr Döring.
Frau Kollegin Bluhm, was halten Sie von dem Fall
aus der Landeshauptstadt Hannover, in dem es nach einer Bebauung, einer Versiegelung eines zentralen städtischen Platzes, zum Abbruch von 14 Kilometern geteertem Radweg im Stadtwald kommt? Halten Sie einen
solchen Grünausgleich tatsächlich für das Mittel der
Wahl, um die Erfüllung der von Ihnen zu Recht angesprochenen Belange sicherzustellen?
Im gegebenen Fall gibt man der Natur eine Ausgleichsfläche im außerhalb der Stadt gelegenen Speckgürtel zurück. Die Erfüllung von Umweltbelangen darf
nicht als lokaler oder regionaler, sondern muss als globaler Prozess betrachtet werden. Insofern bin ich in jedem
Fall dafür, dass dann, wenn an einer Stelle Flächen versiegelt werden, an anderer Stelle Flächen entsiegelt werden. Darauf, ob sie so weit entfernt sein müssen wie in
dem von Ihnen geschilderten Fall, komme ich gleich in
meiner Rede zurück. Nur so viel: In der Innenstadt muss
Grün erhalten bleiben. Das Gesetz wird aber letztendlich
dazu führen, dass es irgendwann keinen Baum mehr in
der Stadt gibt, es sei denn, wir pflanzen uns welche auf
die Dachterrasse.
({0})
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, wird die
demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger sowie vor allem der Naturschutzverbände und anderer Träger öffentlicher Belange wesentlich eingeschränkt. Innerstädtische Grünzüge und Freiräume sind wichtige
Elemente der Wohn- und Wohnumfeldqualität, Herr Döring, und bedürfen erfahrungsgemäß des besonderen
Schutzes vor konkurrierenden Ansprüchen. Auch die Innenentwicklung hat ihre Grenzen, nämlich dann, wenn
Lebensqualität auf der Strecke bleibt, wenn Verdichtung
und Vernichtung von Natur und Umwelt stattfinden und
damit Erstickung droht.
In den Kommunen, in denen es aktuelle Umweltkataster gibt, kann auch ein „normales“ Planverfahren zügig realisiert werden. Durch die mangelhafte Berücksichtigung der Umweltbelange wird in der Praxis nicht
ein Beschleunigungseffekt, sondern ein Verzögerungseffekt eintreten; denn der Gesetzentwurf widerspricht dem
Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuches an EURichtlinien. Erst 2004 wurde die Umweltprüfung in
Deutschland auf das Niveau der europäischen Norm angehoben. Heute, zwei Jahre später, schaffen wir diese
teilweise wieder ab. Der EuGH stellt heraus, dass die
Festsetzung von Schwellenwerten gerade nicht auf der
Grundlage von Grundstücksgrößen geschehen darf.
Auch wenn es noch keine Urteile dazu gibt, ist nach InKraft-Treten des Gesetzes genau damit verstärkt zu rechnen. Dann ist jede Verfahrensbeschleunigung dahin.
Zielführend wäre die bessere Ausnutzung bestehender Spielräume im Verfahren selbst oder die Aufhebung
der Trennung bei der Beteiligung von Öffentlichkeit und
Trägern öffentlicher Belange. Dann ließe sich eine wirkliche Verfahrensbeschleunigung ohne Preisgabe inhaltlicher Standards erreichen.
({1})
Der Naturschutzbund fasst in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf - aus meiner Sicht: kurz und richtig - zusammen:
Das geplante Gesetz wird seine Zielsetzung kaum
erreichen, weil sich die damit angestrebten so genannten Verfahrensbeschleunigungen regelmäßig
als Verfahrensbremsen erweisen. Denn gerade umfangreichere Vorhaben der Innenentwicklung stoßen in der Öffentlichkeit auf ein reges Beteiligungsinteresse. Eine wie von der Bundesregierung jetzt
vorgesehene rudimentäre Beteiligung der ÖffentHeidrun Bluhm
lichkeit würde den politischen Unmut weiter befördern.
Meine Redezeit erlaubt leider nicht, Herrn Großmann
ausführlich für die Zusammenarbeit zu loben. Aber eines
möchte ich an dieser Stelle noch sagen: Herr Döring,
wenn Sie so hocherfreut über dieses Gesetz sind und es
befürworten, dann macht das uns noch skeptischer.
({2})
Mein Fazit: Das Gesetz ist nicht geeignet, Entbürokratisierung und nachhaltige Stadtentwicklung in Einklang zu bringen, den Flächenverbrauch zu reduzieren
und die Verfahren zur Festsetzung von Bebauungsplänen
zu beschleunigen. Das Gesetz schränkt demokratische
Mitbestimmung und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger zugunsten innerstädtischer Verdichtung ohne Umweltausgleich weiter ein. Aus diesen Gründen habe ich
meiner Fraktion empfohlen, dem Gesetzentwurf nicht
zuzustimmen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Hettlich vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der demografische Wandel wird einen erheblichen Einfluss auf unsere Siedlungsstrukturen haben.
Wenn man sich die Prognosen beispielsweise vom BBR
anschaut, dann sieht man, dass sich darüber hinaus ein
Widerspruch auftut. Wir werden weniger Menschen und
wir werden trotzdem mehr Siedlungsflächen in Anspruch nehmen. Siedlungsflächen bedeuten zusätzliche
Verkehrsflächen. Damit wären wir bei dem Thema, über
das im Rahmen des vorherigen Tagesordnungspunktes
diskutiert wurde, dem Klimaschutz.
Wir Grüne hatten vor drei Wochen eine Veranstaltung
zum ökologischen Bauen. Unsere Experten aus verschiedenen Instituten haben deutlich gemacht, dass die klimaschädlichen Entwicklungen, die sich daraus ergeben
können, möglicherweise alle Bemühungen, die wir im
Augenblick bei der energetischen Gebäudesanierung
machen, konterkarieren. Deswegen ist es dringend notwendig, den Flächenverbrauch zu reduzieren und gezielte Maßnahmen zu ergreifen, die dem entgegenwirken.
Die Strategie, die Innenentwicklung der Städte zu fördern, ist grundsätzlich richtig. Da stimmen wir mit allen
überein. Wir sind aber der Meinung, dass die Maßnahmen, insbesondere die Novellierung des Baugesetzbuches, die gerade einmal zwei Jahre nach der letzten Novellierung stattfindet, untauglich sind und damit dieses
Ziel nicht erreicht wird. Wir sind auch der Meinung,
dass diese Gesetzesänderung zusätzlich zu einer Verunsicherung der betroffenen Kommunen führt; denn die
Behauptung, die Kommunen könnten selber entscheiden, ob sie nach dem beschleunigten Verfahren vorgehen
wollen oder nicht, trifft nicht zu.
({0})
Wir wissen, dass dies nicht greift, weil viele Kommunen
in einem mörderischen Wettbewerb mit anderen Kommunen stehen. Die Kannibalisierungstendenzen gerade
in diesem Bereich sind weithin bekannt. Deswegen verbessern wir ihre Situation durch diese Gesetzgebung
nicht.
({1})
Ich will auch noch eines zu den Kollegen der ehemaligen Koalition sagen. Liebe Kollegen, Sie räumen eine
Menge der Positionen, die wir in den letzten sieben Jahren gemeinsam eingenommen haben. Ich finde es sehr
bedauerlich, dass Sie immer wieder davon sprechen,
dass Umweltschutz in diesem Bereich ein Hemmnis ist,
und dass Umweltverbände als Bedrohung der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden.
({2})
Wir haben beim Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben genau dieses
Problem diskutiert. Die Beschneidung von Beteiligungsrechten ist aus meiner Sicht ein ganz gravierendes
Manko des komischen Stils, der sich jetzt Bahn bricht.
Heute Abend werden wir noch über das Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz diskutieren. Ich möchte gerne wissen,
wie Sie erklären, wie Sie das, was wir hier beschließen,
mit der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie der EU
kompatibel machen wollen. Darauf bin ich wirklich gespannt.
({3})
Wesentliche Kritikpunkte unserer Fraktion an dem
Gesetz betreffen das Verfahren. Viele Verbände haben
uns geschrieben, dass es absurd sei, dass im Juli die letzten Überleitungsfristen endeten, aber jetzt schon wieder
ein neues Gesetz auf den Weg gebracht werde. Wir im
Verkehrsausschuss haben die letzten Änderungen einen
halben Tag vor den Beratungen bekommen. Das zeigt,
dass offensichtlich hinter den Kulissen eine ganze
Menge Druck geherrscht hat, bestimmte Dinge zu ändern. In einem ordnungsgemäßen Verfahren hätten wir
dafür genügend Zeit haben müssen.
Es hat zwar einige begrüßenswerte Änderungen gegeben, aber der zentrale Kritikpunkt ist die Abschaffung
der Umweltverträglichkeitsprüfung und die Abschaffung
des Umweltberichts in § 13 a. Die Kollegin Bluhm hat
das sehr deutlich gemacht. Wir haben das erst vor zwei
Jahren in das Baugesetzbuch eingeführt. Jetzt nehmen
wir es wieder heraus. Das ist aus unserer Sicht ein echter
Schwachpunkt dieses Gesetzes. Deswegen werden wir
dem Gesetz nicht zustimmen.
({4})
Wir haben in den Berichterstattergesprächen ausdrücklich nachgefragt, wie man auf die Schwellenwerte
gekommen ist. Man hat versucht, das aus dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz herzuleiten. Wir haben
uns das noch einmal angeschaut. Wir können nur feststellen: Größe ist nicht das alleinige Kriterium. Es geht
auch um die qualitative Seite bei der Inanspruchnahme
von Flächen. Dem wird mit diesem Gesetz überhaupt
nicht Rechnung getragen. Das Gesetz verstößt nach unserer Sicht gegen das Umweltrechtsbehelfsgesetz. Wir
werden sehr gespannt darauf sein, was die Rechtsprechung dazu sagen wird. Wir finden, dass dieses Gesetz
keine Rechtssicherheit für die Kommunen schafft und
möglicherweise kein Beschleunigungs-, sondern eher
ein Verlangsamungsgesetz ist. Deswegen werden wir
diesem Gesetz nicht zustimmen.
Danke schön.
({5})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Petra Weis von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute von uns zu beschließende Gesetzentwurf zur
Erleichterung von Planungen für die Innenentwicklung
der Städte ist nicht nur Bestandteil des Koalitionsvertrages, sondern auch des Programms der Bundesregierung
zum Bürokratieabbau. Ich glaube, die Kollegen Götz
und Döring hatten schon darauf hingewiesen. Das allein
würde diesem Gesetzentwurf, zumindest aus der Sicht
einer Koalitionsparlamentarierin, schon seine eigene Legitimation verleihen. Mir ist aber viel wichtiger, zu betonen, dass wir mit diesem Gesetz einen weiteren Schritt
auf dem Weg zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung
gehen, und zwar deswegen, weil wir unserem obersten
Ziel näher kommen, den Städten und Gemeinden bei der
Bewältigung des strukturellen Wandels, in dem sich fast
alle von ihnen in der einen oder anderen Weise befinden,
zu helfen.
Es geht uns darum, den Städten und Gemeinden darüber hinaus ein weiteres Stück Verantwortung für ihre
eigene Entwicklung zu geben. Aber im Gegensatz zu
meinem Vorredner bin ich aufgrund meines anthropologischen Optimismus’ der Auffassung, dass die Kolleginnen und Kollegen vor Ort mit dieser Verantwortung auch
sorgfältig umgehen werden.
Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung müssen wir dem Grundsatz „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ absolute Priorität beimessen. Es sind vor allen Dingen die älteren Menschen,
die freiwillig oder unfreiwillig allein Lebenden und nicht
zuletzt die jungen Familien, die auf ein adäquates Wohnraumangebot und eine umfassende Infrastruktur in den
Zentren - nicht nur der großen Städte - angewiesen sind.
Mit diesem Gesetz haben wir nicht nur die Sicherung der
Zentralität und damit auch der Urbanität unserer Städte
im Blick. Durch die zügige Nutzung von Brachflächen
und ungenutztem Bauland im Sinne einer Nachverdichtung tragen wir auch zur Reduzierung des Flächenverbrauchs bei. Das ist eine ganz wichtige Zielsetzung.
Nicht zu vergessen ist der dritte gewünschte Aspekt,
der den beiden anderen in seiner Bedeutung natürlich in
nichts nachsteht. Es geht um die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen durch Investitionen.
({0})
Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem
Gesetz die Möglichkeit flexiblerer und damit im Endeffekt auch zügigerer Planungs- und Genehmigungsverfahren schaffen, dann tun wir das im ureigenen Interesse
der Städte und Gemeinden. Diese wiederum müssen die
ihnen übertragenen Möglichkeiten in der Zukunft verantwortungsvoll nutzen.
Sie - die Städte und Gemeinden - müssen natürlich
ein frühzeitiges Gespür für mögliche Konflikte entwickeln und müssen versuchen, einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen herzustellen. Das müssen sie gerade angesichts beschleunigter Verfahrensschritte, die
ich aber nachdrücklich unterstütze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die Zeit
seit der ersten Lesung des Gesetzentwurfes dafür genutzt, uns mit den Ergebnissen des Praxistests durch
das Deutsche Institut für Urbanistik auseinanderzusetzen. Wir haben zahlreiche Korrekturwünsche der am Test
beteiligten Städte, die das Gesetz als solches übrigens
unisono begrüßt haben, in den Gesetzentwurf integriert.
Dasselbe gilt natürlich für die vielfältigen Anregungen
des Bundesrats und der kommunalen Spitzenverbände.
Wir haben darüber hinaus - das ist schon angesprochen worden - Regelungen aufgenommen, wie beispielsweise die Möglichkeit für die Länder, rechtliche
Regelungen für die Einrichtung so genannter HIDs oder
BIDs zu erlassen. Diese Öffnungsklausel hilft hoffentlich, an die innerstädtischen Grundstückseigentümer zu
appellieren, ihr Engagement vor dem Hintergrund einer
gar nicht mehr so selbstverständlichen Wertsteigerung
ihrer Grundstücke und Immobilien in innerstädtischen
Problemlagen tatsächlich zu verstärken.
Jetzt habe ich noch gar nicht davon gesprochen, dass
es neben dem rechtlichen Handlungsbedarf vor allen
Dingen die in den Innenstädten lebenden Menschen
selbst sind, die ihren Städten neuen Glanz verleihen werden.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Städte
und Gemeinden mit diesem Angebot, das wir ihnen hiermit unterbreiten, sorgsam umgehen werden und ob die
Zielsetzung des Gesetzes, die wir bei allen Unterschieden in der Bewertung und gleich im Abstimmungsverhalten miteinander teilen, tatsächlich erreicht werden
wird. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der
Tatsache, dass die neuen Planungsinstrumente, die wir
den Städten und Gemeinden nun an die Hand geben, ein
zusätzliches Angebot neben den vorhandenen Verfahren
darstellen. Diejenigen Städte und Gemeinden, die vor
entsprechenden Herausforderungen stehen, werden es
mit entsprechender Verantwortung nutzen. Bei den anderen wird es nach dem Motto laufen: Alles wie gehabt.
Ich bin daher wie schon in meinem Redebeitrag im
September durchaus zuversichtlich, dass sich das Gesetz
als praxistauglich im Sinne der Erfinderinnen und Erfinder erweisen wird. Ich darf mich dem Dank an alle Beteiligten, an unser Haus und an die Kolleginnen und Kollegen Berichterstatterinnen und Berichterstatter in den
Fraktionen anschließen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass
wir in den kommenden Jahren einen sorgsamen Blick
auf die Umsetzung des Gesetzes haben werden. Ich bin
mir aber auch sicher, dass wir damit der nachhaltigen
Stadtentwicklung deutlichen Vorschub leisten.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung
der Städte, Drucksachen 16/2496 und 16/2932. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3308,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei
Gegenstimmen von den Fraktionen Die Linke und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/3330. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktionen Die
Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil,
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittelstandsförderung erhalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Matthias Berninger, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ERP-Sondervermögen in seiner Vermögenssubstanz erhalten
- Drucksachen 16/382, 16/548, 16/1018 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Zimmermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut
Schauerte für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute im Rahmen einer Debatte über Anträge der Grünen und der FDP über das ERP-Vermögen.
Ich möchte daran erinnern, wie das European Recovery
Program überhaupt entstanden ist. 1949 gab es ein Entschuldungsabkommen über bis dahin von den Amerikanern erbrachte Hilfsleistungen für das zerstörte
Deutschland. Dieses Entschuldungsabkommen ist so geregelt worden, dass Deutschland einen Grundstock an
Vermögen bilden musste, statt Rückzahlungen zu tätigen. Mit diesem Vermögen wurde Wirtschaftsförderung
betrieben.
Interessant ist, dass das damalige Vermögen nach
heutigen Preisen einen Wert von etwa 3,5 Milliarden
Euro gehabt hätte. Heute hat es einen Wert von etwa
12,5 Milliarden Euro. Es ist also im Laufe der Jahre gewachsen. Der Inflationsprozess wurde ausgeglichen, das
heißt, seine Substanz ist erhalten worden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine zweite
historische Bemerkung machen. Dieses Vermögen war
zunächst für ganz andere Zwecke - Förderung von
Grundstoffindustrien, Energieversorgung - gedacht. Erst
1996 wurde durch Erträge dieses Vermögens erstmals
die Innovationsförderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen betrieben. Erst 1997 wurde durch
Erträge dieses Vermögens erstmals Eigenkapitalhilfe gezahlt. In den Folgejahren ist es immer stärker zum zentralen Instrument der Finanzierung des Mittelstandes geworden. Uns eint die Sorge: Was wird daraus?
Wie können wir es möglichst für diejenigen Zwecke erhalten, denen wir es gewidmet sehen wollen?
Dieses Vermögen selbst - auch das muss hinzugefügt
werden - ist nie angetastet worden; vielmehr hat man
immer nur die Zinserträge verwendet, um Förderprogramme zu verbilligen. Dieses Vermögen war also angelegt. Die Erträge aus diesem Vermögen wurden genutzt,
um Kredite zu verbilligen. Dabei kommt ein ganz inte6204
ressantes Volumen heraus: Damit wurden jährlich Kredite in Höhe von etwa 3 bis 4 Milliarden Euro finanziert.
Der Gesamtwert des an mittelständische und Umwelttechnologien verwendende Unternehmen geliehenen
Vermögens dürfte sich zurzeit auf etwa 18 Milliarden
Euro belaufen. Das ist schon eine beachtenswerte Größe.
FDP und Grüne haben zu diesem Programm Anträge
vorgelegt. Mit diesen Anträgen werden im Wesentlichen
Positionen bezogen, die von der Union und von der
SPD, aber auch vom Bundeswirtschaftsminister und von
der Regierung für wichtig gehalten werden. Es geht um
die Erhaltung des Sondervermögens, um das Fördervolumen, um die Selbstständigkeit des Vermögens und um
Effizienzgewinne. Ein allzu großer Widerspruch scheint
nicht zu bestehen. Ich hoffe, dass wir mithilfe der aktuellen Entwicklungen eine gewisse Grundübereinstimmung
erzielen. Wir hatten sie in der Vergangenheit und können
sie möglicherweise auch in der Zukunft haben.
Was ist passiert? Wir haben uns entschieden, hier
nicht drum herumzureden, sondern einmal den aktuellen Stand zu liefern, den wir jetzt auch in der Regierungsverhandlung haben; das verlangt der Respekt vor
dem Hohen Hause. Das alles ist noch nicht fertig; wir
sind mitten in dem Prozess. Die Öffentlichkeit ist zum
Teil informiert. Ein paar Dinge bedürfen noch der Feinabstimmung. Ich gehe auch aus dieser Runde gleich
noch in eine weitere Abstimmung. Insofern gibt es eine
Reihe von Dingen, die noch unter einem gewissen Vorbehalt stehen. Das ist also noch nicht ganz fertig. Im Übrigen gibt es dann einen parlamentarischen Prozess, in
dem wir miteinander intensiv beraten müssen, was wir
denn für vernünftig halten.
Ich will einmal einige Eckpunkte vortragen:
Erstens. Das ERP-Sondervermögen bleibt nach der
Einbringung in die KfW als zweckgebundenes Sondervermögen ausschließlich der Mittelstandsförderung gewidmet. Dieser Grundsatz bleibt.
Zweitens. Die Ausgestaltung der Förderung erfolgt
wie bisher durch ein ERP-Wirtschaftsplangesetz in der
Zuständigkeit des BMWi und natürlich in der Zuständigkeit des Parlaments - wie bisher, ungeschmälert, nicht
reduziert.
Sie wissen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung
und in den Genshagener Beschlüssen verabredet haben,
dass 2 Milliarden Euro aus diesem ERP-Vermögen zur
Haushaltskonsolidierung herausgenommen werden sollen und dass etwa 14 Milliarden Euro - aus Forderungen
aus Krediten und den Gegenfinanzierungsverbindlichkeiten, die sich in etwa die Waage halten - ebenfalls zur
Liquiditätsverbesserung an den Bundeshaushalt abfließen sollen.
Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, eine Vereinbarung zu erzielen. Wir haben Gutachter damit beauftragt, das einmal zu berechnen und zu ermitteln, wie das
gehen kann. Das alles wissen Sie.
Wir sind nun zu folgendem Ergebnis gekommen: Wir
nehmen die 2 Milliarden Euro, wie im Koalitionsvertrag
vereinbart - nichts anderes wird eine große Koalition
verabreden -, heraus und stellen sie dem Finanzminister
zur Haushaltskonsolidierung zur Verfügung.
Dann gab es lange die Frage: Können wir trotz der
Herausnahme dieser 2 Milliarden Euro, also der Schmälerung des Sondervermögens, durch intelligentere, optimierte, effizientere Anlagestrategien dennoch die Zinsen
erwirtschaften, die notwendig sind, um das Fördervolumen beizubehalten? Wir haben zunächst gedacht, dass
das möglich ist. Aber das ist ausgesprochen schwierig.
Denn wir hätten, wenn wir dieses Zinsvolumen hätten
erreichen wollen, möglicherweise Unsicherheit, also Risiko, in Kauf nehmen müssen. Sie kennen den alten kapitalistischen oder marktwirtschaftlichen Grundsatz: Je
höher der Ertrag sein soll, desto größer ist das Risiko,
das man in Kauf nehmen muss. - Wenn wir die Zinsen
aus diesen 2 Milliarden Euro hätten zusätzlich erwirtschaften wollen, hätten wir riskantere Anlagestrategien
als bisher nicht ausschließen können.
Deswegen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, einen anderen Weg zu suchen. Der Weg ist gefunden worden: Die 2 Milliarden Euro, die wir zu Haushaltszwecken an den Finanzminister abgeben, werden dem ERPSondervermögen wieder zugeführt, und zwar durch Auflösung von Rücklagen und dadurch, dass Rückstellungen von ihrem Risiko befreit werden, sodass wir auch in
Zukunft von einem ungeschmälerten Umfang des ERPSondervermögens ausgehen können.
Dieses ungeschmälerte Vermögen wird angelegt. Es
ist ja auch in der Vergangenheit angelegt worden. Die
Frage ist, wie wir es anlegen. Wir hätten es, wie gesagt,
den allgemeinen wettbewerblichen Anlagestrategien von
Globalplayern oder großen Banken überantworten können. Wir haben uns aber dazu entschieden, es in die
KfW einzubringen, mit einer Hälfte ins Eigenkapital
und mit der anderen Hälfte ins Nachrangkapital. Aus
diesem Eigenkapital und Nachrangkapital erwächst die
Verpflichtung, mindestens 590 Millionen Euro pro Jahr
an Zinsen zu erzielen. Das ist auch der Ertrag, den die
Gutachter ermittelt hatten. Wenn man die Inflationsrate
herausrechnet, ist das der Ertrag, den wir auch in der
Vergangenheit im Jahr durchschnittlich erzielt haben, sodass wir auf das gleiche Zinsvolumen zurückgreifen
können, um weiterhin Mittelstandsförderung wie in der
Vergangenheit betreiben zu können.
({0})
Das ist eine wichtige Voraussetzung für dieses Projekt. Damit erreichen wir sogar - das ist ein ganz interessanter Aspekt -, dass wir das Problem bei den Gesprächen mit den Amerikanern über die Frage: „Was passiert
denn mit dem Vermögen?“ relativ leicht lösen können.
Wir können den Amerikanern nämlich mit Fug und
Recht sagen: Das Vermögen ist nicht geschmälert; das,
was sich ändert, ist die Anlagestrategie. Bereits bisher
war ein Teil des Vermögens in der KfW angelegt; dort
fielen auch die Erträge an. Ein weiterer Teil war auf dem
Markt angelegt. Nun haben wir uns entschieden, auch
um Doppeleffekte zu erreichen, diesen zweiten Teil
ebenfalls im Vermögen der KfW anzulegen und die ErParl. Staatssekretär Hartmut Schauerte
träge daraus weiterhin ungeschmälert der Mittelstandsund Wirtschaftsförderung zufließen zu lassen.
Das bedeutet, dass das Sondervermögen erhalten
bleibt und dass die Zuständigkeiten für das Sondervermögen erhalten bleiben, es aber nicht mehr so disponibel
wie in der Vergangenheit ist, wo man einfach an die Substanz gehen konnte, um ein Sonderprogramm zu fahren.
Jetzt ist es durch den Eigenkapitalcharakter stärker geschützt. Das stellt zum einen eine Erschwernis dar, aber
zum anderen auch eine Verbesserung bezüglich der Substanzerhaltung. Wir verlieren bei dieser Operation etwas
Freiheit bei der Gestaltung, aber gewinnen an Stabilität.
Deswegen glaube ich, dass man dieses Vorhaben vertreten und diesen Weg gehen kann.
Wenn sich die Dinge weiter in diese Richtung verfestigen, wie ich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt besten
Wissens und Gewissens vortrage, lade ich Sie alle herzlich ein, gemeinsam zu überlegen, wie wir die parlamentarische Begleitung ausgestalten, und über die Zukunftsperspektiven der Kreditanstalt für Wiederaufbau und
darüber zu reden, was es für die Politik der KfW bedeutet, einen so großen Batzen zusätzlich an Kapital zu bekommen. All das muss geklärt werden. Gemeinsame
Aufgabe ist jetzt, all das zu klären, sowohl zwischen den
beteiligten Häusern wie auch im parlamentarischen Beratungsverfahren. Ich glaube, gemeinsam können wir
das schaffen. Es geht schließlich um einen wichtigen
Baustein der Mittelstandsfinanzierung in Deutschland.
Diesen möchten wir auch für die Zukunft ungeschmälert
sichern.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Zeil von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute hat
dieses Parlament die Gelegenheit, den Anschlag des Finanzministers auf ein bewährtes Förderinstrument des
Mittelstandes abzuwehren. Herr Schauerte hat ja etwas
zurückhaltend den Streit zwischen seinem Ministerium
und dem Finanzministerium um die so genannte Neuordnung wiedergegeben. Seit gestern kennen wir ja zumindest anhand von Agenturmeldungen die Umrisse der
daraufhin erzielten Einigung. Trotz aller Formulierungskunst konnten Sie mich, Herr Schauerte, nicht überzeugen. Ich fürchte, es wird so sein wie oft bei dieser Regierung: Es kommt noch schlimmer als befürchtet.
({0})
Wir sollten einmal festhalten, was Sie gesagt haben,
Herr Schauerte: Es bleibt bei der Abführung von
2 Milliarden Euro aus dem Treuhandvermögen des Mittelstandes; diese wird also nicht zurückgenommen. Sie
handeln dann im Grunde nach der Devise: Der Appetit
kommt beim Essen. Das übrige Vermögen wird nämlich
der KfW als Eigen- und Nachrangkapital übertragen.
Dazu haben Sie zwar nicht sehr viel gesagt, aber es wird
deutlich, dass das im Grunde das Ende der Trennung
des ERP-Sondervermögens von dem Vermögen des
Bundes ist, wie es seit 1953 durch das Gesetz über die
Verwaltung des ERP-Sondervermögens vorgesehen war.
({1})
Auch alle Koalitionskosmetik kann darüber nicht hinwegtäuschen. Auf dem Papier mag es ja so sein, dass das
Wirtschaftsministerium weiterhin für die Ausgestaltung
der Förderung zuständig ist. Rechtlich und faktisch wird
aber künftig die KfW das Sagen haben. Derjenige nämlich, in dessen Bilanz das Vermögen steht, hat künftig
das Sagen.
({2})
Die Zielrichtung dieser Geldverschiebung hat mit
Mittelstandsförderung nicht mehr sehr viel zu tun. Das
ist ja in den Meldungen auch angedeutet worden. Sie
wollen die Staatsbank KfW zum einen in die Lage versetzen, Bundesanteile an ehemaligen Bundesunternehmen wie der Telekom zu übernehmen, also Akte der
Scheinprivatisierung zu setzen, zum anderen soll eine
mögliche Beteiligung an EADS vorbereitet werden.
({3})
Das ist Staatswirtschaft statt Marktwirtschaft, und das
auch noch mit dem Geld des Mittelstandes.
({4})
Ebenso bemerkenswert ist: Ausgerechnet ein Minister
der Heuschreckenbekämpfungspartei SPD will 14,4 Milliarden Euro Forderungen des ERP am Kapitalmarkt
platzieren. Das ist turbokapitalistische Bilanzakrobatik
zulasten des Mittelstandes, meine Damen und Herren.
({5})
Der Wirtschaftsminister hat sich erneut als mittelstandspolitischer Leichtmatrose erwiesen. Wenn es darauf ankommt, gibt er klein bei; viel Wind und wenig
Energie.
({6})
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es
weder zwingend noch außenpolitisch ratsam, wenn
Deutschland so tut, als könnte es seine Haushaltsprobleme nur mit fremder Leute Geld lösen. Sie haben sich
ja selber überboten im Schulterklopfen, wie gut die
Haushaltslage ist. Aus haushalterischer Sicht ist es doch
überhaupt nicht zwingend, zu einer solchen Konstruktion zu greifen. Außenpolitisch gesehen ist Ihre Vorgehensweise mindestens peinlich und, wenn man an das
Beihilferecht denkt, europarechtlich möglicherweise
auch gar nicht wirksam. Dazu haben Sie noch gar nichts
gesagt.
