Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich.
Gemäß § 93 a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung sind
auf Vorschlag der Fraktionen deutsche Mitglieder des
Europäischen Parlaments zu berufen, die an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union teilnehmen können. Die Anzahl
und die Zusammensetzung des Kreises dieser Mitwirkungsberechtigten müssen nach der Bundestagswahl neu
festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich auf insgesamt 16 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments verständigt. Davon entfallen auf die
CDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD vier, auf
Bündnis 90/Die Grünen zwei sowie auf FDP und Die
Linke jeweils ein Mitglied. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, haben
wir einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres
Antrags zur Überwachung von Journalisten durch
den Bundesnachrichtendienst zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung erhält zunächst der
Kollege Volker Beck für die antragstellende Fraktion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt
heute, den Tagesordnungspunkt „Überwachung von
Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst“ auf die
Tagesordnung zu setzen. Die Arbeit des BND beschäftigt die Öffentlichkeit gegenwärtig in zwei Fällen: BNDund BKA-Beamte sollen den Deutsch-Syrer Zammar in
Damaskus in einem für Folter berüchtigten Gefängnis
verhört haben. Und: Über Jahre hinweg hat der Bundesnachrichtendienst im Inland Journalisten observiert. Gerade wenn man den Bundesnachrichtendienst als Teil unserer Sicherheitsarchitektur bejaht, hat man als
Parlament die Verantwortung, durch Kontrolle dafür zu
sorgen, dass die Geheimdienste geheim, aber auch innerhalb von Recht und Gesetz handeln.
({0})
Wir werden in beiden Fällen darauf dringen, dass unter
der notwendigen Beachtung des Geheimschutzes Parlament und Öffentlichkeit erfahren, inwieweit sich der
BND bei seiner Arbeit außerhalb von Recht und Gesetz
gestellt hat.
Die staunende Öffentlichkeit erfuhr am 8. November
von der Überwachung verschiedener deutscher Journalisten in Deutschland durch den deutschen Auslandsgeheimdienst BND. In doppelter Überschreitung der Kompetenzen wurden Journalisten durch den BND zumindest
in den 90er-Jahren widerrechtlich observiert, der Müll
eines Forschungsinstituts systematisch durchwühlt und
ausgewertet. Die „Berliner Zeitung“ berichtete am
19. November - ich zitiere -:
Der Bundesnachrichtendienst hat mindestens bis
Ende der Neunzigerjahre Journalisten observiert.
Außerdem hat der Geheimdienst in der gleichen
Zeit mehrere Medienvertreter als operative Verbindungen geführt, die auch bezahlt wurden. Das bestätigte ein ehemaliger BND-Mitarbeiter im Gespräch mit dieser Zeitung.
Meine Damen und Herren, wir akzeptieren diesen
zweifachen Angriff auf die Pressefreiheit nicht.
({1})
Der Bürger muss davon ausgehen können, dass, wenn er
mit einem Journalisten spricht, die Informationen nicht
bei den Geheimdiensten landen. Gerade auch um das
Vertrauen in den Journalismus und die Pressefreiheit
wiederherzustellen, muss die Aufklärung dieser BNDAffäre öffentlich erfolgen
({2})
und nicht hinter den verschlossenen Türen des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Die Bürger müssen
Redetext
Volker Beck ({3})
erfahren, was vorgefallen ist und wie in Zukunft Ähnliches verhindert wird. Das sind wir der Pressefreiheit und
dem öffentlichen Vertrauen in einen unabhängigen Journalismus schuldig.
Die Haltung der Bundesregierung zu diesen Vorgängen, bislang nur das Parlamentarische Kontrollgremium
zu unterrichten, schreit nach einer Korrektur.
({4})
Wir wollen wissen: In welchem Umfang und in welchen Zeiträumen hat der Bundesnachrichtendienst Journalisten observiert? Dauern diese Observierungen etwa
noch an? Wer war von diesen Observierungen betroffen?
Welches sind die Strukturen innerhalb des Bundesnachrichtendienstes, die diese rechtswidrige Praxis ermöglicht haben? In welchem Umfang sind Journalisten vom
BND angeworben und bezahlt worden? Auch muss dem
Parlament an der Aufklärung der Frage gelegen sein, ob
die BND-Spitze von den Vorgängen wusste und das
Bundeskanzleramt informiert war.
Zum Schluss ein Wort zum Zeitpunkt dieser Debatte.
Am 8. November gab es die ersten Pressemitteilungen.
Am 21. November stellt das Parlamentarische Kontrollgremium einstimmig fest:
… dass der BND mit seiner Vorgehensweise teilweise seine ihm in § 2 Abs. 1 BNDG eingeräumten
Befugnisse, Maßnahmen zum Schutz seiner Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Quellen zu
treffen, überschritten hat. Jedoch sieht das Gremium hier noch weiteren Aufklärungsbedarf.
Heute, dreieinhalb Wochen nach den ersten Presseberichten, wollen wir, dass auch der Deutsche Bundestag
sich endlich mit diesem Skandal befasst.
({5})
Unser Anliegen ist wirklich keine Zumutung für die
Kolleginnen und Kollegen im Hohen Hause. Die heutige
Debatte ist bis 12.30 Uhr geplant. Ich glaube, wir alle
schaffen es, auch bis 13.30 Uhr hier zu bleiben, um uns
dieses wichtigen Themas anzunehmen.
({6})
Wir beschweren uns als Parlamentarier immer wieder,
dass Talkshows und Medien den Debatten des Deutschen Bundestages in der öffentlichen Aufmerksamkeit
den Rang ablaufen. Überlassen wir die Aufklärung dieses BND-Skandals nicht der Diskussion außerhalb des
Plenums! Nehmen wir uns hier und in den Ausschüssen
des Deutschen Bundestages dieses Themas an und nehmen wir die Aufklärung selbst in die Hand! Dazu haben
Sie mit der Zustimmung zu unserem Antrag heute die
Chance.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Norbert Röttgen das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Beck, ich muss Ihnen sagen, dass ich Ihren
Ton parteipolitischer Aufgeregtheit in dieser Debatte
- offen gestanden - für völlig deplatziert und unangemessen halte.
({0})
Denn die Wahrheit ist, dass das gesamte Haus der Auffassung ist - das finde ich positiv; das sollten wir nicht
relativieren -, dass die Kontrolle der Tätigkeiten der Geheimdienste ein parlamentarisch und rechtsstaatlich
wichtiges, uns verbindendes Anliegen ist.
({1})
Uns verbindet weiterhin die Einschätzung, dass die
Vorfälle, die schon Jahre zurückliegen - damit wird ihre
Bedeutung aber nicht relativiert -, ernsthaft und gravierend sind. Es geht um den Vorwurf rechtswidriger Observierungen von Journalisten. Dabei handelt es sich,
wie gesagt, um einen ernsthaften Vorfall. Alle Kolleginnen und Kollegen, die im Parlamentarischen Kontrollgremium arbeiten, haben deshalb gesagt, dass es einer
lückenlosen Aufklärung bedarf. Das ist die Position aller Fraktionen und nicht nur einer Fraktion. Wenn wir
die notwendigen Erkenntnisse haben, dann müssen daraus auch die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.
({2})
So hat das Parlamentarische Kontrollgremium in der
Vergangenheit gearbeitet. Genau das ist auch hier gefordert.
Aber es bedarf an dieser Stelle nicht parteipolitischer
Profilierungsbemühungen, die auch etwas verkrampft
wirken.
({3})
Es war vielleicht die Woche der neuen grünen Profillosigkeit. Dieser Eindruck wird durch den verkrampften
Auftritt heute Morgen eher etwas verstärkt als widerlegt.
Sie sollten sich auf anderen Gebieten profilieren. Denn
alle im Parlamentarischen Kontrollgremium haben festgestellt: Das ist ein ernsthafter Vorgang. Er bedarf noch
weiterer Sachaufklärung. Diese ist noch nicht abgeschlossen. Das ist mit Ihren Stimmen so im Parlamentarischen Kontrollgremium beschlossen worden.
({4})
Es ist weiterhin von der Möglichkeit Gebrauch gemacht
worden, einen Sachverständigen mit einer Untersuchung
zu beauftragen.
All das geschieht. Die Bundesregierung hat ausführlich berichtet. Man muss den Vorgängen weiter nachgehen. Es macht doch Sinn, dass man zunächst den Sachverhalt aufklärt und dann über ihn diskutiert, und es
macht keinen Sinn, zunächst zu diskutieren und dann
den Sachverhalt aufzuklären, über den man bereits diskutiert hat.
({5})
Wenn wir den rhetorischen Anspruch, den Sie heute
Morgen erhoben haben, nämlich die Forderung nach
parlamentarischer, rechtsstaatlicher Kontrolle der Tätigkeiten der Geheimdienste, ernst nehmen, dann ist unser
Appell richtig - das wird unsere Abstimmung heute zeigen -, dies parlamentarisch ernsthaft, seriös und konsequent umzusetzen. Profilierung hat, wie wir finden, ihren Platz an anderer Stelle. Hier sollten wir sorgfältig
und sachorientiert vorgehen.
Darum gibt es keinen Grund, von der in der Geschäftsordnung vorgesehenen Form und den Fristen, die
für die Beratung vorgesehen sind, abzuweichen. Im
Sinne der Sache stimmen wir dagegen, dass über dieses
Thema heute voreilig debattiert wird. Es wird aufgeklärt
werden. Es werden Konsequenzen gezogen werden und
es wird debattiert werden, aber in einer sachorientierten
Reihenfolge und nicht aus parteipolitischer Motivation
heraus.
({6})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jörg van
Essen, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch meine Fraktion wird dem Antrag der Grünen nicht
zustimmen. Das, was der Kollege Röttgen hier vorgetragen hat, ist, wie ich finde, richtig.
({0})
Die Behauptung des Kollegen Beck, dass sich der Bundestag mit diesen Vorgängen, die natürlich der parlamentarischen Aufmerksamkeit bedürfen, nicht befasst hat, ist
schlicht falsch. Das entsprechende Kontrollgremium ist
zusammengetreten. Für uns war ganz wichtig: Es hat die
notwendige Aufklärung in Auftrag gegeben.
Deshalb ist es unser Ziel - vor allen Dingen auch das
Ziel unserer Innenpolitiker -, diese Fragen schnellstmöglich auf den Tisch dieses Hauses zu bringen. Aber
wir sind im Augenblick in der Phase der Sachaufklärung. Wir bedürfen auch heute keiner Debatte, weil das
Vorgänge aus der Vergangenheit sind,
({1})
bei denen nicht zu befürchten ist, dass sie sich fortsetzen,
wenn wir hier keine Stäbe einziehen, mit denen dafür gesorgt wird, diese Tätigkeiten zu unterbinden. Das heißt,
wir klären die Vergangenheit sorgfältig auf. Auf dieser
Grundlage wollen wir hier im Deutschen Bundestag diskutieren.
Die Linie, die wir als Opposition in Zukunft vertreten
werden, ist, eine Opposition zu betreiben, die die notwendigen Entscheidungen auf sachlicher Grundlage herbeiführt und die nicht so agiert, wie Sie es tun.
({2})
Das, was der Kollege Röttgen gesagt hat, ist doch zutreffend. Wir haben es in dieser Woche in der „taz“ gelesen: Sie sind in keiner Regierung mehr und versuchen
jetzt, nicht durch vernünftige Sachvorschläge, sondern
durch Aktionismus Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen. Wir machen dabei nicht mit. Wir als Opposition werden für eine sachliche Politik hier im Deutschen Bundestag sorgen.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Olaf Scholz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann
mich den Ausführungen des Kollegen Röttgen und des
Kollegen van Essen anschließen. An dieser Debatte ist
nichts aktuell, außer dem nach langem Zaudern gestern
gefassten Beschluss der Grünen, heute eine Geschäftsordnungsdebatte zu führen.
Natürlich ist klar, dass die Redezeit jeweils fünf
Minuten umfassen sollte, weil ein paar inhaltliche Sätze
gesagt werden sollten. Das Problem an dieser Sache ist
jedoch, dass für die öffentliche Diskussion noch nicht
viel mehr als das, was sich in den fünf Minuten Redezeit
des Kollegen Beck unterbringen ließ, bekannt ist.
