Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
uns einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Tag.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich mit einigen Hinweisen des 50. Jahrestages des ungarischen
Volksaufstandes gedenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist
es 50 Jahre her, seit das ungarische Volk im Oktober und
November 1956 aufstand, um sich gegen Unrecht und
Unterdrückung zu wehren, die kommunistische Herrschaft abzuschütteln und individuelle Freiheit und nationale Selbstbestimmung zu erkämpfen. Was mit einer
Studentendemonstration begann, wuchs rasch zu einer
Volksbewegung. Der Aufstand war nicht vorhersehbar,
wohl aber sein Ausgang. Der Aufstand endete in einer
blutigen Tragödie, weil die Staatsmacht mit brutaler
Härte zurückschlug, unterstützt von sowjetischen Panzern. Die Opfer zählten nach Tausenden und die Unterjochung der nach Freiheit strebenden Menschen hinterließ Bitterkeit und tiefe Wunden in Ungarns Seele.
Als sowjetische Truppen in Ungarn einmarschierten,
löste das in der freien Welt Empörung und Entsetzen aus
und die ohnmächtige Wut, zuschauen zu müssen, wie
der Freiheitswille eines Volkes mit Waffengewalt niedergeknüppelt wurde. Der Bundestag kam damals spontan
zu einer Sondersitzung zusammen. Bundeskanzler
Adenauer sagte damals vor den Abgeordneten dieses
Hauses - ich zitiere -:
Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, voller Bewunderung dieses Freiheitskampfes zu gedenken,
der noch immer andauert. Das Wissen darum, daß
die ungarische Nation in ihrem Freiheitskampf allein steht, daß sie wohl die moralische Unterstützung aller freien Völker der Welt genießt, aber daß
die nackte Gewalt stärker zu sein scheint als die heroischen Anstrengungen dieses Volkes, muß uns in
diesen Tagen quälen und sollte niemanden unberührt lassen, für den die Worte „Demokratie“ und
„Freiheit“ mehr bedeuten als ein unverbindliches
Lippenbekenntnis. Es ist keine unzulässige Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen
Volkes, wenn die Bundesregierung heute und hier
an dieser Stelle ihre Bewunderung für diesen Freiheitskampf zum Ausdruck bringt …
Damals hat weder Konrad Adenauer noch irgendjemand sonst wissen können, dass die „Einmischung“ Ungarns in die inneren Verhältnisse des deutschen Volkes
33 Jahre später eine der wesentlichen Voraussetzungen
für die Überwindung der deutschen Teilung wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutschen fühlten damals wie viele andere im freien Teil Europas mit
den Ungarn. Sie konnten es sehr offen tun - im unfreien
Teil unseres Landes und Europas, wenn überhaupt, nur
mit verdeckter Sympathie. Viele Ungarn, die nach dem
Aufstand flüchten mussten, haben Zuflucht in Deutschland gefunden.
Der ungarische Volksaufstand von 1956 ist, wie wir
heute noch besser wissen als damals, eines der herausragenden Ereignisse in der jüngeren ungarischen und europäischen Geschichte. Er ist ein Glied in der Kette des
mutigen und schließlich doch erfolgreichen Widerstands
gegen Unfreiheit und Unterdrückung durch kommunistische Diktaturen. Wie der Arbeiteraufstand vom 17. Juni
1953 in der DDR und der Prager Frühling im Jahr 1968
in der Tschechoslowakei zählt er zu den Bestrebungen
nach mehr Freiheit und nach Reformen, die zunächst am
militärischen Eingreifen der Sowjetunion scheiterten
und in der Niederlage am Ende dennoch triumphierten.
Denn damals wurden die Keime für die friedlichen Revolutionen von 1989 gelegt.
Die großen Veränderungen des Jahres 1989 in Ungarn
wie in Deutschland sind ohne die Ereignisse von 1953,
1956 oder 1968 nicht denkbar. Wir Deutsche wissen sehr
genau, welch großen Anteil Ungarn an der Überwindung
der deutschen Teilung hat. Am 10. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenzen für die Bürger der DDR. Was
an der österreichisch-ungarischen Grenze begann, leitete
die Serie von Ereignissen ein, die schließlich auch zur
Einheit der Deutschen in Frieden und Freiheit führte. Es
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
war Ungarn, das den ersten Stein aus der Berliner Mauer
geschlagen hat.
An Ungarns Mut erinnert eine Gedenktafel am
Reichstagsgebäude als - so steht es auf dieser Tafel „ein Zeichen der Freundschaft zwischen dem deutschen
und dem ungarischen Volk, für ein vereintes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn, für ein demokratisches Europa“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen, in
denen sich Ungarn und die ganze Welt an den Volksaufstand vor 50 Jahren erinnern, fühlen wir uns den Menschen in Ungarn auf besondere Weise verbunden. Wir
wissen sehr genau, was diese 13 Tage im Herbst 1956
für das Land und seine Menschen bedeuten. Sie sollen
wissen, was sie für uns bedeuten.
Wir trauern um die Opfer, die im Kampf für Ungarns
und Europas Freiheit ihr Leben verloren haben. Wir sind
glücklich und dankbar, dass Ungarn heute ein gleichberechtigtes Mitglied der demokratischen europäischen
Staatenfamilie ist, die gemeinsam an einer Zukunft in
Frieden und Freiheit arbeitet.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({1})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kosovo-Verhandlungen - für eine neutrale Moderation
und eine eigenverantwortliche und einvernehmliche
Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern
- Drucksache 16/3093 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen
- Drucksache 16/3090 Die Tagesordnungspunkte 7 c und 28 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf drei geänderte Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Die in der 57. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus
({2}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,
Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksache 16/2793 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
({4}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit
Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
grundlegend reformieren
- Drucksache 16/2970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige
Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- Drucksache 16/3002 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik
Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef
Jung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich zum eigentlichen Anlass dieser Debatte komme, möchte ich ein paar Bemerkungen zu den
Bildern von den Vorfällen in Afghanistan machen, die
wir gestern alle mit Abscheu und Entsetzen zur Kenntnis
genommen haben. Dieses Verhalten steht im diametralen
Widerspruch zu den Werten unseres Grundgesetzes und
zu der Ausbildung, die die Bundeswehr auf der Basis der
inneren Führung durchführt. Wer sich so verhält, hat in
der Bundeswehr keinen Platz.
({0})
Sie wissen, dass die Vorfälle aus dem Frühjahr des
Jahres 2003 stammen. Deshalb bin ich froh darüber, dass
es uns innerhalb von 24 Stunden gelungen ist, sechs Täter konkret zu ermitteln. Vier gehören der Bundeswehr
nicht mehr an, zwei gehören ihr noch an. Wir werden
alle disziplinarrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen ziehen. Wir werden die Täter einer gerechten
Strafe zuführen.
({1})
Ich habe aber die herzliche Bitte, aus diesem Vorfall
keine Pauschalverdächtigung abzuleiten.
({2})
200 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr waren in Auslandseinsätzen tätig. Sie haben ihren risikoreichen Auftrag in einer hervorragenden Art und Weise erfüllt und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
gemehrt.
({3})
Ich habe unseren Generalinspekteur Schneiderhan,
der heute hier anwesend ist, gebeten, noch einmal die
Ausbildungsgrundlagen zu überprüfen und die Frage der
entsprechenden Begleitung von Auslandseinsätzen zu
klären, um gegebenenfalls Anpassungen vornehmen zu
können. Ich glaube, wir sind uns einig: Unser Anliegen
ist, dass die Soldaten der Bundeswehr auch und gerade
in den herausfordernden Einsätzen im Ausland die
Werte unseres Grundgesetzes vermitteln und vorleben.
Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.
({4})
Lassen Sie mich jetzt zu dem eigentlichen Thema
kommen, nämlich zum von der Bundesregierung vorgelegten „Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“, das das
Bundeskabinett gestern in einer Sitzung im Bundesverteidigungsministerium verabschiedet hat. Dieses Weißbuch wird von der Bundesregierung zwölf Jahre nach
Herausgabe des letzten Weißbuches vorgelegt.
Wenn Sie sich vor Augen führen, was sich im Hinblick auf die Fragen der Sicherheitspolitik und der sicherheitspolitischen Herausforderungen - auch im Hinblick auf die Situation der Bundeswehr - seit 1994 alles
verändert hat, dann wird Ihnen deutlich, welch ein
Transformationsprozess bei der Bundeswehr stattgefunden hat. Im Jahre 1994 gab es weder einen Einsatz
auf dem Balkan noch einen Einsatz in Afghanistan noch
einen Einsatz am Horn von Afrika noch einen Einsatz im
Kongo noch einen Einsatz im Libanon.
({5})
Wir standen damals auch noch nicht vor den Herausforderungen, die sich aus dem 11. September 2001 ergeben haben. Ich bin froh darüber und dankbar dafür
- denn es ist dringender denn je -, dass es gestern gelungen ist, ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen Standortbestimmung der Bundesrepublik Deutschland einvernehmlich zu verabschieden.
({6})
An dieser Stelle möchte ich einen Satz zu den aktuellen Irritationen im Hinblick auf den Libanoneinsatz sagen, über die ich heute gelesen habe. Ich will vor diesem
Hohen Hause unterstreichen, dass wir deutlich gemacht
haben, dass wir die UN-Resolution unterstützen, dass
wir mit UNIFIL gut und effektiv zusammenarbeiten,
dass wir klare Rules of Engagement haben. Die Zusammenarbeit mit der libanesischen Armee erfolgt in einer
hervorragenden Art und Weise. Auf unserem Führungsschiff befindet sich ein Verbindungsoffizier. Im Hinblick
auf die Befahrerlaubnis innerhalb der Sechsmeilenzone
gibt es keine Konditionierungen, sodass wir unseren
Auftrag - die Unterstützung der Souveränität des Libanon und die Durchsetzung des Waffenstillstands sind unser Ziel - sachgerecht, so, wie ihn der Bundestag beschlossen hat, erfüllen können.
({7})
Das Weißbuch soll die Grundlage für eine sicherheitspolitische Debatte in Deutschland sein. Ich denke, dass
wir uns inhaltlich noch mehr mit diesen Fragen auseinander setzen müssen; denn es geht um die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger. Das Koordinatensystem und die Herausforderungen haben sich in den
letzten Jahren entscheidend verändert. Auch darüber
müssen wir in der Öffentlichkeit eine Diskussion führen.
Durch die Sicherheitspolitik und insbesondere durch
die Auslandseinsätze rückt auch unsere Verantwortung,
die wir im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen wahrnehmen, mehr in den Blickpunkt. Deshalb
denke ich, dass das Weißbuch zum richtigen Zeitpunkt erscheint. Am 1. Januar 2007 übernimmt Deutschland die
EU-Ratspräsidentschaft. Darüber hinaus hat Deutschland
danach auch den Vorsitz in der G 8. Unsere internationalen Partner und Verbündeten haben große Erwartungen an
uns. Deshalb ist es gut, dass wir unsere Vorstellungen zur
Sicherheitspolitik klar und deutlich formuliert und im
Weißbuch vorgelegt haben. Bei seinem gestrigen Besuch
hat der NATO-Generalsekretär mir gegenüber noch einmal darauf hingewiesen, wie dankbar er ist, dass die Bundesrepublik Deutschland auf diese Art und Weise ihre internationalen Verpflichtungen wahrnimmt und ihren
Beitrag zu Frieden stiftenden Einsätzen in der Welt leistet.
({8})
Meine Damen und Herren, Deutschlands Sicherheit ist
untrennbar mit der politischen Entwicklung in Europa
und in der Welt verbunden. Deshalb denke ich, es ist richtig, dass wir die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die sich unserem Land zurzeit stellen, eindeutig und
klar benannt haben. Dabei geht es erstens um die Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus,
zweitens um die Herausforderungen im Hinblick auf die
weltweite Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln und drittens um die Herausforderungen durch innerstaatliche Konflikte, Staatszerfall
und ähnliche Krisen, die auch für unser Land Bedrohungslagen mit sich bringen. Es ist notwendig und wichtig, dass wir diesen Risiken und Bedrohungen rechtzeitig vor Ort begegnen, bevor sie eine Gefahrensituation
für unser Land darstellen. Insofern liegen die Einsätze
der Bundeswehr im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
({9})
Ich habe gerade gesagt: Bislang waren insgesamt
mehr als 200 000 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen. Aktuell sind 9 000 Soldatinnen und Soldaten
auf drei Kontinenten im Einsatz. Deshalb stellt sich zu
Recht die Frage - sie wird nicht nur von Bürgerinnen
und Bürgern, sondern auch von Soldaten gestellt -: Auf
welcher Grundlage ist die Notwendigkeit derartiger Einsätze zu beurteilen?
({10})
Aufgrund welcher Interessen und welcher Werteorientierung finden diese Einsätze statt?
Es ist gut, dass wir diese Grundprinzipien im Rahmen unseres Weißbuches formuliert haben. Niemand
wird die Auffassung vertreten, wir würden lediglich einen Katalog von eins bis zehn formulieren, ihn abhaken
und dann könne der Auslandseinsatz stattfinden.
({11})
Das würde, glaube ich, unserer Verantwortung im Hinblick auf die Abwägung nicht gerecht.
Aber eines sollte klar sein: Die Auslandseinsätze
müssen den Werten unseres Grundgesetzes entsprechen,
sie müssen den Zielen und Verantwortlichkeiten im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen entsprechen und sie müssen unseren Interessen entsprechen.
Auf dieser Wertegrundlage muss dann die Entscheidung getroffen werden, an welchen Einsätzen wir uns
beteiligen und an welchen nicht. Niemand wird den Anspruch erheben, dass wir eine Art Weltpolizei darstellen
sollten. Aber wir müssen unseren Beitrag zur Krisenund Konfliktbewältigung vor Ort leisten, um Bedrohungen für unser Land abzuwehren. Das entspricht unseren Werten, unserem Auftrag und unseren Interessen.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik muss
eingebettet sein in die transatlantischen Beziehungen der
Nordatlantischen Allianz und in die Fortentwicklung einer Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik,
aber auch in die Fortentwicklung der Europäischen
Union insgesamt. Deshalb müssen die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf einer freundschaftlichen
und vertrauensvollen Grundlage weiterentwickelt werden. Dadurch können wir auch den Verbund zu unserem
stärksten Anker in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der NATO, herstellen. Die NATO muss die Grundlage unserer kollektiven Verteidigung bleiben und auch
in Zukunft die Garantie für Sicherheit und Verteidigung
in Deutschland, aber auch darüber hinaus, darstellen.
Die NATO verfügt über ein einzigartiges militärisches
Kräftedispositiv und hat die Fähigkeiten, Konflikte zu
beenden. Ich darf an die Situation auf dem Balkan erinnern: Es war dort erst möglich, befriedend und stabilisierend zu wirken, als die NATO Verantwortung übernommen hat. Wir haben den Einsatz in Bosnien-Herzegowina
jetzt in eine europäische Verantwortung überführt. Aber
wir brauchen im Kosovo weiterhin die Unterstützung der
NATO. Ich hoffe, dass mit einem positiven Ergebnis der
Statusverhandlungen der Prozess der Stabilisierung und
friedlichen Entwicklung dieser Region vorankommt.
Letztlich müssen wir alles daransetzen, dass eine Situation, wie sie in dieser Region, die mitten in Europa liegt,
entstanden ist, nicht wieder vorkommt, indem wir die
Region politisch stabilisieren und dazu beitragen, dass
sie sich friedlich entwickelt - im Interesse Europas, aber
auch im Interesse unseres eigenen Landes.
Die Europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist weiter fortentwickelt worden. Als diese Bundesregierung ins Amt kam, hat niemand voraussehen
können, dass wir in diesem Jahr einen europäisch verantworteten Einsatz im Kongo durchführen würden oder einen, so darf ich sagen, europäisch dominierten Einsatz
im Libanon. Dies zeigt, wie sich auch im Rahmen der
Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik die
Dinge fortentwickelt haben.
Was ich dabei als einen ganz wichtigen, entscheidenden Punkt ansehe, ist, dass NATO und Europäische
Union nicht in Konkurrenz zu sehen sind, sondern in einer partnerschaftlichen Beziehung miteinander stehen.
NATO und Europäische Union bedingen einander, sie
sind keine Konkurrenten. In dieser Art und Weise sollten
wir unsere Sicherheitspolitik auch in Zukunft fortentwickeln.
({13})
Wir haben in diesem Halbjahr die Verpflichtung übernommen - auch das ist ein wichtiger Punkt, der in der
öffentlichen Diskussion oft nicht auftaucht -, für die
Schnelle Einsatztruppe der NATO, die NATO Response
Force, die über insgesamt 25 000 Soldaten verfügt,
6 600 deutsche Soldaten zu stellen. Für die Schnellen
Einsatztruppen Europas, die EU-Battle-Groups, von denen ab dem 1. Januar 2007 unter anderem gemeinsam
mit den Niederlanden und mit Finnland eine bilden, stellen wir 1 500 deutsche Soldaten. Das zeigt, dass hier
eine partnerschaftliche Beziehung zu entwickeln ist. Duplizitäten sind auf jeden Fall zu vermeiden. Denn es hat
niemand die Kraft, Doppelungen vorzuhalten, weil die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen NATO
und Europäischer Union fortzuentwickeln ist. Auf dieser Grundlage wird zu entscheiden sein, welche Schnelle
Einsatztruppe in welchem Gebiet gegebenenfalls zum
Einsatz kommt.
Ein zentraler Punkt dieses Weißbuches ist, dass die
deutsche Sicherheitspolitik auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff beruht. Sie ist vorausschauend und sie
ist multilateral angelegt. Sicherheit kann weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden.
Die Erfahrungen der Bundeswehr im Einsatz zeigen
ganz deutlich, dass unser umfassender Sicherheitsansatz richtig ist. Wenn ich das so sagen darf: Das Konzept
der verbundenen oder der vernetzten Sicherheit spielt
eine zentrale Rolle in diesem Weißbuch, es zieht sich sozusagen wie ein schwarz-rot-goldener Faden durch das
Weißbuch. Ich glaube, dass wir gerade im Rahmen unserer internationalen Verantwortung immer wieder deutlich unterstreichen müssen, dass unsere Sicherheitspolitik militärische, aber auch entwicklungspolitische,
wirtschaftliche, humanitäre, polizeiliche und nachrichtendienstliche Instrumente der Konfliktverhütung und
der Krisenbewältigung integriert. Dies muss auch im
Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen der Fall
sein. Ich bin sicher, dass wir etwa eine Operation wie die
in Afghanistan nur dann erfolgreich bewerkstelligen können, wenn wir nicht nur militärisch Sicherheit herstellen,
sondern auch alles daransetzen, den Wiederaufbau voranzubringen, damit wir die Herzen der Bevölkerung gewinnen, damit man uns nicht als Besatzungsmacht empfindet, sondern als Sicherheitsgaranten, der eine positive
Entwicklung ermöglicht. Nur dann werden wir - das ist
meine felsenfeste Überzeugung - in einem Prozess wie
dem in Afghanistan erfolgreich sein. Ich bin froh, dass
sich diese Überzeugung auch innerhalb der NATO jetzt
doch weitestgehend durchsetzt.
({14})
Meine Damen und Herren, natürlich muss man sich
bei einer vernetzten Sicherheitspolitik immer wieder
auch die Frage stellen, wo sich beispielsweise Berührungspunkte zwischen innerer und äußerer Sicherheit ergeben. Dies hat schon oft zu entsprechenden öffentlichen Diskussionen geführt. Ich will hier nur sagen,
dass wir auch in diesem Weißbuch deutlich gemacht haben, dass es heute neue terroristische Bedrohungen
gibt, für deren Abwehr die Fähigkeiten der Polizei beispielsweise im Hinblick auf die Luftsicherheit und die
Seesicherheit nicht ausreichen, sodass man dort die Fähigkeiten der Bundeswehr zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger nutzen muss. Deshalb erachten wir eine
entsprechende verfassungsrechtliche Änderung für notwendig. Ich bin mir sicher - die Federführung dafür hat
ja der Bundesinnenminister -, dass wir diese auch alsbald gewährleisten können.
Ich glaube, wir haben eine Verantwortung gegenüber
unserer Bevölkerung dafür, dass wir den Schutz optimal
gewährleisten. Niemand von uns will, dass von der Bundeswehr originäre Polizeiaufgaben übernommen werden. Wenn es aber eine terroristische Bedrohung aus der
Luft oder von See her gibt und die polizeilichen Mittel
nicht ausreichen, dann muss man die Möglichkeit haben,
die Fähigkeiten der Bundeswehr zu nutzen, um unsere
Bevölkerung umfassend schützen zu können.
({15})
Meine Damen und Herren, eine aktiv gestaltende Sicherheitspolitik erfordert eine leistungsfähige Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Wir haben eine Verantwortung für rund 360 000 Menschen mit und ohne Uniform,
die in der Bundeswehr tätig sind - sei es im Bereich soldatischen Tuns, sei es im Bereich der zivilen Verwaltung. Die Bundeswehr hat den größten Wandel ihrer Geschichte und aller europäischen Armeen hinter sich.
Wenn ich daran denke, was der Bundestagspräsident einleitend gesagt hat, dann muss ich hinzufügen: Als ich
noch Bundeswehrsoldat war, habe ich den Einmarsch
der Sowjetunion in die Tschechoslowakei und den letzten scharfen Alarm erlebt. Wir haben diese Situation
zum Glück überwunden und wir sind zu einer Armee der
Einheit geworden. Die Bundeswehr hat einen unglaublichen Prozess durchlaufen. Wir haben die innere Einheit
Deutschlands innerhalb der Bundeswehr erreicht. Ich
wäre froh, wenn wir hinsichtlich der inneren Einheit unseres Landes in den anderen gesellschaftlichen Bereichen genauso weit wie die Bundeswehr wären.
({16})
Die Bundeswehr ist zu einer Armee im Einsatz geworden, die auf der Grundlage unserer Philosophie des
Staatsbürgers in Uniform, auf der Grundlage unseres
Grundgesetzes, wie ich es einleitend gerade gesagt habe,
und auf den Grundsätzen der inneren Führung operiert und die ihre Tätigkeit auch weiterhin auf diesen leitenden Prinzipien aufbaut. Jeder Vorgesetzte, der Verantwortung trägt, muss durch sein Verhalten Vorbild sein;
denn nur so kann der richtige Geist in der Truppe vorgelebt werden.
Dies gilt auch hinsichtlich der Traditionen innerhalb
der Bundeswehr. Für uns stehen die preußischen Heeresreformen, der militärische Widerstand gegen das NS-Regime - gestern haben wir das Weißbuch im Stauffenbergsaal verabschiedet -, die Geschichte der Bundeswehr und
die Werte des Grundgesetzes im Mittelpunkt. Das ist die
Grundlage für unsere Traditionen und für die Tradition
der Bundeswehr. In dieser Art und Weise sollten wir die
Bundeswehr auch fortentwickeln.
Ein letzter Gedanke. Ich bin froh darüber, dass wir
vereinbaren konnten, die Bundeswehr auf der Basis der
allgemeinen Wehrpflicht fortzuentwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr ist durch die Wehrpflichtarmee geprägt. Die allgemeine Wehrpflicht stellt
die Verbindung der Bundeswehr mit unserer Gesellschaft dar. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir eine
Übereinstimmung dahin gehend erzielt haben, die Wehrpflichtarmee auch in Zukunft beizubehalten.
({17})
Meine Damen und Herren, ich denke, dass die Leistungen der Bundeswehr - die Einsatzfähigkeit sowohl
im Äußeren als auch zum Schutz unseres Landes - unseren Rückhalt und auch unseren Dank verdienen. Denn
unsere Soldatinnen und Soldaten verteidigen das Recht
und die Freiheit des deutschen Volkes: unser Recht und
unsere Freiheit. Unser Ziel bleibt ein Deutschland, das
auch in der Welt von morgen handlungsfähig, bündnisfähig und gestaltungsfähig ist, ein Deutschland, das sich
im Interesse der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger aktiv für diese Sicherheit einbringt.
Ich danke Ihnen.
({18})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich möchte Ihnen zu Beginn meiner Rede
für die klaren Worte danken, die Sie für die schockierenden Vorgänge gefunden haben, die gestern öffentlich geworden sind und von denen wir noch nicht wissen, welchen politischen Schaden sie anrichten werden. Das ist
alles noch nicht absehbar.
Es hat aber - das will ich deutlich sagen - auch etwas
mit dem Weißbuch zu tun; denn Sie beschreiben im
Weißbuch zu Recht die Prinzipien der inneren Führung, die seit 50 Jahren in der Bundeswehr gelten. Angesichts der Tatsache, dass es diese Prinzipien gibt, ist es
umso alarmierender, dass solche Vorgänge in der Bundeswehr möglich sind.
Ich kann Ihre Feststellung, dass die an solchen Vorgängen Beteiligten wissen müssen, dass es für sie in der
Bundeswehr keinen Platz gibt, nur unterstreichen. Wer
so etwas tut, hat in der Bundeswehr nichts verloren.
({0})
Ich möchte Sie auch hinsichtlich einer schnellen Aufklärung unterstützen. Wir brauchen eine schnelle, umfassende und restlose Aufklärung dieser Vorfälle. Das
sind wir vor allen Dingen all den Soldatinnen und Soldaten schuldig, die sich gegenwärtig in Auslandseinsätzen
befinden, die sich vorbildlich verhalten und eine hervorragende Arbeit leisten. Ihnen sind wir schuldig, dass
diese Vorwürfe gegenüber der Bundeswehr so schnell
wie möglich ausgeräumt werden.
({1})
Wir warten seit Monaten gespannt auf das Weißbuch.
Immerhin muss man konstatieren, Herr Minister, dass
Sie das geschafft haben, woran Rot-Grün gescheitert ist,
nämlich ein Weißbuch vorzulegen. Wer allerdings ein
außen- und sicherheitspolitisches Grundsatzdokument
erwartet hat, das eine längerfristige Orientierung liefert,
die über den Horizont von Regierungen hinausgeht, der
fühlt sich völlig verloren.
In diesem Weißbuch ist keine gesamtpolitische Konzeption erkennbar. Es verliert sich auf vielen Seiten in
der Beschreibung bestehender Strukturen. Wer Antworten auf die Fragen sucht, die Sie selbst zu Beginn in verschiedenen Szenarien aufwerfen, wird dies vergeblich
tun. Da ist an dieser Stelle völlige Fehlanzeige. Sie haben die Chancen, die mit diesem Weißbuch verbunden
waren, schlicht und ergreifend nicht genutzt, meine Damen und Herren von der Koalition.
({2})
Herr Minister, Sie haben sich zu Recht zu den Diskussionen über den UNIFIL-Einsatz geäußert, weil auch
im Weißbuch die Auslandseinsätze noch einmal dokumentiert sind. Sie haben hier festgestellt, dass es im Zusammenhang mit dem UNIFIL-Mandat für die Bundesmarine keinerlei Konditionierung hinsichtlich des
Einsatzes gibt, Herr Minister. Dann möchte ich aber von
Ihnen Auskunft über den schriftlichen Bericht an das
Parlament, den wir aus Ihrem Hause erhalten haben. Was
stimmt denn jetzt? Trifft das zu, was in dem Bericht enthalten ist - nämlich dass Operationen in der Sechsmeilenzone ausschließlich auf Anforderung Libanons möglich sind -, oder das, was Sie hier gesagt haben, Herr
Minister? Darüber brauchen wir als Parlament Aufklärung. Denn dies war einer der zentralen Punkte, die im
Rahmen der Diskussion über das UNIFIL-Mandat eine
Rolle gespielt haben. Selbst die Bundeskanzlerin hat auf
einer Pressekonferenz auf Nachfrage zu der damaligen
Siebenmeilenzone erklärt: Nein, es gibt sie nicht. „Wir
können den gesamten Bereich befahren, wie es erforderlich ist.“ - Das ist O-Ton Bundeskanzlerin Merkel.
Das, was wir nun wissen, bedeutet aber, dass dem
Waffenschmuggel in einer Zone von bis zu 6 Seemeilen
Tür und Tor geöffnet ist und dass die Marine nicht
selbstständig handeln kann. Das ist nicht etwa ein militärisches Detail und keine technische Vereinbarung mit
dem Libanon, Herr Minister. Dieser Aspekt war vielmehr für viele Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses
entscheidend. Sie machen das Gegenteil von dem, was
Sie dem Deutschen Bundestag versprochen haben. Damit wird der Einsatz zur Farce; denn eine effektive Kontrolle des Waffenschmuggels ist nicht mehr möglich.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Bundesregierung, ist Wortbruch gegenüber dem Parlament. Das werden wir nicht dulden.
({3})
Herr Minister, ich hätte mir gewünscht, dass Sie etwas zu dem nun öffentlich gewordenen Zwischenfall mit
der israelischen F-16-Maschine gesagt hätten. Das ist
doch ein kapitaler Vorgang. Wir von der FDP haben immer gesagt: Selbst wenn der Einsatz nur auf See erfolgt,
sind Zusammenstöße - auch mit den Israelis - nicht ausgeschlossen. Die Bundesmarine ist noch keine zehn
Tage im Einsatz und schon müssen Sie den ersten Zwischenfall einräumen.
({4})
Egal ob es nun so war, wie es im Verteidigungsausschuss
des Bundestages dargelegt wurde, oder ob die Darstellung der Israelis stimmt, es ist ein Zwischenfall. Das,
wovor wir gewarnt haben, ist damit bereits Realität geworden.
({5})
Ich hätte erwartet, dass Sie hier zur Aufklärung dieses
Vorfalls beitragen, Herr Minister. Wir verlangen Aufklärung und Information des Parlaments.
({6})
Ich möchte einen weiteren Aspekt aufgreifen. Wir haben eine Armee im Einsatz; der Minister hat darauf hingewiesen. Unsere Armee ist an elf Auslandseinsätzen in
sechs verschiedenen Regionen der Welt beteiligt ist. Dafür brauchen wir eine Armee, die hervorragend ausgebildet ist, die über schnelle Reaktions- und Verlegefähigkeiten verfügt sowie aus eingespielten Teams besteht.
Herr Minister, dieses Weißbuch hätte Ihnen die Chance
eröffnet, endlich die Weichen für die Aufstellung einer
Freiwilligenarmee zu stellen, die den neuen Herausforderungen gerecht wird. Aber das haben Sie nicht getan.
Stattdessen versuchen Sie weiterhin, die Wehrpflicht zu
legitimieren und die Zahlen zu schönen. Wenn aber
60 Prozent der wehrfähigen jungen Männer gar keinen
Dienst mehr leisten, hat das mit Wehrgerechtigkeit
nichts mehr zu tun. Angesichts dieser Tatsache hätten
Sie die durch das Weißbuch eröffnete Chance nutzen
müssen.
({7})
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die innere
und die äußere Sicherheit. Herr Minister, Sie sagen, das
könne man nicht mehr messerscharf trennen. Das ist völlig richtig; diese Feststellung teilen wir. Aber was folgt
denn daraus? Wird der Verteidigungsfall auch auf das
Inland ausgeweitet oder soll die Bundeswehr der Polizei
im Rahmen der Amtshilfe in irgendeiner Form helfen?
Man hätte im Zusammenhang mit dem Weißbuch die
Chance nutzen müssen, die Diskussion über einen Bundeswehreinsatz im Innern und die Verunsicherung der
Bundeswehr durch eine klare Formulierung ein für allemal zu beenden. Meine Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, das alles hat aber die Bundesregierung
nicht geschafft.
Frau Kollegin!
Ja, Herr Präsident. - Es ist nach wie vor offen, wie es
weitergehen soll. Dieser Streit tut der Bundeswehr in
keiner Weise gut.
Ich fasse zusammen: Das heute im Deutschen Bundestag vom Bundesverteidigungsminister vorgelegte
Weißbuch ist ein Dokument verpasster Chancen.
({0})
Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege
Walter Kolbow.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Fraktion begrüßt das von der Bundesregierung vorgelegte Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands
und zur Zukunft der Bundeswehr. Wir würdigen die Arbeit des federführenden Verteidigungsministers ebenso
wie die gestaltende Mitwirkung des Außenministers, der
Justizministerin und des Innenministers.
({0})
Leider wird dieses gute und sichtbare Zeichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes von
den schockierenden Bildern deutscher Soldaten bei einer
Totenschändung in Afghanistan überschattet. Auch ich
unterstreiche wie die Kollegin Homburger vor mir das
von Ihnen, Herr Bundesminister Jung, hierzu Gesagte.
Wir klären unverzüglich auf und wir haben nachdrücklich dafür zu sorgen, dass wir unseren Soldaten Werte
und Verhaltensweisen in Ausbildung und Erziehung mitgeben, die schon Gegenstand der bisherigen Praxis sind,
die aber immer wieder - das hat dieser Vorgang gezeigt - überprüft werden müssen. Die Ausbilderinnen
und Ausbilder und die Vorgesetzten in der Bundeswehr
müssen darauf achten, dass diese Werte angewandt werden, und dazu bedarf es der Dienstaufsicht vor Ort.
({1})
Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang aktuell;
denn es unterstreicht die innere Führung als leitendes
Prinzip der Bundeswehr. Sie geht davon aus, dass - ich
zitiere die Funktionsbedingungen einsatzfähiger Streitkräfte mit den freiheitlichen Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats in Einklang zu bringen
sind. Gerade vor dem Hintergrund der Besonderheiten des militärischen Dienstes ist es wichtig, dass
die Soldatinnen und Soldaten über eine enge und
bewusste Bindung an die in der Verfassung verankerten Werte und Normen verfügen. Nur wer die
freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv
anerkennt, kann sie mit Überzeugung verteidigen.
Das gilt auch bei den Auslandseinsätzen für die Achtung
der Würde und der Menschenrechte der Kulturen, auf
die unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren Friedenseinsätzen im Ausland treffen.
({2})
Frau Kollegin Homburger, auch die Art und Weise,
wie man an ein Weißbuch herangeht und wie man es
liest, prägt das Ergebnis. Ich denke, dass Sie nicht voll
aufgearbeitet haben, was im Weißbuch auch im Zusammenhang mit unseren aktuellen Beratungen und Beschlüssen im Parlament zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus steht, was zur Bedeutung der
transatlantischen Partnerschaft mit dem Bezug zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der NATO ausgeführt
wird und was - ich ergänze den Bundesminister der Verteidigung - zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Europa mit der Bedeutung der Europäischen
Union und mit der zentralen vertraglichen Festlegung
von „Berlin Plus“ und „NATO first“ gesagt wird, qualitätsmäßig ergänzt um die Europäische Union mit ihren
Möglichkeiten.
({3})
Wenn man in das Weißbuch schaut, trifft man auf die
Fragen, die zwar nicht abschließend geregelt, aber mit
Substanz im Inhalt vorhanden sind, nämlich wie es sich
mit der Energieversorgung und mit der nationalen und
internationalen Sicherheit verhält, wie die Fragen der
Migration zu behandeln sein werden und wie die Frage
der Demografie und die, wie sich jüngere Gesellschaften
im Vergleich zu alternden entwickeln, zu beantworten
sind. Das geht die Sicherheit im 21. Jahrhundert an. Wir
von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sind
sehr zufrieden, dass Jaap de Hoop Scheffer gestern vor
der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gesagt hat, dass
das Weißbuch Realität mit Vision verbindet und dass wir
ein sicherheitspolitisches Grundlagendokument zustande gebracht haben, das mit der Festschreibung eines
erweiterten Sicherheitsbegriffs zur Entmilitarisierung
der Sicherheitspolitik beiträgt.
({4})
Es wird das gesamte Spektrum der zur Verfügung stehenden politischen Instrumente benannt. So umfasst endlich gesamtstaatliche und kohärente Sicherheitspolitik
die politischen und diplomatischen Initiativen genauso
wie die wirtschaftlichen, die entwicklungspolitischen,
die rechtsstaatlichen, die polizeilichen, die humanitären,
die sozialen und schließlich auch die militärischen Maßnahmen. „Das Militär nur ein Element der Sicherheitspolitik“, titelt die „FAZ“ also folgerichtig. Das gilt sowohl
auf nationaler Ebene für die ressortübergreifende Zusammenarbeit als auch auf internationaler Ebene, insbesondere für die Zusammenarbeit von NATO, Europäischer
Union und Vereinten Nationen.
Zu Recht ist im Weißbuch auch das von der Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegte Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ enthalten.
Denn erst dann, wenn zivile Krisenprävention und Konfliktregelungen gescheitert oder ohne konkrete Erfolgsaussichten sind, kann der Einsatz militärischer Mittel in
Betracht gezogen werden. Allerdings schließt politisches
Handeln den vorbeugenden militärischen Einsatz nicht
aus, wenn dadurch verbesserte Bedingungen für Hilfeleistungen und zivile Konfliktregelungen geschaffen
werden können.
Meine Damen und Herren, im ersten Weißbuch seit
1994 wird die deutsche Sicherheitspolitik in ihren strategischen Rahmenbedingungen sowie in ihren Werten, Interessen und Zielen erläutert. Die Bundesregierung unterstreicht im Weißbuch, dass eine vorausschauende und
nachhaltige Sicherheitspolitik, die erfolgreich sein will,
zivile und militärische Instrumente aufeinander abstimmen und zum Einsatz bringen muss. Die Bundeswehr ist
eines dieser Instrumente.
Unsere Bundeswehr ist sichtbarer Ausdruck der Bereitschaft unseres Landes, Frieden und Sicherheit zu bewahren sowie die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger
zu verteidigen. Im Weißbuch wird eine Bundeswehr beschrieben, die durch den größten Wandel ihrer Geschichte gegangen ist und sich durch die Transformation
konsequent an den Erfordernissen des Einsatzes ausrichtet.
({5})
Im Ergebnis wird deutlich, dass die Bundeswehr leistungsstark, modern und hoch motiviert ist, als unverzichtbarer Teil einer vernetzten Sicherheitspolitik ihren
Beitrag zur gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge
leistet und ihre bewaffneten Einsätze - auch das zeigt
sehr deutlich, dass das Weißbuch ein Grundsatzdokument ist - auf der Grundlage eines völkerrechtlichen
Mandates und des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen sowie der konstitutiven Zustimmung dieses Hauses
auf den Weg gebracht werden können.
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Aus dem
Richterrecht des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
Juli 1994 ist das verlangte Parlamentsbeteiligungsgesetz
entstanden, in dem der Bundestag die entsprechenden inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Grundlagen für
seine konstitutive Beteiligung an Entscheidungen über
Auslandseinsätze geregelt hat. Mit dem Recht zur Entsendung sind auch Kontrollaufgaben des Parlamentes
verbunden, die nicht allein Holschulden des Parlaments,
sondern auch Bringschulden der Bundesregierung darstellen.
({6})
Mit ihrer erklärten Bereitschaft, dies in entsprechender
Weise beim zu verlängernden Mandat Enduring Freedom auch für das Kommando Spezialkräfte zu leisten,
geht die Bundesregierung in die richtige Richtung. Aber
als Parlamentarier sage ich auch: Nichts ist so gut, als
dass es nicht noch besser werden könnte.
({7})
Wir stimmen zu: Die Nordatlantische Allianz ist der
Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In diesem Bündnis ist Amerika eine herausragende
Rolle beizumessen. Im Weißbuch wird aber zu Recht
festgestellt, dass in der NATO eine Diskussion über die
Abschreckung im Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhunderts begonnen hat, deren Ergebnisse zu gegebener Zeit
in ein fortzuschreibendes strategisches Konzept des
Bündnisses einfließen werden; mein Kollege Hans-Peter
Bartels wird hierzu noch Ausführungen machen.
Ich will für meine Fraktion feststellen, wie wichtig es
für uns ist, dass im Weißbuch die Problematik der
nuklearen Teilhabe in untrennbarem Zusammenhang
mit den abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Zielen der Bundesrepublik Deutschland steht
({8})
und sich die Bundesregierung ausdrücklich zu dem strategisch-politischen Ziel bekennt, weltweit alle Atomwaffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen zu
ächten und abzuschaffen.
({9})
Wir wollen, dass Rüstungskontrolle ein wichtiges Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen ist. Wir
unterstreichen die Formulierung des Koalitionsvertrages, in dem es heißt:
Vertraglich abgesicherte Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind zentrale Anliegen
der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Wir halten an dem langfristigen Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen
fest. Wir setzen uns für nukleare Abrüstung und die
Stärkung des internationalen Nichtverbreitungsregimes ein.
Denn es gilt weiterhin: Abrüstung ist das beste Mittel
zur Kriegsverhütung.
({10})
Der guten politischen Ordnung halber werfe auch ich
zum Abschluss einen Blick auf die Frage des Einsatzes
der Bundeswehr im Inneren. Hier decken sich die Vorschläge des Bundesministers der Verteidigung mit unserer Auffassung, die Streitkräfte nur in dem engen Bereich der Luft- und Seesicherheit einzusetzen, wenn dies
die Mittel der Polizei nicht erlauben. Einer Klarstellung
im Grundgesetz stimmen wir zu, wenn sie über Art. 35
erfolgt. Hier sehen wir, wie die Bundesregierung, die
Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens. Die jüngsten Stellungnahmen der Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes und der Gewerkschaft der Polizei zu diesem Thema bestärken uns im
Übrigen in dieser Position.
Die SPD-Fraktion stellt sehr zufrieden fest, dass im
Weißbuch 2006 der Transformationsprozess der Bundeswehr, den die Verteidigungsminister Rudolf Scharping
und Peter Struck begonnen haben und der in den Verteidigungspolitischen Richtlinien Peter Strucks von 2003
eindrucksvoll belegt ist, fortgesetzt wird. Das Weißbuch
ist also auch ein eindrucksvolles Dokument für die
Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik der
Bundesregierung und eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
im 21. Jahrhundert.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich steht die Debatte um das Weißbuch
unter dem Vorzeichen der schrecklichen Bilder, die man
gestern in der Presse gesehen hat. Ich kann mich hier nur
dem anschließen, was der Kollege Verteidigungsminister, der gerade anderweitig beschäftigt ist, gesagt hat: Ich
würde solche Bilder nie allen Angehörigen der Bundeswehr anrechnen. Dem muss man sich verweigern.
Ich stelle mir aber eine andere Frage: Was muss in
den Köpfen von jungen Menschen vorgegangen sein, damit es zu einer derartigen Verrohung und Entmenschlichung kommen konnte?
({0})
- Möglicherweise gar nichts, aber möglicherweise doch
etwas, auch persönliches Erleben. - Ich denke, dass in
diesen Handlungsweisen zum Ausdruck kommt, dass
Krieg und Gewalt und das Erleben von Krieg und Gewalt zu Verrohung und Entmenschlichung führen können. Das ist das eigentliche Problem.
({1})
Deswegen sage ich ganz ehrlich, Herr Verteidigungsminister: Unsere Weigerung, Auslandseinsätzen zuzustimmen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor solchen
Prozessen schützen wollen. Wir sind viel solidarischer
mit diesen jungen Menschen, als Sie es mit Ihrer Politik
sind. Das muss hier ausgesprochen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag ist
immer für Kontrastprogramme gut. Letzte Woche - gleicher Wochentag, gleiche Uhrzeit - hatten wir die Debatte über Abrüstung. Jemandem, der für Abrüstung ist,
konnte da das Herz aufgehen. Es soll abgerüstet werden.
Der Außenminister hat gesagt: Abrüstung kommt auf die
Tagesordnung. Diese Woche - gleicher Wochentag, gleiche Uhrzeit - haben wir die Debatte über das Weißbuch.
Hier erleben wir das Gegenteil. Das Weißbuch ist ein
knallhartes Konzept von Auf- und Umrüstung und weltweiten Militäreinsätzen. Jetzt, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD und der Grünen, muss man sich entscheiden: Will man ein Konzept der Militarisierung
oder will man ein Konzept der Abrüstung? Ich habe den
Eindruck, letzte Woche haben wir unverbindlich diskutiert, diese Woche werden mit dem Weißbuch knallharte
Fakten geschaffen. Dieser Politik des Weißbuches werden wir uns im Parlament und außerhalb des Parlamentes widersetzen. Verwechseln Sie nicht Mehrheiten im
Saal mit Mehrheiten im Leben.
({2})
Sie haben in der Gesellschaft für die Politik des Weißbuches keine Mehrheit. Dass der Widerstand noch größer
wird, dazu werden wir unseren bescheidenen Beitrag
leisten.
Sie sprechen im Weißbuch über die neue Rolle der
Bundeswehr von einer Nichteinsatzarmee - das war einmal das Verständnis: dass sie nicht eingesetzt werden
darf und nicht eingesetzt werden kann - zu einer Einsatzarmee. Ihre Beschreibung der neuen Rolle der Bundeswehr geschieht vor dem Hintergrund - ich hätte mir
gewünscht, dass das hier offen ausgesprochen wird, Herr
Jung -, dass die Kriege, der militärische Einsatz im Irak
und in Afghanistan militärisch nicht mehr gewonnen
werden können. Das müssen Sie auch der Bevölkerung
sagen.
({3})
Das ist der Zustand, mit dem man es zu tun hat.
Ihr Vorgehen sieht jetzt folgendermaßen aus: Sie erweitern den Sicherheitsbegriff - Sicherheit ist weiter zu
fassen; das ist richtig - und führen das auf militärische
Gründe zurück. Sie sagen: Außenpolitik: auch Aufgabe
der Bundeswehr; Europapolitik: auch Aufgabe der Bundeswehr; Entwicklungspolitik: auch Aufgabe der Bundeswehr; Rohstoffsicherheit: auch Aufgabe der Bundeswehr; Energiesicherheit: auch Aufgabe der Bundeswehr;
Flüchtlingsfragen, Wanderungsbewegungen: auch Aufgaben der Bundeswehr; Sicherung von Handelswegen:
auch Aufgabe der Bundeswehr.
Man kann nicht darüber hinwegsehen: Die im Weißbuch enthaltene Forderung, den verfassungsrechtlichen
Rahmen zu erweitern, zielt auf die Schaffung der Möglichkeit, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Dagegen, Kolleginnen und Kollegen der SPD, sind Sie einmal
Sturm gelaufen. Bekennen Sie sich einmal!
({4})
Wenn in allen gesellschaftlichen Bereichen Militär
eingesetzt werden soll, dann nennt man das politisch
„Militarismus“. Im Gegensatz zum Kollegen Kolbow,
der davon spricht, dass mit dem Weißbuch das Anliegen
der Demilitarisierung verfolgt wird, behaupte ich: Das
Weißbuch ist ein Ausdruck von Militarismus; die Bundeswehr soll in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam werden. Das ist nicht ihre Aufgabe. Das steht nicht
im Grundgesetz.
({5})
Das deformiert die Gesellschaft selbst.
({6})
Es soll an der Wehrpflicht festgehalten werden und
- was ich besonders pikant finde - auch an der atomaren
Teilhabe.
Auch da finde ich die Argumentation ganz spannend:
Wir wollen die atomare Teilhabe eigentlich nicht, weil
wir eigentlich abrüsten wollen; aber vorsichtshalber halten wir an ihr fest. Das ist doch keine Logik. Auch das
führt zu einer weiteren Aufrüstung.
Ich glaube, dass es notwendig ist, hier ein gegenteiliges Konzept vorzulegen. Wenn es nach dem Grundgesetz ginge - bei seiner Schaffung ging man eigentlich
von der Verteidigungsaufgabe aus -, könnte man heute
hier darüber diskutieren, die Bundeswehr in mittelfristigen Schritten aufzulösen.
({7})
Das wäre die politische Alternative. Solchen Debatten
stellen Sie sich aber überhaupt nicht, weil Sie davon ausgehen, dass wir Teil des Krieges gegen den weltweiten
Terror geworden sind.
Wir haben immer gesagt: Der Kampf gegen den Terror kann gewonnen werden. Ein Krieg gegen den Terror
aber führt zu solchen Bildern aus Afghanistan, wie wir
sie gesehen haben. Das ist die Katastrophe dieses Krieges.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Siebert, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich möchte Sie bitten, Ihren Mitarbeitern,
die so schnell - innerhalb von nur 24 Stunden - für Aufklärung gesorgt haben, unseren Dank und unsere Anerkennung zu übermitteln.
({0})
Diese abstoßenden Fotos sind nicht nachvollziehbar
und widern uns alle an. Für uns Christdemokraten ist
diese Totenschändung auf das Äußerste zu kritisieren
und mit Abscheu zu behandeln. Diejenigen, die dies zu
verantworten haben, sind disziplinarisch und gerichtlich
auf das Schärfste zu verurteilen. Für diese Fälle, die drei
Jahre zurückliegen, darf es keinen Spielraum und keinen
Freiraum geben. Aber wir dürfen bei aller berechtigten
Kritik und bei der Darstellung der Abscheu nicht übersehen, dass viele tausend Soldaten in besonderer Weise
ihre Aufgaben gut erfüllt haben, gut ausgebildet wurden
und sich vorbildlich verhalten haben, als sie für uns im
Ausland ihren Einsatz ausgeführt haben.
({1})
Sie haben das Ansehen Deutschlands vermehrt. Deswegen will ich an dieser Stelle diesen Soldaten meinen
Dank und mein Lob aussprechen.
Wir diskutieren heute über das Weißbuch.
Die Bundesregierung
- so steht es in der Koalitionsvereinbarung wird bis Ende 2006 unter Federführung des Bundesministers der Verteidigung ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der
Bundeswehr vorlegen. Dieses Weißbuch beinhaltet
auch eine Festlegung der Aufgaben und der Zusammenarbeit der für Sicherheit verantwortlichen Institutionen innerhalb einer umfassenden nationalen
Sicherheitsvorsorge. Auf dieser Grundlage wird die
seit der deutschen Einheit kontinuierlich durchgeführte Weiterentwicklung der Bundeswehr so fortBernd Siebert
geführt, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben im sicherheitspolitischen Umfeld des 21. Jahrhunderts
erfolgreich wahrnehmen können.
Vor einem Jahr haben wir genau diese Formulierung
in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen und stellen
heute fest: Diese Bundesregierung hat Wort gehalten und
hat in einem Jahr genau das umgesetzt, was sie sich vorgenommen hat. Dafür kann man der Bundesregierung
nur in aller Deutlichkeit gratulieren, liebe Frau Bundeskanzlerin.
({2})
Das, was wir heute debattieren, ist alles andere als
eine Routineveranstaltung. Das letzte Weißbuch einer
Bundesregierung stammt vom 5. April 1994 und wurde
noch vom damaligen Bundesminister Volker Rühe vorgestellt. Seither hat sich sowohl das sicherheitspolitische
Umfeld als auch die Zahl der Einsätze unserer Bundeswehr deutlich erhöht und sich die Lage insgesamt verändert, ohne dass es bisher zur Fortschreibung des Weißbuches gekommen ist. Allein schon aus diesem Grund ist
das Weißbuch 2006 auch für diese Koalition ein großer
politischer Erfolg. Darauf können die Koalitionsfraktionen, so meine ich, mit Recht stolz sein.
({3})
In der Analyse und Bewertung der tief greifenden
Veränderungen in den letzten zwölf Jahren hat die Koalition große Einigkeit erzielt und damit politische Handlungsfähigkeit demonstriert. Ich bin über das Einvernehmen zur Bedeutung der nordatlantischen Allianz und der
Europäischen Union sowie zum Konzept „Vernetzte Sicherheit“ und dem damit verbundenen Willen zur Intensivierung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf
nationaler Ebene dankbar.
Ich bin außerdem für das klare Bekenntnis zur Beibehaltung der Wehrpflicht dankbar. Ihre Bedeutung für
das innere Gefüge und den Geist der Bundeswehr ist ungebrochen. Unsere Wehrpflichtigen dienen der Demokratie. Sie nehmen dafür Einschnitte in ihre persönliche
Lebensplanung in Kauf. Dafür gebührt ihnen die Anerkennung der gesamten Gesellschaft.
({4})
Das Weißbuch bekräftigt damit die Aussagen im
Koalitionsvertrag. Dort heißt es:
Die Bundesregierung bekennt sich zur Allgemeinen
Wehrpflicht. Diese Dienstpflicht ist nach wie vor
die beste Wehrform. Sie bestimmt Entwicklung und
Selbstverständnis der Bundeswehr und dient der
Verklammerung zwischen Streitkräften und Gesellschaft.
({5})
Dieses Weißbuch, lieber Herr Nachtwei - das werden
wir in kleinen Diskussionskreisen immer wieder deutlich
machen; so weit sind Sie gar nicht davon entfernt -, soll
eine breite sicherheitspolitische Debatte in unserem
Land anstoßen. Es darf nicht nur exklusiven Zirkeln von
Experten vorbehalten sein, über die Rolle Deutschlands
in einer veränderten Welt und die Aufgaben der Bundeswehr im internationalen Kontext nachzudenken. Wir
brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens über
das, was Sicherheit und Verteidigung ausmachen. Mit
der Herausgabe des Weißbuchs wird dieser Prozess begonnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es
hätte wenig Sinn gemacht, hier über einen zwischen den
beteiligten Ressorts der Bundesregierung noch nicht abgestimmten Entwurf zu diskutieren. Dass die Debatte
erst heute, nach Verabschiedung des Weißbuchs, stattfindet, ist deshalb keine Missachtung der parlamentarischen Rechte, sondern inhaltlich und prozedural der
einzig richtige Weg. Schließlich handelt es sich bei dem
Weißbuch um ein Dokument der Bundesregierung, also
der Exekutive. Die Tatsache, dass die Bundeswehr unzweifelhaft eine Parlamentsarmee ist und auch bleiben
wird, ändert daran nichts. Wer von einer Missachtung
der parlamentarischen Rechte spricht - wie Sie das getan
haben -, tut dies wider besseres Wissen; denn auch bei
allen neun Vorgängern des neuen Weißbuchs seit 1969
war das jetzt praktizierte Verfahren üblich.
({6})
- Das war im Übrigen, Frau Homburger, jahrzehntelang
auch die Auffassung der FDP, solange sie in der Regierungsverantwortung war.
({7})
Ich danke den Beteiligten, insbesondere dem mit der
Federführung beauftragten Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, dafür, dass der Zeitplan trotz
der zuweilen aufgetretenen Nervosität in der politischen
Debatte eingehalten werden konnte. Das ist - dies sollte
man auch deutlich machen - ein persönlicher Erfolg des
Ministers. Dazu gratuliert Ihnen herzlich die CDU/CSUFraktion, Herr Minister.
({8})
Die Nervosität war bei dem Reizthema Einsatz der
Bundeswehr im Innern besonders groß. Es war zu keiner Zeit Absicht der Union, die Bundeswehr zu einer
Hilfspolizei zu machen.
({9})
Es ging uns immer nur darum, die begrenzten Ressourcen, die in unserem Land in verschiedenen Organisationen vorhanden sind, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der Dimension Sicherheit verfügbar zu
machen. Dabei sind auch die Fähigkeiten der Bundeswehr einzubeziehen, die sie im Ausland ohne Probleme
einsetzen kann.
Die Bundeswehr ist durch Auslandseinsätze und
Transformation bereits mehr als genug strapaziert, sodass sie nicht noch zusätzliche Aufgaben wahrnehmen
kann. Deshalb begrüße ich, dass aufgrund der mit dem
Weißbuch begonnenen Debatte in der Bundesregierung
jetzt ohne Reflexe über eine Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens gesprochen wird. Ziel dieses
Dialogs muss die Erhöhung der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sein. Diesem Ziel sollten wir uns
ungeachtet aller politischen Meinungsunterschiede verpflichtet fühlen.
Die Veröffentlichung des Weißbuchs ist auch mit
Blick auf die bevorstehende deutsche Ratspräsidentschaft wichtig. Sie ermöglicht der Bundesregierung, auf
die politischen Prozesse in NATO und EU gestalterisch
Einfluss zu nehmen und zudem die nationalen Interessen
wirkungsvoll einzubringen. Das Weißbuch hat damit
eine nicht zu unterschätzende außenpolitische Signalwirkung auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus.
({10})
Der transatlantische Verbund bleibt für uns eine wesentliche Grundlage für die deutsche und europäische
Sicherheit. Er ist der Rahmen für die Verteidigung gemeinsamer Werte unter Beteiligung unserer nordamerikanischen Verbündeten. Darüber hinaus bleiben die
europäische Integration und die Fundierung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wesentliche
sicherheitspolitische Ziele.
Ich begrüße ausdrücklich, dass es gelungen ist, die
deutschen Sicherheitsinteressen einvernehmlich zu definieren. Es ist weder eine Missachtung multinationaler
Organisationen noch ein Widerspruch zu unserem
grundsätzlich multilateralen und integrativen sicherheitspolitischen Ansatz, wenn wir dies so tun, wie wir
das beschrieben haben. In anderen Ländern steht es völlig außerhalb jeder Diskussion, dass nationale Interessen
zur Grundlage des eigenen Handelns gemacht werden.
Als vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft sollte Deutschland dies ebenfalls mit hinreichendem Selbstbewusstsein angehen können.
Wir können und wollen die Bundeswehr nicht überall
in der Welt einsetzen. Allein schon die knappen Ressourcen setzten hier klare Grenzen. Aber wir müssen uns
darauf einstellen, dass wir uns Konflikten vermehrt dort
stellen, wo sie entstehen. Es ist auch im nationalen Interesse, Krisen frühzeitig zu entschärfen, bevor sie unser
Land erreichen und sie weit gravierendere Auswirkungen haben.
({11})
Ungeachtet dessen muss die Bundesregierung jeden
Auslandseinsatz gut und überzeugend begründen, um
größtmögliche Solidarität in unserer Bevölkerung und
damit größtmögliche Rückendeckung für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zu erreichen. Das heute
debattierte Weißbuch gibt den Angehörigen der Bundeswehr ein Stück weit mehr Rechtssicherheit.
Gerade auch vor dem Hintergrund einer wachsenden
Zahl an Auslandseinsätzen ist inzwischen die Erkenntnis
weit verbreitet, dass die Bundeswehr hier und dort Probleme hat, den gestiegenen Herausforderungen gerecht
zu werden. Nicht jedes Problem ist mit mehr Geld zu lösen, doch mit Moral allein wird es auf Dauer auch nicht
gehen. Wir können nicht nur die Messlatte beständig höher legen, sondern müssen auch die Bundeswehr materiell so ausstatten, dass sie nicht dauerhaft von der Hand
in den Mund leben muss. Vor allem die Ausstattung der
Einsätzkräfte mit geschütztem Transportraum liegt uns
besonders am Herzen.
Wir stehen nicht am Ende, sondern am Beginn einer
Entwicklung. Die Resonanz und die Ergebnisse der nun
einsetzenden Debatte im parlamentarischen, öffentlichen
und internationalen Bereich - ich bitte darum, dass sie
geführt wird; wir können die öffentliche Debatte mit
kontroversen Diskussionen in Gang setzen - werden bei
der Weiterführung des Weißbuchprozesses, bei den zukünftigen Entscheidungen im sicherheitspolitischen Bereich selbstverständlich Eingang finden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines ist
in der heutigen Debatte gut: Wir stimmen offensichtlich
bei der Bewertung der Bilder, die wir gestern in einer
Zeitung gesehen haben und die uns wohl noch einige
Zeit beschäftigen werden, überein. Man muss dazu ganz
klar sagen: Diese Bilder sind entsetzlich. Die Verhaltensweisen, die man dort erkennt, stehen diametral entgegengesetzt zum Auftrag eines Bundeswehrsoldaten, zu dem,
was den Soldaten in der Ausbildung beigebracht wird,
und zum Verhalten der allermeisten Soldaten im Auslandseinsatz. Ich glaube, hier besteht Übereinstimmung.
Es ist richtig und gut, dass jetzt aufgeklärt wird und
Konsequenzen gezogen werden, dass klargestellt wird:
Menschen mit solchen Verhaltensweisen gehören nicht
in die Bundeswehr.
({0})
Mich persönlich beschäftigt hierbei auch folgende
Frage: Was denken sich diese Menschen im Hinblick auf
ihre Kollegen? Ein solches Verhalten deutet darauf hin,
dass man sich gar keine Gedanken darüber macht, was
eigentlich den Kollegen passiert. Diese Bilder gehen per
Internet in Sekundenschnelle um die Welt und führen
faktisch zu einer Steigerung der Gefährdung der Soldaten im Auslandseinsatz. Auch das ist ein Ärgernis.
({1})
Wir wollen aus diesen Vorfällen keine Rückschlüsse
auf das Ganze ziehen. Allerdings muss man in diesem
Zusammenhang die Frage stellen: Welche Anforderungen werden heute an Soldaten im Auslandseinsatz gestellt? Diese Frage beschäftigt uns, wenn wir heute über
das Weißbuch diskutieren. Herr Jung, eines ist klar: Das
Weißbuch war nach den Bundeswehreinsätzen im KoRenate Künast
sovo, im Kongo, in Afghanistan und im Libanon längst
überfällig. Die Öffentlichkeit möchte nämlich wissen:
Wohin führt uns das? Was bringt uns das? Im Zweifelsfalle fragt sie sich: Wie lösen wir Probleme? Wie kommen wir da wieder raus?
Es war längst überfällig, Antworten auf die zentralen
Fragen der Sicherheitspolitik zu bekommen. Das Problem ist nur: Dieses Weißbuch der Bundesregierung gibt
keine Antworten auf die Schlüsselfragen.
({2})
Was fehlt, ist eine wirklich kritische Bilanz der letzten
15 Jahre. Im Weißbuch werden zwar ständig die neuen
Risiken durch internationalen Terrorismus und zerfallende Staaten betont; aber aus den konkreten Erfahrungen der bisherigen Auslandseinsätze werden keine
Schlussfolgerungen gezogen oder aufgrund dessen Veränderungen herbeigeführt.
Dieses Weißbuch liefert weder klare Antworten auf
die Kernfragen noch Richtungsentscheidungen. Was genau ist denn die Rolle der Bundeswehr angesichts des internationalen Terrorismus? Wie kann der Übergang von
einem Stabilisierungseinsatz der Bundeswehr hin zum
Peace-Building, zum Nation-Building erfolgen und was
ist die Rolle der Bundeswehr dabei? Wie muss eine Armee beschaffen sein, die solche Kriseneinsätze meistern
soll? Wie stellt man im Übrigen sicher, dass bei gemeinsamen Einsätzen auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht
von allen eingehalten wird?
({3})
Das sind höchst komplizierte Fragen, die sich gerade im
Fall Afghanistan jetzt wieder stellen.
Wir stellen nicht in Abrede, dass der Kampf gegen
den internationalen Terrorismus auch mit militärischen
Mitteln geführt werden muss; aber wir wissen doch, dass
gedanklichen Vorrang immer die zivilen Mittel haben
müssen.
({4})
Die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts muss ohne Ausnahme gewährleistet
werden. Ich weise nur darauf hin, dass der Military
Commissions Act, den der US-Präsident vor wenigen
Tagen, im Oktober, unterzeichnet hat, ein massiver
Rückschritt im Antiterrorkampf ist; denn er stellt genau
dieses menschenrechtliche Vergehen infrage.
({5})
Er stellt ein Verhalten von dort eingesetzten Soldaten
straffrei, das eigentlich strafbewehrt sein müsste, und er
erlaubt Vernehmungsmethoden, die nach unserer Definition Folter sind. Auch damit muss man sich auseinander
setzen.
Das werden wir im Zusammenhang mit Enduring
Freedom kritisch tun; aber auch im Rahmen eines Weißbuches muss doch die Frage gestellt werden: Halten sich
bei solchen internationalen Einsätzen alle Beteiligten an
die Regeln, die für uns zwingend und bindend sind?
({6})
Meine Damen und Herren, dieses Weißbuch hat Leerstellen. Es geht zwar von einem umfassenden Sicherheitsbegriff aus und proklamiert eine kohärente Strategie, liefert sie aber nicht. Zwar wird der maßgeblich von
uns Grünen vorangetriebene Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ angeführt; aber es gibt an keiner Stelle eine
systematische Vernetzung der Ansätze. Es ist klar, dass
es Frieden ohne Entwicklung und Entwicklung ohne Sicherheit nicht gibt; das gehört zwingend zusammen.
Aber in diesem Weißbuch haben wir nur zusammengeheftete Seiten. Deshalb ist es uns zu wenig.
({7})
Zu Ihren Ausführungen zum Thema Innen und
Außen, Herr Jung, muss ich sagen: Wie kann es in dieser Bundesregierung passieren, dass Frau Merkel angesichts der entsetzlichen Situation in Darfur im Sudan sofort sagt, dafür hätten wir kein Personal, zeitgleich aber
in der Innenpolitik verzweifelt nach neuen und weiteren
Aufgaben gesucht wird?
({8})
Eigentlich ist das bereits geregelt.
Ich sage auch an die Adresse der SPD: Beteiligen Sie
sich nicht an einem Spiel, das in Wahrheit als Türöffner
für eine Änderung des Grundgesetzes dient. Schon heute
steht in Art. 35 Grundgesetz, dass Amtshilfe möglich ist.
Bei schweren Unglücksfällen können die Bundeswehr
und ihr besonderes Gerät zur Amtshilfe herangezogen
werden. Dazu bedarf es keiner Änderung des Grundgesetzes.
({9})
Wir brauchen in diesem Weißbuch vielmehr eine Diskussion über die Beseitigung der Strukturdefizite der
Bundeswehr, über eine integrierte Strategie. Wie müssen die Ausstattung und die innere Führung sein, wenn
die Bundeswehr bei Friedensmissionen eingesetzt werden soll? An dieser Stelle muss man auch die Debatte
über die Wehrpflicht wieder führen. Denn die Frage lautet: Kann ein Wehrpflichtiger diese Aufgaben erfüllen?
Meine und unsere Antwort ist Nein.
({10})
Selbst die Kanzlerin hat in einem „Zeit“-Interview
gesagt, dass die Strukturen der Bundeswehr nicht mehr
zukunftstüchtig seien. Im Weißbuch folgt jedoch nichts
an neuer Weichenstellung. Wie muss mit Blick auf zivile
Missionen - um nur einen Bereich zu nennen - eigentlich die Kapazität bei der Polizei sein, wenn sie unterstützend wirken soll? Wie steht es um die Prioritätensetzung im Haushalt des Verteidigungsministers? Auch da
muss man eigentlich eine neue Schwerpunktsetzung finden, damit nicht Militäreinsätze faktisch immer zum
Politikersatz werden.
Mein letzter Kritikpunkt. Ich bin Herrn Steinmeier
fast dankbar dafür, dass er offensichtlich die Ausführungen zur deutschen Teilhabe an der Atomstrategie entschärft hat. Richtig wäre es aber gewesen, der Teilhabe
Deutschlands an einer Atomstrategie im Weißbuch eine
klare Absage zu erteilen.
({11})
Wir wollen den Eurofighter nicht zu einem Trägersystem
umbauen. Wir wollen immer noch den Abzug sämtlicher
US-Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa.
({12})
Mein Fazit lautet: In diesem Weißbuch werden viele
Schlüsselfragen nicht beantwortet. Es handelt sich wieder einmal um den kleinsten gemeinsamen Nenner der
so genannten großen Koalition. Dieses Weißbuch beinhaltet nur die Chance, dass es Anlass zur Diskussion
gibt, wie in Zukunft integrierte Sicherheitspolitik aussehen muss. Inhaltliches liefert das Weißbuch dazu nichts.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Bartels,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte
Weißbuch, erschienen vor zwölf Jahren, war eine Momentaufnahme kurz nach dem Ende des Kalten Krieges.
Eine neue Standortbestimmung ist also lange überfällig.
Die Einsicht in die neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen bestimmt allerdings schon länger unser
Handeln. Mit dem Weißbuch liegt nun - so könnte man
sagen - ein regierungsamtlicher intellektueller Überbau
vor. Der Bundesregierung, den Ministern Jung und
Steinmeier, sei gedankt. Sie haben gute Arbeit abgeliefert.
Vielleicht sollten wir allerdings, wenn wir heute auf
die nunmehr zehn vorliegenden Weißbücher blicken, uns
für die Zukunft vornehmen, diese sicherheitspolitische
Standortbestimmung künftig etwas regelmäßiger vorzunehmen. Nach der ersten Ausgabe 1969 erschienen die
Weißbücher zunächst nahezu jährlich. Dann wurden die
Abstände Ende der 70er-Jahre größer. Auf Nummer fünf
im Jahre 1975 folgte die Neufassung erst vier Jahre später, also 1979. In den 80er-Jahren erschienen zwei Weißbücher. Dann dauerte es weitere neun Jahre bis 1994.
Jetzt beträgt der Abstand zwölf Jahre.
Ich will diese Reihe nicht fortsetzen; das ist etwas für
Mathematiker.
({0})
Ich will auch nicht anregen, dass wir zur jährlichen Erscheinungsweise der Anfangsjahre zurückkehren. Aber
ein Weißbuch pro Wahlperiode wäre schon gut und wäre
der Bedeutung des Themas angemessen.
({1})
Ich hoffe, wir sind uns in diesem Haus einig, so zu verfahren.
({2})
Was die Inhalte angeht, haben meine Vorredner schon
einiges gesagt. Das Weißbuch ist nicht, wie Renate
Künast vorhin gesagt hat und wie sie gemeinsam mit
Winfried Nachtwei in einem Beitrag für die „Welt am
Sonntag“ geschrieben hat, „der kleinste gemeinsame
Nenner“. Es ist vielmehr das Dokument eines großen
Konsenses.
Positiv hervorzuheben - und vermutlich auch für
Grüne zustimmungsfähig, Frau Künast - ist doch zum
Beispiel das klare Bekenntnis zu einem umfassenden,
nicht aufs Militärische beschränkten Sicherheitsbegriff,
der sich wie ein roter, grüner und jetzt auch schwarzer
Faden durch den Gesamttext zieht. Das ist doch Kontinuität zur Regierung Schröder/Fischer.
({3})
Der gemeinsame Nenner von Rot-Grün wird auch in der
neuen Koalition bewahrt.
Unstrittig ist auch das Bekenntnis zu einem aktiven
Multilateralismus, zu einer Stärkung des Völkerrechts
und zu den Systemen kollektiver Sicherheit: UNO,
NATO, EU.
({4})
Dabei kommt es nicht auf die Reihenfolge im Weißbuch
an. Die NATO, die an erster Stelle steht, ist uns ein alter,
lieber Vertrauter. Das neue Kind EU - genauer: die
ESVP - braucht da noch mehr Beachtung und Pflege.
Wir Sozialdemokraten wollen künftig mehr Europa,
mehr gemeinsame Streitkräfteplanung, mehr Arbeitsteilung, bessere Kooperation bei der Ausrüstung und bei
der Industriezusammenarbeit.
Ausdrücklich begrüße ich die eindeutige Festlegung
auf die Wehrpflichtarmee. „Die Wehrpflicht“, so heißt
es im Weißbuch, „hat sich auch unter wechselnden
sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen uneingeschränkt bewährt.“ So ist es. Sie ist eben nicht - wie von
Liberalen und Grünen gern suggeriert - die Wehrform
für eine bestimmte Konfliktlage, nämlich für den Kalten
Krieg, gewesen, sondern die Wehrform auch für die Bedrohungslage, in der wir uns heute befinden. Das gilt für
die Bundeswehr von heute und für die Bundeswehr der
Zukunft.
({5})
Besser gelungen, als manche Diskussion im Vorfeld
vielleicht vermuten ließ, ist die Definition unserer Interessen. In der Vergangenheit ist immer wieder gefordert
worden, Deutschland möge endlich seine nationalen
Interessen definieren. Mir persönlich blieb dabei oft unklar, was unsere spezifisch deutschen, nationalen Interessen sein sollen. Rohstoffversorgung? Stabilität im
Nahen Osten? Terrorbekämpfung? Verhinderung der
Proliferation? Das sind allesamt politische Ziele, die wir
mit unseren NATO- und EU-Partnern teilen. Das sind
keine spezifisch deutschen Interessen. Wie sollte es auch
anders sein? Schließlich sehen sich alle Länder in
Europa und darüber hinaus den gleichen Bedrohungen
ausgesetzt. Wir sind aufeinander angewiesen, um mögliche Gefahren abwehren zu können.
Was im Weißbuch nun formuliert worden ist, sind im
besten Sinne europäische, westlich-demokratische Interessen, sachlich und nüchtern auf den Punkt gebracht,
Bezug nehmend auf die Werte des Grundgesetzes, ohne
falsches Pathos. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als die Staaten Europas rivalisierende Interessen
gegeneinander, auch mit dem Mittel des Krieges, durchsetzen wollten. Das ist kein ganz kleiner Fortschritt. Es
geht nicht darum, uns einen „Platz an der Sonne“ zu erkämpfen, nicht in Afghanistan, nicht auf dem Balkan,
nicht im Kongo. Es geht vielmehr um die Herstellung
und den Erhalt des Friedens weltweit.
({6})
Dieser Auftrag ergibt sich aus dem Grundgesetz. In
Art. 24 - ich empfehle, gelegentlich nachzulesen - ist
unsere Verpflichtung zum Frieden und zur Herstellung
von Verhältnissen der gerechten Teilhabe aller in dieser
Welt verankert. Sehr richtig ist deshalb auch der Hinweis
des Weißbuches, dass Interessen im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden können.
Zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das ist
wohl das im Vorfeld am ausführlichsten diskutierte
Thema des Weißbuchs gewesen. Mancher Diskutant hat
sich in den zurückliegenden Wochen gerne als Tabubrecher inszeniert, wenn es um Bundeswehr und innere Sicherheit ging. Dabei ist das Thema gar nicht so neu. Vor
fast 40 Jahren sind Verfahren gefunden worden, die den
Grundsatz der Trennung von Polizei und Militär zwar
nicht aufweichen, die den Einsatz der Bundeswehr im
Inland aber in bestimmten Worst-Case-Szenarien ermöglichen, wenn nämlich die demokratische Grundordnung
oder der Bestand des ganzen Landes in Gefahr ist.
({7})
Diese im Grundgesetz vorgesehenen Notstandsregelungen sind geltendes Recht, auch wenn sie glücklicherweise bisher noch nie zur Anwendung gekommen sind.
Sie stehen im Grundgesetz.
Die Amtshilfe der Bundeswehr gemäß den Bestimmungen des Art. 35 ist unstrittige, geübte Praxis, die sich
bei zahlreichen Ereignissen der vergangenen Jahre bewährt hat. Dass wir eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Klarstellung brauchen, um terroristischen Bedrohungen aus der Luft und von der See her
besser begegnen zu können, hat die SPD nie bestritten.
({8})
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir zunächst
das Verfassungsgerichtsurteil abgewartet. Das liegt nun
vor. Karlsruhe hat uns für künftige Regelungen enge
Grenzen gesetzt. Die im Weißbuch angedeutete Möglichkeit, den Art. 35 zu ändern, ist ein denkbarer Weg,
um die notwendigen Neuregelungen im Bereich der
Luft- und Seesicherheit im Grundgesetz zu verankern.
Jenseits dieser klar definierten Ausnahmen bleiben
die Hürden für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern
hoch. So sollte es auch sein, sind Polizeiaufgaben doch
zu allererst Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs.
({9})
Zur nuklearen Teilhabe. Es ist bemerkenswert, dass
im Weißbuch formuliert wird:
Für die überschaubare Zukunft wird eine glaubhafte
Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses neben
konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel bedürfen.
Das kann man mit guten Gründen anders sehen. Letztlich ist die nukleare Teilhabe ein Kind der FlexibleResponse-Strategie der NATO in den späten 60er-Jahren. Das war die Antwort auf einen waffenstarrenden
Warschauer Pakt. Der aber ist seit rund anderthalb Jahrzehnten ein Fall für Historiker.
Den neuen Bedrohungen unserer Sicherheit, die in
dem Weißbuch sehr richtig beschrieben sind, lässt sich
mit Atombomben nicht mehr begegnen. Und doch stehen weiterhin nuklearfähige Tornados der Bundeswehr
bereit, US-Atomwaffen ins Ziel zu fliegen. Aber wohin?
Die politische Begründung wird zunehmend notleidend.
Mit dieser Aussage des Weißbuchs werden wir uns, so
denke ich, in der „überschaubaren Zukunft“ befassen.
Eine letzte Bemerkung zur Parlamentsarmee. Im
Weißbuch verpflichtet sich die Regierung, auch künftig
ihren Beitrag dazu zu leisten, dass das Parlament umfassend und frühzeitig informiert wird. Im Lichte der aktuellen Diskussion über den Einsatz von Spezialkräften in
Afghanistan werden wir die Regierung beim Wort nehmen.
Es ist schon kurios, wenn Mitglieder dieses Hauses
- selbst jene, die dem zuständigen Fachausschuss angehören - aus der Presse erfahren müssen, wann und wo
unsere KSK-Soldaten im Einsatz waren und dass sie es
in den letzten zwölf Monaten unter OEF-Mandat eben
nicht waren.
({10})
- Das stand in der Zeitung. Ich glaube, in diesem Fall war
es der Minister, der dafür sorgte, dass dieses Geheimnis
nicht länger ein Geheimnis blieb; das ist auch richtig. Dennoch muss man feststellen: Diese Information war
bis zu diesem Zeitpunkt als „geheim“ eingestuft. Daher
müssen wir über die Frage diskutieren: Welche Informationen sind realistischer- und sinnvollerweise geheim zu
halten und welche Informationen gehören in die politische Diskussion?
({11})
Unsere Maxime muss dabei lauten - dabei handelt es
sich um eine alte Formulierung aus dem Godesberger
Programm, allerdings um andere Begriffe -: So viel Geheimhaltung wie nötig, so viel Information wie möglich.
({12})
Die Bundeswehr ist nach unserem Grundgesetz eine
Parlamentsarmee. Dies ist nicht nur rechtliche Grundlage, sondern mittlerweile auch gute Tradition und geübte Praxis. Die neue Bundeswehr als Armee im Einsatz
ist ohne den Parlamentsvorbehalt undenkbar. Wenn wir
im Bundestag Einsätze beschließen und damit die volle
politische Verantwortung dafür übernehmen, dann muss
die Unterrichtung des Parlaments so vollständig wie
möglich sein. Je gefährlicher der Einsatz, desto weniger
erfahren wir - so kann, so darf es nicht laufen. Wir werden uns hier um Abhilfe bemühen. Das vorgelegte Weißbuch ist eine gute Grundlage für unseren gemeinsamen
weiteren Weg.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Berg hat gekreißt und mehr als ein Mäuslein geboren.
Das muss man wohl zugeben. Es ist in der Tat beachtlich, dass wieder ein Weißbuch vorgelegt wurde
({0})
und welche Fakten angesammelt worden sind. Gleichwohl ist das vorgelegte Weißbuch als verpasste Chance
zu bewerten, weil sich in ihm nach meiner Auffassung
keine Antworten auf die großen Zukunftsfragen, die wir
zu beantworten haben, finden lassen.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der Kollege
Bartels eine Veränderung der Informationspolitik der
Bundesregierung angemahnt hat. Das fordern auch wir
ein; denn besonders kommunikationsstark ist die Bundesregierung bei diesem Thema weiß Gott nicht.
({1})
Das gilt auch im Hinblick auf das Weißbuch. Mir ist völlig klar: Es ist die Prärogative der Regierung, sich zunächst einmal gemeinsam eine Meinung zu bilden und
erst dann mit dem Parlament und der Öffentlichkeit darüber zu diskutieren. Aber ich finde, es ist ein Zeichen
von Schwäche, dass die Regierung die öffentliche Debatte, auch die mit dem Parlament, im Vorfeld so wenig
gesucht hat. Das war nicht sehr souverän.
({2})
Gegenwärtig ist übrigens noch ein Bundesminister
anwesend; das ist schön, immerhin. Allerdings geht es
heute nicht um das Weißbuch des Verteidigungsministeriums, sondern um das Weißbuch der gesamten Bundesregierung. Daher stellt sich die Frage, wie es vor diesem
Hintergrund zur erforderlichen und hoffentlich möglichen Vernetzung der Schlussfolgerungen für die Politik
kommen soll.
Im vorgelegten Weißbuch wird zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Rahmen der Auslandseinsätze
noch viel stärker als bisher die Vernetzung der verschiedenen Politikfelder organisieren müssen und dass
die militärische Dimension eine wichtige Voraussetzung
für den Erfolg ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch
in anderen Ressorts. Mit der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung scheint allerdings gar keine Kommunikation stattzufinden und der
Außenminister hatte genug Probleme damit, auf die im
Weißbuch getroffenen sicherheitspolitischen Aussagen
für die Zukunft überhaupt Einfluss zu nehmen.
Das Kommunikationsproblem der Bundesregierung
wird auch bei aktuellen Themen deutlich, damit meine
ich nicht die furchtbaren Bilder, über die heute, wie ich
denke, schon genug gesagt worden ist. Es ist schon bemerkenswert, dass wir noch vor wenigen Wochen im
Bundestag fast ausgelacht worden sind, als wir darauf
hingewiesen haben, dass es im Zusammenhang mit dem
Libanoneinsatz zu Situationen kommen könnte, in denen es zwischen Israelis und Deutschen, vielleicht aufgrund von Missverständnissen, zu Konfrontationen
kommen könnte, und es wenige Wochen später so weit
ist. In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses ist natürlich kein Wort darüber verloren worden.
({3})
Da tröstet mich auch nicht, dass es vielleicht Kommunikationsprobleme zwischen den Israelis und den Deutschen oder gar den Franzosen gegeben hat. Wir müssen
das Gesamtbild sehen: Frankreich protestiert in aller
Schärfe - übrigens auch Generalmajor Pellegrini, Kofi
Annans Mann, der derzeitige Kommandeur von UNIFIL dagegen, dass die Israelis ständig den libanesischen
Luftraum und die libanesischen Gewässer überfliegen.
Die Franzosen haben gesagt, dass sie sich das nicht mehr
lange ansehen werden, dass sie sich dagegen wehren
werden. Das heißt, es gibt eine Zuspitzung, bei der
Deutschland plötzlich mittendrin ist. Deswegen muss
darüber geredet werden, wenn es so kritisch wird und
sich die Bedenken der Opposition zu bestätigen scheinen, auch mit dem zuständigen Ausschuss.
({4})
Denn auch das nächste Mandat wird in diesem Deutschen Bundestag auf der Basis einer Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses beschlossen.
Dann ist da die Sache mit der Sechsmeilenzone. Es
darf wirklich nicht wahr sein, dass uns hier wiederholt
versichert wird, dass die Bundesmarine voll handlungsfähig sei, wir aber dann lesen müssen: volle Zuständigkeit von UNIFIL nur außerhalb der Zwölfmeilenzone,
Erlaubnis zu Operationen zwischen 6 und 12 Meilen,
Operationen auf Anforderung Libanons zwischen 0 und
6 Meilen sowie Boarding/Beschlagnahme durch libanesische Kräfte oder in deren Beisein. Das war schön verDr. Werner Hoyer
packt in die reguläre Unterrichtung der Bundesregierung, beschlossen am 12. Oktober. Da kann man das
auch prima verstecken, weil der Informationswert und
Sexappeal dieses Papiers normalerweise nicht wahnsinnig hoch ist. Diesmal hätte man es in der Tat lesen sollen
und frühzeitig Alarm schlagen müssen; denn das ist
keine technische Vereinbarung. Das ist eine Aushöhlung
des Bundestagsbeschlusses, die die Versicherung der
Bundesregierung ad absurdum führt, die Bundesmarine
sei in vollem Umfang handlungsfähig.
({5})
Schon in der Resolution 1701 ist von einer Entwaffnung
der Hisbollah nicht mehr die Rede. Aber auch die Unterbindung eines zukünftigen Waffenzuflusses nach Beirut
ist damit nach meiner Auffassung vom Tisch. Hier muss
sehr viel bessere Kommunikationsarbeit geleistet werden. Die Karten müssen gegenüber dem Parlament offen
gelegt werden.