Sie haben zwar betont, dass Sie mit den Amerikanern Gespräche über das ERP-Vermögen geführt haben;
aber man kann nur ahnen - ich erinnere an den Brief des
Botschafters -, was die amerikanische Seite dazu sagen
wird, wenn aus der verharmlosenden Neuordnung nun
doch eine Komplettauflösung wird. Der Beschluss der
Regierung ist im Übrigen auch eine Missachtung der
einstimmigen Entschließungen des ERP-Unterausschusses.
Meine Damen und Herren von der Koalition, mit der
faktischen Auflösung des Sondervermögens, mit der Abführung der 2 Milliarden Euro, der Aufgabe der bewährten Verwaltung des Vermögens und möglicherweise
- das war noch nicht ganz klar - der parlamentarischen
Kontrolle wird eines der ältesten Instrumente der Mittelstandsförderung zerschlagen. Was Sie an dessen Stelle
setzen wollen, bleibt nebulös. Eine Verbesserung für den
Mittelstand bedeutet dies sicher nicht.
Ich appelliere an dieses Parlament, unseren Antrag
anzunehmen. Sorgen Sie dafür, dass das Sondervermögen nicht angegriffen wird und uns außenpolitische
Peinlichkeiten erspart bleiben!
({7})
Es ist ja schon schlimm genug, meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie das Geld von Steuerund Beitragszahlern als beliebige Verfügungsmasse betrachten, anstatt es an sie zurückzugeben. Aber hier, bei
der Plünderung des Treuhandvermögens des Mittelstandes, sollten Sie von der Fortsetzung dieses staatswirtschaftlichen Ansatzes absehen. Heute ist die letzte
Chance vor den Haushaltsberatungen, dies zu verhindern.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Herr Staatssekretär,
dankbar, dass wir uns nicht bei den Anträgen der Opposition aufhalten, sondern dass Sie die Chance ergriffen
haben, hier gleich den Zwischenstand der Verhandlungen frank und frei zu schildern, wenngleich ich trotzdem
sagen möchte, dass wir in der SPD-Fraktion uns alle,
denke ich, ein anderes Vorgehen gewünscht hätten.
({0})
Denn es ist ohne Zweifel so, dass wir, getrieben durch
die Tickermeldungen von gestern, jetzt hier einen Zwischenstand zu erörtern haben, der vielleicht Wirklichkeit
wird, vielleicht aber auch nicht. Die Schuld an diesem
Vorgehen freilich liegt weniger bei der Regierung - so
hoffe ich mal; wer auch immer das durchgestochen haben mag.
Meine Damen und Herren, wie ist die Ausgangslage?
Die Koalitionsfraktionen hatten sich erstens darauf verständig, das ERP-Programm zu erhalten und zugleich
2 Milliarden Euro an den Bundeshaushalt abzuführen.
Von daher, Herr Zeil, kann keine Rede davon sein, dass
wir jetzt überraschenderweise 2 Milliarden Euro von
dem Programm abzwacken würden. Das war von vornherein klar; Haushaltskonsolidierung in Höhe von
2 Milliarden Euro war unser Ziel und das setzen wir jetzt
um.
Zweitens. Im Unterschied zu Ihnen habe ich bereits in
meiner ersten Rede, die ich in diesem Zusammenhang
gehalten habe, zu Ihrem Antrag gesagt, dass wir als Sozialdemokraten die haushalterische Zuordnung des ERPVermögens nicht für den zentralen Punkt halten, sondern
für uns ist der zentrale Punkt, wie die Mittel verwandt
werden: Werden sie der Mittelstandsförderung zugeführt
oder nicht? Das ist für uns das Kriterium; das sage ich
ausdrücklich. Deshalb meine ich, dass „Zerschlagung
von Mittelstandsförderung“ hier etwas zu starker Tobak
ist. So viel muss doch der Gerechtigkeit halber gesagt
werden.
Drittens. Ich habe mir die Ergebnisse des ERP-Unterausschusses und den Beschluss angeschaut. Da ist in der
Tat die zentrale Anforderung, dass die Förderkraft des
Sondervermögens ungeschmälert erhalten bleibt. Das
ist das, worauf sich auch das Parlament verständigt hat,
auch Sie und alle hier; das war einstimmig.
Jetzt stellt sich die Frage, ob diese Vorhaben unter
Anwendung des Modells, das hier vorgestellt worden ist,
gelingt. Ich will nicht verschweigen, dass auch ich noch
die eine oder andere Frage dazu habe.
Zum Ersten werden 2 Milliarden Euro aus dem ERPSondervermögen an den Bundeshaushalt abgeführt. Als
Kompensation hierfür überträgt das Bundesfinanzministerium Rücklagen in Höhe von rund 1 Milliarde Euro auf
das ERP-Sondervermögen. Zugleich werden risikofreie
Rückstellungen in Höhe von 1 Milliarde Euro beim
ERP-Sondervermögen aktiviert.
Zum Zweiten übernimmt der Bund Forderungen und
Verbindlichkeiten des ERP-Sondervermögens in Höhe
von 14,4 Milliarden Euro. Die eine Hälfte des disponiblen ERP-Sondervermögens in Höhe von 9,3 Milliarden
Euro wird der KfW als Eigenkapital, die andere Hälfte
als Nachrangkapital zur Verfügung gestellt. Die KfW
verwendet das ERP-Sondervermögen so - das ist das
Ziel dieses Vorgehens -, dass die Substanz und die Ertragskraft des Vermögens erhalten bleiben. Wenn dies so
ist - ich sage ausdrücklich: wenn dies so ist -, dann wird
die Hürde USA in der Tat genommen. Denn die Befürchtung der Vereinigten Staaten von Amerika war,
dass dies möglicherweise nicht der Fall sein könnte.
Wir werden im parlamentarischen Verfahren darauf
zu achten haben, ob das wirklich so eintritt. Wir alle sind
uns einig - dazu gibt es einen einstimmigen Beschluss -,
dass wir darauf achten müssen. Für mich ist eine wichtige Frage, ob es gelingt, den Einfluss des Deutschen
Bundestages auf das Vermögen sicherzustellen, wenn
dieses Geld zur KfW gewandert ist. Das ist für mich ein
ganz zentraler Punkt. Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär, dass wir darauf achten werden. Denn wir wollen,
dass der parlamentarische Einfluss nach wie vor erhalten
bleibt.
Wenn die Mittelstandsförderung ungeschmälert erhalten bleibt und wenn unser Einfluss sichergestellt ist - ich
sage Ihnen ausdrücklich, dass ich das augenblicklich
Christian Lange ({1})
noch nicht abschließend beurteilen kann -, dann können
wir einem solchen Kompromiss zustimmen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Diskussion
und die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung hat
sich auf die Fahne geschrieben, den Haushalt zu sanieren
und den Mittelstand zu fördern. Hätten Sie sich auf die
Fahne geschrieben, den Sozialstaat auszubauen: Kein
Mensch würde Ihnen glauben. Hätten Sie gesagt, wir
machen eine Politik für die Rentnerinnen und Rentner in
diesem Land: Kein Mensch würde Ihnen glauben. Denn
die Mehrheit der Menschen weiß inzwischen, dass jede
Reform der Bundesregierung einen Griff ins Portemonnaie für jeden Einzelnen bedeutet. Das gilt auch für die
Neuordnung des ERP-Sondervermögens.
Wie sieht es aber nun mit der Haushaltssanierung und
der Mittelstandsförderung aus? Wenn wir uns den Umgang mit dem ERP-Sondervermögen ansehen, wissen
wir, wie es um die zentralen Ziele der Bundesregierung
bestellt ist. Die Regierung plant, das ERP-Sondervermögen, das für die direkte Wirtschaftsförderung speziell
kleiner und mittlerer Unternehmen bestimmt ist, für einen haushaltspolitischen Taschenspielertrick zu missbrauchen, damit die Neuverschuldung des Bundes besser
aussieht, als sie tatsächlich ist.
Das Bundeswirtschaftsministerium behauptet, das ERPSondervermögen und die parlamentarische Kontrolle
darüber könnten bei dieser Operation erhalten werden.
Wenn das stimmen würde, hätten wir es also mit einer reinen Verschleierungsaktion bezüglich der Neuverschuldung zu tun. Dann sollte man eigentlich ehrlicherweise
auf sie verzichten.
Es ist jedoch nicht so einfach, das Sondervermögen
formal zur Haushaltssanierung einzusetzen, es gleichzeitig in seiner Substanz zu erhalten und die parlamentarische Kontrolle zu sichern, die auch Herr Zeil und Herr
Lange angesprochen haben. Es scheint sogar so kompliziert zu sein, dass die Regierung einer Aufforderung des
ERP-Unterausschusses, bis zum 8. September ein Konzept vorzulegen, bis heute noch nicht nachgekommen
ist. Die Links-Fraktion befürchtet daher, dass genau das
passieren wird, was der gesunde Menschenverstand nahe
legt, nämlich: Das ERP-Sondervermögen wird nicht nur
auf dem Papier, sondern tatsächlich zur Haushaltssanierung eingesetzt.
Genau darauf läuft auch die Einigung zwischen den
Ministern Glos und Steinbrück hinaus. Das war heute
auch in den Medien zu lesen. Der Finanzminister sagt
gern, Deutschland dürfe nicht länger von der Substanz
leben. Seine Art der Haushaltskonsolidierung ist es aber,
gerade diese Substanz zu verscherbeln. Der Umgang mit
dem ERP-Vermögen ist ein Beispiel dafür. Minister
Steinbrücks Finanzplanung sieht vor, dass die Verschuldungsziele in den nächsten Jahren durch Einmalerlöse,
also durch Privatisierungen, erreicht werden sollen.
Privatisierungen bringen aber nur kurzfristige Einnahmen, die mit dauerhaften Einnahmeausfällen bezahlt
werden. Ich denke, das weiß jeder hier im Saal. Das ist
aus unserer Sicht keine Haushaltskonsolidierung.
({0})
Privatisierungen sind nicht nur langfristig ein Verlustgeschäft, sie kosten auch wirtschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten. Deswegen muss das ERP-Sondervermögen in seiner bisherigen Form erhalten bleiben. Es
ist unfassbar, dass Sie jetzt das ERP-Sondervermögen
plündern wollen und gleichzeitig die Besteuerung von
Kapitalgesellschaften senken. Das zeigt, worum es Ihnen
wirklich geht.
Ich komme zum Schluss. Haushaltssanierung und
Mittelstandsförderung sind bei Ihnen nur Worthülsen,
die einzig dazu dienen, eine Politik zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zugunsten des
Großkapitals zu rechtfertigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem vorangegangenen Redebeitrag möchte ich
wieder auf den Kern des Themas kommen. Herr Staatssekretär Schauerte hat die historischen Hintergründe genannt. Er hat auch darauf hingewiesen, welche Entwicklung das ERP-Sondervermögen genommen hat. Das ist
eine sehr positive Entwicklung. Wir sehen, dass allein
im Jahr 2006 über 4 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Das ist ein großer Erfolg für unsere mittelständischen und kleinen innovativen Unternehmen in der Bundesrepublik.
Wir wissen auch, dass das ERP-Sondervermögen mit
das wichtigste Instrument der Innovations-, der Mittelstands- und zunehmend auch der Umwelttechnologieförderung geworden ist. Der Bundestag ist seit Jahrzehnten
der Hüter dieses Vermögens. Deswegen meinen wir,
dass auch jetzt bei dieser Auseinandersetzung der Mut
des ganzen Hauses gefragt ist, sich hier klar aufzustellen.
({0})
Wir haben gehört, dass die Ziele des Substanzerhaltungsgebots, des Erhalts der Förderkraft und der fortwährenden Verfügungsgewalt des Bundestags wohl mit
Ihren Zielen übereinstimmen. Zumindest hat das in
Ihrem Redebeitrag so geklungen. Wir haben auch gesehen, dass sich der Unterausschuss sehr einmütig hinter
das alternativ vom Bundeswirtschaftsministerium vorgeschlagene Modell gestellt hat, sodass diese drei genannten Ziele auch umgesetzt werden. Darüber haben wir
hier schon diskutiert.
Bundeswirtschaftsminister Glos hat sich erst kürzlich
- ich glaube, in den letzten ein, zwei Tagen - gegen
Haushaltstricksereien ausgesprochen. Er hat in diesem
Zusammenhang interessanterweise das ERP-Sondervermögen als besonders schutzwürdig hervorgehoben. Deshalb waren wir ganz zuversichtlich und dachten: Gut,
das läuft in die richtige Richtung. Jetzt gibt es diese angebliche Einigung, die bei genauerem Hinsehen aber
verschiedene Fragen aufwirft. Ich möchte drei Fragen
ansprechen:
Erstens. Bleibt die Vermögenssubstanz erhalten? Im
Eckpunktepapier steht, dass der Substanzverlust nur
durch eine Rücklagenübertragung in Höhe von 1 Milliarde Euro kompensiert werden soll. Die Auflösung von
Rückstellungen ist nur eine Kompensation, wenn dem
ERP gleichzeitig Lasten in dieser Höhe abgenommen
werden. Herr Staatssekretär, ohne Entlastung des ERP
werden die USA dieser Substanzentnahme ganz sicher
widersprechen. Davon ist wohl auszugehen.
Zweitens. Bleibt die Förderkraft des ERP erhalten?
Hierzu sagen die unabhängigen Gutachter der Bundesregierung, dass nur bei einer Anlage auf dem Kapitalmarkt
und einer Mindestverzinsung von 590 Millionen Euro
im Jahr die Förderkraft des ERP-Sondervermögens erhalten bleibt. Aber diese 590 Millionen Euro stehen
nicht mehr in Ihrem Konsenspapier.
({1})
- Sie haben sie zwar genannt; aber sie stehen nicht mehr
im Konsenspapier. Sie wurden auch nicht an die Presse
weitergegeben. Das heißt, wir haben auch hier, was die
Summe der Mittelstandsförderung anbelangt, viele Fragezeichen.
Drittens. Wer hat die Verfügungsgewalt über das
Vermögen? Das ist mit der wichtigste Punkt. Ein Teil des
Vermögens geht als Eigenkapital an die KfW. Das KfWGesetz regelt eindeutig, dass der KfW-Vorstand die alleinige Verfügungsgewalt über das KfW-Eigenkapital hat.
({2})
Durch den Einbringungsvertrag und möglichst auch
durch eine Änderung des KfW-Gesetzes muss sichergestellt werden, dass das Verfügungsrecht des KfW-Vorstandes nicht für das ERP-Kapital gelten darf. Das steht
noch aus. Auch hier gibt es also viele offene Fragen.
({3})
Auch ich meine, dass die Spekulationen, die im Zusammenhang mit der Telekom-Aktie angestellt worden
sind, Quatsch sind. Die KfW kann das Ganze aus eigenen Mitteln bestreiten; diese Argumentation braucht
man nicht heranzuziehen. Aber die Spekulation, die im
Zusammenhang mit dem ERP-Eigenkapital und der
EADS-Beteiligung angestellt wurde, ist nicht ganz abzuweisen. Sie steht im Raum. Ich hoffe nur, dass wir hier
bald Klarheit bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Koalitionsfraktionen, es gibt eine Reihe offener Fragen.
Wir sehen, dass sich Herr Glos zum Thema Haushalt
klar aufgestellt hat. Er brüllt ja neuerdings ein bisschen
wie ein Bär
({4})
und wird hier und da ein bisschen gestoppt. Aber wenn
es passieren sollte, dass er die Verfügungsgewalt verliert
und die Förderkraft beschnitten wird, dann wird ihm - so
kann man nur sagen - das Fell über die Ohren gezogen.
Ich hoffe, wir verhindern das gemeinsam.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/1018. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/382 mit dem
Titel „ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittelstandsförderung erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/548 mit
dem Titel „ERP-Sondervermögen in seiner Vermögenssubstanz erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und
zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften ({0})
- Drucksachen 16/2710, 16/2934 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksachen 16/3315, 16/3369 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Rzepka
Lothar Binding ({2})
Dr. Gerhard Schick
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({3})
- Darf ich die Kollegen, die der Debatte nicht folgen
wollen, bitten, den Saal zu verlassen oder die Plätze einzunehmen. - Danke schön.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks für die Bundesregierung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das zur Beschlussfassung anstehende Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher
Vorschriften, in der Kurzform „SEStEG“ genannt - auch
das versteht man eigentlich nicht; aber es ist zumindest
kürzer - passt das deutsche Steuerrecht an neuere EUrechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht und im
Steuerrecht an. Die Fusionsrichtlinie wird umfassend in
nationales Recht umgesetzt, die so genannte Wegzugsbesteuerung für natürliche Personen an die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs angepasst und
die Europäische Gesellschaft, SE, und die Europäische
Genossenschaft, SCE, werden im deutschen Steuerrecht
verankert.
Dieses Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es erhöht
seine Attraktivität.
Deutschland verfolgt diese Linie offensiv, indem es
erstmals EU-weit grenzüberschreitende Umwandlungen ermöglicht und die EU-Fusionsrichtlinie komplett
umsetzt. Die Unternehmen können so ohne steuerliche
Hemmnisse die Rechtsform von Kapitalgesellschaften
annehmen und sich ganz nach ihren betriebswirtschaftlichen Bedürfnissen grenzüberschreitend strukturieren.
Vor allem die Neukonzeption des Einbringungsteils des
Umwandlungssteuergesetzes, der die Umwandlung von
Personengesellschaften in Kapitalgesellschaften regelt,
eröffnet den Steuerpflichtigen diese Möglichkeiten.
Aber auch zahlreiche andere Umwandlungsformen sind
nunmehr ohne Rücksicht auf die Staatsgrenzen möglich.
Besonders zu erwähnen ist - ich verweise auf die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses -, dass die
steuerneutrale Sacheinbringung von inländischem Vermögen, die Einbringung von Anteilen an Kapitalgesellschaften aus Drittstaaten und die Einbringung in Personengesellschaften nicht davon abhängig gemacht werden,
ob an den Unternehmen nicht in der EU ansässige Personen beteiligt sind.
Die Beseitigung steuerlicher Hemmnisse ist aber damit verbunden, dass Deutschland von den ihm zustehenden Besteuerungsrechten klar und eindeutig in angemessenem Umfang Gebrauch macht. In diesem Gesetz
kommt das klassische do ut des, Geben und Nehmen,
zum Tragen.
Mit dieser Sicherung deutscher Besteuerungsrechte
unterstützt das Gesetz das Anliegen der Unternehmensteuerreform, dass Unternehmen ihre in Deutschland erwirtschafteten Gewinne auch hier versteuern.
({0})
Gerade im Hinblick auf die erweiterten Möglichkeiten
zur grenzüberschreitenden Umwandlung muss sichergestellt werden, dass in Deutschland geschaffene Werte
auch in Deutschland versteuert werden. Deshalb werden
die Regelungen zur Entstrickung in diesem Gesetzentwurf systematisch zusammengefasst und fortentwickelt.
Zur effektiven Sicherung unserer Besteuerungsrechte
sieht der Regierungsentwurf in Fällen der Verlagerung
von Vermögen ins Ausland grundsätzlich eine sofortige
Besteuerung der stillen Reserven vor. Etwas anderes
wäre zu gestaltungsanfällig und kaum administrierbar. In
Fällen, in denen Wirtschaftsgüter in eine Betriebsstätte
innerhalb der Europäischen Union verbracht werden,
wird die Besteuerung allerdings auf fünf Jahre zeitlich
gestreckt, und zwar mittels der so genannten Ausgleichspostenmethode.
Nach eingehender Diskussion empfiehlt der Finanzausschuss auch, die im Regierungsentwurf vorgesehene
Missbrauchsklausel zu streichen. In der Expertenanhörung wurde die Streichung unter Hinweis auf den allgemein bekannten § 42 der Abgabenordnung gefordert. Allerdings ist die Überzeugungskraft dieses Arguments
bisher leider sehr begrenzt; denn wir alle wissen, wie der
Bundesfinanzhof zu § 42 der Abgabenordnung steht.
Mir jedenfalls ist kein Fall aus dem Unternehmensteuerrecht bekannt, in dem unser oberstes Finanzgericht diese
Vorschrift zur Anwendung gebracht hätte. Ich möchte
deshalb nochmals mit Nachdruck darauf hinweisen, dass
es auch ohne den § 26 des Umwandlungssteuergesetzes
nicht Sinn des Umwandlungssteuerrechts ist, ausschließlich steuerlich motivierte Umwandlungen zu fördern.
Diese Vorgänge haben nichts mit einer betriebswirtschaftlich sinnvollen Neustrukturierung von Unternehmen zu tun.
({1})
Es bleibt zu hoffen, dass dieses deutliche Signal des
Gesetzgebers verstanden wird und dem § 42 der Abgabenordnung zukünftig ein gebührender Platz in unserer
Rechtsordnung zuteil wird.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gehen wir ins Offene, sehen wir die Chance des Risikos. Wecken wir die Kraft der Freiheit …
- so die Worte der Bundeskanzlerin zum Tag der Deutschen Einheit. Die Bundeskanzlerin wird damit zur
Kronzeugin gegen diesen Gesetzentwurf. Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie nämlich genau das Gegenteil erreichen: Sie versuchen, Investoren in Deutschland festzuhalten. Das hat nichts, aber auch rein gar nichts mit
„Mehr Freiheit wagen“ oder „Ins Offene gehen“ zu tun.
Ihre Politik ist Ausdruck einer Verzagtheit und - das
ist besonders bedauerlich - Ausdruck eines fehlenden
Vertrauens in den Standort Deutschland. Niemand hier
im Hohen Haus findet es begrüßenswert, wenn Unternehmen Wirtschaftsgüter ins Ausland verlagern. Es ist
gut, dass die Bundesregierung dieses Thema ernst
nimmt. Um das Problem zu lösen, schlagen Sie aber einen völlig falschen Weg ein. Sie fragen nicht, welches
die Ursachen für das Problem sind. Sie fragen nicht, warum Unternehmen Betriebsstätten im Ausland unterstützen und Wirtschaftsgüter ins Ausland verlagern.
Sie beschränken sich darauf, die Unternehmen in ihrer Flexibilität einzuschränken. Sie bekämpfen damit
nicht die Ursachen. Sie agieren nicht, sondern reagieren
nur.
({0})
Im Grunde genommen, Frau Staatssekretärin
Hendricks, verhalten Sie sich wie ein Hotelier, der feststellt, dass ihm die Kunden davonlaufen, und auf die
glorreiche Idee kommt, einfach die Zimmer abzusperren.
Das ist eine Politik, von der kein positives Signal ausgeht. Mit dieser Politik werden Sie keine neuen Investoren für unser Land begeistern. Wo sollen die positiven
Anreize für die Wirtschaft sein, die von diesem Gesetz
ausgehen? Glauben Sie wirklich, dass Deutschland so
schlecht ist, dass Sie die Unternehmen hier anketten
müssen? Ist es nicht Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
unser Standort von den Rahmenbedingungen her so attraktiv ausgestaltet wird, dass Unternehmen gerne zu uns
kommen? Verstehen Sie Deutschland nicht als offenes
Land, als Wirtschaftsnation, die selbstbewusst Investoren anwerben kann? Brauchen wir wirklich Steuerschranken, Steuermauern?
Das Problem ist doch vor allem, dass die Rahmenbedingungen in unserem Land nicht stimmen. Sie sprechen von Chancen, die man über Risiken stellen sollte,
von der Kraft der Freiheit, die es zu wecken gilt; so etwas hören wir immer wieder von Frau Merkel. Man
fragt sich, wie diese Finanzpolitik dazu passen kann.
({1})
Sie machen sich mit diesem Gesetzentwurf einen schlanken Fuß, Sie ignorieren die Ursachen und behandeln nur
Symptome. Sie werden damit nichts erreichen. Wenn Sie
versuchen, Unternehmen hier festzuhalten, ist die Konsequenz, dass Neuinvestoren diesen Standort künftig
meiden werden. Was daran verantwortliche Politik sein
soll, Politik zur Stärkung der Unternehmenslandschaft in
Deutschland und vor allen Dingen zur Schaffung neuer
Arbeitsplätze in unserem Land, diese Erklärung bleiben
Sie schuldig.
({2})
Die Einschränkung der Verlustvorträge spricht doch
eine deutliche Sprache: Wer keine Verluste akzeptiert,
der akzeptiert auch keine Risiken. Und wer keine Risiken akzeptiert, hat auf Dauer keine Chancen. So einfach
ist das, so deutlich wurde das auch in der Anhörung ausgesprochen und so deutlich kann man auf den Punkt
bringen, warum dieser Gesetzentwurf traurig stimmt.
Frau Merkel hat einmal gesagt: Sehen wir doch die
Chancen vor dem Risiko! Ich frage Sie, meine Damen
und Herren von der großen Koalition: Wenn Ihre Kanzlerin Ihnen eine solche Vorgabe macht, warum handeln
Sie nicht danach? Warum wagen Sie nicht mehr Freiheit? Warum führen Sie unser Land nicht ins Offene?
Das Gleiche gilt für die Streckung der Besteuerung
von verlagerten Wirtschaftsgütern auf fünf Jahre.
({3})
Im ursprünglichen Entwurf der Regierung war es noch
katastrophaler. Sie haben das etwas verbessert. Die Beratungen im Finanzausschuss waren an dieser Stelle durchaus sinnvoll und hilfreich.
({4})
Nur, am Ende ist immer noch nichts Gutes herausgekommen. Wir alle reden von Bürokratieabbau und halten das hoch. Doch jetzt machen Sie eine Ausnahme,
eine Sonderregelung: Über fünf Jahre hinweg soll verfolgt werden, was mit dem Bagger geschieht, der in eine
Betriebsstätte ins Ausland verbracht worden ist. Was das
mit Vereinfachung, mit Bürokratieabbau zu tun hat, das
müssen Sie uns erklären! Eine solche Regelung schränkt
die Flexibilität der Unternehmen ein. Dabei geht es den
Unternehmen schon nicht gut. Es wird ihnen mit diesem
Gesetz noch schlechter gehen.
({5})
Dieses Gesetz ist für den Wirtschaftsstandort
Deutschland, der an einer erheblichen Fehlausrichtung
leidet, insgesamt ein falsches Signal. Was falsch ist, wird
nicht dadurch besser, dass man es auf fünf Jahre verteilt.
Ich kann Sie nur auffordern: Gehen Sie ins Offene! Sehen Sie die Chancen vor dem Risiko und wagen Sie
mehr Freiheit! Überarbeiten Sie Ihren Gesetzentwurf!
Legen Sie etwas vor, was dem Selbstbewusstsein der
Deutschen und ihrem Vertrauen in den Wirtschaftsstandort gerecht wird! Wir können stolz sein auf das, was
Deutschland leisten kann, und haben es nicht nötig, Investoren einzusperren, Schranken aufzubauen. Das ist
nicht das, was die FDP unter Deutschland versteht, und
nicht das, was Sie als Bundesregierung als Bild von
Deutschland zeichnen sollten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Rzepka von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundestag berät heute in zweiter und dritter
Lesung das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen
zur Einführung der Europäischen Gesellschaft. Damit
werden der steuerliche Rahmen für die Europäische Gesellschaft und die Europäische Genossenschaft geschaffen und die Richtlinie des Rates vom Februar 2005 über
das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen,
die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener
Mitgliedstaaten betreffen, in nationales Recht umgesetzt.
Mit dem Gesetz wollen wir steuerliche Hemmnisse
für grenzüberschreitende Umstrukturierungen von
Unternehmen beseitigen und die Möglichkeiten zur
freien Wahl der Rechtsform verbessern. Künftig sollen
europaweit die gleichen Grundsätze für inländische und
für grenzüberschreitende Umstrukturierungen von Unternehmen gelten. Außerdem wollen wir die steuerlichen
Regelungen für die Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Anteilen neu gestalten. Der Gesetzentwurf
soll ein weiterer Schritt zur Herstellung des gemeinsamen Marktes in der Europäischen Union sein. Auch das
Steuerrecht muss den fortschreitenden internationalen
wirtschaftlichen Verflechtungen Rechnung tragen.
Vor allem geht es uns aber um die Stärkung des
Standortes Deutschland für Investitionen, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD
Dabei verkennen wir nicht, dass es notwendig ist, die
deutschen Besteuerungsrechte und das deutsche Steueraufkommen zu sichern; denn durch EU-weite Umstrukturierungen und die Verlagerung von Vermögenswerten
über die Grenze kann der Zugriff des deutschen Fiskus
auf das Steuersubstrat erschwert oder sogar unmöglich
gemacht werden.
Zielsetzung für uns in der Union war es aber auch, die
Normen so auszugestalten, dass wir die europäischen
Vorgaben umsetzen, ohne die Unternehmen mit zusätzlichen Steuern zu belasten; denn vor dem Hintergrund der
vergleichsweise hohen nominalen und effektiven Steuerbelastung der deutschen Unternehmen schwächen Steuererhöhungen den Standort. Außerdem stehen sie im
Gegensatz zu dem Ziel der geplanten Unternehmensteuerreform, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft zu stärken.
In der Anhörung der Sachverständigen am 18. Oktober 2006 sind wesentliche Regelungen des Gesetzentwurfes der Bundesregierung auf nahezu einhellige Kritik
gestoßen. Die Union hat aus dieser Kritik Konsequenzen
gezogen und gemeinsam mit dem Koalitionspartner den
Entwurf in wesentlichen Punkten geändert.
({0})
So haben wir erstens die Sofortversteuerung stiller
Reserven bei Zuordnung von Wirtschaftsgütern zu einer
im Ausland gelegenen Betriebsstätte aus dem ursprünglichen Entwurf gestrichen. Das hätte bei den Unternehmen einen sofortigen Liquiditätsabfluss bedeutet, ohne
dass diesen durch Abschreibungen der verbrachten Wirtschaftsgüter oder durch Veräußerungen Liquidität zugeflossen wäre. Stattdessen werden wir in solchen Fällen
der Entstrickung die über einen Zeitraum von fünf Jahren gestreckte Besteuerung der stillen Reserven ermöglichen. Das ist eine wesentliche Erleichterung für die Unternehmen.