({0})
Es ist natürlich richtig, dass das Parlamentarische Kontrollgremium die Aufklärung betreibt, die wir benötigen,
damit wir hinterher über die Vorgänge diskutieren können.
Es wäre schön gewesen, Herr Kollege Beck, Sie hätten das gemacht, worüber wir alle uns schon fast einig
waren, nämlich in der nächsten Sitzungswoche eine ordentliche Diskussion zu führen - zwar noch mit viel Unwissen; denn wir wissen ja noch nicht viel - und diese
fortzusetzen, wenn die Aufklärung abgeschlossen ist.
Diese kann dann auch sachlich geführt werden und dann
kann man Konsequenzen ziehen. Es ist dem Ernst der
Sache nicht ganz angemessen, hier den Versuch zu
betreiben, irgendwie eine kleine Pressemeldung zustande zu bringen.
Mein Vorschlag: Aufregung runter, Debatte, wenn es
so weit ist. Dann fahren wir alle besser mit dem Thema.
Schönen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Maurer,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere
Fraktion hält das Anliegen der Grünen, sowohl was den
Zeitpunkt als auch was den Inhalt angeht, für vollständig
berechtigt.
({0})
Herr Kollege Scholz, Ihre Aussage war jetzt nicht
ganz mit der des Kollegen Röttgen abgestimmt. Kollege
Röttgen hat hier erklärt, das verantwortliche Gremium
müsse jetzt erst einmal in Ruhe die Sachaufklärung betreiben und man solle nach Abschluss der Sachaufklärung hier darüber debattieren. Sie haben gesagt: Wir
können durchaus über einen Zwischenstand debattieren, aber bitte nicht heute. Das ist nicht das Gleiche.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie, Herr Kollege
Scholz, der Auffassung sind, dass man über einen Zwischenstand debattieren kann, dann können wir darüber
auch heute debattieren,
({1})
und zwar, weil es sich hier - das haben alle Redner hier
festgestellt - um sehr ernst zu nehmende Vorwürfe handelt. Zudem beobachten wir - das will ich hinzufügen seit einiger Zeit eine gewisse Tendenz in Deutschland,
investigativen Journalismus jedenfalls auf der Seite
der Informanten mit Repressionen zu belegen.
Ich denke, dass da sehr grundsätzliche Fragen der
Pressefreiheit berührt sind. Wir sind - das ist in anderen
Staaten auch so - auf einen aufklärenden, investigativen
Journalismus in Deutschland angewiesen.
({2})
Wenn hier die Tendenz, Journalismus auch mit strafrechtlichen oder gar mit nachrichtendienstlichen Mitteln
zu behindern oder einzuschränken, einreißt, dann halte
ich das für eine hohe Gefährdung der demokratischen
Öffentlichkeit in Deutschland.
({3})
Ein weiterer Punkt ist - Kollege Beck hat es schon
kurz angesprochen -: Wenn wir der Bedeutung des Parlaments und des Parlamentarismus wirklich Rechnung
tragen wollen, dann darf der Zustand, der seit längerem
festzustellen ist, dass nämlich Debatten im öffentlichen
Raum, aber nicht im Parlament geführt werden, nicht
aufrechterhalten werden.
({4})
Die Politikverdrossenheit, die wir zu beklagen haben,
hat nämlich ihre wesentliche Ursache in Funktionsverlusten bei den demokratischen Gremien, insbesondere
bei den Parlamenten. Wenn man, wie Kollege Scholz zutreffend feststellt, auch über Zwischenstände debattieren
kann, dann sollte man - ich rate dringend dazu - wenigstens halbwegs so tagesaktuell im berufenen Gremium,
nämlich im deutschen Parlament, darüber diskutieren,
wie auch in der Öffentlichkeit, in den genannten Talkshows, darüber debattiert wird. Wir tun unserer Pflicht
nur genüge, wenn wir öffentliche Debatten im Parlament
früh und umfassend aufgreifen.
({5})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Aufsetzungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Aufsetzungsantrag abgelehnt.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Statistik zur Informationsgesellschaft, Drucksache 16/40, zu erweitern und diese jetzt gleich als Zusatzpunkt 9 ohne Aussprache aufzurufen. - Ich stelle
fest, damit sind Sie einverstanden.
Dann rufe ich den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 9
auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Statistik zur Informationsgesellschaft ({0})
- Drucksache 16/40 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Wir kommen gleich zur Überweisung. Hierzu wird
interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und den Ausschuss für Kultur und Medien zu
überweisen. Fühlt sich einer der nicht bedachten Ausschüsse benachteiligt? - Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wir setzen nun die Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin fort. - Tagesordnungspunkt 1 -:
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
({2})
Ich darf daran erinnern, dass wir am Mittwoch für die
heutige Aussprache drei Stunden vereinbart haben.
Zusätzlich haben die Fraktionen vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/120 zur Angleichung des Arbeitslosengeldes II zu erweitern und diesen
als Zusatzpunkt 8 aufzurufen. - Auch dazu darf ich Ihr
Einverständnis feststellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beginnen die
heutige Aussprache mit den Themenbereichen Arbeit
und Soziales. Dazu rufe ich, wie gerade vereinbart, Tagesordnungspunkt 8 sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:
8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Katja Kipping, Kornelia
Möller und der Fraktion DIE LINKE.
Angleichung des Arbeitslosengeldes II in den
neuen Ländern an das Niveau in den alten
Ländern rückwirkend zum 1. Januar 2005
- Drucksache 16/120 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wir beginnen die Aussprache und ich erteile das Wort
zunächst dem Bundesminister für Arbeit und Soziales,
Franz Müntefering.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
großen Veränderungen und Herausforderungen dieser
Zeit - die Globalisierung, die Europäisierung, die demographische Entwicklung, die Staatsverschuldung von
Bund, Ländern und Kommunen - haben in erheblichem
Umfang mit der Arbeit, der Beschäftigung und dem Sozialen zu tun. Sie treffen die Menschen unmittelbar, teils
positiv, in erheblichem Maße aber auch negativ. Politische Antworten sind nicht leicht. Aber wir als Koalition
werden sie geben. Wir gehen den Problemen nicht aus
dem Weg.
Die Koalition hat klare gemeinsame Ziele beschrieben. Dazu gehört eine starke Wirtschaft, die Wohlstand
und Arbeit sichert und für faire Verteilung steht. Dazu
gehört ein sozialer Staat, der soziale Gerechtigkeit sichern hilft, soziale Gerechtigkeit im Sinne von gleichen
Bildungschancen, im Sinne von Gerechtigkeit der Lebenschancen von Frauen und Männern und von Generationengerechtigkeit, ein Staat, in dem eine menschliche
Gesellschaft lebensfähig ist, eine Gesellschaft, die liberal und solidarisch ist, eine Gesellschaft, in der organisierte Solidarität und individuelle Solidarität möglich
sind.
({0})
Wir wollen diese Politik für die Menschen. Die Menschen sollen frei sein, frei von Arbeitslosigkeit und Existenzängsten, frei von Diskriminierung und frei von sozialer Not. Die Menschen sollen frei sein: frei zum
Ergreifen von Bildungs- und Lebenschancen, frei zu
Eigenverantwortung und zu selbstbestimmtem Leben
und frei zu solidarischem Handeln.
({1})
Die Koalition hat den Weg zu solchen Zielen im Vertrag markiert, einiges im Detail, anderes ist noch zu klären. Wir werden es klären. Überzeugen müssen wir im
Handeln; das wissen wir. Wir werden das Wünschbare
im Blick behalten und das Machbare tun. Wir werden
das Land und seine Menschen bei den Problemen abholen und den Weg nach vorn zeigen. Wir haben keine
Angst zu führen und wir haben die Entschlossenheit und
Kraft dazu, Probleme anzugehen und Lösungen zu finden.
({2})
Wir haben als Koalition eine große Chance - eine
größere als bisher -, dass Bund und Länder gemeinsam
und gleichzeitig in dieselbe vernünftige Richtung gehen.
Das strukturelle Patt hat sich relativiert und wir haben
die Hoffnung, dass die Lust im Lande wächst, mit anzupacken, mitzuhelfen und mitzugestalten. Die notorischen
Quengler, die mutlosen Zweifler und die selbstgefälligen
Besserwisser haben keine Chance. Sie bleiben allein zurück. Niemand im Land sollte sich verweigern; denn wer
sich jetzt verweigert, der wird übermorgen sitzen geblieben sein. Wir sind uns sicher: Mit unserem Land geht es
auch in den nächsten vier Jahren ein gutes Stück voran in
Richtung Zukunftsfähigkeit, in eine gute, gemeinsame
Zukunft.
({3})
Ich will mich hier und heute auf ein paar markante
Handlungsfelder und Zusammenhänge im Bereich Arbeit und Soziales konzentrieren, die mit starker Wirtschaft, mit sozialem Staat und mit menschlicher Gesellschaft zu tun haben. Die jüngsten Arbeitslosenzahlen
sind günstiger als erwartet. Aber das ist nicht die Lösung
des Problems; das wissen wir alle. 4,531 Millionen gezählte Arbeitslose sind zu viel. Hier liegt eine der ganz
großen Herausforderungen für dieses Land und diese
Koalition, eine Herausforderung, die sich an Bund, Länder und Gemeinden richtet. Aber auch hier bin ich mir,
wie in vielen anderen politischen Bereichen, sicher: Wir
können in diesem Land nur erfolgreich sein, wenn die
genannten Ebenen - Bund, Länder und Gemeinden - gemeinsam daran arbeiten.
({4})
Wir wissen: Der Staat kann nur bedingt Arbeitsplätze
schaffen. Aber wir haben uns als Regierung vorgenommen, 25 Milliarden Euro zugunsten des Handwerks und
der kleinen und mittleren Unternehmen zu investieren;
das ist ein dicker Brocken. Alle, die fordern, dass wir etwas tun sollen, müssten an dieser Stelle sagen: Ja, das ist
ein richtiger Ansatz. - Denn das, was wir hier bewegen,
sind Angebote, die in kleinen Losen ausgeschrieben
werden können und dem Handwerk und den kleinen Unternehmen unmittelbar vor Ort zugute kommen. Das
kann und muss für das nächste Jahr, das Jahr 2006, und
die darauf folgenden Jahre ein wichtiger Impuls sein.
Hier ist Bewegung möglich. Deshalb müssen und wollen
wir diesen Weg gehen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen davon
aus, dass sich die deutsche Wirtschaft ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist.
({6})
Soziale Verantwortung der Wirtschaft heißt auch: Arbeitsplätze sichern und Arbeitsplätze schaffen. Es wird
viel gesprochen über die Attraktivität und die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland. Wer die Attraktivität des Standortes Deutschland verbessern will, wer
Deutschland aus der Defensive führen will und wer soziale Kosten reduzieren will, der muss mithelfen, dass
die Menschen Beschäftigung haben bzw. Beschäftigung
bekommen und dass die Arbeitslosigkeit abgebaut wird.
Hierbei sind alle gefordert, auch die deutsche Wirtschaft.
({7})
Wir müssen für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, noch energischer und deutlicher als bisher gegen
illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit vorzugehen.
({8})
Dafür sind wir vernünftiger organisiert als in den Jahren
zuvor. Wir haben in den letzten Jahren schon einiges erreicht, aber wir wollen diesen Weg weitergehen. Es gibt
hierzu zwar keine verlässlichen Zahlen, aber den Zahlen
zufolge, die genannt werden, sind im vergangenen Jahr
in Deutschland zwischen 200 und 300 Milliarden Euro
im Rahmen von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit transportiert worden. Das zeigt ein tief greifendes
Problem in dieser Gesellschaft.
({9})
Dieses Problem ist größer geworden und das dürfen
wir nicht hinnehmen. So bekommt zum Beispiel ein ehrlicher Bauunternehmer, der 50 Beschäftigte hat, die er
ordentlich versichert hat und für die er die Arbeitgeberund Arbeitnehmerbeiträge zahlt, einen Auftrag nicht,
weil ihm ein ganz Großer mit Subsubunternehmen das
Geschäft kaputtmacht. Es darf nicht so sein, dass die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichen Arbeitgeber die
Dummen sind und dass sich die anderen ins Fäustchen
lachen.