Wir werden über die Themen, die nach meiner Auffassung nicht hinreichend berücksichtigt sind, noch viel
diskutieren müssen. Ich habe die Vernetzung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Innenpolitik - zum Beispiel bei Polizei und Justiz - und den Streitkräfteaufgaben angesprochen. Wir sehen dieses Problem in
Afghanistan und werden sehr bald darüber sprechen
müssen. Reden und Handeln müssen in Einklang stehen.
Wenn wir sagen, die Polizeiaufgaben seien ein ganz bedeutender Teil der Herausforderungen, denen wir uns in
Afghanistan stellen müssen, dann kann es nicht sein,
dass der Bundesinnenminister sagt: Nächstes Jahr ist
aber Schluss mit dem Einsatz der Polizei dort.
({6})
Ich würde auch gerne wissen, wie die Bundesregierung mit Leben ausfüllen will, dass, wie sie sagt, die
NATO die wichtigste Bühne des sicherheitspolitischen
Dialogs über den Atlantik hinweg ist. Natürlich, das unterschreiben vermutlich fast alle hier. Aber wir müssen
uns einmal darüber unterhalten, welche NATO gemeint
ist. In Riga werden wir über die globale Partnerschaft
mit südostasiatischen Ländern und anderen sprechen.
Was das für die Struktur, für die Rechtsgrundlagen der
NATO, für Art. 5 bedeutet, darüber findet sich kein Wort
im Weißbuch der Bundesregierung. Doch hierüber müssen wir uns eine Meinung bilden. Die Schnittstellen zwischen NATO und EU sind ein weiterer Punkt, der im
Weißbuch nach meiner Auffassung nicht hinreichend
thematisiert worden ist.
Zum Abschluss möchte ich eine uns intellektuell herausfordernde Frage anreißen. Wir wollen die stärkere
Integration der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und wir wollen auch im Rahmen der NATO
militärisch stark integrieren. Die NATO Response Force
und vergleichbare EU-Strukturen werden geschaffen.
Das muss versöhnt werden mit dem Parlamentsvorbehalt, an dem wir Liberale nicht rütteln werden.
({7})
Wo ist die intellektuelle Anstrengung, zu versuchen, beides miteinander zu versöhnen, das heißt, den Parlamentsvorbehalt ohne Wenn und Aber zu wahren, ohne
diese NATO- und EU-Strukturen von vornherein handlungsunfähig zu machen?
({8})
Das sind doch die interessanten Fragen. Dazu hätte ich
mir in diesem Weißbuch mehr gewünscht.
Ich muss leider zum Ende kommen. Ich glaube, wir
haben mit dem Weißbuch eine gute Grundlage für die
weitere Diskussion. Aber insgesamt, glaube ich, ist eine
große Chance verpasst worden.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckart von
Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Es ist von vielen Rednern schon betont worden: Die Vorlage des letzten Weißbuches liegt zwölf Jahre zurück.
Dieses Weißbuch stellt den Beginn und nicht den Abschluss einer längst überfälligen strategischen Debatte in
Deutschland über unsere Außen- und Sicherheitspolitik
dar und ist daher auch kein umfassendes Konzept für
eine solche Debatte. Herr Kollege Hoyer, deswegen haben Sie völlig Recht: Es ist in der Tat eine gute Grundlage für eine solche Debatte.
({0})
- Doch, er hat von einer guten Grundlage gesprochen,
Herr Kollege Gehrcke.
Es ist bedauerlich, dass wir erst jetzt dazu kommen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihrer Entscheidung, sich am Kosovokrieg und am Kampf gegen den
Terrorismus in Afghanistan zu beteiligen, sowie mit dem
Petersbergprozess bemerkenswerte Beiträge zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geleistet. Umso bedauerlicher ist es, dass es nicht gelungen ist - das hat ihnen nach meinem Eindruck vor allem in den eigenen
Reihen besondere Schwierigkeiten gemacht -, diese richtigen Schritte in eine systematische Darstellung der
Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden.
Diese Aufgabe hat sich die große Koalition jetzt vorgenommen. Das ist ausdrücklich kein parteipolitisches
Vorhaben. Die Opposition ist selbstverständlich eingeladen, daran mitzuwirken. Frau Künast, die ich im Augenblick nicht sehe, hat in ihrem Beitrag ja eine Reihe von
wichtigen Fragen gestellt, die wir in dieser strategischen
Debatte behandeln müssen.
({1})
- Nein, Herr Gehrcke, Sie müssen nicht mitmachen. Sie
würden sich ja auch untreu werden, wenn Sie hier plötzlich konstruktiv auftreten würden.
({2})
Was sind die Elemente dieser strategischen Debatte?
Dazu gehört natürlich die Frage nach den nationalen Interessen, die Kollege Bartels angesprochen hat. Hinsichtlich der nationalen Interessen gibt es glücklicherweise eine große Übereinstimmung mit unseren
Nachbarn und Bündnispartnern. Aus meiner Sicht muss
in der strategischen Debatte die Lageanalyse mit den nationalen Interessen und Prinzipien verbunden werden,
um daraus schließlich die Frage abzuleiten, mit welchen
Mitteln, mit welchen Instrumenten und in welchen
Bündnissen man diese Interessen und Prinzipien durchsetzen möchte. Hier gibt es bemerkenswerte Unterschiede zwischen uns und unseren Bündnispartnern. Zu
Frankreich gibt es zum Beispiel bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich der Einschätzung der Rolle von EU
und NATO sowie ihres Verhältnisses zueinander. Im
Vergleich mit den Vereinigten Staaten gibt es bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich des Kriegsvölkerrechts. Ich finde, es ist unsere Aufgabe, in der strategischen Debatte die Konsequenzen zu ziehen und die
Mittel zu definieren, die wir aufgrund der Lageanalyse
und der Feststellung unserer Interessen und Prinzipien
als notwendig erachten. Dies müssen wir in die Bündnisse einbringen und mit unseren Bündnispartnern besprechen, um zu einer gemeinsamen Politik zu kommen.
Insofern gibt es, wenn man so will, nationale Interessen und Prinzipien, die sich von denen anderer unterscheiden. Sinn der Veranstaltung ist es, die Ergebnisse
hinterher zusammenzuführen und zu einer gemeinsamen
und kohärenten Politik zu kommen; denn die Lage, in
der wir uns befinden, ist dramatisch. Es gibt neue sicherheitspolitische Herausforderungen: Wenn wir uns
Nordkorea und den Iran anschauen, dann wissen wir,
dass wir möglicherweise am Anfang eines neuen nuklearen Zeitalters stehen. Wir stehen weiterhin vor der Gefahr des vor allem islamistisch motivierten Terrorismus.
Wir stehen vor der Gefahr, dass sich Nukleartechnik und
Terrorismus zu einer neuen und qualitativ bisher ungeahnten Gefahr verbinden. Schließlich müssen wir die
Frage stellen, welche Herausforderungen sich aus diesen
asymmetrischen Bedrohungen auch hinsichtlich der
Struktur unserer Bundeswehr ergeben.
Ich will hier deutlich sagen: Es ist schon ein Fortschritt, dass jetzt auch die geschätzten Kollegen von der
sozialdemokratischen Fraktion zugestehen, dass für ein
Luft- und Seesicherheitsgesetz eine Verfassungsänderung notwendig ist. Die bisher im Weißbuch niedergelegte Entscheidung, dass ein terroristischer Angriff
- zum Beispiel auch mit schmutzigen Nuklearwaffen als Unglücksfall definiert wird, wodurch der Einsatz der
Bundeswehr zum Schutz unserer Bevölkerung zugelassen wird, ist aus meiner Sicht politisch richtig; denn ich
bin in erster Linie am Schutz unserer Bevölkerung interessiert und muss erkennen, dass dazu offensichtlich
keine Verfassungsänderung möglich ist. Gleichzeitig
will ich aber sagen, dass ich diese Entscheidung verfassungsrechtlich für problematisch halte. Deswegen bleibt
es das Interesse unserer Fraktion, auch den Einsatz der
Bundeswehr im Inneren in einem solchen Fall verfassungsfest abzusichern.
({3})
Es ist schon viel über die Herausforderungen der Außen- und Sicherheitspolitik, über Staatsaufbau und
Staatszerfall, internationalen Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen gesprochen
worden. Ich glaube, dass wir uns als wesentliche Erkenntnis nach dem Ende des Kalten Krieges klar machen
müssen, dass auch die Gefahren global sind, dass man
die Sicherheit des eigenen Landes und des eigenen
Bündnisses nicht mehr allein geografisch definieren
kann, dass in Zeiten der Globalisierung jedes Land unser Nachbar sein kann und - wie Henry Kissinger gesagt
hat - dass Gefahren für die Sicherheit unseres Landes
und unseres Volkes gänzlich innerhalb der Grenzen eines
anderen Staates entstehen können. Deswegen liegt es gerade im Interesse unserer Bevölkerung, dass wir bereit
sind, uns zu unserer Sicherheit auch in fernen Regionen
zu engagieren, was Peter Struck mit dem Satz „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ gemeint hat.
Andere Staaten haben diese Erkenntnis viel selbstverständlicher als wir Deutschen gewonnen. Australien und
Neuseeland zum Beispiel engagieren sich in Afghanistan
und im Kosovo, weil sie erkannt haben, dass die Entwicklung in diesen Ländern eine unmittelbare Wechselwirkung auf ihre eigene Sicherheitslage beispielsweise
gegenüber Indonesien oder Malaysia hat. Ebenso wie
sich diese Länder aufgrund ihrer Erkenntnis in dieser
Region engagieren, müssen wir erkennen, dass wir zum
Beispiel an einer stabilen demokratischen Entwicklung
Indonesiens oder Malaysias ein eigenes elementares Sicherheitsinteresse haben. Wenn es etwa gelingt, Indonesien als größtes muslimisches Land zu einem Beispiel
für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einer muslimisch geprägten Kultur zu machen, dann hat das auch
Konsequenzen für den Staatsaufbau, um den wir uns beispielsweise in Afghanistan oder im Kosovo bemühen.
Ich halte es auch für wichtig, darauf hinzuweisen,
dass ein großer Teil unserer Auslandseinsätze und unseres Engagements vor allem der muslimischen Bevölkerung zugute kommt. In Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Pakistan und in Aceh geht es entweder um
humanitäre Hilfe oder um politische Unterstützung und
den Schutz vor allem der muslimischen Bevölkerung.
Ich meine, dass wir bzw. die NATO auch in dem Dialog
der Kulturen und in der Auseinandersetzung mit dem
islamischen Extremismus stärker auf diesen Punkt hinweisen müssen.
Über die Interessen ist schon viel gesprochen worden.
Deshalb will ich mit Blick auf die beschränkte Redezeit
nicht weiter darauf eingehen. Ich will aber noch etwas zu
den Mitteln und zu unserer Politik im Bündnis sagen.
Dazu gehört zunächst einmal die Erkenntnis, dass die
Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten
Staaten bei allen bereits erwähnten Differenzen eben
keine Konsequenz der Teilung der Welt in Jalta gewesen
ist, die man nach der Überwindung der Teilung Europas
für obsolet erklären kann, sondern dass uns eine in Jahrhunderten entstandene Koinzidenz gemeinsamer Prinzipien und Wertvorstellungen mit den Vereinigten Staaten
verbindet. In diesem Sinne gilt 1776 als Vorbild für 1789
und 1848 bzw. für die demokratische Tradition in
Europa.
Wir haben es den Amerikanern zu verdanken, dass
Europa von der Geißel des Nationalsozialismus befreit
wurde, dass der Westen Europas frei geblieben ist und
dass wir die Wiedervereinigung nicht nur Deutschlands,
sondern Europas in Frieden und Freiheit erreichen konnten. Diese Kooperation mit den Vereinigten Staaten im
Rahmen der NATO und in Ergänzung mit der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa ist auch ein Paradebeispiel und ein gutes Modell für die Fortsetzung der
Zusammenarbeit und der Stabilisierung von Staaten
beim Nation-Building und dem Aufbau von Demokratie.
({4})
Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass wir für
unseren Einsatz deutlich mehr Mittel einsetzen müssen
als bisher. Es ist notwendig, dass Anspruch und Wirklichkeit übereinstimmen. Rot-Grün hat sich dafür eingesetzt, dass Deutschland ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat wird. Gleichzeitig bleiben aber unsere
Ausgaben für Auswärtiges, Entwicklungshilfe und die
Bundeswehr weit hinter dem internationalen Standard
zurück. Wir würden mit unseren heutigen Verteidigungsausgaben noch nicht einmal NATO-Mitglied werden. Wir geben für unseren diplomatischen Dienst halb
so viel aus wie die Briten oder die Franzosen. Aber nicht
nur bei den Mitteln, sondern auch bei der Abstimmung
unserer Entwicklungszusammenarbeit ist noch sehr viel
zu tun.
({5})
Ein wesentlicher Punkt der von uns zu führenden strategischen Debatte wird ein neues außen- und sicherheitspolitisches Denken sein, in dessen Mittelpunkt die Einsicht stehen muss, dass Anspruch und Wirklichkeit in
Einklang zu bringen sind, dass für die Durchsetzung unserer Ansprüche, Interessen und Prinzipien entsprechende Mittel erforderlich sind und dass unsere Glaubwürdigkeit auch von den Mitteln abhängt, die wir bereit
sind einzusetzen. Diese Debatte ist mit dem nun vorliegenden Weißbuch nicht abgeschlossen, sie beginnt erst.
Vielen Dank.
({6})
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erforderlich wäre ein Weißbuch gewesen, das nicht dekretiert, sondern eine offenere sicherheitspolitische Debatte
ermöglicht und das einen neuen Denkansatz zu den sicherheitspolitischen Entwicklungen enthält, also ein
Weißbuch, das innovativ ist und mit der Politik des
„Weiter so“ Schluss macht. Aber Sie halten an der ungerechten Wehrpflicht, der nuklearen Teilhabe, die niemand mehr braucht, und an einem Mehr an Auslandseinsätzen fest, deren Ende nicht mehr absehbar ist. Auch die
Entgrenzung des Militärischen nach innen ist keine neue
Idee. Das ist seit jeher falsch. Offensichtlich ist ein
grundlegender Politikwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik vonnöten. Aber das geht mit dem vorgelegten Weißbuch nicht.
({0})
Im Weißbuch steht: Der internationale Terrorismus
ist die zentrale Herausforderung. - Vor kurzem wurde
nach fünf Jahren Antiterrorkrieg Bilanz in der Öffentlichkeit gezogen. Der Tenor ist einheitlich: Die Welt ist
durch den Antiterrorkrieg nicht sicherer, sondern unsicherer geworden. Es gibt nicht weniger Gewalt, sondern
mehr Gewalt.
({1})
Das ist Fakt. Das bezieht sich in sehr starkem Maße auf
den Irakkrieg, dessen Auswirkungen auf Afghanistan,
den Iran und die ganze Region Sie noch immer systematisch verdrängen. Sie sagen - die einen sagen das überzeugter als die anderen -: Wir haben nicht mitgemacht.
Aber das stimmt nicht. Deutschland war eine wichtige
Drehscheibe, als es darum ging, diesen Krieg zu führen.
Wir haben Kompensationsleistungen erbracht, um die
USA zu entlasten, damit sie diesen Krieg führen können.
({2})
Unser Ausgangspunkt für eine Neubestimmung der
deutschen Sicherheitspolitik ist daher: Keine Beteiligung
an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, weder unmittelbar noch mittelbar!
({3})
Unser Schluss aus dem einheitlichen Tenor ist, dass
wir aus dem militärisch geführten „war on terrorism“
endlich aussteigen müssen, uns davon abkoppeln müssen. Wenn ich an die KSK-Einsätze denke, dann komme
ich zu dem Schluss, dass wir darin offenkundig mehr
verstrickt waren als bislang bekannt. Nun droht in
Afghanistan eine weitere Verstrickung. Es ist deshalb an
der Zeit, die deutsche Beteiligung an „Enduring Freedom“ und „Active Endeavour“ aufzukündigen, wenn wir
mehr für unsere Sicherheit tun wollen. Wir müssen uns
endlich darauf konzentrieren, den Nährboden des Terrorismus trocken zu legen. Erst dann reden wir beispielsweise über Armutsbekämpfung und eine friedliche Lösung des Palästinakonflikts.
({4})
Ein weiterer Punkt des Weißbuchs ist: Die NATO ist
der stärkste Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, also NATO first.
({5})
Reden wir doch nicht darum herum: Mag es auch Vorstöße wie den von der Kanzlerin in München geben, die
Paul Schäfer ({6})
NATO bleibt primär ein militärisches Bündnis, das von
den USA dominiert wird. Sicherlich kann man der Auffassung sein, dass sie als Verteidigungsgemeinschaft gebraucht wird. Dann hätte sie erhebliches Abrüstungspotenzial. Aber als Weltpolizist wird sie nicht gebraucht.
Für uns gilt: UNO first!
({7})
Die UNO ist für den Weltfrieden und die internationale
Sicherheit zuständig und muss vor allem internationale
Entwicklungszusammenarbeit leisten. Wir wollen sie daher stärken.
Mit der wachsenden terroristischen Bedrohung wird
begründet, warum die Bundeswehr neue Aufgaben im
Innern übernehmen soll. Aber statt fatalistisch von einer
wachsenden Bedrohung zu reden, muss sich die Außenund Sicherheitspolitik daran orientieren, die Gefahren
und Risiken dort zu minimieren, wo sie entstehen. Darauf haben Sie in Ihrer Rede ebenfalls hingewiesen, Herr
Minister Jung. Aber Ihr nächster Satz lautete - ich bitte,
das nachzulesen -: Deswegen sind die Militäreinsätze so
wichtig. Das ist doch genau das Denken, das in die falsche Richtung führt. Wir sagen: Wir brauchen ein
Umdenken. Hier muss über verstärkte Entwicklungszusammenarbeit geredet werden, über eine gerechtere Ressourcenverteilung und über den Stopp von Rüstungsexporten, weil auch die diese Konflikte anheizen. Das
wäre sinnvoller.
Was das Luftsicherheitsgesetz und die Änderung des
Grundgesetzes angeht, die Sie in Aussicht nehmen, gilt
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Leben-gegenLeben-Abwägung ist nicht statthaft. Es bleibt in der Verantwortung des Einzelnen, der in der Notwehrsituation
ist, zu handeln. Die kann ihm niemand abnehmen. Deshalb werden wir diese Änderung nicht mittragen.
({8})
Noch ein Punkt zu Terror- und Massenvernichtungswaffen. Eine Expertengruppe unter dem renommierten Diplomaten Hans Blix hat von Weapons of
Terror, Terrorwaffen, gesprochen. Atombomben sind
Terrorwaffen. Wenn man also den Terrorismus bekämpfen will, dann muss man endlich alles tun, um die Terrorwaffen loszuwerden. Was macht die Bundesregierung?
Sie hält an der nuklearen Teilhabe fest. Es wäre an der
Zeit, dass Sie die USA zum raschen Abzug dieser Atombomben aus der Bundesrepublik Deutschland drängen,
dass Sie sich für eine atomwaffenfreie Zone in Europa
stark machen und dass Sie die Tornadostaffel, die diese
Atomwaffen transportieren soll, endlich auflösen.
({9})
Ein letzter Gedanke: Sie sagen, die erweiterte Sicherheit, die Sie proklamieren, sei eine Form der Entmilitarisierung. Wenn man das Weißbuch liest, dann stellt man
fest, dass es eine Generalklausel geworden ist, um umfassende Gestaltungsansprüche mithilfe von Streitkräften durchsetzen zu können. Deshalb sagen Sie auch an
erster Stelle: Streitkräfte sind zur Sicherung unserer außenpolitischen Handlungsfähigkeit nötig. - Das steht da
so. Wir haben an der Stelle ein ganz anderes Konzept.
Wir wollen eine friedlich ausgerichtete Außenpolitik, die
tatsächlich auf Entmilitarisierung und Zivilisierung der
internationalen Beziehungen setzt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es schon ziemlich oft gesagt wurde und vielleicht schon ermüdend wirkt: Dass dieses Weißbuch
nach zwölf Jahren erscheint, ist eindeutig ein Fortschritt.
Also danke, dass es zustande gekommen ist. Dass im
Weißbuch die Bindung deutscher Politik an das Völkerrecht, gemeinsame, umfassende und vorbeugende Sicherheitspolitik und ausdrücklich der ressortübergreifende Ansatz betont werden, ist auch richtig. Aber ich
will die ermüdende Tendenz dieser Debatte, die durch so
viel Zustimmung gefördert wird, nicht noch weiter auf
die Spitze treiben und deshalb die Dissenspunkte beim
Namen nennen.
({0})
Zunächst zu den Widersprüchen, die schon öfter angesprochen wurden und von denen ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition ähnlich über sie
denken, ihre Meinung aber unter dem Harmoniedruck
einer Koalition nicht öffentlich sagen können. Zu Recht
bekennt sich die Bundesregierung zur nuklearen
Abrüstung insgesamt. Aber dieses Bekenntnis wird
deutlich dadurch entwertet, dass de facto gesagt wird:
Bitte nicht vor der eigenen Haustür. - Dass nämlich Tornadojagdbomber der Bundeswehr nicht nur weiter für
Atombombeneinsätze zur Verfügung stehen, sondern die
Mannschaften den Einsatz auch üben müssen, ist, so
finde ich, nicht nur ein sicherheitspolitischer Schwachsinn, sondern für die Soldaten schlichtweg ethisch unzumutbar.
({1})
Das war nur ein Beispiel für die Widersprüche.
Nun aber zu den Lücken. Ein Herzstück des Weißbuchs ist, so finde ich, das Kapitel „Die Bundeswehr im
Einsatz“. Hier finden wir eine Skizze der bisherigen
Bundeswehreinsätze, auch - wenn man etwas genauer
hinschaut, sieht man es - mit einigen Unschärfen und
sachlichen Unrichtigkeiten. Aber darauf will ich jetzt gar
nicht eingehen. Es wird in diesem Kapitel vor allem die
zentrale Chance vertan, aus mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit Auslandseinsätzen im Kontext von deutschem und internationalem Krisenengagement Lehren
und Schlussfolgerungen zu ziehen. Die allgemeine
Schlussfolgerung ist bekannt: Transformation der Bundeswehr. Nur, nachvollziehbare Lehren existieren nicht.
Denn im Weißbuch werden keine Antworten zum BeiWinfried Nachtwei
spiel auf folgende Fragen gegeben - gerade diese stellen
sich die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicher -:
Warum dauern die Einsätze viel länger, als man es in der
Regel erwartet? Warum ist ein Ausstieg so schwierig?
Was bringen diese Auslandseinsätze?
({2})
Im Weißbuch werden die bekannten Risiken und Bedrohungen benannt. Es wird aber offen gelassen, bei
welchen dieser Risiken und Bedrohungen das Militär
bzw. die Bundeswehr überhaupt etwas ausrichten kann
und wo nichts. Herr Minister, Sie haben vorhin ein Beispiel gebracht, das zeigt, wie völlig vage die Zuordnung
ist. Was kann die Bundeswehr gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen tun? Höchstens
kann das im Rahmen der Abrüstungskontrolle geschehen. Aber ansonsten? Meinen Sie etwa eine Vorstellung,
wie die Amerikaner sie zum Teil haben? Da sage ich:
Bloß nicht. Was kann die Bundeswehr zur Bekämpfung
des Terrorismus beitragen? Nur nachgeordnet, aber in
keiner Weise primär.
({3})
Wenn wir uns die Realität der Bundeswehr und die
Trends weltweit anschauen, stellt sich die Frage, was vor
allem gefragt ist. Beiträge zur Stabilisierung stehen im
Mittelpunkt; das ist in der Tat eine prioritäre Aufgabe.
Dann stellen sich wiederum ganz konkrete Fragen, auf
die ein Weißbuch Antworten geben muss: Was ist die angemessene Zielebene bei der Stabilisierung bestimmter
Staaten, beim so genannten Nation- und State-Building?
Wir merken es an dem Beispiel Afghanistan. Das Ziel,
den Rechtsstaat und die Demokratie zu fördern, ist zum
Teil sehr weit von der Realität entfernt. Da brauchen wir
ein angemessenes Niveau. Oder wie sieht es konkret mit
der kohärenten Politik aus? Wie sieht es schließlich mit
dem enormen Rückstand der politischen, zivilen und polizeilichen Instrumente bei solchen Stabilisierungseinsätzen aus? Dazu gibt es keine Antwort.
Deshalb müssen wir sagen: Gerade auf diese Schlüsselfragen aus der Praxis, die die Menschen und die Soldaten vor Ort besonders bedrängen, gibt es im Weißbuch
keine Antworten. Da wird man allein gelassen. Das ist
ein zentraler Mangel dieses Weißbuchs.
Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Wir haben aber nicht nur Fragen und Kritik zum
Weißbuch, sondern uns gleichzeitig um Antworten in
diesem Bereich bemüht, damit wir in dieser Debatte weiterkommen; das Weißbuch soll ja ein Anstoß sein.
({0})
Deshalb, Herr Minister, kann ich mir erlauben, Ihnen die
Dokumentation unserer Tagung zum Weißbuch und unserer Kontroverse darüber, in der einige Antworten enthalten sind, direkt zu übergeben.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Gerne nutze ich die mir überraschend zur Verfügung stehende Redezeit, um noch ein paar Aspekte zu beleuchten. Es wurde schon gesagt: Wir begrüßen dieses Weißbuch, in dem unsere Position und Konzeption in der
Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben werden. Der
Wert des Weißbuches ist nicht in erster Linie am gedruckten Exemplar zu messen. Sein Wert stellt sich vielmehr in einer breiten gesellschaftlichen Debatte und der
Aufmerksamkeit dar, die die deutsche Gesellschaft auf
die Bundeswehr und die nationale Sicherheitspolitik
richten sollte. Wir haben eine große Verantwortung, diesen Prozess zu initiieren.
Auch bei uns innerhalb der Koalition gab es natürlich
im Vorfeld Diskussionen. Herr Hoyer, es lohnt sich,
noch einmal daran zu denken - Sie haben diesen Punkt
angesprochen -, wie es vor zwölf Jahren bei der Erstellung des letzten Weißbuches war. Wenn ich mich richtig
erinnere, waren Sie damals Staatsminister im Auswärtigen Amt, also in Regierungsverantwortung. Siehe da:
Damals gab es im Vorfeld überhaupt keine Debatte. Ich
sage: Diese Debatte innerhalb der Koalition hat sich
letztlich gelohnt.
Was unter Federführung des Verteidigungsministers
und in Abstimmung mit anderen Ressorts, mit dem Auswärtigen Amt sowie den Ministerien des Innern und der
Justiz und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, vorgelegt wurde, ist am Ende eine wirklich
gute Basis für die weitere Arbeit. Im Weißbuch wird der
Transformationsprozess der Bundeswehr, der bereits von
der letzten Regierung, von Peter Struck, eingeleitet
wurde, in seiner Kontinuität beschrieben.
Wir sollten ehrlich miteinander umgehen. Ich bin
ziemlich sicher: Auch wenn wir hier Konstellationen
hätten, in denen die Grünen oder die FDP an der Regierung beteiligt wären, dieses Weißbuch und die Außenund Sicherheitspolitik würden in Wirklichkeit nicht anders aussehen, als es heute der Fall ist.
({0})
Zu dieser Diskussion gehört natürlich die Frage: Wie
gehen wir mit der neuen Gefährdung durch den Terrorismus im Inneren um? Herr von Klaeden hat ein paar
Sätze dazu gesagt. Natürlich müssen wir weitere Diskussionen darüber führen. Ich sage hier nochmals: Es ist
keine neue Entwicklung, dass wir die Frage der Luft5802
und Seesicherheit auch in der Verfassung klären wollen.
Das haben wir bereits in der Koalitionsvereinbarung so
dargelegt; darin sind wir uns einig.
In Bezug darauf, ob darüber hinaus etwas geschehen
muss, müssen wir kritisch hinterfragen, ob die Debatte,
die ja von allen Sicherheitspolitikern in der ganzen Welt
geführt wird, immer ganz richtig geführt wird. Ich höre
nämlich keine Rede, bei der nicht an irgendeiner Stelle
gesagt wird, dass der neue Terrorismus dazu führt, dass
jetzt alles miteinander vernetzt ist, dass Äußeres und Inneres verwischt werden. Ich glaube, dass das falsch ist.
Die Gefährdungen und Dimensionen von Attentaten
können denen kriegerischer Auseinandersetzungen ähneln. Daran, ob die Antworten darauf in erster Linie
auch vernetzte militärische sein müssen, habe ich ganz
erhebliche Zweifel.
({1})
Das Weißbuch klärt dies, glaube ich, ziemlich gut, indem es einen erweiterten Sicherheitsbegriff - an die
Linke sage ich: Es ist kein erweiterter Verteidigungsbegriff, sondern genau das Gegenteil von dem, was Sie behaupten - zugrunde legt. Ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt gelesen haben. Es werden diese Fragen geradezu
entmilitarisiert. Denn es ist von einer vernetzten Politik
aller Akteure und aller Instrumente die Rede, selbstverständlich einschließlich der Diplomatie, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Polizei, der Nachrichtendienste und des Militärs.
({2})
Vernetzung bedeutet am Ende aber nicht Verwischung
der Zuständigkeiten. Das würde für uns die Sicherheit
nicht erhöhen. Wir brauchen vielmehr rechtsstaatliche
Regeln, die gewahrt bleiben müssen. Wir brauchen für
uns alle aber auch Transparenz. Deshalb dürfen die
Dinge nicht verwischt werden, sondern müssen vernetzt
werden und die Kommunikation muss gestärkt werden.
({3})
Es ist der richtige Ansatz, den das Weißbuch formuliert.
Herr von Klaeden, wir wünschen uns, alles zu tun, um
für die Menschen in Deutschland Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben das Beispiel ABC angesprochen. Ich
bleibe bei der Auffassung, dass es jetzt auch schon möglich ist, dass die Bundeswehr mit ihren Fähigkeiten beim
ABC-Schutz Amtshilfe leistet. Das hat sie übrigens auch
schon getan. Nur, hilft uns dies wirklich, wenn es ein
ernstes Problem gibt? Wenn die ABC-Fähigkeiten nur an
zwei Standorten der Bundeswehr in Deutschland angesiedelt sind und wir sie möglicherweise zum Schutz der
Soldaten im Einsatz brauchen, können wir dann wirklich
die Bevölkerung in Deutschland schützen, wenn es ernst
wird? Deshalb, glaube ich, müssen wir uns dem Thema
anders zuwenden. Ich glaube, wir brauchen gerade in
dieser Frage eine sehr stark regionalisierte Verantwortung, möglicherweise auch eine regionalisierte Verantwortung der Bundespolizei, die dann bestimmte Fähigkeiten haben sollte. Natürlich wird die Bundeswehr
Amtshilfe leisten, wenn sie es denn kann. Aber zuerst
muss auch die Polizei diese Fähigkeiten erhalten. Hierbei haben wir möglicherweise Diskussionsbedarf, aber
das ist auch nicht schlimm, weil wir das gemeinsame
Ziel des Schutzes der Bevölkerung haben.
Das Weißbuch beschreibt auch die Verantwortung der
Bundeswehr in der Welt. Natürlich werden dafür Maßstäbe, nicht Regeln, formuliert. Ich fand es ganz spannend, was Herr Gehrcke von den Linken heute gesagt
hat. Damit hat er nämlich klar gemacht hat, dass die
Linke die Bundeswehr eigentlich abschaffen will.
({4})
Wenn eine Linke, die in ihrer Tradition eigentlich für die
Internationalisierung der Solidarität eintreten und Verantwortung für die Menschen in aller Welt übernehmen
müsste, die Schutz und Hilfe brauchen, sagt, Deutschland soll einen eigenen nationalen Weg gehen, dann
würde sie dieses Land in eine völlige Isolation führen.
Herr Kollege Arnold.
Ich komme zum Ende. - Mit links und verantwortungsbewusst hat das selbstverständlich gar nichts zu
tun.
({0})
Als Letztes noch einen Satz: Dieses Weißbuch ist eine
Beschreibung unseres jetzigen Status; wir wollen aber
zügig darangehen, in zwei Bereichen Fortschritte zu machen.
Herr Kollege, das waren jetzt drei Sätze.
Ich komme zum Ende. - Es würde sich auch schon in
dieser Legislaturperiode lohnen, an einem Modul zu arbeiten, das die Evaluation der internationalen Krisenbewältigung stärker erfasst.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir sprechen heute über das neue Weißbuch zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr.
Herr Minister, zu Ihrer Informationspolitik stelle ich
fest: Dieses Werk wurde zwar erst gestern Nachmittag
verteilt, aber bereits heute muss eine detaillierte Meinung zu diesem 176-seitigen Buch formuliert werden.
Inoffiziell konnte man sich die jetzige Version von
der Homepage der Zeitschrift „Die Zeit“ herunterladen,
deren Beschäftigten ich auf diesem Wege recht herzlich
danken möchte. Dem Verteidigungsminister muss ich
leider sagen, dass seine Informationspolitik schlecht ist.
Er teilt Abgeordnete in zwei Gruppen ein: in Koalitionsabgeordnete, die den Entwurf frühzeitig erhalten haben,
und Oppositionsabgeordnete, die diesen Entwurf nicht
frühzeitig erhalten haben.
({0})
Das ist inakzeptabel und widerspricht der Würde dieses
Hauses.
Ein nicht mehr hinterfragter Satz im Weißbuch lautet,
dass dem vereinigten Deutschland eine wichtige Rolle
für die Gestaltung Europas und darüber hinaus zufällt.
Die Antworten, die dann gegeben werden, sind ausschließlich militärischer Art. Anfang der 90er-Jahre
wurde noch von der Friedensdividende, also von Abrüstung, gesprochen. Seit diesem Jahrzehnt wird gegen den
internationalen Terrorismus gekämpft. Die Ausgangsbehauptung ist, dass sich Deutschland im permanenten
weltweiten Verteidigungsfall befindet. Die Ökonomen
wissen, dass gerade die Rüstungskonzerne diese Bedrohung so dringend brauchen wie Vampire das Blut anderer Menschen; denn nur die Bedrohung bringt ständig
neue Rüstungsaufträge. Laut Weißbuch strebt die Bundeswehr eine Kompatibilität mit der US-Armee an, damit eine weltweite Führungsrolle auch weiterhin gesichert wird. Gute Geschäfte für die Rüstungsindustrie
sind dadurch vorprogrammiert.
Entsprechend wird die Sprache gestaltet - Zitat -:
Die Struktur der Bundeswehr wird konsequent auf
Einsätze ausgerichtet.
Daher wird die Bundeswehr in drei Gruppen eingeteilt:
in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.
Früher, als die Sprache noch klarer war, hätte man von
Kampftruppen, Besatzungstruppen und Hilfs- und Heimattruppen gesprochen. Überhaupt fällt auf, dass das
Wort „Krieg“ in diesem Buch nicht vorkommt. Durchgängig wird von Frieden gesprochen. Es geht um
friedenserzwingende Maßnahmen und friedensstabilisierende Operationen, um Transformationen ganzer Staaten, entweder mit oder gegen deren Willen. Wir wissen
aber sehr genau, dass bereits ein robustes Mandat für einen Kriegseinsatz steht. Es gibt in diesem Buch also
durchgängig eine verschleiernde Sprache.
Im Weißbuch wird richtig festgestellt, dass die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer
Trägermittel die größte Bedrohung der globalen Sicherheit darstellt. Die Konsequenz, die daraus gezogen wird,
ist aber nicht, weltweit politisch für atomwaffenfreie Zonen einzutreten. Nein, es werden mehr Finanzen für Rüstungsgüter gefordert und es müssen Waffen sein, die das
logistische Problem und die Kampfkraft der Bundeswehr
in den Einsatzgebieten erhöhen. Deshalb wird eine nationale Zielvorgabe formuliert, dass gleichzeitig bis zu
14 000 Soldaten in bis zu fünf Einsatzgebieten kämpfen
können. Die internationale Gemeinschaft wird die Bundeswehr verstärkt als kämpfende Armee erleben. Das
wird unser Ansehen in der Welt nicht erhöhen; denn mit
Krieg werden keine Probleme gelöst, sondern es werden
immer neue geschaffen.
Nehmen wir Afghanistan. Nach über fünf Jahren
Einsatz muss die Regierung heute feststellen, dass keines ihrer beiden Kriegsziele, nämlich den Terrorismus
im Lande auszurotten und den Menschen eine bessere
wirtschaftliche Perspektive zu geben, erreicht worden
ist. Stattdessen gibt es dort eine immer bedrohlichere
Lage. Deutsche Soldaten werden als Besatzungstruppen
empfunden - seit gestern auch als Leichenschänder, was
wir alle verurteilen. Das Talibanregime erhält großen
Zulauf und die Drogenanbaufläche wächst auf Rekordniveau.
Diese Bilanz lässt die Regierung nicht darüber nachdenken, den Schwerpunkt auf zivile Konfliktlösung zu
setzen. Nein, das Verhaltensstrickmuster des Weißbuches gibt vor, dass die Luftwaffe ihre Fähigkeiten in und
aus der Luft zur Wirkung bringen soll. Dabei wird ausdrücklich betont, dass dies auch den Weltraum einschließt. Mit dieser auf Seite 127 formulierten Forderung handelt die Regierung gegen alle UN-Resolutionen,
die sich mit der Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum beschäftigt haben. Diesen Resolutionen hat auch
die Bundesregierung zugestimmt.
Als Fazit der Lektüre des Weißbuches kann ich nur
sagen: Es ist ein Irrweg für Deutschland, die militärische
Verantwortung für die ganze Welt zu formulieren.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte sei auch mir gestattet, die
drei Besonderheiten dieses Weißbuchs noch einmal zusammenzufassen:
Erstens. Nach vielen Jahren der Abstinenz wurde die
Arbeit gleich im ersten Jahr von der neuen Koalition angepackt und erledigt.
Zweitens. Im Vergleich zum letzten Weißbuch vom
Anfang der 90er-Jahre haben wir es mit einem völlig anderen sicherheitspolitischen Umfeld zu tun.
Drittens. Es wurde zum ersten Mal der Versuch unternommen, einen umfassenden Sicherheitsbegriff in einem
Weißbuch festzuschreiben, und zwar vor dem Hintergrund der eigenen deutschen Interessen.
Ich kann die Einlassungen mancher Vorredner nicht
verstehen, die offensichtlich ein fix und fertiges Lexikon
zur neuen Sicherheitslage erwartet haben. Nein, das
Weißbuch soll Anstöße für Diskussionen auch im Parlament geben. Herr Hoyer, wir werden eine Chance verpassen, wenn wir diese Anstöße nicht aufnehmen und
wenn wir die Arbeit, zu der im Weißbuch angeregt wird,
in der Diskussion nicht fortführen. Die Bundeswehr ist
ja eine Parlamentsarmee.
Lassen Sie mich in den paar Minuten Redezeit, die
mir zur Verfügung stehen, auf den Aspekt der Vernetzung und Verzahnung eingehen, der zum Teil schon
angesprochen wurde. Es ist zu Recht schon ausgeführt
worden, dass der Ost-West-Konflikt für uns keine Bedrohung mehr darstellt, aber eine Vielzahl von Konflikten und Spannungen aus anderen Ländern und Kontinenten, die früher weit weg zu sein schienen, unser Land
bedrohen, dass die Abhängigkeiten Deutschlands von
Problemen und Konflikten in Entwicklungs-, Schwellenund Transformationsländern viel größer geworden sind
und dass gleichzeitig die Abschirmungsmöglichkeiten
durch rein militärische Maßnahmen im eigenen Land geringer geworden sind.
Kriegs- und Krisenschauplätze im Nahen und Mittleren Osten, in Asien, auf dem Balkan, in Afrika und
ebenso in Lateinamerika bringen es mit sich, dass die
dortigen Probleme immer stärker auch auf uns in Form
von Flüchtlingsströmen, Kriminalität, Drogen, der Bedrohung der Rohstoffversorgung, aber auch in Form von
einer möglicherweise verheerenden Kombination aus
Terrorismus und Massenvernichtung durchschlagen. Das
sind eben nicht nur die Konflikte dieser Länder, sondern
sie gefährden auch unsere eigene Sicherheit und Stabilität. Das beschreibt das Weißbuch als Maßstab für unser
Handeln in sehr eindringlicher Weise.
Die Antwort ist völlig zu Recht ein umfassender Sicherheitsbegriff, der in bisher noch nie gekannter Art
und Weise die enge Zusammenarbeit aller sicherheitsrelevanten Bereiche der Politik notwendig macht. Natürlich geht es auch um die Frage einer besseren Befähigung der Bundeswehr in finanzieller, organisatorischer
und technischer Hinsicht. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Ein anderer entscheidender Punkt für mich
ist, dass die allgemeine Wehrpflicht betont und herausgestellt wird. Gleiches gilt für die völlig neue Verzahnung von innerer und äußerer Sicherheit.
Mir geht es besonders um die ebenfalls angesprochene neue Verzahnung von Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik. Auf dem Balkan, in Afghanistan,
im Kongo und im Libanon hat die Bundeswehr zusammen mit ihren Partnern dazu beigetragen, dass es eine
Chance auf dauerhaften Frieden gibt, was auch im deutschen Interesse liegt. Ob diese Chance genutzt werden
kann, hängt in hohem Maße davon ab, ob die außenpolitischen Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind und ob
es gelingt, mit entwicklungspolitischen Maßnahmen
Staaten wiederaufzubauen, zu stabilisieren oder auch
durch Modernisierung weniger gefährlich zu machen.
({0})
Diese Verzahnung enger und lückenloser zu machen,
ist eine Aufgabe, die sich aus dem Weißbuch ergibt. Die
Bundeswehr soll an keinem Ort außerhalb Deutschlands
für immer bleiben. Es ist wichtig, dass der politische
Zweck und das politische Ziel eines Bundeswehreinsatzes so rasch und so treffsicher wie möglich erreicht werden. Zweck ist immer die Stabilisierung einer friedlichen
Entwicklung des betreffenden Landes. Die beste ExitStrategie für die Bundeswehr besteht deswegen aus tragfähigen außenpolitischen Konzepten, die in sich nicht
den Keim für Zerfall und neuen Bürgerkrieg tragen, sowie einer raschen und treffsicheren Umsetzung des entwicklungspolitischen Anschlussauftrags. Das ist etwas,
um das wir uns täglich und auch in der Zukunft bemühen
müssen. Ich denke zum Beispiel an eine Verbesserung
und eventuelle Neujustierung des Daytonabkommens für
den Balkan.
({1})
Ein wichtiger Teilbereich - das hat unser Ausschuss in
dieser Woche in einer Anhörung auch besprochen - ist
natürlich die zivil-militärische Zusammenarbeit im engeren Sinne, der nahtlose Übergang zwischen Frieden
schaffenden militärischen Maßnahmen und dem raschen
Aufbau bzw. Wiederaufbau staatlicher Strukturen, dem
Durchsetzen des staatlichen Gewaltmonopols, der Demobilisierung von Milizen und der raschen Errichtung
von Zivilbauten. Wir haben dazu, aus der Not geboren,
erste Erfahrungen mit dem Schnittstellenmanagement
- zivile und militärische Akteure handeln hier - bei den
Provincial-Reconstruction-Teams in Afghanistan gemacht. Das ist ein Experiment. Da gibt es natürlich noch
das eine oder andere zu verbessern - das ist völlig klar -,
aber ich glaube, dass gerade die Art und Weise, in der
Deutschland dieses Experiment angegangen ist, zum Erfolg führt, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass
zum Beispiel die bedrängten Kanadier uns bitten, unsere
Art und Weise, mit den Problemen umzugehen, auch in
Kandahar fortzuführen, zumindest Rat zu geben.
Ich halte allerdings Folgendes für richtig: Bei einer
solch komplizierten multidimensionalen Lage wie in Afghanistan sollte man möglichst dazu kommen, dass bei
den Provincial-Reconstruction-Teams alle Beteiligten
nach der grundlegend gleichen Philosophie vorgehen;
sonst wird der Erfolg unserer Arbeit gefährdet.
({2})
Ich möchte aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nur
noch zwei andere Baustellen ansprechen, die mir ebenfalls wichtig sind. Die eine Baustelle ist: Verbesserung
der Frieden sichernden und Frieden schaffenden UNOEinsätze allgemein. Wir sind einer der größten Zahler
dieser Einsätze und haben schon aus diesem Grund ein
erhebliches Eigeninteresse daran, dass diese UN-Missionen treffsicherer und professioneller als bisher durchgeführt werden. Das hat übrigens auch etwas mit unserer
eigenen Personalpolitik an dieser Stelle zu tun.
Wir müssen in unserem eigenen Interesse auch einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Bemühungen
zum Beispiel der Afrikaner oder von Teilen Afrikas, eigene Friedensmissionen aufzustellen und zum Erfolg zu
führen - ich denke etwa an Darfur -, gelingen, indem
wir da logistisch, personell und vielleicht auch mit Bewaffnung unterstützen.
Herr Kollege, Sie müssen Ihre zweite Baustelle jetzt
beenden.
Jawohl. - Damit bin ich zu meinem letzten Satz gezwungen, der noch einmal zur Entwicklungspolitik zurückführt. In der heutigen Debatte wurde von verschiedenen Rednern angesprochen - dafür bin ich dankbar -,
dass eine der wichtigsten sicherheitspolitischen Maßnahmen im Vorfeld eine treffsichere und international besser
abgestimmte Politik der Entwicklung ist, die dann, genau wie die anderen außenpolitischen Bereiche, quantitativ und qualitativ besser ausgestattet werden muss.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Brigitte Pothmer, Volker Beck ({0}),
Fritz Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten
- Drucksache 16/2792 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für
weitere Beitragssenkungen verwenden
- Drucksache 16/3091 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die große Koalition ist auf dem besten Wege, zukünftige
Beschäftigungschancen für Deutschland zu vertun.
({0})
Keines unserer Nachbarländer hat eine so hohe Arbeitslosenquote wie wir.
({1})
Keines unserer Nachbarländer hat eine so niedrige Erwerbsquote von Frauen wie Deutschland.
({2})
Keines unserer Nachbarländer vertut die Beschäftigungschancen, die zum Beispiel von einer höheren Erwerbsquote von Frauen ausgehen, so wie Deutschland.
In keinem unserer Nachbarländer ist die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit so hoch wie in Deutschland.
({3})
Das Schlimmste ist die hohe Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland, weil sie der Stoff ist, aus dem Angst
und die Ausgrenzung, die Exklusion, weiter Bevölkerungsschichten gemacht sind. Wir haben unseren Antrag
eingebracht, um diesem strukturellen Problem am Arbeitsmarkt zu Leibe zu rücken.
({4})
Fakt ist, dass wir positive Wachstumsraten haben. Und
das ist gut so. Fakt ist aber auch, dass bei sinkender Arbeitslosigkeit die Zahl der Langzeitarbeitslosen in
Deutschland gestiegen ist. Wir haben im September dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr 100 000 Langzeitarbeitslose mehr. Auch im Wachstum besteht eine Beschäftigungsbarriere.
In dieser Situation hat die Bundesregierung nichts
Besseres zu tun, als eine Mehrwertsteuererhöhung um
drei Prozentpunkte zum 1. Januar 2007 anzukündigen.
({5})
Alle Wirtschaftsinstitute haben bestätigt, dass das Wachstum dadurch gefährdet wird und von 2,4 Prozent auf
1,4 Prozent sinken kann. Sie sprechen - gestern im Wirtschaftsausschuss war das auch der Fall - von einer Delle,
die zu erwarten sei. Ich sage Ihnen: Das ist keine Delle,
sondern eine Katastrophe für diejenigen, die schon bei
dem Wachstum, das wir heute haben, nicht in den Arbeitsmarkt kommen.
({6})
Diese Mehrwertsteuererhöhung ist Gift für den Arbeitsmarkt. Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sie zurück!
({7})
Die Steuereinnahmen sprudeln.
({8})
Nehmen Sie also die Steuererhöhung zurück oder nehmen Sie sie zumindest in Schritten vor, sodass sie nicht
konjunkturgefährdend ist.
Tun Sie alles, was möglich ist, um die Lohnnebenkosten zu senken; denn - Sie wissen das selbst - sie stellen
eine erhebliche Beschäftigungsbarriere in Deutschland
dar. Gestalten Sie es so aus, dass die Lohnnebenkosten
dort am stärksten sinken, wo es besonders beschäftigungswirksam ist, nämlich bei den kleineren Einkommen, bei den Geringqualifizierten. Das schlagen wir Ihnen in unserem Antrag vor.
Wir haben ein Progressivmodell entwickelt, das eine
ganz einfache Logik hat: bei kleinen Einkommen kleine
Abgaben, bei großen Einkommen höhere Abgaben. In
Deutschland sind nämlich nicht die Lohnkosten, sondern
die Lohnnebenkosten das Problem.
({9})
Es gibt erhebliche Beschäftigungslücken, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich. Die anderen Länder
sind da weiter. Wir haben Lücken im Bereich der Gesundheitswirtschaft. Prognos bestätigt uns, dass dort
660 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden
können. Es gibt Beschäftigungslücken in den Bereichen
Wellness, Fitness und im Gesundheitswesen, aber auch
bei den hoch qualifizierten Dienstleistungen. Da schlummern Beschäftigungspotenziale von bis zu 2 Millionen
Arbeitsplätzen. Was machen Sie? Sie bauen Barrieren
für Hochqualifizierte auf, obwohl ein Facharbeitermangel bevorsteht. In Deutschland gibt es einen Braindrain:
Die qualifizierten jungen Menschen wandern ab. Sie
aber ziehen die Barrieren noch höher.
({10})
So kann das nicht weitergehen. Ich frage Sie: Wo sind
Ihre Konzepte, wie für Geringqualifizierte, Hochqualifizierte und Frauen in Deutschland eine höhere Beschäftigung erreicht werden kann? Ich sehe keine Konzepte.
Sie haben Arbeitsgruppen, aber Ihnen fehlt die gemeinsame Linie. Das ist ungefähr wie in einem Hühnerstall;
da ist die Geschlossenheit allerdings größer.
({11})
Für mehr Arbeit zu sorgen, ist machbar, wenn die
Rahmenbedingungen stimmen. Wir müssen gleichzeitig
Brücken für diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, bauen; wir müssen Eigeninitiative fördern.
Wir haben es in der letzten Zeit gehört: Kurt Beck beklagt den fehlenden Aufstiegswillen. Gut. Aber was
machen Sie gleichzeitig? Sie kürzen und streichen Möglichkeiten, zum Beispiel bei der Förderung von Existenzgründerinnen und -gründern. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Im letzten Monat des Bestehens der alten
Regelung zur Ich-AG sind noch 26 000 neue Existenzgründungen in Eigeninitiative aus der Arbeitslosigkeit
heraus erfolgt. Nach dem Streichen der Ich-AG im ersten Monat der neuen Regelung waren es noch 3 700.
Meine Damen und Herren, Sie behindern die Eigeninitiative von Langzeitarbeitslosen, von Arbeitslosen,
die in den Arbeitsmarkt hineinwollen, besonders von
Frauen und vielen Arbeitslosen im Osten Deutschlands.
({12})
Sie sagen, Arbeit soll belohnt werden. Gut! Aber wen
meinen Sie damit? Ich habe den Eindruck, dass Herr
Beck, der in den letzten Tagen wieder stark mit der FDP
liebäugelt, Arbeit für Gutverdienende meint. Denn sonst
erklären Sie, beispielsweise Herr Brandner, mir einmal,
wie es kommen kann, dass Sie die Zuverdienstmöglichkeiten für diejenigen, die kleine Einkommen haben, so
gnadenlos wegrasieren wollen, wie Sie es in Ihrer Konzeption geplant haben. Diejenigen, die versuchen, aus eigener Kraft Schritt für Schritt in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, müssen bei Ihnen mit Sanktionen und
der Streichung von Möglichkeiten rechnen.
Frau Kollegin, Sie reden jetzt auf Kosten Ihrer nachfolgenden Kollegen.
Ich komme deswegen zum Schluss. - Die Liste der
Verfehlungen der Bundesregierung in diesem Bereich ist
lang. Ich sage Ihnen noch einmal: Nehmen Sie die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück und senken
Sie die Lohnnebenkosten bei kleinen Einkommen!
Bauen Sie die Barrieren für Hochqualifizierte ab! Setzen
Sie auf Selbstständigkeit! Wenn Sie das nicht machen,
meine Damen und Herren, wird Deutschland im europäischen Kontext weiterhin Schlusslicht bleiben. Das haben
die Arbeitslosen hier nicht verdient.
({0})
Das Wort zur Geschäftsordnung gebe ich dem Kollegen Beck.
Meine Damen und Herren, ich hatte bereits die Koalition gebeten, dafür zu sorgen, dass der Arbeitsminister
bei einer solchen Debatte anwesend ist. Jetzt besetzen
die Staatssekretäre, die auch Mitglieder des Hauses sind,
die leeren Reihen der Koalition. Trotzdem glaube ich,
dass die Opposition gegenwärtig über eine Mehrheit verfügt. Wir stellen den Antrag, den Wirtschafts- und den
Arbeitsminister herbeizuzitieren, damit diese Debatte
die Bedeutung erhält, die sie verdient.
({0})
Herr Kollege Beck, das ist wieder eines Ihrer Spiele,
({0})
mit denen Sie versuchen, die Arbeit im Parlament aufzuhalten. Der Staatssekretär des Arbeitsministeriums ist
anwesend.
({1})
Außerdem sind die Mehrheiten in diesem Hause eindeutig; das bestätigen auch die Schriftführer. Die Mehrheiten sind so, wie sie dem Parlament entsprechen.
({2})
- Dann machen wir einen Hammelsprung.
Herr Kollege Röttgen, bitte.
Ich möchte für unsere Fraktion zu dem Antrag sprechen und ihm widersprechen. Wir sind in einer Debatte
und wir wollen zu dem Thema der Debatte Stellung beziehen. Die Bundesregierung ist vertreten; der zuständige Parlamentarische Staatssekretär ist bei dieser Debatte anwesend,
({0})
ebenso andere Mitglieder der Bundesregierung.
({1})
Wir sollten dieses Thema in angemessener Weise behandeln. In diesem Zusammenhang möchte ich einen
Hinweis geben. Es geht auch darum, wie wir Parlamentarier uns bei den Debatten benehmen. Angesichts der
Tatsache, dass es um ein Kernthema dieser Gesellschaft
geht - wir reden jetzt darüber, wie die Bedingungen für
die Schaffung von Arbeitsplätzen aussehen -,
({2})
stellt sich die Frage, ob die Opposition aus Mangel an
politischen Inhalten zunehmend zu einer Klamauk- und
Taktikopposition wird
({3})
oder ob sie etwas zur Sache beizutragen hat. Wer zur Sache etwas beizutragen hat, braucht keinen taktischen Geschäftsordnungsklamauk zu veranstalten.
Da Ihre Fraktionsvorsitzende Künast erst jetzt wieder
in den Saal getreten ist, möchte ich Folgendes beanstanden:
({4})
Wir haben erlebt, dass die Fraktionsvorsitzende der Grünen heute Morgen einen Debattenbeitrag ebenfalls zu einem Kernthema, nämlich zur Verteidigungspolitik, gemacht hat und anschließend den Saal verlassen hat.
({5})
Sie war also nicht bereit, an der Debatte weiter teilzunehmen. Dieses parlamentarische Verhalten können wir
nicht akzeptieren.
({6})
Benehmen Sie sich im Parlament erst einmal demokratisch! Dann können Sie solche Anträge stellen.
({7})
Wir kommen zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Beck. Wer diesem Antrag
folgen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Letzteres war die Mehrheit. Deshalb ist der
Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang
Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Heckmeck, den Herr Beck
hier gerade veranstaltet hat, ist nicht unbedingt dazu geeignet, zu einer sachlichen Debatte zu kommen.
({0})
- Vielleicht beruhigen Sie von den Grünen sich etwas.
Diejenigen von Ihnen, die hierher gekommen sind, um
für eine Mehrheit zu sorgen, können wieder gehen. Sie
haben verloren.
({1})
Wir reden heute über den Antrag der Grünen und der
FDP zur Arbeitsmarktpolitik. Frau Dückert, die von Ihnen vorgetragenen Zahlen beim Vergleich mit den Nachbarländern stimmen. Aber dass Sie so tun, als wären Sie
die letzten 18 Jahre in der Opposition gewesen, ist nicht
nachvollziehbar. Sie waren - und das bis zum letzten
Jahr - über sieben Jahre an der Regierung beteiligt. Einen Teil der jetzigen Probleme Deutschlands haben Sie
mit verschuldet. Das ist die Wahrheit. Auch darüber
muss man an dieser Stelle reden.
({2})
Sie reden in Ihrem Antrag von Stillstand und fordern
die Bundesregierung auf, umgehend gesetzgeberische
Maßnahmen zu ergreifen. Das ist angesichts der veränderten Lage in Deutschland, der positiven Trendwende,
an Dreistigkeit kaum noch zu überbieten.
Lassen Sie mich die positive Entwicklung darstellen.
Auch das gehört dazu. Auf dem Arbeitsmarkt und beim
Wirtschaftswachstum gibt es positive Tendenzen. Die
Trendwende ist gelungen. Die Arbeitslosigkeit sinkt seit
einem Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir
400 000 Arbeitslose weniger. Das hat auch etwas mit der
neuen Regierung zu tun. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum Vorjahr um fast 200 000 angestiegen.
({3})
- Vielleicht sollte die Sitzung unterbrochen werden, bis
Sie sich beruhigt haben. Frau Dückert, ich wollte über
Ihren Antrag reden. Wir sollten zu einer gemeinschaftlichen Debatte zurückkehren.
({4})
- Ich bin nicht zickig. Aber wer so profiliert wie Sie,
Frau Künast, gerade hier aufgetreten ist, der muss sich
auch Kritik gefallen lassen. Auch das gehört zum Parlamentarismus.
Wie gesagt: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten ist um 200 000 gestiegen. In diesem Bereich sind unter Ihrer Mitwirkung in den letzten Jahren
Ihrer Regierung, Frau Dückert, täglich 1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. Die
heutige positive Entwicklung bedeutet nicht nur, dass
Menschen aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, sondern auch, dass wir eine Trendwende bei den Steuereinnahmen und Sozialabgaben erreicht haben. Auch das
sind, gerade im ersten Arbeitsmarkt, wichtige Beiträge.
({5})
Wir haben 105 000 offene Stellen. Auch das ist ein
Anzeichen für eine Trendwende. All das hat - sicherlich
nicht nur, aber auch - mit der neuen Bundesregierung zu
tun.
({6})
- Herr Niebel, wenn Sie beteiligt wären,
({7})
würden Sie das anders sehen. Ich weiß, wie Sie reden
können.
Zum Herbstgutachten. In den letzten Tagen, sechs
Monate nach Vorlage des Frühjahrsgutachtens, haben die
Wirtschaftsweisen ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2006 um 0,5 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent
erhöht. Für 2007 - Sie, Frau Dückert, sprachen von einer
Delle - wird jetzt ein Wirtschaftswachstum von immerhin 1,4 Prozent prognostiziert. Es besteht Hoffnung, dass
2007 tatsächlich nur eine Delle sein wird und dass das
Wirtschaftswachstum eine durchtragende Wirkung hat.
Auch das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
({8})
- Nein, das ist das Wirtschaftsgutachten.
Laut Gutachten wird die Arbeitslosenquote im Vergleich zwischen 2005 und 2007 von 11,2 Prozent auf
9,9 Prozent sinken. Jetzt liegt sie bei 10,2 Prozent. Auch
das ist eine positive Tendenz, die darauf schließen lässt,
dass es in diesem Bereich vorangehen wird.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie wissen, dass wir zurzeit in einer Arbeitsgruppe der Koalition über Arbeitsmarktpolitik reden.
({9})
Die Arbeitsgruppe ist ergebnisoffen. Wir haben Experten
angehört. Wir befinden uns noch im Entscheidungsfindungsprozess. Wir werden über die Aussagen der Experten debattieren und zu Entscheidungen kommen. Darauf
können Sie sich verlassen. Wir reden zum Beispiel über
die Themen, die hier angesprochen wurden: Mindestlohn, Kombilohn, Effizienz von Maßnahmen nach dem
SGB II, dritter Arbeitsmarkt.
({10})
- Nein, wir werden zu Taten kommen. Darin unterscheiden wir uns vielleicht von Ihnen. Ein paar gute Taten
habe ich Ihnen eben schon genannt. - Bei der Arbeitsmarktpolitik sind wir voll im Plan. Unsere Absicht, die
unwahrscheinlich vielen Maßnahmen zur Eingliederung
zu bündeln, wird im Rahmen der Evaluierung verwirklicht.
Heute stehen vor allem zwei Themenfelder im Vordergrund - an diesen Punkten müssen wir noch richtig
viel arbeiten -: die hohe Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten und die Langzeitarbeitslosigkeit. Frau
Dückert, ein Vergleich mit dem Ausland reicht nicht aus.
Ich darf daran erinnern, dass der Ausschuss in der Zeit
vor der Hartz-Gesetzgebung, die Sie in Ihrer Regierungszeit vollzogen haben, England besucht hat. Dort
haben wir uns über die dortigen Methoden informieren
lassen. Sie haben ein bisschen Ähnlichkeit mit der
Hartz-Gesetzgebung. England hat nur deswegen 5 Prozent Arbeitslose - das zur Argumentation mit Vergleichen -, weil man eine Kehrtwendung vollzogen hat:
Man hat diejenigen, die nicht oder nur ganz schwer vermittelbar sind, aus dieser Statistik herausgenommen, sie
sozusagen unter ständige Abwesenheit vom Arbeitsmarkt gestellt. In England sind das inzwischen über
2 Millionen Menschen. Es ist klar, dass die Arbeitslosenquote in England geringer ist, weil die Langzeitarbeitslosen nicht mitgezählt werden.
Ich will ein paar Worte über den Antrag der FDP
verlieren.
({11})
- Das ist der „eingesprungene doppelte Niebel“. Wir debattieren heute zum x-ten Mal darüber. - Sie versuchen,
die Mehrwertsteuer wieder zum Thema zu machen, sie
populistisch zu nutzen. Der Ansatz Ihrer Forderung ist
im Grunde völlig klar.
Diese Koalition hat beschlossen,
({12})
den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte, von 6,5 auf 4,5 Prozent, abzusenken. Einen solchen Durchbruch hat es in der ganzen Zeit zuvor nicht
gegeben.
({13})
Die Bundesagentur für Arbeit hat einen höheren
Überschuss als erwartet erwirtschaftet. Daher diskutieren wir aktuell über die Frage, ob es möglich ist, den
Beitrag über die 4,5 Prozent hinaus vielleicht auf
4,2 Prozent oder mehr zu senken. Wir werden das nicht
mit Ihrem Antrag umsetzen,
({14})
weil er zwei Fehler hat:
({15})
- Das gar nicht mal. - Erstens. Aus meiner Sicht kommt
er heute ein paar Tage zu früh, weil man einige Zahlen
abwarten sollte.
({16})
Ich möchte wirklich - damit das klar ist -, dass wir zu einer Absenkung kommen. Ich möchte auch, dass wir jede
Chance nutzen, den Beitrag darüber hinaus weiter zu
senken. Ich möchte aber vermeiden, dass wir in den
nächsten Monaten und Jahren einen Zickzackkurs fahren.
({17})
- Das ist klar. Das ist leicht begründbar.
Sie machen noch einen zweiten Fehler. Herr Niebel,
da Sie gleich im Anschluss sprechen, bitte ich Sie: Erklären Sie mir einmal, wie die FDP eine Senkung des
Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte oder sogar in noch größerem Umfang realisieren will,
({18})
ohne die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung zu verwenden.
({19})
- Sie wollen eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte und mehr.
Eine Senkung des Beitragssatzes um 2 Prozentpunkte
entspricht einem Betrag von 14,4 Milliarden Euro.
({20})
Wir wissen, dass der Überschuss der Bundesagentur
für Arbeit zurzeit 9,6 Milliarden Euro beträgt. Vielleicht
werden es sogar 12 Milliarden Euro.
({21})
Erklären Sie mir, wie Sie einen Betrag von 14,4 Milliarden Euro decken wollen, ohne die Einnahmen aus der
Erhöhung der Mehrwertsteuer anzutasten, wenn die
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit - das ist eine
optimistische Schätzung - lediglich 12 Milliarden Euro
betragen. Sie müssen berücksichtigen - das wissen Sie -,
dass im Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr
einmalig ein Betrag von 3 Milliarden Euro enthalten ist,
der auf die 13. Sozialversicherungsbeitragszahlung zurückzuführen ist.
Sie wollen Korrekturen bei der Bundesagentur für
Arbeit; das können Sie gerne fordern, Herr Niebel.
({22})
So steht es in einem Ihrer Anträge, der durch die Reihen
geistert und in dem Sie sich sozusagen als Rächer der
Enterbten darstellen. Man hat den Eindruck, dass jemand, der früher einmal bei der Bundesagentur gearbeitet hat, nun Rache nehmen will, indem er sich darum bemüht, dass die Agentur aufgelöst wird.
({23})
Dass es möglich ist, dadurch schnell einige Milliarden
Euro einzusparen, möchte ich stark bezweifeln. Sie haben Ihren Antrag nicht richtig durchgerechnet. Er enthält
zwar ein paar Hinweise darauf, an welchen Stellen gespart werden könnte. Aber Sie nennen keine konkreten,
messbaren Zahlen.
Wir gehen einen anderen Weg: Wir wollen eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung
um mindestens 2 Prozentpunkte. Die Einnahmen, die
wir erzielen, wollen wir nutzen, um den Beitragssatz
möglichst noch weiter zu senken. Das wollen wir zeitnah
zur Jahreswende tun, und zwar auf der Grundlage eines
gesicherten Ansatzes.
Ich habe die Bitte, dass wir diesen Abschlag RomerAbschlag nennen. Denn der Kollege Franz Romer - ich
glaube, es war im April oder Mai dieses Jahres - war der
erste aus unserer Fraktion, der darauf hingewiesen hat,
dass hier mehr Luft vorhanden ist. Ich freue mich darüber, dass das wirklich zutrifft.
Meine Redezeit ist gleich abgelaufen. Herr Niebel,
ich bin gespannt, was Sie dazu sagen, wie Sie Deutschland retten wollen. Ich höre von Ihnen immer, wir könnten noch radikaler kürzen und hier und dort noch weitere
Milliarden Euro einsparen. Dadurch versuchen Sie den
Glauben zu verfestigen, dass wir ohne Mehrwertsteuererhöhung auskämen.
({24})
Meine letzte rhetorische Frage, die ich an Sie richten
möchte, lautet: Glauben Sie selbst eigentlich wirklich,
dass es keine Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland
gegeben hätte, wenn die Schwarzen und die Gelben eine
Koalition eingegangen wären?
({25})
Die Antwort lautet eindeutig: nein. Diese Schlacht hätten Sie verloren.
({26})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut einem schon fast weh zu
sehen, wie der arme Kollege Meckelburg herumeiern
muss,
({0})
um deutlich zu machen, weshalb die Bundesregierung
unbedingt an der arbeitsplatzfeindlichen Mehrwertsteuererhöhung festhalten muss, obwohl alle Zahlen etwas
anderes nahe legen.
Die Kollegen von der Sozialdemokratie müssten nach
dem letzten Wahlkampf eigentlich innerlich quietschen,
weil sie völlig zu Recht darauf hingewiesen haben, dass
die Mehrwertsteuererhöhung Arbeitsplätze kostet. Dennoch mussten sie sich von der CDU/CSU auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte hochhandeln lassen. Diese vermeintliche große Koalition ist ein
großes Problem für die Bundesrepublik Deutschland.
({1})
- Herr Brandner, wenn man den Begriff „große Koalition“ hört, denkt man nicht nur an Größe. Das hat auch
einen qualitativen Gesichtspunkt.
({2})
Aber diese Regierung aus schwarzen und roten Sozialdemokraten ist nicht einmal in der Lage, einen Irrtum einzugestehen. Sie könnten nach wie vor sagen: Wir kehren
um. Diesen Schritt könnten Sie sogar noch positiv verkaufen. Denn es war schließlich so, dass die Angst vor
der Mehrwertsteuererhöhung den Konsum gestärkt hat.
Wenn Sie die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung
jetzt zurücknehmen würden, könnten Sie diese positiven
Impulse dennoch mitnehmen. All das könnte man rhetorisch so verpacken, dass man als Sieger dasteht. Nein,
Ihnen geht es ganz klar um etwas anderes: Sie wollen auf
Ihrem Abkassierkurs bleiben und den Menschen immer
mehr Geld wegnehmen. Sie machen sich einen schlanken Fuß und wollen die Aufgaben des Staates nicht angehen.
({3})
Natürlich ist der Faktor Arbeitskosten ganz entscheidend, wenn es um die Fragestellung geht, ob neue
Beschäftigungsverhältnisse entstehen bzw. ob die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben.
Deswegen ist die Senkung der Lohnnebenkosten im Hinblick auf die Arbeitslosenversicherung richtig; hier unterstützen wir Sie ausdrücklich. Es ist bloß falsch, dass
Sie diesen Schritt durch eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge und der Krankenversicherungsbeiträge kompensieren. Über die Pflegeversicherung trauen
Sie sich nicht einmal mehr zu reden, obwohl in diesem
Bereich noch viel größere Belastungen auf die Bürger
zukommen, als sie zurzeit ahnen mögen.
Sie wollen die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der
Mehrwertsteuererhöhung zwingend dafür verwenden,
die Beitragssätze zu senken. Mit den Einnahmen aus den
übrigen 2 Prozentpunkten der Mehrwertsteuererhöhung
sollen die Haushaltslöcher von Bund und Ländern gestopft werden. In letzter Zeit habe ich in vielen Zeitungen
gelesen - in diesem Zusammenhang wundere ich mich
wirklich über die Terminologie und die Sichtweise -, die
Bundesagentur für Arbeit habe Überschüsse erwirtschaftet. Lieber Wolfgang Meckelburg, die Bundesagentur für
Arbeit mag vieles können. Aber eines kann sie mit Sicherheit nicht: etwas erwirtschaften.
({4})
Alles, was die Bundesagentur an Geld zu viel hat, hat sie
vorher Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu viel weggenommen. Deshalb muss sie es genau diesen zurückgeben.
({5})
Wenn Sie tatsächlich an dieser arbeitsplatzfeindlichen
Mehrwertsteuererhöhung festhalten wollen und Sie sich
davon - wider besseres Wissen! - nicht abbringen lassen
wollen, müssen Sie die zusätzlichen Spielräume nutzen,
um den Faktor Arbeit billiger zu machen; das ist doch
ganz einfach. Herr Beck kehrt auch um: Noch im Juli
dieses Jahres wollte Herr Beck zusammen mit dem Finanzminister in Manier moderner Raubritter dieses Geld
für den Haushalt des Finanzministers kassieren,
({6})
es den Arbeitnehmern wegnehmen. Jetzt kehren Sie um
und überlegen, mehr damit zu machen.
({7})
Unser Antrag dient dazu, das parlamentarisch auf den
Weg zu bringen. Die Regierung ist frei, per Rechtsverordnung den Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung
festzulegen. Wir wollen, dass das Parlament Ihnen zeigt,
dass wir dafür sind. Deswegen stellen wir diesen Antrag
heute.
Wir haben ganz bewusst nicht gesagt, ob man den
Beitragssatz mit der Mehrwertsteuererhöhung - die nach
wie vor falsch ist - vielleicht auf 4 Prozent oder 3,5 Prozent senken kann, weil das Jahr noch nicht zu Ende ist.
Doch dieser zusätzliche Spielraum für mehr Beschäftigung in Deutschland muss genutzt werden. Man muss
kein Professor für Volkswirtschaftslehre sein, um festzuDirk Niebel
stellen, dass ich Recht habe. Aber es hilft natürlich,
wenn ein Professor für Volkswirtschaftslehre wie
Friedrich Schneider von der Universität Linz, ein anerkannter Fachmann für Schwarzarbeit, deutlich sagt:
Eine Mehrwertsteuererhöhung ist das beste Programm
für Schwarzarbeit. Das weiß jeder und so haben Sie doch
im Wahlkampf auch argumentiert. Gerade im personalintensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, in der
Gastronomie, im Handel, bei den Reinigungskräften,
können Sie die Steuererhöhung nicht übertragen auf die
Preise, das führt gnadenlos in die Schwarzarbeit. Jetzt
sagen Sie vielleicht: Ist ja prima, die Schwarzarbeit ist
die Stütze des Wohlstands in Deutschland; denn das sind
alles Tätigkeiten, die normalerweise nicht ausgeübt werden, weil der Staat zu viel abkassiert. Sie müssen sich
entscheiden: Wollen Sie die sozialen Sicherungssysteme
auf stabile Grundlagen stellen? Dann müssen Sie dafür
sorgen, dass legale Arbeit in Deutschland günstiger
wird. Oder wollen Sie Kaufkraft generieren, am Staat
vorbei? Dann müssen Sie die Mehrwertsteuer auf
20 oder 25 Prozent erhöhen, weil dann erst recht alles direkt in den Konsum geht.
({8})
Denn der Schwarzarbeiter bringt das Geld nicht aufs
Sparbuch, er gibt es aus. Also: Wenn Sie ein Förderprogramm für Schwarzarbeit wollen, dann sagen Sie das!
Ich halte es für falsch.
Herr Brandner, „Merkelsteuer, das wird teuer“ - ich
weiß, es ist völlig unfair, Sie an Ihre Wahlversprechen zu
erinnern.
({9})
Kein Wunder, dass die Leute in Deutschland frustriert
sind von der Politik.
Nein, es gibt jetzt die Möglichkeit, umzukehren, diesen Unsinn zu lassen. Man würde Sie ein, zwei Tage mit
Häme überziehen - ich natürlich auch -; aber dann wären die Menschen zufrieden, weil sie etwas davon hätten.
Sie können in diesem Punkt noch eine gute Regierung
werden, wenn Sie sich bemühen. Wenn Sie von der
Mehrwertsteuererhöhung nicht ablassen wollen, nutzen
Sie das Geld, das den Menschen zu viel abkassiert worden ist, um die Arbeitskosten in Deutschland zu senken - so viel wie irgend möglich. Selbst wenn nur durch
den einen zusätzlichen Beitrag, der dieses Jahr eingezogen wird, mehr Geld da wäre, würde es sich lohnen, den
Beitragssatz zu senken, und sei es nur zeitweise. Wenn
das Geld nicht mehr reicht, muss man ihn halt wieder erhöhen. Aber man hat wenigstens etwas Luft gewonnen
für mehr Beschäftigung und Arbeit in Deutschland.
Herr Clever, Ihr CDU-Parteifreund im Verwaltungsrat
der Bundesagentur für Arbeit, hat gestern den Medien
gegenüber erklärt, man müsse davon ausgehen, dass
eventuell - wenn die Konjunktur stabil bleibe - die
Mehreinnahmen noch 2009 tragen würden. Das Jahr
2008 hat er schon abgehakt, er rechnet dafür schon fest
mit Mehreinnahmen, mit vermeintlichen Überschüssen,
also mit mehr Abkassieren. Nutzen Sie doch die Möglichkeiten, sich bis zum voraussichtlichen Bundestagswahljahr 2008 - mit Hängen und Würgen vielleicht auch
2009 - einen positiven Stand bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu verschaffen! Ich wundere mich, dass überhaupt noch 60 Prozent der Menschen in diesem Land zu
CDU/CSU und SPD stehen. Sie haben die Chance, die
Menschen an sich zu binden. Das ist eigentlich die letzte
Rettung, die Sie in dieser vermeintlich großen Koalition
noch haben. Die Menschen brauchen diese Rettung;
denn sie wollen mitmachen in diesem Land, sie wollen
nicht in die Illegalität getrieben werden durch Ihre falsche Politik. Jetzt haben Sie die Chance, nutzen Sie sie!
({10})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu allererst ein
Wort zur Inszenierung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen sagen. Mit dieser Inszenierung haben Sie
der Ernsthaftigkeit Ihres Antrags einen Bärendienst erwiesen. Denn wer ernsthaft über das Thema diskutieren
will, führt am Anfang keine solche Inszenierung auf.
Schließlich wissen Sie, dass der Bundesminister heute
zu gleicher Zeit in Sachen Arbeitsmarkt eine Konferenz
abhält - die fünfte Anhörung der Arbeitsgruppe des
BMAS -, auf der es exakt darum geht, wie die Effizienz
im Bereich des SGB II gesteigert werden kann. Jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, sind Fachleute zusammen, um
über dieses Thema zu beraten. Ich bitte einfach, das zu
berücksichtigen.
({0})
Da Staatssekretär Thönnes von dem zuständigen Ministerium anwesend ist, ist die Bundesregierung vertreten.
Es gibt bei uns keine halben, sondern nur ganze Staatssekretäre. Herr Thönnes wird das, was beraten wird, letztlich auch übertragen.
({1})
Lassen Sie mich nun zu den heute zur Debatte stehenden Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP
kommen. Ich möchte etwas ausgesprochen Positives ansprechen, nämlich die Früchte unserer Politik. Die SPDPolitik und teilweise auch die Politik von Bündnis 90/
Die Grünen
({2})
der vergangenen Jahre und unsere heutige Politik zeigen
ihre Wirkungen in einer Wachstumsdynamik, von der
in diesem Land nahezu alle überrascht sind.
({3})
Natürlich wurden durch die gemeinsame rot-grüne Politik und durch die Agenda 2010 die Grundlagen hierfür
geschaffen. Diese haben wir mit der CDU/CSU jedoch
fortgesetzt und weiterentwickelt.
({4})
Von einem Reformstillstand, den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, kann deshalb überhaupt keine Rede sein.
({5})
Ich könnte Ihnen die Stichworte für das, was nicht nur
angepackt, sondern auch zu Ende gebracht wurde - zum
Beispiel die Föderalismusreform -, in einer ellenlangen
Breite vortragen.
({6})
Im Bereich des Arbeitsmarktes geht es von der Saisonkurzarbeit über die Unternehmensteuerreform und die
Erbschaftsteuerreform, die jetzt auf der Tagesordnung
steht,
({7})
bis zu der Regelung der Mitbestimmung in Europa. All
diese wichtigen Dinge berühren die Arbeitnehmer und
den Arbeitsmarkt. Wenn Sie die Augen aufmachen, dann
erkennen Sie auch, dass wir in diesem Land Positives erleben. Positives macht im Übrigen auch mehr Spaß, als
dauernd nur in der Ecke zu stehen und herumzunörgeln.
Damit kann man das Land nicht nach vorne bringen.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Aufschwung ist ausgesprochen robust. Trotz eines Energiepreises, der, wie wir alle wissen, exorbitant hoch ist - er
ist auf einem historischen Höchststand - und durch den
den Verbrauchern ein nicht nur unwesentlicher Teil ihres
Einkommens aus der Tasche gezogen wird, erwarten wir
ein Wachstum von etwa 2,5 Prozent. Es ist ein positives
Zeichen, dass die konjunkturelle Lage im Land trotz dieser Situation günstig ist. Deshalb stimme ich den Optimisten ausdrücklich zu, die trotz der Mehrwertsteueranhebung im nächsten Jahr in dem Herbstgutachten von
einem robusten Aufschwung ausgehen.
({9})
Sie sagen: Er wird nur leicht beeinträchtigt sein; der
Trend bleibt. - Deshalb ist es auch richtig, dass die
Mehrwertsteuererhöhung für die Senkung der Lohnnebenkosten genutzt wird. Genau das hat Frau Dückert in
ihrer Rede eben gefordert.
({10})
Ich glaube, das, was wir heute gehört haben, zeigt,
dass Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind. Heute titeln die
Tageszeitungen: Keine Angst vor der Mehrwertsteuererhöhung. Insofern sind Sie nicht aktuell. Sie sollten sich
die aktuelle Situation vor Augen führen. Dann wären Sie
auch wieder mitten im Geschäft. Das will ich an diesem
Punkt nur einmal ganz deutlich sagen.
Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir momentan
erleben, positiv ist. Thea Dückert, sowohl bei der
Wachstums- als auch bei der Beschäftigungsentwicklung
in diesem Land zeigt der Daumen nach oben. Eines steht
fest: Nach vier wachstumsschwachen Jahren macht sich
die verbesserte Konjunktur immer stärker auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Forschungsinstitute rechnen
in diesem Jahr mit durchschnittlich 320 000 Arbeitslosen weniger.
({11})
- Keine Sorge, ich komme noch zu den Langzeitarbeitslosen.
({12})
Im nächsten Jahr werden es durchschnittlich mindestens
200 000 Arbeitslose weniger sein. Ich will ganz deutlich
sagen: 2007 haben wir die Chance, die psychologisch
wichtige historische Marke von 4 Millionen Arbeitslosen einige Monate lang zu unterschreiten. Ich glaube,
diesem Ziel sollten wir uns alle gemeinsam verpflichtet
fühlen.
({13})
Ich finde, das ist eine gute Entwicklung. Die Menschen erhalten Arbeit und die Sozialkassen werden entlastet. Das ist Ergebnis unserer Politik, also sowohl das
Ergebnis der Grundlagen, die in der Vergangenheit gelegt wurden, als auch dessen, was wir jetzt systematisch
und, wie man sieht, in einem guten Klima mit dem
Koalitionspartner CDU/CSU fortsetzen.
({14})
Deshalb will ich ganz klar sagen: Thea Dückert, ich
freue mich, dass wir schon bis September dieses Jahres
eine Reduzierung der Zahl der Langzeitarbeitslosen um
150 000 erreicht haben.
({15})
Fest steht: Die Auswirkungen des Rückgangs der Zahl
der Langzeitarbeitslosen kommen logischerweise immer
etwas zeitversetzt an. Der konjunkturelle Aufschwung
zeigt zuerst bei den übrigen Arbeitslosen Wirkung. Das
haben auch die Grünen anerkannt. Derzeit erleben wir
mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung und bei einem
durch die Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verursachten stärkeren Zugang einen deutlichen
Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen.
Die Zahlen sind aus meiner Sicht nicht zufriedenstellend, wenn man - wie die SPD - am Ziel der Vollbeschäftigung festhält. Wir halten daran fest. Wir fühlen
uns diesem Ziel verpflichtet und treten offensiv und engagiert dafür ein.
({16})
Die Vergleichszahlen im Rahmen der OECD stimmen - um das klar zu sagen - bezüglich der Langzeitarbeitslosigkeit nicht immer optimistisch. Das ist völlig
richtig. Aber die Redlichkeit verlangt, dass man auch
sieht - das machen die Angaben zur Erwerbsfähigkeitsdefinition deutlich -, dass in Deutschland 3,1 Prozent, in
England 6,5 Prozent und in Holland 8,5 Prozent der
Menschen erwerbsunfähig sind.
Wir haben mit Hartz IV die Menschen aus der Sozialhilfe geholt. Wir haben sie erfasst und uns zum Ziel gesetzt, allen, die einigermaßen zu fördern sind, eine
Chance zu bieten, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das kaum irgendwo so
konsequent angegangen worden ist. Insofern erfordert
die Redlichkeit, dass bei einem Vergleich der Arbeitslosenzahlen auch diese Fakten berücksichtigt werden.
({17})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dückert?
Ja bitte.
Herr Kollege Brandner, können Sie dem staunenden
Publikum und mir erklären, wie die Arbeitslosenzahlen,
die belegen, dass im September 2005 37,4 Prozent und
im September 2006 42,4 Prozent der Arbeitslosen langzeitarbeitslos waren, als eine Kürzung der Zahl der
Langzeitarbeitslosen in diesem Lande interpretierbar
sind?
({0})
Kollegin Dückert, ich habe Ihnen gerade die Entwicklung der Zahlen erläutert. Wir haben eine positive Entwicklung, die jetzt konjunkturverzögert wirksam wird.
Sie wählen einen Langzeitvergleich, was insofern nicht
seriös ist.