({1})
Zweitens konnten wir eine massive Schlechterstellung
deutscher Personengesellschaften mit Gesellschaftern
in Drittstaaten verhindern. Sie waren aufgrund des Umwandlungssteuergesetzes bislang in der Lage, Unternehmensteile unterhalb der Obergesellschaft steuerneutral in
Tochterkapitalgesellschaften oder Tochterpersonengesellschaften einzubringen. Diese Möglichkeit sollte ihnen gemäß dem ursprünglichen Gesetzentwurf selbst
dann genommen werden, wenn deutsches Steuersubstrat
durch den Umwandlungsvorgang in keiner Weise gefährdet worden wäre. Aufgrund unserer Initiative wird es
aber bei der bisherigen Rechtslage bleiben.
Herr Kollege Wissing, ich wünschte mir, dass Sie sich
in Ihrer Rede und vor allen Dingen auch im Finanzausschuss etwas intensiver mit diesen Verbesserungen auseinander gesetzt hätten und dass Sie, wie wir das getan
haben, durch Eigeninitiative mehr Beiträge zur Verbesserung des Gesetzentwurfs in den Finanzausschuss eingebracht hätten.
({2})
Drittens konnten wir durchsetzen, dass bei Einbringungsvorgängen Zuzahlungen bzw. sonstige Gegenleistungen bis zur Höhe der Buchwerte steuerlich nicht als
Veräußerung behandelt werden. Die geplante Veräußerungsfiktion hätte bedeutet, dass es zu einer anteiligen
Gewinnrealisierung gekommen wäre. Dies wäre insofern
nicht sachgerecht gewesen, als sich nicht jeder Einbringungsvorgang mit der Gewährung von Gesellschaftsanteilen an der aufnehmenden Gesellschaft vollständig ausgleichen lässt.
Viertens haben wir erreicht, dass die Regelungen des
Umwandlungssteuergesetzes auf Fälle der Hinzurechnungsbesteuerung nach dem Außensteuergesetz angewendet werden, allerdings mit Ausnahme der Verschmelzung so genannter passiver Gesellschaften. Eine
Hinzurechnungsbesteuerung findet nicht statt, wenn in
Inlandsfällen das Umwandlungssteuerrecht gelten würde.
Fünftens entfällt - Frau Staatssekretärin Hendricks hat
das schon erwähnt - die Einführung einer allgemeinen
Missbrauchsklausel in das Umwandlungssteuergesetz.
Mit § 42 der Abgabenordnung haben wir bereits ein Instrumentarium zur Bekämpfung von Missbrauchsfällen
zur Hand. Die Einfügung eines weiteren Missbrauchstatbestandes mit zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen
hätte das Risiko bei notwendigen Umstrukturierungen
erhöht und damit den Zielsetzungen des Gesetzentwurfes
geschadet.
Trotz des Erreichten finden sich auch jetzt noch Regelungen im Gesetzentwurf, die besser unterblieben wären:
Verlustvorträge sollen bei Vermögensübertragungen
und Verschmelzungen zwischen Kapitalgesellschaften
nicht übergehen können, auch nicht bei Inlandsfällen.
Dies stellt eine Verschlechterung und in der Praxis eine
erhebliche Behinderung dar. In der öffentlichen Anhörung zum SEStEG - Herr Kollege Wissing, Sie haben
darauf hingewiesen - haben mehrere Experten bestätigt,
dass die erfolgreiche Umstrukturierung und Restrukturierung eines Unternehmens in der Krise davon abhängig
sein kann, ob die Möglichkeit besteht, einen Verlust zu
nutzen.
Als Grund für die Versagung der Nutzung von Verlustvorträgen wurde angeführt, dass nur so die so genannte Hineinverschmelzung europäischer bzw. ausländischer Verluste nach Deutschland verhindert werden
könne. Ich hingegen meine, dass dies in Anlehnung an
die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auch
dadurch hätte geregelt werden können, dass solche Verlustvorträge nicht im Inland, sondern nur in ausländischen Betriebsstätten genutzt werden dürfen. Auch in
Art. 6 der steuerlichen Fusionsrichtlinie wird lediglich
verlangt, dass der Verlustvortrag im Rahmen der Besteuerung der verbleibenden Betriebsstätte zu berücksichtigen ist.
Die bei Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in
eine andere Kapitalgesellschaft anfallenden Übernahmegewinne und Übernahmeverluste sollen grundsätzlich
steuerlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings werden,
sofern Übernahmegewinne anfallen, 5 Prozent dieser
Gewinne für die übernehmende Körperschaft steuerpflichtig. Bei Weiterausschüttung wird erneut besteuert,
sodass es sogar zu Doppelbesteuerungen kommen kann,
die grundsätzlich vermieden werden sollten. Darüber hinaus ist die Einlagenrückgewähr aus Drittstaatengesellschaften als Dividende zu besteuern, was aus meiner
Sicht nicht nachvollziehbar ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist trotz dieser Mängel
ein weiterer Schritt zur Herstellung des Binnenmarktes
der Europäischen Union und zur Stärkung des Standortes
Deutschland im Sinne von Investitionen, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen. Der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf ist durch die Koalitionsfraktionen
im Finanzausschuss deutlich verbessert worden.
In Anbetracht des Erreichten und vor dem Hintergrund der Notwendigkeit von Kompromissen in einer
Koalition bitte ich Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf. Weitere Verbesserungen zur Ausweitung der Regelungen über die EU hinaus mit der
Folge der Stärkung unserer im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen bleiben dessen ungeachtet
auf der Tagesordnung der Steuerpolitik.
Abschließend möchte ich mich bei den Kolleginnen
und Kollegen, insbesondere beim Berichterstatter der
SPD, Herrn Lothar Binding, für das sachorientierte und
wirklich gute Klima in den Verhandlungen bedanken.
({3})
Mein Dank gilt auch den Fachleuten des Bundesfinanzministeriums für die konstruktive und sachliche Begleitung dieses Gesetzgebungsprozesses.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
Entwurf eines Gesetzes über steuerliche Maßnahmen zur
Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften hat das
Finanzministerium ordentliche Arbeit geleistet. Das ist
wirklich ein Schritt in die richtige Richtung.
({0})
Das muss man, wie ich meine, auch dann sagen, wenn
man in der Opposition ist.
({1})
In Zukunft wird es für Unternehmen schwerer, durch
Verlagerungen und Fusionen die Zahlung von Steuern zu
umgehen, und das ist auch gut so. Aber leider bleiben
Sie mit Ihrer Politik auf halbem Wege stehen. Vieles von
dem, was Sie jetzt im Zusammenhang mit Verlagerungen innerhalb Europas vorschlagen, muss konsequent zu
Ende gebracht werden. Vieles davon muss auch in nationales Steuerrecht umgesetzt werden. Vieles davon würde
zu mehr Steuergerechtigkeit führen.
Ich will nur zwei Beispiele nennen:
Ein Unternehmen wird innerhalb Europas in einen
Staat mit niedrigeren Unternehmensteuersätzen verlagert.
({2})
Bislang konnte das Unternehmen die stillen Reserven
mitnehmen und am neuen Unternehmenssitz zu den
niedrigeren Steuersätzen versteuern. Das geht in Zukunft
nicht mehr. In Zukunft müssen Unternehmen stille Reserven vor einer Verlagerung aufdecken und versteuern.
Damit werden die stillen Reserven dort besteuert, wo sie
entstanden sind. Das ist ohne Frage eine sinnvolle Änderung. Aber warum machen Sie eine solche Besteuerung
der stillen Reserven nicht zur Regel, und zwar auch für
Unternehmen, die in Deutschland bleiben?
Es wäre zum Beispiel durch eine Reform des Bewertungsgesetzes möglich, stille Reserven erst gar nicht entstehen zu lassen. Allein die stillen Reserven, die in den
Immobilien der Unternehmen versteckt sind, würden
mittelfristig 10 Milliarden Euro jährlich mehr in die
Kassen bringen. Warum haben Sie nicht den Mut, das
anzugehen? Warum verzichten Sie auf diese SteuereinDr. Axel Troost
nahmen, statt sie im Rahmen der Unternehmensteuerreform zu erschließen?
Ein zweites Beispiel. In Zukunft ist es unmöglich,
dass bei einer Fusion ein Unternehmen die Verlustvorträge des anderen übernimmt und so langfristig Steuern
spart. Dieses Verbot ist sinnvoll, weil Fusionen oft wegen dieses Steuervorteils stattgefunden haben. Das war
eine Strategie, um systematisch Steuern zu minimieren.
Aber warum schränken wir die Möglichkeiten für Verlustvorträge und Verlustrückträge nicht grundsätzlich
ein, sondern nur bei Fusionen? Auch das würde Milliarden in die Kassen bringen.
Ich will in diesem Zusammenhang nur eine Zahl anführen, die allerdings schon etwas älter ist - sie geht auf
unsere Kleine Anfrage zu diesem Thema zurück -: Ende
2001 hatten die Kapitalgesellschaften Verluste in Höhe
von fast 400 Milliarden Euro zu verzeichnen, die die
Unternehmen in die nächsten Jahre mitnehmen mussten.
Das sind 400 Milliarden Euro weniger, die versteuert
werden.
Lassen Sie uns dieses Steuergeschenk in Milliardenhöhe angehen.
({3})
Lassen Sie uns nicht auf halbem Weg stehen bleiben.
Lassen Sie uns Verlustrückträge grundsätzlich abschaffen und Verlustvorträge wie in den meisten anderen europäischen Ländern auf maximal fünf bis sechs Jahre
begrenzen. Das alles würde Mehreinnahmen in Milliardenhöhe bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU und der SPD.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu und hoffen, dass
er ein Ansporn für die anstehende Unternehmensteuerreform ist. Wir hoffen, dass Sie viele der Grundsätze, die
zur Reduzierung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen, in nationales Recht umsetzen und dafür sorgen, dass die Unternehmensteuerreform möglichst
aufkommensneutral erfolgt, um weitere Verluste zu vermeiden.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wird diesem
Gesetzentwurf zustimmen. Wir glauben, dass er ein
wichtiger Schritt zur Europatauglichkeit unseres Steuersystems ist, und er steht im Einklang mit unserer allgemeinen steuerpolitischen Position. Denn wir halten es
für sehr wichtig, die steuerlichen Grundlagen des Binnenmarktes so auszugestalten, dass keine weiteren Hürden entstehen, damit die Unternehmen den Binnenmarkt
tatsächlich nutzen können.
Es ist zu begrüßen, dass wir die Einführung der Europäischen Gesellschaft und der Europäischen Genossenschaft auch steuerrechtlich begleiten. Selbstverständlich
sollen nicht alle Tore geöffnet werden; es geht zunächst
darum, dass die in Deutschland entstandenen Werte auch
in Deutschland besteuert werden können. Deswegen ist
es richtig, dass im Falle eines Rechtsträgerwechsels oder
dann, wenn Vermögen aus einem Betrieb abgezogen
wird, die Aufdeckung und damit die Besteuerung der
stillen Reserven sichergestellt wird.
Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf auf das Urteil
des Europäischen Gerichtshofs, in dem die französische
Wegzugsbesteuerung als nicht europarechtskonform bewertet wurde. Die deutsche Wegzugsbesteuerung war
immer etwas anders ausgestaltet. Aber es ist sinnvoll,
dies in diesem Zusammenhang richtig zu regeln. Wir setzen außerdem die geänderte EU-Fusionsrichtlinie um
und bringen so unser Steuerrecht europarechtlich voran.
Ich finde, der Entwurf ist insgesamt ausgewogen.
Herr Wissing, ich hätte mir gewünscht - es wäre schön,
wenn Sie zuhören würden -,
({0})
dass Sie die Abwägungen in der Diskussion über den
Gesetzentwurf zur Kenntnis nehmen. Ich glaube jedenfalls, dass dem Gesetz einige schwierige Abwägungen
zwischen der Administrierbarkeit und dem Europarecht
zugrunde liegen. Wir haben über die Abwägungen in der
einen oder anderen Weise entschieden. In der Anhörung
wurde deutlich, dass es schwierige Entscheidungsprozesse sind. Angesichts dessen man kann nicht einfach
sagen, dass hier Unternehmen angekettet werden. Vielmehr muss man entsprechend den Abwägungen berücksichtigen, welche Alternativen vorhanden sind. Man
kann sich sicherlich anders entscheiden. Aber man sollte
nicht so tun, als handele es sich hier um ein „Ankettgesetz“. Ich finde, Sie sind in Ihrer Rede der Qualität des
Gesetzentwurfs und des Diskussionsprozesses nicht gerecht geworden.
({1})
Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen, die für uns
wichtig sind und die wir im Ausschuss thematisiert haben. Der erste Punkt war, dass Personengesellschaften
Umstrukturierungen auch mit Gesellschaften aus Drittländern auf einfache Weise vornehmen können. Uns war
wichtig, dass der europäische Binnenmarkt auch für die
mittelständische Wirtschaft erschlossen wird. - Dazu
hatten wir einen Antrag eingebracht. Wie Sie wissen, hat
sich dieser im Verfahren erledigt, weil wir uns einig waren.
Beim zweiten Punkt, nämlich der Missbrauchsbekämpfung, waren wir uns nicht einig; Frau Staatssekretärin hat diesen Punkt bereits angesprochen. In der Anhörung gab es nämlich nicht nur ein, sondern zwei
Positionen. Die einen haben die Streichung des § 26
Umwandlungssteuergesetz, der auf Art. 11 der EU-Fu6214
sionsrichtlinie basiert, gefordert. Die anderen verlangten
hingegen eine präzisere Fassung dieses Paragrafen. Ich
glaube, es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, eine
Präzisierung vorzunehmen und eine Sicherung gegen
Missbrauch einzuführen; denn aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Cadbury Schweppes ist nicht
eindeutig abzuleiten, ob diese Regelung unbedingt gestrichen werden muss. Es ist sicherlich extrem wichtig,
wirtschaftlich motivierte Umstrukturierungen zu erleichtern; das wollen wir. Aber wir dürfen der Steuergestaltung nicht gleichzeitig Tür und Tor öffnen. Wir hätten
uns eine Präzisierung gewünscht, die auf überzeugende
Weise Rechtsklarheit schafft und § 42 der Abgabenordnung noch eine ergänzende Spezialnorm hinzufügt. Sie
sind einen anderen Weg gegangen.
Da das Gesetz insgesamt ein wichtiger Schritt hin zu
einem europatauglichen Steuersystem ist, stimmen wir
trotz dieses Kritikpunktes zu.
Danke.
({2})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nun
das Wort dem Kollegen Lothar Binding für die SPDFraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Da wir es mit einem relativ komplizierten
Gesetz zu tun haben, möchte ich mich dem Dank von
Herrn Rzepka für die sehr gute Kooperation anschließen.
Ich glaube, man sieht am Ergebnis, dass hier sachorientiert diskutiert wurde. Das ist nicht ganz selbstverständlich, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir in sechs
bis acht Punkten nicht einer Meinung waren. Trotzdem
haben wir nun einen für beide Seiten mehr oder weniger
erträglichen Kompromiss erzielt. Ich möchte außerdem
dem Bundesfinanzministerium danken, insbesondere
den Herren Möhlenbrock, Rennings und Scheuerle und
last, but not least Frau Staatssekretärin Hendricks. Nach
meiner Meinung hat uns das Bundesfinanzministerium
sehr gut unterstützt. Das war sicherlich keine einfache
Aufgabe. Zudem möchte ich mich bei Joachim Poß für
eine Bemerkung bedanken. Er hat gesagt, die Überschrift der Rede, die Herr Wissing gehalten hat, könnte
etwa „Freiheit für Steuerhinterzieher“ lauten. Das Besondere war dabei die Physiognomie von Herrn Wissing:
Er hat so wissend gelächelt; vielleicht dachte er, dass daran etwas Wahres ist.
({0})
Herr Troost, Ihre Idee einer kontinuierlichen Besteuerung der stillen Reserven ist sicherlich verlockend.
Aber man darf nicht vergessen, was das für die Liquidität der Unternehmen und die Bewertung der Grundstücke bedeutet und - last, but not least - welchen Verwaltungsaufwand das zur Folge hat, wenn man das
kontinuierlich macht. Das muss man in den Blick nehmen, um zu erkennen, dass Ihr Vorschlag theoretisch
vielleicht nicht schlecht ist, aber in der praktischen Anwendung sicher auf große Schwierigkeiten stößt.
Zum Stichwort Anketten möchte ich nur Folgendes
sagen: Herr Wissing, das SEStEG ist meines Erachtens
das glatte Gegenteil dessen, was Sie sagen; denn das
SEStEG ermöglicht es, das europäisch und weltweit
operierende Unternehmen zum ersten Mal auch steuerlich europäisch denken können. Kein Unternehmen
muss mehr ökonomisch sinnvolle Zusammenschlüsse
daraufhin prüfen, ob es Steuern bezahlen muss oder
nicht. Ich nenne ein ganz konkretes Beispiel. Die Handysparte eines Unternehmens - bei dem ich gelernt
habe - hätte vielleicht gar nicht verkauft werden müssen,
wenn die entsprechende Möglichkeit in Europa, die wir
jetzt mit dem SEStEG schaffen, damals schon bestanden
hätte. Die Sparte nach Korea oder Japan zu verkaufen,
ist etwas anderes, als einen Zusammenschluss in Europa
zu organisieren, der dazu führt, dass ein Unternehmen
entsteht, das aufgrund seiner Größe auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig ist.
({1})
- Seien Sie so nett und fragen Sie, wenn ich fertig bin?
Ich bin jetzt gerade so schön im Fluss. Ich bin Schwimmer; Sie wissen, dass das deshalb für mich kein Problem
ist.
({2})
- Mit Bauklötzen kann ich auch gut umgehen, ebenso
mit einem Zollstock. Hier sind Handwerker unter sich.
Es ist ganz wichtig, zu wissen, dass das SEStEG diese
Möglichkeiten in Europa eröffnet. Wir haben ein gutes
Beispiel: Allianz hat eine Holding-SE gegründet. Sie
wissen, dass das zumindest die Sicherheit gibt, vor einer
Übernahme in einer ganz anderen Weise geschützt zu
sein, als wenn es diese Möglichkeit nicht gäbe. Dass die
Allianz das machen konnte, hängt mit der speziellen Situation, in der sie sich befindet, zusammen; aber künftig
haben diese Möglichkeit auch viele andere. Eine bessere
Werbung kann es für den Standort Deutschland im Moment nicht geben. Wir tun mit diesem Gesetz einen großen Schritt zu einer Rechtskonformität in Europa,
über die sich letztendlich auch die Gerichtsbarkeit freut,
weil die Klageanfälligkeit sinken wird.
Es ist wichtig, das zu erwähnen, weil damit deutlich
wird, in welchen Rahmenbedingungen wir uns überhaupt bewegen. Wir bewegen uns auf dem Boden der
vier Grundfreiheiten, nämlich der Kapitalverkehrsfreiheit, der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit. Das sind Freiheiten
für international agierende Unternehmen. Aber die Freiheit des deutschen Staates, europaweit Steuern zu erheben, gibt es nicht. Wir erkennen hier also eine Asymmetrie. Auf diese Asymmetrie reagiert dieses Gesetz auf
eine sehr konstruktive Weise. Es sorgt für faire Besteuerung, aber lässt europäische Gestaltungen zu. Das ist
doch immer unser Dilemma: dass sich unsere GesetzgeLothar Binding ({3})
bung im Wesentlichen auf deutsches Staatsgebiet beschränkt, die Konzerne aber international agieren können! Deshalb ist dieses Gesetz so wertvoll. Es hat genau
für dieses Dilemma einen Lösungsvorschlag entwickelt.
Ich glaube, das war sehr gut.
Der Öffnung des Umwandlungsteuerrechts für den
europäischen Raum musste natürlich die Sicherung deutscher Steueransprüche gegenüberstehen; denn wir machen auch Politik für unsere Gesellschaft. Die Unternehmen, die in Europa Gewinne erzielen und in Deutschland
ansässig sind, machen die Gewinne auf der Basis der Bedingungen, die in Deutschland herrschen, und sie machen sie deshalb, weil sie in unserer Gesellschaft Rückhalt haben. Ich gratuliere jedem Unternehmen, das gute
Gewinne macht, und ich glaube, dass ein faires Unternehmen gern Steuern zahlt, um die günstigen Bedingungen für sich in Deutschland zu sichern. Deshalb ist das
SEStEG eine sehr gute Basis für die Zukunft. Wenn es
uns im zweiten Schritt noch gelingt, das Gesetz zu globalisieren, dann wird es sehr viel einfacher. Darüber müssen wir mit den Ländern reden. Das Bundesministerium
und der Bundestag wollten eine Globalisierung. Leider
sind die Länder diesen Schritt noch nicht mitgegangen.
Ich bin aber guter Hoffnung, dass wir sie überzeugen.
Schönen Dank und alles Gute.
({4})
Herr Kollege, Sie haben zwar Ihre Rede schon beendet, aber wenn Sie die vorher angemeldete Zwischenfrage
noch gestatten, dann kann sie jetzt gestellt werden. Bitte, Herr Dr. Wissing.
Herr Kollege Binding, teilen Sie meine Auffassung,
dass es nichts mit Steuerhinterziehung zu tun hat, wenn
Unternehmen Verluste vortragen können, und teilen Sie
meine Auffassung, dass dieses Gesetz die Flexibilität
und Mobilität von Unternehmen verringert und nicht erhöht?
Sie haben völlig Recht. Deshalb ist der Verlustvortrag
extra erwähnt worden. Das Besondere ist aber, dass man
den Verlustvortrag auch grenzüberschreitend nutzen
kann, indem man Zwischenwerte bildet, sodass der höhere Wert eines grenzüberschreitenden Guts in der aufnehmenden Bilanz zu höheren Abschreibungen führt
und damit der Verlustvortrag sehr wohl genutzt werden
kann. Das zeigt wiederum, dass das Gesetz einfach genial ist.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über
steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 16/2710
und 16/2934. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3315, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Wir kommen zur
Dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/3362 ({0}). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und den Stimmen der Fraktionen Die Linke
und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen
der Fraktion der FDP abgelehnt.
Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 12:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dagdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Entwicklung der extremen Rechten und die
Maßnahmen der Bundesregierung
- Drucksache 16/1009 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin in dieser Debatte der Kollegin Ulla Jelpke von der
Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung
muss leider zum Jagen getragen werden, wenn es um die
Bekämpfung des Neofaschismus geht. Die erschreckende Konzeptionslosigkeit nicht nur dieser Regierung
trägt ihren Teil dazu bei, dass Neofaschisten in Deutschland sich leider pudelwohl fühlen können.
Die gestern vorgelegte Studie der Friedrich-EbertStiftung belegt das mit erschreckenden Fakten: 8,6 Prozent der Deutschen haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. 15 Prozent sehnen sich nach einem
Führer. 15,8 Prozent der West- und 6,1 Prozent der Ostdeutschen zeigen einen manifesten Antisemitismus. Die
Zustimmung zu rassistischen Meinungen geht darüber
noch weit hinaus: Sie liegt laut Studie bei 44 Prozent bei
den Ost- und bei 35 Prozent bei den Westdeutschen.
Es ist traurig genug, dass erst die Wahlerfolge der
NPD in Mecklenburg-Vorpommern zur Weiterfinanzierung der Strukturprojekte gegen Rechts geführt haben.
Aber die Millionen sind nur ein Tropfen auf den heißen
Stein. Sie sollen eine Entwicklung aufhalten, die mit
dem massiven Sozialkahlschlag nach 1990 in Ostdeutschland begann.
({0})
Denn genau diese Politik haben Neonazis genutzt. Wo
Jugendklubs und andere soziale Projekte geschlossen
wurden, hat die NPD ihre Chancen gewittert, um ihre
menschenverachtende Ideologie unter die Leute zu bringen.
Wir richten vierteljährlich eine kleine Anfrage an die
Bundesregierung und fragen danach, wie viele Hassmusikkonzerte und Nazigroßveranstaltungen stattgefunden
haben. Die erste Antwort liegt uns vor. Allein im zweiten
Quartal dieses Jahres - das muss man sich einmal vorstellen - haben 40 Großveranstaltungen stattgefunden.
Der VS verschweigt uns darüber hinaus noch einige
Zahlen, weil er nicht bekannt machen will, dass er möglicherweise Informanten dort hat.
Überhaupt zeigt ein Blick in den Verfassungsschutzbericht, wie verharmlost und bagatellisiert wird. Insbesondere nach dem gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD wurden Schily und sein Ministerium nicht
müde, zu betonen, dass die NPD dennoch geschwächt
worden sei - eine fatale Fehleinschätzung. Dass die
NPD zunehmend zur ersten Wahl junger Menschen geworden ist und sich längst eine Stammwählerschaft aufgebaut hat, spiegelt sich weder in einem Bericht eines
der Landesämter für Verfassungsschutz noch im Bericht
des Bundesamtes für Verfassungsschutz wider.
Umso dringlicher ist es, fundierte Analysen - wie die
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung -, wissenschaftlichen Sachverstand und Erfahrungen aus der antifaschistischen Praxis heranzuziehen, um endlich politische Gesamtstrategien gegen Neofaschisten und ihre Politik zu
entwickeln.
({1})
Ein geeigneter Nährboden für die Neonazis sind leider auch die Ansichten und Haltungen in der so genannten Mitte der Gesellschaft. Ich zitiere aus der oben genannten Rechtsextremismusstudie:
Wir haben festgestellt, dass der Begriff „Rechtsextremismus“ irreführend ist, weil er das Problem
als ein Randphänomen beschreibt. Rechtsextremismus ist aber ein politisches Problem in der Mitte
der Gesellschaft. Das kann nicht ausdrücklich genug betont werden.
Dazu nur einige Beispiele aus den letzten Wochen:
In der Zuwanderungsdebatte blieb die Äußerung von
Beckstein „Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nützen, und weniger, die uns ausnützen“ in der Union weitgehend unwidersprochen.
In der Zeitschrift „Die Bundeswehr“ des BundeswehrVerbandes wurden - gerade in der letzten Ausgabe Bücher des Ex-KSK-Generals Günzel beworben, der von
seinen Soldaten „Disziplin wie in der Waffen-SS“ gefordert und Martin Hohmann nach seinen antisemitischen
Äußerungen unterstützt hat.
In den letzten Wochen haben die Äußerungen verschiedener Unionsinnenminister gezielt den Eindruck erweckt, dass Flüchtlinge nur nach Deutschland kommen,
um Sozialleistungen zu beziehen und zu schmarotzen.
Man könnte diese Liste noch endlos fortsetzen. Ich
will aber vor allem auf Folgendes hinweisen: Wenn Jugendliche ein rechtsradikales Weltbild für normal halten,
dann hat das auch mit diesen geistigen Brandstiftungen
aus der so genannten Mitte der Gesellschaft zu tun.
({2})
All das gehört endlich einmal gründlich aufgerollt. Mit
unserer Großen Anfrage, deren Beantwortung durch die
Bundesregierung offensichtlich lange Zeit braucht - wir
haben sie vor fast einem Dreivierteljahr eingebracht,
aber sie soll erst im März beantwortet werden; deswegen
führen wir zwischenzeitlich diese Debatte -, wollen wir
Antworten erzwingen, um das bisherige Versagen der
Politik im Kampf gegen Neofaschismus zu thematisieren
und darauf hinzuwirken, dass weitere Maßnahmen zu
seiner Bekämpfung entwickelt werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Altmaier für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung nimmt Wahlerfolge rechtsextremer Parteien
und extremistische Tendenzen jeder Art sehr ernst. Sie ist
entschlossen, einen wirksamen Beitrag zu ihrer Bekämpfung zu leisten.
Frau Kollegin Jelpke, Sie haben die Große Anfrage
angesprochen. Wir haben angekündigt, dass sie, wie es
sich gehört, nach einem überschaubaren Zeitraum beantwortet wird. Seit März 2006 haben wir insgesamt zwölf
Kleine Anfragen zu diesem Thema, davon allein elf von
der Linken,
({0})
mit 184 Fragen beantwortet. Die jetzige Große Anfrage
umfasst 286 Fragen, mit Unterfragen sind es 380. Wir
werden unser Bestes tun, um auch diese Fragen zu beantworten. Aber Sie dürfen nicht der Illusion unterliegen, dass man den Rechtsextremismus in Deutschland
nur mit Kleinen und Großen Anfragen bekämpfen kann.
({1})
Wenn wir eine wirksame Strategie gegen den Rechtsextremismus und gegen den Extremismus insgesamt entwickeln wollen, dann brauchen wir ein vernünftiges und
ausgewogenes Konzept repressiver und präventiver
Maßnahmen. Beispielsweise ist es so, dass in deutschen
Fußballstadien nicht nur Gewalt stattfindet, sondern
auch rechtsextreme und zum Teil antisemitische Parolen
gerufen werden. Daher muss der Rechtsstaat seinen
Strafanspruch auch in den Fußballstadien durchsetzen.
Deshalb sind wir sehr dankbar dafür, dass der Deutsche
Fußball-Bund gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium dieses Problem jetzt angeht und konkrete Maßnahmen ergreift.
({2})
Wir haben bereits im Jahr 2005 wichtige Änderungen
des Straf- und Versammlungsrechts beschlossen, die
auch in Kraft getreten sind und die Möglichkeiten der
Behörden verbessern, rechtsextremistische Versammlungen zu verbieten. Wir werden die Beobachtung dieser
Organisationen durch den Verfassungsschutz unvermindert fortführen und durch die Strafverfolgungsbehörden
einen hohen Verfolgungsdruck aufrechterhalten.
Wenn es richtig ist, dass wir auch repressive Maßnahmen brauchen, dann würde ich mir insbesondere auf
Ihrer Seite des Hauses, meine Damen und Herren von
der Linken, aber auch von manchen Kolleginnen und
Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen mehr Offenheit
wünschen, wenn es darum geht, der Polizei und den
Nachrichtendiensten die Mittel an die Hand zu geben,
die sie zur wirksamen Bekämpfung extremistischer Tendenzen auch tatsächlich brauchen.