({10})
Missbrauch kommt allerdings auch bei Arbeitnehmern vor. Darüber ist in den vergangenen Wochen
im Zusammenhang mit Hartz IV viel gesprochen worden. Zwar glaube ich, dass das, was dazu gesagt worden
ist, in der Darstellung übertrieben war. Aber ich glaube
auch, dass wir an dieser Stelle eine klare Sprache sprechen müssen. Das Gesetz, das wir zu Hartz IV gemacht
haben - miteinander -, birgt in sich die Möglichkeit der
Dehnung und der Überdehnung. Manche nutzen das. Ich
spreche hier nicht von Missbrauch, aber wir müssen das
Gesetz an einigen Stellen korrigieren und wollen dies
auch tun: Wir werden den Unterhaltsrückgriff für bis zu
25-Jährige wieder einführen. Die betreffenden Jugendlichen sollen bis zum Alter von 25 Jahren in der Regel
- nicht in jedem Fall - zu Hause wohnen bleiben; die Eltern, die Verwandten ersten Grades, dafür also in Anspruch genommen werden können. Familie soll füreinander stehen. Wir werden dafür sorgen, dass die teure
Finanzierung der Erstwohnung - die frühzeitig zu beziehen ein bisschen Mode geworden ist; nicht überall, aber
bei manchen - hier ausgebremst wird. Wir wollen an
dieser Stelle 600 Millionen Euro sparen. Ich weiß, dass
das nicht allen gefällt, aber auch diese 600 Millionen
Euro müssen schließlich erwirtschaftet werden, und
zwar von denen, die jeden Morgen um sechs Uhr zur Arbeit fahren, den ganzen Tag über arbeiten und dafür sorgen, dass Steuern gezahlt werden.
({11})
Wir müssen also fair bleiben und dürfen in diesem Zusammenhang nicht von übertriebenem Missbrauch sprechen - den gibt es in ganz wenigen Fällen -, sondern wir
müssen einfach das Gesetz in die entsprechende Form
bringen.
Zum Arbeitsmarkt gehören nach Meinung der Koalition geregelte Arbeitnehmer- und Arbeitgeberrechte.
Das hat in Deutschland eine gute Tradition: Arbeitgeber
und Arbeitnehmer können ihre Interessen bündeln und
organisieren, um sie durchzusetzen; das ist besser als
eine Individualisierung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberrechte. Deshalb sind wir übereingekommen: Die Tarifautonomie gilt, die Mitbestimmung gilt, das Betriebsverfassungsgesetz gilt. Wir möchten, dass Arbeitgeber
und Arbeitnehmer ihre Interessen auch in Zukunft bündeln, sie durchsetzen und erstreiten können, in einem
klaren Verfahren miteinander. Die Tarifautonomie ist ein
hohes Gut. Sie setzt voraus, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerrechte auch in Zukunft gewahrt bleiben.
({12})
Wir haben uns dafür entschieden, beim Kündigungsschutz Änderungen vorzunehmen: Eine auf zwei Jahre
befristete Beschäftigung wird ersetzt durch eine bis zu
zweijährige Probezeit, „Wartezeit“ genannt.
({13})
Das ist in seiner Wirkung umstritten. Welche Wirkung es
hat, wird sich zeigen; jedenfalls wollen wir versuchen,
diesen Weg zu gehen. Die Probezeit von sechs Monaten
bleibt, aber sie kann verlängert werden auf bis zu
24 Monate. Ehe der eine oder andere sein Urteil darüber
abgibt, empfehle ich, abzuwarten, was in der Praxis dabei herauskommt.
({14})
Zu einer der zentralen Herausforderungen des Arbeitsmarktes gehört es, dass wir uns um die Jungen kümmern. Deshalb werden wir am Ausbildungspakt festhalten. Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg, trotz allem,
was dagegen gesagt wird. Als jemand, der sich lange
Zeit massiv dafür ausgesprochen hat, eine Ausbildungsplatzabgabe einzuführen, wenn es denn nicht anders
geht, sage ich nun, nach zwei Jahren Erfahrung: Ja, das
hat sich gelohnt. Das war auch eine Erfahrung für mich.
Was der DIHK in ganz besonderer Weise, aber auch andere Teile der Wirtschaft, etwa das Handwerk, dazu beigetragen haben, dass wir 32 000 zusätzliche Ausbildungsplätze gewonnen haben, hat meinen Respekt. Ich
hoffe, dass wir das in den nächsten Jahren so fortsetzen
können. 32 000 neue Ausbildungsplätze und 20 000 bis
25 000 neue Praktikantenplätze - das ist ein Wort! Dies
lässt sich mit dieser Koalition so fortsetzen! Ich bitte darum, dass sich die deutsche Wirtschaft dazu bereit erklärt.
({15})
Damit werden nicht alle Probleme der jungen Menschen gelöst. Viele junge Menschen sind in Warteschleifen. Die arbeitslosen unter 25-Jährigen - es sind zwischen 450 000 und 500 000 - sind keineswegs allein mit
solchen Anstrengungen wie dem Ausbildungspakt in Arbeit zu bringen. Sie müssen deshalb wissen: Das dauert.
Aber was wir in diesem Jahrzehnt erreichen wollen, ist,
dass wirklich kein junger Mann, keine junge Frau von
der Schulbank in die Arbeitslosigkeit fällt und dass die,
die unter 25 sind und arbeitslos werden, nicht länger als
drei Monate arbeitslos bleiben und spätestens dann wieder in Beschäftigung, Qualifizierung oder Weiterbildung
kommen.
Wolfgang Clement hat mit diesem wichtigen Vorhaben begonnen. Wir wollen das fortsetzen und forcieren.
Dass die jungen Menschen eine wirkliche Chance in dieser Gesellschaft haben, ist entscheidend dafür, um zu
vermeiden, dass sich bei ihnen eine Subkultur herausbildet, die für diese Gesellschaft nicht gut sein kann. Wir
wollen die jungen Menschen fordern, wir wollen sie aber
auch fördern.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, dass Sie erreichen wollen, dass alle jungen Menschen in Ausbildung
kommen sollen. Leider habe ich von Ihnen schon lange
Zeit nichts mehr darüber gehört, wie Sie Menschen mit
Behinderungen, zum Beispiel diejenigen, die in Berufsförderungs- bzw. Berufsbildungswerken ausgebildet
werden sollen, unterstützen wollen. Denn seit der Einführung von Hartz IV ist die Zuweisungsrate bekanntermaßen um weit mehr als 25 Prozent zurückgegangen.
In diesem Zusammenhang ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Menschen in diesen Werken 93 Euro im
Monat an „Vergütung“ erhalten. Sie kämpfen darum,
wenigstens 150 Euro pro Monat zu bekommen. Wann
sorgen Sie endlich für ein bisschen Fairness, damit Menschen, für die es noch schwerer ist als für andere, einen
Ausbildungsplatz zu bekommen, wenigstens nicht durch
Ihre eigenen Maßnahmen zusätzlich behindert werden?
Wie wollen Sie das regeln? Wann sagen Sie dazu ein klares Wort und wann werden Sie tätig?
Ihre Frage ist berechtigt und sie ist ganz wichtig; denn
das, was ich eben bezogen auf alle gesagt habe, gilt für
Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise. Das
ist klar.
Zu diesem Punkt wollte ich eigentlich abschließend
etwas sagen, will es aber gerne jetzt aufnehmen: Ich bin
mir sicher, dass wir in dieser Gesellschaft und auch bei
den Unternehmen besondere Anstrengungen brauchen.
Was unsere Maßnahmen am Arbeitsmarkt angeht, kann
man nicht mit allem zufrieden sein. Ich sage aber doch
voller Stolz: Auf das, was wir in den letzten Jahren für
die Menschen mit Behinderungen in diesem Bereich getan haben, können wir in diesem Haus gemeinsam stolz
sein.
An dieser Stelle will ich Karl Hermann Haack, der
nicht mehr Mitglied in unserem Hause ist, ein herzliches
Dankeschön sagen. Er hat als Beauftragter der vorherigen Bundesregierung für behinderte Menschen großartige Arbeit geleistet.
({0})
Diese Arbeit werden wir fortsetzen. Da können Sie sicher sein.
Ich biete Ihnen an, Herr Kollege Seifert, dass wir persönlich darüber sprechen und dass Sie mir Ihre Erfahrungen mitteilen; denn ich nehme das schon ernst.
({1})
Ich komme zurück auf die 30 000 Ausbildungsplätze
aus dem Ausbildungspakt. Für mich verbindet sich damit folgende Idee: So, wie man gesagt hat, wir werden
es schaffen, 30 000 Ausbildungsplätze zusätzlich für das
nächste Jahr zu schaffen, könnte doch der eine oder andere in der deutschen Wirtschaft vielleicht auf den Gedanken kommen, zu sagen, im nächsten Jahr werden wir
100 000 oder 200 000 Arbeitsplätze schaffen. Das wäre
grandios für unser Land. Solche Ideen sollten ihnen
nicht fremd sein. Wir brauchen zusätzliche Arbeitsplätze
in Deutschland.
Es gehört zu unseren besonderen Aufgaben, dass wir
etwas für die ältere Generation tun, für die Menschen,
die, wenn sie älter werden, allzu leicht aus dem Arbeitsmarkt aussortiert werden. Von denjenigen, die 55 Jahre
und älter sind, sind in Deutschland gerade noch
39 Prozent in Beschäftigung. Der Lissabon-Prozess sieht
als europäisches Mittel 50 Prozent vor. Das ist eine gute
Zielmarke. Sie zu erreichen, werden wir uns für die
nächsten Jahre vornehmen.
Von denjenigen, die 60 Jahre und älter sind, sind in
Deutschland gerade noch 22 bis 23 Prozent in Beschäftigung.
({2})
- Das liegt daran, dass sich über viele Jahre, seit Mitte
der 80er-Jahre - da waren Sie alle dabei -, in Deutschland die Mentalität verbreitet hat, eine lange Zahldauer
beim Arbeitslosengeld hinzunehmen. Alle haben das damals beklatscht, außer meiner IG Metall. Wir wollen
ganz klar sagen, wie es war: Es wurde Mode, dass die
Leute schon mit 54 Jahren im Berufsleben schräg angeguckt wurden, mit 55 Jahren in kurz laufende Sozialpläne kamen und anschließend mit langer Zahldauer von
Arbeitslosengeld in die Frühverrentung geschickt wurden. Die Illusion war, das seien eigentlich Rentner; in
Wirklichkeit sind das Arbeitslose. Wir dürfen uns an dieser Stelle überhaupt nichts vormachen. Wir müssen klar
und ehrlich darüber sprechen. Das muss korrigiert werden.
({3})
Am Dienstag dieser Woche haben wir mit Vertretern
62 regionaler Initiativen zusammengesessen. Sie haben
sich Gedanken darüber gemacht, was man insbesondere
für ältere Menschen tun kann und wie man dafür sorgen
kann, dass die 50-, 55- und 60-Jährigen aus dem Arbeitsprozess nicht mehr aussortiert werden, sondern dass sie
in ihn wieder integriert werden. Da haben wir viele gute
Beispiele gehört, an der Spitze stand - ich will es nennen - Wilhelmshaven. Wir geben 250 Millionen Euro
dafür aus, damit die Vermittlung und Wiedereingliederung der Älteren in diesen 62 Regionen - meistens sind
es Argen und optierende Gemeinden und Landkreise verbessert und dort neue Impulse gesetzt werden. Diesen
Weg wollen wir weitergehen. Wir werden ihn im Frühjahr konkretisieren.