Ich habe deutlich gemacht, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen von Januar bis September deutlich reduziert worden ist. Diese Entwicklung ist wichtig und wir
müssen sie systematisch fortsetzen. Sie steht zum einen
mit der gesamtkonjunkturellen Entwicklung und zum
anderen mit der Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes im Zusammenhang, durch die der Zugang in
die Langzeitarbeitslosigkeit formal bzw. statistisch zugenommen hat.
Dieser Weg ist richtig und zeigt den positiven Trend
auf. Deshalb wären Sie gut beraten, diesen positiven
Weg mit zu unterstützen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Brauksiepe?
Bitte.
Herr Kollege Brandner, sind Sie bereit, der Kollegin
Dückert zu erklären, dass sich bei einem Abbau der Arbeitslosigkeit, der sich in erster Linie auf ALG-I-Empfänger konzentriert, sich darüber hinaus aber auch bei
ALG-II-Empfängern erfolgreich auswirkt, automatisch
der Prozentsatz der ALG-II-Empfänger erhöhen muss,
wenn man bei den ALG-I-Empfängern noch erfolgreicher ist als bei den ALG-II-Empfängern? Wenn die
Kurzzeitarbeitslosigkeit stärker zurückgeht als die Langzeitarbeitslosigkeit, ergibt sich dieser Effekt nämlich automatisch.
({0})
Herr Brauksiepe, Sie haben mit Ihrem interessanten
und positiven Beitrag Frau Dückert schon den Sachverhalt erklärt. Ich glaube, sie braucht keinen weiteren mathematischen Nachhilfeunterricht. Insofern ist ein weiteres Argument dafür angeführt geworden, dass der Kurs,
den wir zurzeit verfolgen, positiv ist. Ich danke Ihnen.
({0})
Ich will aber den Kernpunkt der Debatte noch einmal
aufgreifen. Die Langzeitarbeitslosigkeit hat nachhaltige
Ursachen, die wir angehen müssen. Diese Ursachen liegen in fehlender Ganztagsbetreuung, schlechten Ausbildungssystemen und nicht genügender Qualifizierung.
Wir machen uns deshalb auf den steinigen Weg, bei den
Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit anzusetzen, indem wir mehr Geld für Forschung und Entwicklung sowie insbesondere für Bildung und Ganztagsbetreuung
zur Verfügung stellen. Dieser Weg ist der einzige, der
nachhaltig aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausführen
kann; denn wir wissen, dass zunehmend mehr Langzeitarbeitslose zu geringe berufliche Kenntnisse, zu große
Vermittlungshemmnisse haben und deshalb auf dem Arbeitsmarkt regelrecht eingemauert wären, wenn es uns
nicht gäbe, die wir diesen Trend erkannt haben und ihn
systematisch bekämpfen.
Die Arbeitsmarktpolitik allein kann aber nur wenige
Arbeitsplätze schaffen. Wir haben sie daher in ein
Gesamtkonzept integriert. Dieses ist erfolgreich, insbesondere wenn es um zukünftige Investitionen geht. Die
Entwicklung der Steuereinnahmen verläuft weitaus
günstiger. Die bislang bekannten Daten zeigen, dass
Bund, Länder und Kommunen 2006 insgesamt 30 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen im Vergleich zum
Vorjahr haben werden. Das ist ein deutliches Zeichen,
dass mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.
Es kann den Arbeitsmarkt in Schwung bringen, wenn
diese finanziellen Ressourcen für Investitionen genutzt
werden.
({1})
Was wollen wir? Wir wollen in der Arbeitsmarktpolitik die Sicherheit erhalten. Meine Damen und Herren
von den Grünen, Sie fordern in Ihrem Antrag die Einführung eines branchen- und regionalspezifischen Mindestlohns. Dieses Anliegen ist aus unserer Sicht ernst zu
nehmen. In diesem Zusammenhang muss man aber bedenken, was sich in diesem Land verändert hat. Rund
2,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für
Löhne, die geringer sind als die Hälfte des Durchschnittseinkommens. Die Tarifbindung hat sich zudem
drastisch verschlechtert. Sie beträgt in Westdeutschland
nur noch 59 Prozent und in Ostdeutschland 42 Prozent.
So genannte Armutslöhne werden auch ausweislich vieler Tarifverträge gezahlt. Da wir aber solche Niedriglöhne als ein Risiko für eine sich in Deutschland
verfestigende Armut ansehen, wollen wir sie nicht hinnehmen.
({2})
Wir wollen, dass die Menschen von ihrem Einkommen leben können. Wir wollen gerechte Löhne für gute
Arbeit. Unsere Forderungen sind klar:
Erstens. Wir wollen, dass die Tarifpartner so stark
sind, dass sie in der Lage sind, zu verhindern, dass Armutslöhne akzeptiert werden müssen.
Zweitens. Wir wollen eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf möglichst viele Branchen.
Die Bundesregierung hat damit bereits beim Gebäudereinigerhandwerk begonnen. Hierzu ist die Beschlusslage klar. Auch die Zeitarbeit bietet aus unserer Sicht
hierfür ein Potenzial.
Drittens. Wir wollen, dass in denjenigen Branchen, in
denen es keinen Tarifvertrag gibt oder das Lohnniveau
sehr niedrig ist, gesetzliche Mindestlöhne eingeführt
werden. Dieses Ziel verfolgen wir Sozialdemokraten
systematisch. Wir wollen damit für mehr Sicherheit in
diesem Land sorgen; denn wir wollen soziales Unrecht
nicht akzeptieren.
({3})
Nun erleben wir zurzeit eine Debatte über den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung. Wir freuen
uns sicherlich über die hervorragende Entwicklung. Wir
wollen aber keine Stop-and-go-Politik. Vielmehr wollen
wir - das mahne ich deutlich an -, dass die für Weiterbildung und Qualifizierung vorgesehenen Mittel in vollem
Umfang zur Verfügung gestellt werden. Die Situation
ist: Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungstitel nicht ausgegeben.
Hier sind Chancen nicht genutzt worden. Das ist sicherlich keine positive Entwicklung. Aber insgesamt ist der
Einnahmenüberschusses der BA ein Ergebnis des Umbaus der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister. Wir danken den dort Beschäftigten, dass
sie an diesem Umbauprozess aktiv mitgearbeitet und ihn
erfolgreich gestaltet haben. Wir wollen aber, dass für das
Fördern eine ausreichende Zahl an Instrumenten zur Verfügung steht, und zwar auf einem qualitativ hoch stehenden Niveau.
({4})
Ich will zum Schluss eine kritische Anmerkung machen. Heute ist in den Tageszeitungen zu lesen, dass bestimmte Ministerpräsidenten und Minister wiederholt
die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlangen. Diese Herren haben am Tisch gesessen, als die Koalitionsvereinbarung gestrickt worden ist.
Herr Kollege, ich wäre dankbar, wenn Sie das kurz
und knapp erklären würden.
({0})
Der Kernpunkt ist, dass hier etwas ausgelöst worden
ist, das bei konsequenter Fortführung die sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich sprengen würde. Hier wird
das Motto vorgelebt, dass jeder, der sich privat versichert, und jeder, der viel einzahlt, viel Geld zurück bekommt. Das widerspricht dem Solidargedanken in einem
sozialen Sicherungssystem fundamental. Deshalb sage
ich ganz deutlich: Man muss sich sehr überlegen, ob
man hier zündeln will. Denn man kann nicht auf der einen Seite im Bereich der Hartz-IV-Empfänger die
Treppe vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wollen, auf der anderen Seite aber regelmäßig
von Generalrevision und Kürzungen sprechen und durch
solche Forderungen ein solidarisches Versicherungssystem infrage stellen.
Herr Kollege, Sie sprechen auf Kosten des nachfolgenden Redners.
({0})
Es ist kein positives Zeichen, dass einige Ministerpräsidenten in diesem Land zurzeit auf Egoismus setzen.
Das verurteile ich aufs Schärfste.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Kornelia Möller, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brandner, Ihre Koalitionsrhetorik in allen Ehren, aber
wenn Worten keine wirklichen Taten folgen, dann bleibt
es dabei, dass es Worte aus dem Reich der Mythen und
der Märchen sind.
({0})
Schauen wir uns die Realität an: Ungefähr
40 000 Jugendliche in diesem Land haben keine Lehrstelle. Das feiern Sie als Erfolg des Ausbildungspakts.
Unglaublich! Die Notlage der Jugendlichen scheinen Sie
dabei zu vergessen. Es sind Jugendliche, die mit
Hartz IV aufwachsen und zur Schule gehen, um anschließend in der Arbeitslosigkeit zu landen, es sind
Menschen, die von Geburt an in eine Rolle gedrängt
werden, aus der sie nicht mehr herauskommen. Ganz
junge Menschen, die doch noch voller Hoffnung sein
sollten, resignieren und sagen: Ich bin Hartz IV. - Deshalb werde ich nicht müde, dieser Resignation zu begegnen und Sie, meine Damen und Herren, zu erinnern, dass
Hartz IV sowohl handwerklich als auch sozial ein
schlechtes Gesetz ist, einer demokratischen Gesellschaft
unwürdig.
({1})
Dem grundsätzlichen Motto Ihres Antrags, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, können
wir durchaus zustimmen, wird doch einmal mehr deutlich, dass sich die Opposition im Bundestag mehr Gedanken zum Abbau der Arbeitslosigkeit macht als die
Bundesregierung; denn die hat sich im ersten Jahr ihrer
Arbeit vorrangig damit beschäftigt, wie geplante Gelder
für aktive Arbeitsmarktpolitik eingespart und gesperrt
werden können.
({2})
Allerdings versprechen Sie mit der Überschrift viel
mehr, als Sie dann im Antrag halten. In grundsätzlichen
Fragen, aber auch im Detail gibt es in einer Reihe von
Punkten deutliche Unterschiede zu unseren Positionen.
Das, was Sie bereits während Ihrer siebenjährigen Regierungsbeteiligung versäumt haben, spielt für Sie auch
heute keine Rolle: die nötige Wende hin zu einer nachhaltigen Beschäftigungspolitik. Das aber ist der Schlüssel zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Hier müssen
die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Arbeit
gestellt werden, nicht auf Nebenschauplätzen oder durch
einen Katalog von Einzelmaßnahmen.
Wenn das Prinzip „Fördern und Fordern“ Veränderungen bewirken soll, dann gehört zum Fördern, das sowohl unter Rot-Grün als auch jetzt unter Schwarz-Rot
äußerst stiefmütterlich behandelt wurde, zumindest eine
Politik zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann
nicht ständig von arbeitslosen Menschen fordern, während das, was gefördert wird, einzig die Arbeitslosigkeit
ist.
({3})
Den Rückgang der Arbeitslosigkeit, den wir gegenwärtig erleben und den alle, die einen Arbeitsplatz erhalten, sicher begrüßen, können Sie in keiner Weise als Resultat rot-grüner Regierungspolitik verkaufen. Es ist aber
auch kein Resultat schwarz-roter Regierungspolitik,
auch wenn Herr Brandner das gern in beiden Fällen so
darstellen möchte. Dies ist nichts anderes als das zeitweilige positive Durchschlagen weltwirtschaftlicher
konjunktureller Entwicklungen auf den deutschen Arbeitsmarkt. Leider ist die große Koalition dabei, die
positiven Ansätze durch ihr Festhalten an der Erhöhung
der Mehrwertsteuer wieder zu gefährden, auch wenn ein
Teil der Medien heute etwas anderes berichtet.
Wir sind also weit von gestaltender Politik entfernt.
Eine die Zukunft der Arbeit gestaltende Politik bedeutet,
makroökonomische Entscheidungen auf Beschäftigungseffekte auszurichten. Deshalb fordert die Fraktion
Die Linke unter anderem ein öffentliches Investitionsprogramm, das diesen Namen auch verdient, eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Ausweitung öffentlich
finanzierter Beschäftigung und politische Weichenstellungen, um die Binnennachfrage zu fördern.
({4})
Nur so erreichen wir eine Verbesserung der Beschäftigungssituation auch und vor allem für ältere Menschen.
Auf dieser Grundlage können wir den Vorschlägen
des Bündnisses 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag
zustimmen. Zustimmen können wir auch dem Vorschlag,
im Rahmen des SGB II langfristig und sozialversicherungspflichtig, das heißt, öffentlich finanziert, Arbeitsplätze im dritten Sektor einzurichten. Die Fraktion Die
Linke will dies bekanntlich auf der Grundlage eines
Mindestlohns von 8 Euro pro Stunde und hat einen
eigenen Antrag eingebracht. Öffentlich finanzierte
Beschäftigung würde einem erheblichen Teil der Langzeitarbeitslosen, die sonst dauerhaft von Erwerbsarbeit
ausgeschlossen sind, wieder eine Zukunft geben. Nach
unseren Vorstellungen könnte bis 2009 eine halbe Million sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze entstehen.
Ähnliche Überlegungen liegen den Vorschlägen der
Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt sowie des DGBs, einiger seiner Einzelgewerkschaften und vieler weiterer gesellschaftlicher Kräfte zugrunde, mit denen die Fraktion
Die Linke im Grundsatz übereinstimmt. Gerade die großen Sozialverbände sind stark daran interessiert, auf diesem Weg jene Aufgaben anzupacken, die im Bereich der
kommunalen, sozialen und Bildungsinfrastruktur im
Moment weitgehend unerledigt bleiben und zu sozialen
Problemen führen können. Es handelt sich vielfach um
Aufgaben, die überwiegend nicht dem Bereich gering
qualifizierter Tätigkeiten zuzuordnen sind, wie das auch
die Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern bestätigen. Insofern und auch aus prinzipiellen Erwägungen
heraus wollen wir Beschäftigungsverhältnisse, die tariflich bzw. in Anlehnung an branchen- oder ortsübliche
Entgelte, zumindest aber auf der Grundlage eines monatlichen Arbeitnehmerbruttoeinkommens von 1 400 Euro
entlohnt werden.
Es ist völlig klar, dass es dafür zusätzlich zu den gebündelten Mitteln aktiver und passiver Leistungen, die
ohnehin ausgegeben würden, eines geringen Teils an
Geldern bedarf. Deshalb setzen wir uns dafür ein, einen
Teil der Überschüsse der BA dafür zu verwenden. Dies
sind eingezahlte und zweckbestimmte Mittel aus dem
Beitragsaufkommen der Arbeitslosenversicherung. Sie
sollten deshalb zweckgebunden für den Abbau der Arbeitslosigkeit und insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit eingesetzt werden und nicht, wie von der FDP gefordert, an die Beitragszahler zurückfließen.
({5})
Der momentane leichte Aufschwung geht an den langzeitarbeitslosen Menschen vorbei. Waren es vor einem
Jahr - wir haben es bereits gehört - noch 37,6 Prozent, so
sind heute bereits 42,4 Prozent aller Erwerbslosen langzeitarbeitslos.
({6})
Die falschen Weichenstellungen durch Rot-Grün und
jetzt Schwarz-Rot haben wesentlich zur Verfestigung der
Langzeitarbeitslosigkeit beigetragen, auch wenn Sie das
nicht wahrhaben wollen, Herr Kollege.
({7})
Ich erinnere nur an die einseitig Kosten optimierenden
Handlungsprogramme der Bundesagentur, ausgedacht
von Unternehmensberatern und unter anderem vom
Bundesrechnungshof kritisiert, bei denen Millionen von
Betroffenen rechtswidrig aussortiert und Vermittlungsbemühungen auf Alibiveranstaltungen reduziert werden. Auch die diesjährige Sperrung von Integrationsmitteln durch die große Koalition gehört zu den Faktoren,
die die Langzeitarbeitslosigkeit verschärfen. Das sind
die aktuellen schweren Sünden der Politik gegenüber
langzeitarbeitslosen Menschen.
({8})
Noch schwerer wiegen allerdings jene bereits weiter
zurückliegenden Fehler im Zusammenhang mit den
Hartz-Gesetzen, die die Beschäftigungssituation äußerst
negativ beeinflussten. Ein gut funktionierendes System
von Arbeitsmarktinstrumenten wurde finanziell völlig
heruntergefahren. Das trifft genauso auf die Entwicklung
der beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung zu wie
für deren Institutionen, die sich auf einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung und Wirksamkeit befinden.
Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen - und
das wollen wir -, dann müssen wir darüber reden, wie
diese Auswirkungen falscher Reformpolitik schnellstens
korrigiert werden können, weil sie nach wie vor wirken
und die sozialen Widersprüche in unserem Land weiter
verschärfen. Während wir alle Vorschläge in Ihrem Antrag unterstützen, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, die zur Korrektur der genannten Fehler beitragen, für die Sie selbst ja auch ein erhebliches
Maß an Regierungsverantwortung tragen, möchten wir
aber auch jene Punkte benennen, die nicht unsere Zustimmung finden.
Wir halten Ihr Progressivmodell für eine Fehlorientierung. Es fußt auf der fehlerhaften Annahme, dass der
Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen mit einfachen Qualifikationsanforderungen aus zu hohen Sozialversicherungsabgaben resultiert und nicht aus gesamtwirtschaftlichen Ursachen.
Die Umsetzung Ihres Modells führt lediglich zu einer
verstärkten Subventionierung von Niedriglohnbeschäftigung und gleichzeitig zu weiterer Aushöhlung der
Finanzierungsbasis der Sozialversicherungen. Vieles
spricht dafür, dass Verdrängungseffekte auftreten und
Vollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt werden.
Minijobs - maßgeblich am Prozess der Prekarisierung
beteiligt - würden durch die Neuregelung noch attraktiver gemacht. Hierbei befinden Sie sich weiterhin in neoliberalem Fahrwasser. Wir aber brauchen eine Wende in
der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, damit die
Menschen in diesem Land wieder eine Zukunft haben.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute unter anderem einen Antrag der
Grünen mit dem Titel „Zukunft der Arbeit gestalten statt
Arbeitslosigkeit verwalten“. Das reimt sich ein bisschen.
Der Antrag trägt einen gewissermaßen philosophischen
Titel.
({0})
Eigentlich ist das ja eher etwas für die Grundsatzprogramme der Parteien. Ich hätte eigentlich erwartet, dass
Sie dann auch eine Aussage dazu treffen, wie denn die
Arbeitswelt in der Zukunft aussieht. Davon ist im Antrag aber keine Rede, zumindest habe ich nichts dazu gefunden. Sie sagen nicht, unter welchen Vorzeichen die
Arbeitsmarktpolitik Ihrer Meinung nach in der Zukunft
steht oder wie zukunftsfähige Politik für Sie aussieht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass zukunftsfähige Arbeitsmarktpolitik der Grünen sich allein darauf beschränkt, ein Progressivmodell vorzulegen, einen Mindestlohn zu fordern oder einen dritten Arbeitsmarkt
einzuführen.
({1})
Aber Sie sprechen überhaupt nicht von den Herausforderungen, die uns in den nächsten 20 bis 30 Jahren
Stefan Müller ({2})
begegnen werden. Aber sei es, wie es sei. Eines jedenfalls ist mir aufgefallen: Sie verstricken sich in einen
Widerspruch. Sie rühmen auf der einen Seite rot-grüne
Arbeitsmarktpolitik und gestehen gleichzeitig deren
Wirkungslosigkeit ein. Wer sich Ihren Antrag sorgfältig
durchliest, muss zu diesem Ergebnis kommen.
({3})
Im ersten Absatz schreiben Sie:
Die von der rot-grünen Bundesregierung in der
15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Reformen und die aktuelle konjunkturelle Belebung sorgen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das
auch den Arbeitsmarkt entlastet.
Im nächsten Absatz heißt es dann:
Arbeitslose mit geringen Qualifikationen und Langzeitarbeitslose profitieren von der aktuellen Entwicklung nicht.
({4})
So viel Ehrlichkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.
Sie haben viele Gesetze gemacht, aber geholfen hat es
nichts. Das ist doch der Punkt, den Sie damit noch einmal zugeben.
({5})
Sie sprechen die Beschäftigungssituation der Älteren
an. Sie erheben den Vorwurf, dass die Initiative
„50 plus“ nichts Neues wäre. Ihre Vorschläge, die Sie
hier vorgelegt haben, sind jedoch auch nicht gerade innovativ. Sie sprechen über die Ausweitung der beruflichen Weiterbildung. - Einverstanden! Sicherlich haben
wir da einen gewissen Nachholbedarf.
({6})
- Warten Sie doch ab! Wir sind in der Koalition noch
nicht am Ende der Beratungen, auch nicht bezüglich der
Beschäftigungssituation der Älteren.
Wenn Sie aber einen sachlichen Beitrag leisten wollen, muss das ein bisschen über das hinausgehen, was
Sie in Ihrem Antrag schreiben. Sie fordern eine „Änderung der Personalpolitik in den Unternehmen“ sowie
„ein gesellschaftliches Leitbild, das eine ‚Kultur des beruflichen Neuanfangs im Alter‘ befördert“. Das ist natürlich vom Staat nicht zu verantworten und daher nur sehr
schwer umzusetzen bzw. gesetzgeberisch auf den Weg
zu bringen. Angesichts solcher Forderungen würden wir
von Ihnen an dieser Stelle schon ein bisschen mehr Fantasie erwarten.
({7})
Es ist kein Widerspruch: Wir brauchen ein Umdenken
in der Wirtschaft. Es darf nicht mehr so sein, dass man
glaubt, über 50-Jährige gehörten zum alten Eisen. Wie
schon mehrfach gesagt worden ist, ist es nicht nachvollziehbar, dass wir bei Menschen, die älter als 50 sind, von
„älteren Arbeitnehmern“ sprechen.
({8})
Insofern muss sicherlich etwas passieren. Die Politik allein kann dagegen nichts machen. Wir brauchen vielmehr einen gesellschaftlichen Konsens.
Sie haben die Lohnnebenkosten angesprochen. Wir
sind im Grundsatz einer Meinung: Die Höhe der Sozialabgaben in Deutschland ist ein wesentliches Einstellungshemmnis; eine Senkung der Lohnnebenkosten trägt
dazu bei, den Arbeitsmarkt zu aktivieren und Neueinstellungen zu erleichtern. Ich gehe davon aus, dass es Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist - so habe ich die
Reden heute Morgen verstanden -, dass wir den Beitrag
zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken werden.
({9})
Wir haben auch festgelegt, dass noch weitere Schritte
folgen. Selbst wenn es zu den in der Diskussion stehenden Beitragserhöhungen kommt, bleibt unter dem Strich
eine Senkung der Lohnnebenkosten. Ich bitte Sie, auch
das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({10})
Eine Umfrage des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages besagt - das beschäftigt mich schon -,
dass die Senkung der Lohnzusatzkosten allein nicht dazu
führen wird, dass neue Arbeitsplätze in einem erheblichen Ausmaß geschaffen werden, dass es insbesondere
nicht zu zahlreichen Neueinstellungen von Ungelernten
und Hilfskräften kommt.
({11})
Andere Themen sind angesichts dessen sicherlich
ebenfalls zu behandeln. Ich glaube, dass Ihr Progressivmodell - jedenfalls so - nicht funktionieren wird. Wir
können dieses Modell heute nicht diskutieren. Ich
glaube, dass wir mit dem, was Sie vorgelegt haben, auch
nicht weiterkommen.
({12})
Stefan Müller ({13})
Eine Klarstellung in Richtung der FDP - Gott sei
Dank redet noch der Kollege Haustein; vielleicht kommt
von ihm etwas Konzeptionelles -: Es wurde schon angekündigt, Sie machten neue arbeitsmarktpolitische Vorschläge. Jetzt sehe ich, dass es einen Antrag zur Auflösung der BA gibt. Herr Kollege Niebel, auch das ist
nichts wesentlich Neues und nicht wirklich innovativ.
({14})
- „Fortgeschrieben“. Wir werden auch das noch beraten.
Ich will für die Union nur klarstellen: Uns geht es natürlich darum, dass die Überschüsse denjenigen zurückgegeben werden, die sie erwirtschaftet haben, nämlich
den Beitragszahlern. Das machen wir. Die Senkung der
Beiträge um 2 Prozentpunkte ist schon beschlossen.
({15})
Über einen weiteren halben Prozentpunkt reden wir.
Eine weitere Senkung wird sicherlich kommen.
({16})
Klar ist jedenfalls: Wenn Überschüsse denjenigen zurückgegeben werden sollen, die Beiträge gezahlt haben,
dann werden keine neuen Arbeitsmarktprogramme aufgelegt und dann wird dieses Geld auch nicht im Haushalt
versenkt - keine Frage!
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre
Nachhilfe brauchen wir dazu nicht. Der Antrag, den Sie
heute vorgelegt haben, war einfach nur eine Wortmeldung, weil Sie sich in der ganzen Debatte - jedenfalls
hier, im parlamentarischen Raum - überhaupt nicht zu
Wort gemeldet haben.
({18})
Ich komme zum dritten Arbeitsmarkt. Die Grünen
schlagen vor, einen dritten Arbeitsmarkt einzurichten.
Der Vollständigkeit halber will ich nur darauf hinweisen,
dass eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung gerade
zum Thema „dritter Arbeitsmarkt“ eine Anhörung
durchgeführt hat und dass es dazu weitere Beratungen
gibt.
({19})
In der Tat, es gibt Menschen in Deutschland - wir gehen
von einer hohen Zahl aus -, die vermutlich keine Chance
mehr auf eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt
haben werden. Die Bundesagentur spricht von etwa
400 000 Personen.
Es gibt dabei ganz unterschiedliche Zielgruppen:
Menschen, die schon lange nicht mehr gearbeitet haben,
und Menschen, die vielleicht noch nie gearbeitet haben.
Hinzu kommen Menschen, die kurz vor der Rente stehen. Demzufolge muss man sich die Sinnhaftigkeit von
einzelnen Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen natürlich
ansehen. Bei all diesen Menschen gehen wir davon aus,
dass auch die Anwendung des gesamten Instrumentariums der BA nicht mehr dazu führen wird, dass sie in
den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
Wir haben in der Tat nur zwei Alternativen. Die eine
ist, diesen Menschen ihre staatliche Fürsorgeleistung zu
geben und sie ansonsten allein zu lassen. Die andere ist,
ihnen eine Chance auf eine sinnvolle Beschäftigung zu
geben und auch das Gefühl, dass sie wieder gebraucht
werden. Wir sind uns darüber einig, dass Arbeit nicht
nur die finanzielle und materielle Existenz absichert,
sondern dass Arbeit auch ein bisschen mehr bedeutet,
vor allem gesellschaftliche Teilhabe.
({20})
In diesem Sinne ist die Überlegung so verkehrt nicht.
Nur, Sie lassen die Ausgestaltung offen. Ich würde
von Ihnen schon ganz gern wissen, welche Vorschläge
Sie dazu haben: Um welche Tätigkeiten geht es? Sollen
es nur gemeinnützige Tätigkeiten sein? Wie soll es vergütet werden? Wie sind Verdrängungseffekte zu vermeiden? Besonders spannend ist: Wollen Sie die Menschen
dazu verpflichten, eine solche Beschäftigung anzunehmen, oder nicht? Das würde mich sehr interessieren. Ich
kann mich an einige Wortmeldungen aus Ihren Reihen
erinnern, als es darum gegangen ist, festzustellen, dass
derjenige, der eine staatliche Leistung bekommt, dafür
eine Gegenleistung zu erbringen hat. Wir sind also für
Ihre Vorschläge völlig offen.
Ihren Hinweis, dass es sich bei diesen Tätigkeiten um
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
handeln soll, finde ich ebenfalls sehr interessant. Das
würde letztendlich bedeuten, dass die Personen, die einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, aus der Statistik herausfallen würden. Wenn wir das
machen würden, dann möchte ich erleben, was Sie uns
vorhalten würden, wenn die Statistik auf einmal deutlich
besser aussieht, als die Lage ist.
({21})
Wenn wir das machen, brauchen wir dafür die Akzeptanz für einfache Tätigkeiten. Bevor man aber zu der
Schlussfolgerung kommt, die Sie hier vortragen, muss es
eine gesellschaftliche Akzeptanz für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor geben.
Ich komme zu einem weiteren Thema, das Sie ansprechen, nämlich der stärkeren Förderung von Existenzgründern. Dazu haben wir schon verschiedene Debatten
geführt. Ihre Wehmut hinsichtlich der bisherigen Ich-AG
ist zwar verständlich, aber sachlich nicht gerechtfertigt.
Wenngleich zumindest ich davon ausgegangen bin, dass
wir dieses Thema schon abgeschlossen haben, so lohnt
es sich doch, den Zwischenbericht zur Evaluation durchStefan Müller ({22})
zulesen. Dort heißt es, dass qualitative Untersuchungen
Hinweise darauf gegeben haben, dass die Gründung einer Ich-AG weniger aus echter Überzeugung als vielmehr aus einem Mangel an Alternativen vorgenommen
worden ist. Gerade von den betroffenen Existenzgründern ist geäußert worden, dass das Konzept der Ich-AG
zu Mitnahmeeffekten und Missbrauch verleitet. Auch in
dem Zwischenbericht kommt man zu dem Ergebnis,
dass eine Zusammenführung von Überbrückungsgeld
und der Förderung für die Ich-AG notwendig ist. Diese
Empfehlung haben wir umgesetzt und die Ich-AG und
das Überbrückungsgeld zu dem neuen Gründungszuschuss zusammengefasst.
({23})
- Es ist doch nicht allein entscheidend, wie viel Geld
jemand von der Bundesagentur bekommt. In einer Gründungsberatung muss geklärt werden: Welche persönlichen Voraussetzungen liegen vor? Wie ist die Motivation? Bedarf es begleitender Unterstützungsmaßnahmen,
die der Gründer nicht nur am Anfang, sondern auch
während der Gründungsphase bekommen muss? Ist ein
Zugang zu Finanzierungsmitteln - das greifen Sie richtigerweise auf - gegeben?
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme gleich zum Schluss. - Ich möchte Sie nur
darauf hinweisen, dass hier einiges passiert ist und die
KfW ihre Modelle entsprechend umgestellt hat. Daher
bin ich der Auffassung, dass wir mit dem neuen Gründungszuschuss und den begleitenden Maßnahmen das
Richtige auf den Weg gebracht haben, um die Zahl der
Existenzgründungen in diesem Land zu erhöhen.
({0})
Gestatten Sie mir abschließend noch den Hinweis,
dass in Ihrem Antrag - darüber habe ich mich doch sehr
gewundert - über die Beschäftigungsperspektiven von
jungen Menschen kein Wort verloren wird.
Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie
auf Kosten der Redezeit des Kollegen Rauen sprechen?
Sie reden über die Zukunft der Arbeit und sprechen
die Probleme der jungen Menschen überhaupt nicht an.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass Ihnen das Schicksal
der jungen Menschen völlig gleichgültig ist.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Müller, das Drama Ihres Lebens ist, dass Sie offensichtlich nur bedingt an arbeitsmarktpolitischen Debatten teilnehmen. Wenn es anders wäre und Sie sich mit
diesem Thema kontinuierlich befassen würden, dann
wüssten Sie, dass wir in diesem Monat in einem umfänglichen Antrag ein Konzept für Langzeitarbeitslose mit
Vermittlungshemmnissen eingebracht haben.
Zu Ihrer Frage, welche Vorstellungen die Grünen zum
Thema Ausbildungsplätze und Angebote für junge Menschen haben, kann ich nur sagen: Auch dazu haben wir
im letzten Plenum einen sehr umfangreichen Antrag eingebracht.
({0})
Herr Müller, machen Sie endlich einmal Ihre Hausaufgaben und melden Sie sich erst dann wieder zu Wort.
({1})
Ich möchte jetzt gerne etwas zu Herrn Meckelburg
und Herrn Brandner sagen.
({2})
Es bestreitet hier niemand, dass die konjunkturelle Entwicklung nun auch auf dem Arbeitsmarkt positive Effekte zeigt.
({3})
Die Frage an Herrn Brandner und an Herrn Meckelburg
ist: Was ist denn Ihr Verdienst dabei? Sie sind doch konjunkturelle Trittbrettfahrer.
({4})
Jetzt sind Sie gerade dabei, mit der Mehrwertsteuererhöhung diesen konjunkturellen Aufschwung wieder
kaputtzumachen.
({5})
Herr Brandner, großartig fand ich ja Folgendes:
Nachdem Sie im Wahlkampf gesagt haben, die Mehrwertsteuererhöhung sei des Teufels, aber dann eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte beschlossen haben, standen
Sie in der heutigen Rede kurz davor, die Mehrwertsteuererhöhung als Konjunkturmotor zu empfehlen. So weit zu
der wundersamen Wandlung des Herrn Brandner!
({6})
Nach Ihrer Philosophie ist es ganz offensichtlich so, dass
die Menschen mehr einkaufen, wenn es teurer wird, und
dass es dann zu einer positiven konjunkturellen Entwicklung kommt.
({7})
Aber eigentlich geht es hier um etwas anderes.
({8})
Eigentlich geht es hier um die Frage: Wie gehen wir mit
den Langzeitarbeitslosen um, die eben nicht von dieser
konjunkturellen Entwicklung profitieren? Dazu fordern
wir Konzepte der großen Koalition ein.
({9})
Sie von der SPD haben vor wenigen Tagen eine Debatte über Armut losgetreten. Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Zwei Drittel derjenigen, die sich in der
Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung selbst als abgehängt beschrieben haben, sind Langzeitarbeitslose,
Herr Brandner, und die Frage an Sie ist: Was ist Ihre
Antwort für diese Menschen?
({10})
Wir haben es weniger mit einer prekären Schicht als mit
einer prekären Politik der großen Koalition zu tun.
({11})
In der Vergangenheit ist im Wesentlichen Folgendes
passiert: Hartz IV, das aus zwei Elementen bestand
- Fordern und Fördern -, haben Sie umgestaltet hin zu
einem Strafgesetzbuch. Gleichzeitig haben Sie 2006 die
Mittel für die Integration gekürzt. Sie haben das auch im
Haushalt 2007 schon so angelegt.
({12})
In der CDU/CSU geht es nach dem Motto: Wir beschließen Sanktionen. Bevor die überhaupt in Kraft getreten sind und wir deren Wirkung irgendwie überprüfen
können, bereiten wir schon die nächsten Sanktionen
vor. - Das Problem ist: So entstehen keine Arbeitsplätze.
({13})
So werden Sie für die langzeitarbeitslosen Menschen
kein Angebot machen.
({14})
Herr Müller, jetzt noch einmal zur Ich-AG. Die IchAG sind ein extrem erfolgreiches Instrument für Langzeitarbeitslose, um sich neue Perspektiven zu eröffnen.
({15})
Die Umgestaltung bei den Ich-AGs hat dazu geführt
- Frau Dückert hat darauf hingewiesen -, dass die Förderungen bei den Ich-AGs um zwei Drittel eingebrochen
sind.
({16})
Zwei Drittel weniger Menschen haben jetzt die Möglichkeit, sich eine Perspektive zu schaffen. Sie haben der
Existenzgründung aus Arbeitslosigkeit die Existenzgrundlage entzogen. Das ist eine Politik, die tatsächlich
die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert.
({17})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meckelburg?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, sind Sie in der Lage, mir zu bestätigen,
dass alle, die Existenzgründungszuschüsse beantragen
wollen, dies nach wie vor tun können? Wenn zwei Drittel wegfallen, ist doch die Frage zu stellen, warum die
wohl wegfallen, möglicherweise ja deshalb, weil es den
Betreffenden sehr schwer fällt, nachzuweisen, dass man
mit einer gewissen Berechtigung davon ausgehen kann,
dass diese Existenzgründung wirklich hält. Ich finde das,
was wir gemacht haben, sehr vernünftig.
({0})
Herr Meckelburg, es stellen jetzt weniger Menschen
Anträge auf Existenzgründungszuschüsse, weil die Rahmenbedingungen so verändert sind,
({0})
dass insbesondere Frauen und Menschen mit geringem
Einkommen nur noch eine so geringe Förderung erhalten, dass auf dieser Grundlage eine Existenzgründung
nicht möglich ist.
({1})
Das IAB hat sowohl im Zwischenbericht als auch im
Endbericht darauf hingewiesen, dass dieses sehr diffeBrigitte Pothmer
renzierte Instrumentarium überaus erfolgreich gewirkt
hat. Aus rein ideologischen Gründen, weil Sie das im
Wahlkampf so versprochen haben, haben Sie die Existenzgründungsförderung weggehauen. Das ist das Problem. Das muss man auch einmal benennen.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Brandner?
Ja, bitte. - Kommen Sie aber jetzt nicht wieder mit
der Arbeitsgruppe!
Frau Pothmer, Sie haben gerade gesagt, die schwarzrote Koalition habe mit der Neuregelung der Existenzgründungsförderung die Möglichkeiten der Frauen zur
Existenzgründung weggehauen. Können Sie uns Einblick in die Rechtsgrundlage für diese Behauptung verschaffen?
({0})
Wir haben ein Gesetz geschaffen, das ausdrücklich einen
Rechtsanspruch auf eine Existenzgründung vorsieht,
wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Bevor
die Existenzgründungsförderung gewährt wird, muss
eine Gründungsberatung stattfindet, das heißt, die Sicherheit und Tragfähigkeit einer solchen Existenzgründung wird dank eines Beratungsumfeldes für Männer
und Frauen gewährleistet. Können Sie sagen, wie Sie zu
dem Ergebnis kommen, dass die Möglichkeiten der
Frauen zur Existenzgründung weggehauen wurden und
sie keinen Anspruch mehr haben?
Herr Brandner, das will ich Ihnen gerne erklären: Es
liegt nicht an der Beratung, sondern daran, dass Sie den
Förderungszeitraum und das Förderungsvolumen gekürzt haben, sodass für Menschen, die vorher ein geringes Erwerbseinkommen hatten, jetzt die Existenzgründungsunterstützung einfach nicht mehr hinreicht, um auf
der einen Seite die Existenzgründung voranzutreiben
und auf der anderen Seite den Lebensunterhalt sicherzustellen. Nicht ohne Grund hatten SPD und Grüne gemeinsam die Ich-AGs so ausgestattet und darüber hinaus
noch Überbrückungsgeld zur Verfügung gestellt. Wir
wussten, dass wir für unterschiedliche Personengruppen
ein differenziertes Angebot brauchen. Das berücksichtigen Sie nun leider nicht mehr.
({0})
Das hat genau den Effekt, den wir vorher prognostiziert
haben und den das IAB in seinem Bericht deutlich beschrieben hat.
({1})
Ich möchte kurz etwas zur Zeitschiene sagen. Sie haben uns bereits im Koalitionsvertrag versprochen, ein
Konzept für Langzeitarbeitslose mit Vermittlungshemmnissen vorzulegen. Bis jetzt haben wir davon
nichts gesehen. Dann haben Sie gesagt, das Konzept
solle nach der Sommerpause kommen, danach wurde es
für den Herbst angekündigt, jetzt lese ich, dass vielleicht
im Frühjahr etwas daraus wird. Beim Mindestlohn ist es
genau das Gleiche.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Nein, sie ist noch nicht überschritten. Ich möchte
noch kurz zusammenfassen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit war um 20 Sekunden
überschritten. Nun ist sie bereits um mehr als eine halbe
Minute überschritten.
({0})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Dieses
Jahr rot-schwarzer Arbeitsmarktpolitik kann man in einer Formel zusammenfassen: Drangsalierung mal Unfug
ergibt Murks hoch drei. Das ist eine gute Beschreibung
Ihrer Arbeitsmarktpolitik.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPDFraktion.
({0})
Herr Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so gut
aufpassen. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs einige Bemerkungen an Frau Pothmer richten. Frau Pothmer,
wenn ich Ihre Ausführungen richtig verfolgt habe, sind
Sie der Meinung, alles in dieser Republik sei negativ.
Wir - damit meine ich die vorherige Koalition und die
jetzige Koalition - waren demzufolge nicht daran beteiligt, dass sich die wirtschaftliche Situation verändert hat.
Ich weiß nicht, wie Sie dann in Ihrem Antrag eingangs
zu folgenden Äußerungen kommen:
Die von der rot-grünen Bundesregierung in der
15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Reformen und die aktuelle konjunkturelle Belebung
sorgen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das
auch den Arbeitsmarkt entlastet. Die Arbeitslosenquote sank im August 2006 um rund einen Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr.
({0})
Ich sage Ihnen: Diese Sätze in Ihrem Antrag sind
richtig. Richtig ist, dass Rot-Grün die Basis für die wirtschaftliche Belebung geschaffen hat. Es stimmt aber
auch, dass die große Koalition dies weitergeführt hat
({1})
und damit eine Kontinuität der von uns gemeinsam angestoßenen Arbeitsmarktpolitik entwickelt hat.
({2})
Das Problem für mich ist nur, dass wir hier über Verdienste diskutieren, die wir uns gegenseitig madig machen. Keiner der betroffenen Menschen draußen, die in
Arbeitslosigkeit verharren, kann davon profitieren.
({3})
Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns nicht darüber
diskutieren, wer die größten Erfolge hat, sondern darüber, wer die Gewinner dieser Maßnahmen sind und
wie wir noch mehr Gewinner erzeugen können.
({4})
Gewinner dieser Maßnahmen sind mehr als
400 000 Menschen, die noch vor einem Jahr arbeitslos
waren und nun für sich und ihre Familien eine größere
soziale Sicherheit haben. Darin enthalten sind
150 000 ehemalige Arbeitslosengeld-II-Empfänger - der
Kollege Brandner hat die Zahl schon genannt; sie entspricht einer deutschen mittleren Großstadt -, die aus der
Langzeitarbeitslosigkeit in Arbeit wechseln konnten.
Ich gebe der Opposition Recht: Natürlich könnten es
mehr sein. Aber wer als Überschrift seines Antrags formuliert: „Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten“, dem muss man diese Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen.
({5})
Auch den von Ihnen, Frau Pothmer, festgestellten Reformstillstand gibt es nicht. In den letzten Wochen gab
es, die heutige mit eingerechnet, fünf Anhörungen durch
das BMAS, die sich mit den Themen Kombilohn, Mindestlohn, Hinzuverdienst, dritter Arbeitsmarkt und Effizienz des SGB II beschäftigt haben. Hier wurden und
werden Fachleute gehört, deren Meinung in eine weitere
Gesetzgebung zu den gerade genannten Themen und damit zur weiteren Belebung des Arbeitsmarktes einfließen
soll.
({6})
- Wenn Sie von Wirtschaftsgutachten sprechen, dann
müssen Sie auch sagen, auf welches Sie sich beziehen.
({7})
Diese Wirtschaftsgutachten von München bis Flensburg
sind so unterschiedlich, dass man sich immer, je nach
politischer Ausrichtung, das genehmste heraussuchen
kann.
({8})
Lassen Sie mich festhalten, dass wir auch die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer weiter voranbringen
werden. Die Basis der förderungswürdigen Betriebe, die
älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit staatlichen
Zuschüssen eine Qualifikation bieten können, wird ausgeweitet: Konnten diese Hilfen bisher nur Betrieben mit
bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zukommen, so ist dies demnächst für Betriebe mit bis zu
250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möglich.
Wir werden bei der Frage initiativ werden, wie wir
die Gruppe der Langzeitarbeitslosen in einen durch die
öffentliche Hand geförderten dritten Arbeitsmarkt integrieren können, und wir werden über Kombilohn und
Mindestlohn in Verbindung mit dem Entsendegesetz und
der allgemeinen Verbindlichkeitserklärung diskutieren diskutieren müssen; denn hier besteht Handlungsbedarf
für dieses Haus.
Dem Antragsteller sei also ins Stammbuch geschrieben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Von bloßer Verwaltung für die vor uns liegende Zeit kann keine
Rede sein. Für die abgelaufene Zeit - das ist ja gerade
ein Jahr her - lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung
rufen, dass wir das Entsendegesetz nunmehr auch auf
die Gebäudereiniger anwenden können und dass wir ein
Saisonkurzarbeitergeld für Dachdecker eingeführt haben. Das mag für Sie ein Randbereich sein; aber für die
Menschen, die im Winter nicht in die Arbeitslosigkeit
gehen müssen, ist das von gravierender Bedeutung.
({9})
Deswegen will ich nicht immer nur über programmatische Aussagen diskutieren, sondern auch darüber reden, wie Menschen, die zum Teil seit Jahren in Arbeitslosigkeit verharren, auch durch kleine Maßnahmen, die
Sie bewusst nicht wahrnehmen, in Arbeit gebracht werden können.
({10})
Wir werden 15 000 zusätzliche Plätze zur Qualifizierung von Jugendlichen anbieten. Damit fördern wir
statt 25 000 nun 40 000 junge Menschen. Die Vermittlungsquote in diesem Bereich - auch das muss ich anmerken - liegt bei 70 Prozent. Wenn wir 40 000 jungen
Menschen zusätzlich eine Qualifizierung anbieten, können wir also davon ausgehen, dass wir 28 000 junge
Menschen zusätzlich in Arbeit bringen. Die Bundesagentur für Arbeit wird Anfang des Jahres darüber hinaus noch 7 500 Ausbildungsplätze für Jugendliche mit
Migrationshintergrund zur Verfügung stellen.
({11})
Sie werden sagen, das reicht nicht. Auch da stimme
ich Ihnen zu. Aber es gilt, dass die Menschen, die von
diesen Maßnahmen positiv betroffen sind, sich erst einmal abgesichert fühlen. Dies sollte uns ermuntern, weitere Initiativen anzugehen und in den parlamentarischen
Gang zu bringen. Dabei ist besonders darauf zu achten
- das haben Sie in den Anhörungen vernommen -, dass
sie nicht mit heißer Nadel gestrickt werden. Ich habe das
Empfinden, Sie wollten jetzt unbedingt einen Antrag
formulieren, damit Sie sich in drei, vier Monaten, wenn
unsere Initiativen in einen fundierten Antrag geflossen
sind, darauf beziehen können. Ich hoffe, dass wir dann
mit unserem Antrag auf Ihre Akzeptanz stoßen werden
und dass wir gemeinsam diesen Antrag verabschieden
können.
({12})
Heute lehnen wir Ihren Antrag aber ab.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zum
FDP-Antrag, der sich mit der Verwendung der Überschüsse der BA beschäftigt. Die Richtung, die die FDP
in ihrem Antrag vorschlägt, ist richtig,
({13})
nämlich dem Beitragszahler diese Überschüsse zukommen zu lassen. Dazu muss aber gewährleistet sein, dass
die Überschüsse in dieser Höhe kontinuierlich anfallen
und durch eine weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung über 2 Prozent hinaus keine
neuen Defizite bei der Bundesagentur für Arbeit anfallen.
Gleichzeitig sagen wir aber auch deutlich - das hat
für uns eine genauso große Bedeutung -, dass die nötigen Mittel zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch
aktive Arbeitsmarktpolitik erhalten bleiben müssen. Es
wäre kontraproduktiv, wenn wir aufgrund eines einmaligen hohen Überschusses der BA die Beiträge so weit
senken würden, dass hinterher keine Qualifizierung zur
Verhinderung von Arbeitslosigkeit mehr möglich wäre.
Also auch hier Ablehnung des Antrags, verbunden
mit der Zusage, eine weitere Absenkung dann in Angriff
zu nehmen, wenn die Überschüsse der BA nachhaltig
gesichert sind und das Niveau der beruflichen Qualifizierung nicht unter einer Absenkung leidet.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Heinz-Peter
Haustein, FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
„Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten“ ({0})
das ist ein wohlklingender und sprachlich gelungener
Titel für einen Antrag,
({1})
so könnte man denken. Gestalten statt verwalten, agieren
statt nur zu reagieren: Da ist jeder geneigt, den Antrag
gleich zu unterschreiben.
({2})
Doch der Inhalt klingt nicht mehr nach Zukunft. Denn
Sie wollen wieder einmal nur den Vater Staat gestalten
lassen und führen die alten Mindestlohndebatten fort.
Sie wollen sogar den öffentlichen Beschäftigungssektor
ausweiten. Das war nie erfolgreich und kann es auch
nicht sein, weil man damit nicht dort ansetzt, wo das
Problem liegt.
({3})
Ihre Analyse des Arbeitsmarktes ist zutreffend. Der
Anteil gering qualifizierter Arbeitsloser und Langzeitarbeitsloser steigt kontinuierlich; im letzten Jahr von
37,4 auf 42,4 Prozent. Die Betroffenen haben zunehmend weniger Chancen, eine neue Anstellung zu finden.
({4})
Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen der
höchsten Anteile von Langzeitarbeitslosen.
Im Übrigen gehört das Problem der wachsenden
Armut in Deutschland auch dazu, und keineswegs erst,
seit sich der SPD-Vorsitzende dazu geäußert hat.
({5})
Wer darüber etwas wissen wollte, der brauchte seit Jahren nur in den Armuts- und Reichtumsberichten nachzulesen. Den Bürgermeistern in diesem Land sind diese
Probleme längst bekannt.
({6})
Meine Heimatregion, das Erzgebirge, ist trauriger
Spitzenreiter mit dem bundesweit höchsten Anteil von
23 Prozent an vollbeschäftigten ALG-II-Empfängern.
Das sind Menschen, die Vollzeit arbeiten gehen und
trotzdem ergänzendes ALG II, sprich Sozialhilfe, bekommen.
({7})
Ich hätte mir angesichts der Aussage in der Überschrift des Antrags „Zukunft der Arbeit gestalten“ etwas
mehr erhofft. Wenn man darüber redet, muss man auch
über Globalisierung sprechen. Solange täglich Arbeits5824
plätze ins Ausland abwandern, kann die deutsche Antwort auf diese Situation nicht der Mindestlohn sein.
({8})
Dann muss man über Flexibilisierungen im Tarif- und
Arbeitsrecht reden, die es Unternehmern erlauben - ich
wiederhole: den Unternehmern -, sich auf eine sich verändernde Arbeitswelt schnell einzustellen. Die Krux
liegt schon beim Verständnis: Wer davon spricht, die Zukunft der Arbeit zu gestalten, der kann ja nur meinen, die
entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen.
({9})
Arbeitsplätze können nur die Unternehmen schaffen. Sie
schaffen sie in Deutschland aber nur, wenn die Bedingungen hier attraktiver als woanders sind. Nur so entstehen hier und nicht im Ausland Arbeitsplätze.
({10})
Dass wir an diesen Bedingungen arbeiten müssen,
zeigen uns die täglichen Abwanderungen von Unternehmen ins Ausland und viele Firmenpleiten. Warum gibt es
nicht genug Menschen in Deutschland, die bereit sind,
unternehmerische Risiken auf sich zu nehmen,
60 Stunden in der Woche zu arbeiten, auf Urlaub zu verzichten sowie Haus und Hof der Bank zu verpfänden?
({11})
Weil die Anreize fehlen! Wir brauchen mehr Unternehmer, die bereit sind, Verantwortung zu tragen sowie Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen.
({12})
Arbeitsplätze zu schaffen ist das Sozialste, was man in
diesem Land machen kann. Das ist Fakt - und ein Kernsatz im Konzept der FDP. Deshalb ist die FDP eine sehr
soziale Partei.
({13})
Weit über den Broterwerb hinaus ist ein Arbeitsplatz
Mitte sozialer Integration. Er gibt den Menschen das
wichtige Selbstwertgefühl, das sie brauchen, und Würde.
Von den Grünen kommt immer wieder der Ruf nach
Staatsbeschäftigung.
({14})
Eine Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung kann
und wird niemals die Lösung des Arbeitsmarktproblems
sein. Es handelt sich um Ersatzmaßnahmen, die am
wirklichen Ziel vorbeilaufen und die Probleme verwischen.
({15})
Unsere Vorschläge liegen seit langem auf dem Tisch.
Wir brauchen einen Politikwechsel. Leistung muss sich
bei Bildung, Arbeit und Forschung wieder lohnen. Es
muss Anreize geben, Ideen zu entwickeln und sie umzusetzen. Es muss sich rentieren, besser zu sein als andere
und dafür zu kämpfen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zur Leistungsgesellschaft, ohne die Schwächeren zurückzulassen.
Unternehmer können heute überall in der Welt produzieren lassen. Arbeit ist fast immer der entscheidende
Kostenfaktor, nach dem Standortentscheidungen rational
getroffen werden. Ein Unternehmer muss rational denken; denn sonst geht er Pleite und die Arbeitsplätze sind
komplett weg.
({16})
Wir werden hier in Deutschland niemals zu den Preisen
produzieren können, zu denen man in China produzieren
kann.
Dass wir immer noch gut sind, zeigt die Tatsache,
dass wir Exportweltmeister sind. Wir sollten uns aber
nicht darauf ausruhen; denn der Bessere ist der Feind des
Guten. Die Stellschrauben, an denen die Politik drehen
kann, sollten wir in die richtige Richtung drehen.
({17})
Voraussetzung für die Senkung der Lohnnebenkosten ist
ein Systemwechsel bei den sozialen Sicherungssystemen; ein Murks wie bei der Gesundheitsreform hilft
nicht weiter.
({18})
Wir brauchen einen radikalen Abbau der bürokratischen
Zwangsjacke, die die Unternehmen ständig gängelt, eine
umfassende Unternehmen- und Einkommensteuerreform
anstatt eine unsoziale Erhöhung der Mehrwertsteuer.
({19})
Nun zur BA. Das ist eine zentralistische Mammutbehörde mit über 100 000 Beschäftigten und einem Etat
von 51 Milliarden Euro. Sie ist verantwortlich für die
Verwaltung von 4,2 Millionen Arbeitslosen.
({20})
Arbeitsplätze schafft die BA aber nicht. Das können nur
Unternehmer. Die BA kann nur vermitteln.
({21})
Dabei gibt sie sich zwar große Mühe - ich kenne viele
gute Leute bei der BA -, Fakt ist aber, dass der Zentralismus nicht funktioniert. Lösen wir das Problem dezentral:
Geben wir die Vermittlung in die Hand der Kommunen
und Landkreise. Das ist effektiver. Sie wissen besser Bescheid, was los ist.
({22})
Wenn es uns gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen
- das sollte unser Ziel sein; wir dürfen uns nicht damit
abfinden, immer Arbeitslose zu haben -, brauchen wir
die BA irgendwann nicht mehr, weil wir keine ArbeitsloHeinz-Peter Haustein
sen mehr haben. Das muss unser Ziel sein. Dafür müssen
wir kämpfen.
Ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge!
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Rauen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Der Antrag der Grünen schlägt im Kern weitere Instrumente vor, die Arbeit in Deutschland mit staatlichen
Mitteln zu bewirtschaften. Diese Arbeitsbewirtschaftungsmaßnahmen sind allesamt gut gemeint. Gut gemeint ist nach aller Lebenserfahrung aber oft das Gegenteil von gut.
({1})
Alle Maßnahmen haben einen Nachteil: Sie müssen
bezahlt werden,
({2})
und zwar von denjenigen, die Tag für Tag arbeiten gehen, die sich selbst und ihre Familien ernähren können
und darüber hinaus Steuern und Abgaben zahlen, damit
der Sozialstaat funktioniert. Viele von denen, die arbeiten, haben netto, nach Abzug von Steuern und Abgaben,
weniger als Menschen, die von staatlichen Transferleistungen leben. Die circa 1 Million „Aufstocker“, also
jene, die ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten, stimmen mich sehr nachdenklich. Derjenige, der arbeitet,
muss in jedem Fall mehr haben als derjenige, der nicht
arbeitet. Das schreiben die Grünen zu Recht in ihrem
Antrag. Ich unterstreiche diesen Satz dreimal.
Leider ist die Lebenswirklichkeit eine andere. Um die
Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich zu lösen, müssen wir tiefer schürfen, als ständig nur über neue Instrumente der Arbeitsbewirtschaftung nachzudenken und zu
diskutieren.
({3})
Mittlerweile stehen wir alle zu den Grundsätzen der
sozialen Marktwirtschaft. Diese Marktordnung ist eng
mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden. Schon 1956
warnte Ludwig Erhard vor der wachsenden Sozialisierung der Einkommensverwendung und der zunehmenden Abhängigkeit vom Staat.
({4})
Am Ende dieser Entwicklung, so prophezeite Erhard damals, stünde der soziale Untertan und die Lähmung des
wirtschaftlichen Fortschritts.
({5})
SPD-Chef Kurt Beck sprach vor kurzem aus, was
Ludwig Erhard prophezeit hatte. Er sagte, was im
Grunde alle wissen: Es gibt Armut und Perspektivlosigkeit in Deutschland. - Das Wort „Unterschicht“ machte
die Runde. Auf einmal waren alle betroffen und zeigten
Abscheu vor diesem Begriff.
({6})
Man kann über die Begrifflichkeit streiten. In der Analyse jedoch hat Kurt Beck Recht. In den letzten
35 Jahren haben wir geglaubt, die Arbeitslosigkeit in
Deutschland durch immer neue und immer teurere Arbeitsbewirtschaftungsmaßnahmen bekämpfen zu können. Das traurige Ergebnis dieses Irrtums müssen wir
endlich korrigieren.
Das Schlimmste aber: Unter dem Druck steigender
Arbeitslosenzahlen und sinkender Wachstumsraten verfehlt der Umverteilungsstaat letztlich seine eigene Zielsetzung. Ungleichheit und Armut nehmen zu. So kletterte die so genannte Armutsquote von 1992 bis heute
von damals 13 Prozent auf 16 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl Hartz IV
die Ausgaben für Sozialleistungen um 10 Milliarden
Euro in die Höhe getrieben hat, wird diese Reform von
den Menschen als Kürzungsorgie empfunden. Ein Blick
auf die Realität wirkt ernüchternd: Armut und Ausgrenzung können nicht verhindert werden, selbst wenn der
Staat noch mehr Geld umverteilt. Im Gegenteil, der Umverteilungsstaat ist längst ein Teil des Problems geworden.
({7})
Die Kosten der Arbeitsmarktpolitik sind von 1998
bis 2005 von 68 Milliarden Euro auf 83 Milliarden Euro
gestiegen.
({8})
Es kam also in nur wenigen Jahren zu einer Steigerung
um 15 Milliarden Euro.
({9})
Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit gestiegen.
({10})
Noch schlimmer ist: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in diesem Zeitraum
dramatisch zurückgegangen.
({11})
In Deutschland sind zurzeit circa 36 Millionen Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt erwerbstätig. Da
Deutschland insgesamt 82 Millionen Einwohner hat,
bedeutet das im Umkehrschluss, dass 46 Millionen
Menschen auf Einkommen ohne Arbeit angewiesen
sind. Dieses Missverhältnis muss dringend korrigiert
werden.
({12})
Insbesondere in unserem Land, in dem die sozialen
Sicherungssysteme überwiegend an den Faktor Lohn gekoppelt sind, muss diese Fehlentwicklung korrigiert
werden.
({13})
Wir brauchen dringend mehr Beschäftigung und weniger
staatliche Transfers.
({14})
Manche glauben, dass keine Chancen bestehen, mehr
Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Ich teile diese
Auffassung überhaupt nicht.
({15})
Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Wir haben in Deutschland genügend Arbeit, aber nicht mehr genügend Arbeit
zu bezahlbaren Preisen. Die Menschen, die in Deutschland arbeiten, verdienen mit ihrer Arbeit netto zu wenig.
Gleichzeitig sind jedoch die Arbeitskosten zu hoch.
({16})
In Deutschland ist die Schwarzarbeit in den letzten
25 Jahren von 7 Prozent auf heute 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Sie hat ein Volumen von
370 Milliarden Euro pro Jahr erreicht. Ich will keine bestimmte Partei dafür verantwortlich machen. Aber ich
möchte deutlich machen: Allein dieser Zuwachs entspricht einem Arbeitskräftepotenzial von 5 Millionen
Menschen.
Warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, liegt
für mich auf der Hand. Als gelernter Maurer und Ingenieur habe ich mich 1966 selbstständig gemacht. Damals
musste ein Maurer 1,65 Stunden arbeiten, um sich von
seinem Nettoertrag eine Arbeitsstunde eines anderen
Handwerkers mit gleichem Stundenlohn leisten zu können. Heute muss derselbe Maurer, wenn er in Steuerklasse I ist, dafür 5,6 Stunden arbeiten, und wenn er verheiratet ist und Steuerklasse III hat, 4,4 Stunden.
Die Arbeitsteilung in Deutschland funktioniert nicht
mehr. Wenn sich der Einzelne legale Arbeit nicht mehr
leisten kann, kehren die Leute zum Tauschhandel zurück: Dann tauscht der Maurer mit dem Schreiner, der
Schreiner mit dem Schlosser und der Schlosser mit dem
Anstreicher seine Stunden, und der Staat geht dabei leer
aus.
({17})
Wenn wir wirklich mehr ordentliche Arbeit in Deutschland haben wollen, gibt es zur Senkung der Lohnzusatzkosten keine Alternative.
({18})
Herr Kollege Rauen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dirk Niebel?
Bitte schön.
Herr Kollege Rauen, ich stimme Ihnen in allem, was
Sie bisher gesagt haben, in der Analyse zu hundert Prozent zu.
({0})
Nur eins verstehe ich nicht und ich möchte Sie fragen,
ob Sie mir das erklären können. Ich verstehe nicht, dass
vor dem Hintergrund all des Richtigen, was Sie eben gesagt haben, und der Notwendigkeit, dringend Veränderungen für mehr Arbeit in Deutschland durchzusetzen,
({1})
diese Bundesregierung an der arbeitsplatzfeindlichen
Mehrwertsteuererhöhung festhält,
({2})
die gerade in dem von Ihnen angesprochenen personalintensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, im
Einzelhandel, in der Gastronomie, nicht auf die Preise
übertragen werden kann, weil Sie völlig Recht haben,
dass Arbeit zu teuer geworden ist und man zum Tauschhandel zurückkehrt.
({3})
Wäre es vor dem Hintergrund sprudelnder Mehreinnahmen, über die wir uns ja alle freuen, nicht sinnvoll, zu
sagen: „Wir haben geirrt“, und auf den rechten Weg zurückzukehren?
({4})
Herr Niebel, ich schätze Sie viel zu sehr, um Ihnen zu
unterstellen, dass Sie um die Bedeutung solider Staatsfinanzen nicht wüssten. Wir haben in den Haushalten
strukturelle Defizite von fast 60 Milliarden Euro. Um
die Haushalte von Bund und Ländern zu stabilisieren
und die Stabilitätskriterien wieder einzuhalten,
({0})
hat die Union bereits im Wahlkampf erklärt, die Mehrwertsteuer zu erhöhen - aber zugleich versprochen, dass
von der Kaufkraft her im gleichen Volumen die Beiträge
gesenkt werden. Dazu steht die Union. Es wurde von den
Kollegen bereits gesagt, dass wir alles daransetzen,
Überschüsse, wann immer möglich, für weitere Senkungen der Beiträge zu verwenden, über diese 2 Prozentpunkte hinaus.
({1})
Herr Niebel, wenn wir den Beitragssatz um 2,5 Prozentpunkte senken können und gleichzeitig, wie Sie wissen, der Rentenversicherungsbeitrag um 0,4 Prozentpunkte erhöht wird, bleibt unter dem Strich eine
Senkung von 2,1 Prozentpunkten.
({2})
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwei Drittel der
Kaufkraft, die durch die Mehrwertsteuererhöhung entzogen wird, den Menschen sofort zurückgegeben wird,
und zwar denen, die es brauchen: denen, die arbeiten, sowie den Firmen, die diese Menschen beschäftigen.
({3})
Mir persönlich wäre es lieber, wenn es dieser Mehrwertsteuererhöhung nicht bedurft hätte;
({4})
das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich sehe auch die Probleme, die die Erhöhung im nächsten Jahr für die Konjunktur mit sich bringt. Deshalb bin ich mit unseren
Freunden der Auffassung, dass alles, was an weiterem
Spielraum gegeben ist, zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verwendet werden muss.
({5})
- Voll und ganz. - Das haben die Kollegen heute aber
auch gesagt, das ist gar nicht strittig.
Sie sprechen von 9,6 Milliarden Euro, die übrig sind.
({6})
- Wahrscheinlich werden es 12 Milliarden Euro. Aber
Sie müssen seriöserweise auf jeden Fall die 3,5 Milliarden Euro abziehen, die durch den Einmaleffekt entstanden sind, die Beiträge künftig eher einzuziehen.
({7})
1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung ist bereits
vorgesehen, um die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu finanzieren. Die Differenz, die bleibt,
kann in weitere Senkungen gesteckt werden. Noch einmal: Für mich ist es überhaupt keine Frage, dass die
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit aus den genannten Gründen komplett an die Arbeitnehmer und die
Firmen, die sie beschäftigen, zurückgegeben werden
müssen.
Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit, zur Langzeitarbeitslosigkeit und zur Neustrukturierung des Niedriglohnsektors Ausführungen zu machen. Ich will abschließend nur feststellen - daran arbeitet die Koalition
und da werden wir Ergebnisse vorlegen -: Es wird sich
orientieren an den Grundsätzen: Erstens. Wer arbeitet,
muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Und es
gilt zweitens, das Prinzip des Forderns und Förderns
durchzusetzen. Wir brauchen dies dringend. Wie wollen
Sie einem jungen Menschen die Wichtigkeit einer Ausbildung begreifbar machen, wenn er als ausgelernter
Facharbeiter womöglich nicht mehr in der Tasche hat als
sein arbeitsloser Nachbar, der nichts gelernt hat? Ich
glaube, in unserem Handeln müssen wir uns auch hinsichtlich des Forderns von folgenden Grundsätzen leiten
lassen: Wer nichts leistet, obwohl er leisten könnte, handelt unsozial. Wer leistet, muss in jedem Fall besser gestellt sein als derjenige, der nicht leistet.
Schönen Dank.
({8})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Katja Mast von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich mir den Antrag der Grünen durchlese, dann frage ich mich, was eigentlich neu daran ist.
({0})
Ich weiß ja nicht, wie es meinen Kolleginnen und Kollegen ging, aber mich hat dieser Antrag an den Film „Und
täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert.
({1})
Hier könnten wir den Film „Das Gleiche in Grün - alle
zwei Wochen“ drehen.
({2})
Einige Punkte in dem Antrag sind überlegenswert,
vieles ist nur halb richtig und anderes kann und soll aus
meiner Sicht nicht gesetzlich geregelt werden. Immerhin
geben Sie mir die Gelegenheit, noch einmal deutlich zu
machen, wo die Unterschiede in der Arbeitsmarktpolitik
liegen. Damit sich das nicht wie ein arbeitsmarktpolitischer Bauchladen anhört, konzentriere ich mich auf zwei
zentrale Themenfelder, nämlich auf die Fragen, wie wir
mehr ältere Arbeitslose wieder in Jobs bekommen und
wie wir Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit ermöglichen.
Zuerst komme ich aber noch einmal zu unseren in den
letzten sieben Jahren gemeinsam erarbeiteten Grundsätzen in der Arbeitsmarktpolitik. Gemeinsam mit Ihnen
von den Grünen haben wir die bedeutendste Arbeitsmarktreform in der Geschichte Deutschlands auf den
Weg gebracht.
({3})
Für die heutige Debatte scheint mir aber ein anderer
Grundsatz unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik
wichtig: Wir waren uns einig, dass unsere Reform nur
zielführend sein kann, wenn wir ihre Wirkung überprüfen.
({4})
Das haben wir mit der wissenschaftlichen Evaluierung
des Hartz-I-, des Hartz-II- und des Hartz-III-Gesetzes
getan.
({5})
Das ist in der bundesdeutschen Gesetzgebungsgeschichte bisher einmalig.
Wieso muss ich diese so selbstverständlich klingenden Grundsätze heute erklären? Gerade im Hinblick auf
die Instrumente, durch die ältere Arbeitslose wieder in
Beschäftigung gebracht werden sollen, verwundert mich
Ihr Antrag. Ich zitiere:
Die mit der Initiative „50 plus“ präsentierten Vorschläge für ältere Arbeitnehmer beinhalten im
Wesentlichen lediglich bereits bestehende Instrumente …
({6})
Liebe Abgeordnete der ehemaligen Regierungskoalition,
das ist richtig, aber das ist auch so gewollt.
({7})
Entwickeln, bewerten, verbessern - das war doch der
Dreischritt unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik,
nicht die ständige Neukonzeption von Instrumenten, die
nur dazu führt, dass niemand mehr durchblickt, was es
am Arbeitsmarkt eigentlich gibt.
({8})
Zurück zur Evaluierung bzw. wissenschaftlichen Bewertung der Instrumente für ältere Arbeitslose. Der
Evaluierungsbericht ist eindeutig: In ihm wird aufgezeigt, dass die Mittel für Beitragsbonus, Eingliederungszuschuss und Weiterbildungsförderung nicht umfangreich genutzt wurden. Es wird aber auch der Grund dafür
genannt: Die Fördermöglichkeiten sind weder den Betroffenen noch den Arbeitgebern noch den Beratern der
Bundesagentur für Arbeit bekannt. Es ist also falsch, zu
meinen, dass wir neue Maßnahmen brauchen, um Ältere
in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es muss uns darum gehen, gemeinsam dafür zu werben, dass die bestehenden
Möglichkeiten für Ältere angewendet werden.
({9})
Hierfür ist die Initiative „50 plus“ die ideale Plattform.
Das Kleinreden der Instrumente hilft nicht weiter.
({10})
Sie fordern weiter, die Regierung solle Gesetze formulieren, um - hier bin ich meinem Kollegen, Herrn
Müller, für seine Ausführungen dankbar - das gesellschaftliche Leitbild vom Altern und die Personalpolitik
in den Unternehmen zu verändern. Wir brauchen in der
Tat ein anderes Leitbild und eine andere Personalpolitik,
aber nicht per Gesetz. Als ehemalige Referentin für Personalstrategie
({11})
bin ich mir sicher, dass es kein deutsches Unternehmen
gibt, das auf ein Bundesgesetz wartet, in dem eine Änderung der Personalpolitik geregelt wird. Ein solches
Gesetz würde nichts bewirken. Denn einen Mentalitätswandel erreichen wir nicht durch Gesetze, sondern
durch Dialog und Vorbilder.
Mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit entwickeln wir solche Vorbilder und machen sie bekannt. Die
öffentliche Hand, die Sozialpartner und die Betriebe suchen gemeinsam nach Antworten auf die Frage, wie die
Beschäftigten fit und gesund im Erwerbsleben bleiben.
Dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht.
({12})
Doch nun zu meinem zweiten Thema Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit. Bei der Förderung von
Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit handelt
es sich um eines der erfolgreichsten Mittel der aktiven
Arbeitsmarktpolitik, die für uns von der SPD beim Fördern der Eigeninitiative ansetzt. Auch hierzu wird in der
Evaluierung der Hartz-Gesetze einiges ausgeführt. Ich
will nicht auf die einzelnen Punkte eingehen; es wurde
aber deutlich, dass selbst die Gründerinnen und Gründer
Veränderungen - insbesondere bei der Ich-AG wünschten.
({13})
Wir haben nun mit unserem Instrument des Gründerzuschusses das Positive des früheren Überbrückungsgeldes
mit dem Positiven der Ich-AG verbunden. Damit haben
wir Transparenz der Förderinstrumente am Arbeitsmarkt
erhöht.
({14})
Außerdem haben wir den Gründerzuschuss zielgerichteter gestaltet.
({15})
In der Diskussion wird immer wieder angeführt, dass
Teilzeitgründungen nicht mehr möglich seien. Das
stimmt aber nicht.
({16})
Denn unabhängig davon, wie die Gründung gestaltet
wird, bekommt jeder Gründer aus der Arbeitslosigkeit
pauschal über maximal 15 Monate 300 Euro, um sich
sozial abzusichern. Das haben wir von der Ich-AG übernommen. Neun Monate lang wird eine Leistung in Höhe
des erhaltenen Arbeitslosengeldes gewährt. Damit
wurde ein Baustein des früheren Überbrückungsgeldes
übernommen.
Die Geschäftsidee wird zweimal geprüft: am Anfang
und nach neun Monaten. Damit ist es uns gelungen, die
sensible Einstiegsphase der Jungunternehmer abzusichern.
Abschließend will ich Folgendes zusammenfassen:
Erstens. Anträge - auch der Opposition - sind gut; denn
sie ermöglichen die sachliche Auseinandersetzung in der
Öffentlichkeit. Zweitens. Der Ruf nach neuen Gesetzen
ist nicht das Allheilmittel, insbesondere wenn der Dialog
zielführender ist und die Koalitionspartner die notwendigen Schritte bereits auf den Weg gebracht haben.
({17})
Drittens. Bei von uns gemeinsam entwickelten Gesetzen
geht es darum, auch unseren Grundsätzen treu zu bleiben: entwickeln, bewerten, verbessern.
Vielen Dank.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2792 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 16/3091 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie
Zusatzpunkt 1 auf:
30 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Klaus Ernst, Lutz Heilmann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Bodenschutzgesetzes ({0})
- Drucksache 16/3017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung von Vorschriften über bestimmte
elektronische Informations- und Kommunikationsdienste ({2})
- Drucksachen 16/3078, 16/3135 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über
Heimarbeit
- Drucksache 16/2677 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Ingbert Liebing, Katherina Reiche
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk
Becker, Marco Bülow, Petra Bierwirth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser
schützen
- Drucksache 16/3089 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({7}), Cornelia Behm, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Naturparke - Chancen für Naturschutz und
Regionalentwicklung konsequent nutzen
- Drucksache 16/3095 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kosovo-Verhandlungen - für eine neutrale
Moderation und eine eigenverantwortliche
und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern
- Drucksache 16/3093 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/3089
- Tagesordnungspunkt 30 d - soll federführend an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss,
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 o auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Überstellungsausführungsgesetzes und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
- Drucksache 16/2452 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9})
- Drucksache 16/3154 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({10})
Joachim Stünker
Dr. Peter Danckert
Jörg van Essen
Sevim Dagdelen
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3154, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes
- Drucksache 16/2704 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({11})
- Drucksache 16/3159 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({12})
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3159, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Rahmenabkommen vom 22. Juli 2005
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und
zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März
2006 zwischen dem Bundesministerium für
Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland
und dem Minister für Gesundheit und Solidarität der Französischen Republik über die
Durchführungsmodalitäten des Rahmenabkommens vom 22. Juli 2005 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich
- Drucksache 16/2859 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({13})
- Drucksache 16/3152 Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3152, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den
bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - EntVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
6. Februar 2006 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Kroatien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 16/2955 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14})
- Drucksache 16/3136 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3136,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung
im Straßenverkehr 2004 und 2005 ({16})
- Drucksachen 16/2100, 16/3085 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothée Menzner
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkte 31 f bis 31 o: Wir kommen nun
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
- Drucksache 16/2979 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 108 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
- Drucksache 16/2980 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 109 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
- Drucksache 16/2981 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 110 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
- Drucksache 16/2982 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 111 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
- Drucksache 16/2983 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 112 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 113 zu Petitionen
- Drucksache 16/2984 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 113 ist bei Gegenstimmen
der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 31 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 114 zu Petitionen
- Drucksache 16/2985 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 114 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 115 zu Petitionen
- Drucksache 16/2986 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 115 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 116 zu Petitionen
- Drucksache 16/2987 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 117 zu Petitionen
- Drucksache 16/2988 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 117 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mangel an Studienplätzen - Mögliches Scheitern des Hochschulpaktes
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für
die Antragstellerin die Kollegin Krista Sager vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir
angesichts steigender Bewerberzahlen und eines drohenden Fachkräftemangels dringend mehr Studienplätze in
Deutschland brauchen, ist vollkommen unstrittig. Trotzdem sind alle Verständigungsversuche darüber, wie wir
das erreichen, bisher gescheitert. In Wirklichkeit droht
dieser Ausbau, der dringend notwendig ist, schiefzugehen.
({0})
Erinnert sich eigentlich irgendjemand daran, was wir uns
bei den Beratungen zur Föderalismusreform darüber haben anhören müssen, was die Länder alles alleine bewegen können? Selbst von der CDU/CSU-Fraktion will
heute keiner mehr dabei gewesen sein.
({1})
Tatsache ist doch: Wenn wir damals das Fenster für ein
gemeinsames Handeln von Bund und Ländern nicht offen gehalten hätten, dann wäre der Versuch, etwas für
mehr Studienplätze zu tun, heute sowieso völlig aussichtslos. Man muss sich einmal die Position der Bundesministerin vor Augen halten, die glaubte, dass dann,
wenn sie mehr Geld für Forschung gibt, die Länder die
Studienplätze schon alleine ausbauen würden. Das ist
doch eine reichlich naive Position gewesen. Das steht
heute eindeutig fest.
({2})
Die Länder haben bei der Föderalismusreform die Backen aufgeblasen und damit angegeben, was sie alles alleine stemmen können, aber jetzt, wo es um das gemeinsame Handeln geht, ist Holland mal wieder in Not. Das
kennen wir schon. Aus dem Gestrüpp der unterschiedlichen Einzelinteressen finden sie jetzt nicht mehr heraus.
Das ist der alte bekannte deutsche Wettbewerbsföderalismus, wie er leibt und lebt.
({3})
Wo bleibt denn da die viel beschworene gewachsene
Verantwortung der Länder?
Es lohnt sich aber auch durchaus, einen Blick darauf
zu werfen, was die Bundesseite unter ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung versteht. Erst wollte die Bundesministerin gar kein Geld für Studienplätze ausgeben.
Jetzt hat sie sich immerhin dazu nötigen lassen, welches
auszugeben. Mittel für Studienplätze stellen aber eindeutig den kleineren Teil des Hochschulpaktes dar.
({4})
Gemessen an den Prognosen der Wissenschaftsorganisationen reicht das Geld hinten und vorne nicht. Der Pakt
ist einfach unterfinanziert.
({5})
Wie es nach dem Jahr 2011, wenn die wirklich hohen
Bewerberzahlen kommen, weitergehen soll, steht sowieso in den Sternen. Was stellen wir also fest? Der
Bund hat sich nur halbherzig zum Jagen tragen lassen.
({6})
Frau Schavan, es reicht einfach nicht, wenn Sie als
Bundesministerin meinen, Sie könnten Geld ins Fenster
hängen und schauen, ob jemand die Güte hat, es auch abzuholen, nach dem Motto: Wenn es klappt, ist es gut;
wenn es nicht klappt, ist es auch egal. Das ist ein falsches Verständnis von Ihrer Rolle als Bundesministerin.
Sie sollten Ihre baden-württembergische KMK-Brille
endlich einmal ablegen;
({7})
sonst können Sie Ihren Bundesbildungshut gleich an
Herrn Zöllner weiterreichen. Der würde diese Aufgabe
vielleicht besser erfüllen.
Die Aufgabe, die es zu erfüllen gilt - ich gebe es zu -,
ist nicht leicht. Ich behaupte: Wenn wir die unterschiedliche Ausgangslage der Länder nicht berücksichtigen,
dann drohen wir in eine Situation zu geraten, in der am
Ende das Geld weg ist, wir aber nicht mehr, sondern weniger Studienplätze haben - nur dies in anderen Bundesländern. Da in den ostdeutschen Ländern die Abiturientenzahlen schon jetzt geringer werden, brauchen diese
Länder selbstverständlich Anreize dafür, trotzdem Studienplätze zu erhalten und sie nicht abzubauen.
({8})
Angesichts dessen, dass Stadtstaaten wie Hamburg
und Berlin schon immer überproportional ausgebildet
haben, was nirgends honoriert worden ist, und Berlin
jetzt gesagt bekommt, dass es für seine Hochschulen
Geld verschwendet, braucht man sich nicht zu wundern,
wenn die Stadtstaaten eher Studienplätze abbauen als
aufbauen. Auch gegen diese Entwicklung muss ein
Signal gesetzt werden.
({9})
Angesichts dessen, dass ein Land wie BadenWürttemberg in der Vergangenheit immer zu wenig ausgebildet und sogar Studienplätze abgebaut hat, damit
aber glänzend dasteht,
({10})
kann es, Herr Tauss, einer Einigung unter den Ländern
nicht gut tun, wenn es plötzlich gerecht sein soll, dass sie
sich doch herablassen, ein paar Studienplätze zusätzlich
einzurichten, und dann beim Hochschulpakt wieder groß
abkassieren. So kommt keine Verständigung zustande.
({11})
Das wird also schwer.
Ich sage Ihnen: Derjenige, der während der Verfassungsreform darauf bestanden hat, dass wir bei dieser
Lösung Einstimmigkeit benötigen, gehört mit der
Höchststrafe „Lebenslänglich KMK“ bestraft.
({12})
Das macht die Sache doch nicht einfacher.
Wir brauchen hier also mehr und nicht weniger gesamtstaatliche Verantwortung von Bund und Ländern.
Frau Schavan, ich sage Ihnen eines: Wenn der Ausbau
der Studienplätze schief geht, dann haben nicht nur alle
Landesministerinnen und -minister kläglich versagt.
Dann sind auch Sie als Bundesministerin - das wird Ihnen die Öffentlichkeit bestätigen - gescheitert.
Deswegen appelliere ich an alle, das alte SchwarzerPeter-Spiel zwischen Bund und Ländern aufzugeben und
die Sache zu einem guten Ende zu bringen; ansonsten
müssen es am Ende die jungen Leute ausbaden, und
zwar nicht nur die Studierenden, sondern auch diejenigen im dualen System, die vor der Verdrängung stehen.
Das können wir uns in diesem Land wirklich nicht erlauben. Sehen Sie also zu, dass Sie hier eine Regelung hinbekommen!
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Sager, wenn ich
mich richtig erinnere, waren Sie vier Jahre lang Wissenschaftssenatorin in einem Bundesland. Wir haben vor
kurzem ein Gespräch mit einem Ihrer Nachfolger, dem
jetzigen amtierenden Senator Dräger, geführt. Dieser erklärte mir, dass er folgende Situation in Hamburg übernommen hat: 50 Prozent derjenigen, die eine Hochschule besuchten, beendeten diese mit einem Abschluss.
Das ist eine Erblast, die Sie ihm hinterlassen haben.
({0})
Es ist nämlich nicht nur entscheidend, wie viele ein Studium aufnehmen, sondern auch wie viele es abschließen.
Das ist eine Frage des Qualitätsstandards. Ich kann Ihnen den Hinweis leider nicht ersparen, dass Sie für das
damalige schlechte Abschneiden in Hamburg Mitverantwortung tragen.
({1})
- Herr Dräger hat es mittlerweile wenigstens auf
65 Prozent Absolventen gebracht und hat es sich zum
Ziel gesetzt, auf mindestens 80 Prozent zu kommen.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, jeder junge Mensch
ist eine Chance für unser Land. Da sind wir uns, glaube
ich, einig.
({3})
Jeder Student ist auch eine Chance für unser Land, da
Wissen bekanntermaßen das Kapital des 21. Jahrhunderts ist. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben
rechtzeitig darauf hingewirkt, einen Hochschulpakt aufzulegen. Trotzdem ist die erste Aufgabe des Bundes
- ich betone das, weil Sie das ein wenig heruntergespielt
haben - die Forschungsförderung. Deshalb ist die erste
Säule dieses Hochschulpaktes ein Angebot im Bereich
der Forschung, nämlich der Einstieg in die Vollkostenfinanzierung. Dazu gehören 20 Prozent Aufschlag auf
die Einwerbung von Drittmitteln aus der Deutschen Forschungsgesellschaft.
Sehr geehrte Damen und Herren, das ist wichtig für
eine Hochschule. Wir sind uns einig, dass es zwei Standbeine gibt, nämlich Forschung und Lehre. Die Hauptverantwortung des Bundes ist nach wie vor die Forschung.
Deshalb lautet das Angebot des Bundes 700 Millionen
Euro bis zum Jahr 2010. Das ist eine sehr erkleckliche
Summe. Das führt dazu, dass die Forschung nicht mehr
zulasten der Lehre ausgebaut wird.