({3})
Darüber hinaus brauchen wir auch Prävention. Wir
müssen mit diesen Themen sensibel umgehen. Deshalb
ist es richtig, dass die Innenminister von Bund und Ländern bereits zu Beginn dieses Jahres eine breit angelegte
Aufklärungskampagne über den Rechtsextremismus beschlossen haben. Wir werden in den Schulen mit einem
Medienpaket, das den Titel „Wölfe im Schafspelz“ trägt,
darüber informieren. Wir werden vonseiten des Innenministeriums in einem ganz konkreten Programm mit sehr
genauen und spezifischen Maßnahmen, etwa über das
Technische Hilfswerk, in den neuen Bundesländern insbesondere dort, wo junge Menschen dem Werben und
der Ideologie der NPD und anderer derartiger Parteien
ausgesetzt sind, dafür sorgen, dass es gerade im Bereich
der Jugendarbeit Angebote gibt, die jungen Menschen
eine Perspektive bieten, sich auch jenseits rechtsextremer Organisationen zu betätigen. Wir werden mit dem
THW, mit der Bundespolizei und mit den Strukturen vor
Ort in den Ländern und in den Kommunen dafür sorgen,
dass solche Angebote entstehen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dagdelen?
Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Altmaier, natürlich muss der Extremismus mit Taten bekämpft werden. Aber stimmen Sie mit mir nicht auch darin überein,
({0})
dass es der Sache dienlich ist, wenn Gewalttaten mit
rechtsextremistischem Hintergrund ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden, indem Anfragen an die Bundesregierung gestellt und von dieser beantwortet werden?
Eine zweite Frage: Sie sagen, Sie hätten Kampagnen
gegen Rechtsextremismus und unternähmen viel. Es gab
in Durban in Afrika 2001 eine Weltkonferenz, auf der
die Bundesregierung - damals übrigens noch rot-grün ({1})
versprochen hat, einen nationalen Aktionsplan gegen
Rassismus vorzulegen und umzusetzen. Auf eine Kleine
Anfrage der Linksfraktion ist von der Bundesregierung
geantwortet worden, dass man es nicht geschafft habe,
einen nationalen Aktionsplan zu entwerfen, weil es so
schwierig sei, alle Ressorts mit einzubinden. Daraufhin
hat der Interkulturelle Rat 2003 einen Vorschlag für einen Aktionsplan vorgelegt - als Hilfestellung für die damalige rot-grüne Bundesregierung.
Frau Kollegin, ich darf Sie bitten, sich kurz zu fassen.
Sie sind fertig?
Ich möchte fragen, ob es zu den Handlungen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus gehört, dass dieser nationale Aktionsplan gegen Rassismus, der schon
2001 versprochen wurde, 2006 noch immer nicht auf
dem Tisch liegt.
Frau Kollegin Dagdelen, ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass wir extremistische Vorfälle offen
ansprechen und auch in der Öffentlichkeit thematisieren.
Aber das müssen wir mit Verantwortung und Augenmaß
tun.
Ich erinnere mich daran, in welch aufgeregter Atmosphäre vor der Fußballweltmeisterschaft über angebliche
No-go-Areas in den neuen Bundesländern gesprochen
worden ist.
({0})
Dann hatten wir einen friedlichen Verlauf der FußballWM und auch seither ist dieses Thema in der öffentlichen Debatte nicht mehr aufgetaucht.
Ich glaube, dass man Rechtsextremismus nicht dadurch bekämpft, dass man künstlich eine aufgeheizte
Debatte erzeugt, die dann eher solchen Tendenzen Vorschub leistet, als einen wirksamen Beitrag zu ihrer Behebung leistet.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Jelpke?
({0})
Ja.
Herr Staatssekretär, auf Ihre Ausführungen zu den
Kleinen Anfragen will ich gar nicht eingehen. Es ist unser gutes Recht als Fraktion in diesem Parlament, Anfragen zu stellen.
({0})
Ich glaube, das war auch sehr nützlich, insbesondere was
die beständige Veröffentlichung von Gewalt- und Straftaten von Neofaschisten angeht.
Meine Frage bezieht sich auf das NPD-Verbot. Sie
wissen, dass das NPD-Verbotsverfahren gescheitert ist,
weil Ihr Ministerium nicht bereit war, die V-Leute aus
der NPD abzuziehen.
Frau Kollegin, würden Sie sich auf die Frage konzentrieren.
Sind Sie bereit, diesbezügliche Schritte zu unternehmen? Zwei Verfassungsrichter haben gesagt, dass man,
wenn die Bundesregierung ihre V-Leute abzieht, ein
neues Verfahren durchführen könne. Sind Sie dazu bereit?
({0})
- Wieso? Das ist doch bekannt.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Antwort.
Frau Kollegin Jelpke, zum einen war das damals nicht
mein Ministerium, sondern es handelte sich um das Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben mit dem besagten Verfahren mit Sicherheit
keinen Beitrag dazu geleistet, der NPD wirksam entgegenzutreten. Deshalb gilt - diese Haltung wird vom
Bundesinnenministerium und von der großen Mehrzahl
der Innenminister und Innenministerinnen der Länder
geteilt -, dass wir solche Maßnahmen so lange nicht ergreifen, bis sichergestellt ist, dass sie auch zum Erfolg
führen. Ich glaube, auch das gehört zu einem verantwortlichen Umgang mit diesem Problem.
({0})
Meine Damen und Herren, ich frage mich schon, wie
es kommt, dass die PDS bzw. die Linkspartei so engagiert diese Themen anspricht, aber in den wenigen Ländern, wo sie mitregiert, die Situation vor Ort um keinen
Deut besser ist als in anderen Regionen unseres Landes.
({1})
Ich würde mir wünschen, dass jeder in seinem Bereich
das tut, was notwendig ist, damit ein gemeinsames Vorgehen von Bund, Ländern und Kommunen möglich
wird. Das sind wir diesem Problem und seiner Bedeutung schuldig.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden über ein ernstes Problem, nämlich
darüber, dass der Rechtsextremismus offenbar zunimmt.
Wir kennen die Wahlergebnisse. Wir kennen auch andere Zahlen. So stellt etwa der Verfassungsschutzbericht
für das Jahr 2005 fest, dass die Zahl der Gewalttaten um
über 23 Prozent angestiegen ist. Wir reden also über etwas, was wir ernst zu nehmen haben. Ich bezweifele
aber, ob solche populistischen Aktionen wie heute irgendeinen Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
({0})
Am 20. September dieses Jahres fand hier eine Aktuelle Stunde zu genau demselben Thema statt. Diese war
sicherlich auch gerechtfertigt. Jetzt liegt eine Große Anfrage der Linken vor, deren Beantwortung noch nicht erfolgt ist. Ich frage mich, was die heutige Debatte bringen
soll. Wenn sie irgendwelche neuen Ansätze aufzeigt,
wenn sie irgendwo mehr Klarheit bringt, dann wäre sie
angemessen. Ich kann aber Ihren Reden keinen einzigen
Punkt entnehmen, der uns weiterbringen würde.
({1})
Ich sage noch einmal deutlich: Die FDP hat es begrüßt, dass die Bundesregierung nun endlich die Mittel
für Programme gegen Rechtsextremismus erhöht hat.
Wir haben das immer gefordert. Das ist auch gut so. Wir
wissen aber auch, dass der Staat hier nicht alleine handeln kann, sondern wir eine ganze Menge privater Initiativen brauchen. Wir müssen allerdings auch überprüfen,
was dort getan wird. Ohne die privaten Initiativen vor
Ort wird das Problem sicherlich nicht zu lösen sein. Deshalb begrüßen wir diese ausdrücklich.
Wir sagen aber genauso - diesen Bereich haben auch
Sie, Herr Staatssekretär Altmaier, angesprochen -, wir
brauchen eine deutliche Präsenz des Staates, wenn Gewalt bekämpft werden soll. Wir wissen, dass die Präsenz
von Polizei vor Ort vieles im Ansatz verhindern kann.
Deshalb gilt auch hier: Wir müssen alles tun, damit eine
hohe Polizeipräsenz vor Ort gewährleistet werden kann.
Hierfür die Mittel herunterzufahren, wäre auch angesichts dieses Problems sträflich.
({2})
Nun ist, meine Damen und Herren, die Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung, die gestern veröffentlicht wurde,
schon angesprochen worden. Ich will auf einige wenige
Punkte aus dieser Studie eingehen. Ich glaube aber, niemand von uns ist heute in der Lage, Antworten zu geben.
Interessant finde ich die Studie aber schon. Da heißt es
zum Beispiel:
Die Rechtsextremen fühlen sich weniger akzeptiert
und in ihrer Umgebung weniger wohl und sicher.
Des Weiteren schätzen sie ihre eigene subjektive
wirtschaftliche Situation schlechter ein …
Zudem schätzten Rechtsextreme im Vergleich zu Nichtrechtsextremen die aktuelle wirtschaftliche Situation
Deutschlands als schlechter ein.
Wenn wir uns das vor Augen führen, stellen wir fest,
dass Lösungsansätze ganz woanders liegen müssen. Wir
müssen alles versuchen, dass die wirtschaftliche Situation in diesem Lande wieder so wird, dass die Arbeitslosigkeit sinkt und insbesondere dass die Menschen, auch
die jungen Menschen, wieder eine Perspektive für sich
selbst sehen, dass sie sehen, dass sie selbst etwas in die
Hand nehmen können und die Chance haben, aus ihrer
momentanen Situation wieder herauszukommen. Das ist
das Allerwichtigste und da gibt es eine Menge zu tun,
was wir augenblicklich in diesem Land leider nicht tun.
({3})
Ein Zweites sind die Lebensumstände. Ich erinnere
an das Ergebnis der Studie: „Die Rechtsextremen fühlen
sich weniger akzeptiert“. Wovon hängt es denn eigentlich ab, ob ich mich akzeptiert fühle? Es hängt sehr stark
vom Arbeitsplatz ab, aber in hohem Maße auch davon,
ob ich einen Familienverbund um mich herum habe, ob
ich in einem Bildungssystem groß geworden bin, das mir
nicht nur Wissen einpfropft, sondern auch Selbstbewusstsein vermittelt.
Das sind doch die Fragen, die wir heute stellen müssen: Was ist mit unserem Bildungssystem? Wo sind die
gesellschaftlichen Strukturen, die den Menschen erlauben, sich selbst zu verwirklichen und zu fühlen, dass sie
wieder akzeptiert werden? Offenbar sind das entscheidende Punkte.
Es ist sicher richtig, es hängt nicht nur von den wirtschaftlichen Gegebenheiten ab. Das zeigt die Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung, das wussten wir aber auch
schon vorher. Es ist viel zu plump, zu sagen, dort, wo die
wirtschaftlichen Verhältnisse ganz schlecht sind, ist der
Rechtsextremismus hoch. Aber ganz wesentlich sind die
Fragen - ich fasse zusammen -: Wo sind die Strukturen
so in Ordnung, dass junge Menschen sich geborgen und
akzeptiert fühlen? Wo sind die Strukturen im Bildungssystem so, dass junge Menschen Werte vermittelt bekommen, mit denen sie lebenstüchtig werden? Außerdem müssen die wirtschaftlichen Voraussetzungen den
Menschen eine Perspektive geben, die es ihnen erlaubt,
an die eigene Zukunft zu glauben. Wenn wir in diese
Richtung weitergehen, dann machen wir einen wirklichen Schritt, Rechtsextremismus zu bekämpfen.
Herzlichen Dank.
({4})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele
Fograscher für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Rechtsextremismus unserer Zeit hat viele Erscheinungsformen. Neben den Parteien NPD, DVU und den Reps
existiert eine Vielzahl von Organisationen, Zusammenschlüssen und Kameradschaften. Sie agieren in den
unterschiedlichsten Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Was sie eint, sind eine Ideologie
der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des Geschichtsrevisionismus und eine generelle
Demokratiekritik. Ihr Ziel ist es, Demokratie zu überwinden. Dabei schrecken sie vor Gewalt nicht zurück.
Das belegen die aktuellen Zahlen, die heute schon
genannt worden sind: 15 361 rechtsextremistische Straftaten im Jahr 2005; das ist ein Anstieg um 27 Prozent.
Aber nicht nur die Straftaten belegen ein Anwachsen
des Rechtsextremismus. Es sind die fremdenfeindlichen Übergriffe, die Aufmärsche neonazistischer Organisationen, die Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien,
eine Vielzahl von Konzerten, Internetseiten, eine Flut
von Schriften, CDs mit rechter Musik und Symbolen.
All das sind sichtbare Aspekte dieses Phänomens.
Dabei verfolgt die NPD eine gezielte Strategie. Sie
versucht in den ländlichen Räumen in Vereinen, Bürgerinitiativen und Kommunalparlamenten Einfluss zu ge6220
winnen und das gesellschaftliche Klima zu bestimmen.
Leider gelingt ihr das auch.
Der Einfluss junger Rechtsextremer in der Partei
ist gewachsen. Das schlägt sich auch in der neuen
programmatischen Ausrichtung nieder. Während sich
die NPD früher als konservativ-antikommunistische
Partei sah, versteht sie sich heute als revolutionär-antikapitalistisch. Ihr Ziel ist es, nicht eine Partei unter vielen,
sondern eine grundsätzliche Alternative und übergreifende Bewegung zu sein, die vor allem die Alltagskultur
durchdringt.
Rechtsextremismus ist keine Randerscheinung, sondern ein massives gesellschaftliches Problem. Weder wir
als Abgeordnete noch die Bürgerinnen und Bürger dürfen wegschauen. Wir müssen handeln, die Zivilgesellschaft stärken, Demokratie leben und Respekt gegenüber
anderen zeigen.
Immer wieder wird behauptet, Linksextremismus und
islamistischer Extremismus würden unsere Demokratie
und unser Land in gleichem Maße gefährden. Doch
diese Aussage ist falsch. Denn die Zahlen, die die
Grundlage für unsere Politik bilden, sprechen eine eindeutige Sprache: 15 361 rechtsextremistisch motivierten
Straftaten stehen 2 305 linksextremistisch und 644 islamistisch motivierte Straftaten gegenüber. Damit ist für
mich eindeutig, dass der Rechtsextremismus das größte
Problem darstellt, dem wir uns stellen müssen.
Rechtsextremismus ist ein Problem in der Mitte der
Gesellschaft. Er ist kein Jugendproblem allein. Rechte
Einstellungen sind in allen Altersgruppen, in allen
Bundesländern und in allen gesellschaftlichen Gruppen
vorhanden. Die gestern veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt, dass jeder zehnte Deutsche
rechten Einstellungen und vor allem ausgesprochen ausländerfeindlichen und antisemitistischen Aussagen zustimmt. Das ist besorgniserregend.
Der Herr Staatssekretär hat vorhin schon auf die Maßnahmen hingewiesen, die wir ergriffen haben. Wir brauchen die repressiven Maßnahmen im Zusammenhang
mit dem Versammlungsrecht, das wir in der letzten
Legislaturperiode beschlossen haben. Die Möglichkeiten, Versammlungsverbote auszusprechen, sind erweitert
worden. Damals hatte sich die PDS verweigert und dem
Gesetz nicht zugestimmt. Wer sich aber über den Rechtsextremismus empört, der muss ihn auch mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen.
Die Maßnahmen zeigen Wirkung. Das Verwaltungsgericht Bayreuth hat im Juli 2005 auf Grundlage des
neuen Versammlungsrechts den Aufmarsch zum Gedenken an Rudolf Heß in Wunsiedel verboten. Auch
am heutigen Tag ist der in München angemeldete
Aufmarsch der Rechten aus Anlass der Einweihung der
Synagoge verhindert worden. Allerdings - auch das ist
Realität in unserem Land - können die Feierlichkeiten in
München nur unter sehr großen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden.
Auch das Strafrecht wurde geändert, um der Verherrlichung der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft besser
entgegentreten zu können. In diesem Zusammenhang
möchte ich mein Unverständnis gegenüber der Staatsanwaltschaft Stuttgart und dem Stuttgarter Oberlandesgericht zum Ausdruck bringen. Hier wurden Menschen
angeklagt, die eindeutig ihre antifaschistische Einstellung zum Beispiel durch das Tragen von Buttons mit
durchgestrichenen Hakenkreuzen zeigen. Falls das Urteil rechtskräftig werden sollte, muss eine Klarstellung
durch ein Gesetz erfolgen. Die Bundesjustizministerin
hat dies auch angekündigt.
({0})
Repressive Maßnahmen allein reichen nicht aus.
Selbst wenn es uns gelänge, die NPD zu verbieten, müssen wir trotzdem die politische Auseinandersetzung mit
dem rechten Gedankengut führen. Die Bundesprogramme, die 2001 durch die rot-grüne Bundesregierung ins
Leben gerufen wurden, haben Erfolge erzielt. Es wurden
4 500 Projekte mit insgesamt 192 Millionen Euro gefördert. Ziel dieser Projekte war es, die Zivilgesellschaft zu
stärken, Opfern rechtsextremer Gewalt zu helfen und
Netzwerke zu schaffen.
Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung diese
Programme gegen Rechts weiterführt und weiterentwickelt. Es stehen 2007 wiederum 19 Millionen Euro dafür
zur Verfügung.
Ich will hier noch einmal unseren Berichterstattern
Kerstin Griese und Frank Schmidt dafür danken, dass es
gelungen ist, weitere 5 Millionen Euro in dem Programm zu verankern, um die Mobilen Beratungsteams
und die Opferberatungen weiterführen und auch auf das
Bundesgebiet ausdehnen zu können.
({1})
Auch im Bereich der Bundeszentrale für politische
Bildung kommt es im kommenden Jahr zu keiner Kürzung der Mittel. Auch die Arbeit des „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“, das im Jahr 2000 vom BMI und vom BMJ
gegründet wurde, ist finanziell abgesichert. Mit dem
heutigen Beschluss des Haushaltsausschusses werden
die Mittel in Höhe von 700 000 Euro auch hier auf
1 Million Euro aufgestockt. Auch das ist ein gutes Signal. Ich will hier unserer Berichterstatterin Bettina
Hagedorn ganz herzlich für ihren Einsatz danken.
({2})
Das Bündnis sammelt und bündelt derzeit circa 1 300
Gruppen und Initiativen. Es zeichnet vorbildliche Projekte aus und empfiehlt diese zur Nachahmung. Wenn
Sie bei der Verleihung des Victor-Klemperer-Preises für
Demokratie und Toleranz anwesend waren, dann wissen
Sie, dass es Mut macht, wenn man sieht, was junge
Leute in den Schulen und in den Initiativen auf die Füße
stellen, um sich für Toleranz und Demokratie einzusetzen.
Allerdings kann der Bund mit seinen Möglichkeiten
die Aufgabe nicht allein schultern. Bundesländer und
Kommunen müssen sich stärker engagieren. Hier spielt
nicht nur die Bildung eine wesentliche Rolle, sondern
auch die Unterstützung von lokalen Initiativen in den
Kommunen. Hier haben wir ein Problem, denn viele
Kommunen schauen immer noch weg und wollen das
Problem nicht wahrhaben. Zum Teil behindern sie auch
Projekte und Initiativen vor Ort. Deshalb brauchen wir
im neuen Programm auch die Möglichkeit, dass örtliche
Initiativen ohne Zustimmung der Kommunen Mittel beantragen können, um ihre Arbeit fortführen zu können.
({3})
Es ist und bleibt notwendig, dass sich der Bundestag
immer wieder mit dem Thema Rechtsextremismus
auseinander setzt. Am 20. November haben wir eine Anhörung zu diesem Thema. Dazu liegen Anträge der Oppositionsparteien vor. Ich appelliere in diesem Zusammenhang auch an den Koalitionspartner, dass es uns bis dahin
gelingt, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das
Thema ist uns zu wichtig, als dass die große Koalition
dabei sprachlos bleiben kann.
({4})
Ich komme zum Schluss. Die aktuelle Umfrage ist
heute schon mehrfach zitiert worden. Ich glaube, wir alle
müssen sie noch einmal genauer lesen und studieren und
auch unsere Schlüsse daraus ziehen. Eine aktuelle Umfrage von Infratest dimap zeigt, dass die Zustimmung
zur Demokratie sinkt.
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu
kommen.
Im Osten sind nur noch 32 Prozent der Bevölkerung
mit der Demokratie zufrieden. Im Westen sind die Werte
etwas höher. Auch diese Zahlen müssen für uns Demokratinnen und Demokraten Anlass sein, im Werben um
die Demokratie und im Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht nachzulassen.
Vielen Dank.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Lazar
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Anfrage der Linksfraktion spricht an, was
auch wir Grünen seit langem immer wieder betonen:
Rechtsextremismus wirkt heute in viele Bereiche der
Gesellschaft hinein. Dies wird auch durch die aktuelle
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt. Die Bundesregierung sollte deshalb diese umfangreiche Anfrage
nicht als lästige Fleißarbeit betrachten, sondern für eine
inhaltliche Auseinandersetzung nutzen.
Das Klischee eines typischen Rechtsextremisten: jung,
männlich, ungebildet, der wieder „normal“ wird, wenn er
Freundin und Kinder hat, stimmt so nicht. Zunehmend
kommt es zur Gründung „nationaler Familien“, in denen die rechtsextremen Einstellungen weiter gelebt und
in die Kindererziehung eingebracht werden. Auch Frauen
engagieren sich zunehmend in rechten Parteien und
Gruppierungen. Es gibt mittlerweile viele, die im Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus Selbstverwirklichung suchen und sich zunehmend organisieren.
Nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern
werden durchlässiger. Auch Ländergrenzen verwischen
immer mehr. Die Strukturen vernetzen sich international.
Aber auch in der näheren Umgebung kann jeder Einzelne genügend Probleme erkennen.
Einige Beispiele dazu: Am vergangenen Wochenende
wird die Journalistin Andrea Röpke in Brandenburg in
einem Supermarkt von Rechtsextremen angegriffen;
aber niemand half ihr bzw. steht für Zeugenaussagen bereit. In Parey wird Mitte Oktober ein Schüler mit einem
antisemitischen Schild um den Hals von Mitschülern
über den Schulhof geschickt. In Pretzien wird Mitte Juni
bei einer so genannten Sonnenwendfeier das „Tagebuch
der Anne Frank“ verbrannt und niemand der Anwesenden findet etwas dabei. In Ratingen kann ein Rentner
eine Woche lang eine selbst gebastelte Hakenkreuzfahne
von seinem Balkon hängen lassen, bevor Anwohner die
Polizei verständigen.
Selbst die Polizei ist vor rechtsextremen Angriffen
nicht mehr sicher, wie der Vorfall am letzten Wochenende
in Gerwisch, wo einem Polizisten die Nase gebrochen
wurde, oder der Übergriff aus dem Naziladen „Werwolf“
in Wismar, bei dem die Polizei mit Baseballschlägern bedroht wurde, zeigt. Auch bei Fußballspielen kommt es
immer wieder zu rassistischen und antisemitischen Hetzparolen und Übergriffen in und um die Stadien.
Es ist beunruhigend, wie oft rechtsextreme, rassistische und antisemitische Ideologie in den Köpfen scheinbar ganz normaler Menschen zu finden ist. Die Ergebnisse von Studien und Umfragen sind meist ernüchternd;
die Ergebnisse der aktuell vorliegenden Studie wurden
heute schon mehrfach erwähnt. Solche Einstellungen
sind aber sozialer und politischer Zündstoff.
Die Frage ist nun: Wie können wir dieser gefährlichen
Entwicklung entgegenwirken? Zum einen brauchen wir
Schadensbegrenzung. Das heißt, wir müssen verhindern, dass sich das Problem ausweitet.
({0})
Zum Zweiten brauchen wir - das ist die eigentliche Aufgabe, wenn wir langfristig Erfolg haben wollen - präventive Ansätze. Wir müssen deshalb Initiativen stärken, die sich für mehr Demokratie vor Ort einsetzen. Das
neue Bundesprogramm soll dazu beitragen. Leider hat es
einen entscheidenden Fehler: Es verwehrt lokalen freien
Trägern, Anträge auf Bundesförderung zu stellen. Vielmehr müssen sie bei den Kommunen betteln gehen. Die
Kommunen sind meist überfordert und selbst Teil des
Problems. Wir fordern daher von der großen Koalition
ein gleichberechtigtes Antragsrecht für freie Träger und
Kommunen.
({1})
Ein wichtiger Baustein der Prävention ist eine Bildungspolitik, die, angefangen von der Kita bis hin zur
Erwachsenenbildung, auf die Vermittlung demokratischer Kompetenzen setzt. Basis dafür ist ein Menschenbild, das von Anerkennung, Toleranz und Gleichberechtigung geprägt ist.
Viele Jugendliche geraten über Angebote im vorpolitischen Raum in die Neonaziszene. Hier sind die Länder
und Kommunen in der Pflicht, Orte zu schaffen und zu
erhalten, die jungen Menschen gemeinschaftliches Engagement ermöglichen. Die Mittel für Jugend-, Sozialund Kulturarbeit dürfen nicht weiter gekürzt werden. Sie
sind eine Investition in die demokratische Zukunft unseres Landes.
({2})
Wir dürfen uns nicht damit herausreden, dass der Bund
nicht zuständig ist; denn hier ist jeder gesellschaftliche
Bereich gefragt.
Aber auch jeder Einzelne in seinem Alltag ist verantwortlich. Für uns Politikerinnen und Politiker gilt das
ebenso. Wir müssen die Sorgen der Leute ernst nehmen
und uns glaubwürdig um deren Probleme kümmern.
Wenn die demokratische Politik das nicht schafft, dann
tun das andere.
Ich wünsche mir, dass wir der Bevölkerung ein gutes
Beispiel geben und in diesem Punkt einen gemeinsamen
demokratischen Konsens finden.
Vielen Dank.
({3})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Gert Winkelmeier.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wie notwendig die Debatte zum Rechtsextremismus ist
und wie notwendig es ist, dass die Bundesregierung
Maßnahmen ergreift, zeigen die Zahlen, die gestern veröffentlicht wurden; meine Kollegin Ulla Jelpke hat bereits darauf hingewiesen. Wenn wir heute in der Bevölkerung eine gestiegene Akzeptanz der NPD und anderer
faschistischer Parteien feststellen, dann hat das sehr viel
mit der Politik des Sozialabbaus dieser und früherer
Bundesregierungen zu tun.
Erinnern möchte ich deshalb an eine verpasste
Chance aus dem Jahre 2003. Das damalige NPD-Verbotsverfahren ist kläglich gescheitert, weil die Richter
nicht mehr erkennen konnten, ob die NPD von ihren eigenen Leuten oder von staatlich bezahlten V-Männern
des Verfassungsschutzes geführt wurde.
({0})
Auf Führungsebenen der NPD arbeiteten diese V-Leute
Hetzkampagnen gegen Minderheiten und die demokratische Verfasstheit dieses Staates aus. Das ist der eigentliche Skandal des damals gescheiterten Verbotsverfahrens.
({1})
Dieses Scheitern hatte böse politische Folgen. Die
NPD ist aus dem Verfahren gestärkt herausgekommen,
hat mehr Mitglieder, Wähler und Mandate als vor der
Einleitung des Verfahrens. Die NPD kann heute unangefochten als Speerspitze den organisierten Rechtsextremismus führen. Es ist sogar so, dass das gescheiterte
Verfahren der NPD eine gewisse Legitimierung gebracht
hat und dadurch Distanz zu bürgerlichen Kreisen abgebaut wurde.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Verfahrenseinstellung ein vernichtendes Urteil über die V-MannPraxis der Geheimdienste gefällt. Es hat die Messlatte
für ein erneutes NPD-Verbotsverfahren keinesfalls unendlich hoch gelegt. Es hat lediglich zu Recht verlangt,
dass diese V-Leute an verantwortlicher Stelle abgeschaltet werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silke
Stokar von Neuforn ({2})
Wenn dieser Formfehler der unzulässigen Beweisführung gegen die NPD mittels Zitaten aus Dokumenten
und Äußerungen, die die V-Leute selbst verfasst haben,
beseitigt wird, dann steht einem neuen Verbotsverfahren
nichts mehr im Wege.
Leider waren bis jetzt weder der Bundesinnenminister
noch seine Länderkollegen bereit, diese Konsequenzen zu
ziehen. Es ist also ein Versäumnis der Regierung, dass das
Verfahren bis heute noch nicht wieder auf die politische
Tagesordnung gesetzt werden konnte. Herr Altmaier,
auch Ihre Worte ändern daran nichts.
Die vielen Gewalt- und Straftaten, die von Neonazis
täglich verübt werden, sind parteipolitisch motiviert und
werden unter anderem von der NPD und ihr nahe stehenden Organisationen organisiert. Diese Tatsache findet
sich in der Losung „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“ wieder.
({3})
Verbrechen müssen verfolgt und geahndet werden. Deshalb muss das Nachdenken über ein NPD-Verbot und
selbstverständlich auch über ein Verbot der Bildung etwaiger Nachfolgeorganisationen erneut beginnen.
Vielen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Kristina Köhler für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rassismus und Nationalismus widersprechen unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie haben in
Deutschland keinen Platz. Die Bekämpfung des menschenfeindlichen Rechtsextremismus ist deshalb eine
unserer zentralen innen- und gesellschaftspolitischen
Aufgaben. Daran besteht kein Zweifel.
Seien wir aber ehrlich: So einig wir uns über das Ziel
sind, so umstritten ist der Weg dorthin. Für die CDU/
CSU gilt bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus eine Prämisse: Gegen blinden Hass muss
man sehenden Auges kämpfen. Was meine ich damit?
„Sehenden Auges“ heißt zunächst einmal, die Realität in
den Blick zu nehmen. Frau Kollegen Fograscher, Sie
sprachen eben die etwa 15 000 rechtsextremistischen
Straftaten an, die es laut Verfassungsschutzbericht 2005
gab, und leiteten daraus die These ab, dass der Rechtsextremismus wesentlich gefährlicher ist als der Linksextremismus und der Islamismus. Sie müssen aber schon
genauer hinschauen: Von diesen 15 000 Straftaten sind
nur 6 Prozent Gewalttaten. Der Rest sind vor allen Dingen Propagandadelikte, zum Beispiel Hakenkreuzschmierereien.