Wir werden alle Maßnahmen ergreifen, durch die die
Frage beantwortet wird, was man tun kann, damit in
Deutschland begriffen wird, dass wir nicht zu früh aus
dem Erwerbsleben herausdürfen. Es kann nicht sein,
dass wir in Deutschland im Schnitt mit 60 Jahren in
Rente gehen. Wir müssen das faktische Renteneintrittsalter anheben. Es geht nämlich nicht, dass wir sieben,
acht Jahre länger leben als die Menschen, die 1950, 1960
vergleichbar alt waren, aber fünf Jahre weniger als damals arbeiten. Um zu wissen, dass das nicht hinhauen
kann, braucht man keine Mathematik, dafür reicht die
Volksschule im Sauerland. Man muss hier irgendetwas
tun. Wir sind dabei und wollen dies mit den Maßnahmen
angehen, die uns im Frühjahr alle miteinander beschäftigen werden.
({4})
Ich möchte noch ein Wort zu existenzsichernden
Löhnen sagen. Zu einer menschenwürdigen Arbeit gehören existenzsichernde Löhne. Jemand, der jeden Tag
zum Job fährt, sich anstrengt und seine Arbeit tut, der
muss am Ende des Monats auch so viel in der Tasche haben, dass er sich und seine Familie davon ehrlich ernähren kann.
({5})
Wo das nicht mehr funktioniert, zweifeln die Menschen
daran, dass dies eine menschenwürdige Arbeit ist. Wir
wollen aber, dass die Arbeit menschenwürdig ist.
Nun haben wir hier nicht über Löhne zu entscheiden.
(Dr. Heinrich L. Kolb ({6}): So ist das!
Wir als Politiker müssen aber die Frage beantworten und
ein entsprechendes Zeichen dafür geben, ob wir dazu
stehen, dass Deutschland ein Hochleistungs- und
Hochlohnland sein soll. Das wollen wir. Deutschland
kann nur dann ein Hochlohnland bleiben, wenn es auch
ein Hochleistungsland ist. Das ist auch wahr. Es gibt hier
einen engen Zusammenhang mit der Bildung, Qualifizierung, Forschung und Technologie, also mit Dingen,
die hier jetzt nicht intensiver angesprochen werden können.
Aber dann lese ich das: Angestellter im Gartenbau:
Stundenlohn 2,74 Euro; Friseur: Stundenlohn 3,18 Euro;
Wachmann: Stundenlohn 3,91 Euro. Oder in Anzeigen:
173 Stunden im Monat, kein Weihnachts- und kein Urlaubsgeld - 800 Euro brutto im Monat. Wenn so etwas
im Lande einreißt, dann macht das den Menschen Angst.
Die Menschen haben das Gefühl, dass der Deckel obendrauf und der freie Fall nach unten eingeleitet ist. Das
darf nicht sein. Wer Sicherheit in diesem Lande will, der
muss an dieser Stelle auch klare Worte sprechen und sagen, was er will.
({7})
Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, dass
wir im Frühjahr darüber sprechen: Welche Rolle kann
der Kombilohn spielen, wenn es darum geht, existenzsichernde Löhne zu bekommen? Welche Rolle spielt das
Entsendegesetz? Kann auch für uns ein Mindestlohn,
den es in 17, 18 unserer europäischen Nachbarländer
gibt, infrage kommen? Welche Rolle spielt die Europäische Dienstleistungsrichtlinie in diesem Bereich? Das
müssen wir diskutieren und zu einem Ergebnis bringen.
Ich sage ausdrücklich: In der Koalition ist die Meinungsbildung dazu noch nicht abgeschlossen. Das wird
keine leichte Diskussion sein. Ich finde aber, wir sollten
uns ab und zu mal wieder dazu bekennen - auch öffentlich und vor Medien -, dass wir nicht immer alles schon
fertig gedacht haben und wissen, sondern dass wir
manchmal auch noch Zeit brauchen, um darüber zu reden und dann gemeinsam zu guten Entscheidungen zu
kommen. Diese Freiheit nehmen wir uns nun. Wir werden ein paar Monate darüber sprechen und dann im ersten Halbjahr 2006 sagen, was wir als Koalition im Sinne
einer verbesserten Sicherung existenzsichernder Löhne
an dieser Stelle tun wollen. Es lohnt sich, diese Debatte
miteinander zu führen.
({8})
Im Bereich der Rente haben wir uns in der Koalition
auf die wesentlichen Punkte verständigt. Die Rentengesetzgebung, die wir in den vergangenen Jahren ja
überwiegend gemeinsam gestaltet haben, gilt. Der Nachhaltigkeitsfaktor gilt. Die Wahrheit ist aber: Da die Erhöhung der Renten nun einmal auch an beitragspflichtige
Bruttolohn- und Gehaltssummen geknüpft ist, hätten wir
die Renten nach der Formel unseres Gesetzes in diesem
Jahr eigentlich absenken müssen. Das haben wir nicht
getan. Man kann schon heute sehen, dass im nächsten
Jahr eine solche Senkung nach dem Gesetz erneut fällig
wäre. Wir werden es wieder nicht tun; denn wir haben
beschlossen: Wir werden im Verlauf dieser Legislaturperiode die Renten nicht kürzen.
({9})
Dazu gehört übrigens auch, dass wir den Rentnern keine
höheren Krankenversicherungsbeiträge oder Ähnliches
aufdrücken, was sie faktisch als eine Rentenkürzung
empfinden müssten.
({10})
Das Versprechen, die Renten nicht zu kürzen, klingt
zunächst einmal bescheiden. Es ist aber schon eine mutige Aussage; denn es bedeutet, dass wir im Verlauf dieser Legislaturperiode entweder durch höhere Beiträge
oder durch mehr Geld aus der Steuerkasse dafür sorgen
müssen, dass dieses Wort gehalten werden kann. Wir haben uns für Folgendes entschieden: Wir werden bei den
Rentenversicherungsbeiträgen nur einen moderaten
Schnitt machen, wollen aber trotzdem das Ziel erreichen,
die Lohnnebenkosten dauerhaft unter die genannten
40 Prozent zu halten.
({11})
Im Jahre 2007 haben wir ein Gesetz zu machen, das
es ermöglicht, mit dem Jahr 2012 beginnend, 67 Jahre
als Renteneintrittsalter anzupeilen. Voraussetzung dafür ist: Wir müssen miteinander mehr dafür tun, dass die
älteren Menschen länger in Beschäftigung bleiben oder
wieder eingegliedert werden können, so wie ich es eben
angesprochen habe. Dass diejenigen, die 45 volle Versicherungsjahre vorweisen können, auch im Jahre 2035
mit 65 Jahren ohne Abschlag in Rente gehen können sollen, ist Teil unserer Vereinbarung. Von dieser zeitlichen
Dimension, von der ich jetzt spreche, werden viele der
jungen Menschen profitieren können.
({12})
Wir werden zusätzliche Initiativen ergreifen, um die
private Altersvorsorge attraktiver zu machen, und noch
mehr Menschen einladen mitzumachen. Die RiesterRente ist trotz allem, was dagegen gesagt wird, ein Erfolg.
({13})
Im ersten Halbjahr 2005 haben sich mehr Menschen für
diese Form der privaten Altersvorsorge entschieden als
im ganzen Jahr 2004. Inzwischen beträgt ihre Zahl
4,6 Millionen. Wir möchten aber, dass es mehr werden.
Wir haben uns gegen ein Obligatorium entschieden.
Aber wir möchten doch dafür werben, dass für das Alter
stärker als bisher privat vorgesorgt wird.
Dazu kann gehören, dass wir Familien mit Kindern an
dieser Stelle in ganz besonderer Weise durch einen Zuschuss präferieren. Wenn es so kommt, dass Familien
mit Kindern, die privat für das Alter vorsorgen, mit einem privaten Kinderzuschuss honoriert werden, kann
das die Attraktivität einer solchen Vorsparmaßnahme
nochmals erhöhen. Das wollen wir erreichen. Damit haben wir zwei vernünftige Dinge sinnvoll miteinander
verknüpft. Daran werden wir weiter arbeiten.
({14})
Entschuldigung!
Herr Präsident?
Ich wollte nur unauffällig daran erinnern, dass dann,
wenn Sie jetzt noch weiter reden, dies auf Kosten der
Redezeit Ihrer Fraktion geht.
Das weiß ich. Ich war gerade dabei, hier die letzte
Kurve zu drehen.
({0})
Man ist ja Disziplin gewöhnt. Ich habe sie oft genug
selbst angemahnt.
Ich bedanke mich für den Hinweis, darf Ihnen aber
sagen, dass ich von meiner Fraktion schon Bescheid
hatte, ich könne so lange reden, wie ich wolle. Das hat
man Ihnen nur nicht gesagt, Herr Präsident.
({1})
Da ich das geahnt habe, Herr Kollege Müntefering,
hatte ich gar nicht vor, Sie ausdrücklich auf das Ende Ihrer Redezeit hinzuweisen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich will damit abschließen, dass ich noch
einmal deutlich mache, wie wichtig uns in dieser Koalition der Teil Arbeit und Soziales ist. Im Art. 20 unseres
Grundgesetzes steht, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist.
Das ist nicht disponibel. Deshalb wird dieser Teil unserer politischen Arbeit in hohem Maße von dieser Idee
bestimmt sein: in einer Demokratie, die fest und stabil
ist, alles dafür zu tun, dass dies Bestand hat, und dafür zu
sorgen, dass dieser Bundesstaat ein sozialer bleibt.
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung mehrfach darauf hingewiesen, dass wir
in Deutschland mehr Freiheit wagen müssen. Ich unterstütze sie darin ausdrücklich. Denn in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen stellt Massenarbeitslosigkeit die stärkste Form der Freiheitsberaubung dar, die
man einem Menschen zumuten kann. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen kommen viele soziale Kontakte durch das Arbeitsverhältnis zustande. Es
ermöglicht, sich selbst zu definieren und Einkommen zu
erzielen, um sich Wünsche zu erfüllen. Deswegen war
die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit im jüngsten
Wahlkampf das Hauptthema aller Parteien.
Wenn man allerdings eben der Rede des Kollegen
Müntefering zugehört hat, dann könnte man fast meinen,
dass die Performance in der Arbeitsmarktpolitik unter
der Regierung seiner Partei so hervorragend gewesen
wäre, dass es gar keine Neuwahlen hätte geben müssen.
({0})
Beim Blick in die Koalitionsvereinbarung stelle ich aber
fest, dass der Mut zu mehr Freiheit nicht über die Ankündigungen der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung hinausgeht.
({1})
Freiheit wagen bedeutet, den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren Lebensunterhalt durch eigener
Hände Arbeit zu erwirtschaften. Die FDP ist deswegen
die Partei der sozialen Verantwortung, weil wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen wollen, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt wieder selbst erwirtschaften
können.
({2})
Dafür hätte es tatsächlich eines Politikwechsels bedurft,
wie wir, Frau Kollegin Merkel, es noch im September
dieses Jahres gemeinsam vereinbart haben. Wir müssen
aber feststellen, dass sich im Bereich der Arbeitsmarktpolitik über einen Personalwechsel hinaus in Deutschland nicht viel geändert hat. Wir müssen sogar feststellen, dass manche Maßnahmen eher kontraproduktiv
wirken, was die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit
angeht.
Nehmen Sie zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung. Ich will nicht darauf hinaus, dass es ein bemerkenswerter Kompromiss ist, dass man sich, wenn der
eine die Steuer gar nicht und der andere sie um
zwei Prozentpunkte erhöhen will, bei drei Prozentpunkten trifft. Es geht mir vielmehr um die Frage, was diese
Steuererhöhung arbeitsmarktpolitisch bewirkt. Gerade
im Bereich der personalintensiven Dienstleistungen - in
Handwerk, im Handel und in der Gastronomie - wird
sich angesichts der Kaufzurückhaltung, die im Bewusstsein dessen zu erwarten ist, was noch alles auf die Menschen zukommen wird, die mit einer Mehrwertsteuererhöhung verbundene Belastung nicht in den Preisen
niederschlagen können. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Schattenwirtschaft bzw. die Schwarzarbeit stärker boomen wird, als es in der Vergangenheit
der Fall war.
({3})
Im vergangenen Jahr hatte die Schwarzarbeit ein geschätztes Volumen von ungefähr 375 Milliarden Euro.