Das zweite Standbein ist die Lehre. Man steht nun
einmal auf zwei Beinen besser als auf einem Bein. Wir
sind uns einig, dass bei der Lehre die Länder in der
Hauptverantwortung stehen. Es war ebenfalls von vornherein klar, dass es sehr unterschiedliche Interessenlagen
gibt - keine Frage! Da sind einerseits die neuen Bundesländer mit demografischen Problemen, die Studienplätze
abbauen müssten, was aber insgesamt gesehen nicht
sinnvoll ist. Es gibt andererseits die Stadtstaatenproblematik. Aber, sehr geehrte Frau Sager, wäre Köln ein
Stadtstaat, hätte Nordrhein-Westfalen im Verhältnis zu
Köln auch ein Problem, weil es natürlich in den großen
Städten massiv mehr Studienplätze gibt als auf dem flachen Land.
({4})
Wenn München ein eigenständiger Stadtstaat wäre,
wäre das im Verhältnis zu Bayern auch so. Deshalb ist es
klar, dass Hamburg im Vergleich zum umliegenden Land
mehr Studienplätze hat. Aber das muss untereinander
ausgeglichen werden.
({5})
Es ist natürlich die Aufgabe der Länder, zu entscheiden, wie dieses Angebot des Bundes über 565 Millionen
Euro aufgeteilt wird. Der Ball ist den Ländern zugespielt
und sie werden ihn auch aufnehmen. Ich bin mir sehr sicher, dass die Länder ihrer Verantwortung gerecht werden und bis zum 20. November eine Lösung vorlegen
werden. Ich bin mir da sehr sicher.
Für uns ist es wichtig, dass bei dem Ganzen unter dem
Strich 90 000 zusätzliche Studienplätze herauskommen.
({6})
Ich glaube, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, immer nur das
Scheitern vorherzusagen und Unkenrufe verlauten zu
lassen, bringt überhaupt keine Lösung.
({7})
Deshalb würde ich vorschlagen, dass Sie sich auf konstruktive Vorschläge verlegen und nicht nur sagen, dass
das alles scheitern wird und ganz fürchterlich ist. Für
konstruktive Vorschläge sind wir offen. Für Schwarzmalerei haben wir keine Zeit. Wir werden uns der Verantwortung stellen.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten gestern im Ausschuss die Generalsekretärin der Hochschulrektorenkonferenz zu Gast. Sie hat
dort unwidersprochen formuliert:
Der Hochschulpakt in seiner jetzt bekannten finanziellen Ausstattung ist das Gegenteil einer Qualitätsoffensive.
Der ebenfalls anwesende Generalsekretär des Wissenschaftsrates hat ergänzt:
Die deutschen Hochschulen sind seit Jahrzehnten
unterfinanziert.
Die Bundesregierung und die Kultusminister gehen
gemeinsam von einem Anstieg der Studentenzahlen bis
zum Jahr 2014 um 25 Prozent auf bis zu 2,7 Millionen
Studenten aus. Wenn man die Qualität des Studiums
auch nur erhalten wollte, müsste man gegenüber heute
jährlich etwa 3,3 Milliarden Euro mehr für die Hochschullehre insgesamt ausgeben. Schon jetzt aber haben
viele Länder Probleme, die geforderten 565 Millionen
Euro - eine vergleichsweise geringe Summe; man bedenke, wir reden hier nicht über einen jährlich, sondern
über einen für vier Jahre aufzubringenden Betrag; es
geht also um einen jährlichen Betrag von 140 Millionen
Euro für 16 Länder - aufzubringen. Wenn man bedenkt,
welche Summe im Jahr 2014 aufgebracht werden muss,
dann erkennt man, dass das für die Hochschulen nichts
Gutes ahnen lässt.
Statt des nötigen Qualitätssprungs nach oben ist eher
das Gegenteil zu befürchten, mit dem bekannten Ergebnis: überfüllte Hörsäle, viel zu volle Seminare, verlängerte Studienzeiten, auch wegen organisatorischer Überforderung. Hinzu kommen die Schwierigkeiten wegen
der Umstellung der Studiengänge und natürlich das Problem, dass wir für die ostdeutschen und im Übrigen auch
für die norddeutschen Unis eine Lösung brauchen.
Im Interesse des Ganzen, der Studierenden und der
Hochschullandschaft in Deutschland, ist es - besonders
mit Blick auf die Zeit nach 2010 - dringend nötig, dass
die Studienplätze an diesen Universitäten erhalten werden können.
({0})
Das Ergebnis: Der finanzielle Rahmen des Hochschulpaktes ist offensichtlich zu eng.
Angesichts der aktuellen Lage muss man folgende
Frage einmal stellen: Kommt der Hochschulpakt überhaupt? Kollegin Aigner, das hat nichts mit Schwarzmalerei zu tun. Konstruktive Vorschläge hat die Opposition
im Rahmen der Föderalismusreform gemacht: Als in
diesem Hohen Hause die so genannte Föderalismusreform verabschiedet wurde, war die Erleichterung recht
groß, insbesondere bei den Koalitionsfraktionen, und
zwar darüber, die drohenden „Abweichler“, insbesondere in den Reihen der SPD, kurz vor der Ziellinie sozusagen noch eingefangen zu haben.
({1})
Viele der damals in der Koalition zweifelnden Kollegen waren Bildungspolitiker. Sie hatten zu Recht große
Bedenken, den Bund vollständig aus der Verantwortung
für die Hochschullehre zu entlassen, so wie dies ursprünglich vorgesehen war. Erkauft hat man sich ihre
Zustimmung mit einem Zugeständnis: Die Lehre an
Hochschulen wurde Bestandteil der neuen Gemeinschaftsaufgabe, allerdings unter der Bedingung, dass alle
16 Länder dem geplanten Vorhaben einstimmig zustimmen.
Ich neige nicht zu Zynismus; aber ich glaube - Kollegin Sager hat den Erfinder dieser Regelung schon angesprochen -, dass dieses Zugeständnis auch in der Hoffnung gemacht wurde, dass die Länder in KMKbewährter Weise ohnehin keine Einigung zustande bekommen. Man muss heute feststellen: Dieses Kalkül
scheint aufzugehen. Alles, was man vom Hochschulpakt
hört, ist - um es vorsichtig auszudrücken - wenig ermutigend. Mit Bezug auf die Sitzung der KMK vom
19. Oktober 2006 schrieb die „FAZ“ einige Tage später,
dort habe sich gezeigt, wie die Länder die von ihnen
nach Abschluss der Föderalismusreform beschworene
gesamtstaatliche Verantwortung verstehen: Sie nehmen
sie schlicht nicht wahr.
Nun ist sicher auch die „FAZ“ nicht im Besitz der
letztgültigen Wahrheit. Aber die Tatsache, dass es der
Bund auf der erwähnten Sitzung ganz offensichtlich für
nötig hielt, darauf hinzuweisen, dass der Pakt nur dann
kommt, wenn sich die Länder in allen einzelnen Fragen
bis zum 20. November 2006 geeinigt haben, hat doch etwas von einer ultimativen Aufforderung. Wäre alles so
harmonisch, wie uns im schriftlichen Bericht der Bundesregierung und auch in der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage glauben gemacht wird, dann wäre eine solche
Drohung - so muss man es fast nennen - ein diplomatischer Fehltritt ohnegleichen. Ich glaube aber nicht, dass
es das war. Nein, das Ultimatum, das die Bundesregierung der KMK gesetzt hat, war wohl überlegt und angebracht.
Der Bundespräsident hat mit erfreulicher Klarheit die
Verbesserung des Bildungswesens zum zentralen Prüfstein der Zukunftsfähigkeit des Föderalismus erklärt.
Der Hochschulpakt - wenn er zustande kommt - ist ein
solcher Baustein. Ich sage in aller Deutlichkeit: Ohne
ihn ist die Föderalismusreform bildungspolitisch gescheitert.
({2})
Scheitert dieser Pakt oder kommt es zu einer Pseudoeinigung à la Gesundheitsreform, dann, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, müssen Sie die Verantwortung für die bitteren Konsequenzen, die unser Land
dann tragen muss, auch tragen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Ministerin für Wissenschaft
und Kunst des Freistaates Sachsen, Frau Eva-Maria
Stange.
({0})
Dr. Eva-Maria Stange, Staatsministerin ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Ich möchte mich zunächst bei
den Antragstellern dieser aktuellen Debatte über den
Hochschulpakt 2020 bedanken und dafür, dass ich die
Möglichkeit habe, die Sicht der Länder darzustellen. Die
Hochschulen in Deutschland und ihre Leistungsfähigkeit
haben die Aufmerksamkeit der Parlamente in Bund und
Ländern endlich erreicht; das ist gut so.
({2})
Der Hochschulstandort Deutschland muss sich mitnichten verstecken. Wir verfügen über eine qualitativ
hochwertig ausgebaute Hochschullandschaft in allen Regionen der gesamten Republik. Doch um zukunftsfähig
Staatsministerin Dr. Eva-Maria Stange ({3})
zu sein und im internationalen Wettbewerb - ich verwende einmal diese Verkürzung - um die besten Köpfe
und um die Spitze in der Forschung und der Wissenschaft mithalten zu können, letztlich zum Wohl unseres
Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger, müssen wir
uns gemeinsam - das heißt Bund und Länder - zwei Herausforderungen stellen: Die erste Herausforderung ist
die Ausdifferenzierung und internationale Sichtbarkeit
in der Spitze, die jetzt mit der Exzellenzinitiative in
Fahrt gekommen ist. Die zweite Herausforderung - zu
der möchte ich hier vor allen Dingen sprechen - ist der
qualitative und quantitative Ausbau der Studienplätze.
Wer Exzellenz in der Spitze will, muss den Hochschulpakt wollen. Ich kann Ihnen versichern, auch wenn
hier viele Stimmen anderes sagen: Die Wissenschaftsministerinnen und Wissenschaftsminister der Länder
wollen den Hochschulpakt.
({4})
Wir nehmen die Unterstützung des Bundes bei dieser nur
gemeinsam in kurzer Zeit zu bewältigenden Anstrengung an.
({5})
Erstmals gibt es keinen Streit mehr in der Frage: Wollen wir mehr Hochschulabsolventinnen und -absolventen
und möglichst jedem Studienberechtigten ein Studium
ermöglichen? Zu deutlich ist der Nachholbedarf im Vergleich zu anderen OECD-Ländern. Gestatten Sie mir,
dass ich hier einmal Folgendes erwähne: Bei einer Studienanfängerquote von lediglich 37 Prozent im Vergleich zu mehr als 60 Prozent in den USA oder gar
80 Prozent in Schweden bleiben letztlich nur 20 Prozent
Hochschulabsolventen in Deutschland übrig.
({6})
Im OECD-Mittel sind es 35 Prozent. Diese Zahlen, die
uns schon seit einigen Jahren ins Stammbuch geschrieben wurden, haben zu der Einigung geführt, dass wir
dringend mehr Hochschulabsolventen benötigen.
Deshalb müssen wir die Frage beantworten: Wo sollen zukünftig die hoch qualifizierten Fachkräfte für die
Wirtschaft herkommen und woher sollen exzellente Forschungseinrichtungen zukünftig ihren Nachwuchs nehmen?
({7})
Der internationale und nationale Kampf - vom Braindrain im Land war schon die Rede - um die Köpfe hat
längst begonnen. Die Länder sind sich darin einig - das
kann ich nur noch einmal betonen -, dass wir in den
kommenden Jahren im nationalen Interesse alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, um deutlich mehr Studienplätze als bisher für den anstehenden Studentenberg,
wie er bildlich genannt wird, zur Verfügung zu stellen.
({8})
Einige Bundesländer wie Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen haben sich bereits in der Vergangenheit
beim Ausbau von Studienplätzen verstärkt engagiert.
({9})
Andere Länder, die zeitgleich den Zugang zu den Hochschulen drosselten und dafür stärker in die Forschung investierten, importierten dann diese gut ausgebildeten
Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Das kann
nicht mehr funktionieren.
({10})
Das mag im Wettbewerbsföderalismus eine der Spielregeln sein. Doch dann - so der bereits vor langem geäußerte Vorschlag von Wissenschaftsminister Zöllner muss ein Vorteilsausgleich zwischen den Ländern geregelt werden.
({11})
Nach der Formel „Geld folgt den Studenten“ könnte
dann auch der Ausbau zusätzlicher Studienplätze an attraktiven Hochschulstandorten finanziert werden. Dieser
Anstoß aus Rheinland-Pfalz, den Sachsen von Anfang
an begleitet und mitgetragen hat, war der Ursprung unseres heute diskutierten Hochschulpaktes.
Noch ist es sicherlich zu früh, über den Vorteilsausgleich allein zwischen den Ländern zu sprechen bzw. ihn
auf den Weg zu bringen. Das muss vermutlich im Rahmen der Diskussion über die Föderalismusreform II geregelt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, auch wenn es manche Journalistinnen und Journalisten gibt, die sich nicht vorstellen können und wollen,
dass Ministerinnen und Minister des Bundes und der
Länder einen Pakt für die Zukunft schließen: Wir sind
auf der Zielgeraden.
({12})
Doch es gibt - ich will das kurz noch einmal darstellen legitime unterschiedliche Interessen, die zu berücksichtigen sind, die ich kurz in vier Gruppen skizzieren will,
wie sie auch hier schon angesprochen wurden.
Es gibt eine Gruppe von Ländern, die in den kommenden Jahren deutlich mehr Studienberechtigte haben
werden und dafür, zum Teil auch aufgrund eines bisher
unterdurchschnittlichen Ausbaustandes, deutlich mehr
Studienplätze schaffen müssen.
Es gibt eine zweite Gruppe von Ländern, die bereits
in der Vergangenheit über dem Bundesdurchschnitt und
über ihrem eigenen Bedarf ausgebildet haben, so genannte Exportländer, die dennoch bereit sind, einen weiteren Ausbau zu unterstützen, die aber wollen, dass der
höhere Sockel, den sie bereits haben, berücksichtigt
wird.
Staatsministerin Dr. Eva-Maria Stange ({13})
Es gibt eine dritte Gruppe, die bereits genannt wurde,
nämlich die Stadtstaaten, die aufgrund ihrer besonderen
Situation eine breit ausgebaute Hochschullandschaft haben und die wie Berlin gerade dazu gezwungen werden,
Studienplätze abzubauen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das „deutliche Ausgabenüberhänge“ - Zitat - in den Bereichen Kultur und Hochschulen kritisiert,
ist weltfremd und für den notwendigen gesellschaftlichen Konsens auch kontraproduktiv.
({14})
Nicht zuletzt gibt es die Gruppe der ebenfalls schon
erwähnten neuen Bundesländer, für die auch ich hier
stehe. Das demografische Tal erreicht 2008/09 die Hochschulen und bewirkt bis zu seinem tiefsten Punkt in den
Jahren 2013/14 einen Studienanfängerverlust von circa
16 000 oder, anders ausgedrückt, von 25 Prozent der
Studienplätze, die zum Abbau des Studentenbergs der alten Bundesländer notwendig wären. Deshalb muss aus
Sicht eines neuen Bundeslandes der Hochschulpakt eine
klare Aussage zur Perspektive nach 2010 eröffnen. Er
heißt ja auch „Hochschulpakt 2020“.
Die ostdeutschen Hochschulen haben sich in den letzten 16 Jahren steil entwickelt, was beispielsweise auch
der Erfolg der TU Dresden in der Exzellenzinitiative belegt.
({15})
Das demografische Tal ist eine Bedrohung, aber - das
sage ich ganz deutlich - es kann auch als Chance genutzt
werden, wenn es nämlich gelingt, dieses Potenzial zu erhalten - sowohl im Interesse der Studierenden als auch
im Interesse der Wissenschafts- und Wirtschaftskraft der
Regionen.
Die gemeinsame Lösung für alle vier Ländergruppen,
wie ich sie gerade beschrieben habe, ist - das haben Sie
gespürt, meine Damen und Herren Abgeordnete - nicht
einfach zu finden. Wenn mir von Ihnen anschließend ein
guter Weg genannt wird, nehme ich das gern mit; denn
wir sind gerade dabei, das Rechenmodell zu erstellen.
Alle Länder wollen mit ihren Möglichkeiten dazu beitragen, dass möglichst vielen Studienberechtigten ein
Studienplatz angeboten werden kann, sowohl - ich betone es noch einmal - durch Neuschaffung wie auch
durch Erhalt von Studienplatzkapazitäten, aber unter Berücksichtigung der vier unterschiedlichen Interessenlagen.
Es sind auch die Länderparlamente und die Landesregierungen davon zu überzeugen, bereits getroffene Beschlüsse zum Abbau von Studienplätzen rückgängig zu
machen oder, besser noch, erst gar nicht zu fassen. Das
kann nur mit einem fairen Interessenausgleich unter den
Ländern gelingen. An diesem arbeiten die Wissenschaftsministerinnen und -minister ernsthaft, auch wenn
manche von außen das vielleicht nicht so wahrnehmen
wollen.
Seitdem Frau Bundesministerin Schavan am 10. Oktober für die Bundesseite klar auf den Tisch gelegt hat,
dass mindestens 565 Millionen Euro Bundesmittel für
den ersten Teil des Hochschulpakts zur Verfügung gestellt werden, wird nach einem konkreten Modell zur gemeinsamen Finanzierung der zusätzlichen Studienplätze
gesucht.
Die Wissenschaftsministerinnen und -minister werden in der Woche vom 6. bis 10. November erneut tagen
und den Hochschulpakt - davon gehe ich fest aus - besiegeln. In der darauf folgenden Woche werden wir
durch die Bund-Länder-Kommission einen entsprechenden Beschluss bekommen.
Im Ergebnis, wenn am 13. Dezember auch die Ministerpräsidentenkonferenz zustimmt, werden bis 2010
für zusätzliche 90 000 Studienanfängerplätze immerhin
1,13 Milliarden Euro von Bund und Ländern zur Verfügung gestellt.
({16})
Das ist zweifelsohne ein Kraftakt, der sich aber lohnt
und der deutschen Hochschullandschaft einen Schub geben wird.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Hirsch von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig, dass es uns allen ein wichtiges Anliegen ist
- dabei gibt es fraktionsübergreifend überhaupt keine
Differenz -, die Kapazitäten an den Hochschulen in den
nächsten Jahren auszubauen.
({0})
- Es geht aber noch weiter, Herr Tauss. Es tut mir Leid. Es klingt erst einmal sehr positiv und findet Unterstützung, wenn die Bundesbildungsministerin sagt: Wir stellen in den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro für einen,
wie wir gerade gehört haben, Pakt für die Zukunft zur
Verfügung. Wir haben aber von Kollegin Sager und vom
Kollegen Barth gehört: Wenn man sich das, was vorgelegt wurde, in den Einzelheiten anschaut, stellt man fest,
dass es vollkommen unzureichend ist. Diese Aussage
findet auch unsere Zustimmung.
({1})
Kollege Barth hat auf die Äußerungen der Hochschulrektorenkonferenz schon gestern im Ausschuss hingewiesen. Gerade bezüglich der finanziellen Ausstattung
muss man auch aus unserer Sicht festhalten - Kollegin
Sager hat es ganz deutlich gesagt -: Die finanziellen
Mittel, über die wir hierbei bisher sprechen, machen nur
einen Bruchteil dessen aus, was wir zurzeit eigentlich an
den Hochschulen benötigen. Dass diese Aussage nicht
übertrieben ist, zeigt sich, wenn Sie sich beispielsweise
gerade jetzt zu Semesterbeginn in eine Hochschule setzen und die überfüllten Seminare besuchen. Dort ist es
keine Seltenheit, dass Studierende einfach rausgekickt
werden und dass gesagt wird: Es tut uns Leid; es ist kein
Platz mehr da. Es ist auch keine Seltenheit, dass Studierende ein oder mehrere Semester auf eine Betreuung ihrer Abschlussarbeit warten müssen. Wenn Sie sich die
Ausstattung einiger Bibliotheken ansähen, wüssten Sie,
dass dort deutlich mehr Gelder zur Verfügung stehen
müssten, wenn es zu einem qualitativen Ausbau der
Hochschulen kommen soll.
In dieser Situation stellen Sie nun im Rahmen der Exzellenzinitiative einigen wenigen Hochschulen mehr als
doppelt so viel Geld zur Verfügung als im Rahmen des
Hochschulpakts dem ganzen Rest. Wir wollen Sie wirklich fragen: Wieso sollte Ihnen irgendjemand angesichts
einer solchen Mittelverteilung abnehmen, dass es Ihnen
wirklich darum geht, einen breiten Zugang zu den Hochschulen zu sichern?
({2})
Die Linke ist gegen ein solches Zweiklassenhochschulsystem. Die Hochschulrektorenkonferenz - Herr
Hagemann, das ist richtig - ist dafür, die studentische Interessenvertretung aber - sie vertritt die Mehrheit an den
Hochschulen - ist dagegen. Wir fordern deutlich mehr
Geld für den Hochschulpakt.
({3})
Der zweite Punkt des Hochschulpaktes, bei dem es
grundsätzlich falsch läuft - darüber hat von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern niemand gesprochen -, ist
die Berücksichtigung der sozialen Aspekte. Diese Aspekte spielen keine Rolle. Es ist richtig und schön, dass
Sie sich hier über den Ausbau der Kapazitäten an den
Hochschulen unterhalten, weil die Zahl der Studienberechtigten in den nächsten Jahren ansteigt. Wer von diesen jungen Menschen tatsächlich die Hochschulen besuchen kann, ist damit aber noch gar nicht gesagt. Sie
kennen die Zahlen genauso gut wie ich: Nur etwa
10 Prozent der Studierenden kommen aus Familien mit
geringem Einkommen. Diese soziale Ungleichheit können Sie nicht einfach ignorieren; das muss im Pakt eine
Rolle spielen.
({4})
Es geht nicht nur darum, Kapazitäten auszubauen, sondern auch um eine soziale Öffnung der Hochschulen.
Damit sind wir bei der Verantwortung des Bundes.
Frau Aigner, wir haben sehr konstruktive Vorschläge
vorgelegt, beispielsweise im Hinblick auf eine Ausweitung des BAföG.
({5})
Wir hatten die simple Forderung nach einer Anpassung
der Bedarfssätze und Freibeträge. Wir hatten weitere
Vorschläge; aber diesen könnte man schon einmal umsetzen. Die Umsetzung ist, nachdem sie fünf Jahre lang
verschleppt wurde, längst überfällig. Sie wurde von
sämtlichen Fraktionen abgelehnt.
({6})
Dabei ist doch klar, dass ohne ein besser ausgestaltetes
BAföG den meisten Studieninteressierten das Geld für
ihren Lebensunterhalt während des Studiums fehlt und
sich die soziale Ungleichheit an den Hochschulen weiter
verschärfen wird. Der Pakt hilft denjenigen, die schon
heute an den Hochschulen unterrepräsentiert sind, überhaupt nicht weiter. Genau an dieser Stelle müsste dringend nachgearbeitet werden.
({7})
Heute in der Aktuellen Stunde wird die Frage gestellt,
ob der Hochschulpakt scheitert. Für uns als Linke geht
es nicht nur darum, ob dieser Pakt scheitert oder ob wir
das Finanzgeschacher zwischen Bund und Ländern in irgendeiner Form noch hinbekommen. Uns geht es in einem ersten Schritt darum, den Hochschulpakt zu einem
sinnvollen politischen Projekt zu machen.
({8})
Für die Linke möchte ich festhalten, dass es uns nicht
nur um einen Ausbau der Kapazitäten, sondern vor allem
um eine soziale Öffnung der Hochschulen geht.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Diese große Koalition hat die
Kraft, wissenschafts- und forschungspolitische Weichen
zu stellen. Das ist bereits in den ersten elf Monaten deutlich geworden. Dazu zähle ich die Hightechstrategie und
die Exzellenzinitiative. Es besteht Konsens darüber, dass
damit auf Themen reagiert wird, über die wir seit Jahren
diskutieren. In der Exzellenzinitiative, die wir in den
vergangenen Jahren gemeinsam, Bund und 16 Länder,
vorbereitet haben, zeigt sich die enorme Kraft dieser
großen Koalition in Bezug auf die Zukunftschancen der
jungen Generation.
({0})
Ich will jetzt nicht auf die Frage eingehen, wer von
Ihnen wann persönlich oder als Partei Verantwortung in
der Wissenschafts- und Forschungspolitik getragen hat.
Die FDP ist mir eigentlich als eine Partei in Erinnerung,
die über Jahrzehnte Wert darauf gelegt hat, in der Wissenschafts- und Forschungspolitik präsent zu sein. Herr
Barth, wenn Sie heute sagen, seit Jahrzehnten sei alles
furchtbar, dann schauen Sie sich einmal die Bilder meiner Vorgänger in meinem Haus an.
({1})
Aber ich will ja nicht darauf eingehen, wer wann Verantwortung getragen hat.
({2})
Ich bin - das ist meine erste Feststellung zu dieser
Debatte - dankbar dafür, dass alle Fraktionen im Hause
sagen, dass ihnen dieses Thema ein Anliegen ist. Das gilt
für die Studienplätze genauso wie für das Thema der
Ausbildungsplätze, über das wir hier auch schon gesprochen haben. Es gibt einen großen Konsens im Deutschen
Bundestag darüber - auch das sollten wir der Öffentlichkeit sagen -, dass wir uns, was Investitionen und Konzepte angeht, intensiv und gewissenhaft mit der jungen
Generation und ihren Zukunftschancen beschäftigen.
({3})
Damit komme ich zum Hochschulpakt selbst. Ich
möchte Ihnen den Stand schildern. Damit will ich die
Bemerkung verbinden, dass darüber nachzudenken ist,
ob Sie und wir eigentlich der politischen Kultur in
Deutschland nützen, wenn wir nicht mehr Zeit zur Verfügung stellen, um zu guten Lösungen zu kommen, sondern stattdessen immer prophylaktisch große Unruhe
ausbricht und Scheitern angekündigt wird. Wir produzieren mit solchen Reden doch letztlich Politikverdrossenheit, weil draußen niemand mehr davon ausgeht, dass
wir uns Mühe geben.
({4})
Deshalb kann ich nur sagen: Die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen wollen - das können
Sie den Positionspapieren beider Regierungsfraktionen
entnehmen - ein tragfähiges Konzept, in dem die gemeinsame Verantwortung des Bundes und der 16 Länder
bis zum Jahre 2020 deutlich wird. Um nicht mehr und
nicht weniger geht es. Wir reden über ein Konzept für
die Zeit von 2006 bis 2020. Das ist eine anspruchsvolle
Aufgabe. Es hat überhaupt keinen Zweck, irgendeinen
Ballon in den Himmel zu schicken. Vielmehr brauchen
wir ein tragfähiges Konzept, mit dem wir deutlich machen können, dass wir die Aufgabe begriffen haben und
für zusätzliche Studienplätze und die Stärkung der Universitäten Sorge tragen.
({5})
Über die zwei Teile des Hochschulpaktes ist schon
gesprochen worden. Der erste Teil ist übrigens, auch
wenn Sie das jetzt infrage stellen, Teil des Koalitionsvertrages, und zwar aus guten Gründen.
({6})
Es hat doch in den letzten Jahren keine Anhörung gegeben, in der nicht deutlich gemacht worden ist, dass in
der jetzigen Situation die in der Forschung besonders erfolgreichen Hochschulen bestraft werden. Denn die mit
der Forschung verbundenen Kosten werden durch die
Mittel der Projektförderung seitens der DFG nicht abgedeckt. Deshalb ist dieser Teil des Hochschulpaktes eine
dringend notwendige Maßnahme zur Stärkung der Universitäten. Diejenigen Hochschulen, die besonders erfolgreich sind, dürfen nicht bestraft werden. Deshalb
brauchen wir die Programmkostenpauschale.
({7})
Diese Pauschale kommt nicht nur der gesamten Universität zugute, sondern natürlich auch den Studierenden, die spüren, dass im Bereich der Hochschulen an
vielen Stellen Geld eingesammelt wird, um besonders
erfolgreichen Forschergruppen gute Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.
Wir planen konkret die Einführung einer Programmkostenpauschale in Höhe von 20 Prozent. Im Jahre 2007
wird sie zunächst für koordinierte Programme, also beispielsweise Sonderforschungsbereiche und Forschungszentren, die besonders kostspielig sind, eingeführt. Ab
2008 wird diese Pauschale für alle von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft neu bewilligten Forschungsvorhaben und auch Einzelanträge zur Verfügung gestellt.
Das haben wir uns gemeinsam vorgenommen und das
werden wir auch umsetzen.
Ich habe den Ländern angeboten, dass bis zum Jahre
2010 die Programmkostenpauschale zu 100 Prozent vom
Bund getragen wird, weil Forschung eine Schwerpunktaufgabe des Bundes ist und weil wir wissen, dass in den
Länderhaushalten in dieser Frage noch keine Vorsorge
getroffen werden konnte. Wir sollten es als gemeinsames
Projekt ansehen, für die Jahre nach 2010 eine Regelung
im Sinne der gemeinschaftlichen Finanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu finden.
Auch die Zahlen hinsichtlich der Kapazitäten liegen
auf dem Tisch. Bis zum Jahre 2010 wird es 90 000 Studienanfänger mehr geben. Daran wird auch in der Hochschulrektorenkonferenz nicht gezweifelt. Im Zeitraum
von 2011 bis 2013 wird es jährlich 40 000 zusätzliche
Studienanfänger geben. Der Höhepunkt der Entwicklung
wird bei ungefähr 2,5 Millionen Studierenden sein. Bis
zum Jahre 2020 wird diese Zahl auf etwa 2 Millionen
Studierende abnehmen.
Auf diesen Anstieg und auf eine Verstetigung dieser
Entwicklung nach einem gewissen Rückgang der Studierendenzahlen müssen wir uns vorbereiten. Für den Zeitraum bis zum Jahr 2010 haben wir konkrete Maßnahmen
getroffen. Der Hochschulpakt wird von den Regierungschefs von Bund und Ländern im Dezember beraten und
verabschiedet werden. Darin wird die gemeinsame Verantwortung bis zum Jahre 2020 festgeschrieben.
Der Hochschulfinanzstatistik des Bundes kann man
die durchschnittlichen Kosten für einen Studienplatz entnehmen. Alle Faktoren, die eine Rolle spielen können,
haben wir anerkannten Statistiken entnommen. Es ist in
diesem Zusammenhang doch keine Frage - auf dieser
Schiene sollten Sie sich erst gar nicht bewegen -, dass
ein Unterschied zwischen den Kosten, die durch zusätzliche Plätze für Studienanfänger verursacht werden, und
den Mitteln, die das System Hochschule in den nächsten
zehn bis 15 Jahren insgesamt braucht, besteht. Wir sollten uns mit Verlaub darin einig sein: Wir sind nicht dabei, die Universitäten der 16 Bundesländer zu übernehmen. Das kommt überhaupt nicht infrage.
({8})
Das wäre übrigens auch vor der Föderalismusreform
nicht möglich gewesen.
Deshalb sage ich ganz klar: Die Verantwortung für
die Grundkosten, für die Hochschulmedizin, für den
Neubau und für die Sanierung liegt bei den 16 Ländern.
({9})
In der Summe, die die Hochschulrektorenkonferenz zur
Verfügung stellt, ist die Summe für die notwendigen Investitionen enthalten. Die entsprechenden Zahlen sind
den Ländern bekannt. Das ist aber nicht Thema des
Hochschulpaktes. Wir lösen ein zentrales Problem mit
Blick auf unsere Verantwortung für die Studierenden
und für die Stärkung der Forschung an den Hochschulen.
Darauf werden wir uns konzentrieren. Es gibt nach meiner festen Überzeugung überhaupt keinen Grund, davon
auszugehen, dass dieser Hochschulpakt scheitern wird.
Vielen Dank.
({10})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe,
möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass auf der
Tribüne Kolleginnen und Kollegen aus den zentralasiatischen Republiken Mongolei und Afghanistan Platz
genommen haben, die eine Konferenz besuchen, die
vom Marshall Center, vom Bundesministerium der Verteidigung und von der Deutsch-Zentralasiatischen Parlamentariergruppe in Berlin veranstaltet wird.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns über Ihren Besuch in Berlin und wünschen Ihnen bei Ihrem
Aufenthalt guten Erfolg.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Kai
Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schavan, Sie haben mich überhaupt nicht überzeugt.
({0})
Sie haben - so könnte man Ihre Rede überschreiben das Problem beschrieben, aber wieder einmal keine Lösung vorgelegt.
({1})
Das Scheitern des Hochschulpaktes 2020 ist keine
Spekulation, sondern drohende Realität. Warum sollte
Sachsen seine Studienplätze erhalten, wenn dort künftig
weniger junge Menschen das Gymnasium verlassen?
({2})
Warum sollte Nordrhein-Westfalen im Hochschulpakt
mehrere Millionen für neue Studienplätze in BadenWürttemberg in die Hand nehmen, wo dort doch erst vor
wenigen Jahren Mittel in Millionenhöhe zugunsten der
Forschung gestrichen wurden? Warum sollte Hamburg
einem Pakt zustimmen, mit dem zwar neue Studienplätze in Niedersachsen finanziert werden, nicht aber bestehende Studienplätze in Hamburg, zum Beispiel für
niedersächsische Abiturienten?
Diese weiterhin offenen Fragen zeigen: Am Verhandlungstisch von Bund und Ländern sind höchst unterschiedliche Ausgangslagen und Interessen vertreten.
Frau Schavan, wenn Sie es nicht schaffen, die unterschiedlichen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen, dann scheitert dieser Hochschulpakt.
({3})
Das würde bedeuten, dass in den nächsten 15 Jahren
zusätzlich 700 000 junge Menschen vergeblich auf einen
Platz im Hörsaal oder Seminarraum warten. Dann würde
Studienberechtigten der Zugang zur Hochschule systematisch verbaut; sie stünden weiterhin vor verschlossenen Hörsaaltüren. Dann würden Abiturienten ohne
Studienplatz auf den ohnehin stark angespannten Ausbildungsmarkt drängen und damit die Chancen von Hauptund Realschülern auf einen Ausbildungsplatz weiter verschlechtern.
({4})
Dann würden am Arbeitsmarkt Zehntausende hoch qualifizierter Arbeitskräfte fehlen. Wir würden dann wahrscheinlich erneut über eine verstärkte Abwanderung der
unter 35-Jährigen diskutieren.
({5})
Dann hätte Ihre Politik eklatant versagt, Frau Schavan.
({6})
Was ist zu tun? Es reicht nicht, Geld auf den Tisch zu
werfen und dann die Hände in den Schoß zu legen, wie
Sie, Frau Schavan, es vor wenigen Tagen gemacht haben. Gerade weil jedes Land eigene Ziele vor Augen hat,
muss der Bund gesamtstaatliche Interessen im Blick haben. Eine Einigung ist nur möglich, wenn der Bund straKai Gehring
tegische Leitlinien, Ziele und Instrumente entwickelt. Er
muss mit einem klaren Konzept aktiv und moderierend
in die Verhandlungen eingreifen. Davon ist im Moment
nichts zu spüren. Das Problem ist, dass Sie nach wie vor
kein überzeugendes Konzept für einen Hochschulpakt
mit den Ländern haben. Das hat Ihr heutiger Beitrag erneut unter Beweis gestellt.
Frau Schavan, Sie haben mehr Zeit eingefordert. Ich
frage mich, wie es sein kann, dass Sie als Bundesministerin monatelang jede Verantwortung für den Studienplatzausbau abgestritten haben.
({7})
Der Hochschulpakt 2020 muss ein klares und vorrangiges Ziel haben: Er muss allen Studienberechtigten, die
in den kommenden Jahren zusätzlich an den Hochschulen starten wollen, die Tür zu Hörsaal, Seminarraum und
Labor öffnen und ihnen gute Studienbedingungen bieten.
Konkret heißt das - jetzt kommen wir noch einmal zu
den konzeptionellen Vorschlägen der Grünen, Frau
Aigner -: Erstens. Bund und Länder müssen deutlich
mehr Geld in die Hochschulen investieren.
({8})
Nach den Zahlen des Wissenschaftsrates sind in den
kommenden Jahren - das ist die untere Grenze 400 Millionen Euro zusätzlich erforderlich.
Zweitens. Der Ausbau an Studienplätzen muss sofort
und nicht erst im Wintersemester 2007/08 beginnen;
denn der Run auf die Unis hat längst begonnen.
({9})
Drittens. Frau Schavan, Ihr Angebot, das bis 2010
gilt, reicht nicht. Die finanzielle Förderung muss für den
gesamten Prognosezeitraum bis 2020 geklärt und verlässlich vereinbart werden. Wir brauchen klare Zusagen;
denn wir wissen, dass die meisten Mittel in den
Jahren 2012, 2013 und 2014 erforderlich sind. Daher ist
eine Lösung über 2010 hinaus dringend erforderlich.
({10})
Viertens. Im Hochschulpakt müssen bei Personalfragen und in der Lehre innovative Lösungen verankert
werden. Wir brauchen eine vorübergehende Doppelbesetzung von Professorenstellen, eine Einführung des
Lecturers und eine Weiterführung der Juniorprofessur.
Wir müssen uns auch darum kümmern, dass die Chancen
von Frauen in der Wissenschaft verbessert werden.
Fünftens. Die Mittel für die Hochschulfinanzierung
müssen nach einem intelligenten Schlüssel verteilt werden. Manche Länder brauchen Anreize, ihre vorhandenen Studienplätze zu erhalten, andere brauchen Anreize,
zusätzliche Studienplätze zu schaffen, und wieder andere
brauchen Anreize, die Kapazitäten anderer Länder mitzufinanzieren.
All diese Forderungen sind bislang überhaupt nicht
erfüllt. Daher appelliere ich an die Weitsicht der Verantwortlichen in den Ländern: Versperren Sie sich dieser
gemeinsamen Lösung nicht und sorgen Sie für einen zügigen und gerechten Interessenausgleich!
Frau Schavan, Ihr bisheriges Angebot an die Länder
ist allenfalls ein Hochschulpakt light. Er ist unterfinanziert und zögerlich. Damit sind Sie viel zu kurz gesprungen.
({11})
Ein erneutes Scheitern der Verhandlungen - dazu ist es
schon am 19. Oktober dieses Jahres gekommen - wäre
ein hochschulpolitisches Armutszeugnis der Wissenschaftsminister von Bund und Ländern. Vor allen Dingen wäre es eine Katastrophe für die junge Generation in
diesem Land.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Oppermann
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts des Streits darüber, wer wann wo welche vorhandenen Studienplätze erhalten bzw. welche neuen
Studienplätze finanzieren soll, will ich an den Ausgangspunkt dieser Debatte erinnern: an die Frage, wofür wir
den Hochschulpakt eigentlich brauchen. Wie die Ministerin bekräftigt hat, werden allein in den nächsten vier
Jahren 90 000 bildungshungrige und studierbereite junge
Menschen zusätzlich an unsere Hochschulen kommen,
denen wir Studienplätze zur Verfügung stellen müssen.
Das ist ein Glücksfall für unser Land.
({0})
Ich wiederhole es: Das ist kein Problem und keine Belastung, sondern ein bildungs- und wirtschaftspolitischer
Glücksfall. Denn diese jungen Menschen kommen just
in dem Moment an unsere Universitäten, in dem wir aufgrund verstärkter Abgänge durch altersbedingte Übergänge in den Ruhestand einen enorm wachsenden Bedarf an Fachkräften zu verzeichnen haben. Diese
Situation müssen wir nutzen.
Den jungen Menschen, die an den Universitäten ein
Studium beginnen wollen, haben wir vor einiger Zeit gesagt, dass sie ihr Abitur in zwölf statt in 13 Jahren machen sollen, weil sie dadurch ein wertvolles Jahr gewinnen. Wenn wir ihnen nun sagen müssten, dass sie dieses
gewonnene Jahr damit verbringen müssen, auf einen
Studienplatz zu warten, weil wir nicht genügend Studienplätze bereitstellen können, wäre das die größte bildungspolitische Katastrophe, die ich mir im Moment
vorstellen kann.
({1})
Selbstverständlich ist diese Katastrophe abwendbar,
Frau Ministerin, und ich will auch gar nicht beschwören,
dass uns dieses Vorhaben misslingen könnte. Es darf uns
nicht misslingen.
Die Schaffung von Studienplätzen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Allerdings obliegt sie den Ländern.
Das wissen Sie, Herr Frankenberg, nur zu gut. Ihren Anspruch auf diese Zuständigkeit haben Sie im Rahmen der
Diskussionen über die Föderalismusreform kraftvoll geltend gemacht. Wenn ich das Verhalten der Verantwortlichen in den Ländern insgesamt betrachte - Anwesende
sind natürlich ausgenommen -, dann muss ich sagen:
Würden die Länder diese Zuständigkeit jetzt nur halb so
kraftvoll ausfüllen, wie sie sie damals eingefordert haben, bräuchten wir zu diesem Thema keine Aktuelle
Stunde im Bundestag.
({2})
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,
wie unschätzbar wertvoll es war, dass wir unsere Verfassung in letzter Minute um die Gemeinschaftsaufgabe
„Wissenschaftsförderung“ erweitert haben.
Der Hochschulpakt hat das Ziel, neue Kapazitäten zu
schaffen. Darüber hinaus wollen wir die universitäre
Forschung durch Einführung einer Programmkostenpauschale und damit den Einstieg in die Vollkostenfinanzierung stärken. Neue Studienplatzkapazitäten sollten wir
durch die Förderung der Position des Lecturers schaffen.
Dabei handelt es sich um Dozenten, deren Lehrverpflichtungen einen ungefähr doppelt so großen Umfang
haben, wie es bei Universitätsprofessoren der Fall ist.
Dadurch können wir erhebliche zusätzliche Kapazitäten
schaffen und vielleicht sogar die Betreuungsrelation an
den deutschen Universitäten mittel- und langfristig verbessern. Das ist im internationalen Vergleich dringend
notwendig.
Ich rate dazu, neue Studienplätze vorrangig an Fachhochschulen zu schaffen. Denn eine Verbesserung des
sozialen Zugangs zu den Hochschulen erzielt man am
schnellsten durch eine Ausweitung der vielen zulassungsbeschränkten Fachhochschulstudiengänge. An den
Fachhochschulen kann schnell, kostengünstig und praxisnah ausgebildet werden.
({3})
Der Wissenschaftsrat erwartet, dass 40 Prozent aller Studienplätze an Fachhochschulen angeboten werden - bislang sind es erst 30 Prozent.
({4})
Ich habe zwei Bitten. Meine erste Bitte geht an die
Länder, die jetzt schon überdurchschnittlich viel ausbilden: Begreifen Sie Studierende bitte nicht nur als finanzielle Belastung!
({5})
Studierende sind eine Chance, eine Investition in Köpfe.
Die Ministerpräsidenten müssten an ihre Finanzminister
und an ihre Wissenschaftsminister eigentlich die Devise
ausgeben: Holt so viele Studenten wie möglich in unser
Land!
({6})
Die Studierenden von heute sind die Fachkräfte von
morgen. Die Studierenden von heute beleben die Region, in der sie studieren. Es besteht die Chance, dass sie
bleiben. Sie sind potenzielle Unternehmensgründer. Sie
schaffen auch unmittelbar Arbeitsplätze. Ich glaube, wir
brauchen eine andere Wertschätzung der Studierenden.
({7})
Meine zweite Bitte richtet sich an die Ministerin: Frau
Schavan, bitte nutzen Sie Ihren ganzen Einfluss bei den
Verhandlungen bis zum 20. November, damit wir nicht
die absurde Situation bekommen, dass im Osten oder in
den Stadtstaaten Studienplätze abgebaut werden und mit
den Subventionen, der Unterstützung des Bundes im
Westen zusätzliche Studienplätze geschaffen werden.
Das wäre absurd, im Grunde genommen wäre das ein
Fall für den Bundesrechnungshof. Dazu darf es nicht
kommen.
({8})
Wenn der Hochschulpakt gelingt, kann er enorme
Schubkraft für Wirtschaft, für Wachstum und Innovation
erzeugen. Daran muss gearbeitet werden. Die große Koalition tut das mit aller Kraft.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg,
Dr. Peter Frankenberg.
({0})
Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorgesehene Hochschulpakt zwischen Bund und Ländern ist
in seinen beiden Teilen sinnvoll und notwendig. Er dokumentiert, dass der notwendige Ausbau der Zahl der
Plätze für Studienanfänger nicht zulasten der Qualität
der Hochschulen, nicht zulasten der Qualität von Forschung und Lehre gehen darf und soll.
Die Overheadfinanzierung von DFG-Drittmitteln bedeutet, dass Forschungsprojekte nicht mehr im gegenwärtigen Ausmaße aus den Grundhaushalten der Hochschulen quersubventioniert werden müssen. Das heißt,
Dr. Peter Frankenberg, Minister ({2})
dass aus den Grundhaushalten letztlich mehr Mittel für
die Lehre verfügbar bleiben, dass die Drittmittelakquise
attraktiver wird, dass Forschung und Entwicklung verstärkt werden und damit auch die Lehrqualität gesteigert
wird, wodurch die Qualität der Hochschulen in der
Breite gestärkt wird.
({3})
Diese Overheadfinanzierung ist eine notwendige Ergänzung zur Exzellenzinitiative.
Die absolut notwendige Schaffung von in der Summe
90 000 Plätzen für Studienanfänger bis 2010 stellt die
größte Herausforderung an das deutsche Hochschulsystem seit den 70er-Jahren dar. Diese Herausforderung
darf nicht einfach dadurch gelöst werden, dass die Hochschulen geöffnet werden wie damals, was zulasten der
Qualität unserer Hochschulen, gerade unserer Universitäten gegangen ist. Deshalb sollte man nicht mehr Studienplätzen das Wort reden, ohne gleichzeitig Erhalt und
Steigerung der Qualität von Forschung und Lehre zu betonen.
({4})
Prioritär sind - übrigens nicht erst seit der Föderalismusreform - die Länder in der Pflicht. Das wissen wir.
Wir müssen planen und wir müssen mindestens in dem
Umfang, der notwendig ist, die Bundesmittel zu komplementieren, eigene Mittel für zusätzliche Studienplätze
bereitstellen.
({5})
Der Erfolg der Föderalismusreform wird sicherlich auch
an unserer Fähigkeit und Bereitschaft, dies zu tun, gemessen werden.
Das Wachstum der Studierendenzahl ist übrigens
keine theoretische Größe, es ist keine Prognose, sondern
die jungen Menschen sind geboren und befinden sich bereits in den Schulen. Man kann dieses Problem nicht statistisch wegrechnen.
Dass es derzeit noch nicht im entsprechenden Maße
mehr Studierende gibt, liegt einfach daran, dass die
meisten Hochschulen Numeri clausi verfügt haben. Das
heißt, es warten jetzt schon Tausende Studierwillige vor
den Toren unserer Hochschulen. Wir können ihnen nur
dann in verantwortlicher Weise Studienplätze zuweisen,
wenn wir zusätzliche Studienplätze schaffen.
Es ist eine Binsenweisheit, aber dennoch zu wiederholen: Wir brauchen mehr akademisch Ausgebildete und
ein Hochlohnland kann in dem globalen Wettbewerb nur
durch die optimale und beste Qualifikation der eigenen
Köpfe erfolgreich sein. Herr Oppermann, hier stimme
ich mit Ihnen überein: Dies ist kein Studentenberg und
kein Problem, sondern eine Chance für unser Land. Es
ist vielleicht die einzige Chance, die Deutschland hat,
um im globalen Wirtschafts- und Wissenswettbewerb zu
bestehen.
({6})
Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft darf ich
vielleicht vorsichtig betonen, dass unsere Zukunft eben
nicht in unseren Füßen, sondern in unseren Köpfen liegt.
({7})
- Ich freue mich, dass auch Sportler applaudieren, Herr
Gienger.
({8})
- Mens sana in corpore sano.
Ziel muss es daher sein, 90 000 zusätzliche Plätze für
Studienanfänger bis 2010 zu schaffen. Im Westen
Deutschlands müssen wirklich neue Studienplätze geschaffen werden. Gleichzeitig ist allerdings bedeutend,
dass die Studienplätze im Osten Deutschlands auch nach
2010 erhalten werden, wenn dort die Zahlen der Studienanfänger deutlich zurückgehen. Man muss sagen: Dieser
Anstieg der Zahlen der Studienberechtigten - einerseits
durch die Demografie, andererseits durch die doppelten
Abiturjahrgänge bedingt - bewirkt in allen westdeutschen Bundesländern eine ähnlich erhöhte Studienplatznachfrage. Für jedes Land im Westen stellt sich deshalb
die gleiche Herausforderung. Der Rückgang der Zahlen
im Osten ab 2010 wird alle Länder im Osten betreffen.
Sachsen ist dabei eine gewisse Ausnahme, weil dort die
Situation günstiger als in den meisten anderen Bundesländern des Ostens ist.
Dieser Hochschulpakt kann aber nicht dazu dienen,
alle Ungleichgewichte beim Studienplatzangebot zwischen allen Bundesländern auszugleichen; denn dann
könnten die Mittel nicht vollständig für das eigentliche
Ziel, nämlich die Schaffung neuer und zusätzlicher Studienplätze, eingesetzt werden; sie würden somit nicht
ausreichen. Die Ausgestaltung, das heißt, die Beantwortung der Frage, wie diese neuen Studienplätze geschaffen werden sollen, ist Sache der Länder und autonomer
Hochschulen.
({9})
- Danke, Frau Flach.
({10})
Ich denke, dass wir dafür auch neue Personalkategorien wie Lecturer brauchen. Wir dürfen aber nicht wieder
in den Fehler der 70er-Jahre verfallen, nämlich Karrierewege ohne Aussicht auf weitere Karrieren im Hochschulsystem zu schaffen. Wenn der Lecturer eingeführt
wird, dann muss das tatsächlich im angelsächsischen
System geschehen, nämlich mit der Möglichkeit einer
Personalentwicklung und nicht mit der Möglichkeit einer Sackgasse.
Dr. Peter Frankenberg, Minister ({11})
({12})
Unsere jungen Menschen, die jetzt vor den Türen der
Hochschulen stehen oder stehen werden, werden uns gemeinsam daran messen, ob wir dieser Herausforderung
begegnet sind und ob wir sie bewältigt haben; denn wir
stehen in der Tat vor der Frage, ob wir den jungen Studierfähigen und Studierwilligen Studienplätze anbieten
können oder ob diese in den Lehrstellenmarkt ausweichen und dort Realschüler und Hauptschüler verdrängen.
Daher bitte ich Sie im Sinne dieses Hochschulpaktes,
zu dem Bund und Länder bereit sind, unsere Bundesministerin Dr. Schavan und ihr Konzept zu unterstützen.
({13})
- In dieser Meinung unterscheiden sich die Länderminister von Ihnen; denn wir kennen ein Konzept.
({14})
Ich glaube, dass es sogar im Internet nachlesbar ist.
Außer dem Vorschlag, noch mehr Geld einzusetzen,
habe ich keine wirklichen Alternativvorschläge gehört.
Aber wir können alle kein Geld drucken, zumal wir vor
der wichtigen Herausforderung stehen, der jungen Generation nicht zu viele Schulden zu hinterlassen.
({15})
Wir Länder sind uns ebenso wie der Bund der Verantwortung bewusst. Wir werden gemeinsam die Herausforderungen bewältigen und vor dem 20. November
einen Hochschulpakt vereinbaren, mit dem eine vernünftige Lösung geschaffen wird und 90 000 zusätzliche Studienanfängerplätze bereitgestellt werden können. In einem vernünftigen Mix - darin bin ich durchaus Ihrer
Meinung, Herr Oppermann - muss ein Schwergewicht
bei dem Ausbau der Fachhochschulen liegen. Das ist mit
Blick nicht nur auf die Kosten, sondern auch auf den Arbeitsmarkt vernünftig.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Hagemann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Wort Zukunftsfähigkeit führen wir alle
gerne im Munde. Es ist auch notwendig, die Zukunft zu
sichern. Dazu gehört - darin sind wir uns alle einig -,
dass wir Wissenschaft und Forschung stärker unterstützen.
Es bedeutet eine große Chance für Deutschland - das
wurde schon mehrfach festgestellt -, wenn wir den
Hochschulbereich, aber auch den Forschungsbereich
stärker ausbauen. Dafür müssen wir entsprechend ausbilden und die notwendigen Studienplatzkapazitäten an
den Universitäten - sowohl in der Forschung als auch in
der Lehre - schaffen. Dafür müssen wiederum mehr öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wie Frau
Ministerin dargelegt hat, ist das im Haushalt 2007, den
wir zurzeit beraten, auch der Fall.
Wir wollen und müssen auf Bundesebene mehr dafür
tun und wir dürfen das aus verfassungsrechtlichen Gründen jetzt auch. Dafür sei Jörg Tauss und denen, die ihn
unterstützt haben, an dieser Stelle herzlich gedankt.
({0})
Er - ich spreche ihn als Symbolfigur an ({1})
hat es bei der Föderalismusreform durchgesetzt, dass uns
das - im Gegensatz zum Schulbereich - im Hochschulbereich möglich ist.
({2})
Nach Art. 91 b des Grundgesetzes handelt es sich
hierbei um eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern. Die Länder müssen diese Aufgabe auch wahrnehmen, Herr Landesminister Frankenberg, statt sich
- wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kürzlich
formuliert hat - nur in „Länderegoismen“ zu verstricken.
Ich bin guter Hoffnung, dass sie das in den nächsten Tagen hinbekommen werden.
({3})
Es ist richtig, dass es noch keine Einigung gibt. Ich
kann auch verstehen, Frau Staatsministerin, dass darum
gekämpft wird, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Während einige Länder die Herausforderungen erkannt und schon in der Vergangenheit entsprechende
Studienplätze geschaffen haben, wie mein Bundesland
Rheinland-Pfalz, Hamburg, Bremen und insbesondere
Berlin - darauf muss ich wohl an dieser Stelle nicht näher eingehen -,
({4})
haben andere Länder - darunter auch Ihr Bundesland,
Herr Minister - Studienplätze abgebaut und erwarten
nun, dass ihnen Bundesmittel zur Verfügung gestellt
werden, um den entstandenen Mangel wieder auszugleichen.
({5})
Herr Tauss hat mir eben eine Statistik gezeigt, aus der
hervorgeht - das hat das Institut der deutschen Wirtschaft berechnet -, dass in dem Fall, dass alle Landeskinder in ihrem Heimatbundesland studieren müssten, in
Bayern und Baden-Württemberg 8 000 Studienplätze
fehlen würden.
({6})
Dagegen hätte das Bundesland Rheinland-Pfalz ein Plus
von knapp 8 000 Plätzen zu verzeichnen. - Insofern gibt
es Handlungsbedarf. Die Länder müssen sich in diesem
Punkt einigen. Ich bin davon überzeugt, dass sie das
auch tun werden.
Ich erinnere daran, dass alleine die Länder BadenWürttemberg und Bayern rund 240 Millionen Euro der
700 Millionen Euro, die für die Forschungsförderung zur
Verfügung gestellt werden, erhalten werden. Insofern
kann man durchaus erwarten, dass entsprechende Studienplatzkapazitäten geschaffen werden.
({7})
Das entspricht der gesamtstaatlichen Verantwortung, die
in Art. 91 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.
Wir als SPD und ich als Haushälter sagen Ja zu dem
Hochschulpakt.
({8})
- Ich rede aber für meine Fraktion, liebe Ilse Aigner,
nicht für die CDU/CSU. - Wir Sozialdemokraten kämpfen für diesen Pakt.
Wir, die Haushälter, haben den Ansatz für das nächste
Jahr erst einmal qualifiziert gesperrt; wir sind noch im
parlamentarischen Verfahren. Das heißt aber nicht, dass
wir den Hochschulpakt blockieren wollen. Im Gegenteil:
Wir wollen eigentlich Druck machen, dass man sich einigt und in Kürze ein Konzept vorlegt, das umgesetzt
werden kann. Dann sind wir schnell bereit, die Mittel im
kommenden Jahr zu entsperren und zur Verfügung zu
stellen, damit entsprechende Maßnahmen eingeleitet
werden; denn es ist höchste Zeit, dass wir hier handeln.
Frau Hirsch, ich möchte das ansprechen, was Sie vorhin erwähnt haben, Stichwort „BAföG“. Wir sollten den
Hochschulpakt nicht noch mit diesem Thema überfrachten; davor möchte ich warnen.
({9})
Aber darin, dass dies eine Baustelle ist, sind wir uns einig, Frau Hirsch. Wir müssen uns in nächster Zeit mit
dem Thema Studienförderung, BAföG, befassen. Da es
in Zukunft mehr Studierende geben wird, ist klar, dass
wir mehr BAföG zur Verfügung stellen müssen.
({10})
Aber wir müssen auch auf die Herausforderungen, die
durch die Nichtanpassungen in den letzten Jahren entstanden sind, reagieren und entsprechende Regelungen
finden. Die Baustelle BAföG ist deswegen für uns von
großer Bedeutung.
({11})
Ich komme zum Ende. Es geht um den Hochschulpakt
2020. Das heißt aber nicht, dass wir bis zum Jahre 2020
Zeit haben, zu diskutieren. Vielmehr sollten wir es als
Herausforderung ansehen, dass Bund und Länder das gemeinsam anpacken, Frau Staatsminister und Herr Minister, und den Hochschulpakt schnell umsetzen. Wir, der
Bund, wollen dies tun. Das findet seinen Ausdruck auch
im Entwurf des Haushaltsplan 2007. Mit einem Plus von
5,6 Prozent bei Forschung und Bildung ist die große
Koalition auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Professorin Monika Grütters
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie
hier Symbolfiguren beschwören, fällt mir ein, dass heute
vor 200 Jahren Napoleon durch das Brandenburger Tor
marschiert ist, die Quadriga geklaut und nach Paris gebracht hat. Wissen Sie, Frau Sager, welches Motto er
hatte? Er hat immer gesagt: Das Wort „unmöglich“ gibt
es nur im Wörterbuch von Narren. Warum nehmen Sie
sich ihn nicht zum Vorbild
({0})
und machen sich seine Devise zu Eigen? Frau Sager, es
mag sein, dass die Verhandlungen über den Hochschulpakt gelegentlich Züge des Unmöglichen tragen, aber
das können Sie schlechterdings nicht unserer Bundesbildungsministerin anlasten; denn sie ist die Einzige, die
gleich zu Beginn ihrer Amtszeit die Verhandlungen aufgenommen hat und beharrlich vorantreibt.
({1})
- Doch, es war eine ihrer ersten Amtshandlungen.
Es macht aber wenig Sinn - das ist an die Adresse der
Damen und Herren der Opposition gerichtet -, ein solches Projekt schon auf halbem Weg schlecht zu reden.
Das mag ein Oppositionsritual sein, nutzt aber niemandem.
({2})
Schließlich liegt eine höhere Studierendenquote - ich
nehme an, dass Sie dem zustimmen - im gesamtstaatlichen Interesse. Daher ist es gut, dass Bund und Länder
endlich versuchen, eine Zusammenarbeit zu vereinbaren.
Beide Seiten werden in die Pflicht genommen. Frau
Sager, der Bund hat mit 565 Millionen Euro Finanzierungshilfe für Studienplätze und 700 Millionen Euro
Programmmittel als Einziger bereits Vorleistungen erbracht. Dies führt letzten Endes zu einer Entlastung der
Hochschulhaushalte im Bereich der Lehre.
({3})
Herr Gehring, Sie haben die Chancen der erwarteten
inhaltlichen Ausformulierung angesprochen und als
Beispiel die Frauenförderung genannt. Ich finde, die
wachsende Internationalisierung, die Einführung des
Lecturers und mehr Mobilität zwischen den Ländern
sind genauso wichtig. Angesichts der unterschiedlichen
Entwicklungen müssen die Bundesländer endlich etwas
gemeinsam tun; denn etwas mehr als ein Drittel der zusätzlich Studierenden aus dem Westen Deutschlands
könnte im Osten studieren. Ich finde, was Hessen vorgeschlagen hat, ist beispielhaft und Ausdruck der Mitverantwortung des Westens für den Osten. 25 Prozent der
Gesamtsumme sollen danach an die ostdeutschen Universitäten überwiesen werden. Baden-Württemberg hat
immerhin bilaterale Vereinbarungen seiner Universitäten
mit einer oder mehreren Universitäten im Osten vorgeschlagen. Das hat es zuvor noch nie gegeben und sicherlich hätten viele das vor noch gar nicht langer Zeit für
unmöglich gehalten. Natürlich ist das alles nicht kostenneutral zu haben; da haben Sie Recht. Aber in diesem
Kontext Kritik an den Verhandlungen zum Hochschulpakt zu üben, finde ich schlichtweg unlauter; denn unterfinanziert sind die Hochschulen schon jetzt. Das ist ein
Versäumnis ausschließlich der Länder.
Hier kann ich mir als Berliner Abgeordnete einen Seitenhieb auf die KMK und auch auf die Karlsruher Richter nicht verkneifen. Die Stadtstaaten haben ein Problem,
weil es in der Natur der Sache liegt, dass sie über ihrem
Landeskindersoll ausbilden. Das tut in finanziell schwierigen Zeiten natürlich auch die Hauptstadt. Die hat noch
einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen. Wir haben in
Berlin nicht nur einen flächendeckenden Numerus Clausus, sondern wir haben in diesem Wintersemester auch
sechs von sieben Studierwilligen wieder nach Hause geschickt. Das ist vor allen Dingen eine Folge der PDSPolitik, der Politik von Herrn Flierl, Frau Hirsch. In den
letzten vier Jahren ist hier ein Drittel aller Studienplätze
abgebaut worden. Da hat es diesen Richterspruch noch
nicht gegeben. Das war eine freiwillige Politik des PDSSenators. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame Anstrengung.
Dass bei dem schrillen Beharrungsvermögen der Länder auf ihrer Zuständigkeit im Rahmen der Föderalismusreform ausgerechnet das zuständige Gremium KMK
diese Steuerungsaufgaben - die werden natürlich jetzt
doppelt groß, weil genau da der Hochschulpakt verabredet wird - bewältigen würde, haben wir alle nicht so
richtig glauben können. Jetzt wird das Misstrauen dummerweise doppelt bedient. Haben Sie in der Anhörung
nicht gesagt, dass Sie wenigstens ein Schrittchen von Ihrem Einstimmigkeitsprinzip abrücken wollen? Bisher
leider nichts davon. Schon Kohl hatte damals die KMK
als letzten Hort der Reaktion bezeichnet. Herr Gehring,
Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht ausgerechnet diesen haltlosen Länderegoismen, wie es in der „FAZ“ hieß,
mit Ihren etwas polemischen Fragen das Wort reden. Das
ist ein Appell an uns alle, weil wir aus verschiedenen
Ländern und Wahlkreisen kommen.
Frau Sager, leider sind die Grünen in den Ländern
nicht in Regierungsverantwortung.
({4})
- Die Frage ist vielleicht berechtigt. - Wenn sie das wären, dann könnten Sie immerhin Ihre Kritik aus dem exekutiven Off in eine konstruktive Politik verwandeln. In
der Gesamtverantwortung für ein Gelingen des Hochschulpaktes stehen auch Sie. Wie sagte Napoleon doch
so schön? Das Wort „unmöglich“ gibt es nur im Wörterbuch der Narren. Ich finde, wir dürfen keine Narren sein,
auch Sie nicht. Helfen Sie mit, wahr zu machen, was
möglich ist. Das sind wir, so finde ich, unseren Studierenden und den Unis schuldig. Übrigens, nach der Niederlage Napoleons in Waterloo kam die Quadriga 1814
wieder nach Berlin zurück und da steht sie auch noch
heute.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dieter Grasedieck von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Hochschulpakt wird ganz sicher nicht
scheitern, weil wir wirklich ein tragfähiges Konzept haben. Wir haben zwei Säulen: Auf der einen Seite wird
die Finanzierung vom Bund durchgeführt, auf der anderen Seite vom Land. Wir vom Bund haben unsere Aufgabe erfüllt. Unsere große Koalition sieht die gesamtstaatliche Verantwortung. Wir fördern insgesamt bis zum
Jahre 2013 210 000 Studienplätze. Das ist ein guter Ansatz, eine gute Hilfe für den gesamten Hochschulbereich.
Wir haben natürlich das Gesamtproblem erkannt. Es
gibt in Deutschland zu wenig Studierende. Die OECDStudie ist angesprochen worden. Demnach liegt die Studienanfängerquote eines Jahrgangs in Deutschland bei
37 Prozent, während sie im Durchschnitt der OECDStaaten 53 Prozent beträgt. Da müssen wir helfen, obwohl wir natürlich auch unsere gute duale Ausbildung
bei der gesamten Statistik berücksichtigen müssen; das
ist keine Frage.
({0})
Wir benötigen aber mehr Studierende. Das ist eine
Chance für Deutschland.
Mit dem finanziellen Angebot sollten Zielvorgaben
des Bundes verbunden sein. Da sind bestimmte Dinge
angesprochen worden. So sollen Fachhochschulen stärker gefördert werden, der Anteil der Frauen am Hochschulpersonal soll erhöht werden und es ist wichtig, die
Ingenieurschulen und die Fakultäten, die Ingenieure ausbilden, stärker zu fördern. Dasselbe gilt für die naturwissenschaftlichen Studiengänge. Auch das ist ein
wichtiges Anliegen des Bundes; darauf hat die Bundesregierung hingewiesen.
Wir sehen die Gefahr eines Verdrängungswettbewerbes - das muss erwähnt werden -, wenn wir nicht und
nicht schnell genug reagieren. Es gibt schon heute Probleme, wenn gute Haupt- und Realschüler einen Beruf
im IT-Bereich oder den Beruf des Industriekaufmanns
erlernen wollen. Im letzten Jahr ist die Zahl der Abiturienten, die einen Ausbildungsplatz suchen, um 9 Prozent gestiegen. Das Nachsehen haben die Haupt- und
Realschüler. Diese Situation müssen wir berücksichtigen. Sie wird unter anderem dadurch verschärft, dass einige Länder Studiengebühren eingeführt haben.
({1})
Das ist verantwortungslos; die Zahlen sprechen ganz
deutlich dafür. Heute Morgen sagte im Übrigen ein Student im Frühstücksfernsehen, Studiengebühren seien
studienfeindlich. Der Druck auf den Ausbildungsmarkt
erhöht sich dadurch natürlich.
({2})
Wirklich interessant - die FDP sollte zuhören; da sind
Sie betroffen - ist die Entwicklung im Land NordrheinWestfalen.
({3})
Es gibt im Land Nordrhein-Westfalen insgesamt eine
Reduzierung der Studentenzahlen um 5,4 Prozent. Aber
an einer gebührenfreien Hochschule wie der Universität
in Düsseldorf ist ein Anstieg um 33 Prozent zu verzeichnen.
({4})
Selbst der zuständige FDP-Minister hat einen Zusammenhang zwischen Studiengebühren auf der einen Seite
und Studienanfängerzahlen auf der anderen Seite gesehen.
Wir brauchen eine verbesserte Studiensituation und
mehr Studienplätze. Dafür hat die Bundesregierung jetzt
eine wichtige Basis geschaffen. Die Länder müssen das
Verteilungsproblem im nächsten Monat - es ist nur noch
ein Monat Zeit - lösen; denn auch die Länder tragen hier
eine gesamtstaatliche Verantwortung. Wir werden die
Studierenden nicht im Regen stehen lassen. Der Ball
liegt im Bereich der Länder.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut
und richtig, wenn sich der Deutsche Bundestag mit einem so wichtigen Thema wie dem des Hochschulpaktes
beschäftigt. Wir leben in einem Zeitalter der Wissensgesellschaft. Die wichtigste Ressource, die wir in unserem
Land haben, sind die Menschen, ist die Intelligenz. Dass
die Zahl der Studierenden steigt, ist eine gewaltige
Chance für dieses Land und eine gute Nachricht. Wir
sollten nicht wie die Opposition leichtsinnig von einem
Problem reden,
({0})
sondern uns mit Freude an die Arbeit machen und diese
Aufgabe angehen. Denn dies ist eine gute Nachricht.
({1})
Auch wenn Sie, Frau Sager, in Hamburg nicht mehr
gewollt sind
({2})
und es in Deutschland keine Regierung gibt, an der die
Grünen beteiligt sind, werden wir nicht dafür sorgen,
dass die Hochschulpolitik Bundespolitik wird. Denn es
ist richtig, dass die Länder in diesem Bereich die Verantwortung tragen.
Es ist richtig: Es gibt Länder, in denen die Verhältnisse an den Hochschulen nicht besonders gut sind. Es
gibt aber auch Länder wie den Freistaat Sachsen, in denen die Bedingungen ganz hervorragend sind. Das hängt
ganz entscheidend damit zusammen, wo wer Prioritäten
setzt.
({3})
Schauen wir uns einmal Berlin an, wo es leichtgewichtige Bürgermeister gibt,
({4})
die davon sprechen, dass diese Stadt sexy ist. Dazu muss
ich sagen: Eine Finanzpolitik, die diese Stadt an die
Wand fährt,
({5})
die es nicht mehr zulässt, Prioritäten für Hochschulen
und für die Zukunft zu setzen, ist nicht sexy, sondern
asozial.
({6})
Wer in die Zukunft investieren will, muss in der Gegenwart - das ist die zentrale Aufgabe - die Weichen
richtig stellen. In vielen Ländern ist dies nicht gemacht
worden; die Beispiele lassen sich aneinander reihen.
Dort, wo die CDU/CSU Verantwortung getragen hat,
sind die Weichen - das kann man in aller Regel sagen richtig gestellt worden. Zumindest sprechen die Beispiele eine ganz klare Sprache.
({7})
Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung, um
90 000 zusätzliche Studienplätze zu schaffen. Wir müssen und wir werden jedem Jugendlichen, der das Zeug
zu einem Studium hat, einen qualitativ hochwertigen
Studienplatz in diesem Land garantieren.
({8})
Deutschland wird jedem Talent eine Chance geben. Wir
brauchen jeden Einzelnen und wir brauchen jede Einzelne. Das ist das Signal, das Bundesforschungsministerin Schavan mit ihrer Zusage aussendet. 1,27 Milliarden
Euro - eine gewaltige Summe - stellt der Bund für einen
Hochschulpakt bereit.
Es ist richtig, dass mit der Forschungsprämie die Forschung an den Hochschulen gefördert wird; denn eine
exzellente Hochschule kann nur durch gute Forschungsarbeit existieren. Das Humboldtsche Prinzip, eine exzellente Lehre durch eine gute Forschung zu gewährleisten,
muss auch in Zukunft Bestand haben. Zumindest ist das
die Vorstellung, die diese Koalition von Hochschulpolitik hat.
({9})
Ich finde verantwortungslos, wie die Opposition versucht, auf eine schnelle Lösung zu drängen.
({10})
Ich bin ganz anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen
die Zeit bis zur Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember nutzen, um intensiv zu verhandeln, damit eine
Lösung für den Hochschulpakt dabei herauskommt, die
die verschiedenen Situationen in unserem Land widerspiegelt. Es gibt Länder, die Studienplätze aufbauen
müssen, weil die Zahl der Abiturienten steigt, und es
gibt Länder wie den Freistaat Sachsen, die Überkapazitäten haben - die man erhalten möchte -, weil es nicht
mehr so viele Bewerber gibt.
Es ist natürlich vollkommen falsch, wenn man sagt,
das Einstimmigkeitsprinzip sei ein Problem. Das Einstimmigkeitsprinzip ermöglicht, dass wir tatsächlich auf
diese unterschiedlichen Situationen eingehen. Deswegen
ist es richtig, dass wir dieses Prinzip im Rahmen der Föderalismusreform in das Grundgesetz geschrieben haben.
({11})
Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zeigt ja, wie
unterschiedlich Politik gemacht wird. Dort werden derzeit vier Professuren für Maschinenbau an der Universität Rostock abgeschafft, obwohl dieses Land wirklich
Probleme hat und in die Zukunft sehen müsste. Es gibt
fünf Länder, die Beschlüsse gefasst haben, Studienplätze
abzubauen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage,
dass man sich die Unterschiede in den Ländern ansehen
muss. Ich glaube, darauf müssen wir an dieser Stelle hinweisen.
Die Regierung und die Bundesländer können sich das
Leben nicht so leicht machen wie die Opposition. Sie
sind aber von der Mehrheit der Bürger in unserem Land
gewählt worden und tragen jetzt die Verantwortung. Darin unterscheiden sie sich von der Opposition hier im
Bundestag.
Vielen Dank.
({12})
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich das Wort dem Kollegen Jörg Tauss von der SPDFraktion.
({0})
Ich habe doch heute noch gar nichts gesagt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich sehr - erlauben Sie mir bitte, das
zu sagen -, dass die neue Wissenschaftsministerin des
Freistaates Sachsen heute hier ist und auch schon gesprochen hat, kurz nach Übernahme ihres Amtes.
({1})
Wir wünschen uns eine gute Zusammenarbeit, Frau
Staatsministerin. Wir haben Sie als streitbare Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft an
anderer Stelle kennen gelernt und wir hoffen, in Ihnen
auf der föderalen Seite eine streitbare Ministerin für die
gemeinsamen Interessen des Bundes und der Länder für
Bildung, Wissenschaft und Forschung zu finden. Darauf
freuen wir uns. - Das Lob des Generalsekretärs der sächsischen CDU war an dieser Stelle berechtigt, Herr
Kretschmer.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hatten
gestern eine sehr interessante Diskussion in unserem
Ausschuss, bei der die Generalsekretäre der Wissenschaftsorganisationen und die Hochschulrektorenkonferenz vertreten waren. Wir haben über die Exzellenzinitiative gesprochen. Es wurde berichtet, mit welcher
Verwunderung der eine oder andere Gutachter, der aus
dem Ausland zu uns gekommen ist, um im Rahmen der
Exzellenzinitiative festzulegen, wer zu der Spitze der
deutschen Universitäten gehört, festgestellt hat, welche
hohe Qualität an den Universitäten - trotz der Probleme,
die wir dort haben - vorgefunden wurde. Die Gutachter
haben die Breite, die in Deutschland existiert, ausdrücklich gelobt und gewürdigt. Ich denke, allein dieser Vorgang sollte Schluss machen mit dem, was wir in vielen
Talkshows - nicht nur sonntagabends bei Frau
Christiansen - und bei anderen Miesmachern erleben,
mit der Übelrederei des Hochschulstandorts Deutschland. Er hat das nicht verdient. Deutsche Universitäten
und Hochschulen haben Qualität.
({3})
Wir müssen in der Tat aufpassen - Frau Sager, ich
stimme Ihnen an diesem Punkt ausdrücklich zu -, dass
jetzt keine Controllerseelen unterwegs sind und sagen:
Nehmen wir uns doch Bayern und Baden-Württemberg
zum Beispiel und bieten ganz wenig Studienplätze an!
Setzen wir auf Exzellenz! Warum tun wir so viel für die
Studierenden an anderer Stelle? Honoriert werden diejenigen, die in der Spitze von Forschungsuniversitäten
erfolgreich sind. - Wir sollten unseren Blick nicht verengen, sondern deutlich machen - dazu leistet dieser Hochschulpakt einen wichtigen Beitrag -, dass wir beides
brauchen: Universitäten, die im internationalen Vergleich an der Spitze stehen, und eine Breite, auf die wir
auch im internationalen Vergleich, zum Beispiel mit den
USA, stolz sein können. Frau Kollegin, es ist uns gerade
von Berkeley, Kalifornien, und anderswo bestätigt worden, dass unsere Universitäten auch international einen
hervorragenden Ruf haben. Ich glaube, das ist es, was
wir entsprechend voranbringen müssen.
({4})
Der deutschen Wirtschaft, mit Herrn Braun an der
Spitze, sage ich: Die Rederei von den Zigtausenden von
jungen Menschen, die dieses Land verlassen, weil sie zu
viel Steuern zahlen,
({5})
hat mich in dieser Woche etwas geärgert. So eine Albernheit habe ich noch nicht gehört. Ich kenne viele
junge Menschen, die ins Ausland gegangen sind, weil sie
sich den Wind um die Nase wehen lassen wollten, aber
das Ziel hatten, zurückzukommen. Ich kenne aber noch
mehr junge Menschen, die ins Ausland gegangen sind,
weil ihnen die deutsche Wirtschaft nicht genügend Jobs
angeboten hat.
({6})
Man geht mit Hochschulabsolventen in diesem Land
häufig so um, als ob wir genügend hätten: Man beschäftigt sie über Monate in unbezahlten Praktika und Ähnliches. - In diesem Fall würde ich auch, hätte ich ein entsprechendes Angebot, ins Ausland gehen. Wer hier über
diese Situation jammert, sollte bedenken, dass auf denjenigen, der mit dem Zeigefinger auf jemand anderen
zeigt, stets drei Finger zurückzeigen.
({7})
Zurück zum Hochschulpakt. Der Hochschulpakt sieht
vor, dass der Kapazitätsausbau mit mindestens
565 Millionen Euro gefördert wird. Das ist ein stolzes
Ergebnis. Ich bedanke mich bei den Haushältern und
auch beim Finanzminister, der hier mitgemacht hat; darin hat er sich von seinem Vorgänger nicht unterschieden. Wir wollen diese Probleme gemeinsam mit dem Finanzminister angehen.
Lieber Kollege Hagemann, ich bin für das Lob
- Stichwort: Art. 91 b - sehr dankbar. Zu viel gelobt
wird man ja, wenn man in Rente geht. Ich habe das noch
nicht vor. Mit der gemeinsamen Neugestaltung von
Art. 91 b des Grundgesetzes wollen wir aber in der Tat
etwas bewirken. Der Hochschulpakt ist ein erster wichtiger Punkt. Die Ministerin hat hier etwas vorgelegt, worauf diese große Koalition stolz sein kann. Wir wollen es
zum Erfolg führen. Es soll ein gemeinsamer Erfolg dieser großen Koalition und ein Signal an die Hochschulen
und die Wissenschaft sein.
({8})
Dass wir da einige Probleme haben, Frau Staatsministerin Stange, ist unbestritten. Die unterschiedliche Situation in den Ländern ist angesprochen worden. Ich danke
Ihnen für den Hinweis auf Berlin. Einige haben sich über
das Bundesverfassungsgerichtsurteil sogar gefreut. Ich
sage sehr deutlich: Ich habe mich darüber nicht besonders gefreut. Dass das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe sagt, es gebe hier Einsparpotenziale bei Bildung, Wissenschaft und Forschung, halte ich für ein völlig falsches Signal für Deutschland.
({9})
Wenn man nur den Finanzausgleich und die Zahl der
Studierenden betrachtet - auch das ist für Haushälter interessant -, dann hätte Berlin in den letzten Jahren
47 Millionen Euro mehr erhalten müssen, RheinlandPfalz 20 Millionen Euro und NRW 12,6 Millionen Euro
mehr. Baden-Württemberg und Bayern hätten 8,5 Millionen Euro bzw. 8 Millionen Euro weniger erhalten und
wären so belastet worden. Hessen hätte fast 20 Millionen
Euro weniger bekommen, Niedersachsen sogar fast
40 Millionen Euro weniger.
Was in Niedersachsen unter der schwarz-gelben Regierung stattfindet - die Schwarzen sind vielleicht ganz
vernünftig,
({10})
ich weiß es nicht; aber die Gelben haben in diesem
Punkt immer so eine große Klappe -, ist das
Schlimmste, was das deutsche Wissenschaftswesen im
Moment landesweit zur Kenntnis zu nehmen hat. Es ist
schon gut, dass auf Bundesebene Schwarz-Rot regiert.
Kollege Grund, ich sehe Ihre Begeisterung. Auch Sie
sind mehr für Schwarz-Rot als für irgendeine andere
Konstellation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die
Trittbrettfahrer nicht fördern. Ich glaube, das ist das
Schwierigste an diesem Pakt. Arbeitet vernünftig zusammen!
Ich will mit Napoleon schließen, der hier schon bemüht worden ist. Er hat in unserem badischen Landstrich
schon das eine oder andere angerichtet, was mir nicht so
gefallen hat. Ich komme aus Bretten; das ist die
Melanchthonstadt. Melanchthon hat sinngemäß gesagt:
Es ist die vornehmste Pflicht einer Stadt, die Bildung ihrer Bürger zu fördern. Ich sage an dieser Stelle: Es ist
heute die wichtigste Aufgabe der Politik, Wissenschaft,
Bildung und Hochschulen zu fördern, und zwar gemeinsam im Rahmen der Aufgaben, die uns die Föderalismusreform zugeteilt hat.
Vielen Dank.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
7 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April
2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union
- Drucksache 16/2293 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
- Drucksache 16/3155 Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer ({1})
Dr. Hakki Keskin
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3160 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung von Rechtsvorschriften des
Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen
Union
- Drucksache 16/2954 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({4})
- Drucksache 16/3147 Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer ({5})
Dr. Hakki Keskin
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum
Erfolg führen
- Drucksache 16/3090 Ich weise darauf hin, dass wir über den Entwurf des
Vertragsgesetzes später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Axel Schäfer von der SPD-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
ratifizieren heute im Deutschen Bundestag das Vertragsgesetz zum Beitritt von Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union.
({0})
- Das ist ganz sicher. - Deshalb freue ich mich heute
ganz besonders, die Botschafterin von Bulgarien, die
Botschafterin von Rumänien und die Europaministerin
hier auf der Tribüne begrüßen zu dürfen.
({1})
Wir werden diesen Vertrag heute im Deutschen Bundestag in großer Übereinstimmung ratifizieren. Das ist
schon an sich und für uns ein Erfolg. CDU/CSU und
SPD ebenso wie Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben
einen gemeinsamen Antrag vorgelegt. Gestern im Ausschuss haben alle Mitglieder für die entsprechenden Gesetze gestimmt. Das sollten wir hier schon einmal am
Anfang gemeinsam würdigen.
({2})
Es kommt bei dieser Diskussion nicht nur darauf an,
was wir diskutieren, sondern auch, wie wir diskutieren,
nämlich selbstbewusst und freudig, weil dieser Beitritt
ein Erfolg ist. Wir schauen nicht nach unten und sagen
bekümmert: Oh, jetzt müssen wir noch zwei Länder aufnehmen.
Axel Schäfer ({3})
({4})
Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat aus Luxemburg, hat dazu ausgeführt - ich zitiere mit Erlaubnis des
Präsidenten -:
Es ärgert mich, daß wir in den westlichen Gesellschaften keine Freude darüber empfinden, daß
beide Teile Europas zusammengefunden haben.
Früher waren die Raketen aus dem Osten auf uns
gerichtet - das hat angst gemacht. Heute sind die
Hoffnungen der Menschen aus Mittel- und Osteuropa auf uns gerichtet - und das macht uns erstaunlicherweise noch größere Angst als die Raketen.
Ich will deshalb vor allem über die Hoffnungen reden,
ohne bestimmte Ängste zu verschweigen.
({5})
Die Hoffnungen, die wir haben, verbinden sich bereits
mit hoffnungsvollen Erwartungen, die in den letzten
15 Jahren ihren Niederschlag in Europa gefunden haben.
Der erste Punkt ist die Stabilität. Wir haben jetzt vom
Schwarzen Meer bis zum Polarkreis ein Band von Stabilität, von Frieden in Europa, was gleichzeitig auch zur
Stabilisierung der schwierigen Region des westlichen
Balkans führt. Diese Stabilität besteht auch deshalb, weil
sich die Transformationsgesellschaften intern gewandelt
haben. Das war ein schwieriger Prozess, der so manchen
Regierungen nicht nur das Leben schwer gemacht hat,
sondern auch zu ihrem Ende geführt hat. Trotzdem
wurde der Mut aufgebracht. Und das war auch gut so.