({0})
- Herr Edathy, damit will ich auf keinen Fall sagen, falls
Sie das befürchten, dass Propagandadelikte weniger
schlimm sind. Wenn Sie vergleichen, müssen Sie aber
zur Kenntnis nehmen, dass es auf der linksextremistischen Seite derartige Propagandadelikte überhaupt nicht
gibt. So etwas wie „Deutschland verrecke!“ steht in
Deutschland nicht unter Strafe. Deswegen können Sie
die Zahlen nicht einfach vergleichen. Sie vergleichen
sonst Äpfel mit Birnen.
Wenn Sie vergleichen, müssen Sie schon das Gleiche
miteinander vergleichen, zum Beispiel die Gewalttaten
selbst. Dann finden Sie: 958 rechtsextremen Gewalttaten
im Jahr 2005 standen 896 linksextreme Gewalttaten gegenüber.
({1})
Da können Sie doch nicht zu der Conclusio kommen,
dass der Rechtsextremismus das deutlich gefährlichere
Phänomen ist. Beide Phänomene sind gefährlich, beide
widersprechen unserer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, gegen beide müssen wir vorgehen!
({2})
Aus den Zahlen geht hervor, dass seit 2002 die Zahl
der fremdenfeindlichen Gewalttaten gesunken ist - das
können wir einmal positiv feststellen -, auch wenn sie
immer noch auf einem erschreckend hohen Niveau ist.
Interessant ist, dass ein Drittel der rechtsextremistischen
Gewalttaten mit Auseinandersetzungen mit Linksextremisten zusammenhängt.
({3})
Dieses gegenseitige Sichhochschaukeln von rechts- und
linksextremistischen Gewalttaten, ein Anstieg um
111 Prozent seit 2002, müssen wir in den Blick nehmen,
wenn wir uns sehenden Auges mit diesem Phänomen
auseinander setzen wollen.
({4})
Sehenden Auges zu handeln, heißt aber auch, dass wir
nicht ständig ein und denselben Fehler machen dürfen,
nämlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung
und die Menschen in diesem Lande schwachreden und
den Extremismus stark.
({5})
Das versucht etwa die Linkspartei, wie wir erkennen,
wenn wir uns den Text ihrer Großen Anfrage durchlesen.
Sie versucht, den Begriff „rechtsextrem“ so weit auszudehnen, dass ein Großteil der Menschen in diesem
Lande auf das Übelste verunglimpft wird. Von den Grünen bis zur CDU gibt die Linkspartei in ihrem Text allen
die Schuld am Anwachsen des Rechtsextremismus,
({6})
die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland sei voll von
Ressentiments, Rechtsextremismus sei in der Mitte der
Gesellschaft zu finden.
({7})
Das beginnt bereits bei der Terminologie. Frau Kollegin Jelpke, Sie haben eben wieder vom „Kampf gegen
rechts“ gesprochen.
({8})
Es geht hier aber nicht um einen „Kampf gegen rechts“,
es geht hier um den Kampf gegen Rechtsextremismus.
(Volker Schneider ({9})
Denn rechts ist alles, was nicht links ist. Ich bin nicht
links und auch die CDU/CSU-Fraktion ist nicht links.
Sie wollen uns in diesen Kampf mit einbeziehen. Wegen
dieses linkspopulistischen Getöses warnen wir davor,
den Weg gegen den Rechtsextremismus mit linksradikalen oder gar linksextremistischen Gruppierungen zusammen zu beschreiten. Denn sie haben oft gar nicht den
Rechtsextremismus im Fokus, sondern die bürgerliche
Mitte.
Frau Kollegin Köhler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Gerne. Von wem denn?
Von der Kollegin Jelpke.
Ja, gut.
Frau Köhler, ist Ihnen bekannt, dass es in der letzten
Legislaturperiode einen gemeinsamen Antrag von allen
Fraktionen außer CDU/CSU gab, mit dem Maßnahmen
gegen den Rechtsextremismus beschlossen wurden, gegen solche Verbände, gegen solches Gedankengut usw.?
Ist Ihnen bekannt, dass sich Ihre Fraktion an diesem Antrag nicht beteiligt hat?
Frau Kollegin, wir haben uns an diesem Antrag nicht
beteiligt, weil bei diesem Antrag wieder genau das geschehen ist, was ich eben angeprangert habe, dass nämlich einseitig der Rechtsextremismus herausgegriffen
wird,
({0})
anstatt gegen jeden Extremismus vorzugehen: Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus, alles drei
gefährliche, menschenfeindliche Phänomene, die gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung stehen.
({1})
Oft wird nicht nur die bürgerliche politische Mitte angegriffen, sondern auch unsere freiheitlich-demokratische
Grundordnung als solche.
Frau Kollegin Jelpke, da Sie mir gerade eine Frage
gestellt haben, möchte ich mit Folgendem schließen: Sie
haben in einer Rundmail vom 19. Oktober Ihre Ablehnung der Bitte um Unterstützung gegen den antisemitischen al-Quds-Tag wie folgt begründet: Erstens. In
Deutschland sei es mit den Frauenrechten auch nicht viel
anders als im Iran. Zweitens. Nicht jeder Mensch sehne
sich nach Demokratie und Menschenrechten. Und
drittens - ich zitiere wörtlich -: Es gibt, um einen weiteren Kritikpunkt zu nennen, keine Universalität der Menschenrechte.
Liebe Abgeordnete der Linken, die Rechtsextremen
werden sich freuen, so etwas zu hören. Wir tun das aber
nicht. Wir werden den Rechtsextremismus und dessen
kranke Ideologie bekämpfen, indem wir unsere Demokratie stärken - sei es mit Ihnen oder ohne Sie.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2007 ({0})
- Drucksachen 16/2712, 16/3036 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksachen 16/3325, 16/3368 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Carl-Ludwig Thiele
Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3326 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat
die Kollegin Gabriele Frechen das Wort.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute abschließend über das
Jahressteuergesetz 2007. 30 Minuten werden wir über
die Ergebnisse von stundenlangen Beratungen,
({0})
Anhörungen, Gesprächen der Berichterstatter und Besprechungen der Obleute debattieren. Als kleinen Schritt
kann man das Gesetz sicherlich nicht bezeichnen; denn
es umfasst immerhin elf Steuergesetze, sieben Verordnungen und das Baugesetzbuch.
Wir greifen mit diesem Gesetzentwurf sowohl redaktionelle und klarstellende Änderungen als auch Änderungen und Anpassungen auf, die aufgrund der
EuGH-Rechtsprechung, der BFH-Rechtsprechung und
der Empfehlungen des Rechungsprüfungsausschusses
umzusetzen sind.
Steuerpflichtige und deren Vertreter fordern seit vielen Jahren, zeitig ein Jahressteuergesetz zu erlassen,
in dem alle anstehenden Änderungen vorgenommen
werden, statt viele einzelne Änderungen in Raten vorzunehmen. Liebe Kollegin Dr. Höll, deshalb ist der Begriff
„Omnibusgesetz“ auch überhaupt kein Schimpfwort für
dieses Gesetz, sondern in Wirklichkeit eine sehr zutreffende Bezeichnung für ein sehr arbeitsintensives Gesetz.
Die Ausschussberatungen und die Anzahl der Änderungsanträge der Oppositionsfraktionen haben gezeigt,
dass der Gesetzentwurf in großen Teilen unstrittig ist.
({1})
- Bei so wenigen Änderungsanträgen ist das wohl so.
({2})
Zum Teil waren wir uns sogar bei Vorschriften einig, die
wir aus diesem Gesetzentwurf wieder herausgenommen
haben. Hierzu gehören das Prüfungsrecht bei Jahressteuerbescheinigungen, der Abgabezeitraum für zusammenfassende Meldungen der Umsatzsteuer, die Veränderung der Regelungen über die elektronische Signatur und
die Behandlung von Steuern im vorläufigen Insolvenzverfahren. Dieses Thema ist für uns allerdings noch
nicht vom Tisch.
Gemeinsam mit den Rechtspolitikern werden wir erörtern, ob sich das Insolvenzrecht so entwickelt, wie
sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat. Vor allem die
hohe Anzahl der so genannten schwachen Insolvenzverwalter und die daraus resultierenden Folgen für die
Einnahmen des Staates und der Sozialversicherungssysteme müssen nach unserem Dafürhalten dringend
evaluiert werden.
Der eine oder andere Oppositionskollege wird auch
hier wieder die alte Platte von den Steuererhöhungen
auflegen.
({3})
Glauben Sie ihnen kein Wort.
({4})
Steuereinnahmen wird es durch dieses Gesetz nicht geben.
({5})
- Sie können gleich das Tableau mit den Mehreinnahmen vorstellen, wenn Sie welche finden, Herr Kollege.
Auf einige wenige Änderungen möchte ich kurz eingehen. Durch die Systemumstellung bei der Körperschaftsteuer konnte es vereinzelt zu Doppelbesteuerungen kommen. Diese doppelte Belastung durch die
Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer heben wir
mit diesem Gesetz auf. Zu den materiellen Änderungen
gehört die Verbesserung der Absetzbarkeit von Rentenversicherungsbeiträgen für die Basisrente. Wir folgen
damit unserem Weg, Menschen dabei zu helfen, steuerlich entlastet zu werden und Vorsorge für ihr eigenes
Alter zu treffen. Gleichzeitig erweitern wir den Kreis der
Anbieter begünstigter Produkte.
({6})
Mit diesem Gesetz wird darüber hinaus der Einstieg
in die nachgelagerte Besteuerung umlagefinanzierter
Versorgungssysteme vollzogen. Damit wird die Gleichbehandlung mit der kapitalgedeckten betrieblichen
Altersvorsorge erreicht. Zuwendungen an Geschäftsfreunde können künftig pauschal mit 30 Prozent versteuert werden, was zu einer deutlichen Vereinfachung führen wird. Diese Forderung wurde von Verbänden an uns
herangetragen. Ich erinnere hier beispielhaft an die VIPKarten bei der Fußball-WM.
Mit diesem Gesetz wirken wir auch Steuervermeidungsstrategien entgegen. So wird durch die
Einführung einer neuen Regelung die Abwicklung von
bestimmten Aktiengeschäften, in der Regel von Leerverkäufen, verhindert,
({7})
damit keine Kapitalertragsteuer mehr bescheinigt wird,
die nicht abgeführt wurde, Herr Kollege.
Eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes betrifft die
Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf bestimmte Zweckbetriebe. Die Erfahrung hat gezeigt: Das
ist für die Vereine, die Wohlfahrtsverbände und die Integrationsbetriebe bedeutend.
({8})
Machen Sie die Arbeit dieser Menschen bitte nicht lächerlich.
Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass die Anwendung
des ermäßigten Steuersatzes in sehr wenigen Fällen für
unerwünschte Gestaltungsmodelle genutzt wurde. Wir
sind uns mit den Wohlfahrtsverbänden einig, dass die
schwarzen Schafe aussortiert werden müssen. Der Sinn
und Zweck eines Zweckbetriebs besteht nicht darin,
Steuervorteile zu erhalten, sondern in der Arbeit für die
Menschen und mit den Menschen, die diese Hilfe brauchen.
Ich bin sicher, dass wir mit dieser Gesetzesänderung
und dem dazugehörigen BMF-Schreiben unserem gemeinsamen Anliegen, die gute und wertvolle Arbeit von
Wohlfahrtsverbänden, Hilfsorganisationen, Integrationsprojekten und Arbeitsloseninitiativen durch die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes zu unterstützen,
gerecht werden und dass wir die wenigen, die wir aussortieren wollen, wirklich treffen.
({9})
Der letzte Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
die rückwirkende Verhinderung neu kreierter Steuerstundungsmodelle. Wenn wir darauf nicht reagieren,
kostet uns das allein in diesem Jahr 700 Millionen Euro.
({10})
Frei nach dem Motto „Ein Geschäft wird erst dann ein
Geschäft, wenn man dem Finanzamt nachweisen kann,
dass es keines war“ wurden solche Modelle teilweise bis
zum April 2006 aufgelegt. Wir haben als Gesetzgeber
Ende 2005 unmissverständlich klargemacht, dass wir
hier keinen Spaß verstehen.
({11})
Das Schließen von Steuerschlupflöchern gehört für uns
zum Programm. Jeder, der nach diesem Zeitpunkt ein
neues Modell gestrickt oder in ein solches investiert hat,
wusste genau, worauf er sich einlässt.
({12})
Das Bundesverfassungsgericht erkennt die unechte
Rückwirkung als verfassungskonform an, wenn es dabei
nicht um eine Rücknahme staatlicher Verhaltensanreize
geht, sondern wie hier um die steuerliche Erfassung von
Sachverhalten, die auf Steuervermeidung oder Steuerumgehung angelegt sind.
({13})
- Herr Kollege, Sie nehmen mir das Wort aus dem
Mund: Der Vertrauensschutz kann nicht angeführt werden. Alle Anleger wurden auf die Gefahr der Rückwirkung hingewiesen. Für alle Anleger wurde für diesen
Fall die Rückabwicklung vereinbart.
Künftig wollen wir lieber vorbeugen als rückwirken.
Deshalb haben wir die Bundesregierung beauftragt, zu
prüfen, wie es uns durch die Einführung einer Pflicht zur
Anzeige solcher Modelle, die es auch in anderen Ländern, zum Beispiel im Vereinigten Königreich, gibt,
ermöglicht werden kann, besser zu agieren. Trotzdem
- hier bin ich mir ganz sicher - wird es auch in Zukunft
Fälle geben, in denen wir nicht agieren können, sondern
reagieren müssen. Das erinnert ein bisschen an den Wettlauf zwischen Hase und Igel. Doch auch wenn die beiden Meckis noch so sympathisch sind, darf man nicht
vergessen: Sie haben das Rennen nur deshalb gewonnen,
weil sie mit unfairen Tricks gearbeitet haben. Das soll
bitte nur im Märchen so sein.
({14})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen
und Kollegen für die konstruktive, lebhafte Diskussion,
die wir im Rahmen der Beratungen dieses Gesetzentwurfes geführt haben. Natürlich bedanke ich mich auch bei
den helfenden Köpfen im Ministerium für ihren Sachverstand, den sie uns immer sehr wohlwollend zur Verfügung gestellt haben.
({15})
- Herr Thiele, wir wollen dieses Gesetz.
({16})
Haben Sie immer noch nicht verstanden, dass das Parlament der Gesetzgeber ist? Ich muss das in jeder meiner
Reden wiederholen. Irgendwann werden aber auch Sie
das lernen.
({17})
Mark Twain hat einmal gesagt:
Gesetzeslücken lassen sich durch beständigen Gebrauch beträchtlich erweitern.
Versuchen wir doch gemeinsam, möglichst lückenlose
Gesetze zu machen!
Vielen Dank.
({18})
Der Kollege Carl-Ludwig Thiele hat für die FDPFraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen,
Frau Frechen, auch von unserer Seite herzlichen Dank
für die gute Zusammenarbeit aussprechen,
({0})
die wir, glaube ich, im Finanzausschuss haben, auch
wenn es Kontroversen in der Sache gibt und die eine
oder andere möglicherweise unbedachte Bemerkung einzelner Kollegen fällt, die aber mitunter wieder relativiert
oder zurückgenommen wird, wie wir es gerade in der
letzten Sitzung des Finanzausschusses erleben durften.
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Jahressteuergesetzes sollen mehr als 230 Änderungen in 19 unterschiedlichen Gesetzen beschlossen werden. Es ist ein
Riesenpaket, das wir zu wälzen hatten. Das erinnert
mich an das Omnibusgesetz, das ich von früher kenne.
Danach heißt es auf den Fluren der Verwaltung: Der
Omnibus fährt. Wer will noch einsteigen? Wer hat noch
Interesse an einem bestimmten Punkt, der in den Gesetzentwurf aufgenommen werden soll? - Damit hat der Gesetzgeber nach wie vor Probleme.
Ich habe Zweifel, Frau Kollegin Frechen, ob jede dieser Regelungen zwingend erforderlich ist. Denn wir hatten im letzten Jahr kein Jahressteuergesetz und es gab
noch weitere Jahre ohne ein solches Gesetz. In keinem
der Folgejahre ist Deutschland untergegangen. Es gab
weiter Steuern. Die Steuern wurden weiter eingetrieben
und es gab auch weiter ein Steuerrecht. Insofern sollten
wir uns mit Rücksicht auf die Deregulierungsbemühungen fragen, ob tatsächlich alles geregelt werden soll.
({1})
Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Wir
halten es für schwierig - insbesondere für die Opposition
ist es eine Zumutung -, wenn wir erst Dienstagabend die
Umdrucke zu den komplexen Sachverhalten bekommen,
die am Mittwoch erörtert werden sollen. Lassen Sie uns
doch versuchen, den Zeitplan so zu gestalten, dass die
Beratung in Ruhe erfolgen kann, statt ihn so auszurichCarl-Ludwig Thiele
ten, wie es vom BMF vorgegeben wird. Die Änderungsanträge der FDP lagen Ihnen Montagmorgen vor. Es
wäre schön, wenn das umgekehrt auch der Fall wäre.
({2})
Ich komme zur Sache. Der Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2007 ist aus meiner Sicht kein Beitrag zur
Vereinfachung des Steuerrechts; vielmehr bringt er viele
neue komplizierte Regelungen mit sich. Er ist kein Beitrag zur Entlastung der Bürger; denn mit diesem Gesetz
wird in vielen Fällen die steuerliche Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofes zulasten der Bürger ausgehebelt. Er
ist auch kein Beitrag zu einem planbaren und verlässlichen Steuerrecht.
({3})
Denn bestimmte steuerliche Fälle werden rückwirkend
ab dem 1. Januar 2006 außer Kraft gesetzt.
({4})
Auch wenn wir über manche Punkte streiten und in
anderen Punkten einig sind, meine ich, dass das Steuerrecht alles in allem planbar und verlässlich sein sollte.
Das wurde von der Union zu Oppositionszeiten auch
eingefordert. Dagegen wurde allerdings zum wiederholten Male verstoßen, auch wenn ich persönlich anerkenne, dass zwei Kollegen der Union damit Probleme
hatten und unserem Änderungsantrag zugestimmt haben.
({5})
Ich möchte noch auf einige Punkte eingehen. Es soll
eine neue Gebühr für Steuerpflichtige eingeführt werden, die in komplexen Sachverhalten eine verbindliche
Auskunft des Finanzamtes einholen möchten. Das halte
ich für ziemlich abenteuerlich. Der Staat besteuert den
Bürger. Der Bürger ist verpflichtet, seine Steuererklärung abzugeben. Wenn er dann aufgrund dieser Verpflichtung gegenüber dem Fiskus, der auch an Rechtssicherheit interessiert ist, ein Interesse daran hat, einen
Sachverhalt verbindlich klären zu können, soll ihm mit
dem Gesetzentwurf eine Gebühr berechnet werden. Das
halte ich für einen Fehler. Denn er wird zusätzlich belastet, obwohl es ihm nur um Rechtssicherheit für sich und
den Fiskus geht.
({6})
Insofern halte ich es dem Steuerbürger gegenüber für
eine Frechheit, eine solche Gebühr zu erheben. Aber wie
schon beim Wegfall der Abzugsfähigkeit der Steuerberatungskosten als Sonderausgaben zeigt die schwarz-rote
Koalition noch einmal, welchen Stellenwert der Steuerbürger für sie hat.
Bei der Besteuerung von Sachzuwendungen war
eine Regelung vorgesehen, nach der der Zuwendende die
Sachzuwendung mit 45 Prozent versteuern sollte. Dieser
Steuersatz ist zwar auf 30 Prozent abgesenkt worden
- das ist zu begrüßen -, aber zu den 30 Prozent ist anzumerken, dass ein Unternehmen die Geschenke wegen
der Nichtabzugsfähigkeit aus dem Ertrag erwirtschaften
muss und deshalb faktisch ein viel höherer Steuersatz
darauf lastet.
Wir haben dann nachgefragt, wie mit dem Miles-andMore-Programm der Lufthansa verfahren wird. Seitens
des Finanzministeriums wurde uns von Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks mitgeteilt, dass die Sachzuwendung
mit 2,25 Prozent versteuert wird. Das war der Grund,
warum wir diesen Punkt ausklammern und separat betrachten wollten. Wir wollten klären, warum bei der Zuwendung durch die Lufthansa ein Steuersatz von 2,25 Prozent gilt und der Steuersatz für andere 30 Prozent
beträgt. Das wird noch zu klären sein. Ich harre der Erklärung und der Aufklärung. Ich vermute, dass das nicht
so einfach wird.
Da wir auf unsere Fragen nach den Ungereimtheiten
keine abschließenden Antworten erhalten haben, stimmen wir dem Gesetzentwurf nicht zu. Wir bedanken uns
gleichwohl für die Beratungen und werden uns weiterhin
- genauso wie bei diesem Gesetzentwurf - konstruktiv
einbringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Olav Gutting
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Beim Jahressteuergesetz 2007 sprechen wir von
einem so genannten Omnibusgesetz mit über 200 Änderungen. Dabei werden fast alle zentralen Steuergesetze
berührt. „Omnibus“ heißt auf Lateinisch „für alle“. Es ist
also für jeden etwas dabei.
({0})
Omnibus ist nicht negativ zu sehen. Es handelt sich
schließlich um ein sinnvolles Transportmittel, zumindest
dort, wo es keine Schienen gibt.
Überwiegend sind die Änderungen klarstellend oder
redaktionell. Manch einer hält nun diese Änderungen
und Anpassungen für eine Verkomplizierung des Steuerrechts. Dem ist aber nicht so. Die Anpassung von Gesetzen an die Realität ist schlicht notwendig; denn die
Welt dreht sich weiter. So werden immer wieder Korrekturen, Klarstellungen und Änderungen unserer Gesetze
notwendig sein. Dass die vielen kleinen Änderungen im
Gesetzentwurf schwer zu lesen sind, gebe ich gerne zu.
Das ist bei der Steuergesetzgebung leider meistens der
Fall. Wer aber nun aus Frust über die Komplexität des
Gesetzes und die viele Arbeit, die wir damit in den Beratungen hatten, die notwendigen Änderungen als hektische Nachbesserungsversuche geißelt, der handelt populistisch und verkennt schlicht die Realität.
({1})
Der Gesetzentwurf hat sich während der Beratungen
in einigen zentralen Bereichen im Vergleich zur Ur6228
sprungsfassung verändert und verbessert. Ich darf an
dieser Stelle den Koberichterstattern aus meiner Fraktion, aber auch unseren Kollegen aus den Koalitionsfraktionen genauso wie allen anderen für die konstruktiven
Beratungen ein herzliches Dankeschön sagen. Wir haben es geschafft, beispielsweise § 5 Abs. 4 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen. Hier ging es um die Pflicht zur
Aufbewahrung von Unterlagen bei Rentenanwartschaften. Es ist ein guter Schritt, diesen Paragrafen zu streichen; denn dies ist ein Beitrag zu weniger Bürokratie
und hilft insbesondere, zusätzliche administrative Belastungen zu vermeiden.
Beim Prüfungsrecht hinsichtlich der Jahresbescheinigungen bei den Banken haben wir darauf geachtet,
dass das Bankgeheimnis nicht ausgehöhlt wird. Es ist
festgehalten, dass dieses Prüfungsrecht lediglich die
Systemprüfung umfasst. Dies wird zusätzlich durch ein
BMF-Schreiben sichergestellt.
({2})
Die Banken und insbesondere ihre Kunden müssen also
in diesem Zusammenhang keine individuelle Überprüfung der jeweiligen Jahresbescheinigung bei der Bank
befürchten.
Von der Wirtschaft wurde ständig eine Möglichkeit
zur Pauschalierung der Einkommensteuer bei Geschenken gefordert. In der Tat bestand hier Handlungsbedarf.
Ein Bedürfnis nach einer vereinfachten Pauschalierung
gibt es nicht erst seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, als diese Problematik bei der Besteuerung
von VIP-Logentickets einem breiteren Publikum offenbar wurde. Vielmehr gibt es dieses Bedürfnis schon länger. Uns war es wichtig, die nun angebotene gesetzliche
Pauschalierung der Einkommensteuer in diesem Bereich
praxistauglich zu machen. Das ist vollumfänglich gelungen.
Mit dem pauschalierten Steuersatz in Höhe von 30 Prozent haben wir es geschafft, die richtige Balance zwischen angemessener Besteuerung auf der einen Seite und
der notwendigen Anreizfunktion auf der anderen Seite
zu finden. Mit dem Steuersatz in Höhe von 30 Prozent
wird es zukünftig mehr Unternehmen geben, die die Geschenke für die Beschenkten gleich mitversteuern. Damit bauen wir quasi eine Brücke in die Steuerlegalität;
denn aus der Lebenserfahrung wissen wir, dass viele Beschenkte die Zuwendungen - zumeist aus Unwissenheit
über die Steuerpflicht - in der Steuererklärung nicht aufführen.
Ich bin überzeugt, dass diese Regelung unter dem
Strich zu mehr Steuerehrlichkeit, einer erheblichen Vereinfachung für die Unternehmen und gleichzeitig zu
Steuermehreinnahmen führt. Für Schenkende und Beschenkte bietet diese Regelung zudem mehr Rechtssicherheit.
({3})
Mehr Rechtssicherheit wollen wir auch im Zusammenhang mit der immer wieder auftauchenden Diskussion über verschiedene unerwünschte Steuergestaltungsmodelle. Mit dem Jahressteuergesetz 2007 wird
die letzte Lücke im Zusammenhang mit den Steuersparbzw. Steuerstundungsmodellen beim § 15 b des Einkommensteuergesetzes geschlossen.
({4})
Leider ist es so, dass der Gesetzgeber - wir haben das
schon vorhin von der Kollegin gehört - wie im Wettlauf
zwischen Hase und Igel den Entwicklungen im Bereich
dieser aggressiven Steuergestaltungsmodelle hinterherhechelt. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass einige
andere Staaten deshalb eine Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen eingeführt haben. Durch diese Anzeigepflicht soll die Verwaltung über missbräuchliche unerwünschte Gestaltungen im Vorfeld unterrichtet werden.
Damit wären dann der Gesetzgeber und die Steuerverwaltung frühzeitig in der Lage, gegebenenfalls gesetzgeberische oder verwaltungsmäßige Maßnahmen zu treffen.
Natürlich sehe ich auch in diesem Bereich das Spannungsverhältnis zwischen einer festen Zusage der Verwaltung auf der einen Seite und der Politik und dem Parlament auf der anderen Seite, die handlungsfähig bleiben
wollen. Es kann nicht sein, dass eine Zusage der Verwaltung hinsichtlich eines Steuersparmodells einen Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten hat und die Politik für
diese lange Zeit an diese Zusage gebunden ist. Die
Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers muss auch hier sichergestellt bleiben. Der Finanzausschuss hat deshalb
die Bundesregierung gebeten, bis Mitte des Jahres 2007
Vorschläge zur Einführung einer gesetzlichen Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen vorzulegen. Wir
sind gespannt, was da kommt. Wenn es gelingt, eine vertretbare Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen
zu erreichen, dann wäre das ein echtes Novum im deutschen Steuerrecht. Die Folge wäre ein weiterer Schritt
hin zu mehr Steuergerechtigkeit.
({5})
Mehr Steuergerechtigkeit ist ein Ziel, das wir alle
nicht aus den Augen verlieren dürfen; denn Steuergerechtigkeit und ein planbares verlässliches Steuerrecht
sind ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor im internationalen Ringen um Investitionen.
({6})
Nach einem Jahr Regierung Angela Merkel kann man
bereits erkennen, dass wir auf einem guten Weg sind.
Die Steuereinnahmen ziehen kräftig an, die Neuverschuldung wird erheblich gesenkt und der Arbeitsmarkt
zeigt eine erfreuliche Belebung.
({7})
Wir stehen ein Jahr nach Amtsantritt der großen Koalition zwar immer noch ganz am Anfang einer sicherlich
noch langen Wegstrecke; aber so viel Lob darf sein: Wir
haben einen guten Anfang gemacht und das sollte uns
Mut für mehr machen.
({8})
Das deutsche Steuerrecht muss mutig entrümpelt werden, Schritt für Schritt. Es wäre wirklich ein Meilenstein, wenn es gelänge, das Steuerrecht so zu vereinfachen, dass es jedem normalen Steuerbürger möglich
wäre, ohne große Hilfsmittel seine Steuererklärung eigenhändig zu Papier zu bringen.
({9})
Das geht aber nicht mit Nichtstun. Die notwendigen Änderungen, Korrekturen und Anpassungen, die wir jetzt
mit dem Jahressteuergesetz 2007 vorgenommen haben,
bedeuten keinesfalls eine Verkomplizierung des Steuerrechts.
({10})
Im Gegenteil: Wir erhalten mehr Klarheit in vielen Bereichen und in einigen Bereichen sogar eine Vereinfachung.
Ich habe schon vorhin das Beispiel der Pauschalierung
der Einkommensteuer bei den Geschenken genannt. Geben wir deshalb dem Omnibus Jahressteuergesetz 2007
freie Fahrt.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Dr. Barbara Höll das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu später Stunde eine fast harmonische Debatte! Aber, Herr Kollege Gutting, dieses Selbstlob war
doch ein bisschen zu viel.
({0})
Wenn wir über das Jahressteuergesetz sprechen, dann
müssen Sie sich an dem messen lassen, was Sie in Ihrem
Koalitionsvertrag vereinbart haben, nämlich - ich zitiere - „das deutsche Steuerrecht zu vereinfachen und international wettbewerbsfähig zu gestalten“. Diesem Anspruch tun Sie mit diesem Gesetz keinesfalls Genüge.