Wenn Sie das durch die Durchschnittslöhne dividieren,
dann kommen Sie auf ungefähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Das sollte uns zu denken geben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch andere
Maßnahmen eher beruhigende Wirkung auf Parteitagen
entfalten sollten, als dass sie tatsächlich Änderungen am
Arbeitsmarkt herbeiführen. Nehmen Sie zum Beispiel
auf der einen Seite die Verlängerung der Probezeit dadurch, dass der Kündigungsschutz erst nach zwei Jahren
eintritt. Auf der anderen Seite haben Sie die Möglichkeit
der sachgrundlosen Befristung auf zwei Jahre gestrichen. Das nennt man gewöhnlich ein Nullsummenspiel.
({4})
Es hat sich letztlich nichts verändert. Die Union tut so,
als hätte sie etwas erreicht. Die SPD macht mit, weil es
ihr nicht wehtut. Das Einzige, was dadurch bewirkt wird,
ist mehr Bürokratie für die Betriebe und Belegschaften
und weniger Sicherheit für die Beschäftigten.
({5})
Notwendig wären betriebliche Bündnisse für
Arbeit. Ich weiß, es tut Ihnen allen weh, aber die Union
hat diesen wesentlichen Punkt bereits im Vorfeld - quasi
als Eintrittsgeld für die Koalitionsverhandlungen - aufgegeben. Das war ein großer Fehler. Denn worum geht
es hierbei? Es geht darum, dass die Menschen in den Betrieben, die schließlich keine unmündigen Kinder, sondern erwachsen sind, die Möglichkeit bekommen sollen,
ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, damit sie unabhängig von dem, was Kollektive in fernen
Verbandszentralen auf Arbeitgeberseite oder Gewerkschaftszentralen auf Arbeitnehmerseite für richtig halten, selbst Entscheidungen treffen können, wenn sie die
Situation in ihrem Betrieb anders beurteilen als die
Funktionäre. Diese Chance auf mehr Mündigkeit und somit mehr Freiheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch für Unternehmensleitungen haben Sie in
Ihrer Koalitionsvereinbarung in keiner Weise skizziert.
({6})
Die Trennung zwischen Bundeswirtschaftsministerium und Arbeitsministerium ist falsch. Man kann Wirtschaft und Arbeit nicht voneinander trennen. Beides
hängt fundamental zusammen. Aufgrund der Trennung
muss man befürchten, dass die alten Grabenkämpfe aus
der vergangenen Legislaturperiode, die vor 2002 zwischen einem liberal-konservativen Wirtschaftsministerium und einem gewerkschaftsgesteuerten Sozialministerium stattfanden, wieder aufbrechen. Das führt im
Ergebnis dazu, dass in Deutschland Arbeit teurer wird,
Beschäftigung abgebaut und mehr Bürokratie entstehen
wird. In einem Bereich haben Sie tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen, und zwar in der Bundesregierung, indem Sie den Regierungsapparat auf 70 Mitglieder aufgebläht haben.
({7})
Wir müssen es schaffen, einen höheren Beschäftigungsanteil bei Älteren und Frauen zu erzielen. Andere
Volkswirtschaften, in denen die Erwerbstätigenquote
bei Älteren und Frauen höher ist als bei uns, haben eine
niedrigere Arbeitslosigkeit. Es gibt Wissenschaftler, die
Ihnen belegen können, dass das eine mit dem anderen
zusammenhängt. Das heißt, dass wir besser werden müssen. Wenn Sie aber - Sie haben heute einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt - die 58er-Regelung, wonach man ab dem 58. Lebensjahr Leistungen beziehen
kann, ohne wieder arbeiten zu müssen, verlängern, dann
verlängern Sie auch die Möglichkeit der Frühverrentung
und unterstützen damit den Jugendwahn, der in Deutschland vorherrscht. Lassen Sie mich als baden-württembergischer Bundestagsabgeordneter ganz klar sagen:
Wenn mein Landesvater, Herr Oettinger von der CDU,
öffentlich verkündet, die Leistungsfähigkeit nehme ab
dem 40. Lebensjahr so abrupt ab, dass man dann die
Löhne senken müsse, dann ist dies das beste Beispiel für
den Jugendwahn.
({8})
Wir müssen tatsächlich die so genannten Senioritätsprinzipien überprüfen, die dazu führen, dass ältere Arbeitslose keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
„Immer älter, immer teurer“ heißt es im Moment. Das ist
falsch. Aber das darf in der Konsequenz nicht bedeuten,
ab dem 40. Lebensjahr die Löhne zu senken, sondern
muss dazu führen, dass wir die entsprechenden Regelungen überprüfen und zu einer produktivitätsorientierten
Bezahlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
kommen. Es kann dann sein, dass ein Vater in der Phase
der Familiengründung, weil er ranklotzt, einmal mehr
verdient und dass ein älterer Arbeitnehmer, weil er es ein
bisschen ruhiger angehen lassen will, einmal weniger
verdient. Aber die Pauschalität der eben von mir zitierten Aussage ist schlichtweg verheerend und führt dazu,
dass die Notwendigkeit, älteren Menschen mit ihren
Kompetenzen und Qualifikationen eine Chance zum
Einstieg in den Arbeitsmarkt zu geben, in Deutschland
noch weiter an den Rand gedrängt wird. Das ist eine völlig falsche Politik.
({9})
Wir sind als Freie Demokraten der festen Überzeugung, dass wir eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik benötigen, um die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Die Koalitionsvereinbarung von
Schwarz-Rot bietet aber hierfür keine Blaupause, weil
sie hinter den notwendigen Schritten zurückbleibt, weil
sie kleingeistig, feige
({10})
- richtig - und mutlos ist und weil sie zu kurz greift. Mit
ihr wird im Endeffekt das fortgesetzt, was wir unter RotGrün sieben Jahre leidvoll erfahren mussten. Ich bin sehr
traurig darüber, dass die Koalition nunmehr aus einer
Sozialdemokratischen Partei und einer zunehmend sozialdemokratisierten Partei besteht. Diese werden den
Arbeitsmarkt nicht deregulieren können. Das ist schade
für Deutschland. Ich möchte aber ankündigen: Alles,
was wir unterstützen können, werden wir unterstützen.
Zum Schluss das Positive: Ich unterstütze ausdrücklich, dass in Zukunft der private Arbeitgeber-„Haushalt“ im Vergleich zu anderen Arbeitgebern nicht länger
diskriminiert werden soll; denn bei 4,5 Millionen registrierten Arbeitslosen muss Ihnen allen, die Sie das ständig als Dienstmädchenprivileg diskriminiert haben,
schlichtweg egal sein, wo Arbeitsplätze geschaffen werden, ob im Handwerk, im Haushalt oder in der Industrie.
Wir brauchen Arbeitsplätze. Dafür brauchen wir entsprechende Rahmenbedingungen. Um Arbeitsplätze zu
schaffen, braucht man Aufträge. Aber dazu haben Sie
noch keinen Vorschlag gemacht.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Falk für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Woche wurde bei der Verleihung des Deutschen
Sozialpreises 2005 durch die Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege unter anderem der Journalist Walter Wüllenweber für seine Reportage „Das wahre
Elend“ ausgezeichnet, die er vor einem Jahr veröffentlicht hat. Walter Wüllenweber beschreibt in dieser Reportage mit schonungsloser Klarheit seine Wahrnehmung des Alltags so genannter Unterschichten, also
derjenigen, die am häufigsten Zielgruppe staatlicher Sozialpolitik sind. Er hinterfragt Armut, Arbeitslosigkeit,
Bildungs- und Ausbildungsarmut sowie Armut als Ursache von Krankheit. Er nimmt die desolate Situation von
Menschen am Rande unserer Gesellschaft in den Fokus
und fragt danach, ob das viele Geld, das wir hier ausgeben, wirklich sinnvoll angelegt ist.
Er kommt in seiner Reportage, die ich Ihnen dringend
zur Lektüre empfehle, zu dem Schluss, dass das Schicksal der Menschen in der Unterschicht Deutschlands
keine Frage von Mitleid und Barmherzigkeit ist, sondern
- ich zitiere -:
Es ist eine Überlebensfrage für die gesamte Gesellschaft. Keine Volkswirtschaft kann es sich auf
Dauer leisten, mehr als zehn Prozent durchzufüttern. Die kulturelle Spaltung lässt sich nicht mit den
Mitteln des Sozialstaates überwinden, nicht mit Almosen, nicht mit Sozialhilfe, nicht mit Geld. Die
Unterschicht braucht echte Investitionen in ihre Zukunft, Investitionen in die Köpfe der Menschen,
nicht in den Bauch. Bildungsausgaben zahlen sich
bereits in wenigen Jahren aus - nachweislich. Aus
guten Schülern werden bald gute Steuerzahler. Ein
besseres Investment können Staaten nicht tätigen.
({0})
Soweit das Zitat aus der Berichterstattung über „Das
wahre Elend“, ein Zitat, das sicherlich herausfordert.
Bei seiner Vorstellung wurde Walter Wüllenweber gefragt, ob er keine Angst habe, Beifall von der falschen
Seite zu bekommen, nämlich von denen, die seinen Beitrag sofort als Alibi zum Streichen von Leistungen missbrauchen würden. Dabei wurde sicherlich an die Politiker gedacht. Ich kann die Fragerin beruhigen. Nicht weil
ich Leistungen für Menschen, die ganz eindeutig unsere
Hilfe benötigen, einschränken will, habe ich diese eindrückliche Erfahrung an den Anfang meiner Rede gestellt, sondern weil ich glaube, dass die unvoreingenommene Wahrnehmung der Realität in diesem Beitrag
Vorbild für unser Handeln in der Arbeits- und Sozialpolitik sein muss.
({1})
Ich denke, wir alle haben in der Vergangenheit viel zu
oft und viel zu schnell nach dem vermeintlich einfacheren Mittel der Problemlösung gegriffen, nämlich Heilen
durch Geld. Vielleicht hat es also auch sein Gutes, dass
inzwischen unsere Kassen so grauenvoll leer sind, dass
wir gezwungen sind, die Sinnhaftigkeit aller Leistungen
auf den Prüfstand zu stellen, um die knappen Mittel so
zielgenau wie möglich einzusetzen. Da sollte man auch
vor ungewöhnlichen Wegen nicht zurückschrecken und
immer wieder einmal neue Gedanken einfließen lassen.
Ich will nur ein kleines Beispiel nennen. Wir tun viel
zur Eingliederung Langzeitarbeitsloser. Wir haben
Einarbeitungsmaßnahmen, wir haben Training on the
Job und Ähnliches. Wir erfahren wegen der Forderung in
unserem Programm, die Zahl der Saisonarbeitskräfte aus
dem Ausland um ein Viertel zu reduzieren, großen Widerstand. Wir sollten vielleicht einfach einmal darüber
nachdenken, ob diese Trainingsmaßnahmen nicht auch
den Körper betreffen sollten und nicht nur den Kopf und
ob wir nicht vielleicht einen Monat lang den Arbeitslosen Fitnessangebote machen sollten, damit sie dann,
wenn sie eingesetzt werden, tatsächlich die von ihnen erwartete Arbeit leisten können.
Arbeits- und Sozialpolitik hat zwei Facetten, einerseits Prävention: Wie können wir verhindern, dass Menschen bereits mit ihrer Geburt nahezu chancenlos sind?
Welche Hilfen sind zielführend, wenn es darum geht, so
genannte Sozialhilfekarrieren zu durchbrechen? Andererseits geht es um Hilfe in aktuellen Lebenssituationen:
Was ist zu tun, wenn Menschen, aus welchen Gründen
auch immer, nicht allein für sich sorgen können, sondern
die Hilfe der Solidargemeinschaft brauchen? Welche
Systeme können vorbeugend organisiert werden und was
kann der Staat als Akuthilfe anbieten?