Der zweite Punkt ist ein höheres Maß an Sicherheit.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, was der deutsche Innenminister in dieser Woche zu dem gesagt hat, was wir
in diesem Bereich erreicht haben. Es ist besonders wichtig, gerade hier in diesem Hause darauf aufmerksam zu
machen, dass auch deutsche Beamte, zum Beispiel der
Polizei des Bundes oder des BKA, in diesen Ländern
dazu beigetragen haben, dass die Außengrenzen sicherer
werden und dort die entsprechenden Strukturen aufgebaut werden. Das geschah auf Wunsch von Bulgarien
und Rumänien. Das haben wir in Europa mit deutscher
Hilfe mit diesen Ländern gemeinsam erreicht.
({6})
Es ist jetzt natürlich auch schon wirtschaftlich ein Erfolg. Gestern konnten wir alle in der Zeitung lesen: Seit
den EU-Beitritten 2004 ist die Zahl der Arbeitslosen in
den 25 EU-Staaten zurückgegangen. Das wird auch nach
dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien weiterhin der
Fall sein. In der Öffentlichkeit wird das leider überhaupt
nicht kommuniziert. Wir haben in Deutschland in den
letzten fünf Jahren eine Steigerung unseres Exportüberschusses um das Doppelte in Bulgarien und das Dreifache in Rumänien erzielt. Auch das ist etwas, was Arbeitsplätze bei uns im Land sichert.
Wir haben in der Europäischen Union auch ein höheres Maß an Stabilität insgesamt erreicht, wo doch viele
heute eher darüber diskutieren, was noch instabil ist. Es
verwundert mich persönlich ein bisschen, dass angesichts dessen, was wir im wirtschaftlichen Bereich erreicht haben und wovon der Freistaat Bayern am meisten
profitiert, gerade bei Bulgarien und Rumänien, besonders aus Bayern jetzt Forderungen nach Schutzmaßnahmen kommen.
({7})
Ich fände es gut, wir redeten hier gemeinsam auch einmal über den Nutzen, den wir gemeinsam erfahren haben; denn das ist das, was nach vorne weist.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass
manches dabei deshalb nicht so einfach ist, weil es sich
mit Ängsten von Menschen verbindet. Lassen Sie uns
deshalb offen darüber reden!
Es gibt bei uns eine Mehrheit in der Bevölkerung, die
eher skeptisch ist, was die Beitritte anbelangt. Es ist eine
historische Aufgabe. Das klingt sehr groß, aber es ist
auch sehr konkret. Erinnern wir uns daran, vor welch
historischen Aufgaben gerade in der Zeit unserer Nachkriegsdemokratie die Kanzler standen, Konrad Adenauer
bei der Westintegration - da gab es erhebliche Widerstände -, Willy Brandt bei der Ostpolitik - da war das
ebenso -, Helmut Kohl bei der deutschen Einheit und
Gerhard Schröder bei Fragen von Krieg und Frieden!
Nie konnte man sagen, dass das in der Bevölkerung
nicht kontrovers war, aber immer können wir sagen, dass
wir in den entscheidenden Fragen, bei denen es um
Europa und um unser Land in Europa ging, mit diesen
Kanzlern die richtigen Entscheidungen getroffen haben.
Eine solch richtige Entscheidung werden wir auch heute
mit der Zustimmung zu den Beitritten treffen.
({9})
Wenn wir dabei über den Wert dieser Gemeinschaft
reden, dann müssen wir die Idee Europas unseren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber so vermitteln, dass der
Mehrwert auch deutlich wird. Das können wir mit vielen
guten Argumenten, und zwar fraktionsübergreifend in
diesem Hause, leisten.
Was wir jetzt in Europa erreichen, ist mehr als eine
Wiedervereinigung; es ist die Vereinigung des Kontinents in Frieden, die es in seiner Geschichte so noch
nicht gegeben hat. Deshalb sind wir schon miteinander
stolz darauf, dass uns das jetzt gelingt, auch mit diesen
neuen Beitritten.
Axel Schäfer ({10})
({11})
Diejenigen, die jetzt zu uns kommen, Bulgarien und
Rumänien, gehörten schon immer dazu. Es war eine
Selbstverständlichkeit, über Elias Canetti und Paul
Celan zu reden, über Eugène Ionesco oder über Jules
Pascin genauso wie über Celibidache oder Christo, dem
wir alle verdanken, dass dieses Haus auf wundervolle
Weise umhüllt war. Auch das war ein Beitrag von diesen
Ländern für Deutschland.
({12})
Jetzt kehren Bulgarien und Rumänien in dieses
Europa zurück und wir hier im Deutschen Bundestag
heißen sie herzlich willkommen.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der letzten Woche ist
hier in erster Lesung zu Recht sehr viel Kritisches gesagt
worden. Man muss das tun; es ist wichtig, dass man in
solch einer Debatte alle Aspekte beleuchtet. Ich denke,
es ist aber auch wichtig, dass wir uns über die Wirkung
einer solchen Debatte im Klaren sind und sie berücksichtigen. Insofern möchte ich mich hier heute gern auf die
positiven Aspekte konzentrieren. Es hat keinen Sinn, nur
über die negativen Aspekte und Probleme zu reden. Damit würden wir nach innen - in Deutschland - den Eindruck erwecken, dass wir den EU-Beitritt der beiden
Länder eigentlich nicht wollen. In Bulgarien und Rumänien könnte derselbe Eindruck entstehen und man
könnte dort sagen: Die denken nur über die Probleme
nach. Wollen die uns überhaupt?
An dieser Stelle sage ich klar und deutlich: Ja, wir
heißen die Bulgaren und Rumänen herzlich willkommen
in der Europäischen Union.
({0})
Ich möchte das anhand zweier Aspekte erläutern, mit denen die Kommission in ihrem Bericht klar macht - es
stimmt mit meinen persönlichen Erfahrungen überein -,
dass die beiden Länder beitrittsreif sind.
Ein Aspekt ist, dass die Länder stabile Demokratien
sind und sich entsprechend verhalten. Es gibt Koalitionsschwierigkeiten, schwierige Wahlen und all diese Dinge,
die in Demokratien eben passieren und von denen man
in der Zeitung liest. Ich möchte zwei Dinge symbolhaft
anführen. Vor wenigen Wochen haben die europäischen
Liberalen und Demokraten ihren Jahreskongress im ehemaligen Palast des Schlächters Ceausescu abgehalten,
dort, wo jetzt der rumänische Senat und das rumänische
Abgeordnetenhaus ihren Sitz haben. Das hat eine symbolhafte Wirkung, die kaum zu überschätzen ist: In diesem monströsen Gebäude - anders kann man es nicht
nennen -, für das die Rumänen über Jahre geblutet haben, arbeiten Demokraten, demokratische Parteien; eine
demokratisch gewählte Regierung wird von dort aus unterstützt. Es symbolisiert den Wandel, der in Rumänien
gerade stattgefunden hat.
({1})
Ich habe dort junge Abgeordnete getroffen, die überzeugte Demokraten waren, die für die Menschenrechte
in ihrem Land streiten und die sich mit einer ungleich
schwierigeren Ausgangssituation konfrontiert sahen als
wir nach der Wende. Es gab bei der Reform des Justizwesens in Rumänien und Bulgarien keine Richter und
Polizisten aus Nordrhein-Westfalen oder Bayern, die
man heranziehen konnte, die eine rechtsstaatliche Ausbildung hatten und an die Gerichte in den neuen Bundesländern gehen konnten. Es war und ist ein ungleich
schwierigerer Prozess, der dort stattfand bzw. stattfindet.
Bei allen Schwierigkeiten, die es gibt, müssen wir den
Hut davor ziehen, wie weit die Länder in diesem sehr
schwierigen Prozess inzwischen vorangekommen sind.
({2})
Lassen Sie mich ein paar Worte zum zweiten Aspekt,
zum Thema Wirtschaft sagen. Ich bin stolz darauf, dass
die Wirtschaft in Rumänien unter der Führung von Liberalen so große Sprünge nach vorn gemacht hat. Ich kann
es mir nicht verkneifen, auf den großen Erfolg zu verweisen, der zuletzt in Rumänien mit der Einführung eines einheitlichen Steuersatzes erzielt worden ist. Die
Entwicklung in beiden Ländern hat gezeigt, dass liberale
Wirtschaftspolitik zu Wohlstandsmehrung führt. Es gibt
dort Wachstumsraten, von denen wir in Deutschland
nicht einmal ansatzweise träumen können; sie sind dreimal so hoch wie in einem guten Jahr in Deutschland.
({3})
Herr Schäfer hat es schon angesprochen: Der Handelsaustausch mit den beiden Ländern nimmt inzwischen ein Volumen von circa 8 Milliarden Euro ein. Das
entspricht dem Volumen unseres Handels mit Indien. Er
sichert Tausende Arbeitsplätze in Deutschland. Ich
denke, es ist wichtig, immer wieder zu sagen: Der Beitritt von Rumänien und Bulgarien sichert Jobs und führt
zu einem höheren Steueraufkommen in Deutschland.
Davon profitieren die Arbeitnehmer in Deutschland.
Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Was bedeutet
die Aufnahme zweier weiterer Mitglieder für die Europäische Union? Die Europäische Union wird ab
1. Januar 2007 um circa 30 Millionen Menschen größer
werden. Wir sind dann fast eine halbe Milliarde Menschen. Wir sind der größte Handelsblock in der Welt. Es
wird Zeit, dass die EU noch stärker und deutlicher als
bisher die gemeinsamen Interessen der Europäerinnen
und Europäer gegenüber anderen Blöcken und anderen
Ländern vertritt. Je größer wir sind und je stärker wir
wirtschaftlich sind, umso besser wird uns das gelingen.
Es wird Zeit, dass wir uns bei der politischen Einigung
weitere Felder erschließen, nicht nur in der Handelspolitik, sondern auch in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik, in der Umweltpolitik und in vielen Bereichen,
die für unsere Länder von großer Bedeutung sind. Je
größer Europa ist, umso besser wird es uns gelingen,
diese Interessen gemeinsam nach außen zu vertreten.
Meine Damen und Herren, in dem Sinne möchte ich
gerne das wiederholen, was der Kollege Axel Schäfer
hier schon gesagt hat - genau diesen Satz hatte auch ich
mir als letzten Satz aufgeschrieben -: Herzlich willkommen, liebe Bulgaren, herzlich willkommen, liebe Rumänen, im Kreis der europäischen Völkerfamilie!
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stehen in der Europäischen Union vor einem denkwürdigen Tag. Am 1. Januar 2007 werden Bulgarien und Rumänien vollwertige Mitglieder der Europäischen Union
sein. Damit findet die fünfte Erweiterungsrunde der
Europäischen Union ihren Abschluss, eine Erweiterungsrunde, wie es sie früher nicht gegeben hat und aus
verschiedenen Gründen auch nicht mehr geben wird.
Lassen Sie mich, weil dieser Erweiterungsprozess ein
historischer Prozess der europäischen Geschichte ist, einige seiner wichtigsten Stationen kurz benennen.
Bereits im Dezember 1989, dem Jahr des Mauerfalls,
richtet die Europäische Union das PHARE-Programm
zur finanziellen und technischen Unterstützung der Länder Mittel- und Osteuropas ein. Schon im Juli 1990 beantragen Zypern und Malta die EU-Mitgliedschaft. Im
Juni 1993 werden auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen in einer ganz entscheidenden Sitzung die so genannten Kopenhagener Kriterien festgelegt.
Weil sich diese Kriterien in den letzten 13 Jahren wie
ein roter Faden durch die europäische Politik ziehen,
weil ich der Überzeugung bin, dass sie damals ausgesprochen klug definiert worden sind, und weil sie auch
heute noch Grundlage unserer Entscheidung sind,
möchte ich kurz auf sie eingehen.
Es geht erstens um das politische Kriterium, dass ein
Land, das Mitglied der Europäischen Union werden
möchte, garantieren muss, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit funktionieren, dass die Menschenrechte geachtet und die Minderheiten geschützt werden.
Zweitens gibt es das wirtschaftliche Kriterium, dass
ein Land, das Mitglied der Europäischen Union werden
will, ein marktwirtschaftliches System haben muss, eine
starke Marktwirtschaft, die in der Lage ist, dem Wettbewerbsdruck im europäischen Binnenmarkt standzuhalten
und ihn mitgestalten zu können.
Drittens geht es darum, dass ein neues Mitgliedsland
den so genannten gemeinschaftlichen Besitzstand übernehmen muss, der heute immerhin aus ungefähr
26 000 Rechtsakten besteht.
In den Jahren 1994 bis 1996 folgen die Beitrittsgesuche von Ungarn, Polen, der Slowakei, Rumänien, Lettland, Estland, Litauen, Bulgarien, der Tschechischen Republik und Slowenien. Im Dezember 1997 beschließt der
Europäische Rat von Luxemburg die Einleitung des
Erweiterungsprozesses. 1999 bestätigt der Europäische
Rat von Helsinki, dass mit den zwölf Bewerberländern
Beitrittsgespräche beginnen sollen. Im Dezember 2002
einigt sich die Europäische Union mit zehn der Bewerberländer darauf, dass sie am 1. Mai 2004 der EU beitreten können. Die Beitrittsverträge wurden am 16. April
2003 in Athen unterzeichnet. In der Folge traten diese
Länder am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei.
Bulgarien und Rumänien, über deren Beitritt zur
Europäischen Union wir heute debattieren und entscheiden, sind Teil dieser fünften Erweiterungsrunde. Die
Beitrittsverträge mit Bulgarien und Rumänien wurden
am 25. April 2005 in Luxemburg unterzeichnet. Beide
Länder haben gerade in den letzten Jahren intensiv gearbeitet und den gesamten Acquis communautaire in ihr
nationales Recht übertragen. Es ist eine wahrlich große
Aufgabe, die wir den neuen Mitgliedsländern abverlangt
haben. Die regelmäßig erscheinenden Fortschrittsberichte dokumentieren diese Anstrengung und die Leistung der neuen Mitgliedsländer, auch die Leistung von
Bulgarien und Rumänien.
Der letzte Fortschrittsbericht zu Bulgarien und Rumänien - es ist schon der zweite in diesem Jahr - ist vom
26. September dieses Jahres. Er bildet die informelle
Grundlage unserer heutigen Entscheidung. Bulgarien
und Rumänien haben große Fortschritte auch in den letzten sechs Monaten gemacht. Sie erfüllen ausreichend die
Beitrittskriterien. Ich werbe für Ihre Zustimmung zum
Ratifikationsgesetz.
Wir sind uns dabei aber auch im Klaren, dass es noch
erhebliche Defizite in beiden Ländern gibt. Beide Länder müssen noch intensive Anstrengungen unternehmen,
um die europäischen Standards in allen Bereichen zu erfüllen. Wir können drei defizitäre Bereiche unterscheiden.
Im ersten Bereich geht es um Lebensmittelsicherheit
und um Hygienestandards. Hier hat die Europäische
Kommission ausreichende Schutzmechanismen aktiviert. Es besteht überhaupt kein Zweifel an der verlässlichen Arbeit der Europäischen Kommission auch in der
Zukunft.
({0})
Der zweite Bereich bezieht sich auf die ordnungsgemäße Verwendung und Kontrolle der EU-Fördermittel.
Hier müssen beide Länder noch die notwendigen institutionellen Voraussetzungen schaffen. Ich bin sicher, dass
ihnen dies bis zum Ende des Jahres gelingt. Auch hier
besteht für uns kein Zweifel daran, dass die Europäische
Kommission verlässlich arbeitet. Sie kann zum Beispiel
finanzielle Mittel zurückfordern, teilweise einbehalten
oder in sehr schwerwiegenden Fällen ganz sperren. Im
Übrigen gilt dieses Verfahren für sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es ist also keine Sonderbeschränkung für Bulgarien und Rumänien.
Der dritte Bereich wird von uns als besonders sensibel eingeschätzt. Die Europäische Kommission hat in ihrem Bericht analysiert, dass in der Innen- und Justizpolitik in beiden Ländern noch erhebliche Defizite
bestehen, auch wenn sie Stück für Stück abgebaut werden. So sind in diesem Politikbereich europäische und
rechtsstaatliche Standards bis heute nicht in jedem Fall
garantiert. Diese Analyse der Europäischen Kommission
wird von den Regierungen in Bulgarien und Rumänien
im Übrigen bestätigt. Die Europäische Kommission hat
angekündigt, dass für beide Länder in diesen Politikbereichen ein verstärktes Monitoring durchgeführt wird.
Sie hat auch angekündigt, dass sie bei Auftreten von
Problemen die vorhandenen Sicherungsklauseln umgehend aktivieren wird.
In diesem Punkt allerdings haben wir einen Dissens
zur Auffassung der Europäischen Kommission. Auch
wenn dieser Dissens kaum eine praktische Auswirkung
haben wird, handelt es sich doch um eine wichtige symbolische Frage. Es geht um Wahrheit und Klarheit sowie
um die Transparenz der europäischen Politik.
({1})
Wenn nämlich die Europäische Kommission einerseits
richtigerweise analysiert, dass im Innen- und Justizbereich rechtsstaatliche Standards in Bulgarien und Rumänien bisher nicht in jedem Fall garantiert werden können, dann fehlt im Moment jedenfalls damit auch die
rechtliche und politische Grundlage für die Verpflichtung aller anderen Mitgliedstaaten, Strafurteile anzuerkennen und den Europäischen Haftbefehl anzuwenden.
Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Europäische
Kommission diese europäischen Regeln für beide Länder zunächst aussetzt, um möglichst bald - wenn die Defizite beseitigt sind - den Acquis auch in diesem Bereich
zu aktivieren.
Wir haben im Übrigen in anderen Bereichen mit vergleichbaren Sicherungsklauseln gute Erfahrungen gemacht, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Hier haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit,
diese für eine bestimmte Zeit auszusetzen. Sie können
aber auch entscheiden, die Arbeitnehmerfreizügigkeit
zuzulassen.
In den letzten Jahren ist ein interessanter Lernprozess
bei den Mitgliedsländern der Europäischen Union zu
beobachten. Deutschland hat in diesem Jahr die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen Mitgliedsländer für
weitere drei Jahre beschränkt. Trotzdem sind circa
500 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den
neuen Mitgliedstaaten bei uns beschäftigt. Ein Großteil
davon sind natürlich Saisonarbeiter. Großbritannien hat
sich selbst dafür gerühmt, dass es Arbeitnehmerfreizügigkeit von Anfang an gewährleistet hat. Interessanterweise haben sich jetzt aber Großbritannien und Irland
dafür entschieden, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für
Bulgarien und Rumänien zunächst auszusetzen. Offensichtlich läuft der Arbeitsmarktliberalismus in Großbritannien nicht ganz problemlos. Wenn man bedenkt, dass
Großbritannien auf Grundlage der Arbeitnehmerfreizügigkeit circa 400 000 Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsländern beschäftigt, wird klar, dass wir mit unserer
Entscheidung alles andere als eine Marktabschottung betreiben.
Ich fordere die Europäische Kommission auf, die Bereiche Anerkennung von Strafurteilen und Anwendung
des Europäischen Haftbefehls ähnlich zu regeln. Ich
bitte die Bundesregierung, sich auf dem Europäischen
Rat im Dezember in Brüssel für solch eine Regelung einzusetzen.
({2})
Neben den neuen Mitgliedsländern haben auch die
bisherigen Mitgliedsländer eine große Aufgabe vollbracht. Mit einer einzigartigen Kraftanstrengung haben
wir es geschafft, Länder zu integrieren, die bis in die
90er-Jahre unter sowjetischem Einfluss standen und dem
Warschauer Pakt angehörten. Wir haben diese Länder
auf ihrem bisherigen Weg bestmöglich unterstützt. Die
überwiegende Mehrheit dieses Hauses wird dieser Verantwortung - das war immer so - auch in Zukunft gerecht werden. Im Saldo - auch diese Wahrheit muss genannt werden - profitieren wir wirtschaftlich und
politisch von der Erweiterung deutlich mehr, als wir
- gelegentlich - Schaden dadurch nehmen.
Jetzt muss unser Hauptaugenmerk darauf liegen, die
Europäische Union zu festigen und zu vertiefen. Es besteht die Notwendigkeit zur Inkraftsetzung des europäischen Verfassungsvertrages. Daneben ist eine intensive
Diskussion über die weitere Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union erforderlich.
Wir setzen uns für ein Europa ein, in dem die Bürgerinnen und Bürger in Frieden, Freiheit, Sicherheit und
Wohlstand leben können. Das ist alles andere als eine
Selbstverständlichkeit. Vielmehr ist es für unsere Arbeit
eine ständige Herausforderung. Es ist aber auch unsere
Aufgabe, für Europa und für die Erfolge der Europäischen Union zu werben - Erfolge, die es vielfach gibt,
die aber oft viel zu schnell in Vergessenheit geraten. Die
europäische Einigung ist eine der größten Errungenschaften der letzten 50 Jahre. Frieden, Freiheit und die
Idee der Zusammenarbeit der Völker sind auf unserem
Kontinent heute fest verankert.
Die Europäische Union muss sich aber den Herausforderungen von heute stellen. Die Bürgerinnen und
Bürger erwarten zu Recht, dass sich die Europäische
Union mit den Problemen des 21. Jahrhunderts beschäftigt und ihre Legitimation nicht allein aus den Erfolgen
der Vergangenheit ableitet. Mit der Integration der mittel- und osteuropäischen Reformländer in die Europäische Union haben wir uns einer entscheidenden HerausMichael Stübgen
forderung gestellt. Ich bin sicher, wir werden sie
meistern. Ich bin überzeugt davon, dass wir die Probleme des 21. Jahrhunderts in Europa gemeinsam bewältigen können.
Die Fraktion von CDU und CSU wird dem Beitritt
von Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union
zustimmen. Wir freuen uns darauf, beide Länder am
1. Januar 2007 in der Europäischen Union begrüßen zu
können. An die Adresse der Bulgaren und Rumänen sagen wir: Herzlich willkommen! Ich kann noch einen
draufsetzen: Dobre dosch la! Und: Bine aţi venit!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Hakki Keskin, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Es mutet wahrlich bizarr an, wie die
Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition
ihren vorliegenden Antrag betitelt haben: „EU-Beitritt
Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen.“
Wie ich bei der ersten Lesung dieses Gesetzes bereits
erklärte, unterstützen meine Fraktion und ich diese Forderung voll und ganz. Wie stellt sich die Koalition einen
solchen Erfolg aber vor? Die Rede ist von „Sicherheitspolitik am Schwarzen Meer“. Immer wieder ist von
„Beitrittsreife“ die Rede. Ganz zentral ist der Begriff
„Schutzklausel“. Bedeutet erfolgreiche Erweiterung der
Europäischen Union primär Sicherheit und Schutz? Der
Eindruck drängt sich auf, gerade wenn man sich anschaut, was Herr Stoiber in dieser Woche als Marschrichtung der Union in Sachen Europa herausgegeben hat.
Ich zitiere:
Deutsche Staatsbürger in Gefängnissen dieser Länder
- gemeint sind Bulgarien und Rumänien kann und will ich mir nicht vorstellen. Außerdem
dürfen Strafurteile der bulgarischen und rumänischen Justiz in Deutschland vorerst nicht anerkannt
werden.
({0})
So schürt man Aversionen und Ängste.
({1})
Statt die längst zu beobachtenden Vorteile, von denen
meine Vorredner gesprochen haben, zur Kenntnis zu
nehmen - dass der Außenhandel, den die Bundesrepublik Deutschland mit diesen Ländern betreibt, bereits enorm zugenommen hat und dass auch die Investitionen der Bundesrepublik Deutschland in diese Länder
erheblich gestiegen sind -, versucht man, ebendiese
Ängste auf die falsche Bahn zu lenken. Von der Bereicherung spricht Herr Stoiber nicht. Auch im Antrag der
Regierungsfraktionen ist nur einseitig von den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten und Voraussetzungen
die Rede, die von Bulgarien und Rumänien erfüllt werden müssen.
Die Menschen in Europa, so auch die in der Bundesrepublik Deutschland, haben tatsächlich Ängste. Dabei
handelt es sich um berechtigte Ängste: vor dem Abbau
der Sozialsysteme, dem zunehmenden Druck auf die
Löhne sowie vor immer prekärer werdenden Arbeitsverhältnissen und Armut.
({2})
Dabei geht es also nicht um jene Ängste, die sich Herr
Stoiber als Ablenkungsmanöver ausmalt.
Dass diese Tatsache von den Regierungen ignoriert
wird, ist für die Menschen beunruhigend. Die Bundesregierung und die Europäische Union haben es sträflich
versäumt, die soziale Gerechtigkeit zum Maß aller
Dinge zu machen. Die EU hat bisher jede Gelegenheit
verstreichen lassen, diesen Ängsten etwas entgegenzusetzen.
({3})
Leider fallen die durch Stoiber geschürten Ängste auf
fruchtbaren Boden. Denn die für die EU-Bürger dringend erforderlichen Rahmenbedingungen wurden bislang nicht geschaffen.
Die Fraktion Die Linke hat zu Recht stets ein soziales
und demokratisches Europa gefordert. Denn nur ein
solches Europa ist imstande, den sozialen Frieden auf
Dauer zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Europa braucht einen Sozialstaat, der Armut und
soziale Benachteiligung erst gar nicht entstehen lässt.
Ich komme zum Schluss. Europa braucht soziale
Standards. Europa braucht überall einen gesetzlichen
Mindestlohn. Das Ziel der Linken ist nicht allein die
Schaffung eines gedeihlichen Wirtschaftsraums, sondern
vor allem das Wohl der Menschen. Meine Damen und
Herren, trotz aller Schwierigkeiten sollten wir Bulgarien
und Rumänien als neue Mitglieder der Europäischen
Union herzlich begrüßen und sie als gleichberechtigte
Partner behandeln.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Gestatten Sie mir drei kurze Vorbemerkungen:
Zum Ersten möchte ich mich bei den Fraktionen dafür
bedanken, dass die Überschrift unserer Pressemitteilung
anlässlich der ersten Lesung des vorliegenden Gesetz5856
entwurfes „Herzlich willkommen, Rumänien und Bulgarien“ heute von allen aufgegriffen worden ist. Das ist ein
gutes Zeichen der gemeinsamen Arbeit, die wir hier geleistet haben.
Zum Zweiten möchte ich mich bei den Botschaften
und bei den Regierungen Bulgariens und Rumäniens
für die hervorragende Zusammenarbeit bedanken. Sie
von den Botschaften, aber auch von den Regierungen
haben uns in diesem Beitrittsprozess mit so viel Gesprächs- und Informationsangeboten beglückt, dass wir
nicht in der Lage waren, alle angebotenen Termine
wahrzunehmen. Die Bereitschaft, die Diskussion hier in
Deutschland so intensiv, mit solcher Sachkenntnis und
mit solchem Engagement zu begleiten, verdient, glaube
ich, die Anerkennung des ganzen Hauses.
({0})
Gestatten Sie mir zum Dritten, mich persönlich, aber
auch im Namen meiner Fraktion bei Susanne Kastner
zu bedanken, die als Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages und als Vorsitzende der Deutsch-Rumänischen Parlamentariergruppe während dieses Prozesses
der Integration den Bemühungen unserer Gesellschaften,
der Solidarität auf europäischem Niveau, den Idealen,
die in Sonntagsreden häufig vertreten werden, durch
praktische Arbeit Ausdruck verliehen hat. Susanne, dafür ganz herzlichen Dank!
({1})
Gerade Susanne Kastner weiß, vor welchen Herausforderungen diese beiden Staaten, deren Beitritt wir heute
im Deutschen Bundestag beschließen wollen, gestanden
haben, was sie bewältigen mussten. Wenn man sich die
öffentliche Meinung anschaut, bekommt man häufig das
Gefühl, da wollten zwei Schmuddelkinder irgendwie
noch in die Europäische Union und man könne nicht anders, als sie aufzunehmen. Diese Länder haben anders
als Polen, anders als Ungarn oder Tschechien über Jahrzehnte keine vergleichbare Unterstützung, Solidarität
aus Westeuropa erfahren - in den 60er-, 70er- und 80erJahren -, sondern wurden häufig allein gelassen, mit
brutalen Regimen wie dem Ceausescus. Wenn man sich
diese Ausgangsbedingungen jetzt vergegenwärtigt, dann
erkennt man, welch gewaltige, historische Leistung
diese beiden Länder - die Bevölkerungen, die Regierungen, die Parlamentarier - in diesem Prozess erbracht haben. Ich finde, das darf hier nicht zu kurz kommen.
({2})
Wir haben in den Ausschussberatungen in vielen Gesprächen und auch bei den direkten Kontakten immer
wieder gesagt: Natürlich gilt es noch eine Reihe von
Punkten zu erfüllen. Das ist richtig. In vielen Bereichen
sind wir mit den Standards noch nicht zufrieden. Aber
wir müssen doch auch sehen, dass es nicht nur diese beiden Länder sind, die Probleme mit Korruption haben,
dass es nicht nur diese beiden Länder sind, die Probleme
damit haben, ihr Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass
sie in die EU voll integriert werden können, gerade was
die Landwirtschaft angeht. Solche Probleme gibt es auch
in Deutschland. Ich will jetzt gar nicht mit den Kennziffern von Transparency International aufwarten, wer
wo steht. Aber der Unterschied in den internationalen
Rankings zwischen dem unumstrittenen EU-Mitglied
Italien und Bulgarien ist kein besonders großer. Die
Kennzahl für die Korruptheit politischer Parteien lautet
für Deutschland 3,7 und für Rumänien 3,8. Das zeigt,
dass das, was häufig an Vorurteilen geschürt wird, in relevanten Bereichen des politischen Systems mit der
Wirklichkeit nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Auf der anderen Seite sind die Fragen, die wir im Zusammenhang mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens immer wieder - zu Recht - diskutieren, Fragen, die
das Selbstverständnis und die Arbeitsfähigkeit der Europäischen Union insgesamt angehen. Deshalb ist dies zugleich Auftrag an uns, auch in unseren Gesellschaften
diese Probleme abzustellen. Auch das gehört zur Europapolitik.
({3})
Ich würde gerne noch einmal drei Punkte benennen,
die für mich relevant sind, wenn wir uns anschauen, was
wir aus diesen Beitrittsverfahren eigentlich lernen:
Erstens. Ich glaube, wenn wir über weitere Erweiterungsschritte reden - die Verfahren mit Kroatien und der
Türkei laufen -, ist eines sicherlich richtig: Wir dürfen in
Zukunft keine Daten mehr vorab festzurren. Das sollten
wir aus diesen Verfahren gelernt haben; denn dadurch
haben wir mehr Schwierigkeiten geschaffen als Lösungen produziert.
Zweitens. Ich glaube, dass für den Prozess der Integration in die Europäische Union ein differenzierteres
Handlungsschema erforderlich ist. Es muss differenzierter als das sein, was wir jetzt haben, um auch in Teilschritten sowohl Teilsouveränitäten zu erlangen als auch
Teilpflichten und Teilrechte zu übernehmen. Es darf
nicht dieses Entweder-oder geben, vielmehr brauchen
wir im Hinblick auf die Beitrittsprozesse in Zukunft ein
differenzierteres System.
({4})
Drittens. Es erscheint mir gerade auch im Hinblick
auf die anstehenden Beitrittsprozesse wichtig, zu lernen,
dass eine Fähigkeit zur regionalen Kooperation erforderlich ist. Es muss klar sein, dass der Balkan eine Beitrittsperspektive braucht; denn ohne diese Beitrittsperspektive wäre die Situation auf dem Balkan schon längst
wieder explodiert. Wenn wir diese Perspektive abschneiden würden, dann würden wir politisch völlig verantwortungslos handeln.
({5})
Wir müssen aber auch deutlich machen, dass die Fähigkeit zur regionalen Kooperation - gerade auch im
Hinblick auf die Balkanländer, auf Südosteuropa und auf
den Kaukasus - wichtig ist, und wir müssen den LänRainder Steenblock
dern, den Politikern und den Menschen, klar machen:
Wenn ihr nicht in der Lage seid, mit euren Nachbarn
friedlich zusammenzuleben, dann wird es ganz schwer
werden, in die Europäische Union, die auch ein Friedensprojekt ist, aufgenommen zu werden. Es geht nicht,
dass man feindlich mit Nachbarn zusammenlebt und
nicht bereit ist, diese Konflikte durch eine politische und
Frieden stiftende Arbeit zu lösen. Als Beispiel sei an die
Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erinnert. Wenn man auf den Balkan oder auch den Kaukasus
schaut, dann sieht man, dass dort Ethnien in unversöhnlichen Konflikten gegenüberstehen. Das behindert die
Prozesse zum Beitritt in die Europäische Union massiv,
weil das dem Gedanken der europäischen Integration widerspricht.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir
brauchen in Zukunft auch eine neue Debatte über die
Erweiterung. Wir alle wissen, dass alle Erweiterungsschritte bisher nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch verarbeitet wurden und zum Erfolg geführt haben.
Der Einzug all der neuen Eigentümer in das europäische
Haus hat nicht dazu geführt, dass es in diesem Haus
enger wurde und dass man sich den vorhandenen Platz
teilen musste, sondern jeder Integrationsschritt hat dazu
geführt, dass dieses europäische Haus größer und die Lebensqualität aller seiner Bewohner insgesamt besser geworden ist. Die Erweiterung hat kein Abgeben, sondern
ein Mehr gebracht.
({7})
Dieser Gedanke muss uns allen in den weiteren Diskussionen klar sein. Wir dürfen hier nicht auf den dumpfen
Nationalismus an den Stammtischen hören, sondern wir
müssen uns auf die Fakten beziehen, wonach Internationalisierung, das heißt, die europäische Integration, ein
Vorteil ist, von dem alle Menschen in Europa profitiert
haben.
({8})
Deshalb glaube ich, dass wir an dieser Stelle eine rationale Debatte und keine emotionale Debatte, die zum
Teil verständlich ist, brauchen. Ich weiß, dass alle Politiker in ihren Wahlkreisen auch einmal nahe am Populismus sind und Sachen vereinfachen. Die europäische Integration ist ein ausgesprochen kompliziertes Thema.
Wir merken das jetzt wieder anhand der Schutzklauseln. Es ist nicht in einfachen Botschaften herüberzubringen, wofür man welche Schutzklauseln braucht und
wann sie tatsächlich in den Prozess implementiert werden. Ich glaube aber, dass dieses Regime gut, richtig und
sinnvoll ist.
Ich glaube, dass die Europäische Union an dieser
Stelle tatsächlich Handlungsfähigkeit bewiesen hat. Wir
haben an dieser Stelle aus den Beitrittsverhandlungen
der Vergangenheit gelernt, dass wir noch gegebene Unvollständigkeiten auf einem geordneten Wege bearbeiten
können. Darum glaube ich, dass wir auch ein Stück weit
stolz sein können. Deutschland hat an diesem Schutzund Monitoringregime sehr intensiv mitgearbeitet. Das
ist richtig und entspricht - zumindest habe ich die Diskussion so verstanden - auch dem Interesse aller Fraktionen im Europaausschuss. In diesem Punkt haben wir
durchaus etwas Vernünftiges und Gutes gemacht. Damit
können wir vor unsere Wahlbürgerinnen und -bürger treten und ihnen zeigen, dass wir ihre Interessen vertreten
haben.
Es geht aber nicht darum, bestimmte Länder auszugrenzen oder außen vor zu halten; vielmehr schätzen wir
bestimmte Prinzipien der Europäischen Union so hoch
ein, dass wir ihre Umsetzung in die Praxis erreichen
wollen. Das ist wichtig und hilft Bulgarien und Rumänien. Insofern geht es bei dem Kontrollmechanismus
nicht darum, sie außen vor zu halten, sondern er dient
dem Ziel, Bulgarien und Rumänien willkommen zu heißen und in die Europäische Union zu integrieren.
({9})
Gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung. Als gebürtiger Ostfriese stehe ich kaum in dem Verdacht des ständigen emotionalen Überschwangs.
({10})
Trotzdem muss ich, wenn wir uns als deutsches Parlament mit der Frage befassen, wie es mit Europa weitergeht - die Krise der Europäischen Union schlägt uns in
den Debatten in unseren Wahlkreisen ständig entgegen -, immer an die „Ode an die Freude“, unsere europäische Hymne, denken. Alle Menschen werden Brüder
- und Schwestern -: Dass wir als verantwortliche deutsche Politiker diesen Gedanken in unseren Herzen tragen, ist, glaube ich, eine wichtige Voraussetzung, wenn
wir das Friedensprojekt Europa voranbringen und dem
dumpfen Nationalismus, den es durchaus gibt, entschieden begegnen wollen.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegin Susanne Kastner, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach nur 16 Jahren bekommen nun die beiden Länder
Rumänien und Bulgarien grünes Licht zum EU-Beitritt.
Wer wie ich die Chance hatte, die Menschen in Rumänien 16 Jahre lang intensiv auf diesem Weg zu begleiten,
weiß, dass das mit Sicherheit gerechtfertigt ist.
({0})
Ich glaube, am 1. Januar 2007 werden sehr viele
Menschen in Rumänien und Bulgarien feiern, dass sie
endlich Teil der Europäischen Union sind. Ich denke, das
ist auch richtig; denn die Europäische Union ist nicht nur
eine Union der Menschen, sondern auch für die Menschen.
In manchen Gesprächen, die ich über Rumänien und
Bulgarien geführt habe, hatte ich den Eindruck, dass
diese Länder als weit entfernte exotische Ziele betrachtet
werden. Von dem Nachbarschaftsgedanken war dabei
relativ wenig zu spüren. Bukarest und Sofia sind aber
kaum weiter von Berlin entfernt als Rom und liegen über
1 000 km näher an Berlin als Lissabon.
Jeder aufmerksame Beobachter hat die Erfolge in den
beiden Ländern erkennen können. Dies ist hauptsächlich
den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Politikern,
die in den letzten Jahren Verantwortung getragen haben
und den Weg nach Europa konsequent gegangen sind, zu
verdanken.
Die Menschen in Rumänien haben die Demokratie
erst lernen müssen. Von der Monarchie in eine verheerende Diktatur gekommen, war ihnen nach der Revolution die Demokratie noch etwas fremd. Jedoch sehnten
sie sich danach und waren bereit, im Dezember 1989 einen hohen Blutzoll dafür zu bezahlen. Sie haben in den
letzten Jahren demokratische Strukturen geschaffen, obwohl sie anfangs nicht recht gewusst haben, dass Demokratie auch Eigenverantwortung, Mitreden und Mitgestalten bedeutet.
Die knapp 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger in
Bulgarien und Rumänien haben in diesem Transformationsprozess Opfer gebracht. Viele von ihnen haben
durch Betriebsschließungen ihren Arbeitsplatz verloren.
Die Einschnitte im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen waren sicherlich für viele sehr schmerzhaft.
Aber nie haben sie sich für den Nationalismus entschieden, sondern immer Regierungen gewählt, die sie auf ihrem Weg in die Europäische Union weitergebracht haben.
({1})
Dass die Rumänen in den letzten 16 Jahren noch nicht
alles so hinbekommen haben, wie es nach EU-Kriterien
sein sollte, ist für mich mehr als verständlich. Das heißt
aber nicht, dass wir darüber nicht reden, es verschweigen
oder ignorieren sollten. Deshalb sind das weitere Monitoring und die Schutzklauseln richtig. Sie müssen meines Erachtens konsequent angewandt werden, sollte es
notwendig sein.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Bayern, die Forderung aber, die Schutzklauseln direkt am 1. Januar
2007 anzuwenden, ist meines Erachtens populistisch und
deshalb falsch.
({3})
Denn deutsche Unternehmen haben allein 2005 Waren
im Wert von rund 5,3 Milliarden Euro nach Rumänien
verkauft. Die deutsche Wirtschaft fordert seit Jahren die
Aufnahme dieses Landes in die Europäische Union. Im
Übrigen haben die Wirtschaftsunternehmen, die aus
Bayern stammen, allein im vergangenen Jahr Produkte
im Wert von fast 1 Milliarde Euro nach Rumänien exportiert. Für unsere Wirtschaft bedeutet der Beitritt Rumäniens und Bulgariens den freien Zugang zu einem
Absatzmarkt mit 30 Millionen potenziellen Käufern.
Unglaublich viele NGOs aus der gesamten Bundesrepublik haben im letzten Jahrzehnt dazu beigetragen, dass
in Rumänien eine Zivilgesellschaft entstehen konnte und
im sozialen Bereich die EU-Kriterien erfüllt werden
konnten. Die Spendengelder, die in den letzten Jahren in
dieses Land geflossen sind, und die Aufbauleistungen
sind nicht in Zahlen zu fassen. Ich sage an dieser Stelle
aber auch sehr deutlich: Die Zeit der direkten Hilfen,
beispielsweise der Spendengelder aus unserem Land, ist
meines Erachtens vorbei. Außer bei Katastrophen wie
den verheerenden Überschwemmungen im letzten Jahr
braucht Rumänien keine Hardware mehr, sondern Software. In die Menschen zu investieren, ist in Zukunft
unglaublich wichtig. Partnerschaften zwischen Jugendorganisationen, Schulen, Städten, Landkreisen und Vereinen sind für beide Länder notwendig und verbindend.
Vor kurzem las ich in der Auswertung einer Umfrage,
wie Rumänien in Deutschland angesehen wird. Es war
erschreckend, welch schlechtes Bild die Deutschen von
diesem Land haben. Mein Appell geht an dieser Stelle
auch an die Medien, die für dieses verzerrte Bild mitverantwortlich sind: Rumänien ist in allen Punkten besser als sein Ruf. Ich habe dies in all den Jahren, in denen
ich dort tätig war, immer wieder erfahren. Wer spricht in
Deutschland von der geradezu sprichwörtlichen Gastfreundschaft Rumäniens und Bulgariens? Wer spricht
von der wunderbaren Landschaft, in der der Tourismus
zwar noch in den Kinderschuhen steckt, aber zweifelsohne vorhanden ist und ein enormes Wachstumspotenzial aufweist? Wer interessiert sich denn intensiv für die
rumänische Kultur? Wer weiß, dass Brâncuşi, einer der
berühmtesten Bildhauer, Rumäne war? Wer kennt den
Komponisten Enescu? Anders gefragt: Wer kennt nicht
den Sommerhit „Dragostea Din Tei“ von O-Zone von
vor zwei Jahren, den damaligen Ohrwurm der jungen
Generation? Wer von uns verbindet Peter Maffay mit
Rumänien?
Bedauerlicherweise sehen viele Menschen in
Deutschland in beiden Ländern nur die Gefahr, dass ihr
eigener Arbeitsplatz dorthin abwandert. Das ist zwar
verständlich, ist aber mit Sicherheit nicht alles. Unsere
Aufgabe in der Politik ist, einen EU-Beitritt nicht nur
nach wirtschaftlichen Zahlen zu beurteilen; denn die EU
ist - ich glaube, hierüber sind wir uns alle in diesem Hohen Hause einig - viel mehr als nur ein Binnenmarkt.
({4})
Uns verbinden mit Rumänien 850 Jahre friedliches
Zusammenleben und ein unmittelbares kulturelles MitDr. h. c. Susanne Kastner
einander. Bis 1990 lebten in Rumänien 120 000 Deutsche. In Rumänien leben 18 Minderheiten friedlich zusammen. Der europäische Grundgedanke der Einigkeit
in Vielfalt ist dort seit Jahrhunderten Realität. Ich will
hier auch nicht verschweigen, dass es gegenüber der
Minderheit der Zigeuner, die in Rumänien selbst so genannt werden wollen - deswegen sage ich das an dieser
Stelle mit diesen Worten -, noch deutliche Diskriminierung gibt, nicht in der politischen Gesetzgebung, sondern im Denken und im Umgang in der Gesellschaft. An
dieser Stelle noch Überzeugungsarbeit zu betreiben, ist
den Schweiß der Tüchtigen mit Sicherheit wert.
Sibiu oder Hermannstadt hat als erste und einzige
Stadt, die nicht in einem EU-Land lag und heute noch
nicht liegt, den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“
verliehen bekommen. Am vergangenen Dienstag war die
Eröffnung der Fotoausstellung unter dem Titel „Sibiu jung seit 1191“. So präsentiert sich diese Stadt, innovativ, aber sich der eigenen Vergangenheit bewusst seiend.
Ich wünsche mir sehr, dass viele von uns im nächsten
Jahr auch in Hermannstadt Station machen.
({5})
Der dort amtierende deutsche Bürgermeister Klaus
Johannis wird Ihnen eine weltoffene, moderne und doch
historische Stadt zeigen. Wir hier in Deutschland sollten
dies alles würdigen, indem wir den Beitrittsvertrag mit
großer Mehrheit ratifizieren.
Lieber Herr Kollege Rainder Steenblock, liebe Kolleginnen und Kollegen, es tut schon gut, einmal Lob zu erhalten. Das will ich gar nicht abstreiten, aber ich glaube,
auf diesem Weg haben ganz viele mitgearbeitet, auch
hier im Deutschen Bundestag, so die Mitglieder der
Deutsch-Rumänischen und der Deutsch-Bulgarischen
Parlamentariergruppe, die Mitglieder des Deutsch-Bulgarischen und des Deutsch-Rumänischen Forums und
die Mitglieder der einzelnen Arbeitsgruppen, die in einem intensiven Austausch der letzten Jahre auch Fachwissen hin und her transportiert haben. All denen gilt es
heute zu danken, aber auch all denjenigen, die trotz aller
Widerstände immer wieder an den Beitritt Rumäniens
und Bulgariens geglaubt haben.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Frau Botschafterin,
Herr Botschafter, herzlich willkommen in der Europäischen Union.
({6})
Ich erteile Kollegen Michael Link, FDP-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vor drei
Wochen feierten wir den Tag der Deutschen Einheit.
Aber am 3. Oktober einigte sich nicht nur Deutschland,
am 3. Oktober trat Ostdeutschland auch der damaligen
Europäischen Gemeinschaft bei. Daran gilt es zu erinnern; denn erst dadurch wird deutlich, welche Bedeutung der 1. Januar 2007 für Bulgarien und Rumänien hat.
Der 1. Januar 2007 ist sozusagen der 3. Oktober für Bulgarien und Rumänien. Sicher, bei Bulgarien und Rumänien geht es nicht um die nationale Einheit, aber es geht
in beiden Fällen, 1990 wie 2007, um ein Stück europäische Wiedervereinigung. Ich weiß, ich bin beileibe
nicht der erste Redner, der heute auf diesen Aspekt hinweist. Ich will deshalb nicht den abschließenden Charakter dieser Zäsur 1. Januar 2007 betonen, sondern die Herausforderungen.
Wir in Deutschland haben nach der Einheit und der
Eingliederung Ostdeutschlands in die Europäische Gemeinschaft mühevoll lernen müssen, dass die eigentliche
Arbeit erst nach dem Beitritt beginnt. Wir haben damals
das meiste richtig, aber manches auch falsch gemacht.
Ostdeutschland durfte quasi über Nacht, ohne jahrelange
Verhandlungen aufgrund des großen Vertrauensvorschusses, den die Regierung Kohl/Genscher in der Europäischen Gemeinschaft genoss, beitreten. Auch jetzt, im
Falle von Bulgarien und Rumänien, ist wieder ein Vertrauensvorschuss im Spiel. Wir verschließen bei diesem
Beitritt, anders als vielleicht bei früheren Beitritten,
nicht die Augen vor den Defiziten der beiden Beitrittsländer. Wir sind überzeugt, dass beide Länder in der
Lage sind, die restlichen Defizite unter dem genauen
Blick der Europäischen Kommission und der Mitglieder
des Rates konsequent aufzuarbeiten.
({0})
Wir erwarten das auch von den neuen Mitgliedern, insbesondere im Innen-, Rechts- und Justizbereich. Wir
können das heutige Ja vor unseren Wählerinnen und
Wählern verantworten, weil bei diesem Beitritt die Prüfung der Kriterien durch den äußerst exakt arbeitenden
Erweiterungskommissar Olli Rehn, durch das Europäische Parlament und durch den Bundestag strenger und
der Vorbereitungsprozess beider Kandidaten deutlich
länger war als in früheren Fällen. Vergessen wir nicht,
dass Bulgarien und Rumänien zunächst Teil der 1990 an
den Start gegangenen Zwölfländergruppe war, von der
zehn Länder am 1. Mai 2004 beitraten. Bulgarien und
Rumänien wurden 2003 zu Recht wegen erheblicher Defizite zurückgestellt. Wenn sie nun als Nachzügler mit
weitgehend erledigten Hausaufgaben beitreten, so muss
man nochmals deutlich sagen, dass sie deshalb keinen
Prolog für eine neue Erweiterungswelle einläuten, sondern die Koda dieser letzten Welle darstellen.
Bulgarien und Rumänien haben die knapp drei Jahre
des Nachsitzens genutzt. Das gilt übrigens auch für die
bulgarischen und rumänischen Wähler. Sie haben neue
Regierungen gewählt, die in den Jahren 2005 und 2006
substanzielle Fortschritte geschultert haben. Im Falle der
rumänischen Regierung kann man von regelrechten
Quantensprüngen sprechen. In beiden Ländern stehen
heute Persönlichkeiten an der Spitze des europäischen
Integrationsprozesses, denen wir zutrauen, auch nach
dem 1. Januar 2007 nicht zu ermatten, sondern ihre Länder mit gehörigem Nachdruck weiter zu verändern. Persönlichkeiten wie der liberale rumänische Parlaments5860
Michael Link ({1})
präsident Olteanu oder Ministerpräsident Tariceanu sind
Garanten für die Fortsetzung des erfolgreichen Elitenwechsels in Rumänien und für die weitere Aufarbeitung
des Ceausescu-Regimes. Der Elitenwechsel ist ein wichtiger Punkt.
Er hat auch in Bulgarien begonnen. Er hat dort etwas
später begonnen und noch nicht so viel Wirkung gezeigt,
aber er ist auch dort auf einem guten Weg. Die FDP begrüßt deshalb - wenn wir schon einmal beim Thema Personen sind - ausdrücklich die Nominierung der liberalen
Europaministerin Meglena Kuneva als bulgarische Kandidatin für die Europäische Kommission.
({2})
Auch im Falle Rumäniens ist der frisch benannte
Kandidat für den Kommissarsposten ein Liberaler, nämlich der Wirtschaftswissenschaftler Varujan Vosganian,
der übrigens Angehöriger der armenischen Minderheit
Rumäniens ist.
({3})
Diese beiden Nominierungen signalisieren besser als
viele Worte, wofür die beiden neuen EU-Mitglieder stehen. Sie stehen für einen integrationsfreundlichen Kurs,
auf den gerade Deutschland und die Frau Bundeskanzlerin sich in ihrem Eintreten für einen europäischen Verfassungsvertrag verlassen können. Für beide - für Bulgarien und Rumänien - ist es ein bewusster Beitritt zu
einer europäischen Wertegemeinschaft.
Überhaupt ist nach Ansicht der FDP der Beitritt Rumäniens und Bulgariens im deutschen und im europäischen
Interesse, nicht nur wirtschaftlich, sicherheitspolitisch
und kulturell, sondern gerade auch integrationspolitisch.
Es treten uns zwei Länder bei, die den Verfassungsvertrag
ratifiziert haben und die sich in den europäischen Institutionen profilieren wollen, nicht abseits von ihnen.
Beide Länder gehören genauso zu Europa wie Spanien oder die baltischen Staaten. Im Falle Siebenbürgens, liebe Frau Kastner, können wir sogar von Mitteleuropa sprechen. Sie haben unglaublich viel erreicht und
mit Ihrer kritisch-positiven Art immer wieder einmal
- dort wo es nötig war - Kritik vorgebracht.
Bulgarien und Rumänien sind auf dem Weg, wieder
besonders eng mit Deutschland verflochtene Länder zu
werden. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts,
zwischen den Weltkriegen, war Deutschland wirtschaftlich, kulturell und politisch sehr eng mit beiden verbunden. Alles spricht dafür, dass das in den 20er-Jahren dieses Jahrhunderts, vielleicht sogar schon viel früher,
erneut der Fall sein wird. Dass beide - und das lassen Sie
mich als Bewusstseinsvertreter der FDP sagen - mit ihren äußerst wettbewerbsfähigen Steuersystemen den
Druck auf die alten EU-Mitglieder erhöhen, endlich
selbst die überfälligen Reformen zu erledigen, gehört
aus Sicht der FDP zu den stärksten Argumenten für diese
Erweiterung.
({4})
Mit zwei eindeutig proeuropäischen Neumitgliedern
kann die EU vielleicht auch einige Probleme leichter lösen, die wir zu lange vor uns hergeschoben haben. Ich
nenne nur die Stichworte Verfassung und Reform des
EU-Haushaltes. Beides sind Aufgaben, die wir mit den
neuen Mitgliedern leichter lösen können als ohne sie.
Beides sind Aufgaben, die wir gemeinhin als Prozess der
Vertiefung bezeichnen.
Lassen Sie mich deshalb im Namen der FDP auch
deutlich sagen, dass vor der überfälligen Vertiefung
keine weiteren Erweiterungsschritte mehr möglich sind.
Das ist hart für die jetzigen Kandidaten, insbesondere für
die Westbalkanstaaten und Länder mit Beitrittsperspektive, aber wir können beispielsweise das wichtige
europäische Land Kroatien nur dann aufnehmen, wenn
wir vorher die vertraglichen Grundlagen der EU überarbeitet und die Agrar- und Strukturpolitik der EU so
reformiert haben, dass wir uns zukünftige Beitritte auch
wieder leisten können. Nach diesen Reformen müssen
wir dann aber auch bereit sein, die europäische Perspektive, zum Beispiel der Westbalkanländer, einzulösen.
Doch diese Frage stellt sich heute noch nicht. Heute
stellt sich die Frage nach Bulgarien und Rumänien. Die
FDP unterstützt und begrüßt den Beitritt dieser beiden
wichtigen Länder Europas zur Europäischen Union zum
1. Januar 2007. Beide Länder haben ihr Etappenziel erreicht. Der Weg aber geht weiter.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Gunther Krichbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir seitens der CDU/CSU-Fraktion begrüßen den
Beitritt von Bulgarien und Rumänien. Wir begrüßen die
großen Fortschritte, die beide Länder vor allem in den
letzten Jahren gemacht haben. Ich denke, mit dem
1. Januar 2007 wird auch endgültig die Tür in eine Phase
des Rückfalls zugeschlagen; denn letztlich sind beide
Länder aus kommunistischen Diktaturen hervorgegangen und sind jetzt junge Demokratien. Gerade wir als
etablierte Demokratien tun gut daran, beide Länder weiterhin so konstruktiv zu unterstützen wie schon in der
Vergangenheit.
({0})
Es wird mehr Stabilität geben - eine Stabilität, von
der beide Länder profitieren werden, von der aber auch
die gesamte Europäische Union profitieren wird. Letztlich ist es aber auch von Wichtigkeit, dass wir darauf
drängen, dass der Reformprozess in beiden Ländern
nicht stehen bleibt, und zwar deswegen, weil zuvorderst
die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger in den Ländern, von den Reformen profitieren. Das war in der Vergangenheit der Fall war und das muss auch in Zukunft
der Fall sein. Hier wurden große Anstrengungen unternommen. Es sei nur beispielhaft - und in diesem Fall
sehr bewusst - die Justizpolitik von Rumänien unter
Monica Macovei als Justizministerin - sie kam aus den
NGOs hervor - benannt. Ich denke, wenn es in diesem
Tempo weitergeht, dann ist uns allen nicht bange um die
weitere Entwicklung.
Es ist aber auch wichtig - ich denke nicht, Herr Kollege Löning, dass wir dann eine Schieflage der Diskussion bekommen -, dass wir auf die Defizite hinweisen,
die noch vorhanden sind. Wir haben hier vor einer Woche
eine entsprechende Debatte geführt; deswegen wäre es
jetzt müßig, all diese Probleme wieder aufzurollen. Aber
ich denke, es ist wichtig - und zwar gerade im Hinblick
auf die Außenwirkung dessen, was wir hier sagen -, dass
wir Missverständnisse vermeiden. Warum Missverständnisse? - Ich will das am Beispiel der Sanktionen und
Schutzklauseln deutlich machen, die hier häufig in einem
Atemzug genannt und oftmals miteinander verwechselt
werden. Es geht nicht darum, die Länder zu bestrafen
oder gar abzustrafen, sondern darum, bestimmte Strukturen zu schützen.
Ich nenne hier als Beispiel die Auslieferung bzw. die
gegenseitige Anerkennung von Strafurteilen. Ich
denke, wir sind noch nicht so weit, dass wir Strafurteile
mit der erforderlichen Konsequenz der Auslieferung gegenseitig anerkennen können. Das gilt besonders für die
Bundesrepublik Deutschland; schließlich war die Auslieferung deutscher Bundesbürger jahrelang durch die
Verfassung schlicht und ergreifend verboten. Deswegen
ist es wichtig, dass wir diese Länder darauf hinweisen,
welchen Weg wir gegangen sind: Wir sind in der europäischen Integration einen Weg gegangen, auf dem wir
dieser Hoheitsrechte aufgegeben haben.
Ich habe aber auch noch gut genug - wie viele Kollegen hier im Hohen Hause - die Worte der Karlsruher
Richter zum Europäischen Haftbefehl in den Ohren.
Danach haben wir eben nicht nur das Recht, jemanden
innerhalb der EU auszuliefern, sondern auch die Pflicht,
darauf zu achten, wohin wir deutsche Bürger gegebenenfalls ausliefern. Dieser Karlsruher Richterspruch ist für
uns als Abgeordnete also auch eine Verpflichtung. Die
Fürsorgepflicht kennt keine zeitliche Zäsur. Wir haben
nicht nur das Recht, wir haben die Pflicht, dies zu tun.
Deswegen hat es mich persönlich sehr erstaunt, was
hier in den letzten Tagen seitens der Kommission zu hören war. Ich möchte hier einen Teil aus dem „Handelsblatt“ von vorgestern zitieren. Eine Sprecherin von Olli
Rehn erklärte:
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es unverhältnismäßig, die Schutzklauseln schon jetzt zu beantragen.
Und weiter:
Schutzklauseln könnten nur ausgelöst werden,
wenn es handfeste Beweise für politische oder juristische Probleme gebe. Bisher sei dies nicht der
Fall.
Ich denke, an dieser Stelle ist es wichtig, dass wir ehrlich miteinander umgehen. Was füllte denn den Fortschrittsbericht? Was waren denn die Schlüsse, die in
diesem Bericht gezogen wurden? Diese Schlüsse fußen
doch genau auf den Urteilen der Kommissionsvertreter
vor Ort, die diese Fälle aufgenommen und zur Grundlage ihrer Entscheidungen und Wertungen gemacht haben.
Mir sei der Hinweis gestattet, dass es uns zunächst befremdet, dass eine Sprecherin dem Bundestag mittelbar
mitteilt, dass Schutzklauseln gegenwärtig nicht geboten
sind. Ich denke, das ist kein angemessener Umgang der
Kommission mit dem Deutschen Bundestag.
({1})
Auch darauf darf man hinweisen: Wir vertreten immerhin 82 Millionen Bundesbürger.
Mir erscheint wichtig, hervorzuheben: Das muss auf
die Tagesordnung der Tagung des Rates im Dezember.
Es geht nicht um eine Diskriminierung dieser Länder. Es
geht in Wirklichkeit darum, dass wir keine Diskussion
über einen Beitritt zweiter Klasse führen möchten - ganz
im Gegenteil -, sondern darüber, dass es ein Reglement
gibt, dem auch die anderen Mitgliedstaaten unterworfen
sind. Auch wir als Bundesrepublik Deutschland haben
das erfahren müssen. Ich erinnere hier an das EU-Defizitverfahren. Erst der jetzigen Regierung ist es gelungen,
zu einer soliden Haushaltspolitik zurückzufinden, durch
die die Maastrichtkriterien eingehalten werden.
Mir scheint auch wichtig zu sein, einen Blick über
den Tellerrand hinaus zu wagen, also über 2007. Es
klang schon an, auch vom Kollegen Rainder Steenblock:
Wir brauchen hier einen verlässlichen institutionellen
Handlungsrahmen für die Europäische Union. Das bedeutet, wir müssen die Verfassung promovieren. Bevor
hier neue Zusagen gemacht werden können, gegebenenfalls sogar neue Beitrittsdaten in den Raum gesetzt werden, ist es wichtig, dass wir als Europäische Union
zunächst einmal handlungsfähig sind. Diese Handlungsfähigkeit schließt auch die Aufnahmefähigkeit ein, die
hier seitens des Kollegen Schockenhoff schon des Öfteren thematisiert wurde.
Es geht auch um den Blick auf andere Themen, auf
andere Regionen. Zum Januar 2007 werden hoffentlich
auch andere Themen auf die europäische Agenda kommen. Ich denke dabei im Rahmen der europäischen
Nachbarschaftspolitik beispielsweise an die Republik
Moldau. Von uns kaum wahrgenommen, gibt es dort
dramatische Veränderungen. Nach dem russischen Handelsembargo vom März dieses Jahres sind viele landwirtschaftliche Güter nicht mehr absetzbar. Es entsteht
Arbeitslosigkeit. Zeitgleich wurden die Energiepreise
zum 1. Juli des Jahres 2006 erhöht. Eine weitere Erhöhungswelle zum 1. Januar 2007 ist bereits angekündigt.
Warum erwähne ich das? Ich erwähne das nicht nur,
weil 600 000 Rentner in der Republik Moldau sich die
steigenden Energiepreise nicht mehr werden leisten können, sondern vor allem auch, weil die eigentliche Ursache, nämlich die Öffnung der Republik Moldau in Richtung des Westens, zu dieser Abstrafung durch Russland
geführt hat. Diese Themen rücken - Gott sei Dank - näher an uns heran. Die Menschen in den betroffenen
Regionen haben es verdient, dass wir uns auch dieser
Probleme annehmen,
({2})
vom Transnistrienkonflikt ganz zu schweigen.
Europa wird nach dem Beitritt von Rumänien und
Bulgarien nicht nur bunter, sondern auch interessanter.
Im Hinblick auf eine Stabilität, an der wir alle interessiert sein müssen, wird immer wichtiger, dass wir als
Europäische Union an außenpolitischer Bedeutung gewinnen. Hier sehe ich persönlich den größten Handlungsbedarf, dem wir letztlich gerecht werden müssen,
damit wir im Gleichklang der Mächte weltweit bestehen
können.
Nochmals: Herzlich willkommen, auch von unserer
Seite, Bulgarien und Rumänien! Wir freuen uns auf den
Beitritt und wir freuen uns auf den 1. Januar 2007.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Diether Dehm, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte gleich am Anfang sagen: Herzlich
willkommen! Ich füge hinzu: Der Titel des Antrags
„EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen“ ist zwar schön, aber es wäre schöner gewesen, wenn
Sie diesen Antrag nicht gezielt an der Fraktion Die Linke
vorbei auf den Weg gebracht hätten. Wie Sie wissen,
stimmt unsere Fraktion dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zu, wie Herr Kollege Schäfer lobend hervorgehoben hat. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen ganz
besonders von CDU und CSU, wenn kein Grund zur
Konspiration besteht, brauchen Sie auch nicht zu konspirieren.
({0})
Statt heute hier mit einem gemeinsamen, aufeinander abgestimmten Antrag aller Fraktionen dieses Hauses ein
kraftvolles Zeichen nach Europa zu setzen, haben Sie
parteipolitischen Kleinmut vorgezogen.
({1})
Sicher: Wir hätten Ihnen gern den ersten Absatz, dieses völlig unrealistische und überschwängliche Lob, geändert, wonach „Frieden, Wohlstand und neue wirtschaftliche Dynamik und politische Stabilität“ mit der
EU-Erweiterung 2004 erfolgt seien. Herr Kollege
Schäfer war, als er die Ängste der Menschen benannt
hat, etwas realistischer. Durch Schönfärberei erreichen
wir keine neue Akzeptanz für Europa.
({2})
- Weil ihr wusstet, selbstverständlich! Aber die Prophezeiung kam nicht von den Kollegen der SPD, sondern
von denen der CDU/CSU. Ich weiß, Herr Kollege
Benneter, dass Sie etwas prognostischer sind.
Am Schluss des Antrags wird der vorauseilende Ratifizierungsgehorsam Bulgariens und Rumäniens als
„neuer Impuls zur Wiederbelebung des Verfassungsprozesses“ gelobt. Als ob Unterwerfung unter einen gescheiterten Verfassungstext zwingend für den Beitritt gewesen wäre - etwa unter das Aufrüstungsgebot und den
Wettbewerbskannibalismus.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, finden Sie
sich damit ab: Dieser Verfassungsvertragstext ist endgültig gescheitert. Sackgassen werden auch durch Dauerbeschwörung nicht zu Durchfahrtsalleen!
({3})
In diesem Sinne bitte ich auch die Bundesregierung
noch einmal ausdrücklich: Verplempern Sie die Zeit der
deutschen Ratspräsidentschaft nicht damit, den Bürgerinnen und Bürgern Blähungen des gescheiterten Verfassungsvertrags ständig als Eau de Cologne verkaufen zu
wollen.
({4})
Er ist gescheitert. Arbeiten Sie mit an einer Alternative
für einen Text, mit dem wir uns nicht vor einer Volksabstimmung zu fürchten brauchen.
Sicherlich können Passagen aus dem vorliegenden
Text übernommen werden, aber die Europäische Union
braucht eine bessere Verfassung, die - Frau Kollegin
Kastner, jetzt hören Sie genau zu - nicht an den Rüstungsmärkten und den Finanzmärkten, sondern an den
Grundelementen unseres Grundgesetzes orientiert ist.
Das ist das Entscheidende. Wir ringen darum, die Elemente des Grundgesetzes in eine europäische Verfassung
zu übernehmen.
({5})
Dafür werden Ihnen die Fraktion Die Linke, Gregor
Gysi und Oskar Lafontaine, in Kürze Grundelemente eines alternativen Verfassungsentwurfs vorlegen.
({6})
- Ich freue mich über die allumfassende Unruhe. Vielleicht haben Sie doch richtig gehandelt, als Sie bei diesem Antrag auf uns verzichtet haben. Bestimmte kritische Fragen wollen Sie nicht hören.
Welches Volk außer den Spaniern und Luxemburgern
durfte wirklich direkt darüber abstimmen? Noch nicht
einmal Deutschland - das verschweigen Sie immer - hat
ratifiziert. Bundespräsident Horst Köhler hat sich geweigert, den vorliegenden Text zu unterschreiben. Der Mann
hat noch ein Gespür für demokratische Hoheitsrechte,
was er auch bewiesen hat, als er das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung nicht unterschrieben hat.
({7})
- Ich bitte Sie, Frau Kastner. - Die Sozialdemokraten
unter den SPD-Leuten mögen ihren Kollegen sagen,
dass man deswegen nicht extra das Grundgesetz ändern
kann. Wir brauchen keine Verfassung nach Kassenlage.
Damit die Kassen durch die Privatisierung der Flugsicherung voller werden, können wir nicht das Grundgesetz ändern. Sagen Sie das einmal den Leuten, die jetzt
an die Presse gehen und fordern, wir sollten das Grundgesetz ändern, weil Bundespräsident Köhler nicht unterschrieben hat. Dazu kann ich nur sagen: Hände weg vom
Grundgesetz.
({8})
Ich frage hier: Welchem Europa treten Bulgarien und
Rumänien bei? Was alles wollen Sie noch privatisieren? Was alles gehört noch aus dem Verfügungsbereich
der Wählerinnen und Wähler heraus? Zu den horrenden
Managergehältern sagt Herr Kollege Hintze, den wir
letzte Woche 15 oder 20 Mal aus dem Plenum dazu befragt haben, das gehöre nur auf die Ebene der Märkte
und der Chefetagen der Konzerne. Wenn es denn so ist,
wenn am Ende unser Staat und die Steuerzahler die Bundeswehr oder europäische Battle-Groups nur noch finanzieren sollen, um den Energiekonzernen die sprudelnden
Ölquellen zu sichern, ist zu fragen: Warum privatisieren
wir dann nicht die Bundeswehr und integrieren sie in den
Werkschutz von Vattenfall, Eon und RWE? Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, die Frage muss doch erlaubt
sein: Wie verfasst ist diese EU und in welche EU laden
wir Rumänien und Bulgarien ein, um sie willkommen zu
heißen?
Wir hören: Großbritannien und Irland haben pünktlich zu den Neuaufnahmen die Arbeitsmärkte reguliert;
mein Kollege Hakki Keskin hat schon dazu gesprochen.
Zusammen mit der Tatsache, dass seit der letzten Erweiterungsrunde die Mittel für neue EU-Mitgliedstaaten
mehr und mehr runtergefahren worden sind, stellt sich
doch der Eindruck ein, dass Integration eine Einbahnstraße wird. Export- und Investitionsinteressen: ja; entsprechende Mittel bereitstellen: nein.
Europa muss aber scheitern, wenn es nur zu einer gigantischen und seelenlosen Freihandelszone würde, in
der alles - von Gesundheit und Bildung bis zur Energieund Wasserversorgung - privatisiert, der Zivilisation
entzogen und den Konzernen einverleibt wird.
({9})
Nicht die Linke, nicht das Nein aus Frankreich und
den Niederlanden, womit der Verfassungstext gescheitert ist, übt Verrat an der antifaschistischen, aus den
Trümmern von 1945 hervorgegangenen großen europäischen Idee.
({10})
Die Verfechter und Profiteure einer neoliberalen, autoritären und militaristischen EU, das sind die wahren
Feinde Europas!
({11})
Wir sagen Ihnen: Haben Sie wieder Mut zum Grundgesetz! Haben Sie Mut dazu, mit dem Angriffskriegsverbot und der Sozialbindung des Eigentums eine neue Verfassung zu gestalten, einen neuen Text zu entwerfen!
Dann können wir gemeinsam dafür werben. Haben Sie
mehr Mut zur Demokratie, dass ein gutes Europa blühe!
Es blüht von unten gegen oben hin.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Meckel, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem ich die Debatte bisher erlebt habe,
wollte ich eigentlich sagen, dass ich sehr froh bin über
diese Debatte und insbesondere über den einhelligen
Grundtenor, den man sich noch vor einem Jahr oder eineinhalb Jahren kaum hätte vorstellen können,
({0})
nämlich dass im Deutschen Bundestag ein einhelliges
Willkommen ausgesprochen wird. Ich möchte mich diesem Willkommen anschließen.
({1})
Natürlich müssen wir sehen - das gehört zur Arbeit
im Deutschen Bundestag dazu -, dass es da auch Misstöne gibt; das wird in Europa auch künftig so sein. Herr
Dehm, Sie haben uns so etwas hier vorgeführt. Ihr Bild
von Europa muss man nicht teilen. Aber es darf auch das
ausgesprochen werden, was von anderen nicht geteilt
wird.
({2})
Dass Europa so ist, ist, denke ich, gerade das Ergebnis
der großen Erfahrung, die diese Staaten, Rumänien und
Bulgarien, mit mir und vielen anderen hier im Raum teilen, die selbst noch Diktatur erlebt haben und die dann
erfahren haben, dass in einer freien Gesellschaft Pluralität und das Aussprechen von Unsinnigem möglich
sind. Eine solche freie Gesellschaft gibt es jetzt glücklicherweise auch in Rumänien und Bulgarien.
({3})
Für mich, der ich jenseits des Eisernen Vorhangs aufgewachsen bin - das kann man in diesem Hause wirklich
sagen; denn das „jenseits“ begann wenige Meter von
diesem Haus entfernt -, waren Rumänien und Bulgarien
der Teil Europas, der zugänglich war. So hatte ich zu einer Zeit, zu der andere woandershin in Europa gefahren
sind, vor mehr als 30 Jahren, die Möglichkeit, diesen
Teil Europas kennen zu lernen. Ich bin sehr dankbar dafür; denn ich hatte dadurch die Chance, den langen und
schweren Entwicklungsweg zu sehen, den diese Länder
gegangen sind; man war sich ja dessen bewusst, welche
Last sie zu tragen hatten.
Dabei muss immer wieder klar sein: Dies ist ein alter
Teil Europas. Diese Länder repräsentieren einen Teil unseres europäischen Erbes. Wer von uns hat schon im
Bewusstsein, dass in der Zeit des 30-jährigen Krieges,
als man sich sonst in ganz Europa in Religionsfragen in
die Haare bekam und viel Blut floss, etwa Siebenbürgen
ein Ort der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Konfessionen und Religionen
war, was wir nur nachträglich noch bewundern können?
Wer ist sich dessen bewusst, dass die nationale Identität
Bulgariens als geistiges Erbe über einen elendig langen
Zeitraum nur im Kloster überleben konnte? Erst nach
dem Erringen nationaler Selbstständigkeit war es möglich, als bulgarisches Volk und als bulgarischer Staat aufzutreten. Bulgarien liegt in einem Teil Europas, der besonders gelitten hat. Das gilt insbesondere für die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Manchmal hat man die Tatsache, dass Ceausescu ein
schlimmer Diktator war, in Europa und insbesondere in
den USA vergessen, nur weil er gegenüber der Sowjetunion kritisch war. Bis in die späten 80er-Jahre hinein
gab es eine Meistbegünstigungsklausel zwischen Rumänien und den USA, nach dem Motto: Der Feind unseres
Feindes ist unser Freund. Inzwischen haben wir alle aber
hoffentlich gelernt, dass wir genauer hinschauen müssen, was in einem Land passiert, weil man sonst später
furchtbare Entdeckungen machen kann und man feststellt, dass man auf ein falsches Pferd gesetzt hat. Wir
müssen uns deutlich machen, dass hier ein schweres
Erbe zu tragen war, das man in einem sehr schwierigen
Transformationsprozess in wesentlichem Umfang beseitigt hat.
Ich bin davon überzeugt - das ist schon gesagt worden -, dass die Transformation auch in Zukunft
schwierig sein wird. Schauen wir nach Polen, nach Ungarn und in die Tschechische Republik, auf die Musterschüler unter den neuen Mitgliedern: In Anbetracht innenpolitischer Wirrungen und Diskussionen kann man
feststellen, dass die politische Stabilität manchmal nicht
in dem Maße gewährleistet werden kann, wie wir es uns
für diese europäischen Partner wünschen.
Die Demokratisierungs- und Transformationsprozesse finden dort nämlich unter viel schwierigeren Bedingungen als in Deutschland nach dem Nationalsozialismus statt. Die Demokratisierung Deutschlands war
nämlich mit einem Wirtschaftswunder verbunden, welches allen half, Demokratie toll zu finden, weil es allen
besser ging. Großen Teilen der Bevölkerung Rumäniens
und Bulgariens geht es nicht besser. Dies führt zu den
Schwierigkeiten im Transformationsprozess. Es ist richtig, dass die Defizite klar benannt werden, dass man die
Institutionen der Europäischen Union schützt. Es ist
ebenfalls klar, dass man dabei Hilfe braucht. Vieles ist
aber schon geleistet worden.
Ich komme zu einem Aspekt, von dem viele glauben,
er betreffe nur Osteuropa: die Minderheitenpolitik.
Darüber gibt es, wie wir wissen, in Rumänien und Bulgarien noch so manche Diskussion. Es ist aller Anerkennung wert, wie weit diese beiden Staaten bei den Bemühungen, Sicherheit und Stabilität für Minderheiten zu
gewährleisten, gekommen sind.
({4})
Zur Frage der Minderheiten, die für uns beim Beitritt ein
entscheidendes Kriterium war, kann man sagen: Gerade
in diesen Ländern gibt es eine lange Tradition des Zusammenlebens verschiedener Kulturen, Völker, Nationalitäten und Minderheiten.
Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Kommissionspräsident Barroso einen der beiden neuen Kommissare mit einer Aufgabe in diesem Bereich betrauen
würde. Er könnte einen Minderheitenkommissar damit
beauftragen, Minderheiten zu unterstützen und ihre
Rechte zu schützen. Wie wir alle wissen, brauchen die
Minderheiten Unterstützung, und zwar nicht nur in Rumänien und Bulgarien, sondern auch in Ungarn und in
der Slowakei. Sie haben in Europa das Problem der Integration der Roma gemein. Wir erleben, dass auch andernorts, in Westeuropa, etwa in Spanien oder in Nordirland, die Frage der Minderheiten immer wieder eine
Rolle spielt. Deshalb glaube ich, dass dies durchaus ein
wichtiges europäisches Thema ist, das in Europa seinen
Platz haben sollte.
Vor dem Hintergrund der regionalen Stabilität
möchte ich darauf hinweisen, welch ein Gewinn beide
Länder für die Europäische Union sind. Rumänien und
Bulgarien als Länder des Balkans haben bei der Stabilisierung in den Krisen und Kriegen auf dem Balkan eine
riesengroße Rolle gespielt. Sie haben, als wir Sanktionen
verhängt haben, manche Last tragen müssen. Beide Länder sind ein wichtiger Stabilitätsfaktor für die Entwicklung auf dem westlichen Balkan. Wir sollten die Erfahrungen beider Länder in diesem Prozess intensiv nutzen.
Ein anderer Aspekt ist die Schwarzmeerzusammenarbeit. Das ist für die Europäische Union, die auch in den
Bereichen des Mittelmeers und der Ostsee zusammenarbeitet, ein bedeutendes neues Feld, gerade angesichts der
schwierigen Lage etwa im Südkaukasus. Ich denke, mithilfe von Rumänien und Bulgarien, die hier sicherlich
Wichtiges beitragen können, können wir uns dieser außenpolitischen Arbeit widmen.
({5})
Meine Damen und Herren, „Jetzt wächst zusammen,
was zusammengehört“, hat Willy Brandt vor etwa
17 Jahren nicht weit von hier gesagt. Wir wissen, dass er
Recht hatte und dass der Mauerfall ein Symbol für diesen Prozess war. Ich glaube, dass diese Formulierung
auch für die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in die
Europäische Union gilt. Alte europäische Völker gehöMarkus Meckel
ren nun zur Europäischen Union. Wir werden gemeinsam unseren Weg gehen. Mit diesen Ländern haben wir
- es ist schon angesprochen worden - Verbündete auf
dem Weg zu einer stärkeren Integration und zu einer
Verfassung, wie wir sie in Europa dringend brauchen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigen Debatte
und Beschlussfassung wird der letzte Akt der bisher
größten Erweiterungsrunde der Europäischen Union in
diesem Haus abgeschlossen. Es ist richtig, dass wir heute
mit großer, überzeugender Mehrheit den Beitritt von Rumänien und Bulgarien beschließen. Richtig war es aber
auch, dass die beiden Länder erst einmal abgekoppelt
wurden: Als zum 1. Mai 2004 zehn Länder aus Mittelund Osteuropa in die Europäische Union aufgenommen
wurden, waren diese beiden Länder nicht dabei. Genauso richtig ist es jetzt allerdings, diese beiden Länder
in die Europäische Union zu integrieren.
({0})
Damit wird die Trennung durch den Eisernen Vorhang und den Kalten Krieg in der Zeit des kommunistischen Ostblocks zwischen uns und dem östlichen Balkan
endgültig aufgehoben. Diesen historischen Zusammenhang und diese geschichtliche Dimension gilt es an dieser Stelle entsprechend zu würdigen und zu betonen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist richtig, dass Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007
Vollmitglieder der Europäischen Union werden. Der
Beitritt ist im deutschen Interesse. Beide Länder gehören
zu Europa; sie sind Bestandteil des abendländisch-christlich-jüdischen Kulturraums. Beide Länder, sowohl Rumänien als auch Bulgarien, haben hervorragende Beziehungen zu Deutschland. Diese Beziehungen haben sich
in den vergangenen 16 Jahren noch erheblich intensiviert
und stabilisiert. Beide Länder sind wichtige Handelspartner für Deutschland. In den letzten fünf Jahren
haben die Exporte aus beiden Ländern, aber auch die Importe in diese Länder erheblich zugenommen. Mittlerweile ist Rumänien, was die Einfuhren anbelangt, der
24.-wichtigste Handelspartner für Deutschland und Bulgarien der 40.-wichtigste.
In beiden Ländern - ich glaube, auch das gilt es an
dieser Stelle zu erwähnen - gibt es eine hohe Affinität
gegenüber Deutschland.
({1})
Deutschland und die deutsche Bevölkerung sind in beiden Ländern, in Bulgarien und Rumänien, hoch angesehen. In Rumänien gibt es nach wie vor eine stattliche
deutsche Minderheit, zu der sich 60 000 Menschen bekennen. Sie sind dort hervorragend integriert und ein
wichtiger Bestandteil der Zivilgesellschaft in Rumänien.
({2})
Aber ebenso ist es richtig - das liegt auch im deutschen Interesse -, dass wir da, wo es angebracht ist, den
Finger in die Wunde legen. Es ist schon die noch nicht in
vollem Umfang umgesetzte Arbeitnehmerfreizügigkeit
angesprochen worden. Diese Einschränkung bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit liegt durchaus im Interesse unseres Arbeitsmarktes. Ebenso richtig ist es, dass gemäß
Art. 38 der Beitrittsurkunde Schutzklauseln im Bereich
des Justizwesens und im Bereich des Inneren implementiert werden.
Ich möchte darauf hinweisen, dass dies in keiner
Weise ein unfreundlicher Akt gegenüber den beiden
Ländern ist. Diese Schutzklauseln bedeuten auch nicht,
dass sie Mitglieder zweiter Klasse werden. Ferner bedeuten sie keine Verschlechterung im Vergleich zum Status quo dieser Länder. Es liegt aber durchaus im deutschen Interesse - dieses zu wahren, sind wir gewählt -,
die innere Sicherheit in Deutschland zu gewährleisten
und Schaden von Deutschland und für deutsche Staatsbürger abzuwenden.
({3})
Ich sehe die Implementierung der Schutzklauseln
zum 1. Januar 2007, also zum Tag des Beitritts, durchaus
als Chance und als Ansporn für die beiden Länder an,
die vorhandenen Defizite und die noch existierenden
Mängel möglichst schnell zu beseitigen. Diese Mängel
sind offenkundig vorhanden. Der Monitoring-Bericht
der Kommission vom 26. September 2006 hat es deutlich offenbart: Die organisierte Kriminalität ist nach
wie vor ein großer Malus in beiden Ländern. Es gibt gerade in Bulgarien eine erhebliche Anzahl von Auftragsmorden. Es kann nicht hingenommen werden, dass beispielsweise die beiden Auftragsmorde, die im August in
Bulgarien verübt wurden, noch nicht aufgeklärt worden
sind. Insgesamt gesehen sind erst sehr wenige Auftragsmorde aufgeklärt und es ist noch zu keiner einzigen Verurteilung wegen dieser Verbrechen gekommen.
({4})
Auch die Korruption ist in beiden Ländern nach wie
vor ein außerordentlich großes Übel. Ich möchte überhaupt nicht negieren, dass es in den letzten Jahren große
Fortschritte gab. Dass beide Länder enorme Anstrengungen unternommen haben, um sich in diesem Bereich zu
verbessern, möchte ich ebenfalls nicht unter den Teppich
kehren. Aber immer noch ist Korruption sowohl auf hoher staatlicher Ebene als auch auf kommunaler und unterer Ebene vorhanden.
Nach wie vor ist es ein Faktum, dass die Haftbedingungen sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien unzulänglich und daher sehr verbesserungsbedürftig sind.
({5})
Stephan Mayer ({6})
Der bayerische Ministerpräsident hat deshalb Recht,
wenn er sagt, er möchte keinen deutschen Staatsbürger
in einem rumänischen oder bulgarischen Gefängnis sehen.
Auch im Bereich der Bekämpfung der Geldwäsche
weist vor allem Bulgarien noch erhebliche Defizite auf.
Die europäischen Bestimmungen zur Bekämpfung der
Geldwäsche sind nach wie vor noch nicht endgültig umgesetzt worden. Es besteht weiterhin die Notwendigkeit,
darauf hinzuwirken, dass in beiden Ländern ein effizientes und transparentes Justizwesen aufgebaut wird.
({7})
Ich nenne in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit der Richter und eine einheitliche Rechtsanwendung.