({1})
Liebe Kollegin Frechen, es ist ein Omnibusgesetz. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn in dem Omnibus alle Passagiere - so wie Sie es vorhin angesprochen haben - ein
Schild tragen, auf dem steht: In diesem Omnibus reisen
redaktionelle Änderungen und Anpassungen. Wenn aber
in dem Omnibus auf einmal blinde Passagiere auftauchen, die substanzielle Änderungen im Steuerrecht beinhalten, dann wird es gefährlich. Das sind die Dinge, auf
die die Opposition sehr aufmerksam geschaut hat. Wir
sind - sicherlich gemeinsam - froh, dass es auf unser
Wirken hin gelungen ist, diese Dinge aus dem Gesetz herauszubekommen und die blinden Passagiere wieder aus
dem Omnibus hinausbefördert zu haben.
Ich möchte nur das Insolvenzrecht ansprechen. Das
ist ein kompliziertes Thema. Mit der Änderung des Insolvenzrechtes im Jahre 1999 wurde der Versuch unternommen, ein modernes Insolvenzrecht zu installieren,
welches vor allem gewährleistet, dass Unternehmen im
Falle der Insolvenz eine Chance haben, weiter zu existieren. Auf einmal tauchte in dem Gesetz eine Änderung
der Abgabenordnung auf, durch die der Fiskus ein Vorgriffsrecht erhalten sollte, zu dem alle Experten sagen,
dass es dazu führen würde, dass Unternehmen eine wesentlich schlechtere Chance hätten, überhaupt zu überleben. Da wird es dann wirklich gefährlich.
In diesem Sinne sind wir wirklich sehr froh, dass es
uns durch unsere Arbeit im Rechtsausschuss und im Finanzausschuss gelungen ist, dass das herausgenommen
wurde und wir in Ruhe und ehrlich über diesen Punkt
diskutieren können.
Ich nehme an, Frau Scheel wird nachher noch die Verlängerung des Bewertungsgesetzes ansprechen, die im
Referentenentwurf überhaupt nicht enthalten war und
dann im Gesetz auftauchte.
({2})
Da fragte man sich schon, woher das auf einmal kam.
Das sind Dinge, die in ihren Folgen noch nicht ganz klar
abzusehen sind, gerade im Hinblick auf das Bewertungsgesetz. So sollten wir hier nicht arbeiten.
Wir sind aber froh, dass es gelungen ist, zum Beispiel
auch noch die Pauschalbesteuerung von Sanierungsgeldern im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge herauszunehmen. Auch das ist etwas, bei dem es dank der
guten Arbeit und der Einsicht der Kolleginnen und Kollegen der Koalition gelungen ist, gegenüber dem Gesetzentwurf etwas zu verändern. Das ist ein beredtes Beispiel dafür, dass auch Oppositionspolitikerinnen und
Oppositionspolitiker durch ihre Arbeit etwas bewirken
können.
Bei der vorgeschlagenen Regelung zur Besteuerung
der Geschenke ist es auch gelungen, gegenüber dem ursprünglichen Entwurf eine Änderung herbeizuführen.
Wir haben eben nicht mehr die pauschale Besteuerung in
Höhe von 45 Prozent, sondern nur noch in Höhe von
30 Prozent.
Damit ist es Ihnen insgesamt gelungen, ein Gesetz
vorzulegen, welches redaktionelle Änderungen und Anpassungen beinhaltet, aber bei weitem nicht dazu führen
wird, dass das Steuerrecht tatsächlich vereinfacht wird.
Ob die Regelung zur Rückwirkung zum 1. Januar dieses
Jahres tatsächlich Bestand haben wird, wird zu sehen
sein.
Wir stehen zu dem Gesetz nicht in völliger Ablehnung. Das ist der Unterschied zur FDP.
({3})
Wir werden uns enthalten, da mit diesen vorgeschlagenen Regelungen dem selbst gestellten Anspruch von
Transparenz und Vereinfachung nicht Genüge getan
wurde und einige Dinge in ihrer Wirkung doch recht
zweifelhaft sind. Deshalb gibt es von unserer Seite ein
Enthaltung.
({4})
Die Art der Beratung - abgesehen von dem späten
Einreichen der Änderungsanträge Ihrerseits - könnte
vielleicht für die Zukunft ein Beispiel dafür sein, dass es
möglich ist, auf den Sachverstand aller Kolleginnen und
Kollegen zu hören.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gutting, ich habe schon ein gewisses Verständnis
dafür, dass man hier einen solchen Selbstbeweihräucherungsakt vollziehen muss, um sich ein wenig aufzubauen, wenn man gleichzeitig weiß, dass der Anspruch,
den man formuliert, mit der Realität überhaupt nichts zu
tun hat.
({0})
Deshalb muss man einmal fragen, was im Koalitionsvertrag steht. Frau Kollegin Höll hat bereits darauf hingewiesen, dass darin die Priorität der Steuervereinfachung in den Vordergrund gestellt worden ist. Es hat eine
Übereinstimmung zwischen den beiden Koalitionsfraktionen gegeben, dass man mehr Transparenz, Effizienz
und Gerechtigkeit erreichen möchte. Man sieht dann
aber doch, dass das schöne Worte sind, die Realität aber
ganz anders aussieht.
Man muss auch Folgendes sehen: Seit diese Koalition
gemeinsam Gesetze verabschiedet, ist von Vereinfachung nicht mehr die Rede. Für mich ist es keine Vereinfachung, wenn man lediglich die Höhe eines Pauschalbetrages ändert. Pauschalen sind gut. Wenn man
einen Pauschalbetrag von 40 Prozent auf 25 Prozent absenkt, dann ist das nicht automatisch eine Vereinfachung, sondern eine Änderung im Gesetz und sonst gar
nichts.
({1})
Ich bitte darum, auf dem Boden zu bleiben und nicht mit
solchen Argumenten zu kommen.
Wir meinen, dass sich das Jahressteuergesetz in diese
Entwicklung - eine zunehmende Anzahl an Verkomplizierungen - einreiht. Ihre steuerpolitischen Entscheidungen in verschiedenen Bereichen waren von Anfang an
verfehlt. Diese Entwicklung hält an: Sie nehmen weitere
Verschlimmbesserungen vor. Man sieht das an Ihren ausgefeilten Formulierungen, beispielsweise was die Herausnahme der Kosten für die Fahrt zur Arbeit anbelangt. Ihre Entscheidung war, dass diese Kosten nicht
mehr den Werbungskosten zugerechnet werden. Dann haben Sie festgestellt, dass man den Flugreisenden - Stichwort „Sammelbeförderungen“ - so nicht gerecht wird.
Daraufhin wurde die Entscheidung getroffen, dass diese
Kosten doch weiterhin den Werbungskosten zuzurechnen
seien. Es ist einfach absurd.
Wie Sie selbst wissen, ist die hochkomplizierte Entlastung bei Gewinneinkünften im Zusammenhang mit
der Reichensteuer absolut gaga. Wir haben hier immer
wieder gesagt: Außer einem hochkomplizierten Gesetz
bleibt fast nichts. Erreicht wird dadurch fast gar nichts.
({2})
Im Paragrafenwirrwarr gibt es - auch das muss man
einmal sagen - noch einige hochproblematische Regelungen, die sehr weit reichende Auswirkungen für die
Steuerpflichtigen haben.
Das Insolvenzverfahren ist angesprochen worden.
Auch wir sind der Auffassung, dass Sanierungschancen
von Betrieben, denen die Insolvenz droht, erheblich gemindert und dass Arbeitsplätze gefährdet würden. Wir
haben diesen Ansatz abgelehnt. Ich bin sehr froh, dass
Sie lernfähig sind und dass Sie in der Lage sind, auf Vorschläge der Opposition einzugehen. Glücklicherweise ist
dieser Plan gestrichen worden.
Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Olaf Scholz?
({0})
Ja.
Herr Scholz, bitte.
Liebe Frau Kollegin, ich möchte nur eine kurze Frage
stellen: Ist die Auffassung, die zusätzliche Besteuerung
von Personen mit einem Einkommen von mehr als
250 000 Euro bzw. bei Verheirateten 500 000 Euro in
Höhe von 3 Prozent sei „gaga“, Ihre Position oder die Ihrer Partei?
Herr Kollege Scholz, wir haben das von Anfang an
als eine Maßnahme begriffen, die den Menschen suggestiv vermitteln soll, man erreiche damit eine gerechte Besteuerung der Reichen in diesem Land. Sie machen
Reichtum an einem - wohlgemerkt - zu versteuernden
Einkommen in Höhe von 250 000 Euro bzw. bei Verheirateten 500 000 Euro fest. Das Bruttoeinkommen dieser
Personen liegt ja wesentlich höher.
Dann haben Sie festgestellt: Wir wollen die Unternehmen und die Selbstständigen mit dieser Steuer gar nicht
belasten. Also werden Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieben, aus selbstständiger
Tätigkeit oder bestimmte im Ausland erzielte Einkünfte
gar nicht berücksichtigt. Das heißt, diese Besteuerung betrifft lediglich einige wenige Personen, die ein sehr hohes
Einkommen haben, zum Beispiel weil sie für bestimmte
größere Unternehmen in diesem Land arbeiten. Diese
Personen können ihr zu versteuerndes Einkommen allerdings über Unternehmensbeteiligungen so weit reduzieren, dass sie die Einkommensgrenze von 250 000 Euro
mit Sicherheit unterschreiten.
({0})
Das heißt, übrig bleiben etwa ein Dutzend Bürger in
diesem Land, die diese Steuer zahlen müssen. Man suggeriert, Gerechtigkeit geschaffen zu haben, obwohl in
Wirklichkeit nur einige wenige betroffen sind. Das sieht
man auch bei den Steuereinnahmen. Sie werden in den
nächsten Jahren erleben, wer zusätzlich zu dieser Personengruppe gehören wird.
({1})
Wir prognostizieren Ihnen, dass von dieser Regelung
sehr viele aufgrund Ihrer Formulierung dieses Paragrafen nicht betroffen sind. Ich kann Ihnen sagen - auch Sie
wissen das -: Alle Personen, auf die Sie es abgesehen
haben, haben schlaue Steuerberater. Ihre Maßnahme ist
Augenwischerei und keine professionelle Steuerpolitik.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
({0})
Dialoge gibt es hier nicht, Kollege Scholz. Die Kollegin
Scheel muss Ihre Zwischenfrage erst einmal gestatten.
Wenn das geschehen ist, erteile ich Ihnen das Wort.
Ich kann mir vorstellen, was er noch sagen will.
({0})
- Olaf Scholz, ist ja in Ordnung.
Die Position unserer Partei ist die - das ist richtig -,
dass diejenigen mit starken Schultern auch stärker zum
Gemeinwohl beitragen sollen.
({1})
Aber mit einer solch halbseidenen Steuergesetzgebung
wollen wir nichts zu tun haben. Deswegen hat meine
Fraktion diesen Vorschlag auch geschlossen abgelehnt.
Aus!
({2})
Wir haben im Finanzausschuss auch über das Thema
Integrationsprojekte intensiv diskutiert. Ich bin sehr
froh darüber, dass es noch zu einer Veränderung in der
Frage des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Integrationsprojekte gekommen ist. Ich weiß jetzt noch
nicht, wie das Anwendungsschreiben des Finanzministeriums aussehen wird.
({3})
Ich hoffe, dass es keine bösen Überraschungen enthält.
Ich bin zuversichtlich, dass Sie das hinbekommen. Ich
gehe davon aus, dass das vernünftig gelöst wird. Wir
werden uns das dann anschauen.
Zur Frage der Bewertungsvorschriften. Die Bewertungsvorschriften bei Erbschaften und Schenkungen sind
seit langem verfassungswidrig. Wir haben uns sehr darüber geärgert, dass das Thema „Entfristung des Bewertungsgesetzes“ nicht einmal im Inhaltsverzeichnis des
Jahressteuergesetzes aufgetaucht ist.
({4})
Es stand unter Anpassungen, die sich auf das Baugesetzbuch bezogen haben. Man hat also versucht, das irgendwie unterzujubeln. Von der politischen Dimension her
steckt jedoch Etliches darin. Wir hoffen, dass Sie im
nächsten Jahr eine solche Bewertung vorlegen, was Immobilien und Sachvermögen anbelangt, damit wir eine
verfassungskonforme Lösung bekommen.
Letzter Punkt, Frau Präsidentin; ein Gedanke noch.
Ein Satz noch.
Ich bin der Meinung, dass wir als Grüne, was die
Steuergestaltungsmodelle anbelangt, durchaus etwas erreicht haben. Wir haben den Vorschlag gemacht: Kümmert euch darum, dass einmal geschaut wird, wie man in
der Perspektive dieses Problem löst, damit das heute
schon öfter beschriebene Hase-und-Igel-Spiel ein Ende
hat und Sicherheit erreicht wird, sowohl für diejenigen,
die die Fonds auflegen, als auch für diejenigen, die da
einsteigen. Wir brauchen Rechtssicherheit in diesem
Land. Wir brauchen Vertrauen in den Finanzplatz, gerade in der Steuergesetzgebung.
Deswegen ist es gut, dass Sie signalisiert haben, etwas zu tun. Die Grünen fordern einen grundlegenden
Kulturwandel in dieser Frage.
Frau Kollegin, der Kollege Scholz ist nicht so lieb,
jetzt noch eine Zwischenfrage zu stellen.
({0})
Ich hoffe, dass die große Koalition sich diesem Ansinnen anschließen kann und wir in der Zukunft eine Finanz- und Steuerpolitik haben, auf die sich die Menschen verlassen können.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Jahressteuer-
gesetzes 2007, Drucksachen 16/2712 und 16/3036. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/3325, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3367? - Die
Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP
und des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Der Voll-
ständigkeit halber füge ich hinzu: Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3363? -
Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Petra Pau
und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Aufenthaltsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/369 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({0}),
Wolfgang Wieland, Claudia Roth ({1}) und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
({2})
- Drucksache 16/218 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 16/2563 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({4})
Dr. Max Stadler
Josef Philip Winkler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler,
Volker Beck ({6}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Kettenduldungen abschaffen
- Drucksachen 16/687, 16/2563 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({7})
Dr. Max Stadler
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Unionsfraktion
hat der Kollege Reinhard Grindel das Wort.
({8})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einem Gedanken beginnen, der im
Zusammenhang mit Fragen des Bleiberechts leicht übersehen wird. Am Beginn jeder Bleiberechtsregelung steht
eine unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht unproblematische Botschaft. Ausländern, die als abgelehnte Asylbewerber oder ehemalige Bürgerkriegsflüchtlinge ihrer Pflicht zur Ausreise nachgekommen
sind und unter schwierigsten Bedingungen, etwa auf
dem Balkan, ihre Existenz wieder aufgebaut haben, die
nicht durch Tricks und Täuschungen ihre Abschiebung
verhindert haben, sagen wir im Grunde genommen: Eigentlich wart ihr dumm; ihr hättet nur lange genug euren
Aufenthalt in Deutschland herauszögern müssen, dann
hättet ihr jetzt eine Bleibeperspektive.
({0})
Insofern kann schon aus Gründen der Einheitlichkeit
unserer Rechtsordnung eine Bleiberechtsregelung nur
für besonders schwerwiegende Fälle infrage kommen,
bei denen vor allem aus humanitären Gründen eine
Rückführung ins Heimatland nicht vertretbar erscheint.
Es geht hier also um schwierige Abwägungsprozesse.
Von solchen rechtsstaatlich gebotenen Abwägungsprozessen ist in den Anträgen der Opposition nichts zu
lesen. Die Grünen und die Linke wollen im Grunde vielmehr, dass jeder Ausländer ein Bleiberecht erhält, der es
geschafft hat, sich fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland
aufzuhalten. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das ist nichts
anderes als ungesteuerte Zuwanderung durch die Hintertür. Dahinter steht verstaubtes und vor allen Dingen
gescheitertes Multikultidenken. Das hat mit einer modernen Integrationspolitik nichts zu tun. Deshalb lehnen
wir die Einführung eines solchen nahezu schrankenlosen
Bleiberechts ab, meine Damen und Herren.
({1})
Bemerkenswert an Ihren Anträgen ist vor allem, was
nicht drinsteht, zum Beispiel, welche Bedingungen Sie,
lieber Kollege Winkler, an Ausländer nicht stellen, bevor
sie sich auf ein Bleiberecht berufen können. Sie verlangen nicht, dass Ausländer hinreichende Deutschkenntnisse besitzen. Sie verlangen nicht, dass die Ausländer
ihre Kinder auf die Schule schicken und die Kinder diese
erfolgreich besuchen. Sie verlangen nicht, dass sie über
ausreichenden Wohnraum verfügen.
({2})
Sie schließen nicht einmal ein Bleiberecht bei solchen
Ausländern aus, die schwere Straftaten begangen haben
oder Bezüge zu extremistischen Organisationen aufweisen.
({3})
Mit anderen Worten: Ihnen ist es völlig egal, ob die
Ausländer, denen Sie ein Bleiberecht geben wollen, in
Deutschland integriert sind oder ob sie in einer völlig abgeschotteten Parallelwelt leben oder ob sie vielleicht sogar eine Gefahr für unsere Sicherheit darstellen. Das ist
völlig verantwortungslose Politik.
({4})
Der Antrag der Fraktion Die Linke beschränkt sich
noch nicht einmal auf eine Altfallregelung. Sie von der
Linken verzichten völlig auf einen Stichtag, zu dem sich
der Ausländer eine bestimmte Anzahl von Jahren in unserem Land aufgehalten haben muss. Sie wollen eine
dauerhafte gesetzliche Bleiberechtsregelung.
({5})
- Da Sie gerade „Zu Recht!“ dazwischengerufen haben,
können wir Ihnen nur sagen - vielleicht denken Sie einmal darüber nach -: Die Beispiele von Spanien, Portugal
oder auch Italien zeigen doch, dass solche Regelungen
einen gefährlichen Sogeffekt entwickeln.
Wer die unerträglichen Bilder von Flüchtlingen vor
den Küsten Spaniens und Italiens betrachtet, der kommt
doch zu einer klaren Schlussfolgerung: Wir müssen
Fluchtursachen bekämpfen, aber wir dürfen nicht falsche
Anreize schaffen, die dazu führen, dass sich Flüchtlinge,
oftmals missbraucht von Schleppern und Schleusern, auf
den Weg in unser Land machen, weil sie glauben, hier
auf Dauer bleiben zu können. Mit einer solchen Art von
Bleiberechtsregelung senden Sie doch völlig falsche Signale aus.
({6})
Ein Bleiberecht - ich sage das mit Bedacht - kann es
doch nur in solchen Fällen geben, in denen schwerwiegende humanitäre Gründe dafür sprechen, eigentlich
ausreisepflichtigen Ausländern eine Aufenthaltsperspektive in Deutschland zu geben. Voraussetzung für ein
Bleiberecht muss eine Verwurzelung in unserem Land
sein, die aus Gründen entstanden ist, die der betroffene
Ausländer eben gerade nicht selbst zu verantworten hat.
Die Einräumung eines Bleiberechts ist allenfalls denkbar
bei langjährig in Deutschland aufhältigen Ausländern,
denen die Rückkehr in ihre eigentliche Heimat verwehrt
war. Es ist vor allem dann denkbar, wenn diese Ausländer Kinder haben, die hier schon lange leben oder sogar
geboren sind, die keinerlei Perspektive in ihrem eigentlichen Heimatland haben, die aber eine gute Perspektive
in unserem Land besitzen.
Dagegen verlangen die Grünen und die Linke noch
nicht einmal, dass die Ausländer, die in den Genuss des
Bleiberechts kommen wollen, eine Beschäftigung nachweisen müssen. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Ein
Bleiberecht kann es nicht geben, wenn dies zu einer Zuwanderung in die Sozialsysteme führt.
({7})
Ein Bleiberecht kann es nur für Ausländer geben, die einer
dauerhaften Beschäftigung nachgehen und eben nicht die
Sozialkassen belasten.
({8})
Wir wollen auch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass Ausländer ein Bleiberecht bekommen, die ihren
langfristigen Aufenthalt vorsätzlich selbst verschuldet
haben, durch Täuschung über ihre Identität oder Behinderung bei Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung. Es
kann nicht sein, dass wir diejenigen auch noch mit einem
Bleiberecht belohnen, die beharrlich gegen unsere
Rechtsordnung verstoßen haben, und das auch noch auf
Kosten von Sozialleistungen, die manchmal höher sind
als reguläre Einkommen von rechtschaffenen Arbeitnehmern in unserem Land. Wir müssen auch daran denken,
dass wir mit einer Bleiberechtsregelung die Aufnahmebereitschaft und Aufnahmefähigkeit unserer Bürger nicht
überfordern.
({9})
Falsch ist es auch, Herr Kollege Winkler, wenn die Grünen mit ihrem Antrag zum Thema Kettenduldungen den
Eindruck erwecken, als ob diese mit dem Zuwanderungsgesetz generell abgeschafft werden sollten. Gemäß § 25
Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes kann Ausländern aus
humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis dann
erteilt werden, wenn ihre Ausreise auf absehbare Zeit
„aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich
ist“. Hier geht es also um ein Aufenthaltsrecht für
Geduldete, die unser Land nicht verlassen können, und
nicht für solche, die unser Land nicht verlassen wollen.
Es kommt also auf objektive Gründe für die Frage der
Unmöglichkeit der Ausreise und nicht auf den subjektiven Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit der Ausreise an.
Diese Interpretation des § 25 Abs. 5 ist, wie Sie wissen,
durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden.
Falsch ist es auch, wenn die Grünen in ihrem Antrag
behaupten, die bisherige Anwendung dieses § 25 Abs. 5
habe nur in wenigen Einzelfällen zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen geführt. In Wahrheit sind nach dem
Evaluierungsbericht des Bundesinnenministeriums in
über 25 000 Fällen entsprechende Aufenthaltserlaubnisse erteilt worden. Die tatsächliche Zahl liegt wegen
statistischer Unvollständigkeiten noch höher. Der Zweck
der Vorschrift ist also durchaus erfüllt.
({10})
Würde man bei § 25 Abs. 5 den Gesichtspunkt der
subjektiven Zumutbarkeit mit aufnehmen, dann - das ist
unsere Sorge als CDU/CSU - hätte man auch hier ein
Bleiberecht durch die Hintertür und könnte somit auf die
anderen Vorschriften, die hier beantragt wurden, eigentlich gleich verzichten. Dann sollte man so ehrlich sein
und sagen, wir wollen eine Regelung, bei der jeder bleiben kann, der will; wir schalten jede objektive Prüfung
aus. Das wollen wir als CDU/CSU aber nicht.
({11})
Sie wissen, die Koalitionsfraktionen und die Innenminister der Länder beraten über die Frage, ob wir zu einer
Bleiberechtsregelung kommen wollen, die ihren Namen
auch tatsächlich verdient,
({12})
und, wenn ja, wie diese dann ausgestaltet sein sollte. Es
wird zur Stunde verhandelt. Deshalb ist meine herzliche
Bitte, dass Sie dafür Verständnis haben, dass wir - ich
habe es Ihnen gesagt - uns schon vor Ende der Debatte
- zumindest gilt das für mich und den Kollegen Veit, wie
ich denke - auf den Weg machen. Es ist für einen guten
Zweck, Kollege Winkler.
({13})
Beschimpfungen nehme ich dann gerne aus dem Protokoll entgegen.
Wenn überhaupt - auch das sage ich mit Bedacht -,
dann müssen wir eine Bleiberechtsregelung schaffen, die
Integration fördert und nicht zu einer ungesteuerten
Zuwanderung führt, eine Regelung, die eine Perspektive
für die Menschen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet und die
nicht in die Sozialkassen führt. Für CDU und CSU
kommt nur eine Bleiberechtsregelung in Betracht, die
Humanität und Rechtsstaatlichkeit miteinander verbindet.
({14})
Ich darf Ihnen versichern: Daran arbeiten wir in der Koalition sehr zielorientiert und vor allem verantwortungsbewusst jeden Tag, auch heute.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
Bundesregierung das Bleiberecht laut Presseberichten
nun offenbar reformieren will - die IMK berät intensiv
darüber -, ist ein längst überfälliger Schritt. Ich begrüße
ihn ausdrücklich.
({0})
Lieber Herr Kollege Grindel, ich bin mir nicht ganz
sicher, ob Sie immer die gleichen Vorlagen wie ich
gelesen haben. Wir haben in diesem Hause die Bundesregierung immer wieder aufgefordert, sich endlich an die
Lösung des Problems zu machen. Schon beim Zuwanderungskompromiss bestand eigentlich Einvernehmen, die
Kettenduldungen abzuschaffen.
({1})
Es wird Zeit, dass das Gezerre - zuletzt leider die Blockadehaltung von Arbeitsminister Müntefering; Herr
Veit, reden Sie noch einmal mit ihm - ein Ende findet.
({2})
Der FDP-Entwurf zum Zuwanderungsgesetz enthielt
bereits eine Regelung, die mit den vorliegenden Gesetzentwürfen vergleichbar ist. Wir sind uns in vielen Punkten einig: Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten
Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist,
muss dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden.
({3})
Die Integrationsbereitschaft von Migranten hängt von
ihrer persönlichen Perspektive in Deutschland ab. Wenn
ein gesicherter Aufenthaltsstatus fehlt, wird selbst bei einer
längeren Aufenthaltsdauer die Motivation für Integrationsbemühungen erschwert.
({4})
Hartfrid Wolff ({5})
Wer Integration fördern will, muss die Perspektiven für
den Aufenthalt verbessern. Integrationsleistungen müssen auch belohnt werden.
({6})
Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Der
Zusammenhang von Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsrecht muss deshalb eine besondere Aufmerksamkeit
finden. Arbeit ermöglicht den Zuwanderern, finanziell
auf eigenen Beinen zu stehen, und fördert dadurch das
Selbstwertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern
auch seiner Familienangehörigen. Sie ermöglicht soziale
Kontakte und schafft Akzeptanz in der Bevölkerung.
Das ist im Interesse der gesamten Gesellschaft.
({7})
Ohne gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang können
Zuwanderer sich nicht aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grundlage für
wirtschaftliche Eigenständigkeit.
({8})
Deshalb ist es notwendig, dass eine Aufenthaltserlaubnis
vorgesehen wird, die automatisch auch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglicht.
Besonderer Handlungsbedarf besteht darin, eine gesicherte Lebensperspektive für die in Deutschland aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Für
ausländische Kinder und Jugendliche muss in Deutschland der Zugang zum Bildungssystem bestehen. Es kann
nicht sein, dass Jugendliche, die in Deutschland eine
Schullaufbahn beginnen, diese nicht abschließen dürfen.
({9})
Wir sind in einigen Punkten gegenüber Einzelregelungen in den vorliegenden Gesetzentwürfen zugegebenermaßen durchaus skeptisch. So findet die von uns geforderte Mitwirkungspflicht im Vorschlag der Grünen
keine Berücksichtigung. Es ist aber sehr wohl relevant,
dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschen
oder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Status
anbelangt. Wir hatten in unserem Vorschlag auch einen
seit mindestens sechs Jahren ununterbrochenen Aufenthalt in Deutschland als Bedingung vorgesehen. Schließlich ist es berechtigt, auch die Frage nach der Perspektive eines gesicherten Lebensunterhaltes zu stellen.
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits
die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass
diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen
und Bürgern findet. Auch hier muss die Integration die
Leitlinie sein.
Eine klare, nachvollziehbare Anwendung unseres
Aufenthaltsrechtes ist Bedingung für eine Integration
und Akzeptanz von Migranten. Gerade in diesem
Zusammenhang müssen wir endlich auch beim Problem
der so genannten Altfälle den Tatsachen ehrlich ins Auge
schauen. Aus Sicht der FDP muss die tatsächliche Integration das entscheidende Kriterium sein, nachgewiesen
durch eigenständigen Lebensunterhalt, deutsche Sprachkompetenz und Akzeptanz im persönlichen sozialen
Umfeld - auch außerhalb der Migrantengesellschaft.
({10})
Kollege Wolff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dagdelen?
Gerne.
Herr Kollege, gestern hieß es in einer Tickermeldung - auch Sie haben das gerade erwähnt -, dass eine
Bleiberechtsregelung von Kriterien wie einem gesicherten Lebensunterhalt abhängig gemacht werden muss.
Wie sollen aber Flüchtlinge, die nach § 39 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz oder nach § 11 Beschäftigungsverfahrensverordnung nur einen nachrangigen Zugang zum
Arbeitsmarkt haben, einen gesicherten Lebensunterhalt
vorweisen können, wenn sie einem faktischen Arbeitsverbot unterliegen?
Eine Antwort darauf ist schnell gegeben: Das ist einer
der wesentlichen Punkte, die jetzt mit verhandelt werden
müssen. Wir müssen zu einer Abschaffung dieser Regelung kommen. Aus meiner Sicht brauchen wir eine vernünftige Regelung für eine Arbeitsmöglichkeit.
Ich komme zum Schluss. Die FDP stimmt den vorliegenden Anträgen - auch denen der Linken - zu.
({0})
Wir möchten damit vor allem das klare Signal setzen,
dass die Bundesregierung schnellstmöglich handeln und
endlich eine sinnvolle Bleiberechtsregelung einbringen
muss. Frau Staatsministerin Böhmer, ich gehe davon
aus, dass dies bald der Fall sein wird. Ich hoffe dies jedenfalls.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich zunächst sowohl bei der Kollegin Ulla
Jelpke als auch bei dem Kollegen Josef Winkler entschuldigen. Dass wir wegen der bereits seit 20.30 Uhr
unter anderem zu diesem Thema laufenden Verhandlungen im Innenministerium den Saal verlassen müssen, bevor Sie geredet haben, ist sicherlich eine extreme Ausnahme. Ich bitte um Verständnis.
({0})
- So wollen wir es halten.
Sie haben mit Ihrem Bestehen darauf, Ihre Anträge
heute zu beraten, zugleich den geeignetsten - weil akutesten - und den ungeeignetsten Augenblick gewählt,
weil wir als Koalitionspartner angesichts der in der Tat
sowohl auf Bundesebene als auch im Rahmen der Vorbereitung der Innenministerkonferenz intensiv geführten
Verhandlungen über das, was dabei vielleicht herauskommt, nur wenig mehr sagen können als das, was Sie
ohnehin in den Medien schon haben nachlesen können.