Keine Sorge, ich will jetzt nicht den Sozialstaat neu
definieren, aber doch dafür werben, die Zusammenhänge
wieder deutlicher in den Blick zu nehmen. Der gemeinsam beschlossene Koalitionsvertrag bietet, wie ich finde,
aller ihm vorgeworfenen Unvollkommenheit zum Trotz
hierfür eine gute und handfeste Grundlage. Ausgehend
von den notwendigen Rahmenbedingungen für eine
Wirtschaft, von der wir mit Recht erwarten, dass sie ihrer Verantwortung für die Menschen gerecht wird, für
ein Bildungssystem, das seine Absolventen mit solider
Bildung und lebenstüchtig entlässt, bis hin zu den notwendigen Maßnahmen in besonderen Lebens- und Notsituationen finden wir in den Kapiteln „Mehr Chancen
für Innovation und Arbeit, Wohlstand und Teilhabe“ sowie „Familienfreundliche Gesellschaft“ eine Fülle von
guten Vorhaben.
Die Fachbereiche Wirtschaft, Bildung und Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, die die wesentlichen Träger von Prävention sind, wurden bereits im Rahmen der
Generalaussprache diskutiert. So lassen Sie mich zu dem
Kapitel, das sich mit dem Arbeitsmarkt und Impulsen für
mehr Beschäftigung befasst, einige Ausführungen machen.
Da geht es beispielsweise um „Vorfahrt für junge
Menschen“ - ich zitiere -:
Wir brauchen gut ausgebildete, hoch motivierte,
kreative junge Menschen, damit wir unser Land
auch im 21. Jahrhundert erfolgreich gestalten können.
Weiter heißt es:
Unser Ziel ist es, die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen von Jugendlichen deutlich zu verbessern und die Jugendarbeitslosigkeit nachhaltig zu
senken.
Dazu sind gemeinsame Anstrengungen aller nötig.
Auch wenn man die Worte „Bündnis“ oder „Pakt“ allmählich nicht mehr hören kann, so treffen sie doch den
Kern der Sache: alle mit der entsprechenden Fachkompetenz an einen Tisch zu bringen. Es gilt daher, Bündnisse in den Bereichen Bildung, Ausbildung, Förderung
und Aktivierung hilfebedürftiger Menschen zu schließen.
Eine weitere Zielgruppe sind für uns die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Herr Minister hat dazu eben schon vieles gesagt. Es geht nicht nur
darum, dass ältere Menschen in der Regel gern noch arbeiten möchten und dass Arbeit für die allermeisten Lebensqualität und Lebenswert bedeutet, sondern es geht
auch um ganz handfeste ökonomische Gesichtspunkte:
Menschen, die nicht mehr arbeiten dürfen, brauchen
Leistungen und erbringen selbst keine.
Ich möchte nur noch auf einen Teil dessen eingehen,
was ich zu diesem Thema eigentlich sagen wollte. Kürzlich habe ich aus der Wirtschaft Klagen gehört, dass wir
einen großen Mangel an Ingenieuren haben. Angeblich
werden wir in Zukunft ein Defizit von 30 000 Ingenieuren haben. Angesichts dessen können wir es uns nicht
leisten, auf 22 000 arbeitslose Ingenieure zu verzichten,
bloß weil sie älter als 50 Jahre sind.
({2})
Viele Arbeitgeber glauben offensichtlich, dass ein Bewerber über 50 Jahre weder fähig noch in der Lage ist,
die Anforderungen, die mit einer Ingenieurtätigkeit
heute verbunden sind, zu erfüllen. Das kann man doch
nicht einfach so hinnehmen; vielmehr muss man da gegensteuern.
Viel zu lange wurde darüber hinaus geglaubt, dass wir
Menschen über 50 Jahre aus dem Erwerbsleben ausgliedern müssen, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das
war ein bedauerlicher Irrtum.
({3})
Die Kosten dieser Maßnahmen lasten noch immer
schwer auf unseren Sozialsystemen.
Da mit dem früheren Renteneintritt - dank der längeren Lebenserwartung - auch ein deutlich längerer
Rentenbezug einhergeht, leidet die Rentenversicherung
natürlich ganz besonders: Nicht nur die Ausgaben sind
enorm gestiegen; vielmehr gehen auch die Einnahmen
aufgrund der wegbrechenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse dramatisch zurück.
Genau aus diesem Grunde will die große Koalition
hier einen Weg beschreiten, der in der Bevölkerung sicherlich keine Begeisterungsstürme auslösen wird, aber
dennoch unvermeidbar ist. Die gesetzliche Rentenversicherung befindet sich jetzt in einer bisher nicht gekannten finanziellen Schieflage. Seit Monaten kann die
Zahlung der Renten nur noch durch ein Vorziehen der
Bundeszuschüsse sichergestellt werden. In diesem Monat ist zum ersten Mal in der Geschichte der Rentenversicherung sogar ein Darlehen des Bundes zur Sicherung
der Liquidität erforderlich.
({4})
Wenn wir wollen, dass die gesetzliche Rentenversicherung dennoch eine verlässliche Säule der Alterssicherung bleibt - das wollen wir -, dann müssen wir
handeln. Dazu haben wir einige Beschlüsse gefasst, die
hier noch im Einzelnen zu diskutieren sind. Die Umsetzung dieser Beschlüsse wird sicherlich keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung. Aber es geht nun
einmal nicht anders, solange sich die Situation auf dem
Arbeitsmarkt nicht verbessert hat. Dort für eine Verbesserung zu sorgen ist der Dreh- und Angelpunkt unseres
Handelns.
({5})
Was wir den Arbeitnehmern zumuten, nämlich die
Zahlung höherer Rentenbeiträge und eine längere Lebensarbeitszeit, wird ebenfalls nicht nur auf Begeisterung stoßen. Die Rentenversicherungsbeiträge müssen
wir so schnell wie möglich wieder senken. Ich kann allerdings nicht verstehen, dass es so viel Widerstand gegen eine längere Lebensarbeitszeit gibt. Angesichts der
Leistungsfähigkeit der Menschen kann man das gut verantworten. Ich verweise darauf, dass es im Koalitionsvertrag die Klausel gibt, dass wir die Anhebung der Altersgrenze nur dann einführen wollen, wenn ältere
Menschen auch Arbeit auf dem Arbeitsmarkt finden.
Das ist ein Zusammenhang, der ganz notwendigerweise
gesehen werden muss.
Obwohl schon einiges zum Thema Kombilohn gesagt wurde, will ich aus meiner Sicht noch hinzufügen,
was ich für unbedingt notwendig halte. Der Kombilohn
ist für uns ein Instrument, mit dem man sicherlich vielfach Anreize für Beschäftigung schaffen kann, also Unternehmen dazu bewegen kann, Menschen zu beschäftigen, die nicht die volle Leistung bringen können. Wir
meinen damit nicht dauerhafte Subventionen für Unternehmen und wollen auch nicht noch ein zusätzliches Arbeitsmarktinstrument, sondern wir wollen bestehende
Programme und Maßnahmen zur Lohnergänzung bündeln und daraus einen erfolgreichen Förderansatz machen. Das soll eine Arbeitsgruppe leisten, die allerdings
nicht auf viele Jahre angelegt ist. Im nächsten Jahr soll
auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe
ein Konzept erarbeitet werden.
({6})
Wichtig ist mir, in diesem Zusammenhang auch die
Problematik „Menschen mit Behinderungen und Arbeitsmarkt“ in den Blick zu nehmen. Hierzu gibt es zwar
mancherlei gute Instrumente, etwa Ausgleichszahlungen
für Arbeitgeber und Eingliederungszuschüsse. Aber in
Erwägung zu ziehen sind beispielsweise realistischere
Minderleistungsausgleichszahlungen, die den tatsächlichen Einschränkungen besser Rechnung tragen.
({7})
Ich denke zum Beispiel an Menschen, die häufiger
Pausen brauchen, in denen sie sich hinlegen können, um
danach wieder leistungsfähiger zu sein, die schlicht und
ergreifend längere Zeit für die Toilette benötigen, die
durch Krankheiten wie Multiple Sklerose in manchen
Tätigkeiten zeitweise oder zunehmend verlangsamt oder
eingeschränkt sind.
Eine weitere Aufgabe im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen ist eine
verbesserte Aufklärung von Arbeitgebern über Unterstützungsangebote zur Ausgestaltung von behindertengerechten Arbeitsplätzen. Da herrscht trotz aller Bemühungen der Arbeitsagenturen immer noch sehr viel
Unkenntnis.
Ermutigung brauchen wir zur Erprobung eines Arbeitsverhältnisses mit Behinderten, ohne dass die Furcht
vor Unkündbarkeit eine Einstellung von vornherein verhindert. Nicht immer sind unsere Arbeitsschutzgesetze
für die Betroffenen wirklich hilfreich.
({8})
- Nicht immer.
Wir brauchen erleichterte Rückkehrmöglichkeiten für
Behinderte, die aus einer Werkstatt heraus den Versuch
unternehmen - den sollten wir unterstützen -, am ersten
Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, aber damit vielleicht nicht
zurechtkommen. Für diese ist eine Rückkehr in die
Werkstatt sehr schwer.
Behinderte Menschen brauchen unsere besondere Unterstützung. Ihre umfassende Teilhabe an der Gesellschaft ist zu verwirklichen. Sie wollen selbstbestimmt
und möglichst selbstständig leben. Dazu müssen wir unsere Unterstützung anbieten. Es sollte viel selbstverständlicher sein, dass sie ihren Platz mitten in der Gesellschaft finden und nicht nur in noch so schönen
Sondereinrichtungen.
({9})
Diese Sondereinrichtungen sind selbstverständlich in
vielen Fällen eine ideale Lösung,
({10})
manchmal aber auch eine sehr bequeme für eine glatte
Lifestyle-Gesellschaft.
({11})
Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Kollegen Brauksiepe und Straubinger Stellung nehmen. Lassen Sie mich deshalb schließen mit der Ermutigung,
auch unkonventionelle Wege zu bedenken, wenn es darum geht, Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft
auch über ehrenamtliches Engagement in der Kombination mit Erwerbsarbeit zu eröffnen, wenn es denn nicht
möglich ist, einen vollen Arbeitsplatz zu bekommen.
Ich denke da an ein sehr erfolgreiches Beispiel von
Best Practice, das Bürgerjahr. Das ist vom Evangelischen Stadtkirchenverband in Essen eingerichtet worden
und ist dort vor vielen Jahren auf den Weg gebracht worden. Das Bürgerjahr ist eine neue Form gesellschaftlicher Arbeit, die mit existenzsichernder und - das ist
ganz wichtig - sozialversicherungspflichtiger Vergütung in Höhe von brutto 1 000 Euro pro Monat auch denjenigen ein Vollzeitengagement ermöglicht, die sich das
zum Beispiel zu den Bedingungen des freiwilligen sozialen Jahres nicht leisten können.
Das Bürgerjahr bedeutet Engagement in allen möglichen gemeinwohlbedeutsamen Praxisfeldern, in sozialen, soziokulturellen und ökologischen Aufgabenbereichen wie persönliche Unterstützungsdienste für
Menschen mit besonderem Hilfebedarf in allen Lebensbereichen - also Assistenzdienste, Integrationshilfsdienste, Alltagslebenshilfen -, zur Ergänzung familiären
und nachbarschaftlichen Engagements und zur Ergänzung der Arbeit professioneller Dienste. Es ist Projektarbeit, also Freiwilligenarbeit, das heißt eine Tätigkeit
zur Entwicklung und Mitgestaltung integrativer, kreativer sozialer Projekte auf der Grundlage eigener Interessen und Fähigkeiten.
Das Bürgerjahr ist Alternative zur Arbeitslosigkeit,
zum Brachliegenlassen menschlicher Ressourcen, Alternative zu Minijobs und fremdbestimmter Niedriglohnarbeit, eine weiterführende Ergänzung zu den
Gemeinwohlarbeitsgelegenheiten nach Hartz IV, zum
Beispiel 1-Euro-Jobs, Alternative zu Pflichtdienst,
Pflichtarbeit und anderen unzureichenden Zivildienstersatzlösungen und Alternative zu gesellschaftlicher
Desintegration, zur Entsolidarisierung, zu Gemeinwohlverlusten.