Es ist ein wichtiger Rechtsstaatsgrundsatz, dass in jedem
Amtsgericht in Rumänien und Bulgarien, so weit es auch
von der Hauptstadt entfernt sein möge, die gleichen
rechtlichen Maßstäbe angewendet werden. Dazu gehört
ebenso eine konsequente und kompetente Strafverfolgung. In diesem Bereich gab es in den letzten Jahren
Verbesserungen. Aber auch hier sind wir noch nicht am
Ende der Fahnenstange angelangt.
Die Inkraftsetzung der Schutzklauseln ist unbedingt
erforderlich, und zwar zum Zeitpunkt des Beitritts.
({8})
Die Diskussion darüber kommt mir teilweise folgendermaßen vor: Jemand bringt sein Auto zum TÜV und der
Mitarbeiter des TÜVs macht ihn auf bestimmte Mängel
und Defekte aufmerksam. Manche Defekte sind vielleicht sogar so erheblich, dass die Fahrtauglichkeit gefährdet ist. Trotzdem kann der Besitzer des Wagens weiterfahren. Er soll nur in drei oder sechs Monaten
wiederkommen und dann will man weiterschauen. Dies ist nicht hinnehmbar.
({9})
Mein lieber Kollege Schäfer, ich möchte Sie darauf
hinweisen, dass im Bayerischen Landtag die SPD-Fraktion am 28. September einem Dringlichkeitsantrag einstimmig zugestimmt hat. In diesem Antrag wird verlangt, dass die Schutzklauseln im Bereich des Inneren
und des Justizwesens zum Zeitpunkt des Beitritts implementiert werden.
({10})
Die deutsche Wirtschaft möchte gerne in beiden Ländern investieren. Die deutschen Bürger möchten gerne in
diese beiden Länder reisen. Voraussetzung dafür ist aber,
dass sie Vertrauen in die dortigen Strukturen haben können. Da gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf.
({11})
Vor diesem Hintergrund möchte ich einen Satz über
das verlieren, was die Sprecherin des EU-Erweiterungskommissars Olli Rehn gestern von sich gegeben hat.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen,
Sie haben Ihre Redezeit schon überzogen.
Gerne, Herr Präsident. - Sie meinte uns darauf hinweisen zu müssen, dass die Kommission eine Implementierung der Schutzklauseln derzeit für unangemessen
hält. Dies ist ein eklatanter Akt der Arroganz und der
Bürgerferne,
({0})
ein Ausdruck einer undemokratischen und abgehobenen
Gesinnung.
({1})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir machen uns hier häufig Gedanken darüber, wie
Europa bürgerfreundlicher werden kann. Europa muss
bürgerfreundlicher werden. Deswegen ist es unabdingbar, dass die Schutzklauseln angewendet werden.
Wir freuen uns auf den Beitritt von Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007. Damit ist ein wichtiger
Meilenstein erreicht. Das Rennen geht aber noch weiter.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen über den von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom
25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union ab. Der Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3155, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen verlangt na-
mentliche Abstimmung. Zu dieser Abstimmung liegen
14 Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor.1) Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist
jetzt der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre
Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Ab-
stimmungen fort.
1) Anlagen 2 bis 4
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3155 empfiehlt der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Anpassung von Rechtsvorschriften
des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union. Der Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3147, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2. Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3090 mit
dem Titel „EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum
Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373
({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/3150 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Frank-Walter Steinmeier das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es ist
wahr: Gut fünf Jahre nach den Anschlägen in New York
und Washington steckt der Kampf gegen den internationalen Terrorismus in einer schwierigen Phase. Viele
Staaten unternahmen gemeinsam erhebliche Anstrengungen, um die Mitglieder, Anhänger und Hintermänner
von al-Qaida zu fassen und weitere Anschläge - auch in
Deutschland - zu verhindern. Dabei haben wir alle verfügbaren rechtsstaatlichen Kräfte und Mittel eingesetzt:
politische, militärische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische, gesetzgeberische, polizeiliche und geheimdienstliche.
Die Bilanz ist nach fünf Jahren in der Tat durchwachsen. Wir haben mehrere Anschlagsversuche in Deutschland verhindert. Anschläge konnten vereitelt werden.
Mit Glück und aufgrund unserer Eigenanstrengungen
sind wir von solchen Anschlägen verschont geblieben,
wie sie in Spanien, Großbritannien, Indien, Indonesien,
Jordanien, Pakistan, Russland, Marokko und Saudi-Arabien stattgefunden haben.
Auch wenn wir verschont geblieben sind, müssen wir
feststellen: Die Bedrohung durch die al-Qaida ist nicht
beseitigt. Von Maghreb über das Horn von Afrika und
die Arabische Halbinsel bis zum Nordkaukasus und nach
Afghanistan bestehen lokale und regionale Strukturen
dieses Terrornetzwerkes fort. Es findet immer neue
Wege und Kanäle, um seine menschenverachtenden,
hassgetränkten Botschaften zu verbreiten. Die Perspektivlosigkeit in manchen Regionen, aber auch die Faszination des Bösen verschafft den Terroristen immer wieder den Zulauf einiger Versprengter.
Damals, unter dem Eindruck der eingestürzten Türme
des World Trade Centers, haben alle - ich betone: alle politischen Kräfte in Deutschland dem internationalen
Terrorismus den Kampf angesagt.
Manche haben eingewendet, dass Soldaten allein kein
Mittel gegen Terrorismus sind. Aber das hat auch keine
Bundesregierung behauptet und ich sehe auch keinen in
den Bundesregierungen der letzten Jahre, der nach einer
solchen auch aus meiner Sicht falschen Maxime gehandelt hätte. Im Gegenteil, wir haben damals schon gesagt:
Der Kampf erfordert einen langen Atem, er wird auch
uns Opfer abverlangen und er wird auch unsere Freiheit
strapazieren und er wird zu einer Probe unserer Zähigkeit und unserer Geduld werden.
Ich will deshalb heute daran erinnern, weil ich den
Eindruck habe, dass bei manchen mit der Zeit die Erinnerung an den Ausgangspunkt und die Realität der damaligen Bedrohung, die heute noch aktuell ist, verblasst.
Ganz sicher müssen wir heute, nach fünf Jahren, Erfolge
und Misserfolge unserer und der gemeinsamen, interna5868
tionalen Strategie offen diskutieren. Aber eines dürfen
wir ganz sicher nicht: Wir dürfen dem Terrornetzwerk
al-Qaida nicht vermitteln, dass wir den Kampf gegen
seine verbrecherischen Pläne und Strategien aufgeben.
({0})
Wenn ich das sage, füge ich genauso hinzu: Die internationale Staatengemeinschaft darf ebenso wenig darin
nachlassen, die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände zu bekämpfen, die das Entstehen
von Terrorismus erst begünstigen. Denn nur so können
wir den Drahtziehern und Hintermännern die Grundlage
ihres Tuns entziehen. Wir, die Bundesregierung, haben
von Anfang an auf diesen ganzheitlichen Ansatz gesetzt.
Ich freue mich darüber, dass dieser Ansatz - heute Morgen wurde es schon erwähnt - auch innerhalb der NATO
mittlerweile als beispielhaft angesehen wird.
Vor drei Wochen hat der Bundestag mit großer Mehrheit das Bundeswehrmandat für den Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe, ISAF, in Afghanistan verlängert. Diese Mission - ich habe es
damals begründet - ist ganz sicher unverzichtbar, um die
Sicherheit zu schaffen, die für den Wiederaufbau
Afghanistans erforderlich ist; das ist der Auftrag von
ISAF.
Ich komme zurück auf das vorhin Gesagte: Militärische Mittel als eines der Instrumente internationaler
Politik bleiben unverzichtbar. Im Kampf gegen radikale
und ideologisch unbeugsame Terroristen können wir auf
sie nicht verzichten. Deshalb sind die Operation „Enduring Freedom“ und die NATO-Einsätze im Mittelmeer
im Rahmen der Operation „Active Endeavour“ weiterhin
ein angemessener und ein notwendiger militärischer Beitrag. Die Bundesmarine patrouilliert im Rahmen der
Operation „Enduring Freedom“ am Horn von Afrika, um
Terroristen den Zugang zu Rückzugsgebieten zu verwehren, um Verbindungswege zu beschneiden. Gleichzeitig schützen unsere Soldaten diese strategisch wichtige Seepassage vor terroristischen Anschlägen. Das
gleiche Ziel verfolgen deutsche Marinesoldaten im Mittelmeer im Rahmen der Operation „Active Endeavour“.
Bei Bedarf ermöglicht das Mandat auch den Einsatz
von Spezialkräften der Bundeswehr; dieser Einsatz
wird hier im Parlament und in der Öffentlichkeit zurzeit
lebhaft diskutiert. Ich kann Ihnen versichern: Natürlich
bin auch ich der Meinung, dass die Vorwürfe, die den
Einsatz der KSK in Kandahar zu Beginn des Jahres 2002
betreffen, sorgfältig aufgeklärt werden müssen, um mögliche Verfehlungen eindeutig festzustellen und sie konsequent ahnden zu können, aber auch, um Vorwürfe, die
sich als unberechtigt erweisen, aus der Welt zu schaffen.
Das sind wir der Bundeswehr schuldig und das ist eine
Verpflichtung, die ich auch als Ergebnis unseres rechtsstaatlichen Verständnisses selbst ansehe.
({1})
Gleichzeitig möchte ich ausdrücklich feststellen, dass
die KSK und die anderen Soldaten der Bundeswehr im
Einsatz Außerordentliches leisten. Einzelne Vorfälle wie
die im Zusammenhang mit den abstoßenden Bildern, die
heute Morgen zu Beginn der Debatte über das Weißbuch
zu Recht in den Mittelpunkt gerückt worden sind, dürfen
die Bundeswehr nicht in ein falsches Licht rücken. Unsere Soldaten machen in Afghanistan und in anderen
Einsatzgebieten einen risikoreichen Job. Wir alle miteinander wissen: Die Bundeswehr ist keine rücksichtslose
Truppe. Im Gegenteil, sie ist - ich glaube, ich darf das
sagen - eine der zivilsten Armeen der Welt ist. Deshalb
hat sie Anspruch auf unser Vertrauen.
({2})
Die Bundesregierung hat dem Parlament zugesagt,
künftig offener über die Auslandseinsätze der KSK zu
unterrichten. Ich darf Ihnen versichern: Niemand in der
Bundesregierung will den Abgeordneten die gesetzlich
verankerte Kontrollfunktion nehmen. Es gibt keine
Strategie der Abschottung
({3})
- nehmen Sie das bitte ernst -,
({4})
sondern lediglich besondere Sicherheitsbedürfnisse, auf
die jede Regierung in der Welt Rücksicht nehmen muss.
Ich gestehe Ihnen zu, dass über die Reichweite dieser Sicherheitsbedürfnisse im Einzelfall unterschiedliche Auffassungen bestehen, aber diese Sicherheitsbedürfnisse
gibt es.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich baue
auf eine breite Zustimmung für die Verlängerung des
Bundeswehrmandats für weitere zwölf Monate. Das
wäre ein starkes Zeichen für unsere Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz. Ich bin der Meinung, sie haben ein solches Zeichen verdient.
Vielen Dank.
({5})
Ich komme an dieser Stelle noch einmal zu Tagesordnungspunkt 7 a zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den
Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur
Europäischen Union bekannt: Abgegebene Stimmen
551. Mit Ja haben gestimmt 529, mit Nein haben zwölf
gestimmt und es gab zehn Enthaltungen. Damit ist der
Gesetzentwurf angenommen.
({0})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 551;
davon
ja: 529
nein: 12
enthalten: 10
Ja
CDU/CSU
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({10})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({11})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({12})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller
({13})
Stefan Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({15})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({16})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({17})
Ingo Schmitt ({18})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({22})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ernst Bahr ({23})
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({24})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Gernot Erler
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({26})
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({27})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({28})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({29})
Frank Hofmann ({30})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({31})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({33})
Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Detlef Müller ({34})
Michael Müller ({35})
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({36})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Ortwin Runde
({39})
Axel Schäfer ({40})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Silvia Schmidt ({41})
Heinz Schmitt ({42})
Carsten Schneider ({43})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
({44})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Gunter Weißgerber
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({45})
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({46})
Dr. Edmund Peter Geisen
Joachim Günther ({47})
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link ({48})
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({49})
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({50})
Volker Schneider
({51})
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Priska Hinz ({54})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({55})
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({56})
Omid Nouripour
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Josef Philip Winkler
fraktionslos
Nein
CDU/CSU
Dorothee Bär
Alexander Dobrindt
Maria Eichhorn
Ernst Hinsken
Alois Karl
Dr. Max Lehmer
Marlene Mortler
Henry Nitzsche
Franz Obermeier
Dr. Andreas Scheuer
FDP
Michael Kauch
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Peter Jahr
FDP
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Ina Lenke
Hans-Joachim Otto
({57})
Dr. Claudia Winterstein
DIE LINKE
Karin Binder
Heike Hänsel
Inge Höger-Neuling
Wir kommen zurück zu unserem jetzigen Tagesordnungspunkt und ich erteile der Kollegin Birgit
Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.
({58})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten hier heute den Antrag der Bundesregierung
über die Fortsetzung des Mandats betreffend die deutsche Beteiligung an der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus im Rahmen der Operationen „Enduring
Freedom“ und „Active Endeavour“. Dazu gehören sowohl der Einsatz in Afghanistan als auch der Einsatz der
deutschen Marine am Horn von Afrika und die NATOSeeüberwachungsaktion „Active Endeavour“ im Mittelmeer.
Schon in den vergangenen Jahren hat sich die FDP
die Sache bei einer solchen Entscheidung nicht leicht gemacht. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen:
Im Ernstfall kann das für die Soldatinnen und Soldaten
auch eine Entscheidung über Leben und Tod sein. Weil
das so ist, muss jede Einsatzentscheidung genau abgewogen werden. Es gibt keine Routineentscheidung.
Auch wenn es sich, wie jetzt, um die Verlängerung eines
Mandats handelt, muss im Einzelfall abgewogen werden. Die Bundesregierung muss wissen, dass das Parlament größte Sorgfalt und umfassende Unterrichtung erwartet.
({0})
Gerade in diesem Jahr fällt uns die Entscheidung über
die Verlängerung nicht leicht. Zwar wird die Mandatsobergrenze um 1 000 auf 1 800 Soldatinnen und Soldaten abgesenkt, womit die Bundesregierung einer jahrelangen Forderung der FDP nachkommt, den Umfang auf
eine realistischere Größe anzupassen. Wenn man allerdings weiß, dass für die Operation „Enduring Freedom“
derzeit ungefähr 650 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind, dann wird klar, dass bei der jetzt im Mandat
vorgesehenen Größenordnung weiß Gott immer noch
genügend Spielraum bleibt, um sich an aktuelle Erfordernisse anzupassen.
Bei dieser Mandatsverlängerung bereiten uns mehrere
Aspekte Bauchschmerzen:
Erstens betrifft das die Kontrolle der KSK-Einsätze.
Herr Minister, ich muss hier sagen: Die Unterrichtung
des Parlaments über diese KSK-Einsätze ist im Augenblick völlig unzureichend.
({1})
Es wird immer wieder angeführt, dass die Obleute informiert werden. Ich will hier nichts von dem preisgeben,
was man uns sagt, aber ich sage so viel: Das, was die
Obleute bei diesen Unterrichtungen erfahren, erlaubt
nicht die Kontrolle dieser Einsätze.
Deshalb wird die FDP einen Änderungsantrag zum
Parlamentsbeteiligungsgesetz einbringen, der ein Informationsrecht des Parlaments gegenüber der Bundesregierung normiert und die insbesondere bei KSKEinsätzen immer wieder erforderliche Geheimhaltung
garantiert. Das muss unter einen Hut gebracht werden.
Hierfür wollen wir einen Ausschuss für besondere Auslandseinsätze einrichten, der analog zum Parlamentarischen Kontrollgremium organisiert werden soll.
Ich halte es für dringend notwendig, dass das Parlament besser informiert wird. Herr Minister Steinmeier,
Sie haben gerade mehr Offenheit angekündigt, wenn Sie
das Parlament informieren. Das begrüße ich sehr. Wenn
Sie allerdings in dem Antrag der Bundesregierung zur
Verlängerung des Mandats angeben, der Deutsche Bundestag werde „entsprechend bisheriger Praxis“ unterrichtet, dann ist das Einzige, was zu Ihren Gunsten
spricht, die Zusicherung im nächsten Satz, dass das Verfahren mit den Fraktionsvorsitzenden abgestimmt werden soll. Denn bisher gilt sozusagen ein Gnadenrecht.
Die Bundesregierung lässt an dieser Stelle jede Sensibilität im Umgang mit dem Parlament vermissen. Es gibt
aber nicht nur ein Recht des Parlaments auf Information,
sondern auch die Pflicht der Bundesregierung zur Information des Parlaments.
({2})
Zweitens betreffen unsere Vorbehalte die im Raum
stehenden Vorwürfe, die Murat Kurnaz gegen das KSK
erhebt. Deswegen hat der Verteidigungsausschuss gestern beschlossen, sich als Untersuchungsausschuss zu
konstituieren. Die Vorwürfe sind nach wie vor ungeklärt
und bedürfen einer schnellen Aufklärung. Solange die
Anschuldigungen nicht bewiesen sind, gilt aber die Unschuldsvermutung. Sie gilt auch uneingeschränkt für unsere Staatsbürger in Uniform. Deswegen können die
Vorwürfe gegen das KSK allein kein Grund sein, der
Verlängerung des Mandats nicht zuzustimmen. Das
richte ich insbesondere an Herrn Kuhn von den Grünen.
({3})
Allerdings haben wir konkrete Fragen an die Bundesregierung. Es müssen konkrete Vorwürfe und grundsätzliche Fragen geklärt werden. Beispielsweise ist immer
noch die Frage offen, ob und, wenn ja, welche Regelungen für die Übergabe möglicher Gefangener deutscher
Herkunft gelten. Das sind strukturelle Fragen, die bis zur
Abstimmung über die Verlängerung des Mandats geklärt
werden können. Die Klärung dieser Fragen erwartet die
FDP-Bundestagsfraktion von der Bundesregierung.
Wenn wir alle Argumente abwägen, dann werden wir
auch zu berücksichtigen haben, dass es einen gewissen
Zusammenhang zwischen der Operation „Enduring
Freedom“ und dem gerade vom Deutschen Bundestag
verlängerten ISAF-Mandat gibt. In diesem Zusammenhang stellen sich mehrere Fragen. Es gibt zwar zwei getrennte Mandate, die aber immer mehr Gemeinsamkeiten haben. Ich denke zum Beispiel an die Operation
„Medusa“. Zudem erfolgt zum 1. Januar 2007 die Harmonisierung der Führungsstrukturen. Wie wird die Entwicklung weitergehen? Was plant die Bundesregierung
an dieser Stelle? Beide Fragen stehen in einem Zusammenhang. Auch hierüber erwarten wir Auskunft vonseiten der Bundesregierung.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, Frau Präsidentin.
Wir werden unsere Entscheidung auf der Grundlage
der Beratungen des Auswärtigen Ausschusses und des
Verteidigungsausschusses treffen. Es lohnt sich, unsere
Fragen zu beantworten, Herr Minister Steinmeier und
Herr Minister Jung. Sie müssen allerdings wissen, dass
es bei der Entscheidung der FDP-Bundestagsfraktion
keinen Automatismus geben wird.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Bundesminister Dr. Franz Josef Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung beteiligt sich seit
Ende 2001 an den Operationen „Enduring Freedom“ und
„Active Endeavour“. Das Bundeskabinett hat gestern die
Fortsetzung dieser Einsätze für weitere zwölf Monate
beschlossen.
Der Bundesaußenminister hat aus meiner Sicht zu
Recht darauf hingewiesen, dass die Gefahren des internationalen Terrorismus keineswegs als gebannt angesehen werden können. Ich denke nur an die im letzten
Moment vereitelten Anschläge auf US-Flugzeuge in
London in diesem Jahr oder an die fehlgeschlagenen
Kofferbombenanschläge hier bei uns in Deutschland.
Das zeigt, dass wir auch weiterhin herausgefordert sind
und deshalb unsere Aufgaben im Kampf gegen den internationalen Terrorismus wahrnehmen müssen.
Ich will unterstreichen, dass die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht primär eine militärische
Aufgabe ist. Vielmehr ist ein Gesamtansatz notwendig.
Dieser Kampf wird sowohl im politischen als auch im
polizeilichen Bereich als auch in anderen Bereichen mit
entsprechenden Mitteln geführt. Aber dort, wo es notwendig ist, leisten wir mit dem Einsatz militärischer
Mittel entsprechende Unterstützung.
Es ist notwendig, dass wir auch in Zukunft sowohl die
Operation „Enduring Freedom“ als auch die Operation
„Active Endeavour“ auf angemessene Weise fortsetzen.
Allerdings wird die mandatierte Truppenstärke von
2 800 auf 1 800 Soldatinnen und Soldaten reduziert. Die
Zusammensetzung soll wie folgt aussehen: 1 100 Seestreitkräfte, 100 Spezialkräfte, 200 Unterstützungskräfte,
200 Lufttransportkräfte und 200 Sanitätskräfte. Da die
Obergrenzen in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft
wurden, ist es sachgerecht, die Stärken anzupassen. Ziel
und Durchführung des Einsatzes bleiben aber unverändert.
Im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ sind
derzeit eine Fregatte, ein Versorger und ein Seefernaufklärer mit rund 330 Soldaten der Marine am Horn von
Afrika eingesetzt. Auf der Marinelogistikbasis in Dschibuti sind weitere 30 Soldaten stationiert. Allein im letzten Jahr wurden mehr als 2 380 Schiffe und Boote abgefragt und rund 180 Schiffe genauer überprüft. Dieser
Einsatz soll gewährleisten, dass Terroristen der Zugang
zu Rückzugsgebieten verwehrt wird und dass potenzielle
Verbindungswege abgeschnitten werden. Gleichzeitig
wird diese für den Welthandel strategisch wichtige Seepassage vor terroristischen Anschlägen beschützt.
Im Rahmen von „Active Endeavour“ sind wir im
NATO-Marineeinsatz am Kampf gegen den Terrorismus
im Mittelmeer beteiligt. Derzeit befindet sich die Fregatte „Emden“ mit 190 Marinesoldaten dort im Einsatz.
Hier wurden 1 375 Schiffe im letzten Jahr abgefragt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen
Hinweis geben. Sie wissen, dass dieser Einsatz auf Art. 5
des NATO-Vertrags - Bündnisfall - beruht. Dass sich
aber Russland noch in diesem Jahr an einem derartigen
Einsatz beteiligen wird, zeigt die Fortentwicklung der
Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Ich
halte es für einen wichtigen Prozess, dass sich Russland
im Rahmen partnerschaftlicher Beziehungen daran beteiligt.
({0})
Wir halten des Weiteren einen Airbus vom Typ A 310
und eine Challenger für eine luftgestützte medizinische
Notfallversorgung in Bereitschaft. Diese Kräfte haben
bereits wertvolle Unterstützung bei der Rückführung
verletzter ISAF-Soldaten geleistet. Schließlich umfasst
das Mandat 100 Spezialkräfte für die Beteiligung deutscher bewaffneter Kräfte im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Diese kamen in den vergangenen
Jahren gemeinsam mit amerikanischen, britischen, französischen und anderen Partnern in Afghanistan mehrfach zum Einsatz.
Da ich mit Verwunderung zur Kenntnis genommen
habe, was der eine oder andere Abgeordnete dieses Parlaments dazu gesagt hat, möchte ich klarstellen: Derzeit
ist kein einziger KSK-Soldat im Rahmen des OEFMandats im Einsatz.
({1})
Man sollte im Rahmen dieser Debatte mit diesem Thema
sachgerecht umgehen. Ich will zudem darauf hinweisen,
dass wir alle Anstrengungen unternehmen, um den Fall
Kurnaz sachgerecht und rückhaltlos aufzuklären. Es liegen uns Zwischenergebnisse vor und wir werden die Arbeit des Verteidigungsausschusses aktiv unterstützen.
Ich möchte hier aber auch unterstreichen, dass man
aus einer solchen Debatte keine falschen Rückschlüsse
im Hinblick auf den Einsatz der Spezialkräfte ziehen
sollte. Unsere Spezialkräfte sind einem Risiko für Leib
und Leben ausgesetzt und oft in einem sehr gefährlichen
Einsatz. Sie tun dies im Interesse unserer Sicherheit und
im Interesse der Sicherheit der deutschen Soldatinnen
und Soldaten. Sie haben deshalb unsere Unterstützung
verdient.
({2})
Dies sage ich auch im Hinblick auf den Einsatz in
Afghanistan, der nach dem 11. September 2001 dazu
beigetragen hat, dass Taliban zurückgedrängt und deren
Aktionsräume eingegrenzt worden sind, dass der Petersberger Prozess umgesetzt werden konnte und es in Afghanistan wieder eine Verfassung, einen gewählten Präsidenten und ein gewähltes Parlament gibt. Jetzt müssen
wir den Prozess der Stabilisierung und des Wiederaufbaus auf das gesamte Land ausdehnen. Unsere Soldaten
haben dazu beigetragen, dass im Zusammenhang mit
dem OEF-Mandat die Voraussetzungen dafür geschaffen
worden sind. Das sollte man im Rahmen einer solchen
Debatte ebenfalls nicht vergessen.
({3})
Gerade angesichts der angespannten Lage in Afghanistan wäre es aus meiner Sicht leichtfertig, wenn wir dieses Mandat nicht wieder verlängern würden und damit
auch in der Öffentlichkeit ein völlig falsches Signal gesetzt würde.
Über den Einsatz unserer Spezialkräfte wollen wir
möglichst offen informieren, dabei aber den Schutz und
die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im
Blick behalten.
({4})
Wir haben die Obleute des Verteidigungsausschusses informiert und werden morgen die Obleute des Auswärtigen Ausschusses unterrichten. Wir haben im Antrag zur
Verlängerung des Mandats ausdrücklich zum Ausdruck
gebracht, dass wir in Übereinstimmung mit den Fraktionsvorsitzenden die Frage der künftigen Unterrichtung
festlegen wollen. Ich habe gestern nach dem Beschluss
des Kabinetts die Fraktionsvorsitzenden zu einem Gespräch eingeladen, um über ein klares Verfahren zu sprechen, das sicherstellt, dass die Information des Parlaments objektiv und gut gewährleistet ist, aber auch der
Schutz und die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im Auge behalten werden.
Es ist wichtig und notwendig, dass wir dieses Mandat
um zwölf Monate verlängern. Wenn wir Krisen und
Konflikten rechtzeitig dort begegnen, wo sie entstehen,
dann dient dies dem Schutz und der Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger. Deshalb bitte ich darum, dass
Sie einer solchen Mandatsverlängerung zustimmen. Im
Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
ist es notwendig und wichtig, dass sich Deutschland weiterhin am Kampf gegen den Terrorismus aktiv beteiligt.
Deshalb bitte ich Sie um ein überzeugendes Votum für
die Verlängerung dieses Mandats.
Ich danke Ihnen.
({5})
Monika Knoche hat das Wort für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Ich will es ohne Umschweife sagen: Die Position der Linken zu dem Antrag der Regierung ist: Die
Teilnahme am Krieg gegen Terror ist ein Fehler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
({0})
Nach dem 11. September 2001 hatten sich die PDS, eine
SPD-Frau und acht grüne Abgeordnete als Minderheit
dieser militärischen Antwort auf die politische Frage,
wie mit dem Terror umzugehen ist, verweigert. Nach
fünf Jahren Operation „Enduring Freedom“ und ISAF
sowie indirekter Unterstützung des Irakkriegs haben wir
nichts davon zurückzunehmen.
Jetzt sind die unerträglichen Vorgänge, der Fall Murat
Kurnaz und die Totenschändung in Afghanistan, bekannt
geworden. Die Totenkopfspiele der Soldaten - es fällt
mir schwer, mir dieses Bild vor Augen zu führen - und
die sexualisierte Gewaltinszenierung mit entblößtem
Glied zeugen von einem Wesen der Gewalt, das männlichkeitskultischen Ritualen folgt. Sie werden von Gewalttaten in Abu Ghureib übertroffen. Eines aber sind
sie vor allem nicht: Ausnahmen. Es ist das Training zum
Töten, das diese Herabwürdigungen hervorbringt.
({1})
Niemand soll die Tatsache verharmlosen, dass Gewalt, sexuelle Gewalt, Folter und andere Perversionen
zum Wesen der Kriege gehören.
({2})
Frauen des Friedens sprechen schon immer diese ungeliebten Wahrheiten aus. Krieg entzivilisiert die Kriegführenden mitunter stärker, als ihnen bewusst ist.
({3})
Es ist vollkommen ungenügend und zeugt von geringer
interkultureller Kompetenz - übrigens auch in Bezug auf
die eigene Kultur -, wenn jetzt ob der bekannt gewordenen Gräuel Bestrafung und Verachtung gegenüber den
Soldaten ausgesprochen wird, aber keinerlei Nachdenken darüber zu vermerken ist, dass Soldaten darauf gedrillt werden, die natürliche Hemmschwelle in Bezug
auf Gewalt zu überwinden.
({4})
Täglich ist in Afghanistan das Töten Realität. Das ist
der Alltag in Afghanistan und das ist der eigentlich zu
verurteilende Skandal. Das Gegenüber nicht mehr als
Mensch, als zu achtende Person zu betrachten, ist die
Voraussetzung dafür, töten zu können. Entgleisungen
sind die logische Konsequenz. In allen Kriegen und in
allen Armeen ist Gewalt gegen die Niederen an der Tagesordnung. Die Decke der Zivilisation ist auch bei uns
ein dünnes Eis.
({5})
Von solchem Nachdenken ist die antimilitaristische Friedenspolitik geprägt.
All jene, die Männer und Frauen als Soldaten in
Kriege schicken, tragen Verantwortung für diese Strukturen. Eines sollte allen klar sein: Die deutschen Soldaten in Afghanistan sind keine Sozialarbeiter in Uniform.
Wer heute die Fortdauer der OEF beschließt, sollte sich
auch diesen Kontext klar machen.
Ich meine damit insbesondere das KSK. Seit RotGrün in Verknüpfung mit der Vertrauensfrage den Afghanistaneinsatz beschlossen hat, ist die geheime Armeeeinheit KSK im Einsatz. Seither wissen wir nicht,
was sie so treibt, um unsere Freiheit am Hindukusch zu
verteidigen. Sie ist mit den US-Eliteeinheiten verbunden
- womöglich den Special Forces -, die nicht zu packen
sind, weil sie die Hüte von Polizei, Zivil und Militär
wechseln. Wir wissen nichts darüber, ob das KSK an
Entführungen, an Folter oder gar an gezielten Tötungen
beteiligt ist. Was bitte am KSK trägt noch dem Anspruch
an eine Parlamentsarmee Rechnung?
({6})
Sein Auftrag ist es, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten. Der Fall des
Herrn Murat Kurnaz könnte exemplarisch dafür stehen,
wie wenig der rot-grünen Regierung seine Freiheit wert
war.
({7})
Im Falle der ISAF ist eine Parlamentsarmee im Einsatz. Vom KSK hat noch nicht einmal der Untersuchungsausschuss des Parlaments genaue Kenntnis. Die
Kurnaz-Vorgänge müssten auch dem damaligen Headquarter der deutschen Geheimdienste - und somit Ihnen,
Herr Außenminister Steinmeier - bekannt sein. Wir werden sehen, was der Untersuchungsausschuss ans Tageslicht bringt.
Wenn Grüne heute Aufklärung fordern, dann ist das
nichts weiter - ich kenne die Damen und Herren der
Grünen gut ({8})
als Heuchelei. Die Demütigung des Bürgers Murat
Kurnaz ist das eine. Das andere ist die Demütigung der
afghanischen Bevölkerung. In diesem Zusammenhang
möchte ich sagen: Der Clash of Civilizations wird immer
wieder als Gefahr beschworen. Welchen Anteil hat der
Krieg gegen Afghanistan, der Krieg gegen den Terror an
der Unvereinbarkeit der Kulturen?
({9})
Wer sollen in diesem Krieg die Sieger sein? Führt er zu
einem Ende der Terrorangriffe? Wie lange soll der
NATO-Beistandsfall überhaupt noch dauern?
Zu fragen ist außerdem: Ist die OEF-Tätigkeit von der
ISAF-Tätigkeit zu trennen, seit die ehemaligen Schutztruppen Karzais im ganzen Land operieren können? Ist
das KSK der Preis, den Deutschland dafür zahlt, im Irak
nicht mit von der Partie zu sein? Das sind viele Fragen
und brandheiße Themen; aber es gibt in diesem Zusammenhang nur eisiges Schweigen.
Heute will die neue Regierung die Zustimmung zu einer zwölfmonatigen Verlängerung der deutschen Beteiligung an der OEF, die - nebenbei bemerkt - 75 Millionen
Euro kosten soll. Sie begründet das mit fortzusetzenden
Bemühungen im Osten und Süden im Kampf gegen die
Taliban, die al-Qaida und Hekmatjar sowie mit der Stärkung der Zentralregierung.
Ich hatte im September hier die Gelegenheit, über die
Rolle der Drogenbarone und der Warlords in der afghanischen Regierung zu sprechen. Heute stellen wir als
Linksfraktion in unserem Entschließungsantrag fest: Die
Bundesregierung kann die Vorwürfe nicht entkräften,
wonach deutsche Streitkräfte unter OEF-Mandat an
schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt sein
könnten.
Die bekannten Anschläge nach dem 11. September
waren allesamt nicht zentral gesteuert. Sie konnten nicht
mit militärischen Mitteln vermieden werden.
Die Gegnerinnen und Gegner der Militäreinsätze sagen: Terror ist nicht mit Krieg zu bekämpfen. Sie sagen
auch: Ewig kann dieser Zustand nicht dauern.
({10})
Letzten Monat wurde hier argumentiert, die NATO dürfe
diesen Kampf nicht verlieren. Ich kann sagen: Moralisch
hat sie ihn längst verloren.
({11})
Wenn jetzt keine Exitstrategie entwickelt wird, machen
sich die Verweigerer eines vernünftigen Rückzugs an
dem von mir schon angesprochenen Clash of Civilizations mitschuldig.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende.
Lassen Sie uns verantwortungsgeleitete Antworten
aus dem Parlament hervorbringen und beenden Sie diesen Einsatz!
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Knoche, nur diese Bemerkung: Sie haben
wieder eine Rede von hindukuschhoher Pauschalität gehalten.
({0})
Meine weitere Redezeit soll meiner Argumentation in
Bezug auf das zu verlängernde Mandat vorbehalten bleiben.
Zum inzwischen sechsten Mal haben wir zu entscheiden, ob eine deutsche Beteiligung an der Operation
„Enduring Freedom“ sicherheitspolitisch dringlich, von
den Wirkungen her zweckmäßig und insgesamt verantwortlich ist. Unbeschadet dieser Einzelfallprüfung bleibt
unsere grundsätzliche Position:
Erstens. Die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus ist keineswegs verschwunden. Im Gegenteil, es besteht kein Grund zur Beruhigung, sondern eher
zur Beunruhigung.
Zweitens. Selbstverständlich muss vorrangig mit politischen, polizeilichen, geheimdienstlichen und entwicklungspolitischen Mitteln gegen den internationalen Terrorismus vorgegangen werden. Es sind aber auch - das
ist die Erfahrung von Afghanistan - militärische Mittel
notwendig, vor allem stabilisierende, zum Teil aber auch
direkte, also bekämpfende.
Drittens. Der deutsche Beitrag im Rahmen von
„Enduring Freedom“ war von vornherein sehr zurückhaltend. Er war in der Realität viel zurückhaltender, als
es die großen Worte von einer Beteiligung an einer militärischen Bekämpfung des Terrorismus, die man immer
wieder hören konnte, glauben machen wollten.
Viertens. Die Vorstellung von einem Krieg gegen den
Terrorismus ist ein Irrweg. Das hat die Realität der letzten Jahre überdeutlich gezeigt.
Zunächst zu dem Teilauftrag der Marineschiffe am
Horn von Afrika. Vor kurzem waren wir vor Ort. Da hat
sich die Realität dieses Auftrages sehr deutlich gezeigt:
In Wirklichkeit geht es nämlich immer weniger darum,
die Bewegungsfreiheit mutmaßlicher Terroristen zu begrenzen. Immer mehr geht es schlichtweg darum, in einer gefährlichen Umgebung für Sicherheit auf vitalen
Seewegen zu sorgen.
Die Schlussfolgerung ist: Das Mandat ist offensichtlich nicht mehr auf der Höhe des jetzigen Auftrages.
Dies ist - das muss man eindeutig sagen - verfassungsrechtlich problematisch. Davon unabhängig stelle ich allerdings fest, dass die Soldatinnen und Soldaten, die dort
unter strapaziösesten Umständen ihren Einsatz leisten
- das haben wir selbst vor Ort gesehen -, nicht links liegen gelassen werden sollten, sondern unsere Aufmerksamkeit und unseren Dank verdienen.
Nun zum Teilauftrag in Afghanistan. Vor fünf Wochen - Sie erinnern sich noch - waren 14 afghanische
Parlamentarierinnen zu Besuch im Bundestag. Ihre Botschaft war eindeutig: Erstens. ISAF muss unbedingt in
Afghanistan bleiben; sonst ist alles - auch für uns - verloren. Zweitens. Die internationale Gemeinschaft muss
verschiedene Punkte ihrer Politik grundsätzlich ändern.
Unsere Fraktion hat dem ISAF-Mandat gerade aufgrund der jetzigen problematischen und bedrohlichen Situation vor vier Wochen mit großer Mehrheit zugestimmt. Auch hier ist festzustellen: Das, was KSKSoldaten dabei machen, ist - kein Zweifel - sehr notwendig und hilfreich. Davon zu unterscheiden ist die
Teilnahme an der Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan mit bis zu 100 Spezialsoldaten, von denen seit
ungefähr zwölf Monaten - es wurde schon gesagt - keiner mehr im Einsatz ist.
Als wir diese Entscheidung vor einem Jahr zu treffen
hatten, sind wir eindeutig der Auffassung gewesen - ich
habe das ebenfalls so begründet -, dass ISAF ohne die
Rückendeckung der OEF nicht haltbar wäre. Jetzt
müssen wir aber sehen, dass sich die Lage in diesem Jahr
erheblich geändert hat:
Erstens. ISAF ist viel stärker geworden. Ihr Einsatzgebiet hat sich nicht nur im Norden, sondern auch im
Westen, Süden und Osten ausgeweitet und die Rolle der
OEF kleiner werden lassen.
Zweitens. Aus politischen und zivilen Quellen sowie
von Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan bekommen
wir immer mehr glaubwürdige Hinweise, dass die Operation „Enduring Freedom“ vor Ort einen immer schlimmeren Ruf hat. Man erhebt nämlich den Vorwurf, dass
sie durch die Art und Weise der Operationsführung viel
mehr zu einer Hass- und Gewaltspirale beitrage als zu einer wirksamen Terrorbekämpfung. Ähnliches besagen
zum Beispiel Feldstudien von Senlis Council aus London zu den Südprovinzen. All das deutet darauf hin, dass
die Art und Weise des Vorgehens der OEF ISAF auf der
politisch-psychologischen Ebene mehr schadet als operativ nutzt.
Das Problem der zunehmend kontraproduktiven Wirkung der OEF haben wir gegenüber der Bundesregierung vielfach angesprochen, zum Beispiel in einem Brief
von Jürgen Trittin und mir vom 5. September an die zuständigen Minister, auf den wir bisher noch keine Antwort bekommen haben; wie ich weiß, haben einzelne
Ministerien lediglich Beiträge zu einer solchen Antwort
geliefert. In diesem Brief haben wir eine Bilanzierung
und kritische Bewertung der Gesamtoperation „Enduring Freedom“ gefordert. Diese Forderung ist ebenfalls
in unserem in den Bundestag eingebrachten Antrag enthalten.
Seit einem Jahr gibt es seitens der Bundesregierung
- das ist besonders bemerkenswert - keinen bilanzierenden Gesamtbericht mehr zur Operation „Enduring Freedom“, den sie dem Deutschen Bundestag am 14. November 2001 per Protokollnotiz zugesagt hat. Die
Bundesregierung hat diese Pflicht gegenüber dem Parlament seit zwölf Monaten nicht mehr erfüllt.
Ein letzter Punkt zur Lageveränderung. Damit die
Bundeswehrsoldaten keine Beihilfe im Hinblick auf
Guantanamo leisten, waren ihre Einsatzmöglichkeiten
in den letzten Jahren von vornherein beschränkt. Mit der
Verabschiedung des Military Commissions Act durch
den US-Kongress wurde der freihändige Umgang mit
der Genfer Konvention legalisiert. Das bedeutet zum
Beispiel die Legalisierung von folterähnlichen Verhörmethoden. Dass deutsche Soldaten hierzu weder direkt
noch indirekt beitragen dürfen, ist für uns alle eine
Selbstverständlichkeit.
({1})
Meine Fraktion ist zwar in einem intensiven Diskussionsprozess; aber die Skepsis ist sehr groß. Als sicherheitspolitischer Sprecher meiner Fraktion habe ich ihr
nach reiflicher Prüfung viermal die Zustimmung zur
deutschen Teilnahme an der Operation „Enduring Freedom“ empfohlen. Nach meinem heutigen Kenntnisstand
kann ich meiner Fraktion eine Zustimmung nicht mehr
empfehlen. Ich halte die Art und Weise des Vorgehens
der OEF in Afghanistan für kontraproduktiv und die
deutsche Beteiligung daran für nicht mehr verantwortbar.
Ich danke Ihnen.
({2})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Jörn
Thießen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Vor fast einem Jahr, am 8. November 2005, haben wir in
diesem Hause eine sehr ernste Debatte über die Fortsetzung der Operationen „Enduring Freedom“ und „Active
Endeavour“ geführt. Das, was wir vor einem Jahr im
Protokoll noch nachlesen konnten, war eine Lehrstunde
dafür, dass unser Land über die politischen Grenzen hinweg seine Verantwortung auf diesem Gebiet ernst
nimmt.
Niemand von uns winkt Veränderungen, Verlängerungen oder neue Mandate unserer Streitkräfte leichtfertig
durch. Wenn es um die Androhung und mögliche Anwendung militärischen Zwanges geht, steht für uns alle
die Bewahrung von Menschenleben und die Eindämmung von Gewalt und Krieg zur Debatte. Alles andere
ist Unterstellung. Denn das, was wir hier verlängern,
darf nicht mit Routine geschehen; es muss stets mehr als
Routine sein.
Der damalige Bundesminister Struck stellte in der Debatte fest:
Militärisches Handeln ist nicht die erste Option. Vor
den Soldatinnen und Soldaten sind die Diplomaten,
Entwicklungshelfer …, Menschenrechtler, die Weltbank und andere Institutionen gefordert, gegen die
Ursachen von Terrorismus zu kämpfen.
Dies ist die Maxime unseres Handelns und in allen
Debatten über die deutsche und europäische Sicherheitsstrategie wird dies auch immer unsere Maxime bleiben.
({0})
Wir wissen, dass sich kein Terrorismus auf dieser
Erde mit kriegerischen Mitteln besiegen lässt. Ohne Angebote von Frieden und besserer Entwicklung erzeugt
jede Gewalt stets Gegengewalt. Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, ist in jedem einzelnen Fall eine
große Kraftanstrengung notwendig; denn es kostet immer Ideen und Geld. Das kann auch den Einsatz von
Leib und Leben bedeuten. Es ist aber die Verantwortung
der Demokratien, sich an der Bekämpfung dieses Weltübels aktiv zu beteiligen.
Die Vielzahl der deutschen Beiträge zur Bekämpfung des Terrorismus und zum Aufbau stabiler demokratischer Strukturen haben ein breites Spektrum vor Augen: von der Analyse über die Bekämpfung der
Ursachen bis zur direkten Abwehr von Gefahren. Unser
Ansatz ist politisch und umfassend. Wir ringen um die
besten Konzepte für diesen Frieden - in Deutschland
und mit unseren Verbündeten. Wer uns etwas anderes
unterstellt, ist schlichtweg auf dem Holzweg.
Die Realität der Welt, in der wir leben und unsere
Kinder aufziehen, lehrt uns bitter und leider auch auf
blutigen Wegen, dass es Personen und Pläne gibt, die
ohne militärische Mittel nicht in ihrem menschenverachtenden Tun zu stoppen sind. Es wird aber keinem Terroristen gelingen, diese Welt auch nur ein Gran friedlicher
oder menschlicher zu machen. Wer sich bei einem solchen Tun hinter Ideologien oder Religionen versteckt,
spricht der Menschlichkeit und der Religiosität Hohn wo auch immer dies gelehrt und verantwortet wird.
({1})
Deutschland beteiligt sich an den Operationen „Enduring Freedom“ und „Active Endeavour“ nicht pauschal,
nicht uneingeschränkt und nicht ohne ständige Überprüfung. Schon deshalb reduzieren wir das Mandat bezüglich der Obergrenze um 1 000 Mann. Wir handeln präzise und zurückhaltend und mit klarer rechtsstaatlicher
Begrenzung. Das wissen die Menschen hier in diesem
Land und in den Einsatzgebieten. Darin liegt die hohe
Reputation der Bundeswehr ebenso wie unsere besondere Verantwortung.
Diese Reputation werden wir auch gegen diejenigen
verteidigen, die mit ihrem persönlichen Fehlverhalten
auf skandalöse Weise unsere Werte, die Werte anderer
Kulturen und ihre eigenen Kameradinnen und Kameraden diskreditieren.
({2})
Von Zeit zu Zeit muss die Reputation unserer Streitkräfte auch gegen Stimmen im Inland verteidigt werden.
Ich rate dringend davon ab, pauschal von Verrohungen
deutscher Soldaten zu sprechen.
({3})
Ihr Beitrag, Frau Kollegin Knoche, ist ein tieftrauriger Beweis dafür, wie man Menschen diffamieren kann.
Er ist so falsch, dass noch nicht einmal das Gegenteil
richtig ist.
({4})
Es wäre schön, wenn Sie sich persönlich von diesem
Platz aus vor den 200 000 Soldatinnen und Soldaten dafür rechtfertigen würden.
({5})
Wir votieren für eine Fortsetzung des Mandats für die
Operation „Enduring Freedom“. Ohne das von so vielen
Nationen getragene Engagement könnten - Gott sei es
geklagt - viele andere zivile Hilfen in Afghanistan nicht
geleistet werden. Das gilt auch für die Arbeit zahlreicher
NGOs. Das mag manchen nicht in ihren ideologischen
Kram passen, ist aber die bittere Wahrheit.
Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass sich seit November des vergangenen Jahres die Situation in Afghanistan dramatisch verändert hat. Das Land ist auf dem
Weg zu einem stabilen und sich selbst tragenden Frieden, den wir alle ihm wünschen, nicht so vorangekommen, wie wir es wünschen. Im Gegenteil: Die Lage ist
weder ruhig noch stabil. Die tägliche Bedrohung begleitet die einheimische Bevölkerung sowie Soldatinnen und
Soldaten.
Afghanistan, so sagen viele, sei am Scheideweg. Die
kommenden Monate bringen nicht nur eine Entscheidung über die Zukunft dieses Landes - wir müssen an einer positiven Entwicklung mitwirken -; in diesen Monaten kann auch die Zukunft des NATO-Bündnisses zur
Debatte stehen. Scheitert Afghanistan, ist das auch für
die NATO ein schwerer Rückschlag, der uns viele Jahre
zurückwerfen wird.
Wir werden die Operation „Enduring Freedom“ fortsetzen müssen. Lieber Kollege Nachtwei, bringen Sie Ihr
Herz über die Hürde! Ein Abbruch jetzt wäre nur schwer
zu verantworten. Wir werden aber die Teiloperation am
Horn von Afrika weiterentwickeln müssen. Wir fragen
uns: Was haben wir erreicht? Welche Kräfte sind nötig,
um diese Aktion nachhaltig zu sichern? Es wäre einer
Überlegung wert, ob sich in Zukunft nicht die Nachbarn
und Anlieger dieser Region stärker engagieren als bisher.
In Afghanistan wäre der Rückzug internationaler
Truppen und auch der OEF das falsche Signal. Wir werden aber die Rolle der Spezialkräfte stärker beleuchten
als in der Vergangenheit; der Bundesminister hat dazu
Angebote gemacht.
Dabei geht es zum einen um die Aufklärung möglichen Fehlverhaltens der KSK. Der Untersuchungsausschuss ist dazu der richtige Weg. Wir wollen alle offenen
Fragen ohne Ansehen der Person klären und wir wollen
all diejenigen schützen, die sich an Recht und Gesetz gehalten haben. Bisher wissen wir zu wenig, um zu einem
fundierten Urteil zu kommen.
Zum anderen stellt sich die Frage nach einem erweiterten parlamentarischen Kontrollverfahren für das
KSK. Wir müssen als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sicher sein, dass unter all den Vorschriften der
Geheimhaltung nicht unsere zentrale Funktion auf
diesem Gebiet leidet, nämlich die Kontrolle auch der
Spezialkräfte der Bundeswehr uneingeschränkt zu garantieren. Es ist an der Zeit, einen klaren Schritt voranzukommen. Wir sind für Ihre diesbezüglichen Angebote
offen und freuen uns darauf.
Unser ziviles und militärisches Engagement in Afghanistan ist ein Zeichen für Offenheit und Kommunikation, ein Angebot für die Hilfe zum Aufbau einer Zivilgesellschaft. Wir hören und lesen fast täglich, dass
dieses Ziel gefährdet ist. Umso nötiger ist eine wachsame und dauerhafte Überprüfung dieses Einsatzes. Dies
versuchen wir mit aller Kraft zu gewährleisten - im
Sinne der dort eingesetzten deutschen und international
gestellten Soldatinnen und Soldaten und nicht zuletzt im
Sinne all derer, denen am Frieden gelegen ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erstens. Die FDP-Fraktion wird in der nächsten Sitzungswoche aufgrund der Beratungen, die wir in den
Ausschüssen haben werden, und der Unterrichtung, die
wir noch erhalten werden, verantwortungsbewusst eine
Entscheidung treffen. Es ist uns klar, dass man Elemente
von OEF sehr kontrovers diskutieren kann. Wir werden
am Ende gezwungen sein, komplett abzustimmen, und
müssen uns überlegen, ob Bedenken hinsichtlich eines
Teils möglicherweise eine Gesamtablehnung rechtfertigen können. Das ist eine schwierige Frage. Wir gehen
offen in die Beratungen hinein und sind uns unserer Verantwortung auch bündnispolitisch voll bewusst.
({0})
Zweitens. Auch noch so schlimme Fotos, wie wir sie
in den letzten Tagen gesehen haben, bringen mich nicht
von einem urfreiheitlichen, rechtsstaatlichen Prinzip ab,
nämlich dass die Unschuldsvermutung greift. Das gilt
auch für jeden einzelnen Soldaten, ob bei ISAF oder
KSK. Insofern verwahre ich mich gegen jede hier geäußerte Generalverdächtigung, die möglicherweise Zigtausende von Bundeswehrsoldaten betrifft, die dies gerade
angesichts der Schwierigkeit ihres Auftrags nicht verdient haben.
({1})
Deswegen müssen wir Aufklärung und - ich komme zu
der Frage zurück, die uns jetzt vorrangig beschäftigt Informationen über das, was tatsächlich passiert ist, erhalten. Ich bin stellvertretender Fraktionsvorsitzender
der FDP und ihr außenpolitischer Sprecher, erfahre aber
seit 13 Monaten gar nichts über das KSK. Auf dieser Basis kann ich meiner Fraktion keine Empfehlung geben.
Ab morgen wird das besser. Ich freue mich, dass Minister Jung gesagt hat, dass die Formulierung im Mandatsantrag, nach der der Bundestag „entsprechend bisheriger
Praxis“ unterrichtet werden soll, nicht ganz ernst zu nehmen sei. Wir würden das geradezu als Bedrohung empfinden.
({2})
Es wird also richtig und intensiv informiert.
Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, an
dem wir, das Parlament, diejenigen, die die Verantwortung für die Entsendung von Soldaten tragen, wirklich
nachbohren müssen. Wir gehen nicht mit einem Generalverdacht auf die Soldaten los. Vielmehr fragen wir
umgekehrt: Geben wir unseren Soldaten nicht nur hinreichende Waffen und Einsatzregeln, sondern auch hinreichende rechtliche Grundlagen mit auf den Weg? Darüber möchte ich informiert werden; denn das ist eine
wichtige Sache. Manchmal frage ich mich, wie KSKSoldaten eigentlich angesichts der gegebenen rechtlichen Bedingungen ihren Auftrag erfüllen können. Darüber muss ich mehr erfahren. Ich hoffe, dass ich morgen
darüber aufgeklärt werde.
Die Einsatzregeln, die Handlungsrichtlinien sind mit
Verwaltungsanordnungen vergleichbar. Sie sind weder
geeignet noch bestimmt, die Rechtsbindung der Soldaten
und die Rechte der Festgenommenen gemäß Grundgesetz und Völkerrecht zu beschränken. Sollten also Festnahmen jenseits militärischer Notwendigkeiten, etwa
zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung, erfolgen oder
aufrechterhalten werden, müssen die einschlägigen
Rechte der Festgenommenen, die sich aus der Menschenrechtskonvention und der Bindung aller deutschen
Staatsgewalt an die Grundrechte ergeben, beachtet werden. Derartige Festnahmen bewegen sich grundsätzlich
außerhalb des militärischen Aufgabenbereichs und bedürfen deswegen besonderer Aufmerksamkeit.
Die einschlägigen Bundestagsmandate schaffen ausschließlich die rechtliche Grundlage für den militärischoperativen Einsatz, nicht aber für darüber hinausgehende, anders motivierte Festnahmen. Deswegen sollte
der Bundestag, wenn es im Bereich nicht ausschließlich
militärisch motivierter Festnahmen etwas zu berichten
gibt, informiert werden.
({3})
Sollte die Unterstützung anderer Nationen bei der
Festsetzung von Personen jenseits militärischer Notwendigkeiten zur Verletzung von deren Rechten führen, besteht sowohl parlamentarische, innerstaatliche als auch
völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesregierung. Nun eine theoretische Überlegung - wir müssen
uns damit befassen -: Würde durch deutsche Mitwirkung zum Beispiel Folter ermöglicht, dann könnte der
Hinweis, dass „das weitere Verfahren diesen Nationen“
obliegt, an der deutschen Mitverantwortung dafür nichts
ändern.
({4})
Deswegen müssen diese Fragen geklärt werden.
Es geht nicht darum, irgendjemanden unter Verdacht
zu stellen, sondern darum, uns zu vergewissern, ob wir
eine ausreichende Rechtsgrundlage bieten. Wir wollen
diesem Mandat nämlich mit gutem Gewissen zustimmen. Wir wollen, dass unsere Soldaten wissen, dass sie
auf einer sauberen rechtlichen Grundlage agieren. Darum geht es der FDP.
({5})
Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Nachtwei, ich weiß, dass Sie mit
sich ringen; Sie haben es deutlich gemacht. Wenn man
allerdings Ihre Rede vom vergangenen Jahr neben Ihre
Worte von heute legt, so stellt man einen bemerkenswerten Sinneswandel fest.
Frau Knoche, ich hatte den Eindruck, dass die Rede
Ihres Kollegen Lafontaine letztes Jahr der Tiefpunkt außen- und sicherheitspolitischen Verständnisses war. Was
Sie heute draufgesetzt haben, spottet jeder Beschreibung.
({0})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Maurer zulassen?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, kennen Sie die Presseerklärung der
CDU/CSU-Abgeordneten Gauweiler und Willy
Wimmer? Teilen Sie meine Auffassung, dass darin ein
bemerkenswerter Sinneswandel zum Ausdruck kommt?
({0})
Sehr verehrter Herr Kollege, bei dem einen oder anderen tut man sich schwer, überhaupt einen Sinneswandel festzustellen. Die Analogie, die Sie hier ziehen
wollen, ist wirklich an den Haaren herbeigezogen. Von
einem möglichen Sinneswandel auf unsere Haltung zu
schließen, ist schlichtweg absurd. Aber herzlichen Dank
für die Nachfrage.
Meine Damen und Herren, die Debatte über die Verlängerung der Operation „Enduring Freedom“ wird - das
ist durchaus richtig, Frau Knoche - von den abscheulichen Taten überschattet, die wir in den letzten beiden Tagen der Presse entnehmen durften und mussten. Die
CDU/CSU verurteilt diese Fälle auf das Schärfste.
Gleichzeitig aber - vielleicht ist das der Punkt, den Sie
noch ansprechen wollen, Frau Knoche - ist mit Nachdruck jeder Unterton zu vermeiden, der unsere Soldaten
unter Generalverdacht stellt. Sie haben vorhin davon
gesprochen, dass es sich hier um keine Ausnahmen handeln würde. Das ist schlichtweg eine Beleidigung jedes
einzelnen Soldaten, der für unser Land Dienst tut, Frau
Knoche.
({0})
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Knoche
zulassen, Herr Guttenberg?
Frau Knoche, bitte.
Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass Sie in Ihren
Unterstellungen noch tiefer greifen und noch bodenloser
werden als Ihr Vorredner. Sie haben mir Recht gegeben.
Ich will Ihnen nur sagen,
({0})
an was mich dieses Auftreten erinnert, und will von Ihnen wissen, ob Sie den Kontext kennen, von dem ich
spreche. Ich bin seit fast 30 Jahren Politikerin. Es hat
eine feministische Bewegung gegeben, in der wir die
häusliche Gewalt und die sexuelle Gewalt von Vätern an
ihren Töchtern thematisiert haben.
({1})
Zu dem damaligen Zeitpunkt war es üblich, dass alle
CDU/CSU-Politiker einhellig geschrieen haben: Wie
kann man die Familie so diffamieren! - Heute wissen
alle, dass es ein strukturelles Gewaltverhältnis in den
Ehen und Familien gibt.
({2})
Das ist heute allgemeines Bewusstsein.
Dann gibt es noch eine andere feministische Debatte,
und zwar über die kulturelle Zurichtung des Mannes
durch das Militär. Diese Debatte scheinen Sie niemals
mitbekommen zu haben. Sie haben mit dem, was Sie
heute hier geliefert haben, ein großes intellektuelles Defizit offenbart.
({3})
Mein intellektueller Spielraum reicht zumindest so
weit, den Unterschied zwischen Frage und Aussage zu
überblicken, verehrte Frau Knoche. - Das ist das Erste.
Zum Zweiten kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben
Ihre Aussage von vorhin nicht besser gemacht.
({0})
Sie haben im Grunde den Generalverdacht, den Sie über
unsere Soldaten gelegt haben, mit dieser Aussage noch
einmal verstärkt. Wenn diese Debatte, die an sich von
hoher Verantwortung geprägt sein sollte, dieses Niveau
haben soll, dann müssen wir wirklich andere Maßstäbe
anlegen.
({1})
Wir wollen diese Maßstäbe nicht. Wenn Sie sie suchen bitte sehr. Aber wir legen diese Maßstäbe nicht an.
({2})
Frau Kollegin Knoche, Sie können gerne noch eine
weitere Zwischenfrage anmelden. Dann würde ich Herrn
Kollegen Guttenberg fragen, ob er sie zulassen will.
Angesichts dessen, dass wir hier ein Sachthema zu
bearbeiten haben, habe ich kein Interesse, noch tiefer auf
diese Abwegigkeit einzugehen, als wir das gerade schon
gemacht haben.
({0})
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie keine weitere Zwischenfrage zulassen wollen?
Nein, ich lasse keine weitere Zwischenfrage mehr zu,
Frau Präsidentin. Vielen Dank.
Bei aller gebotenen Härte, die wir in dem Fall der Soldaten, den Sie angesprochen haben, Frau Kollegin, anlegen müssen, haben wir auch eine Schutzpflicht gegenüber den Soldaten, die im Interesse unseres Landes
höchsten Belastungen ausgesetzt sind. Ein solcher Stil
macht den Soldaten dort vor Ort die Belastungen nicht
leichter. Die allermeisten, die größte Mehrzahl unserer
Soldaten leistet einen erstklassigen Dienst vor Ort. Das
gilt es hervorzuheben, meine Damen und Herren.
({0})
Ich bin mit den Vorrednern völlig einer Meinung, dass
mit der Verlängerung des Mandates sehr generelle Fragen berührt werden, auch im Hinblick auf die zukünftige
Ausgestaltung von Auslandseinsätzen. Fälle wie der, den
wir heute und gestern diskutiert haben, und auch der Fall
Kurnaz sind Rückschläge. Aber Rückschläge dieser Art
können uns doch letztlich nicht zur Aufgabe zwingen
oder zum Rückzug bewegen! Wenn jetzt markerschütternd der Abzug der Truppen gefordert wird, ist das
schlichtweg absurd. Wir spielen dabei argumentativ
letztlich denen in die Hände, deren Ausbreitung wir gerade verhindern wollen, also denen, die auf internationale Vernetzung des Terrorismus bauen.
Um das generelle Wertefundament, das der Herr Bundesminister Jung heute Morgen bei der Debatte um das
Weißbuch angesprochen hat, müsste es erbärmlich bestellt sein, wenn das Fehlverhalten Einzelner die Verteidigung dieses Wertefundaments infrage stellen könnte.
Dabei handelt es sich um einen sehr grundsätzlichen Aspekt. Wir müssen daher bei unserer Argumentation sehr
aufpassen.
Ein weiterer Punkt. Die notwendige Pflicht, unsere
Soldaten bestmöglich zu schützen, korrespondiert mit einer ebenso notwendigen Aufklärungspflicht, die wir
alle haben. Beides kollidiert aber miteinander, wenn die
Diskussion von gezielt gesteuerter Hysterie begleitet
wird, Frau Knoche. An dieser Stelle müssen wir sehr
aufpassen. Denn es handelt sich um einen immens sensiblen Verantwortungsspielraum, der immer wieder einen Spagat bzw. eine Gratwanderung darstellt.
Diese Verantwortung sollten sich gelegentlich gewisse
Medien, die über solche Vorfälle berichten, ins Gedächtnis rufen. Ich würde mir manchmal wünschen, dass sich
Chefredakteure, die die Veröffentlichung solcher Bilder
unter anderem damit begründen - ich zitiere -, „dass
diese Vorfälle den vorbildlichen und tadellosen Einsatz
der vielen Tausend Bundeswehrsoldaten belasten“, der
Wirkung solcher Sätze einmal bewusst werden. Auch das
gehört zu der Diskussion über die staatsbürgerliche Verantwortung.
({1})
Wir müssen im Kontext der Operation „Enduring
Freedom“ sehr darauf achten, unterschiedliche Tatbestände nicht miteinander zu vermengen. Wir müssen
vielmehr Ursache und Wirkung voneinander trennen.
Das steht völlig außer Frage.
Mit Blick auf die Zielrichtung des Auftrages und mit
Blick auf das Schutzbedürfnis der Soldaten, aber auch
der zivilen Kräfte müssen wir sehr genau hinterfragen,
Frau Knoche, wie laut wir den Begriff von einem zweiten Abu Ghureib in diese aufgerüttelte Welt hinausposaunen. Auch diesen Punkt sollten wir zumindest im
Hinterkopf haben. Das soll nicht heißen, dass wir unsere
Anstrengungen, dem internationalen Terrorismus zu begegnen, nicht verstärken und den verheerenden Bildern
keine Taten entgegensetzen sollten.
Angesichts der Dynamik, der Unberechenbarkeit und
der Asymmetrie der Gefährdungslage begrüße ich, dass
im Antrag von einem ganzheitlichen Ansatz die Rede
ist. Herr Minister, dieser ganzheitliche Ansatz ist aber zu
unterfüttern und entsprechend fortzuschreiben. Die vorherrschende Dynamik erfordert eben eine FortschreiKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
bung und kein Verharren. Der Antrag weist diesbezüglich sicherlich in die richtige Richtung. Der heute zu
debattierende militärische Beitrag wäre ohne eine Einbettung in die zivilen Instrumente, die Sie, Herr Bundesminister Steinmeier, angesprochen haben, völlig sinnlos.
Das gilt aber auch für die Umkehrung. Diesen Punkt darf
man nicht einfach beiseite schieben.
Zur Fortschreibung eines ganzheitlichen Ansatzes
zählt auch, die Mandate und deren Ausgestaltung den
veränderten Umständen anzupassen. Die CDU/CSU begrüßt daher die vorgenommene Reduzierung der maximalen Truppenstärke. Wir knüpfen daran aber auch die
Frage nach klaren und schlüssigen Einsatzregeln, je
nachdem wie sich die Situation verändert. Das gilt beispielsweise gerade für die Seestreitkräfte vor Somalia.
Ich habe leider den Eindruck, dass wir in der außenpolitischen und sicherheitspolitischen Debatte den gesamten Komplex Somalia bislang nur am Rande behandeln. Was sich in Somalia in den letzten Wochen und
Monaten noch einmal verstärkt gezeigt hat, ist etwas, bei
dem wir mit ausgetretenen Mustern an unsere Grenzen
stoßen werden. Wir sollten Somalia weit mehr im Blickfeld haben, als wir dies bislang getan haben. Ich glaube,
dass sich dort implosionsartige Zustände entwickeln, denen Einhalt geboten werden muss.
Es war ein Zeichen dieses Parlamentes, auf die Frage
nach der Sinnhaftigkeit der Rules of Engagement letztlich Antworten von der Bundesregierung herauszufordern. Wir haben solche Antworten vor dem Libanoneinsatz bekommen. Wir hoffen, dass diese Antworten
weiterhin ihre Gültigkeit besitzen. Solche Antworten
werden auch im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ notwendig sein.
Wir begrüßen auch den Passus, den beide Minister in
Bezug auf das KSK angesprochen haben, nämlich dass
unterrichtet werden soll. Dabei handelt es sich insbesondere um den Satz zwei. Wir hoffen, dass die „regelmäßige Unterrichtung“ dieses Adjektiv verdient. Eine regelmäßige Unterrichtung in dem angesprochenen Rahmen
ist in unserem Interesse.
Mit Blick auf den Fall Kurnaz und die möglichen
Auswirkungen - Herr Kollege Hoyer, Sie haben das angesprochen - sage ich für die CDU/CSU: Es kann und
darf nicht sein, dass unsere Soldaten möglicherweise zu
Steigbügelhaltern für ein Rechtsverständnis werden, das
wir nicht teilen und das wir uns auch nicht zu Eigen machen.
({2})
Herr Kollege.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wenn es
darum geht, mit unseren Bündnispartnern Absprachen
zu treffen - das gilt für alle Partner -, könnte es durchaus
zu Kollisionen bezüglich des Rechtsverständnisses kommen. Wir haben ein klares Rechtsverständnis. Hier ist
die Kreativität der Bundesregierung gefragt.
Mit diesem Einsatz sind viele Fragen verbunden. Wir
sollten sie verantwortungsvoll beantworten und nicht in
der Art und Weise, wie es die Linkspartei heute gemacht
hat. Dann können wir einer Zustimmung mit offenem
Herzen entgegensehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Monika Knoche.
({0})
Sie müssen nicht gleich abheben. Es wird nicht
schlimm. Ich fasse mich kurz.
Herr Freiherr zu Guttenberg, ich möchte einem Missverständnis entgegentreten. Mit meiner Zwischenfrage
habe ich mitnichten versucht, das von mir Gesagte zu relativieren. Ganz im Gegenteil: Ich stehe zu jedem Wort,
das ich gesagt habe. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass
Sie offenbar in einem Zustand starker Erregung zugehört
haben;
({0})
denn ansonsten hätten Sie das, wovon ich gesprochen
habe, nicht so gründlich missverstanden.
Sie scheinen eine Debatte, die es zwar nicht in der
CDU, aber sehr wohl in der Gesellschaft, in der Friedensbewegung und vor allen Dingen in der Frauenbewegung gegeben hat, nicht zu kennen. Das ist bedauerlich.
Ich setze eigentlich voraus, dass die Mitglieder des
Deutschen Bundestages imstande sind, die Debattenkultur in diesem Land gut referieren zu können.
Ferner möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich mitnichten von einem zweiten Abu Ghureib gesprochen
habe. Ich habe gesagt, dass die uns jetzt bekannt gewordenen Taten der Soldaten in Afghanistan von den Vorfällen in Abu Ghureib übertroffen werden. Nichts anderes
habe ich gesagt.
Mir tut es nicht weh, wenn ich angegriffen werde. Ich
möchte Sie aber darauf hinweisen, dass es eine intrakulturelle Differenz gibt. Sie beruht auf den Erfahrungen,
die Frauen in einer männerdominierten Welt machen.
Das Militär ist nun einmal Ausdruck dieser Wahrnehmung von Welt und dieser Form von Konfliktlösungen
in der Welt, denen ich mich als Frau bewusst nicht anschließe. Meine Betrachtung der Weltpolitik ist durchaus
different zu Ihrer. Deshalb haben Sie aber nicht das
Recht, die Schlussfolgerungen, die ich im Namen der
Linken ziehe, zu diffamieren. Dieses Recht steht Ihnen
nicht zu. Sie können Unverständnis äußern. Das ist
vielleicht realistischer. Sie haben aber nicht das Recht,
meine Äußerungen abzuqualifizieren.
Ich habe gesagt, dass ein Training erfolgen muss, damit ein Mensch, der eine natürliche Tötungshemmung
hat, der eine natürliche Verantwortung empfindet, sein
menschliches Gegenüber als Person zu achten, Soldat
mit Tötungsauftrag sein kann. Das ist eine Wahrheit. Das
ist eine Realität. Darin bildet sich eine Struktur ab, die zu
individuellen Entgleisungen führen kann. Wenn Sie diesen Zusammenhang nicht verstanden haben, sollten Sie
nicht so vehement für Verteidigungspolitik sprechen;
denn um eine wirkliche Zivilisierung der Außenpolitik
zu erreichen, muss man auch etwas über strukturelle Gewalt und innergesellschaftliche Gewalt wissen. Man
muss die Zusammenhänge verstehen.
({1})
Zur Antwort erteile ich das Wort dem Kollegen Freiherr zu Guttenberg.
Sehr geehrte Frau Kollegin Knoche, ich muss schamhaft gestehen, dass meine intellektuellen Kapazitäten offensichtlich immer noch nicht reichen, um das zu verstehen, was Sie meinem Verständnis zu entlocken
gedenken. Von daher kann ich ohne jeden Erregungszustand, den Sie möglicherweise in meine Aussage hineininterpretieren wollen, sagen: Eine Debattenkultur lebt
von der Auseinandersetzung mit Themen, die letztlich
dem eigentlichen Thema, das an einem Tag wie diesem
diskutiert wird, dienlich sind. Aber die Debattenkultur,
die Sie in der gesamten heutigen Diskussion an den Tag
gelegt haben, war, zumindest was Ihre Begründungsmuster betrifft, in meinen Augen erbärmlich. Auf dieser
Ebene möchte ich nicht weiter diskutieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/3150
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3151 soll an dieselben Ausschüsse, nicht jedoch
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Begrenzung der Staatsverschuldung durch
restriktive Haushaltsregeln
- Drucksache 16/2659 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Interfraktionell ist verabredet, dass keine Aussprache
stattfindet. - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Wir kommen somit gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2659 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und zur Änderung energie- und stromsteuerrechtlicher Vorschriften ({1})
- Drucksachen 16/2709, 16/3035 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksachen 16/3156, 16/3178 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Reinhard Schultz ({3})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3161 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({5})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
einer Biokraftstoffquote setzt der Deutsche Bundestag
heute die im Rahmen der parlamentarischen Beratungen
des Energiesteuergesetzes innerhalb der Koalitionsfraktionen gefundene Verständigung über die weitere Förderung der Biokraftstoffe um, soweit diese im Energiesteuergesetz vom Sommer dieses Jahres noch nicht geregelt
werden konnte. Darüber hinaus werden im Entwurf eines
Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoffquote die
energie- und stromsteuerrechtlichen Begünstigungsregelungen für das produzierende Gewerbe und die Landund Forstwirtschaft EU-rechtskonform neu geregelt.
Der Biokraftstoffmarkt hat sich in der Vergangenheit
aufgrund der kräftigen steuerlichen Unterstützung erfreulich dynamisch entwickelt. Wir wollen, dass diese
Entwicklung anhält. Damit wird ein wesentlicher Beitrag zur Energieversorgungssicherheit und zum Schutz
unseres Klimas geleistet. Den weiteren Ausbau der Biokraftstoffe aber wie bisher durch Steuervergünstigungen
zu betreiben, ist mit dem Konsolidierungskurs der Bundesregierung nicht vereinbar. Denn genauso rasant wie
der Biokraftstoffmarkt haben sich selbstverständlich
auch die Steuerausfälle entwickelt.
Ich möchte diese Beratung zum Anlass nehmen, um
die Bedeutung des grundlegenden Wechsels von der
steuerlichen hin zur ordnungsrechtlichen Förderung
der Biokraftstoffe zu betonen. Dabei handelt es sich
um einen Paradigmenwechsel, der ökonomischen
Grundsätzen entspricht. Die Umstellung von der steuerlichen Förderung auf eine Quote bietet den Herstellern
von Biokraftstoffen darüber hinaus eine langfristige
Perspektive.
Der auf EU-Ebene angedachte erhebliche Ausbau der
Biokraftstoffe über das Jahr 2010 hinaus wäre mit steuerlicher Förderung nicht mehr darstellbar. Für die schon
bestehenden Anlagen für Biokraftstoffe ist der wachsende Absatzmarkt eine große Chance, zumal auch in
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union über
die Einführung einer Quotenregelung nachgedacht wird,
man also unserem Beispiel folgen will.
Von der überwiegenden Mehrheit der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verbände und Interessengruppen wurde das Vorhaben ausdrücklich begrüßt. Natürlich wurden auch Kritikpunkte und Befürchtungen
geäußert. Selbstverständlich hätte der eine oder andere
den Windfall-Profit, den er bisher hatte, gerne behalten.
Aber alles in allem wurde uns große Zustimmung signalisiert. So konnten auch einige Fragestellungen, die
vonseiten des Bundesrates vorgetragen worden sind, berücksichtigt werden.
Den Verbraucherinnen und Verbrauchern sage ich
ganz offen, dass mit der Einführung der Biokraftstoffquote im nächsten Jahr durchaus eine leichte Erhöhung
der Kraftstoffpreise verbunden sein kann. Dass sich jedoch Behauptungen bewahrheiten, nach denen durch die
Einführung der Quote der Liter Kraftstoff um bis zu
3 Cent teurer werden könnte, ist sehr zweifelhaft. Ich
bitte, diese Entwicklung gelassen abzuwarten.
Ich möchte betonen, dass wir - das tun wir sicherlich
in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger - Alternativen zum fossilen Öl entwickeln und fördern müssen, um im Hinblick auf die Kraftstoffe Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das kann
natürlich nicht weiter auf Kosten des Staatshaushaltes
geschehen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Förderung
der Biokraftstoffe nur mit dem Instrument der Quote auf
eine dauerhaft tragfähige Basis gestellt werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Förderung einer
nachhaltigen Entwicklung soll Ziel und Maßstab unseres
Handelns sein. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung
zum Biokraftstoffquotengesetz.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Biokraftstoffquotengesetz muss im Zusammenhang mit dem
Energiesteuergesetz gesehen werden, das zum 1. August
dieses Jahres in Kraft gesetzt worden ist. Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, die Besteuerung biogener
Kraftstoffe vorzeitig einzuführen, obwohl die rot-grüne
Regierung und die rot-grüne Koalition, zu der ja die SPD
gehört hat, seinerzeit einen Vertrauensschutz bis 2009
zugesagt haben. Das war auch richtig so. Denn die Nichtbesteuerung biogener Kraftstoffe hat dazu geführt, dass
sich dieser Markt schnell und dynamisch entwickelt hat,
dass biogene Kraftstoffe viel stärker eingesetzt worden
sind, dass sich mittelständische Unternehmen entwickelt
haben, die diese Kraftstoffe herstellen, was natürlich zusätzliche Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in
der Land- und Forstwirtschaft gebracht hat.
({0})
All dies wird jetzt infrage gestellt. Natürlich stellt die
Bundesregierung bei der Begründung dieses Gesetzes in
den Vordergrund, sie verfolge umweltpolitische Ziele,
energiepolitische Ziele, agrarpolitische Ziele, beschäftigungspolitische Ziele. Doch wenn man die Diskussion
verfolgt und die Alternative einer weiteren Steuerfreiheit
sieht, muss man feststellen: Es geht hier einzig um fiskalische Zielsetzungen.
({1})
Die Bundesregierung will nichts anderes, als zusätzliche
Steuern erheben. Dann soll man das aber auch so sagen.
({2})
Zahlen müssen nun die Verbraucher. Im Biokraftstoffquotengesetz wird verfügt, dass biogene Kraftstoffe beizumischen sind. Sie werden auf diese Weise der vollen
Besteuerung unterzogen. Da die Preise für den Rohstoff
biogener Kraftstoffe aber höher sind als bei konventionellen Kraftstoffen, führt dies zu einer Preissteigerung.
Das heißt, die Autofahrer, die Kraftstoffverbraucher,
werden nicht nur durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Kasse gebeten, sondern zusätzlich durch das
Biokraftstoffquotengesetz. Damit kommt auf die
Autofahrer in diesem Land im nächsten Jahr eine doppelte Preiserhöhung zu.
({3})
Das widerspricht allem, was die beiden großen Parteien,
die die Regierung bilden, in Aussicht gestellt haben. Das
ist Wortbruch und darauf muss hingewiesen werden.
({4})
Die FDP-Fraktion spricht sich eindeutig dafür aus,
nachwachsende Rohstoffe vermehrt einzusetzen. Aber es
geht darum, wie man sie in den Markt bringt. Der Ansatz
einer Steuerbefreiung für einige Jahre war genau der
richtige Ansatz, weil sich so entsprechende Strukturen
entwickeln konnten.
({5})
Mit dem Beimischungszwang laufen wir Gefahr, dass
die entstandene mittelständische Wirtschaft, die solche
Kraftstoffe herstellt, von den großen Energiemonopolen
aus dem Markt gedrängt wird. Der Beimischungszwang
ist also eine mittelstandsfeindliche Maßnahme.
({6})
In der Anhörung hat sich ergeben, dass dies in der
Wirtschaft auch so gesehen wird. Gerade durch die hohe
fixe Steuerbelastung, die aus dem Energiesteuergesetz
resultiert, besteht schon jetzt die Gefahr, dass es zu einer
Überbesteuerung kommt und geplante Investitionen
zum Aufbau weiterer Produktionsanlagen gestoppt werden, weil die Wirtschaft sieht, dass sich die Produktion
in einigen Jahren, wenn die zweite, dritte, vierte Stufe
der Besteuerung in Kraft gesetzt wird, nicht mehr lohnt.
Das Interessante ist ja - darauf haben wir schon bei der
Verabschiedung des Energiesteuergesetzes hingewiesen -,
dass bereits bei einem leichten Absinken der Rohölpreise die Gefahr besteht, dass die Produktion, wenn die
dritte, vierte Stufe der Besteuerung in Kraft tritt, nicht
mehr wirtschaftlich ist.
Frau Hendricks, Sie wissen das: Wir haben im Ausschuss vorgeschlagen - wie übrigens auch Vertreter der
SPD-Fraktion -, nicht mit solchen starren Steuersätzen,
sondern mit einem proportionalen Steuersystem zu arbeiten. Das wäre genau das richtige Instrument gewesen,
weil sich die Steuerbelastung dann mit der Marktpreisentwicklung nach oben und unten entwickelt hätte und
weil es aus diesem System heraus dann gar nicht zu einer
Überbesteuerung hätte kommen können.
({7})
Sie haben es aber abgelehnt, dies zu tun, und Sie müssen jetzt die Konsequenzen tragen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn der Ölpreis noch weiter sinkt - vielleicht auf
50 Dollar je Barrel -, dann werden Sie dieses Gesetz in
wenigen Jahren wieder revidieren müssen, weil Sie sonst
der Branche den Garaus machen würden.
Schließlich will ich dazu noch sagen, dass es auch die
Forderung gibt, die Qualitätsnormen für die Produktion
und die biogenen Kraftstoffe sehr streng zu fassen. Das
ist im Prinzip richtig so. Das darf aber nicht zu der Konsequenz führen, dass das quasi wie ein nicht paritätisches
Handelshemmnis wirkt und dass die Entwicklungsländer
von den europäischen Märkten ausgeschlossen werden.
({8})
Wir müssen ein weltoffenes Land bleiben. Die Qualität
ist notwendig und auch die Nachhaltigkeit bei der Produktion muss gewahrt werden. Wir dürfen aber keine
Mauern um die Märkte in Deutschland bauen.
({9})
Die FDP lehnt dieses Gesetz folglich ab.
Wir hätten dem Antrag der Grünen gerne zugestimmt,
weil wir ihn sehr gut finden. Wir können ihm aber leider
wegen der letzten beiden Punkte, bei denen es um die
Ökosteuer geht, nicht zustimmen, weswegen wir uns
enthalten werden. Wir halten es gegenwärtig nicht für
angemessen, die Zahl der Ausnahmen bei der Ökosteuer
abzubauen, wie es die Grünen fordern, weil das bei den
energieintensiven Produktionsunternehmen zu starken
Einschränkungen führen würde, wofür es, wie ich
glaube, noch zu früh ist.
({10})
Wir erkennen aber an, dass der Antrag ansonsten gut formuliert ist und alle wesentlichen Punkte enthält. Wir
werden uns bei der Abstimmung also enthalten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Norbert Schindler spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren auf den
Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Plenum! Herr Solms, eine Klarstellung gleich vorneweg: In
den letzten Tagen und Wochen gab es von bestimmen
Anbietern in der Mineralölwirtschaft die drohende Gebärde, dass durch die Steuererhöhung eine Preiserhöhung
auf uns zukommt. Nach der dritten Runde der Beratungen im Finanzausschuss kann ich sagen: Das stimmt
nicht.
({0})
Es gab die Gefahr, dass wir die Beimischung von Ethanol
zu schnell zu stark besteuern. Auch in Abstimmung mit
der Mineralölwirtschaft haben wir einen Gleitflug bis
2009 erreicht. Die Auswirkungen wird der Markt zeigen.
Warum legen wir ein Biokraftstoffquotengesetz vor?
Damit wird der Auftrag der Regierungskoalition erfüllt.
Wir nehmen auch das Kiotoprotokoll ernst. In diesen TaNorbert Schindler
gen wurde vom Klimainstitut in Kiel berichtet, dass es
nach den nächsten 70 bis 100 Jahren keine Gletscher
mehr in den Alpen gibt. Die Erde erwärmt sich durch
den Eintrag von CO2 in die Atmosphäre nach wie vor
weiter, weil wir mit den vorhandenen Ressourcen nicht
haushalten. Jeder weiß das. Deutschland ist jetzt wieder
einmal bereit, Vorreiter auf der europäischen Ebene zu
sein.
Ja, es ist richtig: Nachwachsende Rohstoffe müssen in
den Wirtschaftskreislauf. Durch die Sonne wachsen die
Rohstoffe wieder nach. Dies ist nicht nur vernünftig,
sondern höchst notwendig.
({1})
Dass wir bei den Beratungen jetzt auch die Quote bis
zum Jahre 2009 erhöht haben - bei Ethanol steigt sie
gleitend und bei Dieselersatzstoffen steigt sie stärker -,
ist ein gutes Ergebnis gegenüber dem Regierungsentwurf. Wir alle miteinander haben in dieser Sache gut entschieden.