Nun hat mir, anders als ich es gedacht hatte, der Redebeitrag des Kollegen Grindel ein wenig die Möglichkeit
genommen, ganz einschränkungslos die konstruktive Atmosphäre der geführten Verhandlungen sowohl mit den
Politikern auf Berliner Ebene als auch mit den Innenministern zu loben. Deshalb will ich das ein wenig selektiver tun und sagen: Ich bin dankbar dafür, dass sowohl
der Herr Innenminister Wolfgang Schäuble als auch sein
Staatssekretär und natürlich Frau Böhmer in sehr kollegialer, sehr ehrlicher und sehr engagierter Weise an dieses Thema herangehen.
({1})
Ich habe gesagt, dass Sie auch den denkbar geeignetsten Zeitpunkt gewählt haben; denn diese sehr schwierige
Problematik steht gerade im Fokus der Öffentlichkeit.
Sie steht nicht nur im Fokus der Politik, sondern auch im
Fokus der Nichtregierungsorganisationen und der Kirchen. Ich persönlich bin froh darüber, dass wir uns diesem Thema in dieser Klarheit und Deutlichkeit widmen.
Vielleicht kommen wir ja noch zu einem Ergebnis, das
von allen Fraktionen hier im Haus mehr oder weniger
begrüßt wird.
Worum geht es? Wir haben in Deutschland circa
180 000 geduldete Menschen, die ausreisepflichtig sind.
Die Zahl ist deshalb nicht genau, weil viele, die in der
Statistik geführt werden, Deutschland bereits verlassen
haben. Auf der anderen Seite ist den Registervorschriften und leider auch der Praxis eigen, dass häufig
nur das Familienoberhaupt als Geduldeter erscheint,
während alle Familienangehörigen nicht gezählt werden.
Sie können also davon ausgehen, dass bei diesen Angaben ehrlicherweise Schwankungen von plus/minus
20 000 Menschen in Rede stehen.
Nach der Statistik hatten wir es hier zum Ende des
Jahres 2005 mit 47 522 Kindern im Alter bis 15 Jahren
- sind fast 50 000 - und 11 183 Jugendlichen im Alter
zwischen 15 und 18 Jahren zu tun. Wir reden also auch
- das sollte die Herangehensweise an diese Problematik
befruchten - über die Perspektive und das Schicksal von
mindestens einer mittelgroßen deutschen Stadt voller
Kinder und Jugendlicher. Sie haben jetzt keine Perspektive; sie sitzen mit ihren Eltern auf den Koffern. Sie können nicht ohne weiteres eine Lehrstelle antreten. Möglicherweise können sie ihren Schulabschluss nicht
vernünftig zu Ende bringen.
Warum ist es dazu gekommen? Wir hatten nach altem
Recht die in meinen Augen nicht einleuchtende Regelung, dass jeder, der in Deutschland geboren wird, bzw.
die Eltern für einen heranwachsenden Jugendlichen Anträge auf Anerkennung als Flüchtling oder Asylberechtigten stellen können, selbst wenn sie keinerlei Aussicht
auf Erfolg haben. Das hat natürlich dazu geführt, dass
Familien, wenn sie nicht auseinander gerissen wurden,
so lange hier geblieben sind, bis alle Verfahren abgearbeitet waren. Diesen auch nach meiner Ansicht eigentlich unsinnigen Zustand haben wir mit In-Kraft-Treten
des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 endlich
beseitigt.
Wir dürfen den Betreffenden jetzt aber bitte schön
nicht vorhalten, dass sie ein ihnen vorher von uns, nämlich dem Gesetzgeber, eingeräumtes Recht missbraucht
hätten. Nein, sie haben es richtigerweise und verantwortungsvoll gebraucht, was man ihnen nicht vorwerfen
darf. Es wäre eigentlich unsere Pflicht gewesen - da
stimme ich mit einigen Vorrednern überein -, im Rahmen des Zuwanderungskompromisses eine Altfall- oder
Übergangsregelung zu schaffen, um ein für alle Mal
klarzustellen: Wer aufgrund unseres Rechts so lange hier
geblieben ist, hat die Chance und die Berechtigung, dass
sein weiterer Verbleib und der seiner Familie in Deutschland geprüft wird.
Dazu ist es leider nicht gekommen. Ich könnte Ihnen
die Ursachen nennen; ich will das aber jetzt bewusst
nicht tun, und dies nicht nur aus Gründen der Redezeit.
Nicht immer ist die Verantwortung ganz klar zwischen
den Parteien verteilt.
Richtig ist auch, dass wir mit der Neufassung des § 25
des Aufenthaltsgesetzes das Elend der Kettenduldungen weitestgehend abschaffen wollten. Wir wollten dafür sorgen, dass die betroffenen Menschen und ihre Familien in Deutschland eine klare Perspektive haben, hier
arbeiten und ihre Familie ernähren und die Kinder die
Schulausbildung abschließen und dergleichen Dinge
mehr tun können.
({2})
Das ist leider nicht in dem Maße gelungen, wie das der
Gesetzgeber gewollt hat. Auch die Ursachen hierfür sind
vielfältig.
Ich meine daher, dass es jetzt wirklich allerhöchste
Zeit ist, sich dieses Themas anzunehmen. Da gibt es im
Prinzip unter anderem den Weg über einen Beschluss der
Innenministerkonferenz, die bekanntermaßen am Donnerstag und Freitag nächster Woche tagt. Dazu sage ich:
Nach all dem, was ich bisher darüber weiß, sind nach
dem Prinzip „kleinster gemeinsamer Nenner“ die Siebe
so eng gestellt, dass kein großer Wurf mehr gelingen
kann, weil von vornherein klar ist: Die Mehrheit der Betroffenen wird sicherlich nicht einmal annähernd potenziell begünstigt werden können.
Wenn man sich jetzt vor Augen führt, dass selbst die
Länderinnenminister von der Union und andere CDU/
CSU-Kollegen sagen, dass wir von den über
200 000 Geduldeten allenfalls 10 Prozent oder, wenn
wir Glück haben - ich habe es noch wörtlich im Ohr -,
20 Prozent mittelfristig auf Dauer aus Deutschland abschieben können, dann wird doch klar, dass wir uns dieRüdiger Veit
ses Problems endlich annehmen müssen, und zwar in einer Weise, dass dieser Schwebezustand, der für alle
Beteiligten unbefriedigend und vor allen Dingen unter
dem humanitären Gesichtspunkt in höchster Weise angreifbar ist, beseitigt wird.
({3})
Wenn jetzt beispielsweise Bischof Huber und Kardinal Lehmann an die Innenminister appellieren, es müssten Kriterien gefunden werden, die von den Betroffenen
auch erfüllt werden können, Staatsangehörige bestimmter Länder dürften nicht ausgenommen werden und
ganze Familien dürften nicht deswegen abgeschoben
werden, weil sich vielleicht einzelne Teile dieser Familie
- und seien es die Eltern - falsch verhalten hätten, und
sie darüber hinaus fordern, über eine Änderung des § 25
Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes sei für die Zukunft möglichst eine Beseitigung der Kettenduldungen zu erreichen, dann kann ich ihnen darin nur allumfänglich zustimmen.
Ich will auf ein Problem zu sprechen kommen, das
Herr Wolff angesprochen hat; denn da gerät die Verantwortung durcheinander. - Herr Kollege Wolff, ich unterbreche Sie ungerne in Ihrem Dialog mit dem Kollegen
Thiele; aber ich möchte versuchen, Ihnen eine Aufklärung zu geben. - Es ist fälschlicherweise der Eindruck
erweckt worden, es sei der sozialdemokratische Arbeitsminister, der einer großzügigen Bleiberechtsregelung
wegen seiner nicht verständlichen Hartherzigkeit entgegenstehe. Das ist so nicht richtig. In jeder entsprechenden Altfallregelung der Vergangenheit wurde davon gesprochen, dass die Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis
erhalten. Daraus folgt dann nach § 9 der Beschäftigungsverfahrensverordnung automatisch ihr unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Jetzt waren es leider die Länderinnenminister von der Union, die gesagt
haben: Wir wollen aber denjenigen, die heute noch keine
Arbeit haben, keine Aufenthaltserlaubnis für zwölf Monate geben.
({4})
- Sprechen Sie mich bitte nicht auf die SPD-Innenminister und -Senatoren an!
({5})
Dann müsste ich ein überparteilich unfreundliches Wort
sagen. Diese Andeutung soll ausreichen.
({6})
Seit ungefähr zwölf Wochen sind wir dabei, festzulegen, dass die Duldung für zwölf Monate erst einmal ausreichen muss. In dieser Zeit sollen sich die Betroffenen
eine Arbeit suchen. Dafür brauchen sie dann eine Sonderregelung des Arbeitsministers im Rahmen der
Beschäftigungsverfahrensverordnung. Das haben nicht
wir erfunden. Ich sage es noch einmal: Ich bin überhaupt
nicht begeistert. Denn derjenige, der aufgrund seiner Unterqualifikation sowieso Schwierigkeiten hat, auf dem
deutschen Arbeitsmarkt einen Job zu finden, der hat natürlich noch größere Schwierigkeiten, wenn er seinem
Arbeitgeber nur eine Duldung und keine Aufenthaltserlaubnis vorweisen kann. Das ist eine ganz große
Schwachstelle, die jetzt allerdings von allen Länderinnenministern erkannt worden ist.
({7})
Das ist ein großes Problem und das haben wir jetzt geklärt. Aber zufrieden bin ich damit nicht.
({8})
Ich bin auch mit einer ganzen Reihe anderer Regelungen, die vorgesehen sind, überhaupt nicht zufrieden. So
sind die Mindestverweildauern von sechs Jahren für Familien und von acht Jahren für Alleinstehende viel zu
hoch.
Man sollte sich vor Augen führen, welche Situation
eintreten kann, wenn man bei der Frage der Bestreitung
des Lebensunterhalts keine Ausnahmen zulässt: Ein
Familienvater, der hoch motiviert, fleißig und zu Überstunden bereit ist, aber keinen gut qualifizierten Job hat,
weil er einen solchen Job gar nicht bekommen kann, und
vielleicht nur 1 400 oder 1 500 Euro im Monat nach
Hause bringt, ist gar nicht in der Lage, allein davon den
Familienunterhalt für sich und seine zwei, drei oder vier
Kinder zu bestreiten. Daraus folgt: Wenn die Regelung
tatsächlich wirken soll, muss sichergestellt werden, dass
der Bezug ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt oder
von ALG II einen Verbleib in der Bundesrepublik nicht
gefährdet.
Es gäbe noch sehr viel zu sagen. Es ist zu erwarten,
dass die Innenministerkonferenz die Siebe zu eng stellt;
meine Kritik daran habe ich verdeutlicht. Sie können sicher sein: Die Sozialdemokraten werden sich redlich bemühen, den IMK-Beschluss zu beeinflussen, und sich
weiterhin bei der Klärung der Frage, wie man eine vernünftige Altfall- und Bleiberechtsregelung gesetzlich fixieren kann - das ist eine Alternative, die verschiedentlich angesprochen wurde -, engagieren. Damit wir das
gleich tun können, begeben wir uns nun zum Kollegen
Schäuble in den Sitzungssaal. Ich bitte um Verständnis.
Herr Kollege!
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für Ihre Geduld.
({0})
Gern geschehen.
Ich rufe die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die
Linke auf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ein weiteres Mal diskutieren
wir hier im Bundestag über Vorschläge zur Abschaffung
der Kettenduldungen. Spätestens die diskutierten Eckpunkte für eine so genannte Bleiberechtsregelung - Kollege Veit hat sie schon angesprochen - offenbaren, dass
es wohl ein weiteres Mal zu keiner Lösung kommt. Die
Hoffnungen von fast 200 000 betroffenen Flüchtlingen
und Migranten, von denen übrigens mehr als 50 000 seit
zehn Jahren oder länger in Deutschland leben, werden
wieder einmal bitter enttäuscht. Schon der Titel des Tagesordnungspunktes der Innenministerkonferenz verrät
alles:
Bleiberecht für im Bundesgebiet wirtschaftlich und
sozial integrierte ausreisepflichtige ausländische
Staatsangehörige
Der bayerische Innenminister Beckstein hat schon angekündigt, dass höchstens 50 000 unter diese Regelung
fallen werden. Diese Zahl ist meiner Meinung nach sehr
geschönt; auch Pro Asyl vertritt diese Meinung. Bisher
konnte nicht einmal die Bundesregierung die Anfrage,
wie viele Menschen mit Duldung eine Arbeitserlaubnis
besitzen, beantworten. Mit anderen Worten: Erst legt
man diesen Menschen alle möglichen Steine in den Weg
und erschwert damit ihre Integration; dann schiebt man
sie mit der Begründung, dass sie sich nicht integriert hätten, ab. Was ist das für eine Logik?
Die Hardliner in der Union tun sich immer wieder mit
Äußerungen hervor, die an Zynismus nicht zu überbieten
sind. Kollege Grindel hat nicht nur im Ausschuss, sondern soeben auch hier gesagt, ein Bleiberecht müsse mit
erbrachten Integrationsleistungen erkauft werden. Doch
wie soll soziale Integration aussehen, wenn über Arbeitsverbote und eine Residenzpflicht der Weg in den
Arbeitsmarkt systematisch verbaut wird? Wie sollen
Sprachkenntnisse erworben werden, wenn es für viele
keine entsprechenden Angebote, sondern vor allen Dingen Ausgrenzung gibt? Ich frage Sie: Würden Sie sich in
eine Gesellschaft integrieren, deren führende Politiker
Sie immer wieder als Sozialschmarotzer, als Kriminelle
und als Bedrohung darstellen? - Das würden Sie doch
wohl nicht tun!
Es geht den Innenministern nicht wirklich um die Abschaffung der Kettenduldung; von Bleiberecht kann gar
keine Rede sein. Es geht um eine Altfallregelung, zu der
viele der Betroffenen gar keinen Zugang haben. Sie besitzen sogar noch die Frechheit, in Ergänzung zu einer
völlig inhumanen Regelung weitere Verschärfungen auf
den Weg zu bringen.
So soll die Abschiebepraxis weiter verschärft werden: Gesetzlich legitimiert sollen Menschen demnächst
ohne Vorankündigung nachts von der Polizei aus den
Betten gezerrt und zum Flughafen verschleppt werden
können. - Die Befristung für den Bezug der eh schon reduzierten Sozialleistungen soll aufgehoben werden.
Demnach werden Menschen in diesem Land demnächst
zehn oder 15 Jahre lang mit Leistungen auskommen
müssen, die weit unter dem Existenzminimum liegen.
Umso erstaunlicher ist, welche Integrationsleistungen
Migranten dennoch erbringen. Damit Sie von der Union
mir folgen können, stelle ich Ihnen beispielhaft die Brüder Kalanawi vor - Sie können dies der „FAZ“ vom
Dienstag entnehmen -: Die beiden leben seit acht Jahren
in Deutschland. Einer ist Schulsprecher an seinem Gymnasium. Er wird durch die Altfallregelung der IMK fallen. Er macht gerade sein Abitur und möchte danach
Medizin studieren. Da er seinen Lebensunterhalt nicht
finanzieren kann, wird dieser Mensch von Ihnen abgeschoben.
Ein anderes Beispiel ist ein 18-jähriger Kosovo-Albaner, der mit sechs Jahren nach Deutschland kam. Er
pflegt seinen Vater, für den er gerichtlich bestellter Betreuer ist. Nun soll er in ein Land abgeschoben werden,
dessen Sprache er nicht spricht. Was für eine Politik machen Sie? Das sind Menschen, die schon lange hier leben. Ich finde, das ist ein Skandal.
({0})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Diese Politik ist menschenunwürdig und inhuman.
Dieses seit Jahren andauernde Geschachere der Innenminister muss meines Erachtens ein Ende haben.
({0})
Deswegen haben wir keine Altfallregelung vorgelegt,
sondern einen Gesetzentwurf, aufgrund dessen den Menschen, die mindestens fünf Jahre in Deutschland leben,
ein Bleiberecht eingeräumt wird. Es bietet ihnen die
Möglichkeit, sich hier mit ihren Familien wirklich niederzulassen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat Josef Winkler für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Da Herr Grindel schon gehen musste, will ich nicht alle
seine Falschinformationen einzeln aufgreifen.
({0})
Auf eine, die mich besonders geärgert hat, will ich am
Anfang meiner Rede aber doch kurz eingehen. Von unserer gesetzlichen Regelung sind - darauf habe ich schon
im Ausschuss hingewiesen - keine Ausländer betroffen,
die schwerste Straftaten begangen haben.
({1})
Das hat er hier am Rednerpult eben behauptet. Im Gesetzentwurf ist klar enthalten, dass Menschen, bei denen
Ausweisungstatbestände vorliegen, nicht unter diese Regelung fallen. Das war ein Fall von Desinformation.
({2})
Herr Grindel hat viele Fehler vorgetragen. Scheinbar
hat er nicht den Gesetzentwurf, sondern irgendeine Pressemitteilung von Otto Schily aus dem Jahre 1986 gelesen.
({3})
- Das weiß ich. Ich bin froh, dass Sie mir zuhören. Offensichtlich kommen meine Scherze hier gut an.
({4})
Das Vorgehen der Länderinnenminister ist bei weitem
nicht so amüsant wie die Stimmung in diesem Raum.
Offensichtlich überbieten sie sich gegenseitig darin, so
wenig Menschen wie möglich von der Bleiberechtsregelung profitieren zu lassen. Das ist, wie ich finde, ein
Skandal.
({5})
Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
es liegt schon eine gewisse Ulkigkeit darin, wenn ausgerechnet Sie dem Arbeitsminister Müntefering vorwerfen,
er wäre derjenige, der eine sinnvolle Regelung zum Bleiberecht verhindere. Er fordert von Ihnen die Durchsetzung der Regelung, die Minister Schäuble und andere
Innenminister von der Union in den zurückliegenden
Jahrzehnten praktiziert haben. Er sagt nämlich: Die Duldung soll nicht verlängert werden - das ist auch nicht
sinnvoll, weil es sich nicht um einen rechtmäßigen Aufenthalt handelt -, vielmehr soll ein rechtmäßiger Aufenthaltsstatus mit gleichrangigem Arbeitsmarktzugang
gewährt werden. Was Sie Herrn Müntefering jetzt vorwerfen, müssten Sie Herrn Schäuble nachträglich für das
vorwerfen, was er 1990 gemacht hat. Deswegen sage ich
in diesem Zusammenhang aus ganzem Herzen:
Müntefering, wir stehen an deiner Seite!
({6})
Kardinal Karl Lehmann und Bischof Huber haben
heute die Unionsparteien, insbesondere die Länderinnenminister, noch einmal mit Verve aufgefordert - das
ist eben schon gesagt worden; das ist richtig -, ihre Blockadehaltung aufzugeben. Sie haben in aller Schärfe darauf hingewiesen, dass es hier um Menschenschicksale
geht. Es geht nicht darum, dass irgendwelche Verbrecher
nicht abgeschoben werden können.
({7})
Es sind meist Familien, es sind fast 100 000 Kinder und
Jugendliche. Da kann man nicht immer mit der Sozialmissbrauchskeule kommen. Die Kinder und Jugendlichen können noch nicht arbeiten und die Eltern haben in
der Regel keine Arbeitserlaubnis. Also bitte, hören Sie
auf mit dieser Propaganda und machen Sie etwas für
diese Menschen!
({8})
Wir fordern, dass die Begünstigten keine Verlängerung ihrer Duldung bekommen, sondern eine Aufenthaltserlaubnis. Wir finden, dass ein Bleiberecht nicht
davon abhängig gemacht werden soll, dass die Begünstigten dieser Regelung in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis stehen, wie es vonseiten einiger Unionsinnenminister vorgetragen wird. Das macht keinen
Sinn. Sie wissen genau: Wenn man geduldet wird, hat
man Residenzpflicht, man darf seinen Landkreis bzw.
Ausländeramtsbezirk nicht verlassen. Es ist deshalb gar
nicht möglich, als Fahrer bei einer Spedition zu arbeiten
oder als Bauarbeiter. Frau Jelpke hat es bereits gesagt:
Erst tut man alles, um Hürden aufzustellen, die eine Arbeitsaufnahme verhindern, und dann sagt man: Ihr habt
nicht gearbeitet und bezieht Sozialleistungen. Jetzt
müsst ihr raus hier. - So geht es nicht, meine Damen und
Herren.
Das Gleiche gilt für die Deutschkenntnisse. Als Geduldeter hat man keinen Anspruch auf Deutschkurse.
Sollen diese Leute von ihrem Geld - Sozialhilfesatz minus ein Drittel minus 15 Jahre fehlende Erhöhungen für 100 Euro aus eigener Tasche bei der Volkshochschule einen Deutschkurs belegen? Wenn ich jeden Tag
von Abschiebung bedroht wäre und damit rechnen
müsste, dass die Polizei vor der Tür steht und mich nebst
Kindern in mein womöglich im Bürgerkrieg befindliches
Heimatland abschiebt, hätte ich Besseres zu tun, als
mich zu integrieren, indem ich bei der Volkshochschule
einen Deutschkurs belege, den ich auch noch selbst bezahlen muss.
Ich komme zum Schluss. Was schon gar nicht geht,
ist, dass man sagt: Ihr dürft bleiben, aber dann wird das
Asylbewerberleistungsgesetz dauerhaft für euch gelten.
Das heißt, ihr bekommt ein Drittel weniger als der letzte
Sozialhilfeempfänger in diesem Land, und das lebenslänglich. - So etwas, Herr Schäuble, machen wir nicht
mit. Wenn Sie einer solchen Regelung zustimmen, finde
ich das überhaupt nicht christlich.
Sie wissen, wie die Lage im Irak ist. Herrn Beckstein
ist es ja besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass alle
Menschen, die aus dem Irak kommen, generell von dieser Regelung ausgeschlossen werden. Das haben heute
die katholische und die evangelische Kirche
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- ich bin beim letzten Satz - und der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge heftig abgelehnt. Wir schließen uns dem an.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und anderer Gesetze auf Drucksache 16/369. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/2563, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist abgelehnt mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die
Linke und der FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({0}) auf Drucksache 16/218.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2563, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU und
der SPD gegen die Stimmen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der Linken. Nach
unserer Geschäftsordnung entfällt auch hier die weitere
Beratung.
Zusatzpunkt 6 b. Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 16/2563 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Kettenduldungen abschaffen“. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag auf Drucksache 16/687 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher Vorschriften auch hinsichtlich der Wohnmobilbesteuerung
- Drucksache 16/519 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Horst Friedrich ({1}), Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 16/473 -
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 16/3314 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Frank Schäffler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3316 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({4})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Hierfür ist zwischen den Fraktionen eine Debatte von
einer halben Stunde verabredet worden. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege
Florian Pronold das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem heutigen Beschluss beenden wir eine
Hängepartie von eineinhalb Jahren für die Besitzerinnen
und Besitzer von Wohnmobilen. Seit langem wissen die
Betroffenen, dass es zu einer Änderung der Besteuerung
kommen wird. Es ist wichtig, dass sie jetzt Rechtssicherheit bekommen.
({0})
Nach langen Debatten zwischen Bund und Ländern
haben wir einen tragfähigen Kompromiss gefunden,
auch wenn wir von der SPD-Fraktion uns anderes gewünscht haben. Zu Beginn dieser Debatte haben wir und
übrigens auch das damals noch SPD-regierte Land Nordrhein-Westfalen Anträge eingebracht, mit denen wir auf
keinerlei Steuererhöhungen für die Wohnmobilbesitzer
abgezielt haben.
({1})
Als wir unter Rot-Grün einen Gesetzentwurf eingebracht haben, um die Luxusgeländewagen höher zu besteuern, haben uns die Länder unter der Führung des
Freistaates Bayern zugesagt, eine Ausnahmeregelung
zu schaffen, damit es zu keiner höheren Besteuerung der
Wohnmobile kommt.
({2})
Zu dieser Regelung kam es nicht. Damit gibt es seit eineinhalb Jahren ein gültiges Recht, das von den Ländern
nicht angewendet worden ist. Stattdessen wurden vorläufige Steuerbescheide auf Basis des ganz alten Rechts erlassen. Das hat für die Verhandlungen hier zu einer sehr
schwierigen Situation geführt.
Gemessen an dem, was im Gesetz normiert ist, haben
wir es geschafft, eine Reduzierung der Steuerlast um
20 Millionen Euro zu vereinbaren. Gleichwohl kommt
es zu einer deutlichen Steuererhöhung für die Wohnmobilbesitzer.
({3})
- Es ist schön, dass insbesondere die FDP das kritisiert.
({4})
Warum? Das Land Nordrhein-Westfalen hat, als es noch
SPD-regiert war, im Bundesrat einen Antrag eingebracht, um diese zusätzliche Besteuerung zu verhindern.
Als die Regierung in Nordrhein-Westfalen gewechselt
hat - wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie an der
neuen Regierung beteiligt -,
({5})
haben Sie umgeschwenkt und wollten die Besitzer von
Wohnmobilen zur Kasse bitten.
({6})
Deswegen ist es besonders verlogen, wenn Sie sich hier
als Retter der Wohnmobilbesitzer aufspielen, während
Sie sich in Nordrhein-Westfalen als Raubritter betätigen.
Das muss man hier in aller Deutlichkeit sagen.
({7})
Wir haben uns bemüht, auf Basis des Vorschlags des
ADAC eine vernünftige Lösung zu finden. Dies endete in
einem eigenen Wohnmobiltarif. Bei der Besteuerung
von Wohnmobilen bis zu 2,8 Tonnen wurde so eine deutliche Verbesserung erreicht; das kann man hier einmal
festhalten. Trotzdem bleibt es dabei - das kann man nicht
leugnen -, dass es durch die Komponenten Gewichtsklasse und Schadstoffausstoß für viele Wohnmobilbesitzer zu Steuererhöhungen kommt, die wir so nicht wollten.
Im politischen Geschäft ist es aber oft so, dass man sich
zum Schluss auf einen Kompromiss einigen muss.
In diesem Zusammenhang kann man aber darauf hinweisen, dass es für die Betroffenen eine Möglichkeit
gibt, diesen Steuererhöhungen aus dem Weg zu gehen
- das ist von vielen auch schon angekündigt worden -,
indem man die Wohnmobile nur noch für den Zeitraum
anmeldet, in dem man sie nutzt. Dadurch werden die
Steuereinnahmen vielleicht nicht so hoch ausfallen, wie
es diejenigen erwarten, die diese Regelung miteinander
verhandelt haben.
Ich glaube trotz allem, dass die Eckpunkte des gefundenen Kompromisses richtig sind. Nun gibt es einen einheitlichen Wohnmobiltarif, der auf die Kriterien Gewicht und Schadstoffausstoß zielt. Damit schlagen wir
den richtigen Weg ein. Wir haben eine dauerhafte und
vernünftige Regelung gefunden, die auch vom ADAC
vorgeschlagen worden ist.
({8})
- Herr Schäffler, Sie können Ihre Frage gerne am Ende
meiner Rede stellen.
Ich komme zum Schluss. Wir wollten eine bessere
Regelung für die Wohnmobilbesitzer schaffen. Das war
in der Situation, in der wir uns befunden haben, nicht
möglich. Dass sich jetzt aber gerade die FDP zu Wort
meldet und sich als Retter aufspielt, wundert mich. Denn
es wäre schön gewesen, wenn sie in den Landesregierungen, an denen sie beteiligt ist, tatsächlich etwas in diese
Richtung unternommen hätte.
Herr Kollege, ich nehme an, dass das nicht bereits
Ihre Antwort auf die noch zu stellende Zwischenfrage
war, sondern dass Sie die Frage gern zulassen möchten.
Ich wollte heute eigentlich früher fertig werden.
({0})
Aber bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege Schäffler.
Kollege Pronold, Sie haben gesagt, dass es sich bei
der von Ihnen getroffenen Regelung um einen Kompromiss handelt. Wer hat diese Steuererhöhungen im Rahmen Ihrer Diskussionen denn befürwortet?
Wie ich Ihnen geschildert habe, waren die Wohnmobile in der bestehenden Rechtslage nicht ausgenommen.
Wir haben versucht, das zu ändern. Darüber haben wir
mit den Ländern lange Verhandlungen geführt. Wir haben es geschafft, die ursprüngliche Größenordnung der
Steuererhöhungen von 70 Millionen Euro auf 50 Millionen Euro zu reduzieren. Wir wollten zwar mehr erreichen, aber das ist uns nicht gelungen. Wenn uns die FDP
im Bundesrat unterstützt hätte, würden wir heute vielleicht über ein anderes Ergebnis reden.
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die anstehenden Debatten.
({1})
Das Wort hat der Kollege Schäffler für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die FDP-Fraktion ist gegen die von der Koalition vorgeschlagene drastische Steuererhöhung bei
Wohnmobilen. Wir haben deshalb bereits im Januar dieses Jahres den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht,
in dem klargestellt wird, dass es im Hinblick auf Wohnmobile bei der Besteuerung nach Gewicht bleibt. Das
war in diesem Hause immer unsere Haltung,
({0})
die wir schon in der letzten Wahlperiode in einem entsprechenden Antrag deutlich gemacht haben. Dies ist im
Sinne des Vertrauensschutzes für die Bürger die einzig
sinnvolle Regelung.
({1})
Ausgangspunkt war - das haben Sie richtigerweise
gesagt -, dass die Privilegien für schwere Geländewagen
abgeschafft werden sollten. Der rot-grüne Gesetzgebungsmurks hat allerdings dazu geführt, dass auch die
Besteuerung von Wohnmobilen in die Diskussion geriet.
Schwarz-Rot greift diesen Faden nun auf und will zusätzliche Einnahmen in Höhe von 50 Millionen Euro
durch Steuererhöhungen für Wohnmobile erzielen.
({2})
Dies tun Sie allerdings, wie üblich, nicht zu publikumswirksamer Zeit, sondern kurz vor 22 Uhr. Aber
auch die späte Stunde wird Sie nicht von der Aufmerksamkeit der Wohnmobilisten verschonen. Wir alle haben
zahlreiche Zuschriften erhalten und die entsprechenden
Internetseiten gelesen. In den Schlagzeilen heißt es:
„Wir werden diesen Steuerwucher nicht mitmachen!“
oder: „Letzter Urlaub mit dem Wohnmobil?“. Diese Äußerungen - das wird Sie nicht wundern - stammen von
unserem Kollegen Florian Pronold.