Weil das Bürgerjahr nicht nur Freude macht, sondern
sich auch rechnet, sind inzwischen etwa 150 Menschen
dort beschäftigt. Auch die Arbeitsagentur in Essen unterstützt diese Möglichkeit, jedenfalls soweit die derzeitige
Gesetzeslage dies zulässt. Ich denke, es macht Sinn, darüber miteinander zu sprechen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe das letzte
Beispiel so ausführlich dargestellt, um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, dass wir uns auch Gedanken
über die machen, die nicht das Glück eines regulären Arbeitsplatzes haben, aber dennoch am Arbeitsleben teilhaben wollen, die etwas tun wollen. Deshalb will ich definitiv schließen mit der Erfahrung einer Mutter von
zwei kleineren Kindern, die lange arbeitslos war, von
Sozialhilfe lebte und im Rahmen des Bürgerjahrs in der
Behindertenarbeit eine neue Chance bekam. Sie schilderte ihren Tagesbeginn so: Wenn ich morgens zur Arbeit komme, fällt mir Hans um den Hals und begrüßt
mich voller Freude mit „Hallo!“. - Sie fragt mich: Haben Sie das schon einmal bei einem Fließband erlebt? Sie liebt ihre Arbeit und wünscht sich, dort länger zu
bleiben, ohne dass sie einen höheren Lohn fordern
würde.
Ich stelle mir vor, wie diese Mutter, erfüllt und glücklich von ihrer Arbeit, die sie geleistet hat, am Abend
nach Hause kommt und ihren Kindern davon erzählt.
Wie viel besser ist ein solches Vorbild für Kinder als der
oft trostlose Alltag in Arbeitslosenfrust und Ausgeschlossenheit!
Sehr geehrter Herr Minister Müntefering, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf ein gutes und kreatives Miteinander!
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Kornelia Möller für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fand
es sehr erstaunlich, nach drei Jahren endlich einmal wieder eine sozialdemokratische Rede von der SPD zu hören. Das ist in der letzten Zeit doch eher selten gewesen.
({0})
Aber man darf daran keine falschen Hoffnungen knüpfen. Da sich die SPD ja nun mit der CDU/CSU eingelassen hat, wird diese schöne Rede das bleiben, was sie ist:
Worte auf dem Papier. Schade!
Mit Mut und Menschlichkeit will die große Koalition,
glaubt man dem Leitmotiv ihrer Koalitionsvereinbarung,
unser Land regieren. Schön wäre das, möchte man meinen. Überprüft man dann aber einige zentrale Vorhaben
wie zum Beispiel die ins Auge gefassten Veränderungen
in der Arbeitsmarktpolitik, kommen erhebliche Zweifel
auf. Schwarz-Rot setzt in seinem Koalitionsvertrag weiterhin auf die Senkung der Lohnzusatzkosten. Das
spiegelt das Festhalten an einem fehlgeschlagen neoliberalen Kurs wider. Es hat nichts mit Mut zu tun, wenn
man die gleichen Fehler immer wieder macht.
({1})
Mittlerweile müsste auch Ihnen klar geworden sein, dass
sinkende Lohnkosten und Steuerentlastungen für Unternehmen nicht automatisch zu mehr Arbeitsplätzen führen. Gewerkschaftlich errungene Rechte wie der Kündigungsschutz werden auch von dieser neuen Koalition,
also auch wieder von der SPD, geopfert. Die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre bei Neueinstellungen
bedeutet die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes und wird, wie wissenschaftliche Studien ergaben, wenig Auswirkungen auf die Arbeitsmarktlage haben. Aber sie hat Auswirkung auf die abhängig
Beschäftigten. Sie werden weiter diszipliniert und das
führt zu einem größeren Klima von Angst und Unsicherheit im Land.
({2})
Angst macht krank. Es gibt Studien, die belegen, dass
seit Einführung von Hartz IV die Zahlen der chronisch
Kranken, derjenigen mit Angststörungen und Depressionen gestiegen sind. Ich bitte, das zu bedenken. Nebenbei: Angst regt auch nicht gerade den privaten Konsum
an.
({3})
Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
werden also weiter geschwächt. Höhere Erpressbarkeit
der Unternehmensbelegschaften und stärkerer Druck auf
die Löhne werden die Folge sein. Das ist weder mutig
noch menschlich. Aber die arbeitsmarktpolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung sind auch kein Beleg
für Menschlichkeit. Die Koalition setzt Hartz IV fort und
bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen. Weiter also mit Repressionen gegenüber jenen,
die ohne eigenes Verschulden gewissermaßen als Opfer
einer unfähigen Politik von Staat und Unternehmen auf
der Straße liegen. Ostdeutsche Menschen und Menschen
mit Migrationshintergrund betrifft das bekanntermaßen
überdurchschnittlich.
In das Bild der Politik gegen Arbeitslose passen Rasterfahndung, flächendeckende telefonische Überwachung und mehr Hausbesuche zur Erfassung angeblicher
Leistungsbetrüger und Arbeitsunwilliger. Ich finde es
sehr schön, Herr Müntefering, dass Sie den Missbrauchsvorwurf etwas zurückgenommen haben. Allerdings finde ich diese neudeutschen Wörter „Dehnung“
und „Überdehnung“ als Bezeichnung dafür, dass Menschen ihre Rechte in Anspruch nehmen, auch nicht viel
besser.
({4})
Die Medien machen bei dieser Diffamierungskampagne mit und schon ist die Schuldfrage geklärt. Sie ziehen
das Fazit: Betrug, wohin man sieht, und die Ämter müssen dann natürlich die überwachen, die Leistungen missbrauchen. Dann kann man auch noch lesen, Hartz IV sei
im Prinzip ein gutes Gesetz. Aber mit der Stigmatisierung Unschuldiger soll nur kaschiert werden, dass nicht
Leistungsmissbrauch, sondern in erster Linie falsche Berechnungen und fatale Fehleinschätzungen der Vorgängerregierung zu den von Rot-Grün nicht erwarteten hohen Kosten für Hartz IV führten. Ganz deutlich: Es
fehlen Angebote auf dem Arbeitsmarkt. Hartz IV hat
nicht einen einzigen Arbeitsplatz gebracht.
Ganz schön ist auch die neue Überlegung, dass, um
600 Millionen Euro einzusparen, junge Arbeitslose von
dieser Koalition entmündigt werden. Mit überwachungsstaatlichen Mitteln, neu ins Auge gefassten Regelungen
zum grundsätzlichen Rückgriffsrecht für junge Menschen bis 25 und zur Einschränkung des Erstwohnungsbezugs von Jugendlichen will die neue Regierung offenbar die Linie verfassungsrechtlich fragwürdiger
Einschränkungen der Menschenrechte durch die
Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Eine neue Welle von
Sozialgerichtsverfahren steht an. Ich kann Ihnen schon
jetzt sagen, dass wir, die Linke, auch weiterhin die Betroffenen bei der Wahrung ihrer Rechte unterstützen
werden.
({5})
Millionenfache Proteste im eigenen Land gegen die
Hartz-Gesetze hatten Rot-Grün, die in dieser Frage bereits als Teil einer großen Koalition handelten, kaum beeindruckt. Es musste erst der Europäische Gerichtshof in
einem Urteil nachweisen, dass die Hartz-Gesetze gegen
Menschenrechte verstoßen, da älteren Beschäftigten ab
ihrem 52. Lebensjahr unterschiedslos bis zum Ruhestand
befristete sowie unbegrenzt häufig verlängerte Arbeitsverträge angeboten werden können.
({6})
Das verstößt gegen das Recht der EU und es schafft auch
nicht mehr Arbeitsplätze. Das ist Quatsch.
({7})
Wir fordern die Bundesregierung auf, bei neuen Vorhaben zum Arbeitsmarkt Diskriminierung energisch auszuschließen.
({8})
Wir bestehen ferner darauf, dass die bereits gültigen Gesetze daraufhin zu überprüfen sind. Ich wünsche mir,
dass vom Luxemburger Urteil auch ein Signal an die Sozial- und Arbeitsrichter ausgeht,
({9})
die sich zurzeit so zahlreich mit Rechtsstreitigkeiten zu
den Hartz-Gesetzen befassen - ein Signal, das die
Richter ermutigt, Hartz IV und die übrigen Hartz-Gesetze ebenfalls auf den Prüfstand zu stellen, und zwar
auf den des Bundesverfassungsgerichts.
({10})
Hartz IV ist kein gutes Gesetz; Hartz IV ist ein
schlechtes Gesetz.
({11})
Deshalb reichen nach unserer Auffassung kleine Korrekturen auch nicht aus, obwohl kurzfristig die gröbsten
Ungerechtigkeiten dringend beseitigt werden müssen.
Dafür werden wir Vorschläge unterbreiten.
Mittel- und langfristig fordern wir die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als
Individualanspruch, um die Verarmung von Erwerbslosen, dauerhaft Erwerbsgeminderten, armen alten Menschen und Menschen mit geringem Einkommen zu beenden. Die Einrichtung der Bedarfsgemeinschaften ist
unsozial und muss weg.
Eine soziale Gesetzgebung muss das Menschenrecht
auf Wohnen und den Schutz vor Obdachlosigkeit sichern. Ein langfristiger Schutz vor Altersarmut ist aufund nicht abzubauen, wie jetzt mit diesem Gesetz der
Koalition geschehen.
({12})
Frau Merkel hat genau wie ihr Vorgänger angekündigt, sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen zu lassen. Wir werden sie daran messen.
({13})
Eines kann ich Ihnen jedoch schon heute sagen: Die
Koalitionsvereinbarung ist für die Erreichung dieses
Ziels ein schlechter Wegweiser.
Danke.
({14})
Frau Kollegin Möller, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische
Arbeit.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wer gleichzeitig sagt „Vorfahrt für Arbeit“ und
„Mehrwertsteuer rauf“, der organisiert den Crash
auf dem Arbeitsmarkt! … Wer so etwas vorhat,
handelt gegen jede konjunkturelle Vernunft.
({0})
Herr Minister Müntefering, kommt Ihnen das irgendwie
bekannt vor? Haben Sie das schon einmal gehört? Ich
kann Ihnen gerne helfen. Das ist ein Zitat von Ihnen,
nämlich vom Wahlblog der SPD Hamburg, 19. August
dieses Jahres.
({1})
Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. Tja, so kann es
kommen, Herr Müntefering. Gestern wollten Sie noch
den klugen Fahrlehrer geben und heute sitzen Sie selbst
bei diesem Crashkurs am Steuer. Und dann geben Sie
auch noch Vollgas.
({2})
Herr Müntefering, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:
Ich habe Sorge, dass Sie mit diesem Crashkurs und mit
dem Vollgas den Karren wirklich an die Wand fahren.
({3})
Was gestern noch Crashkurs war, ist heute die Koalition
der neuen Möglichkeiten.
({4})
Sie wissen, dass ich neu in diesem Parlament bin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von
der CDU/CSU, ich kann Ihnen sagen: Sie haben mich
bereits jetzt tief beeindruckt.
({5})
Sie haben mich tief beeindruckt mit Ihrer rhetorischen
Geschmeidigkeit, die Sie in diesem Hohen Hause an den
Tag legen.
({6})
- Ich bewundere Sie. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich,
dass es nicht mein erstes Ziel ist, Sie darin zu übertreffen.
Der Volksmund sagt, eine Krähe hackt der anderen
kein Auge aus. Wenn ich mir die Koalitionsvereinbarung
anschaue, dann muss ich feststellen, dass das tatsächlich
zutrifft. Diese Koalitionsvereinbarung ist vor allen Dingen von einem Ziel getragen: von dem Ziel, dass keiner
der beiden Koalitionspartner das Gesicht verliert. Sie
selbst haben im Mittelpunkt der Verhandlungen gestanden und nicht etwa die Arbeitslosen. Diese sind es, die
bei diesem Deal verloren haben - und nicht nur ihr Gesicht.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
noch vor wenigen Monaten waren Sie der Auffassung,
Rot-Grün werde Deutschland in den Untergang führen,
({8})
weil nach Ihrer Auffassung die Arbeitsmarktpolitik nur
halbherzig vorangetrieben würde. Was ist eigentlich die
Steigerung von Untergang? Bei diesen Koalitionsverhandlungen ging es aber noch nicht einmal um halbherzige, sondern maximal nur um viertelherzige Reformen
auf dem Arbeitsmarkt. Was glauben Sie eigentlich, wohin Sie Deutschland mit dieser Art von Politik führen?