({2})
Lieber Reinhard Schultz, ich sage hier einmal in aller
Deutlichkeit: Wären auch die Gesetzesvorhaben unserer
großen Koalition, die der Finanzausschuss nicht zu verantworten hat, nach hartem Streit hinter verschlossenen
Türen - wir haben uns gefetzt, aber niemand ist mit einer
unnötigen Presseerklärung nach draußen gegangen - mit
einer ähnlichen Vernunft beraten und verabschiedet worden, dann wäre das Bild unserer großen Koalition weiß
Gott besser.
({3})
Das sage ich mahnend allen unseren Freunden innerhalb
der Koalition.
({4})
Herr Solms, Sie haben mit Recht auf die fiskalischen
Auswirkungen hingewiesen. Ich erinnere mich, wie
schwer sich die FDP 2004 mit der Steuerfreistellung tat.
Wir sind gute Partner, Herr Solms, und gehen offen miteinander um, auch wenn wir in der Sache gelegentlich
uneinig sind. Die Steuerfreistellung damals war richtig.
({5})
Sie haben ihr auch seinerzeit bei der Vorbereitung im Finanzausschuss zugestimmt.
Wenn die Vorzugsbehandlung der LKW-Flotte unserem Staat auf Dauer Verluste von über 2 Milliarden Euro
beschert, dann sollten wir auch keine Erwartungshaltung
gegenüber der Politik in Bezug auf zu hohe Investitionen
im ländlichen Raum wecken. Ich komme zwar selbst aus
dem ländlichen Raum, aber meines Erachtens war bei
Einnahmenverlusten in Höhe von 2 Milliarden Euro eine
vernünftige Regelung seitens des Staates notwendig.
Eine entsprechende Änderung wird jetzt vorgenommen.
Die Koalition hat beschlossen, von der Steuerfreistellung abzugehen. Wir wollen zwar nachwachsende Rohstoffe fördern, aber dies soll in einem ordnungspolitischen Rahmen erfolgen, mit dem nicht nur die
Steuereinnahmen gesichert werden, sondern auch ein
deutlicher Mehrverbrauch von nachwachsenden Rohstoffen in der Bundesrepublik Deutschland erreicht wird.
Was in diesen Tagen in Belgien beschlossen wird, wo
eine noch striktere Quotenregelung für die Hersteller angestrebt wird, zeigt, dass sich Europa daran ein Beispiel
nimmt.
Nebenbei bemerkt wird immer wieder angeführt, dass
Arbeitsplätze in Gefahr sind und andere Schwierigkeiten
zu erwarten sind. Ich will an dieser Stelle noch einmal
darauf hinweisen, dass wir 300 000 bis 400 000 Arbeitslose weniger haben, dass die Wirtschaft brummt und
dass wir die Staatsfinanzen in den Griff bekommen haben. Wir sollten besser darüber reden, Reinhard Schultz,
statt über das Kleingedruckte zu streiten, und das noch
unnötigerweise in der Öffentlichkeit.
Die Zahlen sind gut. Sie werden merken, dass das in
einigen Wochen und Monaten auch in den Umfragen honoriert wird.
({6})
In dem Gesetzentwurf ist auch geregelt, was wir in
der Entwicklung der Biokraftstoffe der zweiten Generation im energetischen Bereich erreichen wollen. Auch in
dem vorliegenden Entwurf können Biokraftstoffe durch
Rechtsverordnung stärker gefördert werden. Das gilt für
alle Bereiche der Weiterentwicklung von BtL bis E 85.
Aber weil das am Markt derzeit nicht umsetzbar ist, nutzen wir als Gesetzgeber die Instrumente der Politik und
der Wirtschaft, von der Mineralölwirtschaft bis zur deutschen Landwirtschaft.
Bei der Einführung der Ökosteuer ist etwas überzogen worden. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf
korrigiert. Wenn die Stromkosten die Herstellungskosten
um mehr als 50 Prozent übersteigen, sind nach dem Gesetzentwurf Steuererleichterungen vorgesehen. Diese
Korrektur war auch im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland notwendig.
Die Überkompensationsprüfung haben wir in den
Beratungen um eine Unterkompensationsprüfung ergänzt, in der untersucht wird, ob den Herstellern in
Deutschland Nachteile entstehen. Das war im Regierungsentwurf ebenso wenig enthalten wie ein anderer
wichtiger Bereich. An alle Kritiker gerichtet weise ich in
diesem Zusammenhang auf den Klimaschutz hin. Wir
haben eine Nachhaltigkeitsregelung vorgesehen, über
die im kommenden Jahr noch einmal hier debattiert
wird. Der Bundesregierung wird ein entsprechender
Auftrag erteilt.
Was ist mit dieser Regelung gemeint? Wir wollen vermeiden, dass Gesetzeslücken entstehen, durch die weltweit Urwälder abgeholzt und die Tier- und Pflanzenwelt
durch Monokultur zerstört werden können, und dass versucht wird, mithilfe unserer Normen den deutschen
Markt mit unter solchen Bedingungen produzierten Erzeugnissen zu beliefern. Die Nachhaltigkeitsregelung
bedeutet in Verbindung mit der Cross-Compliance-Regelung, die die Europäische Union in den Luxemburger
Beschlüssen vereinbart hat, dass die Umwidmung von
landwirtschaftlichen Flächen innerhalb Europas - ob
Wald oder Wiesen - zur landwirtschaftlichen Energieerzeugung oder zur Herstellung von Nahrungsmitteln nicht
mehr gestattet ist. Das ist ein wichtiger Bestandteil des
Schutzes, der in der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie festgelegt ist. Was wir uns selbst auferlegt haben, muss auch
auf europäischer Ebene als Kriterium gelten. Ich habe
keine Bedenken, das als Deutscher gegenüber der Europäischen Union zu vertreten, weil sie zur Zustimmung
verpflichtet ist.
Es kommt uns auch in Zukunft zugute, wenn wir eine
aktive Umweltpolitik betreiben. Deswegen ist dieses Gesetz in umweltpolitischer Hinsicht fortschrittlich und
richtig.
({7})
Wir haben bewusst dafür gesorgt, dass mit Blick auf
die Nachhaltigkeitsregeln bestimmte Importhindernisse
gelten. Die Regierungsvorlage hatte solche nicht vorgesehen. Wir lassen bei der Unterposition 3824 90 99 das
Untermischen von E 85 nicht zu. Um diesen Punkt haben wir hart gerungen, genauso wie um die Entlastungsmaßnahmen bei der Verwendung von Kohle, § 51 des
Energiesteuergesetzes.
({8})
- Herr Solms, warten Sie es doch ab!
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Bulling-Schröter zulassen?
Bitte schön.
Bitte, Frau Bulling-Schröter.
Herr Kollege Schindler, wir halten die von Ihnen angesprochenen Nachhaltigkeitsregeln für dringend notwendig. Des Weiteren haben Sie die Einfuhr bzw. den
Anbau innerhalb Europas erwähnt. Schon jetzt werden
in Brasilien Regenwälder abgeholzt, um Palmölpflanzen
anzubauen. Wir wissen, dass diese Pflanzen nur zweimal
angebaut werden können; danach entsteht Wüste. Auf
dem Biomarkt herrschen ebenfalls Wettbewerb und
Konkurrenz. Die großen Unternehmen werden natürlich
dort einkaufen, wo die Rohstoffe am billigsten sind, zum
Beispiel in Brasilien. Sind Sie mit mir einer Meinung,
dass es dringend notwendig ist, über die Thematik erneut
zu diskutieren? Denn wir alle machen uns schuldig,
wenn wir nicht möglichst schnell Nachhaltigkeitsregeln
aufstellen, die wirklich nachhaltig wirken.
Auch wenn Sie, Frau Kollegin, Abgeordnete der Linken sind: Danke für Ihre gute Zwischenfrage.
Was Sie gesagt haben, trifft zu. Brasilianisches Ethanol ist ein gutes Beispiel für negative Auswirkungen wie
Abholzung. Es ist zwar international im Angebot, wird
aber derzeit in Europa aufgrund seines Preises nicht verwendet. Wir haben der Bundesregierung den Auftrag gegeben, für Nachhaltigkeitsregeln - ich nenne in diesem
Zusammenhang nur das Stichwort „Cross Compliance“ einzutreten und diese im europäischen Recht - genauso
wie bei anderen Produkten - zu verankern. Wenn das gelingt, hat die Europäische Union die verdammte Pflicht
und Schuldigkeit, dies bei der nächsten WTO-Runde zu
vertreten. Es dient der ganzen Menschheit. Wir sind daher auf einem guten Weg.
({0})
- Herr Kollege Loske, natürlich brauchen wir die Bauern, wenn es darum geht, nachwachsende Rohstoffe zu
erzeugen, und zwar gerne auch in Europa. Es geht aber
nicht nur um den Anbau. Vielmehr entwickeln wir einen
neuen Ansatz beim Produktionsvermögen als dritten
Weg der europäischen Landwirtschaft. Dazu bekennen
wir uns ausdrücklich im Gesetz. Wir wollen natürlich die
Bauern als Lieferanten, aber auch die Mineralölwirtschaft weiterhin als Partner haben. Nur gemeinsam geht
es. Das sind die Ziele.
Ich bedanke mich für die Harmonie zwischen SPD
und Union. Es war nicht immer so. Aber hier war die
Zusammenarbeit vorbildlich. Dank an die Kollegen vom
Finanzausschuss. Es ist ein gutes Gesetz. Machen wir es
so!
({1})
Ich nehme an, dass Sie keine Beurteilung von mir erwarten.
Ich gebe dem Kollegen Hans-Kurt Hill von der Linksfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In dem Biokraftstoffquotengesetz steckt mehr drin, als
der Titel ahnen lässt.
({0})
Erstens. Per Gesetz wird hier eine neue Zulieferindustrie
für Mineralölkonzerne geschaffen. Sie erdrosseln gleichHans-Kurt Hill
zeitig eine ganze Branche, diejenigen, die reine Biokraftstoffe herstellen, und gefährden damit langfristig
Hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland. Herr
Dr. Solms hat es eben auf den Punkt gebracht.
Ich beziehe mich hier auf eine Meldung des Biokraftstoffverbandes von dieser Woche. Biokraftstoffe sollen
dem herkömmlichen Benzin und Diesel zu vorgeschriebenen Anteilen beigemischt werden, und das bei vollem
Steuersatz. Was wird die Mineralölwirtschaft machen?
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat es eben gesagt.
BP und Co. werden dort kaufen, wo es am billigsten ist,
nämlich im Ausland, bzw. sie werden, Herr Schindler,
unserer Landwirtschaft die Preise diktieren. Die Herstellung von Biosprit rechnet sich nur - ganz wie es sich unser Industrieminister, Herr Gabriel, vorstellt - in wenigen Großanlagen der Multis.
({1})
Um die Produktionskapazitäten auszulasten, werden die
Energiepflanzen aus ganz Europa zusammengekarrt.
Auch hier ist am billigsten, was in riesigen Monokulturen angebaut wird und mit 40-Tonnen-LKWs über die
Autobahn gekarrt wird.
({2})
- Oder auch mit 60-Tonnern. - Da freuen sich der Kollege Toll Collect und insbesondere unser Finanzminister.
Zweitens. Reine Biokraftstoffe, die echte Alternative
zu fossilen Brennstoffen, werden aufs Abstellgleis geschoben. Was über die Zwangsquote hinaus auf den Biokraftstoffmarkt kommt, wird mit der Stufensteuer bestraft. Mit einer echten Förderung im Sinne der EURichtlinie für Biokraftstoffe hat das nichts zu tun.
({3})
Eine faire Steuerbegünstigung dagegen muss auch an
den Effekten für Klima-, Umwelt- und Naturschutz sowie Versorgungssicherheit gemessen werden. Sie müssen schon Hellseher sein, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn Sie zu wissen glauben, dass
sich für das Jahr 2010 daraus eine Steuerentlastung von
exakt 21,04 Cent je Liter ergeben wird.
Drittens. Der Effekt für den Klimaschutz ist gleich
null. Nicht nur Monokulturen und lange Transportwege
verschlechtern die Klimabilanz, bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Quotengesetz als eine Lex
Volkswagen. Nach einer aktuellen Klimaschutzstudie,
die der Europäische Verband für Verkehr und Umwelt
gestern veröffentlicht hat, wurden VW und Audi auf die
hinteren Plätze verwiesen. Unter den 20 meist verkauften Marken Europas belegen sie Platz 14 und 17. Grund
sind die miesen CO2-Werte ihrer Autos. Die selbst gesteckten Ziele von VW werden um fast 50 Prozent verfehlt. Aber mit beigemischtem Biosprit kann man die
Klimabilanz schönrechnen, indem auf dem Papier die
CO2-Neutralität des Biomasseanteils abgezogen wird.
VW liegt eben in Niedersachsen. Aber keine Sorge, wir
lassen Ihnen das nicht durchgehen.
Viertens. Sie subventionieren die energieintensive
Industrie mit klimafreundlichem Biosprit, Herr Schultz.
Mit der Zwangsquote kommt Finanzminister Steinbrück
auf rund 1,4 Milliarden Euro Steuereinnahmen.
({4})
Das kann man dem Titel des Gesetzes wirklich nicht entnehmen. Und Sie stopfen damit die Einnahmeausfälle in
gleicher Höhe, die durch massive Steuergeschenke an
die Beton-, Zement- und Gipsindustrie zustande gekommen sind.
Fazit: Das Biokraftstoffquotengesetz ist ein Durchlaufposten zulasten des Klimaschutzes und der Beschäftigung. Das kann nicht die Lösung sein.
({5})
Immerhin hat die Regierungskoalition - das hat Herr
Schindler eben ausgeführt - eingesehen, dass wir Nachhaltigkeitskriterien für Importbiosprit brauchen und dass
die Industrie ihre Energiebilanz verbessern muss, wenn
sie Steuervorteile nutzen will. Wir hoffen allerdings auf
sinnvollere Regeln im Vergleich zu dem Gebäudeenergiepass.
Was wir aber insgesamt brauchen, sind faire Förderbedingungen für reinen Biosprit, alternative Mobilitätsund Antriebskonzepte, nachhaltige Anbaumethoden, regionale Wirtschaftskreisläufe und Beschäftigung insbesondere im ländlichen Raum. Die Linke wird deshalb
dem hier vorliegenden Entschließungsantrag des Bündnisses 90/Die Grünen zustimmen, auch wenn wir an verschiedenen Punkten etwas zu kritisieren haben. Tun Sie
es auch, damit Klimaschutz Vorfahrt hat!
Danke schön.
({6})
Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Dr. Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schindler, dies ist - leider, möchte ich
hinzufügen - kein gutes Gesetz, dies ist ein schlechtes
Gesetz. Ich werde begründen, warum das so ist.
({0})
Das Gesetz besteht aus zwei Teilen, einmal dem Abbau der Sonderregelungen im Rahmen der Ökosteuer für
die Industrie und auf der anderen Seite für die Bioenergien.
Zum ersten Thema. Meines Wissens handelt es sich
gemäß dem Subventionsbericht der Bundesregierung um
Subventionen in Höhe von mehr als 5 Milliarden Euro.
Das sind Steuerprivilegien, die der Industrie im
Zusammenhang mit der Ökosteuer eingeräumt werden.
Die Intention der EU-Kommission, die das nur bis zum
Ende dieses Jahres notifiziert hat, ist, dass Steuerbefreiungen an ökologische Gegenleistungen gebunden werden müssen. Darauf verzichten Sie in diesem Gesetzentwurf vollständig. Im Gegenteil: Sie weiten die
Sondertatbestände sogar noch aus. Das hat mit Klimaschutz so viel zu tun wie die Kuh mit dem Sonntag, nämlich überhaupt nichts.
({1})
Das ist auch nicht zeitgemäß. Bei den Leuten greifen Sie
mit zusätzlichen 3 Prozentpunkten Mehrwertsteuer zu
und die Industrie kann ihre Privilegien behalten - das
kommt in der Öffentlichkeit als Ungerechtigkeit an, und
es ist auch ungerecht.
Zum zweiten Thema, zu den Bioenergien. Hier gibt
es gute und schlechte Elemente. Anerkennenswert ist,
dass man auf einen kontinuierlichen Wachstumspfad bei
den Bioenergien geht. Es ist gut, dass man langfristig
eine Ausbauperspektive hat; das gibt Investitionssicherheit.
({2})
Schlecht ist aber, dass Sie über dieses Instrument bestimmte Struktureffekte auslösen, dass Sie nämlich das
Geschäft komplett in die Hand der großen Mineralölkonzerne geben und diesen eine sehr starke Nachfragerposition einräumen. Im Ergebnis führt das nicht zu dem, was
wir ursprünglich wollten, nämlich Wertschöpfung im
ländlichen Raum und Erwerbsalternativen für die Bauern zu schaffen. Es führt vielmehr zu einer weiteren Monopolisierung im Bereich der Mineralölwirtschaft und
das ist schlecht.
({3})
Das muss man in Kombination mit dem Gesetz sehen,
das Herr Kollege Solms angesprochen hat, mit dem
Energiesteuergesetz, das gerade ein paar Monate alt ist.
Damit haben Sie alle steuerlichen Vorteile, die bis 2009
garantiert waren, zurückgenommen. Sie führen die Bioenergien jetzt Schritt für Schritt in die Vollbesteuerung.
Das wirkt sich natürlich ganz klar zulasten des Mittelstandes aus; Sie können das auch nicht anders verkaufen.
Das ist mittelstandsfeindlich und bedeutet einen Bruch
mit der Rechtssicherheit. Auch das ist schlecht.
({4})
Noch einige Worte zu den Änderungsanträgen im
Ausschuss. Die Änderungsanträge - es waren 17 an der
Zahl - kamen wie immer sehr spät. Im Ausschuss habe
ich gesagt, dass die rot-grünen Zeiten dagegen ein Hort
der Berechenbarkeit und Planbarkeit waren. Das will ich
hier aber nicht ausweiten. Unter den Änderungsanträgen
sind ein paar gute, denen wir im Ausschuss auch zugestimmt haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass man jetzt
bis zum Jahr 2015 planen kann und dass die Strafe für
diejenigen erhöht wird, die die Quote nicht einhalten.
Einige allzu dreiste Regelungen in Ihrem Gesetzentwurf
- zum Beispiel, dass große Teile der Industriegase komplett von der Steuer befreit werden sollen - haben Sie
selber wieder herausgenommen. Dem stimmen wir natürlich auch zu.
Aber wir stimmen vielen Sachen, die Sie nachträglich
noch hineingeschummelt haben, nicht zu. Dass Sie ausgerechnet die Kohle als Prozessenergie von der Steuer
befreien wollen, halten wir für falsch. Wir halten es auch
für falsch, dass Sie zusätzliche Tatbestände für Steuerbefreiungen schaffen. Bei der Anhörung habe ich erlebt,
dass die Vertreter des VCI und des BDI hochzufrieden
waren. Die hatten bis auf einen Punkt nichts zu meckern.
Sie wollten, dass die chemische Reduktion auch noch
von der Steuer befreit wird. Und siehe da: Was passiert?
Die chemische Reduktion wird auch noch von der Steuer
befreit. - Das ist Industriepolitik à la große Koalition
und nicht sehr überzeugend.
({5})
Ich möchte noch etwas zu den technischen Fragen sagen. Wichtig fand ich im Ausschuss - leider fehlt das im
Ausschussbericht -, dass diese DIN-Norm, die ich hier
nicht im Detail ausführen will, so zu interpretieren ist,
dass sie nicht nur für Rapsöl, sondern für alle Pflanzenöle gilt, also auch für die uns allen sehr wichtige Sonnenblume sowie für Leinen und Leindotter. Das war eine
wichtige Präzisierung, die Rechtssicherheit schafft.
Eine Frage möchte ich aber noch an die Koalitionsfraktionen richten. Sie können Sie vielleicht beantworten,
Herr Schultz; Sie reden ja nach mir. Sie haben angekündigt, dass Sie im Gegenzug zu den Steuerbefreiungen im
Rahmen der Ökosteuer von den mittleren und großen
Unternehmen über kurz oder lang ein Energiemanagementsystem verlangen. Ich frage Sie zunächst einmal:
Warum steht das nicht im Gesetz? Eine Ankündigung ist
wohlfeil. Ich frage weiter: Wann kommt das und wie soll
es aussehen? Nur wenn man das weiß, sind nach meiner
Einschätzung diese Steuerprivilegien gegenüber der Industrie überhaupt zu rechtfertigen.
({6})
- Wir sind hier aber im Plenum und nicht im Ausschuss.
Letzter Punkt. Ich halte es für eine ganz wichtige Aufgabe der Umweltpolitik und der Finanzpolitik, dass wir
das hinbekommen, was Sie bis Juli 2007 angekündigt
haben, nämlich dass wir eine Verordnung über Bestimmungen für den nachhaltigen Anbau von Energiepflanzen auf den Weg bringen. Wir werden damit in Europa
und im internationalen Bereich Standards setzen. Das
darf nicht, wie der Kollege Solms zu Recht sagte, neoprotektionistisch oder abschottungsmäßig daherkommen. Es müssen aber hohe Qualitätsstandards sein, die
für jeden in der Welt gelten. Das deutsche Parlament
steht hier vor einer großen Aufgabe.
Danke schön.
({7})
Der Kollege Reinhard Schultz spricht für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal bedanke ich mich natürlich
bei Norbert Schindler und allen, die an dem Gesetzentwurf mitgewirkt haben. Die Zusammenarbeit war wirklich stilprägend: hart in der Sache, diskret und mit einem
guten Ergebnis. Das kann man sicherlich auf andere Prozesse übertragen.
Den Hasenfüßen und Zweiflern, die hier ständig erzählen, wir würden mit unserer Gesetzgebung ganze
Branchen platt machen, kann ich sagen: Nachdem
Norbert Schindler und ich die Verhandlungsergebnisse
der Koalition vor zwei Tagen in einer kleinen Pressemitteilung bekannt gegeben haben, wurde abends in den
Nachrichten berichtet, dass die Biokraftstoffwerte - wegen der langfristigen Perspektive und dem großen
Marktvolumen, das wir den Biokraftstoffen einräumen durch die Decke geschossen sind. Alles andere ist Geplärre, das Sie von sich geben, weil Sie selber nichts zustande gebracht haben. Der Markt bewertet das, was wir
hier vorhaben - bevor wir es beschlossen haben -, ausgesprochen positiv.
({0})
- Keiner von uns hat irgendwas gekauft, um das klar zu
sagen, Herr Kollege Dautzenberg.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hill zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Schultz, mit den Werten, die Sie eben
angesprochen haben, haben Sie sicherlich die Börsenkurse gemeint. Glauben Sie, dass die Börse diejenigen
vertritt, die kleine Ölmühlen betreiben, also die Landwirte, und dass diese genauso gejubelt haben an dem
Abend?
Ja, ich glaube, dass ein großer Teil von denen genauso
gejubelt hat, weil sie bei der Gelegenheit mitbekommen
haben, dass sich im Bereich der Biokraftstoffe ein wesentlich größeres, ständig steigendes Marktvolumen abzeichnet, das sie auch bedienen können. Es wird geradezu wie durch ein Vakuum eine Sogwirkung entstehen
und die Erzeuger werden die Wahl haben, ob sie für den
freien, reinen Biokraftstoffmarkt oder für die Quote produzieren. Die Ansätze sind dermaßen groß, dass auch die
Kleinen daran mitverdienen können. Je größer der
Markt, umso eher hat auch das etwas teurere, dezentral
hergestellte Rohprodukt eine Chance, in die Quote Eingang zu finden. Deswegen freuen sich die dezentralen
Erzeuger genauso wie wir und wie diejenigen, die auf
die Börsenwerte geschaut haben, Herr Kollege Hill.
({0})
Das heißt ganz konkret, dass wir erstens schon bis
2010 das Volumen, das durch die Quote abgebildet wird,
deutlich erhöht haben und dass wir darüber hinaus
Schritte bis 2014 vorgezeichnet haben, um insgesamt
volumenbezogen auf 10 Prozent Beimischung zu kommen. Das ist eine gewaltige Zahl; eine volumenbezogene
Beimischung von 10 Prozent würde 8 Prozent vom
Energieinhalt ausmachen. Unabhängig davon haben wir
für fast denselben Zeitraum auch für die reinen Biokraftstoffe Vertrauensschutz gegeben - viel länger als ursprünglich versprochen,
({1})
allerdings mit einer progressiven Besteuerung, um die
Preise dieser reinen Biokraftstoffe an die Realität heranzuführen.
Herr Solms, wenn Sie als jemand, der ansonsten in
Sonntagsreden der Weltmeister im Subventionsabbau ist,
erzählen, dass die einzige Lösung, eine neue Industrie
aufzubauen, darin besteht, dass man sie über Jahrzehnte
mit hohen steuerlichen Subventionen mästet,
({2})
dann sind Sie auf dem Holzweg. Eigentlich widerlegen
Sie sich mit Ihrem Ansatz selber.
({3})
Natürlich ist auch die Quote eine indirekte Subventionierung, weil das Produkt, das beigemischt wird, für
die Verbraucher möglicherweise zu einer geringfügig
höheren Preisbelastung führt. Auf dem anderen Weg
zahlt es derselbe Kraftfahrer über die Kraftfahrzeugsteuer oder über die Mineralölsteuer, allerdings nicht
über den Durchlauferhitzer Bundeshaushalt; denn der ist
der einzige von allen Haushalten im föderativen Aufbau
unseres Staates, der unter diesen Ausfällen zu leiden hat.
Diese Steuereinnahmen werden ja nicht geteilt; der Bund
nimmt sie entweder vollständig ein oder verliert sie vollständig. Wir haben aber nichts zu verlieren.
({4})
Wenn es möglich wäre, über ein ordnungsrechtliches Instrument ein noch höheres Marktvolumen zu erreichen,
dann wären wir wirklich bekloppt, wenn wir nicht versuchen würden, dieses Instrument zu nutzen.
({5})
Wir wollen den Markt systematisch entwickeln. Deswegen wird es jährlich im Herbst einen Biokraftstoffbericht geben, der über die Zusammensetzung, über die
Reinhard Schultz ({6})
Kosten der Rohstoffe, über die Preisrelationen zwischen
konventionellem Mineralöl und neuen Kraftstoffen präzise Auskunft gibt. Notfalls kann man, wenn es bei den
Preisverhältnissen wirklich zu langfristigen Verwerfungen kommt, natürlich noch nachsteuern. Ich gehe davon
aus, dass das nicht notwendig sein wird. Die Prognosen
der Grünen, der FDP oder von wem auch immer sagen in
Bezug auf andere Gebiete voraus, dass wir uns eher auf
steigende und nicht auf ständig sinkende Ölpreise einrichten müssen. Von ständig sinkenden Ölpreisen auszugehen, wäre eine völlig abwegige Erwartung, der wir uns
nicht anschließen. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Deswegen wird es diese Berichterstattung
geben.
In diesem Zusammenhang sei ganz offen gesagt: Es
gibt auch Fehlentwicklungen. Es kann nicht sein, dass
wir entweder über eine steuerliche Förderung oder über
einen dauerhaften Zugang zur Quote dafür sorgen, dass
ein bestimmter Rohstoff bei der Dieselherstellung verwendet wird, wenn dieser Rohstoff an einer anderen
Stelle der Produktionskette, nämlich bei der oleochemischen Industrie, fehlt. Ich spreche von den tierischen
Fetten. Es bestand keine Notwendigkeit, einzugreifen.
Wenn man subventioniert, dann muss man genau
schauen, ob es nicht zu Marktverzerrungen kommt.
Dazu wäre es gekommen. Deswegen haben wir die entsprechenden Möglichkeiten begrenzt.
Ich möchte ein letztes Wort zum Thema „Energiebesteuerung des produzierenden Gewerbes“ sagen. Wir haben uns darauf verständigt, den Input zur Stromerzeugung nicht zu besteuern. Strom als Produkt wird
besteuert. Wir haben uns darauf verständigt, dass Energie, die in chemischen Prozessen zur Stoffumwandlung
eingesetzt wird, nicht besteuert wird. Das Ergebnis, das
Produkt, wird selbstverständlich besteuert. Das gilt für
alle Formen der in chemischen Prozessen eingesetzten
Energie.
Nach der Verabschiedung des Energiesteuergesetzes haben wir in einer zweiten Runde einen Feinschliff
vorgenommen, um dafür zu sorgen, dass es in der Baustoffwirtschaft, in der Metallurgie nicht zu Verzerrungen
kommt, die wir politisch nicht wollen. Wettbewerbsgerechtigkeit ist nämlich ein ganz wichtiges politisches
Prinzip.
({7})
Was das produzierende Gewerbe allgemein angeht,
gilt - das stimmt -: Die Steuersätze sind wieder auf dem
Stand von 1998. Dagegen ist der Spitzenausgleich, also
der Ausgleich eines Überhangs im Verhältnis zwischen
Ökosteuerbelastung und Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung, eingefroren. Da vereinbart ist, dass
diese Arbeitgeberbeiträge steigen, wird es in diesem Bereich eine gewisse Gegenfinanzierung geben.
Wir haben gleichzeitig versprochen - auch das steht
in diesem Bericht -, dass wir parallel dazu ab dem
nächsten Jahr ein Energiemanagement für mittlere und
größere Unternehmen einführen wollen, und die Bundesregierung aufgefordert, hierzu bis Mitte des Jahres
ein abgestimmtes Konzept vorzulegen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich denke, das ist eine gute Lösung, die uns weiterführt. Ich bin überhaupt der Meinung, dass wir in Zeiten
hoher Energiepreise von zusätzlichen preissteuernden
Elementen wegkommen müssen. Wir müssen die Möglichkeiten ausschöpfen, die das Ordnungsrecht, die freiwillige Vereinbarung oder nicht pretiale Steuerungselemente bieten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat Eckhardt Rehberg für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Manche Debatte hier ist nur schwerlich zu verstehen. Manche reden über Industriepolitik, verunglimpfen sie. Diejenigen, die das tun, sind aber die Gleichen,
die auf der Matte stehen - ich schaue insbesondere auf
die linke Seite dieses Hauses - und der Politik die
Schuld dafür geben, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, weil sich die Standortbedingungen in Deutschland
für Zement, Gips, Quarz oder Metall verschlechtert haben. Ein Beispiel: Ein Produzent aus Baden-Württemberg verlagert seinen Standort ins Elsaß.
Herr Kollege Schultz hat es richtig dargestellt: Das
war ein Nachklapp des Energiesteuergesetzes. Man kann
es auch als einen notwendigen Feinschliff bezeichnen.
Herr Loske, Sie haben hier beklagt, dass möglicherweise
Steuereinnahmen fehlen. Das, was fehlt, kann man durch
Einnahmen aus der Einkommensteuer, der Gewerbesteuer oder anderen Steuern doppelt oder dreifach hereinholen. Insbesondere kommt es darauf an, dass es in
Deutschland mehr Arbeitsplätze gibt.
({0})
Wir sollten uns endlich einmal abgewöhnen, Regelungen zu treffen, mit denen man über EU-Recht hinausgeht, sozusagen draufsattelt. Das Beihilferecht macht es
möglich, dass nach § 51 des Energiesteuergesetzes bzw.
nach § 9 a des Stromsteuergesetzes so gehandelt worden
ist, wie es die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und
SPD vereinbart haben.
Wer etwas gegen Bürokratieabbau, wie er bei der
Kohlebesteuerung stattfindet, hat, den verstehe ich nun
gar nicht. Hier ist die Wahlfreiheit gegeben, ob man die
Steuererstattung im Nachhinein beantragt oder ob man
sie - wie es für die Stahlindustrie geregelt ist - gleich bekommen möchte.
Ich muss Ihnen sagen: Gerade auf diese beiden
Punkte bin ich aus Sicht der Wirtschaftspolitik stolz. Die
Standortbedingungen in Deutschland sind endlich einmal nicht schlechter als in den anderen europäischen
Ländern. Was die Kohlebesteuerung angeht, haben wir
gemeinsam einen Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet.
({1})
Einige scheinen, gerade was den ländlichen Raum
betrifft, nicht so recht zu wissen, worüber sie reden.
Wenn Sie sich die Entwicklung im ländlichen Raum ansehen, stellen Sie fest, dass in süddeutschen Ländern
mehr über Kooperation läuft, weil die Flächenstrukturen
nicht so groß sind. In Mecklenburg-Vorpommern hat
mittlerweile fast jede größere Betriebseinheit - die größeren Betriebseinheiten beginnen bei mir bei über
1 000 Hektar - Anlagen, um kaltgepresstes Pflanzenöl
herzustellen. Der Selbstkostenbereich liegt hier bei
55 bis 60 Cent pro Liter. Das bleibt über die nächsten
Jahre hinaus steuerfrei. Es ist echte Wertschöpfung im
ländlichen Raum, dass der Landwirt mit dem Raps, den
er anbaut, seinen Traktor oder seinen Mähdrescher betreibt, um die Felder bewirtschaften und die Ente einbringen zu können. Das ist echte Wertschöpfung und
nicht das, was Sie darunter verstehen.
({2})
Nebenbei gesagt: Ich habe den Gesetzentwurf so gelesen, dass reine Biokraftstoffe im ländlichen Raum, verwendet in der Land- und Forstwirtschaft, genauso angerechnet werden wie die anderen Biokraftstoffe.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Aspekte
eingehen, damit hier nicht zu viel Friede, Freude, Eierkuchen herrscht. Herr Kollege Schultz, das, was Sie angesprochen haben, ist kein Fehler. Wir müssen uns in
Deutschland überlegen - aus sicherheitspolitischen,
energiepolitischen und umweltpolitischen Gesichtspunkten -, ob wir es uns leisten können, auf der einen Seite
motorfähiges Heizöl zu verbrennen, auf der anderen
Seite aber Wertstoffe, die als Biomasse dienen können,
nicht zu Biokraftstoffen zu verarbeiten. Dies müssen wir
uns - das sage ich ganz offen für die Unionsfraktion - im
Bereich der tierischen Fette, aber auch im Bereich der
Lebensmittelreste und in vielen anderen Bereichen
fragen. Wir müssen in den nächsten Jahren sehr klug
agieren. Es kann nicht sein, dass wir Biomasse teuer entsorgen müssen, obwohl bestimmte Biomasse zur Herstellung von Biokraftstoffen dienen kann. Aus meiner
Sicht bleibt uns gar nichts anderes übrig, als hier in einem Diskussionsprozess zu bleiben. Das sind wir übrigens auch der Umwelt schuldig.
({3})
Letzte Bemerkung: Ich bin sehr froh über die Einlassung des Deutschen Bauernverbandes und der Biokraftstoffverbände in der Anhörung, die befürworten, dass
das, was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, europäische Norm werden soll. Deswegen ist es gut und richtig,
dass das in der Beschlussempfehlung so verankert ist.
Das ganze Haus sollte diesen Prozess unterstützen; denn
wir haben mit der EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Januar
2007 die Chance, dies direkt in den europäischen Diskussionsprozess einzubringen.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD erteile ich Marko Mühlstein das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Wochen haben wir an
dieser Stelle in der ersten Lesung den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoffquote beraten. Neben vielen positiven Ansätzen bestand
an einigen wichtigen Stellen aus umweltpolitischer Sicht
erheblicher Nachbesserungsbedarf. Dank zügiger und
effizienter Verhandlungen mit meinen Fraktionskollegen
und vor allem mit dem Koalitionspartner, lieber Kollege
Schindler, konnten wichtige Erfolge für Umwelt und
Biokraftstoffwirtschaft erzielt werden. Dafür möchte ich
mich bei allen Beteiligten ganz herzlich bedanken.
({0})
Das Biokraftstoffquotengesetz verpflichtet die Mineralölwirtschaft dazu, einen wachsenden Mindestanteil
an Biokraftstoffen zu vertreiben. Die Einzelquoten der
Beimischung, die jetzt eine Gesamtquote von 5,75 Prozent bilden, werden künftig linear angehoben, um bis
zum Jahr 2015 10 Volumenprozent Gesamtquote zu erreichen; das entspricht 8 Prozent der durch die Kraftstoffe erzeugten Gesamtenergie. Das sage ich vor allem
vor dem Hintergrund, dass ich aus einem Bundesland
- aus Sachsen-Anhalt - komme, in dem immerhin ein
Fünftel des Biodiesels der gesamten Bundesrepublik
produziert wird.
({1})
Wir haben weiterhin vereinbart, mittlere und große
Industrieunternehmen zu Transparenz in Sachen Energiemanagement zu verpflichten, Herr Hill. Die Überprüfung wird im Rahmen eines Energieaudits erfolgen,
bei dem Zertifizierungen vergeben werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, hierzu bis Mitte kommenden Jahres die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
Ein entscheidender Erfolg für Produzenten, Vertreiber
und Verbraucher von Biokraftstoffen ist die von uns erreichte faktische Aufhebung der so genannten fiktiven
Quote für Reinbiokraftstoffe. Sie wäre vor allem für
kleine und mittelständische Unternehmen der Biokraftstoffbranche, die bei der Diskussion im Plenum schon
häufig eine Rolle gespielt haben, ein erheblicher Wettbewerbsnachteil gewesen.
Bei der Frage der Unterkompensation ergibt sich aus
der Berichtspflicht der Bundesregierung zur Überkompensation das Zahlenmaterial, das es uns im Falle einer
einseitigen Überbesteuerung von Biokraftstoffen ermöglicht, rechtzeitig gegenzusteuern. Diese Aufgaben werden wir als Parlamentarier zu übernehmen haben.
({2})
Besonders freue ich mich darüber, dass wir uns auf
ein Nachhaltigkeitszertifikat für Biokraftstoffe einigen
konnten. Bis Mitte Juli 2007 wird eine Verordnung vorgelegt, um einen nachhaltigen und naturverträglichen
Anbau zur Herstellung von Biokraftstoffen zu gewährleisten.
({3})
So wird sichergestellt, dass für die Erzeugung von Biokraftstoff, zum Beispiel aus Palmöl, keine tropischen
Regenwälder abgeholzt oder durch Brandrodung zerstört
werden.
({4})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
wir uns unserer besonderen Verantwortung für dieses
wichtige und sensible Ökosystem bewusst sind.
({5})
Die herkömmlich genutzten Kraftstoffe basieren beinahe ausschließlich auf begrenzt verfügbaren fossilen
Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas. Zwangsläufig ist mit
deren Verknappung und deutlichen Verteuerung zu rechnen. Bei allen richtigen und wichtigen finanz- und steuerpolitischen Erwägungen, die wir in den letzten Wochen diskutiert haben: Wir müssen jetzt die Weichen für
die künftige Versorgungssicherheit stellen und gleichzeitig die Ziele im Bereich des Klimaschutzes, die wir
uns selbst gesteckt haben, mit aller Kraft verfolgen.
({6})
Ich bin der Auffassung, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf - aus umweltpolitischer Sicht konnten wir da ja Verbesserungen erzielen - einen Schritt in
die richtige Richtung tun.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Biokraftstoff-
quotengesetzes, Drucksachen 16/2709 und 16/3035. Zur
Abstimmung liegt eine schriftliche Erklärung der Kolle-
gin Flachsbarth und des Kollegen Göppel vor, die unter-
stützt wird von der Kollegin Reiche, dem Kollegen
Holzenkamp, dem Kollegen Röring, dem Kollegen
Dr. Lehmer und dem Kollegen Petzold.1)
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/3156, den Gesetzent-
1) Anlage 5
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem-
selben Ergebnis wie vorhin angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der FDP auf Drucksache 16/3173? - Die Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei
Zustimmung durch die FDP und Ablehnung durch den
Rest des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/3172? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch die
Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und Die
Linke, bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Ablehnung
durch CDU/CSU und SPD abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
- Drucksache 16/1444 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Barbara
Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
- Drucksache 16/3015 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Herbert Schui, Die Linke, das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Eigenschaft des klassischen Unternehmers gilt üblicherweise, dass er alles in seinem Betrieb nach dem
wirtschaftlichen Nutzen beurteilt. Dies wird sicherlich
von einigen väterlichen und fürsorglichen Gefühlen
durchwirkt und durch Maßnahmen für die Mitarbeiter
ergänzt; sonst wäre das Unternehmerbild sicherlich nicht
positiv genug. Wäre dieser klassische Unternehmertyp
noch vorherrschend, dann würde der Unternehmer dem
Manager das zahlen, was er wert ist.
Anders ist es dagegen, wenn Konzerne nicht mehr
von Unternehmern des klassischen Typs geleitet werden.
Nun entscheiden Manager selbst darüber, was sie wert
sind. Das ist eine Facette kapitalistischer Dekadenz.
({0})
Das Auftreten vieler Manager macht klar, dass es ihnen
an Selbstwertgefühl nicht fehlt. Sie sagen „Leistung
muss sich wieder lohnen“ und belohnen sich reichlich.
Dagegen ordnete John Pierpont Morgan Ende des
19. Jahrhunderts an, dass der bestbezahlte Manager seines Unternehmens nicht mehr als das 20-Fache des am
schlechtesten bezahlten Angestellten verdienen solle.
Diese harte Kontrolle durch den klassischen Unternehmer fehlt. Gegenwärtig verdient ein deutscher Manager das 400-Fache des durchschnittlichen Facharbeiterlohns; 1980 war es noch das 40-Fache. Sie sollten den
Mut finden, die Managergehälter zu begrenzen und einem gesetzlichen Mindestlohn von nur 8 Euro pro
Stunde zuzustimmen. Damit würden Sie für ein Stück
sozialer Gerechtigkeit sorgen.
({1})
- Betriebsunfall.
Der Gesetzgeber ist hier gefragt. Die Gesamtbezüge
eines Vorstandsmitgliedes sollten das 20-Fache des Lohnes eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten
in der untersten Lohngruppe nicht übersteigen. Der Gesetzgeber muss durchsetzen, was vorher Aufgabe des
klassischen Unternehmers war.
({2})
Aufsichtsräte und Aktionäre sind jedenfalls nicht geeignet, die notwendige Kontrolle auszuüben. Die Aufsichtsräte sind häufig genug Versorgungseinrichtung abgedankter Vorstände; nicht zuletzt das Depotstimmrecht
macht es leicht, sie als Aufsichtsräte durchzusetzen.
({3})
Aktienoptionen für Manager sind zu untersagen.
Sie machen oft ein Drittel und mehr der Gesamtvergütung der Vorstände aus. Folglich haben die Manager ein
Interesse daran, den Kurs in die Höhe zu treiben, wenn
die Option fällig ist. Diese Kurspflege geht nicht selten
zulasten der Substanz des Unternehmens. Wer von den
Aktionären auf Draht ist, nimmt - wie die Manager den Gewinn mit. Die Aktionäre tragen kein Risiko. Sie
können einfach aussteigen. Sie haben kein Interesse, solche Optionen zu unterbinden.
({4})
Auch der Manager geht kein Risiko ein. Hat er zu wenig geleistet, hat er trotzdem Anspruch auf eine Verabschiedung mit goldenem Handschlag. Besonders krass
war das bekanntlich bei Klaus Esser. Er erhielt bei seinem Ausscheiden eine Anerkennungsprämie in Höhe
von 16 Millionen Euro, zusammen mit der vertraglichen
Abfindung und den Sachansprüchen 33 Millionen Euro.
({5})
Bekanntlich wird in dieser Sache seit heute erneut gerichtlich verhandelt. Die Frage ist: Wird das Gericht im
Sinne des BGH von einer kompensationslosen Prämie
ausgehen?
Die Rechtsprechung ist offenbar bereit, sich der Frage
der Managergehälter anzunehmen. Bessere Gesetze, wie
wir sie vorschlagen, werden in dieser Sache hilfreich
sein.
Ich zitiere Finanzminister Steinbrück, um Ihnen die
Zustimmung zu unseren Gesetzentwürfen zu erleichtern;
vielleicht kommt ja seine Art zu denken bei der SPD
besser an.
Ich erlebe
- so Steinbrück für meinen Geschmack zu häufig eine gewisse
Maßlosigkeit in den Führungsetagen deutscher Unternehmen, die es bei den Gründungsvätern des
deutschen Wirtschaftswachstums so nicht gab.
Herr Kollege Thierse spricht in diesem Zusammenhang von „wahren Exzessen an Gehaltssteigerungen“,
einer Entwicklung, die er als „obszön“ bezeichnet.
Da die Dinge so liegen, kann die Linke nun sicherlich
mit Unterstützung aus den Reihen der Koalition rechnen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass wirtschaftsrechtliche Gesetze durch den
Deutschen Bundestag zu selten oder zu zurückhaltend
geändert würden, kann man wahrlich nicht behaupten.
Die Halbwertszeit so mancher Änderung betrug in den
letzten Jahren oft nur einige Monate. Nun aber beantragt
die PDS in zwei separaten Anträgen, ein und denselben
Paragrafen des Aktiengesetzes gleich zweimal zu ändern. Dies dürfte, wenn es denn Gesetz würde, einen
schwer zu überbietenden Rekord in Sachen Regulierungswut des Deutschen Bundestages darstellen.
({0})
Aus beiden Anträgen spricht nach meiner Überzeugung ein tiefes Misstrauen gegen die soziale Marktwirtschaft
({1})
seitens der Abgeordneten, die auf der extrem linken
Seite dieses Hauses sitzen und das auch noch bestätigen.
({2})
Offenbar reicht der Konsens zur sozialen Marktwirtschaft nur bis zu diesem Punkt in diesem Hause. Es ist
gut, das in der Debatte einmal festgestellt zu haben.
({3})
Soziale Marktwirtschaft bedeutet den Schutz der
Schwachen in unserer Gesellschaft.
({4})
Die von der Linken vorgeschlagene Beschränkung der
Verdienstmöglichkeiten nach oben hin hat aber nichts
mehr mit dem Schutz der sozial Schwachen zu tun, sondern lässt sich wohl mit der sicherlich zutiefst menschlichen Regung des Neides erklären.
({5})
Durch Ihre Vorschläge wird kein einziger Arbeitnehmer
auch nur 1 Euro mehr auf seinem Gehaltskonto vorfinden. So menschlich die Gefühlsregung des Neides für
alle Menschen ist, als Maßstab für das Handeln des Gesetzgebers taugt sie mit Sicherheit nicht. Die CDU/CSUBundestagsfraktion wird einer solchen Politik des billigen Populismus ihre Hand nicht reichen.
({6})
Wenn die Linke allen Ernstes das Gehalt der AG-Vorstände an das Gehalt der untersten Lohngruppen binden
will, dann kann man ihre Anträge eigentlich nur als Aufforderung zum Abbau von Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte in Deutschland verstehen.
({7})
Nach dem Linke-Antrag müsste ein DAX-Vorstand ja
nur die niedrigen Lohngruppen wegrationalisieren oder
ins Ausland verlagern und schon könnte er sein Gehalt
steigen lassen.
({8})
Damit Sie mich richtig verstehen: Mir geht es überhaupt nicht darum, die konkrete Vergütung für jedes einzelne Vorstandsmitglied der Welt zu verteidigen. Ich bin
durchaus der Auffassung, dass insbesondere in den
USA, aber auch in einigen Fällen in Deutschland Vorstandsvergütungen eine Höhe erreichen, die man nur
noch als unanständig bezeichnen kann.
({9})
Zudem wird nicht jeder Unternehmensführer mit hohem
Gehalt seiner besonderen Verantwortung gerecht, wie
man in den letzten Monaten wieder sehen konnte. Aber
- jetzt kommt das, was uns unterscheidet - für alle Politiker dieses Hauses, die nicht gerade von einem alles erfassenden Regulierungswahn besessen sind, besteht ein
Unterschied zwischen gesellschaftlichen Defiziten und
gesetzlicher Regelungsnotwendigkeit.
({10})
Die Frage nach dem gerechten Lohn hat in der Tat
jahrhundertelang auch manche Juristen beschäftigt.
Schließlich musste man aber einsehen, dass diese Frage
juristisch nicht zu lösen ist. Diese Erkenntnis trat, rechtsgeschichtlich betrachtet, ziemlich präzise am Ausgang
des Mittelalters ein. Aus dem Umstand, dass die PDS die
Frage nach 500 Jahren noch einmal aufgreift, lassen sich
vielleicht Rückschlüsse über ihren politischen Entwicklungsstand ziehen.
Das Problem überzogener Vorstandsgehälter hat - da
können Sie ganz beruhigt sein - den Deutschen Bundestag bereits beschäftigt, als es so etwas wie eine Linksfraktion noch gar nicht gab. Wir haben es im letzten Jahr
als Unionsfraktion gemeinsam mit SPD und Grünen aber
auf einem intelligenten und vor allem effektiven Weg in
Angriff genommen. Ich erinnere an die Zusammenarbeit
mit Ihnen, Herr Kollege Benneter. Getreu dem Grundsatz „Sonnenlicht ist das beste Reinigungsmittel“ haben
wir den börsennotierten Aktiengesellschaften gesetzlich aufgegeben, die Höhe der Vorstandsvergütungen für
ihre Aktionäre, aber auch für die Allgemeinheit offen zu
legen. Unanständige Gehälter kann man nur verhindern,
wenn sie nicht mehr im Stillen gezahlt werden und wenn
jedermann sich ein Bild davon machen kann, ob Leistung und Vergütung zusammenpassen.
({11})
Die Bundesregierung hat ferner eine Kodex-Kommission eingerichtet, die konkrete Empfehlungen gerade zu
den Gehaltsstrukturen der Vorstände von Aktiengesellschaften gemacht hat. Über 90 Prozent der DAX-Unternehmen folgen übrigens diesen Empfehlungen, ohne
dass es dazu eines Gesetzes bedurft hätte - ein Umstand,
den die Linke ausweislich ihrer Antragsbegründung
noch nicht einmal zur Kenntnis genommen hat.
Ein Kernpunkt dieses Ethik-Kodexes ist übrigens die
Empfehlung, die Leistungsbereitschaft und das Verantwortungsbewusstsein der Vorstände dadurch zu steigern,
dass die Vergütung fixe und variable Bestandteile umfasst. Genau diese Anreize will die Linke in diesem
Hause offenbar verhindern. Leistungsanreize scheinen
ihr suspekt zu sein. Aber eines frage ich mich schon:
Wenn Aktienoptionen angeblich so verwerflich sind, warum will die Linke sie dann nur für Vorstände verbieten?
Ich will hier lieber nicht erst erklären, dass es in vielen
Aktiengesellschaften gar nicht mehr die Vorstände sind,
die das höchste Gehalt bekommen. Denn das könnte die
Linke vielleicht auf den dummen Gedanken bringen, ihren Antrag noch zu erweitern.
Was wir in Deutschland brauchen, ist aber nicht weniger, sondern mehr Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand.
Aktienoptionen für Vorstände wie für Arbeitnehmer
können, richtig eingesetzt, zu mehr Dynamik der deutschen Wirtschaft und damit zu mehr Arbeitsplätzen führen. Wir als CDU/CSU richten unser wirtschaftspolitisches Handeln jedenfalls an diesem Ziel aus.
Der Staat kann und soll Transparenz anordnen. Er
kann Fachleute mit der Erarbeitung von Empfehlungen
- wie bei der Cromme-Kommission - beauftragen. Er
kann in einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat
aber eines eben nicht tun: über die Höhe von Vorstandsvergütungen entscheiden. Die Linke mag es bedauern:
Aber Aktiengesellschaften in Deutschland sind weder
öffentliche Behörden noch Staatsbetriebe noch volkseigene Betriebe, sondern sie haben private Eigentümer.
Diese Eigentümer sind die Aktionäre der Gesellschaft.
Nur diese sind befugt, darüber zu entscheiden, wie sie
mit ihrem Eigentum umgehen.
Wenn Ihnen von der PDS das Thema so wichtig ist,
dann tun Sie etwas für unsere Wirtschaft: Kaufen Sie
beispielsweise deutsche Aktien und reden Sie bei den
nächsten Hauptversammlungen mit oder überzeugen Sie
doch einfach die Vertreter der Gewerkschaften in den
Aufsichtsräten davon - diese sitzen da nämlich -, bei
den Vorstandsgehältern Maß zu halten!
({12})
Hören Sie aber endlich damit auf, in den Debatten im
Deutschen Bundestag den Menschen vorzuschreiben,
wie sie mit ihrem Eigentum umgehen sollen!
({13})
Die Vorstände von Unternehmen tragen eine hohe
Verantwortung. Denn die wirtschaftliche Entwicklung,
die ihr Unternehmen nimmt, äußert sich nicht nur in Bilanzzahlen und Aktienkursen. Menschen finden in diesen Firmen eine Beschäftigung und sorgen so für ihren
Lebensunterhalt und auch für den ihrer Familie. Daher
ist es wichtig - insoweit sollten wir uns einig sein -, an
diesen entscheidenden Stellen eines Unternehmens qualifizierte Frauen und Männer zu haben, die die richtigen
Entscheidungen treffen. Es ist meines Erachtens an Absurdität kaum noch zu überbieten, anzunehmen, die Qualität der Unternehmensvorstände würde besser werden,
ihr Verantwortungsbewusstsein ihren Mitarbeitern gegenüber würde größer werden, wenn man nur ihr Gehalt
erfolgsunabhängig ausgestaltet und gesetzlich beschränkt.
Diejenigen, die hier ganz links auf den Stuhlreihen
sitzen, geben auch mit ihren heutigen Anträgen - das ist
meine Überzeugung - den Arbeitnehmern und den Arbeitslosen in Deutschland Steine statt Brot. Wer die
Wirtschaft wie die Linke als simples Nullsummenspiel
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmereinkommen
versteht, hat sie eben nicht verstanden. Denn das Geld,
das Sie da oben wegnehmen wollen, kommt gerade nicht
unten an. Sie betreiben damit - sicherlich nicht aus Böswilligkeit, aber zumindest aus Torheit - eine Politik
nicht für, sondern gegen die Interessen gerade der Geringverdiener in Deutschland.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Pünktlich zur Wiederaufnahme des Mannesmann-Prozesses
werden uns von der Linken zwei Gesetzesvorhaben vorgelegt, die an Populismus kaum zu überbieten sind.
({0})
Das Vorgehen von Vorständen und Aufsichtsräten
wirft sicherlich manchmal Fragen auf. Eine fehlende
Kommunikation der Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit kann zu Missverständnissen in der Wahrnehmung von Unternehmensentscheidungen führen. Auch
die Verknüpfungen in der Deutschland AG sind teilweise undurchsichtig. Die Forderung nach einer gesetzlichen Deckelung von Vorstandsgehältern und das Verbot von Aktienoptionen bei der Gehaltsstruktur gehen
aber wahrlich in die völlig falsche Richtung und sind allenfalls geeignet, um am Stammtisch Applaus zu erhalten.
({1})
Auch die Tatsache, dass die Gewerkschaften in dasselbe Horn stoßen - nachdem der DGB Anfang Januar
eine Deckelung auf 2 Millionen Euro gefordert hatte, ist
es jetzt Verdi -, macht die Sache nicht besser. Wenn einem die Mitglieder weglaufen, greift man zu jedem
Strohhalm.
({2})
Die ständige Weiterentwicklung des CorporateGovernance-Kodex zeigt, dass die deutsche Wirtschaft
bestrebt ist, ihre Entscheidungen transparent und verständlich zu gestalten. Die Corporate-GovernanceKodex-Kommission wird das Ergebnis des Mannesmann-Prozesses sorgfältig zu überprüfen und zu bewerten haben.
({3})
Soweit zusätzliche gesetzliche Regelungen erforderlich
sein sollten, hat das allein über die Stärkung der Aktionärsrechte zu erfolgen. Nur die Aktionäre, nicht der Gesetzgeber oder die Öffentlichkeit, sind Eigentümer der
Gesellschaften und haben damit über die Geschicke der
Unternehmen und gegebenenfalls über die Managergehälter zu bestimmen.
({4})
Es ist richtig, dass über Moral und Ethik in der Gesellschaft, insbesondere in der Wirtschaft, geredet werden muss. Wer den Aktienkurs seines Unternehmens in
den Keller gefahren hat und gleichzeitig über hohe Abfindungen verhandelt, lässt jede Sensibilität, jedes Gespür für verantwortungsvolle Unternehmensführung vermissen.
({5})
Auch ich empfinde die fast zeitgleiche Verkündung einer
30-prozentigen Erhöhung von Managergehältern und die
Entlassung von Tausenden von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern als unangemessen.
({6})
Eine Angemessenheit der Vorstandsvergütungen
wird bereits im Aktiengesetz ausdrücklich gefordert. Wir
haben also gesetzliche Regelungen. Der Aufsichtsrat hat
darauf zu achten, dass die Gesamtbezüge des einzelnen
Vorstandsmitglieds in einem angemessenen Verhältnis
zu seinen Aufgaben und zur Lage der Gesellschaft stehen. Der Corporate-Governance-Kodex enthält eine
Reihe weiterer Vorschriften. Das Gesetz gibt also bereits
einen Rahmen vor.
Alles Weitere ist zunächst eine Frage der Selbstkontrolle, gegebenenfalls der gerichtlichen Überprüfung,
schlussendlich ist es eine Frage der strafrechtlichen
Überprüfung. Wie bereits erwähnt: Sollte all das nicht
ausreichen, um einer etwa befürchteten Selbstbedienungsmentalität entgegenzuwirken, so sind zunächst die
Aktionärsrechte zu stärken.
({7})
Die Neuauflage des Mannesmann-Prozesses, der
unter großer Beteiligung der Medien stattfindet, zeigt,
dass sowohl Aufsichtsräte als auch Vorstände gegenüber
ihren Unternehmen bestimmte Rechtspflichten haben.
({8})
Dieses Verfahren ist ein Musterbeispiel dafür, dass Manager eines Unternehmens eben nicht nach Gutdünken,
nach Lust und Laune über die Gelder ihres Unternehmens verfügen können. Bei Verletzung ihrer Rechtspflichten können sie sich schadensersatzpflichtig
machen und müssen sich vielleicht eines Tages strafrechtlich verantworten. Das Urteil im Mannesmann-Prozess wird eine wichtige Signalfunktion haben.
Es gibt sicherlich einiges, was man durch Gesetz regeln kann, vielleicht regeln sollte; dazu gehört aber sicherlich nicht die Deckelung von Vorstandsvergütungen.
({9})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie begründen Ihren Antrag unter anderem mit einer Idee des
Bankiers Morgan. Er hat eine Gehaltsobergrenze für
seine bestbezahlten Manager eingeführt. In Ihrer Begründung treffen Sie damit den Nagel auf den Kopf, setzen sich aber in Widerspruch zu Ihrem eigenen Antrag;
denn die Begrenzung hat der Unternehmer selbst veranlasst und nicht der Gesetzgeber.
({10})
Es kommen immer neue Managergenerationen nach.
Nicht alle sind in ihren Entscheidungen durch Raffgier
oder persönliche Vorteilsnahme geprägt. Das wollen Sie,
meine Damen und Herren von der Linken, mit Ihren Anträgen aber suggerieren.
Lassen Sie mich ganz kurz auf Ihren anderen Antrag
zu sprechen kommen. Er liegt ja auf der gleichen Ebene.
Sie wollen die Entlohnung von Vorständen durch
Aktienoptionen generell verbieten. Darüber, ob das verfassungsrechtlich zulässig ist, wollen wir jetzt gar nicht
reden. Diese angeblich notwendige Regelung begründen
Sie mit Gefahren, die Sie nicht einmal ansatzweise belegen können. Sie sprechen zum Beispiel von einer einseitigen Ausrichtung der unternehmerischen Entscheidungen am Börsenkurs. Angesichts des internationalen
Wettbewerbs frage ich Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass
Manager blind sind, was mittel- und langfristige Entwicklungen betrifft? Blind sind Sie mit Ihrer ideologischen, wirtschaftsfeindlichen Haltung.
({11})
Der nächste Redner ist der Kollege Klaus Uwe
Benneter für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schui, wir beide sind Wessis. Deshalb ist auch
Ihnen wahrscheinlich nicht geläufig, wie in den Ostkombinaten mit den Vorstandsgehältern umgegangen wurde.
({0})
Dort wurden die Vorstände Generaldirektoren genannt.
Sie verdienten, wie ich mir habe sagen lassen, das Fünffache des durchschnittlichen Lohns eines Facharbeiters,
der in der Schichtarbeit tätig war.
({1})
Das hat allerdings nicht der Gesetzgeber bestimmt, sondern das Kombinat. Das sollten wir beibehalten.
({2})
Die Auseinandersetzung mit der Höhe der Vorstandsgehälter ist sicherlich keine Neiddebatte. Frau
Kollegin Dyckmans, ich würde die Höhe der VorstandsKlaus Uwe Benneter
gehälter etwas stärker kritisieren als Sie. Es reicht nicht
aus, nur darauf hinzuweisen, dass die Höhe des Gehalts
des einen oder anderen Managers unangemessen ist. Wir
sollten deutlich sagen: Das ist unanständig und unmoralisch und gehört nicht in unsere Welt.
({3})
Diese Maßlosigkeit, die uns kürzlich auch Herr
Steinbrück ins Gedächtnis gerufen hat, können wir anprangern. Hier haben Sie Recht. Wir prangern sie auch
an. Sie werden uns nicht übertreffen, wenn es darum
geht, das zu kritisieren.
In Ihrer Rede haben Sie auch den Kollegen Thierse
zitiert, der diesen Zustand vor drei Jahren sogar als „obszön“ bezeichnet hat. Bereits vor drei Jahren ist es nicht
dabei geblieben, dass wir nur Kritik geübt und protestiert
haben, wie Sie es immer tun. Wir haben gehandelt und
ein Gesetz zur Offenlegung der Vorstandsvergütungen
gemacht. Dort haben wir deutlich hineingeschrieben,
wie Vorstandsvergütungen unserer Meinung nach auszusehen haben.
({4})
Ebenso haben wir den Corporate-Governance-Kodex auf
den Weg gebracht. Auch daraus geht hervor, welche
Höhe von Vorstandsvergütungen wir für angemessen
halten und welche unangemessen und unanständig ist.
Kollege Benneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn zu so später Uhrzeit noch meine Redezeit verlängert wird, bekomme ich Ärger mit meiner Parlamentarischen Geschäftsführerin.
({0})
- Mit euch auch. - Aber bitte.
Kollege Benneter, wenn Sie auf meine Frage mit Ja
antworten, geht es sehr schnell. Ich habe folgende Frage:
Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass die Vorstandsgehälter in zwei Dritteln der DAX-Unternehmen, nachdem Sie Ihre gesetzliche Regelung zur Offenlegung der
Vorstandsgehälter getroffenen haben, explosionsartig gestiegen sind und dass sich ein Viertel der DAX-Unternehmen bis heute weigert, das Gehalt jedes einzelnen
Vorstandsmitglieds einzeln zu veröffentlichen, wie es in
Ihrer Regelung vorgesehen ist?
Selbst wenn ich das zur Kenntnis genommen hätte,
was ich allerdings nicht getan habe, müsste ich sagen:
Auch wenn dem so wäre, bliebe es nach wie vor die Aufgabe der Aktionäre und insbesondere der Hauptversammlung, deren Rolle wir mit diesem Gesetz gestärkt
haben, darauf zu achten und entsprechende Regelungen
zu treffen.
({0})
Die Unanständigkeit und die Unmoralität, die wir anprangern, betreffen nicht nur die Vorstände. Sie betreffen
insbesondere auch die Aufsichtsräte. Wie Sie wissen,
sind die Aufsichtsräte der börsennotierten Unternehmungen, die Sie angesprochen haben, in der Regel paritätisch
besetzt.
({1})
Insofern sollten wir diese Kritik an diejenigen weitergeben, die über die Höhe der Vorstandsbezüge mitentscheiden. Dazu gehören auch die Gewerkschafts- und Belegschaftsvertreter in den Aufsichtsräten.
({2})
Der Sinn der Mitbestimmung ist, dass in den Aufsichtsräten mit darauf geachtet wird, dass die Höhe der
Vorstandsbezüge der Lage des Unternehmens entspricht
und dass bei der Beurteilung der Lage des Unternehmens
nicht nur die Unternehmer- und Aktionärsinteressen Berücksichtigung finden, sondern dass auch die Interessen
der Belegschaft sowie langfristige Unternehmensentwicklungen im Auge behalten werden. Darum geht es
doch bei der Mitbestimmung; das ist doch unser aller
Ziel. Darum wollen wir die Mitbestimmung erhalten und
in Europa möglichst noch ausbauen.
({3})
Ich komme zu den Aktienoptionen. Solche Programme hat es schon immer gegeben. Aktienoptionen
sind sicher ein ökonomischer Anreiz, den Unternehmenswert zu erhöhen. Sie sind international verbreitet.
Missbräuche kann es geben, es kann sie aber auch bei
anderen Vergütungsformen geben; da sollten wir uns
nichts vormachen.
Im Unterschied zu den USA, wo es sehr üblich ist, die
Vorstandsmitglieder mit Aktienoptionsprogrammen zu
vergüten, ist bei uns volle Transparenz gewährleistet,
weil Aktienoptionsprogramme nur unter Mitwirkung der
Hauptversammlung beschlossen werden können. Dort
müssen die Aufsichtsräte vertreten, ob ein solches Programm den langfristigen Interessen der Aktionäre entspricht.
Im Gegensatz zu den USA wird bei uns darauf geachtet, dass, wenn sich der Kurs nicht wie erhofft entwickelt, keine solche Anpassung erfolgen kann. Auch damit kann Missbräuchen entgegengewirkt werden.
In unserem Aktiengesetz ist eine Wartezeit von mindestens zwei Jahren vorgeschrieben, bis Optionen ausgeübt werden können. Auch das ist etwas, was Sinn macht,
um Missbräuche einzudämmen. Auch im Deutschen
Corporate-Governance-Kodex wird empfohlen, eine
mehrjährige Ausübungssperre zu vereinbaren. Das können bei uns die Aufsichtsräte veranlassen.
Auch die Zeiträume für die Ausübung müssen in einem solchen Programm bei uns festgelegt werden, damit
im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Bilanz
kein Insiderwissen verwendet werden kann. Auch damit
kann Missbräuchen in diesem Bereich entgegengewirkt
werden.
Ferner dürfen bei uns Aufsichtsratsmitglieder nicht zu
den Begünstigten solcher Programme zählen; auch das
ein Unterschied zu den USA.
Das heißt, es gibt bei uns eine ganze Latte von Regelungen, die Missbräuche, wie Sie sie in Ihrem Gesetzentwurf beschreiben, verhindern.
Mit dem Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz,
das Sie angesprochen haben, machen wir die Höhe der
Vergütung einschließlich Aktienoptionen endlich transparent, etwas, was wir, wenn man so will, als Folge unseres Protestes, unserer Kritik beschlossen haben und
was mit internationalen Maßstäben in Einklang zu bringen ist. Wenn man Aktienoptionsprogramme abschaffte,
würde das dazu führen, dass auf andere Programme ausgewichen würde, bei denen gerade nicht die Transparenz
in der Hauptversammlung und über den Aufsichtsrat gegeben wäre. Wenn man hier etwas tun wollte, könnte
man beispielsweise die Haftung der Aufsichtsräte verstärken.
({4})
Da gibt es Möglichkeiten.
({5})
Was die Höhe der Vergütung angeht, sollte weiterhin
- darauf habe ich anfangs schon hingewiesen - das
Kombinat zuständig bleiben.
({6})
In welcher Größenordnung sie festlegt wird, sollte Aufgabe des bei uns Aufsichtsrat genannten Gremiums bleiben.
Was John Pierpont Morgan angeht: Das war ja ein
ganz schillernder Herr, wie ich nachgelesen habe; er
lebte allerdings schon im vorvorigen Jahrhundert. Er hat
aber auch verlangt, dass Manager und Vorstände einen
guten Charakter haben müssen.
({7})
Das könnten wir natürlich auch noch ins Gesetz schreiben;
({8})
das wäre meine Empfehlung. - Doch was Sie empfehlen,
lehnen wir diesmal ab.
Danke.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte drei Punkte zu dem Thema sagen:
Erster Punkt. Zurzeit wird eine Debatte unter dem
Stichwort „Unterschichten“ geführt. Ob man den Begriff
richtig findet oder nicht: Das Phänomen, dass eine größere Gruppe in unserer Gesellschaft den Anschluss verliert und ihr somit eine Teilhabe an unserer Gesellschaft
nicht mehr möglich ist, ist relativ unbestritten. Ich
glaube, das richtige Pendant zu dieser Debatte über die
„Unterschichten“ - ich setze das Wort in Anführungszeichen - ist, zu schauen, was am anderen Ende der Gesellschaft passiert.
Es gibt ja nicht nur Menschen, die von unten den Anschluss nach oben verlieren, sondern es gibt auch Menschen, die oben herausfallen und keine Zugehörigkeit
mehr zu unserer Gesellschaft empfinden. Ein großer Teil
unserer Gesellschaft hat zumindest das Gefühl, dass die
Menschen, die 12 Millionen Euro verdienen und viele
Menschen mit bestimmten Äußerungen wie „Peanuts“
oder Ähnlichem verletzt haben, ein wenig den Bezug
verloren haben. Ich glaube, es ist richtig, bei der Auseinandersetzung darüber keine Ideologievorwürfe oder
Ähnliches zu erheben, sondern zu schauen, was in unserer Gesellschaft geschieht und was unsere Antwort darauf ist.
Ich finde, mit der Ablehnung dessen, was die Linksfraktion vorschlägt - auch ich finde das nicht vernünftig -, ist es nicht getan.
({0})
Wir sollten diesen Antrag durchaus zum Anlass nehmen,
in den Ausschüssen noch einmal zu schauen, ob wir Antworten darauf finden. Inwiefern unsere Antworten über
die Regelungen im Vorstandvergütungs-Offenlegungsgesetz hinausgehen, das wir gemeinsam beschlossen haben, kommt vielleicht nachher noch zum Ausdruck.
Beim zweiten Punkt geht es um die Ethik. Natürlich
haben Sie Recht, dass das nicht nur eine juristische, sondern auch eine ethische Frage ist. Deswegen haben Sie
von „unanständig“ und Ähnlichem gesprochen. In einer
Marktwirtschaft, in der die Marktgesetze für das normale Handeln gelten, gibt es aber ein Instrument, um
ethische Vorstellungen der Gesellschaft zum Ausdruck
zu bringen. Das ist die gesetzliche Rahmenordnung.
Deswegen kann man beides nicht einfach nur gegeneinander ausspielen und deswegen sind die Caps, die
Deckel, in der Corporate-Governance-Kommission auch
völlig zu Recht diskutiert worden.
({1})
Man kann über sie natürlich nicht dergestalt diskutieren, dass man einfach nur mit einem Faktor 20 agiert.
Dieser Faktor ist völlig unflexibel und passt mit dem,
was zu Recht in § 87 des Aktiengesetzes steht, dass die
Bezüge nämlich mit den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und der Lage der Gesellschaft zu tun haben sollen,
überhaupt nicht zusammen. Die Lage der Gesellschaft
wird sich nämlich nicht anhand dieses Faktors 20 ausdrücken lassen.
Ich glaube, man muss auch aufpassen, von der sozialen Marktwirtschaft nicht in ihrem alten Sinn zu reden,
wie das vielleicht noch Eucken oder Adam Smith vorschwebte. Zu deren Zeit gab es Kapitalgesellschaften
von einer Größe wie heute noch gar nicht. Deswegen
müssen die Antworten heute auch anders als damals
sein. Dies gilt auch bezüglich der Haftung. In dieser
Richtung werden wir in nächster Zeit noch etwas einbringen.
Ich möchte in einem dritten Punkt auch noch auf die
Empirie eingehen. Ich finde, die Diskussion war ziemlich weit von dem abgehoben, was tatsächlich passiert.
Was sagt uns die Empirie? Sie sagt uns, dass die Gehälter sehr stark mit der Größe der Unternehmen korrelieren. Darüber sollten Sie sich vielleicht auch noch einmal
Gedanken machen. Woher kommt das eigentlich? Diese
Korrelation ist sehr stark. Je größer das Unternehmen ist,
desto höher ist das Vorstandsgehalt.
Ich glaube, deswegen ist es mit einer Deckelung nicht
getan und müssen wir uns auch über manche Konzentrationstendenzen Gedanken machen. Diesen Punkt stellen
wir Grünen zum Beispiel in den Vordergrund - es geht
uns um mehr Wettbewerb und um eine Stärkung des
Kartellamts -, um diese Vermachtung und damit auch
diese Explosion von Vorstandsgehältern verhindern zu
können.
({2})
Schließlich muss man natürlich auch noch sehen, dass
die Debatte über die Corporate Governance mit der von
uns bisher erreichten Transparenz noch nicht am Ende
ist. Ich habe die Diskussion über die Caps verfolgt. Ich
fände es spannend, wenn Sie von der großen Koalition
Vorschläge entwickeln würden, die besser als das sind,
was die Linksfraktion vorgeschlagen hat,
({3})
und mit denen die Gedanken bezüglich der Caps, über
die damals diskutiert worden ist, vernünftig umgesetzt
werden. Wir warten hier auf Ihre Vorschläge.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/1444 und 16/3015 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“
- Drucksachen 16/1945, 16/1990 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
- Drucksache 16/3081 Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Günther ({1})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/3179 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Bartholomäus Kalb
Klaas Hübner
Dr. Claudia Winterstein
Anna Lührmann
Roland Claus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Deutsche Bundestag führt heute die zweite und
dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ durch. Die Bundesregierung hat den
Gesetzentwurf in Umsetzung des Koalitionsvertrages im
Mai dieses Jahres beschlossen, um auch auf Bundesebene eine Kommunikationsplattform für die Anliegen der Baukultur vergleichbar mit den Bereichen Umweltschutz, Denkmalpflege oder Kultur zu schaffen, die
seit langem über ähnliche Einrichtungen oder Strukturen
verfügen.
Auch viele unserer europäischen Nachbarn haben bereits erkannt, dass die Qualität des Planens und Bauens
einen ökonomischen Wert besitzt und einen hervorragenden Aspekt hinsichtlich der Außendarstellung und
des erfolgreichen Marketings darstellt.
Das Thema Baukultur beschäftigt uns nicht erst seit
gestern. Mein Kollege Achim Großmann, der aus gesundheitlichen Gründen heute leider nicht selbst zu
Ihnen sprechen kann, hat bereits im Jahre 2000 die Initiative „Architektur und Baukultur“ angestoßen, um
- gemeinsam mit vielen Partnern aus den Bereichen des
Planens und Bauens - das Thema Baukultur wieder in
den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik
konnte die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag
im Jahr 2002 einen Statusbericht zur Lage der Baukultur in Deutschland vorlegen. Das Parlament hat diesen Bericht in der letzten Legislaturperiode intensiv diskutiert und vor allem die Idee einer „Bundesstiftung
Baukultur“ fraktionsübergreifend - das betone ich besonders gern - unterstützt.
Der Deutsche Bundestag hat auch das bereits in der
letzten Legislaturperiode eingebrachte Stiftungsgesetz
einmütig verabschiedet. Wie Sie wissen, konnte das Gesetzgebungsverfahren wegen des vorzeitigen Endes der
15. Wahlperiode nicht mehr abgeschlossen werden.
Die Bundesländer befürchteten zudem, dass die geplante Bundesstiftung in Kernkompetenzen der Länder
eingreifen würde. Deshalb möchte ich noch einmal deutlich machen, dass sich Baukultur keinesfalls nur auf den
Ausdruck künstlerischen Schaffens beschränkt.
({0})
Dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Einrichtung einer Bundesstiftung liegt ein umfassender baukultureller Ansatz zugrunde: Unter Baukultur ist die gesamte
Bandbreite der Herstellung der gebauten Umwelt und
des Umgangs mit ihr zu verstehen.
({1})
Dies schließt Planen und Planungsverfahren ebenso ein
wie das Bauen und Instandhalten. Baukultur bezieht sich
nicht nur auf Architektur und Ingenieurkunst, sondern
zum Beispiel auch auf Stadt- und Regionalplanung - ein
sehr wichtiger Punkt -, Belange des Denkmalschutzes
- das ist ohnehin klar -, Innen- und Landschaftsarchitektur und Kunst am Bau.
Bei der erneuten Einbringung des Gesetzentwurfs haben wir uns bemüht, den Bedenken der Länder Rechnung zu tragen. Der Gesetzentwurf hebt daher den baupolitischen Ansatz ebenso wie die bundespolitische
Dimension der Stiftung deutlich hervor.
Die Stiftung wird sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben auf Instrumente mit bundesweiter und internationaler Ausstrahlung konzentrieren. Ich glaube, es ist
wichtig, das zu betonen: Es geht auch um die internationale Ausstrahlung des Projektes. Der Bundesrat hat den
Ansatz in seiner ersten Stellungnahme vom Juni 2006
ausdrücklich gewürdigt und den Entwurf des Stiftungsgesetzes begrüßt.
Auch die Länderkammer hat die Notwendigkeit, die
Baukultur in Deutschland zu fördern und das Bewusstsein für ihre Belange in der Öffentlichkeit zu stärken,
stets betont; denn Baukultur betrifft uns alle unmittelbar.
Die Qualität der gebauten Umwelt hat einen wesentlichen Einfluss auf die Lebensqualität unserer Bürgerinnen und Bürger in Städten und Gemeinden. Es geht also
um sehr viel mehr.
({2})
Die Baukultur begründet einen ideellen und ökonomischen Mehrwert, indem sie der Immobilie, dem Bauherrn oder dem Standort ein unverwechselbares Profil
verleiht. Sie kann dazu beitragen, dass Bau- und Betriebskosten gemindert, Zeit gespart und negative Umweltfolgen verhindert werden.
Aus diesen Gründen bleibt es ein wichtiges Anliegen
der Politik, verlässliche Rahmenbedingungen für das
Entstehen von Baukultur zu schaffen. Das Entstehen von
Baukultur bedeutet letztlich, daran mitzuwirken und alle
zu beteiligen. Hierbei kommt auch der Errichtung der
geplanten „Bundesstiftung Baukultur“ eine bedeutende
Rolle zu. Unabhängig und mit hoher Fachautorität ausgestattet soll die Stiftung für die Anliegen der Baukultur
und das hohe Leistungsniveau deutscher Planer werben
und gezielt Nachfrage nach hochwertigen Bau- und Planungsleistungen auslösen.
Wir haben die Stiftung mit einem Kapitalstock in
Höhe von 250 000 Euro ausgestattet und stellen ihr daneben einen jährlichen Zuschuss nach Maßgabe des jeweiligen Bundeshaushalts zur Verfügung. Es liegt also
an Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Der
aktuelle Bundeshaushalt und die Finanzplanung bis 2010
sehen hierfür rund 7 Millionen Euro vor. Die Bundesfinanzierung dient dazu, den Aufbau der Stiftung, die
Aufnahme ihrer Tätigkeit und vor allem ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu ermöglichen; denn langfristig soll der Finanzbedarf der Stiftung im Wesentlichen von privaten Dritten gedeckt werden. Baukultur
kann nicht staatlich verordnet werden. Sie liegt im Interesse aller. Insofern ist das Engagement Dritter gefordert. Wir freuen uns, wenn das geschieht.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Frage nach dem
Stiftungssitz eingehen. Um den Sitz der geplanten Bundesstiftung haben sich acht Städte aus allen Teilen der
Bundesrepublik beworben. Alle Städte verfügen über
gute Standortvoraussetzungen und bieten auf unterschiedliche Weise ein attraktives baukulturelles Umfeld.
Dies hat die Entscheidung nicht gerade einfacher gemacht. Dennoch weisen die angebotenen Konditionen
für Ansiedlung und Unterstützung der Stiftung erhebliche Unterschiede auf. Außerdem können nicht alle
Standorte auf die Unterstützung der jeweiligen Landesregierung verweisen, was sehr wichtig ist. Angesichts
dieser konkreten Rahmenbedingungen und aufgrund der
fortgeltenden Beschlüsse der unabhängigen Föderalismuskommission empfiehlt sich der Standort Potsdam in
besonderer Weise als Sitz der Stiftung.
({3})
Die beratenden Ausschüsse haben diese Einschätzung
geteilt und sich - auch angesichts der Nähe zu Parlament
und Regierung - für eine Festschreibung des Standortes
Potsdam entsprechend § 1 des Entwurfs des Stiftungsgesetzes ausgesprochen.
Ich bin zuversichtlich, dass die geplante „Bundesstiftung Baukultur“ einen wichtigen Beitrag zur Förderung
eines positiven baukulturellen Klimas in der Bundesrepublik leisten wird. Ich hoffe, dass der Entwurf des StifParl. Staatssekretärin Karin Roth
tungsgesetzes - genauso wie in der letzten Wahlperiode Ihre uneingeschränkte Unterstützung erfährt. Das sage
ich insbesondere an die Adresse der FDP.
({4})
Der Kollege Joachim Günther hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir
uns mit dem Thema Baukultur ausgiebig befasst. Die
Notwendigkeit einer Stiftung „Baukultur“ ist über die
Fraktionsgrenzen hinweg unbestritten. Aber Rechtsform
und Standort geben Anlass für Diskussionen. Die Wahl
des Standortes ist im Allgemeinen eine Herzens- oder
Glaubenssache. Darüber sollte man nicht allzu sehr streiten.
Wenn man noch einmal auf die Ausgangsfrage nach
dem Warum zurückkommt, dann stellt man fest, dass es
eine breite Palette von Argumenten gibt. Das Spektrum
reicht von der deutschen Baugeschichte über Baustile in
der Vergangenheit bis hin zu manchen Bausünden in der
Gegenwart. Das alles soll von einer Stiftung aufgearbeitet, ausgewertet und weiterentwickelt werden. Die so ermittelten Ergebnisse, die Ratschläge und Vergleiche in
Gestalt von Studien können dann genutzt werden, um in
gegenwärtigen Diskussionen über Stadtentwicklung und
Förderpolitik eingesetzt zu werden. Auch in diesem
Punkt gibt es hier in diesem Hohen Haus meiner Meinung nach Übereinstimmung. Ob wir über Stadtumbau
Ost und West, über das Programm „Soziale Stadt“ oder
über den städtebaulichen Denkmalschutz reden, all das
hängt unmittelbar mit baukulturellen Aufgaben und Zielen zusammen. Gerade in den neuen Ländern hat das
Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ einen hohen Stellenwert. Vor allem dort sind in vielen Städten
noch Bauwerke und Ensembles vorhanden, die, inzwischen zum Teil mit viel Aufwand saniert, hervorragende
Beispiele deutscher Baukunst widerspiegeln.
({0})
Wenn wir über diese hervorragenden Ausgangspositionen verfügen, dann müssen wir sie nutzen, um eine
Stiftung „Baukultur“ auf den Weg zu bringen, die unserer Tradition gerecht wird. Bereits in der vergangenen
Legislaturperiode haben wir deshalb darauf hingewiesen, dass eine Stiftung öffentlichen Rechts aus unserer
Sicht zu kurz springt.
({1})
Eine Stiftung vor diesem genannten Hintergrund und mit
der erhofften großen Bedeutung mit einem Kapital von
250 000 Euro auszustatten, ist einfach lächerlich.
({2})
Wenn wir von vornherein jährliche Ausgaben in Höhe
des Zehnfachen des Stiftungskapitals vorsehen, dann
kann man eigentlich das Ganze nicht richtig ernst nehmen. Eine wirkliche Stiftung braucht einen Kapitalstock,
der einem bestimmten Zweck gewidmet ist und einen
großen Teil der Ausgaben deckt. Oder Sie sagen von
Vornherein: Wir können es nicht, wir wollen diesen finanziellen Rahmen nicht auf uns nehmen. - Dann muss
man sich aber auch fragen, ob das der richtige Weg ist.
Hinzu kamen in der letzten Legislaturperiode die Diskussionen mit den Ländern über Zuständigkeiten.
Auch unter diesen Voraussetzungen haben wir für die
privatrechtliche Stiftung plädiert. Mein Kollege Otto
sagte hier im Plenum vor über einem Jahr - ich zitiere -:
Es spräche alles dafür, eine privatrechtliche Stiftung
zu errichten … Ich bin übrigens der Auffassung,
wir könnten, wenn wir eine Stiftung privaten
Rechts errichteten, wahrscheinlich diesen ganzen
Verfassungskonflikt mit den Ländern vermeiden
und sagen: Beteiligt euch doch!