({3})
Er hat auch erklärt:
Ich hoffe, dass sich die Union im Bundestag von ihren raffgierigen Kollegen Faltlhauser und Co. distanziert und mit uns gemeinsam die Wohnmobile
von Steuererhöhungen ausnimmt.
({4})
Dieses Zitat stammt vom 17. März 2006. Das ist also
noch gar nicht so lange her.
Ich will Florian Pronold noch einmal zitieren - dieses
Zitat liegt allerdings schon etwas länger zurück; es
stammt vom 8. Juli 2005 -:
({5})
Nach der Bundestagswahl wollen Faltlhauser und
seine Kollegen dann bei den Wohnmobilen abkassieren - mit bis zu zehnmal höheren Steuern. In seinem steuerpolitischen Raubrittertum nimmt
Faltlhauser dabei weder auf die Camper Rücksicht
noch auf den Tourismus in Bayern. Die Wohnmobilbesitzer verbringen einen Sommer der Ungewissheit, im Herbst folgt dann das böse Erwachen.
({6})
Das müssen Sie sich heute vorhalten lassen. Wer sich
über Jahre populistisch als Verteidiger der Wohnmobilisten darstellt, der muss an dieser Stelle Farbe bekennen
und kann sich nicht in die Furche zurückziehen.
({7})
Das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
Sie unterbrechen schon Ihre Rede. Möchten Sie eine
Zwischenfrage von Herrn Pronold zulassen?
({0})
Ich habe noch einige Zitate. Insofern kann ich meine
Rede noch ergänzen.
Gern. - Sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem ursprünglichen Gesetzentwurf, der
heute nicht mehr Gegenstand der Beratung ist, Erhöhungen der Kfz-Steuer für Wohnmobile bis zu 1 000 Prozent
vorgesehen waren, dass sich dieser Rahmen deutlich
vermindert hat und dass wir eine gerechtere Besteuerung
hinbekommen haben?
Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis.
({0})
Denn Sie wollen mit dem Gesetzentwurf über
200 000 Wohnmobilisten mit einer Steuererhöhung von
bis zu 150 Prozent belasten. Es hat für mich nichts mit
Gerechtigkeit zu tun, wenn jemand zwei Wochen im Jahr
sein Wohnmobil durch die Lande fährt und trotzdem
künftig mehr als doppelt so hohe Steuern zahlen soll.
Damit werden Sie die Betroffenen, von denen vielleicht
der eine oder andere zu Ihren Wählern gehört, nicht
überzeugen können. Ich glaube, dass Sie letztlich das
Gegenteil erreichen werden. Deshalb stimme ich Ihnen
in diesem Punkt nicht zu.
Lassen Sie mich noch ein Zitat von Ihnen bringen. Sie
haben schließlich danach gefragt. Ich zitiere:
Da die Kfz-Steuer eine reine Ländersteuer ist,
wurde im Bundesrat eine Arbeitsgruppe unter der
Federführung Bayerns gebildet, um eine Mehrbelastung der Wohnmobile zu vermeiden.
Sie haben des Weiteren festgestellt:
Die SPD bedauert sehr, dass die Steuererhöhung
nicht generell verhindert werden konnte.
({1})
Diese Zitate müssen Sie sich heute vorwerfen lassen.
Sie müssen sich fragen, inwieweit Sie sich in dieser
Frage tatsächlich durchgesetzt haben.
({2})
Sie belasten die Bürger mit zusätzlichen Steuern in Höhe
von 50 Millionen Euro. Das halte ich für skandalös.
Herr Pronold, warten Sie immer noch auf die Antwort
Ihrer Frage?
({0})
Ich möchte nicht, dass es in Vergessenheit gerät und sich
die Redezeit unendlich verlängert.
Ich wollte zweitens fragen, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die Kfz-Steuer für Wohnmobile nicht in den Bundeshaushalt fließt, sondern zum
Beispiel auch den Länderregierungen von Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zugute
kommt, wo die FDP mitregiert.
({0})
- Verzeihung.
Drittens frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis
zu nehmen, dass nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf die von Ihnen ignorierten Steuererhöhungen bis zu
1 000 Prozent betragen hätten und dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Rechtslage für die Betroffenen wesentlich verbessern, selbst wenn ich - wie Sie
zu Recht zitiert haben - damit nicht zufrieden bin, weil
ich keine Steuererhöhung wollte.
Das gestehe ich Ihnen gerne zu und fordere Sie auf,
unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir wollen keine
Steuererhöhungen für Wohnmobile. Sie müssen nur unserem Gesetzentwurf zustimmen. Darüber wird heute
entschieden.
({0})
Deshalb können Sie an dieser Stelle Ihre Meinung deutlich zum Ausdruck bringen.
Wie es inzwischen üblich geworden ist - das möchte
ich abschließend feststellen -, soll die Steuererhöhung
rückwirkend zum 1. Januar 2006 in Kraft treten. Sie
missbrauchen damit innerhalb eines Tages gleich bei
zwei Gesetzen, dem Jahressteuergesetz 2007 und dem
jetzt beratenen Gesetz, das Vertrauen der Bürger in die
bestehenden gesetzlichen Regelungen. Sie müssen sich
nicht wundern, wenn dadurch das Vertrauen in die Politik und ihre Entscheidungsträger weiter abnimmt.
Ich darf mich bedanken.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die CDU/
CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach der Stimmungslage in den letzten Minuten
zu urteilen, sind wir offensichtlich beim Highlight des
heutigen Abends angekommen.
({0})
Gestatten Sie mir, zu Beginn meiner Rede zwei Dinge zu
sagen. Herr Pronold, es ist vielleicht nicht sachgemäß,
einen Kompromiss mit einer Schelte zu beginnen, um
von eigenen Ankündigungen abzulenken. Herr Schäffler,
abgesehen von den Zitaten, aus denen Ihre Rede zu zwei
Dritteln bestand, enthielt Ihre Rede nur bedingt Substanzielles.
({1})
Die Diskussion, die wir heute zu Ende bringen, begann bereits in der letzten Legislaturperiode. Seit geraumer Zeit entfiel der Begriff der Kombinationskraftwagen
bei der Kraftfahrzeugsteuer, ein Sammelbegriff insbesondere für Geländewagen, Großraumlimousinen, viele
andere Fahrzeugtypen und auch für Wohnmobile mit einem zulässigen Gesamtgewicht von über 2,8 Tonnen;
das wurde vorhin angesprochen. Ich erinnere daran, dass
der Besitzer eines Geländewagens teilweise weniger
zahlte als ein Besitzer eines regulären PKWs älterer
Bauart. Darüber wurde vor etwa zwei Jahren diskutiert.
Diese Kraftwagen unterlagen einer im Vergleich zu Personenkraftwagen günstigeren Besteuerung, vergleichbar
mit der von Lastkraftwagen. Teilweise wurde dort noch
einmal - je nach Gewicht - unterschieden, ob nun Emissionen zusätzliche Berücksichtigung fanden oder nicht.
Die Auseinandersetzung über dieses Thema wurde
zwar noch von dem damaligen Umweltminister Trittin in
Gang gesetzt, jedoch nicht beendet. Sie hinterließ Lücken und sorgte für Verunsicherung der Betroffenen an
anderer Stelle. Was sich für Geländewagen eindeutig
und eher unstrittig umsetzen ließ - sie dienen vornehmlich der Personenbeförderung -, sorgte im Bereich der
Wohnmobile für erhebliche Unruhe, da gravierende
Mehrbelastungen erwartet wurden. Im April dieses Jahres hatten wir die erste Debatte über dieses Thema im
Plenum. Ich stellte bereits damals folgende Fragen:
Wann ist ein Wohnmobil eigentlich ein PKW, wann ein
LKW und vor allen Dingen warum diese Unterscheidung, wenn es sich doch objektiv und nach Ansicht der
Halter selbst in beiden Fällen in Gebrauch und Charakter
um einen identischen Fahrzeugtyp handelt?
({2})
Warum unterliegt nach bisher geltender Regelung ein
Halter eines Wohnmobils unterhalb einer bestimmten
Gewichtsgrenze einer anderen Steuerart als jemand, dessen Fahrzeug darüber liegt? Warum werden beim einen
Emissionen berücksichtigt, beim anderen nicht? Nach
steuerlicher Behandlung und streng nach Gesetzeslage
war dies zwar in den Steuersätzen geregelt. Aber eine
Antwort auf die Frage nach der Steuersystematik konnte
nicht gegeben werden.
Punkt eins: Es galt eine sachgerechte Anpassung sowohl im Vergleich mit anderen Fahrzeuggattungen als
auch innerhalb der Kategorie selber vorzunehmen.
({3})
Es lag in der Tat ein Vorschlag vor, nach dem zunächst
die Kombinationsfahrzeuge, sofern sie objektiv und vorrangig der Personenbeförderung dienen, schrittweise in
eine PKW-Besteuerung überführt werden sollten, an deren Ende jedoch - anders als bei PKW - für Wohnmobile ein dauerhafter Abschlag vorzusehen ist. Halter von
Wohnmobilen wie Verbände befürchteten - wir alle haben entsprechende Schreiben bekommen - unzumutbare
Härten und brachten eigene Vorschläge ein. Bund und
Länder erarbeiteten daraufhin in den vergangenen Monaten - die Kfz-Steuer ist eine Ländersteuer - ein neues
Konzept, das in den Grundzügen darauf basiert und das
heute zur Abstimmung steht. Lassen Sie mich an dieser
Stelle erwähnen, dass seit dieser Zeit allen bewusst ist,
dass die bisherigen Regeln nicht mehr gelten.
Damit komme ich zu Punkt zwei. Zu einem wichtigen
Aspekt, um zu einer größeren Transparenz zu gelangen,
und im Übrigen passend zu aktuellen Diskussionen an
anderer Stelle - ich erinnere an heute Nachmittag wurde das Stichwort „umweltpolitisches Lenkungsprinzip“, das heißt die stärkere Berücksichtigung nach
Schadstoffklassen auch bei Wohnmobilen. Dies wird,
Kollege Schäffler, im Übrigen auch von namhaften Verbänden ausdrücklich unterstützt und vorgeschlagen. Wir
sind da nicht allein.
({4})
In den vergangenen Jahren hat eine positive Entwicklung beim Schadstoffausstoß stattgefunden, die es verstärkt zu berücksichtigen gilt. Gleichzeitig ist jedoch das
Spektrum der Gewichtsklassen sehr groß und eine Berücksichtigung auch hier ausdrücklich gewünscht. Aber
die Diskussion bis zu diesem Punkt heute zeigt natürlich
auch, dass das deutsche Steuerrecht auch an dieser Stelle
vielfältig bleibt. Zum einen geschieht dies durch die
Vielfalt der Modelle und individuellen Lebensumstände
der Halter,
({5})
zum anderen durch das Bestreben, Wünsche und Anregungen mit steuerlichen und haushaltspolitischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Gegebenenfalls
hat der eine oder andere Kollege in NRW dies so gesehen.
Das Ergebnis: Erstens. Es wird eine eigene Kategorie
für Wohnmobile geschaffen, unabhängig von den weiteren Kombinationsfahrzeugen. Bei aller zusätzlichen Differenziertheit des Systems muss man diesem Weg zugute
halten, dass durch diese Umstrukturierung eine vergleichbare Darstellung innerhalb der Kategorie „Wohnmobile“ gefunden werden konnte. Ein Vergleich mit anderen Fahrzeugtypen und damit eine an sich
ungerechtfertigte Ungleichheit entfallen.
({6})
Zweitens. Es wurde auch aus Gründen der Rechtssicherheit genau definiert, was eigentlich ein Wohnmobil
ist, und zwar unter Berücksichtigung von Wohnanteil an
der Gesamtnutzfläche, Stehhöhe, Kochgelegenheit und
anderem mehr. Auch dieser Punkt sollte eigentlich unstrittig sein.
Drittens - jetzt kommt der Kerngedanke -: Es wurden
abgestufte Kategorien nach Schadstoffklassen für alle
Wohnmobile gebildet, nochmals unterteilt nach Gewichtsgrößen. Ich möchte nicht verhehlen, dass außer
Ihrem Vorschlag noch ein Vorschlag der Grünen auf dem
Tisch liegt, einzig nach Schadstoffausstoß zu besteuern.
Hier stellt sich aber nicht nur die Frage nach der Härte
beispielsweise bei älteren Modellen oder einem erzielbaren Wiederverkaufswert. Das wirkliche Leben holt einen
spätestens an dieser Stelle wieder ein. Auch Sie müssten
differenzieren.
Über Ihren Vorschlag wurde bereits ausführlich gesprochen. Ich stelle aber die Frage, warum bei einer
Fahrzeugkategorie bei Erwerb des Fahrzeugs nicht auch
die Frage nach der Emission des Fahrzeugs gestellt werden soll. Oder: Weshalb soll der Halter eines schweren
Fahrzeugs neuerer Bauart in der Systematik und im Verhältnis mehr zahlen als einer, der ein leichteres Fahrzeug
hat, das jedoch einen höheren Schadstoffausstoß hat? Sie
sehen, dass Sie da nicht stringent sind. Es ist mit Sicherheit sehr populär, sich diesen Anstrich zu geben, aber
man darf nicht näher nachfragen.
({7})
Im Ergebnis liegt die Jahressteuer für Wohnmobile
nun über der für Lastkraftwagen und im Normalfall unterhalb der für Personenkraftwagen, in einer eigenen Kategorie, differenziert nach Schadstoff und Gewicht. Es
wird Fahrzeuge geben, die aufgrund der früheren PKWBesteuerung nun weniger zahlen,
({8})
es wird aber auch solche geben, die mehr zahlen, insbesondere wenn sie nicht schadstoffreduziert sind. Wir
wollen es nicht verschweigen. Am Ende steht jedoch
auch hier eine Deckelung der Beträge, die nicht überschritten wird. Ich sage dies ausdrücklich. Es galt bei
diesem Punkt, das Spannungsfeld zwischen einer Belastung auf der einen Seite und der umweltpolitischen
Komponente auf der anderen Seite zu überbrücken.
Mit dem vorliegenden Kompromiss soll die eingangs
erwähnte Lücke endlich geschlossen und Klarheit geschaffen werden. Wir sind uns bewusst, dass wir wie bei
vielen politischen Entscheidungen nicht überall auf Zustimmung stoßen werden.
({9})
Wir sind jedoch unter Berücksichtigung aller Belange,
der Vielfalt der Modelle und zahlreicher Gespräche der
Ansicht, in den vergangenen Monaten eine tragfähige
Lösung gefunden zu haben. Zugunsten dieses Kompromisses, der über eine breite Mehrheit in Bundestag und
Bundesrat verfügt, werden die anderen Diskussionsvorschläge der Vergangenheit zurückgestellt. Wir bitten
deshalb um Zustimmung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir werden dieses Gesetzesvorhaben nicht unterstützen.
Wir werden aber auch nicht den Vorschlag der FDP unterstützen. Richtig ist es, dass wir derzeit eine Gesetzeslücke haben, die geschlossen werden muss. Alle Fahrzeughalterinnen und -halter haben natürlich Anspruch
auf Rechtssicherheit. Richtig und wichtig ist es ebenfalls, in dem Gesetzgebungsverfahren auf Entwicklungen zu reagieren. Es war doch interessant, dass von den
Haltern und Halterinnen der so genannten Pick-up-Fahrzeuge keine Proteste zu hören waren. Vielmehr wurde
von ihnen die Umstellung und Klarstellung akzeptiert,
dass ihre Fahrzeuge wie PKW behandelt werden. Es ist
ein richtiger und wichtiger Schritt, dass eine hubraumund emissionsbezogene Besteuerung erfolgt. Denn gerade diese Pick-up-Fahrzeuge, die oftmals eine enorme
Gefährdung im Stadtverkehr darstellen, sind gleichzeitig
Spritfresser mit einem Verbrauch von 20 Litern auf
100 Kilometer im Stadtverkehr und ökologisch gesehen
das Schlechteste, was man einsetzen kann. Die Halterinnen und Halter dieser Fahrzeuge sind sich im Klaren darüber, dass sie sich einen ökologisch schlechten Luxus
leisten.
Der Übergang allerdings von der reinen Besteuerung
nach dem Gewicht zur PKW-Besteuerung von Wohnmobilen - auch in ihrer vorgeschlagenen abgeschwächten
Form - ist doch etwas anderes. Uns allen ist klar, dass
Wohnmobile oftmals sehr langlebige Konsumgüter sind
und dass sie gewährleisten, dass viele Familien noch auf
eine preiswerte Art und Weise Urlaub - Kurzurlaube
mehrmals im Jahr oder einen größeren - machen können. Sie werden gehegt und gepflegt. Auf einmal sollen
sie wesentlich stärker besteuert werden.
Ich finde es nicht richtig, wenn die Bundesregierung
und die sie tragende Koalition jetzt von ihren eigenen
Bedenken abweichen, die sie noch in der Stellungnahme
ausgedrückt haben. Ich zitiere aus der Stellungnahme
der Bundesregierung:
Das Gesetz soll rückwirkend zum 1. Mai 2005 in
Kraft treten. Es erscheint fraglich, ob es sich - wie
in der Begründung angegeben - um einen Fall der
unechten Rückwirkung handelt.
Wenn Sie sich schon selbst nicht sicher sind, ob es
eine unechte Rückwirkung ist oder nicht - das ist als solches schon eine vage Begründung, um eine solche Rückwirkung zu rechtfertigen -, warum haben Sie dann nicht
wenigstens darauf gedrungen, dass der von Ihnen gefundene Kompromiss frühestens ab 1. Januar 2007 gelten
kann?
({0})
Eine Stichtagsregelung wäre eine wesentlich gerechtere Lösung gewesen. Es ist klar, dass es bei dem vorgeschlagenen Verfahren für viele Fahrzeughalterinnen und
Fahrzeughalter äußerst schwierig ist, eine wesentlich
höhere Steuerbelastung - und diese auch noch rückwirkend - zu tragen und vielleicht zu versuchen, ihre Fahrzeuge nachzurüsten, damit sie in den Folgejahren nicht
ebenfalls noch hohe Steuern zahlen müssen.
Aus diesem Grunde halten wir den von Ihnen gepriesenen Kompromiss für nicht richtig. Wir meinen allerdings auch - das richtet sich an die FDP -, dass Wohnmobile in Zukunft - wie eigentlich alle anderen
Fahrzeuge auch - so besteuert werden sollten, dass ökologische Belange eine wesentliche stärkere Rolle spielen.
({1})
Dazu gehört eben eine emissions- und hubraumbezogene Besteuerung. Es ist zu wenig, es einfach so belassen zu wollen, wie es ist. Man hätte für dieses Jahr die
geltende Regelung beibehalten können und müssen und
im nächsten Jahr - das wäre dann jetzt unsere Aufgabe
gewesen - eine Übergangsregelung, die tatsächlich in
diese Richtung zielt, vornehmen müssen.
Aus diesem Grunde werden wir sowohl den von Ihnen verteidigten Kompromiss als auch den Entwurf der
FDP ablehnen. Bei beiden ist die Zielrichtung verfehlt.
Beide werden nur zu einer Mehrbelastung der Halterinnen und Halter von Wohnmobilen führen. Das lehnen
wir ab.
Danke.
({2})
Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man muss an dieser Stelle vielleicht einmal klar machen,
worum es eigentlich gegangen ist: Es ging uns darum,
dass wir hier eine vernünftige Besteuerung von schweren und umweltschädlichen Geländewagen auf den Weg
bringen. Nicht akzeptabel war nämlich, wie diese Fahrzeuge früher steuerlich veranlagt waren.
({0})
Die Länder haben gesagt - da hat Kollege Pronold
völlig Recht -: Gut, wir regeln das. Bayern - es bemüht
sich schließlich immer, schnell und vorne dabei zu sein hat diese Steuer gar nicht erhoben. Die anderen Länder
haben ziemlich herumgeeiert. Jetzt sehen wir, dass der
Umgang mit der gesamten Frage Wohnmobilbesteuerung völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Der Bundesrat
hat einen Vorschlag gemacht: Übergangsfristen und ein
Abschlag in Höhe von 20 Prozent ab dem Jahr 2011.
Dann hat die große Koalition gesagt: Das gefällt uns
auch nicht; wir wollen jetzt selbst eine Lösung finden. Das ist, wohlgemerkt, nach eineinhalb Jahren Diskussion. Man hat eineinhalb Jahre lang diejenigen, die ein
Wohnmobil besitzen, in einem Schwebezustand belassen. Sie wussten nicht, was auf sie überhaupt zukommt.
Die Aufregung im Land war groß.
Sie haben gesagt, es gebe hier in der Bundesrepublik
Deutschland 200 000 Besitzer und Besitzerinnen von
Wohnmobilen. Sehr viele von ihnen haben sich an uns
gewandt. Wir, die politische Seite, haben gesagt: Ihr seid
überhaupt nicht diejenigen, die davon betroffen sein sollen. Jetzt kommt die große Koalition - das ist der Hammer in dieser Geschichte - und schlägt etwas vor, was
auch noch rückwirkend gelten soll. Man knöpft diesen
Menschen zum 1. Januar 2006 50 Millionen Euro ab.
Diese Gesetzgebung hat mit ökologischer Ausrichtung
nichts zu tun.
({1})
An dieser Stelle muss man wirklich einmal sagen: So
geht es nicht. Sie können von den Steuerbürgern und
Steuerbürgerinnen jetzt keine Nachzahlungen verlangen,
indem Sie dieses Gesetz so ausgestalten, wie Sie es ausgestaltet haben. Wir lehnen dieses Gesetz deswegen ab.
Wir haben heute bereits darüber diskutiert, wie wir
uns die künftige Kfz-Besteuerung vorstellen können.
Wir haben klar gesagt: Wir möchten, dass hier der
CO2-Ausstoß berücksichtigt wird. Die Ausgestaltung der
Kfz-Steuer muss verbessert werden. Dies ist ein Ziel Ihrer Koalitionsvereinbarung. Allerdings ist davon nicht
mehr viel zu merken. Ich kann nur sagen: Wenn man etwas für das Klima tun möchte, dann muss man sich auch
dementsprechend verständigen. Aus unserer Sicht wäre
es sauberer gewesen, wenn die große Koalition gesagt
hätte: Die Kfz-Besteuerung wird nach neuen Kriterien
gestaltet, die für alle gelten. Das wäre vernünftiger gewesen, als jetzt eine systematisch unsaubere Zwischenlösung zu finden. Das ist nicht in Ordnung, verärgert die
Menschen und wird nicht lange taugen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung kraft-
fahrzeugsteuerlicher Vorschriften auch hinsichtlich der
Wohnmobilbesteuerung auf Drucksache 16/519. Hierzu
gibt es mehrere Erklärungen zur Abstimmung nach § 31
unserer Geschäftsordnung.1)
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3314, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung angenommen.
Wir stimmen über den Gesetzentwurf der Fraktion der
FDP zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes auf
Drucksache 16/473 ab. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3314, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung der
FDP gegen die Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die
weitere Beratung.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fairen Wettbewerb in der Entsorgungswirtschaft ermöglichen - Steuerprivilegien öffentlich-rechtlicher Unternehmen abschaffen
- Drucksache 16/2657 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell war hierzu eine halbe Stunde Debatte
verabredet worden. Die Reden des Kollegen Flosbach,
der Kollegin Westrich sowie der Kollegen Meierhofer,
Troost und Berninger sind zu Protokoll gegeben.2)
Von den Fraktionen wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 16/2657 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend vom Finanzausschuss beraten werden soll. -
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
1) Anlagen 3 bis 5
2) Anlage 7
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie
2003/35/EG ({2})
- Drucksachen 16/2494, 16/2933 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
- Drucksache 16/3311 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({4})
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EGRichtlinie 2003/35/EG ({5})
- Drucksachen 16/2495, 16/2931 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
- Drucksache 16/3312 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({7})
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten ({8})
- Drucksachen 16/2497, 16/2865 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
- Drucksache 16/3313 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({10})
Dr. Matthias Miersch
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Zum Entwurf eines Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes
liegen uns ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Zum Entwurf eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes liegen ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Zu diesem Punkt war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vereinbart. Die Kollegen Jung ({11}),
Miersch, Meierhofer, Heilmann und die Kollegin Kot-
ting-Uhl geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines
Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes auf den Druck-
sachen 16/2494 und 16/2933. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3311,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/3364
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag? - Die Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Damit ist der Änderungsantrag bei Zustim-
mung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke bei Ablehnung durch das übrige Haus abge-
lehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? -Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf bei Zustimmung der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und der
FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Ergebnis
wie vorher angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag von
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3360. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? - Die Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungs-
antrag bei Zustimmung der Fraktionen des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und Die Linke und Ablehnung
durch den Rest des Hauses abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 b: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Um-
welt-Rechtsbehelfsgesetzes, Drucksachen 16/2495 und
16/2931. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/3312, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3365 vor,
1) Anlage 8
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag bei Zustimmung der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und Die Linke
und Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses
abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung der Koalition und Ablehnung durch die Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem Ergebnis wie vorher
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/3361. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
des Bündnisses 90/Die Grünen bei Ablehnung der übrigen Mitglieder des Hauses abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 c: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum
Aarhus-Übereinkommen, Drucksachen 16/2497 und
16/2865.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3313, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Wir kommen gleich zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für solidarische und entwicklungspolitisch kohärente Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
- Drucksache 16/3193 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier war eine halbe Stunde Debatte vorgesehen. Ihre
Reden zu Protokoll geben die Kollegen und Kolleginnen
Hübinger, Raabe, Königshaus, Hänsel und Koczy.1)
1) Anlage 9
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten ({13})
- Drucksache 16/2918 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14})
- Drucksache 16/3241({15}) -
Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte
vorgesehen. Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die
Kolleginnen und Kollegen Fuchs, Barnett, Zeil, Zim-
mermann und Pothmer.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten auf Drucksache
16/2918. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3241({16}), den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ({17}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen Studienplätze bedarfsgerecht und zügig ausbauen
- Drucksache 16/3281 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
2) Anlage 10
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Qualität der Hochschullehre sichern - den
Hochschulpakt 2020 erfolgreich abschließen
und weiterentwickeln
- Drucksache 16/3290 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({19}) und der Fraktion der LINKEN
Hochschulpakt 2020 - Kapazitätsausbau und
soziale Öffnung
- Drucksache 16/3278 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hierfür war ebenfalls eine halbe Stunde Beratung vor-
gesehen. Ihre Reden zu Protokoll haben die Kolleginnen
und Kollegen Grütters, Rossmann, Barth, Hirsch und
Gehring.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3290 und 16/3278 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache
16/3281 zum Tagesordnungspunkt 20 a soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie,
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Personenstandsrechts ({20})
- Drucksache 16/1831 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({21})
- Drucksache 16/3309 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({22})
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte
vorgesehen. Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die
1) Anlage 11
Kolleginnen und Kollegen Mayer ({23}),
Fograscher, Piltz, Jelpke und Stokar von Neuforn.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform
des Personenstandsrechts auf Drucksache 16/1831. Der
Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/3309, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion der Linken sowie
Enthaltung der FDP in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenergebnis wie zuvor angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den
Tagesordnungspunkt 22 - Eigentumsrechte und For-
schungsfreiheit schützen - Entschiedenes Vorgehen ge-
gen Zerstörungen von Wertprüfungs- und Sortenversu-
chen sowie von Feldern mit gentechnisch veränderten
Pflanzen - von der heutigen Tagesordnung abzusetzen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c
auf:
25 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche
({24}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Marco Bülow, Dirk Becker, Petra Bierwirth, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
REACH - den gemeinsamen Standpunkt wei-
ter verfolgen
- Drucksache 16/3295 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
REACH - letzte Chance zur Verbesserung des
Umwelt- und Verbraucherschutzes im euro-
päischen Chemikalienrecht nutzen
- Drucksache 16/1888 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bul-
ling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill,
2) Anlage 12
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
REACH - Chance für eine fortschrittliche
Chemikalienpolitik nutzen
- Drucksache 16/3279 Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Liebing,
Schmitt ({25}), Kauch, Bulling-Schröter und Kotting-
Uhl ihre Reden zu Protokoll gegeben. 1)
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 25 a: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/3295 mit dem Titel „REACH - den gemeinsamen Standpunkt weiter verfolgen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung durch die Koalition und die FDP und Ablehnung durch Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/1888 mit dem Titel „REACH - letzte
Chance zur Verbesserung des Umwelt- und Verbraucherschutzes im europäischen Chemikalienrecht nutzen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen gibt es keine. Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktionen der Linken und des Bündnisses 90/
Die Grünen durch das übrige Haus abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 25 c: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der Linken auf Drucksache 16/3279
mit dem Titel „REACH - Chance für eine fortschrittliche Chemikalienpolitik nutzen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist mit
dem gleichen Stimmenergebnis wie der vorherige Antrag abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({26}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dagdelen,
Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der LINKEN
Bundesweiter Abschiebestopp für Flüchtlinge
aus Togo
- Drucksachen 16/2627, 16/3061 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({27})
Josef Philip Winkler
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Grindel,
Veit, Wolff ({28}), Dagdelen und Winkler ihre
Reden zu Protokoll gegeben.2)
1) Anlage 13
2) Anlage 14
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf der Drucksache 16/3061 zu dem Antrag der
Fraktion der Linken mit dem Titel „Bundesweiter Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Togo“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2627 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der FDP
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
- Drucksache 16/3064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({29})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen
Connemann, Kramme, Kolb, Dreibus, Pothmer und An-
dres ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3064 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirtschaft
- Drucksache 16/2794 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({30})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Heller,
Botz, Happach-Kasan, Tackmann und Behm ihre Reden
zu Protokoll gegeben.4)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2794 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
3) Anlage 15
4) Anlage 16
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben
und Zellen ({31})
- Drucksache 16/3146 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({32})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Hüppe,
Wodarg, Kauch, Spieth, Terpe und Schwanitz ihre Reden
zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 17
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. November 2006,
9 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den
restlichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.