Wissen Sie, was zu dieser Rede im Protokoll vermerkt
ist? Beifall bei der CDU/CSU. Und meine Kollegin
Renate Blank sagte: Richtig! - Deshalb frage ich mich,
warum wir in dieser Entwicklung nicht weitergekommen
sind. Warum haben wir nicht die Stiftung privaten
Rechts, mit deren Hilfe wir mit Sicherheit ein entschieden höheres Stiftungskapital erreicht hätten? Ich bin davon überzeugt, dass sich dann zum Beispiel auch die Architekten und Ingenieure beteiligen würden, ein
Wunsch, den die Grünen immer geäußert haben. Ich
weiß, es kann Gegenargumente geben. Diese Berufsgruppen sind alle in der Stiftung verankert. Aber ob sie
sich wegen der Verankerung auch finanziell engagieren
und sich daran beteiligen und die Bedeutung der Stiftung
erhöhen, steht aus meiner Sicht auf einem anderen Blatt.
Ich empfehle Ihnen deshalb, sich doch noch einmal unseren Entschließungsantrag aus der letzten Legislaturperiode anzuschauen.
Bei der Festlegung des Standortes für die Stiftung
hat man sich aus meiner Sicht zu sehr von materiellen
Momentansituationen leiten lassen. Sie haben das hier
im Prinzip bestätigt. Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, es gehe darum, wie die Länder den Standort mit unterstützen. Das ist richtig, aber man muss das auch
durchdeklinieren. Die Stadt Weimar, die mit dem Bauhaus eine große Kunst- und Bautradition ausweist, wäre
aus meiner Sicht ein Standort gewesen, der der Bedeutung der „Bundesstiftung Baukultur“ auf jeden Fall viel
gerechter geworden wäre.
({3})
Wir hätten zwar lieber eine Stiftung bürgerlichen
Rechts gehabt, hoffen aber dennoch, dass sich die Bundesstiftung zu einem bedeutenden Instrument entwickelt. Wir wünschen uns das und wir werden das unterstützen. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf heute
nicht ablehnen, sondern wir werden uns der Stimme enthalten.
({4})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Renate Blank
das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nach
dem Motto „Was lange währt, wird endlich gut“ diskutieren wir heute - ich glaube, zum dritten oder vierten
Mal - über das Thema Baukultur. Wir kommen zu einem
Beschluss, der von fast allen getragen wird. Ich freue
mich sehr, dass im Interesse aller am Bau beteiligten
Personen, angefangen vom Bauherrn, über Architekten
und Ingenieure bis hin zu Landschaftsplanern usw., eine
Entscheidung getroffen wird. Nun wünsche ich mir - das
ist eigentlich auch so vorgesehen und das war am Anfang auch der Fall -, dass sich auch Private neben der
Anschubfinanzierung des Bundes finanziell beteiligen.
Ich gehe einmal davon aus, dass sich nach der heutigen Entscheidung sehr viele Privatpersonen - sei es im
Ingenieur-, sei es im Architektenbereich - beteiligen
werden. Ich glaube, die „Bundesstiftung Baukultur“
setzt ein Zeichen, die Möglichkeiten guten Planens und
Bauens einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen.
Mit dem Stiftungssitz Potsdam wurde der letzte Baustein in das gesetzliche Fundament der „Bundesstiftung
Baukultur“ eingefügt. Ich füge hinzu: Wir haben uns die
Entscheidung nicht leicht gemacht. Frau Staatssekretärin
hat schon darauf hingewiesen, dass für Potsdam ein
Mehr an Beteiligung und die Nähe zu Berlin sprach.
({0})
„Erst bauen Menschen Häuser, dann bauen Häuser
Menschen.“ So sagte einst Albert Schweitzer. Das Sein
bestimmt das Bewusstsein, so könnte man dazu etwas
moderner heutzutage auch sagen.
({1})
In der Tat: Bei der heutigen Debatte um die Einrichtung
einer „Bundesstiftung Baukultur“ geht es im Kern darum, menschliches Leben nicht zu verplanen, sondern
darum, Menschen ein Lebensumfeld zu erhalten bzw.
neu zu schaffen, in dem sie ein selbstbestimmtes Leben
erfahren können. Nicht Menschen sollen sich also den
Bauten anpassen und in ihnen verloren sein, sondern das
Bauen selbst soll menschlichen Bedürfnissen entsprechen. In diesem Sinne ist heute für mich ein guter Tag
für die Baukultur, aber auch für alle Menschen im Land.
({2})
Im Jahr 2000 gab es den Anstoß zur Bundesinitiative
„Architektur und Baukultur“. So erhielt die öffentliche
Diskussion über Architektur, Städtebau, Stadtgestaltung
sowie Planen und Bauen bundesweiten Auftrieb. Baukultur wurde mit Wirkung ab Juli 2004 als neuer zu berücksichtigender Belang bei der Aufstellung von Bauleitplänen im novellierten Baugesetzbuch verankert.
Heute, mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs über
eine „Bundesstiftung Baukultur“, wird in meinen Augen
ein weiterer entscheidender Meilenstein gesetzt. Denn
ich verstehe Baukultur als eine aktive Auseinandersetzung mit der gestalteten Umwelt und mit der gestalterischen Zukunft. Baukultur kann nie ein Monolog der
Steine sein. Baukultur ist für mich vielmehr ein lebendiger Dialog über Bauwerke und Städte mit dem Ziel, zu
diskutieren und die planerische, technische und gestalterische Qualität unserer Architektur zu erhöhen. Dabei
beschreibt und bestimmt die Baukultur gleichermaßen,
wie wir mit Architektur und Städtebau leben. Sie ist
Schnittstelle zwischen gebauter Umwelt und Gesellschaft.
Baukultur ist der Dialog zwischen Auftraggeber und
Architekt, zwischen Architekt und Ingenieur und
zwischen Bau und Umwelt, der in eine gesellschaftspolitische Debatte einmünden kann, die sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Baukultur beschäftigt, ohne dabei auf Hinterzimmer oder Feuilletons
beschränkt zu bleiben.
Kolleginnen und Kollegen, viele, die den Begriff
Baukultur hören, denken zuerst an Architektenträume
aus Glas und Stahl, an teure Denkmalschutzprojekte
oder an herausgeputzte öffentliche Räume. Viele sind
auch der Meinung, dass wir in einer Zeit leben, in der
man sich den scheinbaren Luxus Baukultur nicht mehr
leisten kann. Nun, wie jede Art von Kultur entzieht sich
auch Baukultur einer eindimensionalen ökonomischen
Betrachtung.
({3})
Der Mensch lebt halt nicht vom Brot allein! Keiner wird
den Wert eines solchen Gefühls wie Heimat oder Identifikation mit einer Stadt mit Euro und Cent beziffern können. Aber ebenso wird keiner bezweifeln, dass es sich
um Werte handelt.
({4})
Baukultur muss den Weg in das öffentliche Bewusstsein und in Nachbarschaften finden und darf sich nicht
von den Bollwerken unseres Planungs- und Baurechts
abschrecken lassen. Denn nur große Dynamik und Mut
garantieren uns eine nachhaltige Baukultur, bei der die
Bewahrung des Bauerbes so wichtig ist wie die Weiterentwicklung von Baustilen und Bautechnik. Baukultur
muss die Kraft für das Bauwerk und dessen Umgebung
haben. Der Bauherr muss allerdings zukünftig mehr Verantwortung als heute tragen. Aber auch die wirtschaftliche Bedeutung der Baukultur wird meines Erachtens
durchaus noch unterschätzt. Man kann Baukultur vor allem auch als angewandte Standort- und Strukturpolitik
verstehen. Städtisches Leben und Wirtschaften braucht
urbane Atmosphären und unverwechselbare bauliche
Profile - vielleicht ebenso wie technische Infrastruktur.
Wenn wir über Stadtflucht und deren enorme Kosten
klagen, ist das letztendlich auch ein Problem der Baukultur. Wenn wir über die Strukturkrise der Bauwirtschaft
nachdenken und darüber, welche Perspektiven das
Bauen langfristig hat, so ist auch dies ein Problem der
Baukultur. Ohne Baukultur werden wir unser Know-how
im Bereich Architektur und Bauen in Zukunft nicht erfolgreich exportieren können.
Baukultur ist leider im allgemeinen Bildungsgut bisher nur schwach verankert. Umso mehr Bedeutung erlangen Bemühungen - das ist eine dringende Bitte an die
Länder -, das Thema Baukultur in den Schulunterricht
einzubinden; denn Baukultur hat etwas mit Wissen zu
tun: bewusst wahrzunehmen, was man sieht, in Kenntnis
der Geschichte und des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeldes.
({5})
Die Einrichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“
wirft natürlich auch einige Fragen auf. Gibt es eigentlich
so etwas wie Bauen ohne Baukultur? Ist die Baukultur
aus dem Alltag entwichen oder war sie vielleicht noch
nie da? Interessant an den zurückliegenden Diskussionen
um die „Bundesstiftung Baukultur“ war und ist aber,
dass eine zuerst sehr inhaltlich geführte Diskussion darin
mündete, einen vor allem über Verfahren definierten
Prozess anzustoßen. Das heißt für den Alltag und die
Baukultur - auch über den Rahmen der Stiftung
hinaus -, dass sich die Antwort auf die Frage danach,
was Baukultur ist und was nicht, als dynamische Aufgabe herausgestellt hat. Sie ist nicht mit einem Katalog
von guten Ratschlägen oder einer Menge von einmal
festgelegten Kriterien abschließend zu erledigen. Offensichtlich hat Baukultur etwas mit permanenter Auseinandersetzung zu tun, mit Kommunikation, mit Vergleichen,
mit Beispielen, mit der Abstimmung von unterschiedlichen Wünschen und unterschiedlichen Zielen.
({6})
Natürlich ist niemand ausdrücklich gegen Baukultur,
aber spätestens dann, wenn es konkret wird, wenn
schnell gebaut und geplant werden soll, wird sie gelegentlich unbequem. Dann kostet Baukultur möglicherweise Zeit und Geld. Dann setzen schnell Überlegungen
ein, ob es in diesem besonderen Einzelfall nicht auch
ohne besondere bauliche Qualitäten geht. Schlimmer
noch: In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation
werden solche Einzelfälle fast regelmäßig zum Normalfall.
Wer also heute mehr Baukultur will, wird mit Widersprüchen umgehen müssen. Auf der einen Seite sind
Architektur und Städtebau konstituierende Bestandteile
unserer Kultur. Auf der anderen Seite bleibt die Senkung
von Baukosten ein ökonomisches Gebot der Stunde.
Aber nicht alle genannten Widersprüche sind wirkliche Widersprüche. Gut bauen heißt ja keineswegs
zwangsläufig teuer bauen. Im Gegenteil, gute Architektur stützt die ökonomische Werthaltigkeit von Gebäuden.
Letztendlich wird man in der Baukulturdiskussion nur
dann vorankommen, wenn man den gesellschaftlichen
und auch den immateriellen Wert von Architektur und
Städtebau, von Ingenieurbauwesen und Landschaftsgestaltung anerkennt.
Welche Gebäude, Plätze oder Parks wir der nachfolgenden Generation als potenzielle Denkmale hinterlassen, wird sich zeigen. Eines ist aber ganz sicher: Jede
Zeit wird ihre Bausünden haben.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Baukultur muss im
Alltag ankommen, will sie wirkliche gesellschaftliche
Relevanz gewinnen. Ernst Bloch hat einmal gesagt, Architektur insgesamt sei und bleibe der Produktionsversuch von Heimat. Das ist schön gesagt und zeigt Anspruch, Realität und Widerspruch der Debatte über
Architektur und Baukultur in Deutschland. Gutes Bauen
kann Bindung zum Ort schaffen und kann Räume entwickeln, die Heimatqualität haben. In diesem Sinne freue
ich mich über die Errichtung der „Bundesstiftung Baukultur“.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Heidrun
Bluhm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jede Architektin, jeder Architekt, jede Bauherrin, jeder Bauherr,
jedes Bauunternehmen und alle Nutzer wünschen sich
ein schönes Haus, wünschen sich Kultur am Bau. Kultur
und Schönheit sind aber streitbare Begriffe, sind auch
Ausdruck von Erziehung, Bildung und Wissenschaft.
Gebaute Architektur unterscheidet sich von anderen
Produkten der Gesellschaft durch extreme Langlebigkeit. Das gilt auch für in Beton gegossene Bausünden;
auch diese stehen unter Umständen mehr als hundert
Jahre.
Architekten und Planer stehen zunehmend unter dem
ökonomischen Druck der Bauherren, schnell und preiswert zu bauen. Deshalb ist es unabdingbar, den gesellschaftlichen Dialog aller am Bau Beteiligten auf einer
Ebene zu vernetzen, mit dem Ziel, das vorhandene
Know-how effektiv zu bündeln, sodass alle Bereiche davon profitieren können. Baukultur ist ein interdisziplinäres Fach. Nachhaltiges Bauen gelingt also nur durch das
Zusammenspiel vieler Disziplinen.
Auch wir freuen uns, dass es nach Geburtswehen mittlerweile gelungen ist, die „Bundesstiftung Baukultur“
das Licht der Welt erblicken zu lassen. In der Zwischenzeit hat der Förderverein Baukultur mit seinen vielen
Mitgliedern vorgearbeitet. Er hat die Zeit genutzt, sich in
Arbeitskreisen zusammenzuschließen und bereits damit
wesentliche Grundlagen für eine schnelle Entfaltung der
verschiedensten Aktivitäten der Stiftung zu schaffen. Es
gibt zum Beispiel den Arbeitskreis „Baukultur macht
Schule“; Renate Blank, meine Kollegin, sprach dieses
Thema eben an. Ich denke auch an die Befähigung von
Lehrerinnen und Lehrern, im Unterricht, in der Ausbildung Ästhetik, Form und Farbe zu behandeln und
Baukultur als Wissensfach zu vermitteln. Ein weiteres
Beispiel ist die Arbeitsgruppe „Baukultur und Öffentlichkeit“. Sie folgt dem Sprichwort: Tue Gutes und rede
darüber.
Ich möchte an dieser Stelle all den Akteuren danken,
die die Übergangszeit inhaltlich genutzt haben - wir haben diese Zeit gebraucht, die „Bundesstiftung Baukultur“ aufzubauen -; sie haben einfach gearbeitet, und
zwar im Vertrauen, dass es diese Stiftung geben wird.
Dass die „Bundesstiftung Baukultur“ als Stiftung des
öffentlichen Rechts entstehen wird, wird von uns ausdrücklich begrüßt. Damit stehen auch wir in der Pflicht.
Dadurch unterscheiden wir uns in unserer Auffassung,
Herr Günther. Ich denke, dass die Stiftung des öffentlichen Rechts, so wie sie angelegt ist, durchaus auch durch
private Initiative unterstützt werden kann und auch unterstützt werden soll.
Letztlich haben auch die Mitglieder des Fördervereins
durch ihre Mitgliedsbeiträge und ihre hohen Spenden in
der Zwischenzeit dafür gesorgt, dass diese Arbeit inhaltlich geleistet werden konnte. Deshalb mache ich mir
überhaupt keine Sorgen darüber, dass sich Architektinnen, Architekten und Planer in die „Bundesstiftung Baukultur“ einbringen werden, nicht nur mit ihrer Arbeit,
mit ihren Ideen und mit ihren Gedanken, sondern auch
mit ihrem finanziellen Engagement.
({0})
Wir wünschen dieser Stiftung selbstverständlich auch
großzügige private Spenden und die Unterstützung privater Fördervereine. Trotzdem sieht meine Fraktion die
finanzielle Ausstattung dieser Stiftung mit ein bisschen
Skepsis. Das vom Bund vorgesehene Stiftungskapital
zur Anschubfinanzierung liegt bei 250 000 Euro, während wir für die Umsetzung des Stiftungsgedankens jährlich fast 2,5 Millionen Euro ausgeben wollen. Ich
stimme meinen Vorrednern zu: 250 000 Euro sind etwas
wenig.
({1})
Frau Roth, Sie haben angekündigt, dass wir in den
Haushaltsplanungen die Verantwortung haben werden.
Die entsprechenden jährlichen Zuschüsse werden zu diskutieren sein. Sie wälzen die Verantwortung letztlich ein
bisschen auf uns ab. Wir haben heute von Ihnen keine
Zahl gehört. Sie werden einen Haushaltsentwurf vorlegen, in dem eine entsprechende Zahl enthalten sein
muss. Ich hätte sie gern schon heute gehört. Das hätte
mich vielleicht ein wenig mehr beruhigt.
Die Linkspartei plädiert also für eine langfristige und
ausreichende finanzielle Beteiligung des Bundes an der
Finanzierung dieser Stiftung. Vielleicht werden wir, die
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, dafür Sorge
tragen können, dass das in den nächsten Jahren geleistet
werden kann.
Die Vielfalt der Baukultur in Deutschland ist einmalig. Innovative Schulen wie das Bauhaus erinnern an Innovationsfreudigkeit und weltweites Ansehen. Architektur-Mut fehlt aber auch heute an mancher Stelle.
Wenn man sich zum Beispiel die Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses anschaut, dann erkennt man, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Diskussion in die falsche Richtung geht.
Schauen wir einfach hier nach oben! Schauen wir uns
einmal die Kuppel unseres Reichstages an! Mit dem Architekten Foster haben wir national und international
bewiesen, dass es tatsächlich gelingen kann, Denkmalschutz, Baukultur und moderne Architektur zu verbinden.
({2})
Ich möchte zum Schluss noch darauf aufmerksam
machen - auch das ist von der Regierung hier beruhigenderweise schon angesprochen worden -, dass es der
Fraktion der Linken insbesondere um die sozialen Dimensionen des Bauens geht. Diese sind nicht zu vernachlässigen. Damit möchte ich enden. Wir können
diese Stiftung nutzen. Ich wünsche ihr einen guten Erfolg.
({3})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
spricht nun der Kollege Peter Hettlich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin Blank, Sie sprachen in Ihrer Rede eben davon, dass
es die dritte oder vierte Debatte zur Baukultur gewesen
sei. Ich nehme an, Sie meinten eher, es sei die dritte oder
vierte Debatte zur „Bundesstiftung Baukultur“ gewesen.
Ich hoffe, dass wir in diesem Hause noch öfter über das
Thema Baukultur diskutieren werden.
Ich möchte an dieser Stelle einmal lobend erwähnen,
dass mir Ihre Rede sehr gut gefallen hat. Ihre Rede war
fast ein Seminarbeitrag zum Thema Baukultur. Alle
Achtung! Es fällt mir schwer, noch eins draufzulegen,
zumindest weiß ich nicht, ob es mir gelingen wird.
({0})
- Fishing for compliments.
Wir haben es endlich geschafft, dass der Gesetzentwurf zur Errichtung der „Bundesstiftung Baukultur“
heute nach dreijährigem Tauziehen verabschiedet wird.
Mit dem Sitz der Stiftung in der Roten Villa in Potsdam
haben wir einen würdigen baulichen Rahmen gefunden,
obwohl sicherlich Weimar mit dem Haus am Horn oder
Schloss Ettersburg oder auch Essen mit der Zeche Zollverein sehr attraktive Gegenangebote abgegeben hatten.
Die Entscheidung für Potsdam ist eine gute EntscheiPeter Hettlich
dung und sie ist mir nach Abwägung der vorliegenden
Fakten relativ leicht gefallen.
({1})
Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich für die
finanzielle Unterstützung der Stadt Potsdam und des
Landes Brandenburg. Das sollte man hier erwähnen.
Die „Bundesstiftung Baukultur“ soll die Bedeutung
von Qualität, Nachhaltigkeit und Leistungsfähigkeit sowohl im Architektur- und Ingenieurwesen als auch in der
Bauwirtschaft herausstellen. Als Kommunikationsplattform kann sie das Netzwerk zwischen den Institutionen und den Akteuren stärken und die Öffentlichkeit
durch regelmäßige Publikationen und Veranstaltungen in
die aktuelle Diskussion über die Baukultur einbeziehen.
Ich persönlich freue mich auf die Konvents, die alle zwei
Jahre ausgerichtet werden sollen. Ich erhoffe mir von
diesen Konvents wichtige Impulse für unsere Arbeit.
Ich möchte zwei Gedanken in die Diskussion einbringen. Ein Gedanke ist mir sehr wichtig: Denkmale und
ihr Schutz sind ein wichtiger Bestandteil unserer Baukultur, was bereits von vielen Vorrednern gesagt wurde.
Wir Ostdeutsche freuen uns gerade über die vollständig
erhaltenen und wunderbar sanierten historischen Gebäudeensembles - sei es in Leipzig, Schwerin, Erfurt oder
Potsdam. Ich schließe mich der Auffassung des Kollegen Günther an, dass in den vergangenen 16 Jahren mit
vereinten Kräften etwas Einmaliges geschaffen worden
ist. Dafür sei allen Akteuren ausdrücklich gedankt.
({2})
Dennoch gibt es dunkle Wolken am Horizont. Man
sollte hier auch hervorheben, dass es eine schleichende
Aufweichung des Denkmalschutzes insbesondere auf
Länderebene gibt. Einige Bundesländer wollen die Unterschutzstellung von Gebäuden radikal entbürokratisieren, mit der Folge, dass das Stadtbild prägende Gebäude
von Bauherren oder Investoren geschliffen werden können.
Man muss auch zugeben, dass das Programm „Stadtumbau Ost“ seine Spuren hinterlassen hat, da manche
Kommunen es offensichtlich als willkommene Chance
begreifen, marode Bausubstanz, die das Stadtbild angeblich verschandelt, mit Fördermitteln elegant zu „entsorgen“. Ich nenne hier nur als Beispiel die Vorgänge in
Chemnitz im vergangenen Jahr. Dieses Problem müssten
wir auch im Ausschuss behandeln und es im Rahmen des
Programms „Stadtumbau Ost“ offensiver angehen.
Ein weiteres Problem ist die finanzielle Förderung
des Denkmalschutzes. Wir wissen, dass die Staatskassen
vieler Länder und Kommunen leer sind. Insofern kann
dort eine Förderung nur noch eingeschränkt erfolgen.
Hier im Hause erleben wir trotzdem immer wieder die
Diskussion über die Abschaffung des § 7 i Einkommensteuergesetz, durch den der denkmalpflegerische Mehraufwand steuerlich gefördert werden kann. Dieser Paragraf hat sich in den letzten zehn Jahren aus meiner Sicht
gerade in Ostdeutschland oftmals als letzte Rettung für
gefährdete Bausubstanz erwiesen. Deswegen an dieser
Stelle noch einmal ausdrücklich die Bitte: Hände weg
von § 7 i Einkommensteuergesetz.
({3})
Baukultur bedeutet für mich ebenfalls, die hohen Anforderungen an die Entwurfsqualität in eine adäquate
Bau- und Ausführungsqualität umzusetzen. Hier hat
in den letzten Jahren eher eine neue Unkultur des Bauens
Einzug gehalten. Die Leistungen von Architekten, Ingenieuren wie auch von vielen Baubetrieben werden zunehmend nur noch aus dem Blickwinkel der Kosten und
nicht mehr aus dem Blickwinkel der Qualität gesehen.
Letztlich geht es manchen Investoren offensichtlich nur
noch darum, den Preis für eine gleichwertige Leistung
immer weiter nach unten zu drücken. Deswegen müssen
wir getreu nach dem berühmten Sozialreformer John
Ruskin feststellen: Gutes muss nicht teuer sein, aber billig wird erst richtig teuer; denn wir zahlen nachher drauf.
({4})
Ich möchte einen weiteren Aspekt anführen. Es ist fatal, dass Architekten von Bauherren häufig nur noch als
Entwurfs- bzw. Genehmigungsverfasser gesehen werden.
Wir müssen uns überlegen, wie wir bei der Entwicklung
hin zum Generalunternehmer oder -übernehmer - „Alles
aus einer Hand“ - tatsächlich noch gewährleisten können, dass wir auch in Zukunft noch Baukultur in
Deutschland haben. Das ist für mich eine ganz wichtige
Sache. In diesem Zusammenhang sollte man auch über
mögliche Fehlentwicklungen im Rahmen von ÖPP-Projekten sprechen, bei denen alles - inklusive Planungsleistungen! - aus einer Hand angeboten wird und der Architekt letzten Endes nur noch Erfüllungsgehilfe ist.
Für mich ist sehr wichtig, dass wir diese Themen in
unserem Ausschuss und im Plenum diskutieren. Deswegen freue ich mich auf die spannenden Debatten in diesem Hause zum Thema Baukultur.
Danke schön.
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Weis für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf nun
schon zum vierten Mal innerhalb von drei Jahren - es ist
schon das vierte Mal, Frau Blank! ({0})
über nahezu denselben Gesetzentwurf, also auch über
denselben Beratungsgegenstand, reden. Da muss ich der
Versuchung widerstehen, nach dem Motto zu handeln:
Es ist zwar schon alles gesagt worden, aber noch nicht
von allen. - Ich hoffe, dass mir das in den kommenden
Minuten annähernd gelingt, indem ich mich auf die aus
meiner Sicht wesentlichen Punkte konzentriere.
Ich würde gern mit dem Thema Sitz der Stiftung beginnen. Der gemeinsame Vorschlag von Brandenburg
und Berlin, den Sitz in Potsdam einzurichten, und das
vom Land Brandenburg unterbreitete Angebot hinsichtlich der Räumlichkeiten und der Unterstützung der Arbeit des neuen Instituts haben uns überzeugt. Das heißt
nicht, dass die Bewerbung von Weimar oder von der einen oder anderen Stadt nicht auch attraktiv gewesen
wäre.
({1})
Aber zum Schluss musste eben eine Entscheidung fallen.
Dass die Stiftung nun in Hauptstadtnähe ihre Unterkunft
findet, ist, wie wir wissen, nicht nur, aber auch aus der
Sicht der beteiligten Verbände eine gute Lösung.
Ich würde ganz gern noch einmal auf den Prozess der
letzten Jahre als solchen abheben und möchte zunächst
darauf hinweisen, dass es sowohl unter den Beteiligten
vom Fach als auch in den Reihen der Politik, was nach
Auffassung mancher Menschen nicht dasselbe ist, einen
Konsens gegeben hat, mit dem die Stiftung von Anfang
an auf eine solide Basis gestellt wurde. Zu dieser soliden
Basis trägt natürlich auch die Unterstützung aus dem
Bundeshaushalt bei; Frau Staatssekretärin Roth hat die
Summe von 7 Millionen Euro genannt, die bis zum
Jahr 2010 geleistet wird.
Dass der Konsens, den wir in diesem Hause schon vor
Jahr und Tag erreicht hatten, durch das Intermezzo des
Bundesrats nicht schon im vergangenen Jahr zu einem
abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren geführt hat,
will ich an dieser Stelle nicht weiter kommentieren. Man
muss kleine Wunden, die schon verheilt sind, nicht wieder aufreißen. Ich freue mich auch über späte Einsichten;
gar keine Frage.
In einer meiner vorherigen Reden habe ich darauf
hingewiesen - daran kann ich mich noch gut erinnern -,
dass an der „Bundesstiftung Baukultur“ der Föderalismus weder untergehen noch genesen wird. Ich habe,
finde ich, Recht gehabt.
({2})
Noch einmal ein kurzer Blick auf die wesentlichen Inhalte. Mit der „Bundesstiftung Baukultur“ unterstützen
wir die internationale Reputation und Wettbewerbsfähigkeit unserer Architektinnen und Architekten, der
Planerinnen und Planer, der Ingenieure und Ingenieurinnen, aber natürlich auch - darauf ist schon hingewiesen
worden - der Bauwirtschaft. Wir unterstützen aber auch
die Qualitätssicherung und viel mehr noch die Qualitätssteigerung auf den Gebieten des Planens und Bauens.
Das Stichwort Bausünde, das uns in der Zukunft noch
weiter begleiten wird, ist schon gefallen.
Dabei geht es nicht nur um singuläre spektakuläre
Bauwerke, sondern es geht auch um die Gestaltung der
bebauten Umwelt insgesamt, um die Eigenheimsiedlung, das Verwaltungs- oder Fabrikgebäude, den Museumsneubau oder aber die Brücke über den Fluss. Allein schon deswegen ist die Stiftung in ihrer Wirkung,
wie ich finde, Demokratie stiftend im besten Sinne des
Wortes.
Darüber hinaus wird die Stiftung ihrerseits wesentlich
dazu beitragen, dass sich unser aller Bewusstsein für die
Tatsache schärft, dass Gebäude und der öffentliche
Raum in ganz besonderem Maße nicht nur das Gesicht
unserer Städte und Gemeinden bestimmen, sondern auch
die Qualität des Zusammenlebens; ich könnte auch sagen: der Lebensqualität von uns allen. Darin liegt sicherlich die dezidiert soziale Funktion, vor allem aber
auch der substanzielle Beitrag der Stiftung zur nachhaltigen Stadtentwicklung.
({3})
Insofern denke ich, dass ihre Bedeutung auch weit über
das Kapitel „Bauwesen und Bauwirtschaft als Schlüsselbranche“ im Koalitionsvertrag hinausgreift, in den das
Thema im vergangenen Jahr glücklicherweise Eingang
gefunden hat.
Der Begriff Stadtentwicklung leitet mich noch kurz
zu einem weiteren Aspekt. Wir dürfen nicht nur über die
kluge Integration eines Gebäudes in seine zukünftige
Umgebung nachdenken und nicht nur die Einsicht berücksichtigen, dass jedes Bauen einen Eingriff in die Natur darstellt, der in jedem Fall gut abgewogen werden
muss, sondern wir müssen in Zukunft auch viel stärker
über die Frage nachdenken, wie eigentlich ein Haus oder
Gebäude beschaffen sein muss, damit diejenigen, die es
bauen lassen, es noch bezahlen können, dass die Baukosten also nicht aus dem Ruder laufen und die Qualität
dennoch gesichert bleibt, damit seine Nutzung nicht
mehr Energie verbraucht als unbedingt nötig und damit
es Menschen ganz allgemein gesprochen animiert, sich
in diesem Gebäude aufzuhalten, egal ob sie es aus beruflicher oder privater Motivation tun. Schließlich geht es
darum, es so auszugestalten, dass es mit den unterschiedlichen Anforderungen in unterschiedlichen Lebensphasen einzelner Menschen oder ganzer Familien Schritt
hält. Auch das ist ein Aspekt, den wir noch berücksichtigen sollten. Das gilt für Bestandsbauten übrigens ebenso
wie für Neubauten. Baukultur hat nicht nur mit Neubauten zu tun, sondern auch mit Gebäuden, die es schon
gibt, die wir in einem Prozess weiterentwickeln.
Wir reden bei Baukultur über viel mehr als nur über
Schönheit und Ästhetik oder künstlerischen Ausdruck.
Alle, die sich bislang für die Gründung der Stiftung
engagiert haben und sich in Zukunft für die Stiftung
engagieren werden, sind sich darüber im Klaren, dass
sich die Stiftung in den integrativen Ansatz unserer
nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik nahtlos einfügen wird. Egal ob wir über Stadtumbau, das Programm
„Soziale Stadt“, den städtebaulichen Denkmalschutz
- Kollege Hettlich hat gerade Ausführungen dazu gePetra Weis
macht - oder - ganz aktuell - über die Revitalisierung
unserer Innenstädte reden: Es geht dabei immer auch um
baukulturelle Aufgabenstellungen.
Baukultur ist eine Daueraufgabe, die auf die Kompetenz und das Engagement aller Beteiligten angewiesen
ist. Damit ist sie auch eine wichtige Aufgabe der Bürgergesellschaft.
({4})
Baukultur ist ausdrücklich kein Luxusgut für konjunkturelle Schönwetterzeiten, das in schlechteren Zeiten zur
Disposition steht. Jedoch bewegt auch sie sich im Rahmen des finanzpolitisch Möglichen und ist damit auch
auf das Engagement Dritter angewiesen. Kollege
Günther, ich bin hierbei einfach optimistischer als Sie,
trotz oder gerade wegen der öffentlich-rechtlichen Konstruktion.
Schließlich sei mir noch der Hinweis gestattet, dass
die Einrichtung der Stiftung mitnichten dazu führt, dass
die Baukultur nun in den Fängen der Politik umkommt.
Die Fans der Baukultur und der Stiftung sind mitnichten
Gutmenschen - so wurde das dieser Tage in einer Tageszeitung dargestellt -, für die es in ihrer üppig bemessenen Freizeit nichts Besseres zu tun gibt, als in gut gemeinter Geschäftigkeit überflüssige Dinge zu tun.
Lassen wir uns also nicht beirren und wünschen wir
der Stiftung allen Erfolg, den sie braucht. Seien wir uns
gewiss, dass dieser Erfolg mehr als die Befriedigung des
Interesses einer kleinen, sich über alle Gebühr wichtig
nehmenden Gruppe von Schöngeistern ist. Wenn die
Stiftung Erfolg hat - ich bin fest davon überzeugt, dass
sie Erfolg haben wird -, dann ist es ein Verdienst all derer, die sich in den letzten Jahren für sie engagiert haben.
Es ist dann auch - ich möchte das zu später Stunde optimistisch anmerken - ein kleiner Erfolg unserer Fachpolitik.
Wir alle werden den Nutzen der Stiftung verspüren.
Wir werden die Gewissheit haben, dass die Stiftung und
diejenigen, die in ihr aktiv sind, einen spürbaren Beitrag
zur Lösung von Problemen leisten werden. Ich glaube,
schon damit wird die Stiftung ihren Zweck mehr als nur
erfüllen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Peter Götz für die Unionsfraktionen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debattenbeiträge der letzten 40 Minuten haben gezeigt: Die
„Bundesstiftung Baukultur“ kann zu einer spannenden
Herausforderung werden.
({0})
Mit der heutigen Debatte findet die Diskussion über
die Frage der Zuständigkeit und des Sitzes der Stiftung
nach langem Ringen einen guten Abschluss. Wir erwarten, dass die Stiftung als unabhängige Institution der
deutschen Bau- und Planungskultur die Qualität und die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Architekten und
Ingenieure in Deutschland herausstellt und dass sie eine
Plattform für den Austausch von Erfahrungen aller im
Bereich der Architektur und Stadtplanung handelnden
Akteure bietet.
Wir wünschen uns, dass die Stiftung mit dem Konvent der Baukultur ein Netzwerk für einen öffentlichen
Dialog aufbaut und dabei das Thema der nachhaltigen
Entwicklung unserer Städte einbezieht.
({1})
Viele nationale und internationale Akteure im baukulturellen Bereich verfügen über einen riesigen Erfahrungsschatz. Es ist überfällig, diesen aufzugreifen, zu bündeln
und sichtbar zu machen. Hier schlummert ein großes
Qualitätspotenzial, das mit der Stiftung endlich öffentlich nutzbar gemacht werden kann.
({2})
Dazu gehören auch die Aktivitäten im Bereich des
Städtebaus und der Stadtplanung. Wir müssen eine gute
Stadtplanung mehr denn je als Chance für nachhaltige
Entwicklung begreifen. Die nachhaltige Entwicklung einer Stadt ist ein Teil der Baukultur. Baukultur und nachhaltige Stadtentwicklung müssen besser und enger miteinander verknüpft werden. Darauf hinzuarbeiten, gehört
zu den Herausforderungen, vor denen diese Stiftung
steht.
Unsere Städte und Gemeinden haben enorm viel zu
bieten. Sie sind in der Lage, vielen Menschen auf engstem Raum mit einem Höchstmaß an technischer und
wirtschaftlicher Effizienz eine hohe Lebensqualität zu
ermöglichen. Die Frage wird sein, wie wir Städte als
Lebensräume erhalten und wie wir eine lebendige, dezentrale Demokratie in den Städten stärken, die einen
fairen Ausgleich der Interessen von Stadt und Land vorsieht und damit in eine ausgewogene regionale Struktur
eingebettet ist.
Die vor zehn Jahren auf dem Weltstädtegipfel der
Vereinten Nationen in Istanbul verabschiedete HabitatAgenda weist wichtige Elemente einer globalen Strategie zur nachhaltigen Stadtentwicklung auf. Ich rege an,
diese nach wie vor richtigen Erkenntnisse in die Stiftungsarbeit einfließen zu lassen.
({3})
Lassen Sie mich diesen Ansatz kurz begründen: Baukultur in einer Stadt ist mehr als Bauen und Kultur.
Wenn wir langfristig die Stabilität des Gesamtgefüges
einer Stadt sichern wollen, und zwar völlig unabhängig
von der finanziellen Lage, in der sich die Stadt befindet,
ist bei allen Beteiligten weitsichtige Kompromissbereitschaft und ein hohes Maß an Sensibilität gefragt. Wir
müssen mehr denn je - dies gilt übrigens auch für andere
Politikbereiche - die Menschen mitnehmen. Deshalb
brauchen wir diesen bundesweiten öffentlichen Dialog.
Ich würde mir wünschen, dass die im Stiftungszweck
vorgesehene Kommunikationsplattform zu einer
bundesweiten Diskussion über städtebauliche, planerische, bau- und wohnungswirtschaftliche Qualitätsmaßstäbe führt und dabei, wie bereits ausgeführt, die für die
Zukunft unserer Städte wichtigen Akteure zusammenbringt. Dazu gehören in jedem Fall auch die kommunalen Entscheidungsträger.
Viele unserer Städte und Gemeinden stecken durch
kontroverse Anforderungen von Investoren und Nutzern
voller Widersprüche. In den Innenstädten wird dies besonders sichtbar. Für Bewohner wie für Besucher prägt
in der Regel die Innenstadt das Image der Gesamtstadt.
Deshalb ist die Gestaltung einer Innenstadt der Schlüsselfaktor für eine gute Stadtentwicklung.
Die „Bundesstiftung Baukultur“ kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Deshalb ist es gut, dass wir heute
mit der Verabschiedung dieses Gesetzes den Startschuss
geben. Wir eröffnen damit eine Perspektive für ein neues
Qualitätsbewusstsein im eigenen Land und gleichzeitig
die Möglichkeit, international aufzuzeigen, welch hohes
Potenzial Deutschland mit guter Architektur und Stadtplanung zu bieten hat. In diesem Sinne wünsche ich der
Arbeit der „Bundesstiftung Baukultur“ viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung
einer „Bundesstiftung Baukultur“ kommen, erhält der
Kollege Ilja Seifert für eine Erklärung zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute die Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschließen und
ihr ermöglichen, zu arbeiten, wenn auch mit zu geringer
finanzieller Ausstattung. Die Mehrheit des Bundestages
und auch die Mehrheit meiner Fraktion wird sich für
Potsdam als Sitz dieser Stiftung aussprechen. Dem kann
ich aus mehreren Gründen nicht zustimmen.
Ich weiß, dass alle Städte, die sich um den Sitz beworben haben, geeignet sind. Aber es kann nicht sein,
dass die Stadt, die am meisten bietet, dann auch den Zuschlag bekommt. So scheint es in diesem Falle gewesen
zu sein.
({0})
Meines Erachtens bietet eigentlich Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, die besten Voraussetzungen
für den Sitz dieser „Bundesstiftung Baukultur“. Erstens
ist es eine Stadt, die seit dem Mittelalter ununterbrochen
eine völlig intakte einzigartige architektonische Vielfalt
und Zeugnisse aus allen Epochen hat. Man kann dort
also jeden Tag sehen, was in den letzten 500 oder
700 Jahren gebaut worden ist und wie das erhalten wird.
Das ist ein Grund, der leider nicht berücksichtigt wurde.
Zweitens ist eine Chance verpasst worden, die Euroregion Neiße zu unterstützen. Görlitz ist bei der Wahl
zur Kulturhauptstadt 2010 ganz knapp gegen Essen
durchgefallen. Es wäre ein Zeichen der Fairness gewesen, das zu berücksichtigen und damit eine Region, die
sich abgehängt fühlt, zu unterstützen, ihr zu zeigen, dass
sie dazugehört und dass sie in der Bundesrepublik eine
wichtige Rolle spielt.
Drittens. Görlitz ist unmittelbar mit der Nachbarstadt
Zgorzelec verbunden. Dazwischen befindet sich nur die
Neiße. Die beiden Städte arbeiten sehr eng bei der Erhaltung der historischen Bausubstanz zusammen. Zudem
haben beide Stadträte in diesem Mai auf einer gemeinsamen Sitzung beschlossen, der Erklärung von Barcelona
beizutreten, und sich so verpflichtet, Barrierefreiheit in
dieser historisch gewachsenen Stadt herzustellen. Es ist
also möglich, historisches und denkmalschützendes
Bauen mit zukunftgewandtem Bauen - ich nenne die
Stichworte Barrierefreiheit und Stadt der kurzen Wege miteinander zu verbinden. Das ist bedauerlicherweise
nicht berücksichtigt worden. Es wäre ein Zeichen für die
strukturschwache Region gewesen.
Letzte Bemerkung. Es muss nicht immer eine Landeshauptstadt sein, wenn wir wollen, dass das föderale System wirklich funktioniert. Ich bedaure diese Entscheidung. Falls sich jemand von Ihnen jetzt noch überzeugen
lässt: Schließen Sie sich mir an und stimmen Sie für
Görlitz!
Vielen Dank.
Kollege Seifert, ich fürchte, dass ich das nicht zur Abstimmung stellen kann.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ auf den Drucksachen 16/1945 und 16/1990. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3081, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der FDPFraktion und des Kollegen Dr. Ilja Seifert angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion und des
Kollegen Dr. Ilja Seifert aus der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder entschlossen vor Vernachlässigung
schützen
- Drucksache 16/3024 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz aus der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle waren in den letzten Monaten oft genug entsetzt
über die schrecklichen Fälle, in denen Eltern ihre Kinder
vernachlässigt haben und ihre Verantwortung den Kindern gegenüber nicht übernommen haben. Folgen wir
der Berichterstattung, könnte man fast meinen, die Anzahl solcher Fälle hätte zugenommen.
Ich hoffe, dass es diesen Anstieg nicht gibt. Ich hoffe
auch, dass eine Konsequenz der öffentlichen Berichterstattung ist, dass das Dunkelfeld aufgehellt wird, dass
wir alle sensibler werden, dass wir diese Sensibilität in
politische Instrumente und Handlungsweisen umsetzen
und dass wir auch für uns Konsequenzen ziehen.
Wir können in diesem Terrain in Deutschland leider
nur auf wenige belastbare statistische Zahlen zurückgreifen. Aber unabhängig von den Statistiken, die uns zur
Verfügung stehen, müssen wir feststellen: Alle Fälle haben eine eigene Vorgeschichte und diese Vorgeschichten
sind sehr unterschiedlich. Wir wissen vor allem eines:
Patentrezepte gegen Kindesvernachlässigung gibt es
nicht; einfache Antworten gibt es nicht.
({0})
An diesem Punkt will ich eines unterstreichen: Öffentlich zu suggerieren, allein mit verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen könne man dem Problem beikommen, ist falsch. Das allein wird nicht reichen. Jeder
einzelne Fall ist ernst. Wir müssen uns immer wieder
fragen, was die Hintergründe sind. Das eine, passende
Instrument gibt es nicht. Wir müssen fragen: Woran hat
es gelegen? Wie ist es in der Familie dazu gekommen?
Welche Hilfsangebote gab es? Warum haben die Strukturen nicht ausgereicht?
Wir haben viele dieser Fälle ausgewertet und Konsequenzen daraus abgeleitet. In unserem Antrag schlagen
wir ein politisches Instrumentarium vor, wie man dem
Ganzen begegnen kann. Einige Punkte möchte ich ausdrücklich erwähnen:
Erstens. Wir müssen Vernachlässigung besser aufdecken. Wir brauchen die Kinderärzte, die Gynäkologen
und die Hebammen. Sie müssen sensibler für Anzeichen
der Vernachlässigung sein. Sie müssen sich besser mit
den Jugendhilfeeinrichtungen vernetzen. Vor allem müssen wir den Anspruch auf Hebammen und Familienhebammen erweitern und in unseren Gesetzen verankern.
Der Anspruch auf Hilfe in den ersten acht Wochen nach
der Geburt, der jetzt im Gesetz steht, reicht nicht aus.
Die Leistungen müssen über diesen Zeitraum hinaus angeboten werden. Wir müssen in die Familien hineinschauen und den Eltern Unterstützung anbieten.
({1})
Zweitens. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit bei den
Vorsorgeuntersuchungen. Drohungen wie Kindergeldkürzungen würden bei diesen Familien übrigens völlig in
die Leere laufen, abgesehen davon, dass sie verfassungsrechtlich bedenklich sind.
Drittens. Wir brauchen mehr und bessere Hilfsangebote. In vielen Kommunen sind die Mittel in den vergangenen Jahren gerade im Bereich der Jugendhilfe gekürzt worden. Den Preis dafür zahlen die Kinder in
unserer Gesellschaft. Wir müssen nicht nur Geld in die
Hand nehmen, sondern auch dafür sorgen - das ist unsere Verantwortung -, dass die Strukturen der Jugendhilfe nicht eingedampft werden.
({2})
Viertens. Wir müssen die Kontakthäufigkeit zu den
Familien erhöhen. Gerade zwischen dem zweiten und
dritten Lebensjahr schaut man viel zu selten in die Familien hinein, achtet viel zu wenig darauf, was los ist. Wir
schlagen vor, dass die Gesundheitsämter alle Eltern, unabhängig davon, ob sie privat oder gesetzlich versichert
sind, anschreiben und zu einer Gesundheitsuntersuchung
bitten. Wer diese Untersuchung von seinem Kinderarzt
vornehmen lässt, sei vom Besuch beim Gesundheitsamt
befreit. Bei denjenigen, die nicht zur Untersuchung kommen, müssen wir genau hinschauen, warum sie das nicht
tun, warum sie keine Kinderärzte haben, warum niemand da ist, der sich mit dieser Familie befasst. So werden wir die Familien herausfiltern, bei denen Maßnahmen der Jugendhilfe notwendig sind.
Für mich sind Angebote und nicht mehr Sanktionen
die Antwort auf das Problem.
({3})
Fünftens. Wir müssen auch die Vorsorgeuntersuchungen an sich verbessern. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, auf den Gemeinsamen Bundesausschuss einzuwirken; denn die jetzigen U-Untersuchungen sind
nicht geeignet, um Vernachlässigungsfälle herauszufiltern. Wir brauchen nicht nur eine Vernetzung, sondern
auch eine bessere Zusammenarbeit mit den Kinderärzten
bei den Richtlinien, damit die Instrumente überhaupt
wirken können.
({4})
Die Konsequenz daraus lautet: Wir brauchen nicht
schnell neue Instrumente - die haben wir bereits -; wir
müssen vielmehr alles, was wir haben, besser miteinander vernetzen. Wir dürfen vor einer stärkeren Verbindlichkeit beim Hinschauen nicht zurückschrecken.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch etwas ganz Persönliches sagen. Ich erlebe in diesen Tagen, wie schwierig es ist, zu seiner Meinung zu stehen, wenn man eingeschüchtert wird. Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, dass
ich mich an dieser Stelle ganz persönlich bei meinen Eltern und Großeltern bedanke, weil sie mir die Kraft gegeben haben, auch in schwierigen Situationen zu meiner
Meinung zu stehen. Weil ich will, dass nicht nur ich das
kann, sondern dass alle unsere Kinder das können, dass
sie alle ein Rückgrat haben, aufrecht stehen und Zivilcourage zeigen können, mache ich Kinder- und Familienpolitik. Hier geht es um die Zukunft unseres Landes.
Danke.
({5})
Kollegin Deligöz, ich denke, ich maße mir nichts an,
wenn ich Ihnen mit auf den Weg gebe, dass die Solidarität, die Ihnen das gesamte Präsidium gestern angesichts
dieser schwierigen Situation ausgesprochen hat, natürlich auch für das gesamte Haus und für alle Fraktionen
gilt.
({0})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Antje
Blumenthal das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Deligöz hat in ihrem Beitrag auf die fürchterlichen
Schicksale und auf das unendliche Leid misshandelter
Kinder hingewiesen und diese Problematik eindringlich
geschildert. Ich denke, dabei ist eines deutlich geworden: Wir müssen alles Mögliche tun, um solch schreckliche Schicksale wie das von Jessica aus Hamburg oder
das des kleinen Kevin aus Bremen zukünftig zu verhindern.
({0})
Wenn Eltern überfordert sind und bei der Fürsorge für
ihre Kinder so drastisch versagen, dann ist der Staat gefordert, das Kindeswohl mit allen Mitteln, die ihm zur
Verfügung stehen, zu schützen. Wenn ich „mit allen Mitteln“ sage, dann darf das aber nicht die Erwartung wecken, dass der Staat den absoluten Schutz des Kindeswohls garantieren kann. Wir alle wissen, dass der Staat
gegen fahrlässig oder absichtlich verursachte körperliche
oder psychische Schäden keinen hundertprozentigen
Schutz gewährleisten kann. „Mit allen Mitteln“ heißt für
mich auch, dass wir in der Lage sein müssen, Gefährdungen und Verletzungen des Kindeswohls durch die
Schutz- und Sicherungssysteme des Staates so frühzeitig
wie nur irgend möglich zu erkennen und notwendige
Hilfe rechtzeitig zur Verfügung zu stellen.
Das ist zwar zum großen Teil eine landes- bzw. kommunalpolitische Aufgabe. Aber auch wir Bundespolitiker müssen - genauso wie die Mediziner, die Erzieher
und die Krankenkassen - in die Lösung der Probleme
einbezogen werden. Wenn es um die Gewährleistung des
Kindeswohls geht, sind wir alle gemeinsam gefordert.
({1})
Die Koalition hat im Koalitionsvertrag den Schutzauftrag und das Wächteramt des Staates hervorgehoben. Wir haben uns darauf verständigt, soziale Frühwarnsysteme zu entwickeln und Jugendhilfe und
gesundheitliche Vorsorge besser miteinander zu verzahnen. Diese dringliche Aufgabe gilt es jetzt umzusetzen.
Erste Schritte hat die Bundesregierung mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ bereits eingeleitet. Auch die
Bundesländer haben diese Aufgabe erkannt und deshalb
einstimmig - ich betone ausdrücklich: einstimmig - einen Antrag an die Bundesregierung gerichtet, mit dem
sie das Ziel verfolgen, das Kindeswohl in unserem Land
künftig noch besser zu schützen. Meine Fraktion ist,
ebenso wie der Bundesrat, der Ansicht, dass durch eine
höhere Verbindlichkeit von Früherkennungsuntersuchungen dazu ein sehr wichtiger Beitrag geleistet werden kann.
({2})
Staat und Gesellschaft müssen noch genauer darauf
achten, in welchen Verhältnissen unsere Kinder aufwachsen. Dabei müssen wir vor allem solche Kinder in
den Blick nehmen, die unter ungünstigen sozialen und
wirtschaftlichen Bedingungen groß werden. Es kann
überhaupt keinen Zweifel geben: Die meisten Eltern sind
sehr wohl in der Lage, ihre Kinder angemessen zu versorgen und zu betreuen und ihnen vor allen Dingen - ich
denke, das ist besonders wichtig - liebevolle Zuwendung zukommen zu lassen. Aber dort, wo all dies nicht
geschieht, weil Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen nicht dazu in der Lage sind, muss der Staat frühzeitig auf die Eltern zugehen und ihnen Hilfe anbieten.
({3})
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Staat Gefährdungen und Verletzungen des Kindeswohls erkennen
und angemessene Maßnahmen einleiten kann, bevor es
zu spät ist.
Wie notwendig aber auch weitergehende Schritte
sind, zeigt die besondere Tragik im Fall des kleinen
Kevin: Mediziner und Jugendamt waren offensichtlich
über die Situation informiert. Zum richtigen Handeln hat
es aber nicht gereicht. Um zu gewährleisten, dass sich so
etwas nicht wiederholt, müssen wir uns um den verstärkten Austausch von Daten zwischen den beteiligten Stellen kümmern. Denn was nützt es, wenn ein Arzt einen
Verdacht hat, das Jugendamt davon aber nie erfährt? Was
nützt es, wenn eine Krankenkasse erkennt, dass ein Kind
noch nie zu einer Untersuchung erschienen ist, das Gesundheitsamt bzw. das Jugendamt davon aber nichts
weiß?
Meine Damen und Herren, der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen beinhaltet viele gute Anregungen und
Forderungen.
({4})
Wir denken allerdings, dass wir zum Schutz unserer Kinder in einigen Punkten noch deutlich weiter gehen müssen. Der Familienausschuss wird sich deshalb intensiv
mit dieser Problematik befassen. Schließlich sind wir
uns in diesem Hause einig: Der Schutz unserer Kinder
liegt uns allen am Herzen.
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Miriam
Gruß das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche mussten
wir Politiker uns vorwerfen lassen, fantasielos mit dem
Thema Kinderschutz umzugehen. Der Staat übt sich in
Vernachlässigung, heißt es in einem Artikel sogar. Das
dürfen wir nicht hinnehmen. Es ist deshalb gut und richtig, dass wir uns heute im Bundestag endlich mit den
Vorfällen der letzten Zeit befassen, wenn auch leider zu
so später Stunde. Der Antrag der Grünen enthält tatsächlich - ich bestätige meine Vorrednerin - viele unterstützenswerte Ansätze und Vorschläge:
({0})
Ja, wir brauchen die aufsuchende Familienarbeit
und müssen sie stärken. Viele Problemfamilien sind
eben nicht in der Lage, selbst Unterstützung zu suchen,
oder sie schämen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Deshalb muss Beistand auf sie zukommen.
Ja, der Bund darf sich nicht aus der Verantwortung
stehlen, er muss auf die Länder einwirken, die Kommunen finanziell gut auszustatten, damit diese wiederum
die Jugendhilfe, die sozialen Dienste und die Beratungsstellen mit genügend Mitteln ausstatten können. Kinderschutz zum Nulltarif gibt es leider nicht.
Ja, wir müssen die Elternschaft so früh wie möglich
thematisieren und jungen Menschen deutlich machen,
welche Verantwortung mit einem Kind verbunden ist.
Ein Kind zu bekommen, bedeutet zweifelsohne sehr viel
Schönes, aber auch sehr viel Arbeit.
Ja, wir müssen prüfen, ob es etwas bringen würde, die
Lücken in den Vorsorgeuntersuchungen zu schließen,
Ärzte für Kindesvernachlässigung zu sensibilisieren und
auch die psychosoziale Komponente bei Untersuchungen zu berücksichtigen.
Ja, wir müssen die beteiligten Institutionen besser
vernetzen.
({1})
Aber wenn wir konkreter werden wollen, müssen wir
die Probleme vor Ort, in den Institutionen angehen. Wir
müssen uns in die Lage der Hebammen, der Sozialpädagogen und der Kinderärzte hineinversetzen. Wir haben
in Deutschland funktionierende Strukturen, aber es gibt
wahrlich noch viel zu verbessern. Wir müssen bei den
Praktikern nachfragen - dann bekommen wir ganz praktische Antworten:
Wir erfahren beispielsweise, dass Hebammen gerne
bereit sind, sich stärker in die aufsuchende Familienarbeit einzubringen. Es gibt Fachkräfte unter den Hebammen, die die Ausbildung haben, Probleme junger Eltern zu erkennen und ihnen zu helfen. Doch für diesen
Einsatz muss die Finanzierung gesichert sein - ehrenamtlich ist so etwas nicht zu leisten.
({2})
Wir erfahren außerdem, dass die Kinder- und Jugendärzte die Kinder gerne regelmäßig untersuchen würden.
Doch auch hierfür muss die Finanzierung geklärt werden. Und wir müssen bundesweit einheitliche Standards
festlegen, an denen sich die Mediziner orientieren können.
Wir erfahren, dass die Familien- und Jugendhilfe
gerne mehr leisten würde, auch dafür jedoch die finanziellen und die personellen Ressourcen fehlen. Sozialpädagogen haben heute mehr als doppelt so viele Familien zu betreuen wie noch vor zehn Jahren. Da bleiben
die Zeit und die Intensität, mit der sie sich einer Problemfamilie widmen können, auf der Strecke.
Wir erfahren, dass heute aus Kostengründen die ambulante Pflege immer häufiger der stationären vorgezogen wird. Kinder werden so lange in Familien belassen,
wie es geht, auch wenn ein Heimaufenthalt eigentlich
besser wäre.
Wir erfahren, dass es offenbar erhebliche Schwierigkeiten bei der Kommunikation und Kooperation der einzelnen Beteiligten gibt. Da hat beispielsweise der Sozialpädagoge Vorbehalte gegenüber dem Jugendrichter; da
spricht der Vertreter des freien Trägers nicht Klartext mit
der Stadt; da befürchtet eine Kinderpsychologin
Schlimmstes, wenn sie ihre Erkenntnisse der Polizei anvertraut. Kurz: Oft genug sitzen Fachleute an einem
Tisch vereint, aber keiner macht den Mund auf. So etwas
darf nicht sein.
({3})
Es ist doch schlimm, dass in Deutschland ein Jugendamt einen schlechteren Ruf hat als beispielsweise ein
Gesundheitsamt, dass Hebammen in der öffentlichen
Wahrnehmung nur als Geburtshelfer angesehen werden,
dass Sozialpädagogen sich aus Angst vor beruflichen
Konsequenzen nicht mehr trauen, in Zeitungsinterviews
unter ihrem Namen aufzutreten, wenn sie über die wahren Verhältnisse in der Kinder- und Jugendhilfe sprechen.
Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass alle
bestehenden Strukturen in Deutschland auf kommunaler
Ebene, auf Länder- und auf Bundesebene auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Um hier die richtigen
Weichen zu stellen, sind wir auf die Erfahrungen der
Fachleute angewiesen. Eine gute, am Kindeswohl orientierte Politik wirkt vor allem im Angesicht der Kinder
vor Ort. Diejenigen, die die Kinder tagtäglich sehen und
erleben, müssen wir unterstützen. Wir müssen ihr Image
verbessern und ihre Ressourcen stärken.
Ich habe mich konstruktiv mit Ihrem Antrag auseinander gesetzt. In dieser Richtung sollten wir weiterarbeiten. Ich zitiere hier Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.
Diesen Auftrag müssen wir uns stets zu Herzen nehmen.
({4})
Das Wort hat die Kollege Marlene Rupprecht für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Problem der Kindesmisshandlung ist durch die Veröffentlichung von ganz dramatischen Fällen vor einiger
Zeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Es ist also
nicht mehr nur bei Kinder- und Jugendpolitikern ein
Thema. Wir haben es seit Jahren intensivst beraten und
wir haben Maßnahmenbündel geschnürt, um das Problem, das jetzt öffentlich geworden ist, zu bekämpfen.
Jeder Mensch, der nicht als Fachpolitiker damit zu tun
hat und somit nichts davon wusste, ist schockiert. Wir
sind natürlich auch schockiert, aber wir wussten bereits,
dass es diese Fälle gibt. Jeder Mensch, der davon hört,
empfindet eine natürliche Betroffenheit und möchte,
dass solche Gewalttaten unterbunden werden. Ich
glaube, in diesem Ziel ist sich die Gesellschaft einig. Jeder möchte das erreichen, weil es ihn zutiefst erschüttert,
wenn ein Wesen, das sich nicht wehren kann, hilflos ausgeliefert ist.
Bei der Auswahl der Mittel zur Zielerreichung sind
wir uns schon nicht mehr einig. Wenn wir ein Problem
lösen wollen, das öffentlich und sehr emotional diskutiert wird, sind wir sehr gut beraten, bei aller Betroffenheit eine große Besonnenheit an den Tag zu legen und
großen Sachverstand walten zu lassen. Ich möchte der
Ministerin an dieser Stelle ganz ausdrücklich dafür danken, dass sie diese Besonnenheit trotz des öffentlichen
Drucks gezeigt hat. Herzlichen Dank an Sie.
({0})
Unser Ziel ist es also, die Gewalt zu bekämpfen. Um
dieses Ziel zu erreichen, müssen wir zunächst eine Ursachenanalyse durchführen und erst dann ein Handlungskonzept entwickeln. Damit fangen wir aber nicht erst
jetzt an, sondern in Fachkreisen ist dies schon lange ein
Thema. Wir haben bereits vieles auf den Weg gebracht.
Frau Gruß, seit 15 Jahren gibt es das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Das ist ein wunderbares Gesetz: Es
schreibt vor, dass alle Stellen, die mit Kindern zu tun haben, zusammenarbeiten müssen. Obwohl eine solche
Zusammenarbeit also keineswegs ins Belieben der Beteiligten gestellt ist und diese auch geschieht, passieren
solche Fälle. Es ist so, wie Frau Blumenthal sagte: Es
gibt keine absolute Sicherheit und es gibt vor allem
keine Patentrezepte.
In all diese Überlegungen müssen wir auch die Erfahrungen, die international in diesem Bereich gemacht
wurden, mit einfließen lassen. Dort konnte man ganz
eindeutig feststellen: Es muss immer ein Zusammenspiel
vieler Professionen und Berufsgruppen zum Wohle des
Kindes geben. Wenn qualifizierte Kinderärzte Kinder
mit Kopfverletzungen sehen, dann müssen sie erkennen
können, ob ein Kind wirklich von einer Wickelkommode
aus 80 Zentimetern Höhe gefallen ist oder ob es so stark
geschüttelt wurde, dass diese Erschütterungen einem
Sturz aus 10 Metern Höhe entsprechen. Das muss man
erkennen können. Es nützt wenig, wenn man ein Kind
einem Arzt vorführt, der solche Unterschiede nicht erkennen kann, weil ihm die notwendige Erfahrung fehlt.
Dramatische Gewaltsituationen sind schließlich nicht
allzu häufig.
Wir brauchen Sozialarbeiter, die genügend professionelle Distanz zu den betreuten Familien haben und trotzdem sehr engagiert an ihre Aufgabe herangehen und
Konflikte nicht scheuen. Es ist manchmal sehr unangenehm, die Familien aufzusuchen und ihnen zu vermitteln, dass gehandelt wird. Ich habe zehn Jahre mit Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten
gearbeitet. Das ist nicht immer ein Honiglecken, aber es
zahlt sich aus, auch unangenehme Wege zu gehen, selbst
wenn man manchmal sehr massiv angesprochen wird.
Marlene Rupprecht ({1})
Justiz und Polizei spielen ebenfalls eine wichtige
Rolle. Ich habe gute Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Entsprechende Schulungen finden auf hohem Niveau statt. Aber auch in der Justiz wäre manchmal etwas
mehr Nachdruck wünschenswert, wenn es um die Anwendung des § 8 des SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - geht, der bei Gefährdung des Kindeswohls die Inobhutnahme vorsieht.
({2})
Es geht darum, lieber einmal mehr zu handeln, als zuzuschauen und zuzuwarten. Allerdings sollte behutsam
gehandelt werden; denn die Herausnahme aus der Familie ist für ein Kind sehr schwer zu verarbeiten. Dabei ist
eine sehr große Sensibilität gefragt. Dazu sind entsprechende Schulungen notwendig. Zudem müssen die
Kommunalpolitiker begreifen, dass Sparen hier nicht
weiterhilft, sondern Kinder- und Jugendpolitik in erster
Linie Strukturpolitik ist,
({3})
durch die die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Denn der Staat kann nicht immer die
Feuerwehr spielen. Die Mehrzahl der Eltern ist in der
Lage, die Kinder sehr gut und liebevoll zu erziehen,
wenn entsprechende Rahmenbedingungen gegeben sind,
damit aus Kindern verantwortungsbewusste Erwachsene
werden, die die notwendige Reife für ein demokratisches
Bewusstsein haben. Darum geht es, nicht um massive
Strafen und Drohungen. Sie sind allenfalls im Einzelfall
vertretbar.
Ich wünsche mir, dass wir in diesem Hause diese
Zielsetzung gemeinsam verfolgen und dass es uns als
Abgeordnete gelingt, in den kommunalen Gremien, denen wir angehören, den Mund aufzumachen, wenn es darum geht, ob 500 oder 1 500 Euro für die Beratung im
Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe oder 10 000 Euro
für die Erstellung eines Gutachtens über ein Projekt im
Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft bewilligt werden. Wir setzen die Prioritäten und wir können
klar und deutlich zeigen, wo unsere Prioritäten liegen.
Dafür brauchen wir nicht mehr Mittel; wir müssen nur
die vorhandenen Mittel entsprechend umschichten.
Entschuldigung, Frau Präsidentin, dass ich meine Redezeit überzogen habe.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Diana
Golze das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Erschreckende Fälle von Kindesvernachlässigung und -misshandlung haben in den letzten Tagen
erneut eine richtige und wichtige Debatte über die Stärkung des Kinderschutzes angestoßen. Die Schicksale
von Kindern wie Kevin lassen wohl niemanden unberührt. Dennoch oder gerade jetzt ist die Politik in der
Verantwortung, die Suche nach den Ursachen gründlich
zu betreiben und Lösungen zu finden, die die gefährdeten Kinder und ihre Familien wirksam unterstützen.
Meine Vorrednerinnen - es waren tatsächlich ausschließlich Rednerinnen - haben dies bereits betont.
Zu schnell wurden für mich Rufe nach mehr Kontrolle von wirklichen oder vermeintlichen Risikofamilien laut. Die Forderung von Sanktionen gegen Eltern,
die ihre Kinder nicht zu den regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen bringen, wird nicht nur von der
Linken als falsche Schlussfolgerung gewertet. Besonders eine immer wieder ins Spiel gebrachte Kürzung des
Kindergeldes würde sich wohl eher noch stärker zum
Nachteil der Kinder auswirken, als dass sie die säumigen
Eltern zum Nachdenken und Handeln bringt. Auch den
rund 200 000 Kindern, die bisher gänzlich von einer
Vorsorgeuntersuchung ausgeschlossen sind, da sie und
ihre Eltern keine Krankenversicherung haben, wäre mit
Sanktionsmaßnahmen nicht geholfen.
Die Debatten der vergangenen Tage erwecken bei mir
den Eindruck, dass das Wort Frühwarnsystem zu einer
Art Zauberformel geworden ist. Es ist eine Formel aus
kurzsichtigen Schnellschüssen: ein bisschen mehr Kontrolle, ein paar Sanktionen mehr und dazu 10 Millionen
Euro für ein Aktionsprogramm - fertig ist die heile Welt.
Schaut man sich aber die Realität an, dann wird einem
klar, dass dieses Rezept leider nicht wirken wird. Der gegenwärtige Aktionismus verstellt den Blick auf die eigentlich zentralen Ursache.
Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren bewährten Instrumentarien, die von der außerschulischen Kinder- und
Jugendarbeit über Hilfen zur Erziehung bis zur Inobhutnahme von Kindern reichen, steht durch die klammen
öffentlichen Haushalte unter einem enormen Kürzungsdruck, und das schon seit Jahren. Bereits 2001 wies die
Landesärztekammer Baden-Württemberg in einem Leitfaden darauf hin, dass „Institutionen wie soziale Dienste
und Kinderschutzorganisationen … dem Kind und der
Familie direkter helfen“ können. Doch genau diese Institutionen sind es, die seit Jahren massiven Kürzungen
von Bund, Ländern und Kommunen ausgesetzt sind. Das
verheerende Ergebnis sehen wir heute. Den Anlaufstellen für die betroffenen Kinder fehlen die Mittel, um qualifizierte Angebote zu machen und schnell und gezielt
einzugreifen. Diese Entwicklung wird Frau von der
Leyen mit 10 Millionen Euro nicht umkehren können.
({0})
Auch bei der Personalpolitik werden die Fehler der
vergangenen Jahre offenkundig. In meinem Landkreis
haben wir gerade einmal drei Mitarbeiterinnen im Jugendamt, die eine Amtsvormundschaft übernehmen können. Statistisch gesehen können sie einmal in einem halben Jahr bei den betroffenen Familien vorbeischauen.
Die Erziehungsberatungsstellen haben eine Wartezeit
von bis zu neun Monaten. Dieser Mangel macht deutlich, dass ein Zugriff der Jugendämter auf die Daten des
Bundeszentralregisters - wie kürzlich aus Hamburg
gefordert - der völlig falsche Weg ist. Ein solcher Generalverdacht wird zudem der überwältigenden Mehrheit
der Eltern nicht gerecht, die ihre Kinder nicht vernachlässigen, sondern sie in ihrer Entwicklung fördern und
liebevoll begleiten.
Es sollte das Familienministerium nachdenklich stimmen, wenn Verbände wie der Deutsche Paritätische
Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund
zu anderen Antworten kommen. In ihrem Sechs-PunktePlan stellen die beiden Verbände Forderungen auf, die
meine Fraktion als sinnvolle Handlungsansätze betrachtet. Darüber hinaus wollen wir mit einer existenzsichernden Kindergrundsicherung Kindern und deren Familien die notwendige finanzielle Sicherheit geben.
Nachzudenken wäre außerdem über die Aufnahme des
Rechts des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an
Gesundheit in das Bürgerliche Gesetzbuch, wie der
Deutsche Kinderschutzbund angeregt hat. Damit würde
die UN-Kinderrechtskonvention in diesem Bereich endlich greifen.
({1})
Gefährdete Kinder brauchen die Zivilcourage der gesamten Gesellschaft, aber auch professionelle Fachkräfte. Wir brauchen deshalb eine Gemeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen zur
Stabilisierung der Angebotslandschaft in der Kinderund Jugendhilfe. Dies wäre eine Ankündigung des Familienministeriums, die unsere volle Unterstützung fände.
Vielen Dank.
({2})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Katharina
Landgraf das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zuerst einmal vielen Dank für Ihre Initiative.
({0})
Sie haben ein Thema aufgegriffen, das uns Familienpolitikern zunehmend schwerer auf der Seele liegt: der
Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Gewalt.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ist aber nichts anderes als ein Gemischtwarenladen für Bürokraten. Hier werden Forderungen aufgestellt und Empfehlungen angepriesen, die erst einmal
strukturiert werden müssen. Aber interessant ist er auf
jeden Fall. Das Ziel ist für mich klar: Wir müssen für das
Wohl unserer Kinder mehr tun.
({1})
Der beste Schutz vor Vernachlässigung sind mündige
und bewusste Eltern. Die Gesellschaft, wir alle, muss die
Vernachlässigung von Kindern verhindern. Als Gesetzgeber müssen wir hinterfragen, ob die vorhandenen
Grundregeln für Eltern heute noch ausreichen. Ich
meine, wir brauchen der Zeit angepasste, neue Regeln,
die manchen Akteur auf den rechten Weg zurückführen.
Neue Regeln zu formulieren muss aber auch bedeuten
dürfen, die Früherkennungsuntersuchungen gesetzlich
zur Pflicht zu machen, das heißt - das ist meine persönliche Meinung -, gegenüber säumigen Eltern spürbare
Sanktionen auszusprechen, zum Beispiel das Kindergeld zu kürzen, wenn Früherkennungsuntersuchungen
nicht regelmäßig absolviert werden.
({2})
Persönlich wünsche ich mir, dass auch ein Bonussystem
ins Auge gefasst wird.
Eines will ich in diesem Zusammenhang klarstellen:
Die Union steht nach wie vor und auch in Zukunft für
die Wahrung der Elternrechte, für die Erfüllung der Elternpflichten und für die Wahrung der Elternfreiheiten.
Eltern können und sollen von niemandem aus ihrer
Pflicht entlassen werden. Ich gehe davon aus, dass Eltern
ihre Kinder lieben und nur einige von ihnen mit diesen
Aufgaben überfordert sind.
({3})
Wenn sie jedoch ihren Aufgaben nicht gewachsen sind,
brauchen sie deutliche Zielvorgaben.
({4})
- Ich rede schon mit ihr, keine Angst. - Der Staat und
seine Institutionen, also auch wir, brauchen eine bessere
rechtliche Basis für ihre Handlungen im Interesse der
Kinder und der Eltern. Der Verweis im Grundgesetz
auf das Wächteramt des Staates reicht nicht mehr aus.
Vor uns liegt ein Spannungsfeld, das wir als Gesetzgeber
endlich betreten müssen.
({5})
Ziel muss es sein, die Grundrechte der Kinder auf körperliche und seelische Unversehrtheit und auf ein Aufwachsen ohne Gewalt im Grundgesetz zu verankern.
Das sollte als Handlungskompass sowohl für die Eltern
als auch für den Wächter Staat dienen. Das sind die
Grundlagen, die wir auf der Bundesebene schaffen können.
Ganz konkret muss im SGB V der § 26 zu den Früherkennungsuntersuchungen neu geschrieben werden.
Dafür hat uns in dieser Woche der Berufsverband der
Kinder- und Jugendärzte entsprechende Vorschläge
übermittelt. Hinter diesen stehe ich. Der Verband empfiehlt den Ausbau des Jugendmedizinischen Dienstes
im öffentlichen Gesundheitsdienst, und zwar folgendermaßen: Dieser erfasst und betreut mit Unterstützung von
Familienfürsorgerinnen und besonders qualifizierten Familienhebammen alle Familien mit Neugeborenen. Außerdem soll dieser Dienst engmaschig das weitere Gedeihen des Kindes verfolgen und Familien Hilfen
anbieten. Notfalls nimmt dieser Dienst ein Kind zu seinem Schutze aus der Familie. Jugendämter sind nach
Auffassung des Kinderärzteverbandes für diese sensiblen Aufgaben weniger geeignet.
Was sollten wir eigentlich unterlassen? Nun, zum
Beispiel ein perfektes Überwachungssystem gegen die
Eltern zu schaffen. Was wir tatsächlich brauchen, ist in
erster Linie eine Partnerschaft der gesamten Gesellschaft
für all diejenigen Menschen, die sich für das Aufziehen
von Kindern entscheiden. Dass dies eine pflichtbewusste
und mündige Elternschaft werden kann, dafür tragen
viele die Verantwortung, zuallererst die eigenen Eltern.
Falls diese ihren Pflichten gegenüber ihren Nachkommen nicht gerecht werden können, sind andere Partner
gefragt, wir und viele andere.
In unseren gesetzgeberischen Aktivitäten müssen wir
natürlich alle bereits laufenden Gesetzesinitiativen der
Länder beachten und einbeziehen. Wir vom Bund aus
können den Ländern und den Kommunen keine Vorschriften machen, wie sie mit dieser Problematik umzugehen haben. Ich weiß, dass in den Ländern bereits nicht
nur alle Alarmglocken läuten, sondern echt an Lösungen
gearbeitet wird, so zum Beispiel im Freistaat Sachsen.
Kollegin Landgraf, wie die Kollegin Rupprecht zu
Recht bemerkte, bin ich ein geduldiger Mensch. Aber
wir haben noch die Beratung in den Ausschüssen vor
uns. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Dort hat der Ministerpräsident den Kinderschutz zur
Chefsache gemacht. Wir sind alle optimistisch. Bund
und Länder werden gemeinsam etwas zum Wohle und
zum Schutz der Kinder tun. Packen wir es an!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute war zu lesen, 85 Prozent der Bevölkerung möchten gern eine verpflichtende ärztliche
Untersuchung für Kinder.
({0})
Ich glaube, diese 85 Prozent sind ein Ausdruck großer
Betroffenheit angesichts der wieder einmal bekannt gewordenen Fälle von Kindesmisshandlung. Aber ich sage
auch: Das ist ein Ausdruck von Ohnmacht, und zwar
dann, wenn man meint, nur dieses eine Mittel der gesetzlich verpflichtenden Untersuchung helfe, Misshandlungen zu verhindern. Es ist von meinen Vorrednerinnen
schon verschiedentlich gesagt worden, besonders von
Frau Blumenthal und Frau Rupprecht, dass der Staat alleine nicht alles verhindern kann, was passieren könnte.
Aber dennoch müssen wir uns fragen, was wir als Bundesgesetzgeber tun können.
Frau Rupprecht hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass wir ein hervorragendes Gesetz haben,
nämlich das Kinder- und Jugendhilfegesetz, für das
der Bund zuständig ist.
({1})
Frau Rupprecht hat auch darauf hingewiesen, dass wir
dieses Gesetz weiterentwickelt haben; denn man muss
deutlich sagen, dass sich der Bundestag heute nicht zum
ersten Mal mit dem Thema Kindesmisshandlung beschäftigt. Wir haben dem Gesetz den § 8 a hinzugefügt,
der das Jugendamt stärkt, indem er es ermächtigt, Kinder, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt,
sofort aus der Familie herauszuholen - ohne ein Urteil
des Familiengerichts abzuwarten. Ich denke, das war
eine richtige Entscheidung. Trotzdem muss man feststellen, dass das Gesetz den Fall Kevin nicht verhindert hat.
Ich glaube aber, dass wir, wie es viele heute schon beschrieben haben, kein Gesetzesdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit haben.
({2})
Dass es auch anders geht, zeigt eine Reihe guter Beispiele. Ich möchte drei davon nennen. Der Bürgermeister von Dormagen, einer Stadt in Nordrhein-Westfalen,
ist gleichzeitig Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes. Dieser Bürgermeister, Herr Hilgers, hat
dafür gesorgt, dass Sozialarbeiter, wenn ein Kind geboren wird, sofort in die Familie gehen, ein Babypaket
übergeben und Erziehungshilfen beilegen. Ich denke,
das ist ein guter Weg. Dabei ist für mich entscheidend,
dass Herr Hilgers dafür gesorgt hat, dass der Gesichtspunkt, ob eine Familie arm oder reich ist, keine Rolle
spielt und alle Familien besucht werden. Wir müssen uns
nämlich vor Stigmatisierung hüten.
Ich nenne eine andere Gemeinde, nämlich Mettmann.
In Mettmann wurde zusammen mit dem Gesundheitsamt
ein hervorragendes Meldesystem aufgebaut. Die Familien werden angeschrieben und erhalten einen Rückmeldebogen. Das Gesundheitsamt kann so sehen, wer eine
Früherkennungsuntersuchung freiwillig wahrnimmt und
wer nicht.
({3})
Last, not least möchte ich auf ein Projekt hinweisen,
das an der Kinderklinik Lauchhammer in der Niederlausitz entwickelt worden ist. Auch dieses ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Dort sind es die Ärzte gewesen,
die die Initiative ergriffen haben. Sie haben immer wieder festgestellt, dass es Misshandlungen gibt, und sich
gefragt, was sie machen sollen, wo es doch keine entsprechenden Strukturen gibt und man sich an niemanden
wenden kann, um den betroffenen Kindern zu helfen. Inzwischen gibt es dort eine Vernetzung der Krankenhäuser, der Jugendämter und der Sozialämter. Ich glaube,
das ist der richtige Weg.
Das Projekt des Familienministeriums, das in diesem
Zusammenhang vielfach kritisiert worden ist, ist richtig,
weil es frühe Hilfen und ein Frühwarnsystem miteinander verbindet und so eine Vernetzung auf den Weg
bringt. Das müssen wir angehen und in der Politik umsetzen. Wir brauchen nämlich eine stärkere Vernetzung
der Kinder- und Jugendhilfe mit den Sozialämtern, den
Schulen und dem Gesundheitswesen sowie - das ist
keine Frage - ein besseres Meldesystem, allerdings auf
freiwilliger Basis.
({4})
Dabei unterstützt uns die Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung, die das ganz genauso sieht.
Wir sollten im Ausschuss gemeinsam - in der heutigen Debatte habe ich viele Gemeinsamkeiten entdeckt nach Lösungen suchen, die mehr auf Freiwilligkeit und
auf Hilfen basieren. Das sollte unser Ziel sein.
Schönen Dank.
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3024 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts
- Drucksachen 16/1935, 16/2475 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/3162 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich eröffne
die Aussprache und nehme gleichzeitig die Beiträge des
Kollegen Wegner aus der Unionsfraktion, des Kollegen
Lange aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Zeil aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Lötzer aus der Fraktion
Die Linke und des Kollegen Berninger aus der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.1)
1) Anlage 6
Damit schließe ich die Aussprache auch schon wie-
der.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts, Druck-
sachen 16/1935 und 16/2475. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/3162, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion der Grünen bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion der Grünen bei Enthaltung der FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3174. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenpro-
be! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist da-
mit gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Exzellenzwettbewerb - Fachhochschulen
- Drucksache 16/2838 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz ({2}), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Exzellenzinitiative erweitern - herausragende
Lehre prämieren
- Drucksache 16/3094 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier war nach einer interfraktionellen Verein-
barung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgese-
hen. Wir nehmen die Reden der Kollegin Professor
Monika Grütters aus der Unionsfraktion, des Kollegen
René Röspel aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe
Barth aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Dr. Petra Sitte
aus der Fraktion Die Linke und des Kollegen Kai
Vizepräsidentin Petra Pau
Gehring aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
zu Protokoll.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2838 und 16/3094 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Modernisierung der Justiz ({4})
- Drucksache 16/3038 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Auch hier war eine halbe Stunde für die Aussprache
vorgesehen. Wir nehmen die Beiträge des Kollegen
Gehb aus der Unionsfraktion, des Kollegen Stünker aus
der SPD-Fraktion, der Kollegin Dyckmans aus der FDP-
Fraktion, des Kollegen Nešković aus der Fraktion Die
Linke, des Kollegen Montag aus der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Hartenbach zu Protokoll.2)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3038 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Europäisches Jahr der Chancengleichheit Recht auf Bildung realisieren
- Drucksache 16/1446 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wollten wir für eine halbe Stunde in die
Aussprache eintreten. Wir nehmen aber die Beiträge des
Kollegen Weinberg aus der Unionsfraktion, des Kolle-
gen Rossmann aus der SPD-Fraktion, des Kollegen
Meinhardt aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Hirsch
aus der Fraktion Die Linke und der Kollegin Hinz aus
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Proto-
koll.3)
1) Anlage 7
2) Anlage 8
3) Anlage 9
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/1446 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Hans-Christian Ströbele, Monika
Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Staatsangehörigkeitsrechtes
- Drucksache 16/2650 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier brauchen wir die interfraktionell vereinbarte Aussprache von einer halben Stunde nicht in Anspruch zu nehmen. Wir nehmen die Reden des Kollegen
Baumann aus der Unionsfraktion, des Kollegen Veit aus
der SPD-Fraktion, des Kollegen Hartfrid Wolff ({9}) aus der FDP-Fraktion, des Kollegen Keskin aus
der Fraktion Die Linke und des Kollegen Winkler aus
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Proto-
koll.4)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2650 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Zusätzlich soll der Gesetzentwurf an den Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bei Warenetikettierung mit RFID-Chips den
Datenschutz sichern
- Drucksache 16/2673 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch hier brauchen wir die für die Aussprache vorge-
sehene halbe Stunde nicht in Anspruch zu nehmen. Wir
nehmen die Reden der Kollegin Philipp aus der Unions-
fraktion, des Kollegen Bürsch aus der SPD-Fraktion, der
Kollegin Piltz aus der FDP-Fraktion, des Kollegen Korte
4) Anlage 10
Vizepräsidentin Petra Pau
aus der Fraktion Die Linke und der Kollegin Stokar von
Neuforn aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
zu Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2673 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam
bekämpfen - Das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern
- Drucksache 16/3019 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war auch
hier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen,
wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf
Minuten erhalten sollte. Wir nehmen die Reden des Kol-
legen Bauer aus der Unionsfraktion, des Kollegen Raabe
aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Addicks aus der
FDP-Fraktion, des Kollegen Aydin aus der Fraktion Die
Linke und der Kollegin Höfken aus der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.2)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3019 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 11
2) Anlage 12
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
In der EU-Mittelmeerpolitik mehr auf Demokratisierung und Good Governance drängen
- Drucksache 16/848 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({12})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. Wir nehmen die Reden des Kollegen
Hörster aus der Unionsfraktion, des Kollegen Mützenich
aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Addicks aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Knoche aus der Fraktion
Die Linke und des Kollegen Steenblock aus der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.3)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/848 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Oktober 2006,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.
Die Sitzung ist geschlossen.