Die Maßnahmen, die Sie beschlossen haben, sind nicht
stark und zukunftstauglich. Sie sind vor allen Dingen eines: Sie sind widersprüchlich und konzeptionslos.
So wollen Sie auf der einen Seite die Schwarzarbeit
mit einem umfänglichen Programm bekämpfen. Es ist
richtig: Schwarzarbeit ist kein Kavaliersdelikt. Aber mit
der Erhöhung der Mehrwertsteuer legen Sie auf der anderen Seite ein gigantisches Programm zur Stimulierung
der Schwarzarbeit auf.
({9})
Sie wollen einerseits die Lohnnebenkosten senken.
Durch die angekündigte Erhöhung der Beitragssätze in
der Rentenversicherung steigen die Beiträge aber andererseits erst einmal wieder.
Sie wollen das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre heraufsetzen. Gleichzeitig ziehen Sie sich aber aus der
Qualifizierung älterer Arbeitsloser zurück. Auf diese
Weise wird die Anhebung zu nichts anderem als zu einem Programm zur Reduzierung der Renten.
({10})
Ich sage Ihnen einmal etwas: Ich habe überhaupt
nichts gegen eine Politik der kleinen Schritte. Zum Problem wird eine solche Politik allerdings in dem Moment,
in dem Sie mit Siebenmeilenstiefeln gleichzeitig in die
andere Richtung marschieren.
Ihrer Politik fehlt nicht nur die Richtung, ihr fehlen
auch die Schwerpunkte. Mit Ihrer linearen Senkung
der Lohnnebenkosten fördern Sie auch diejenigen, die
es gar nicht nötig hätten: die Menschen mit hohen Einkommen. Wenn Sie Ihr Vorhaben auf die Senkung der
Lohnnebenkosten bei den geringen Einkünften konzentrieren würden, dann würden Sie in diesem Bereich eine
erhebliche Entlastung erreichen und damit deutlich mehr
Arbeitsplätze schaffen, als das nach Ihren Vorstellungen
der Fall ist, nämlich 500 000.
Ich kann Ihnen da nur das Progressivmodell der Fraktion der Grünen ans Herz legen. Dann brauchen Sie nicht
noch einmal lange über Kombilohnmodelle reden. Dann
können Sie handeln.
({11})
Die Schwerpunktgruppe, mit der wir uns beschäftigen
müssen, sind doch die Geringqualifizierten. Mit unserem
Modell wird die Gruppe gefördert, die die allergrößten
Probleme hat, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
Wir alle können uns sicher noch erinnern: Helmut
Kohl hatte versprochen, die Arbeitslosigkeit zu halbieren.
({12})
Das war 2000.
({13})
Gerhard Schröder wollte sie auf 3,5 Millionen senken.
({14})
- Ja, da waren auch wir dabei. - Jetzt will sich auch Frau
Merkel an der Senkung der Arbeitslosigkeit messen lassen. Aber anders als ihre Vorgänger nennt sie dabei keine
Ziele und keine Zahlen.
({15})
Das kann ja ein Ausdruck ihrer Schläue sein. Aber es
könnte auch ein Ausdruck der tiefen Skepsis sein, die sie
gegen ihre eigenen Modelle und gegen ihre eigenen Programme hat. Ich habe den Verdacht: Genauso ist es. Ich
kann nur sagen: Zumindest an diesem Punkt wäre sie
sehr dicht bei den Menschen. Denn 79 Prozent der Bevölkerung sind der Auffassung, dass die von Angela
Merkel angeführte große Koalition die Situation auf dem
Arbeitsmarkt keineswegs verbessern wird.
({16})
Herr Minister Müntefering, damit keine Missverständnisse auftreten: Auch ich bin der Auffassung, dass
es Aufgabe einer Regierung ist, die Lohnnebenkosten zu
senken. Aber die Probleme sind etwas komplexer. Ich
finde, es ist auch Aufgabe einer Regierung, dafür zu sorgen, dass die Unternehmen in einem demokratischen
Gemeinwesen wieder Verantwortung übernehmen. Die
Gewinne der 29 im DAX geführten Unternehmen sind
im Vergleich zum Vorjahr - man höre und staune - um
61 Prozent von 9 Milliarden auf 14,5 Milliarden Euro
gestiegen. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze abgebaut,
abgebaut, abgebaut.
In Hannover kündigt gerade der Conti-Vorstand einseitig die Vereinbarung, die er vor wenigen Monaten mit
der Arbeitnehmerseite getroffen hat. Es geht jetzt wieder
um 300 Arbeitsplätze. Vorher hatten die Beschäftigten
eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich hingenommen. Ich finde, das ist eine Provokation, die die Tarifparteien zunehmend belastet.
Sie persönlich haben ja einmal unter dem Stichwort
„Heuschrecken“ angekündigt, Lösungen für diese Probleme zu suchen.
({17})
Was ist eigentlich daraus geworden?
Frau Kollegin.
Ich komme gleich zum Schluss. - Ich habe die Sorge,
Herr Minister, dass diese Heuschrecken im milden Licht
Ihres neuen Amtes in Ihren Augen möglicherweise zu
kleinen grünen Grashüpfern werden könnten.
({0})
Die Kanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung versprochen, insbesondere den Schwachen zu helfen. Sie
hat aber davor gewarnt, dass sich Starke als Schwache
verkleiden könnten. Nach Ihrem Beitrag, Herr
Müntefering, habe ich eher die Befürchtung, dass sich
Schwache als Starke verkleiden. Auch das könnte eine
Form des Missbrauchs sein.
Ich danke Ihnen.
({1})
Frau Kollegin Pothmer, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere.
({0})
Ihnen wird aufgefallen sein, dass ich Sie gleich mit einem Zeitbonus prämiert habe, den ich für weitere Reden
ausdrücklich nicht in Aussicht stellen kann.
({1})
- Wenn nun ausgerechnet die Parlamentarischen Geschäftsführer, die auf die Einhaltung der Redezeit den
größten Wert legen, die unschuldigsten Zwischenrufe
machen, finde ich das ganz besonders bemerkenswert.
({2})
- Sie sind aber nicht der einzige Zwischenrufer, Herr
Kollege Niebel. So einzigartig sind Sie nun auch wieder
nicht.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In dieser Woche diskutieren wir
über die zentralen Gebiete der künftigen Zusammenarbeit in der großen Koalition. Der Bereich „Arbeitsmarkt
und Soziales“ steht heute auf der Tagesordnung. Das ist
gerade für uns Sozialdemokraten ein Kernbereich und
für viele auch ein Gebiet, bei dem man besonders hinsieht, weil es dort vermeintlich viel Sprengstoff gibt. Dabei werden schon einmal unterschiedliche Positionen
deutlich, die wir in der politischen Arbeit zu berücksichtigen haben. Uns ist wichtig, dass wir in der Koalitionsvereinbarung die Positionen zu der Arbeitsmarktpolitik
und den Arbeitnehmerrechten zusammengeführt haben.
Ich kann also feststellen, dass wir von einem ausgesprochen positiven Start der großen Koalition sprechen können.
Die große Koalition ist eine große Chance für unser
Land. Bei der Vorbereitung meiner Rede musste ich
nicht überlegen, wo der Koalitionspartner in ein Fettnäpfchen getreten ist, was vorgetragen werden muss,
und wo wir ein besonderes Lob von der Öffentlichkeit,
zum Beispiel von Wissenschaftlern, erfahren haben. Uns
geht es vielmehr darum, die Chancen der großen Koalition zu nutzen. Es darf nichts schlecht gemacht, aber
auch nichts schöngeredet werden.
({0})
Das muss unser Ziel, muss die Grundlage unserer Zusammenarbeit sein.
({1})
Dass sich die Opposition damit schwer tut, haben wir
gerade wieder gespürt. Wenn ich einen Satz zu der Rede
von Frau Pothmer sagen darf:
({2})
In der letzten Legislaturperiode haben sich die Grünen
hinsichtlich der Aktivitäten zur Senkung der Lohnnebenkosten geradezu überboten. Es gab selten Veranstaltungen, bei denen Sie nicht in der ersten Reihe gesessen und gerufen haben: Lohnnebenkosten runter! Das
bringt Arbeitsplätze! - Dabei war Ihnen ganz egal, welche Leistungen dafür eingeschränkt werden müssen. Das
muss man Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben, liebe
Kollegin.
({3})
Die Kollegin Möller von der Linken hat zu Recht gesagt, dass durch die Hartz-Reformen keine Arbeitsplätze geschaffen werden. Das behauptet auch keiner.
Dies ist aber der erste gemeinsame Ansatz, wodurch
Langzeitarbeitslose eine individuelle Betreuung erfahren
und systematisch gefördert werden. Es wird Schluss gemacht mit dem Abschieben und der Passivität. Das ist
der Vorteil dieser Gesetzgebung und das muss gesagt
werden.
({4})
Vom Kollegen Niebel haben wir nichts anderes erwartet. Er ist vielleicht noch ein bisschen enttäuscht darüber,
dass er nicht Minister geworden ist,
({5})
wie auch andere, die nicht Staatssekretäre geworden
sind. Mit dieser Situation werden wir uns abfinden müssen. Es ist Ihnen erspart geblieben, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Aber sei es drum. Wir, CDU/
CSU und SPD, werden unsere ganze politische Energie
gemeinsam auf das Machbare konzentrieren anstatt auf
das ständige Voneinanderabgrenzen.
Völlig klar ist: Der politische Wettbewerb in der Arbeitsmarktpolitik und erst recht bei den Arbeitnehmerrechten bleibt bestehen. Aber wir werden die Kraft haben, dieses Land konstruktiv zu modernisieren und dabei
die Solidarität mit den Schwachen in der Gesellschaft als
Leitbild zu bewahren. Ich glaube, dass das, was Kollegin
Falk hier vorgetragen hat, ein Beispiel dafür ist, dass wir
auf eine sichere Grundlage bauen können.
({6})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zu
dem Appell sagen, den die Bundeskanzlerin, Frau
Merkel, gestern an uns alle gerichtet hat, nämlich, dass
wir mehr Freiheit wagen müssen. Das ist, wie ich meine,
ein richtiger Ansatz. Wir müssen uns jedoch auch darüber im Klaren sein, dass wir die Voraussetzungen dafür
schaffen und sichern müssen, dass Freiheit und Sicherheit einander bedingen.
({7})
Freiheit kann nur aus der Position der Sicherheit heraus
gelebt werden. Um den Menschen die Möglichkeit zu
geben, Freiheit zu wagen, müssen wir ihnen insbesondere soziale Sicherheit geben. Für uns heißt das ganz
konkret, dass sozialer Schutz und Arbeitnehmerrechte
den notwendigen Veränderungen nicht im Wege stehen,
sondern vielmehr die Voraussetzung für die Reformen
sind.
Ich will als Beispiel ein Argument hinsichtlich des
Kündigungsschutzes aufgreifen und dies hieran verdeutlichen. Der Kündigungsschutz ist nicht allein eine
ökonomische Größe, und schon gar nicht ein Kostenfaktor. Kündigungsschutz gibt den Menschen Sicherheit,
Verlässlichkeit und Planungsmöglichkeiten. In einer
Hire-und-fire-Gesellschaft haben Menschen nicht die
Kraft, Freiheit zu wagen und sie zu leben. Deshalb sage
ich ganz deutlich: Weniger Kündigungsschutz bedeutet
nicht zugleich mehr Arbeitsplätze, wie die FDP uns das
immer wieder einreden will.
({8})
Es gibt keine seriöse Studie, die belegt, dass weniger
Kündigungsschutz zu mehr Arbeitsplätzen führt. Wir
brauchen - auch beim Kündigungsschutz - einfache und
transparente Regeln. Deshalb haben wir uns darauf geeinigt, den Kündigungsschutz in diese Richtung weiterzuentwickeln. Deshalb machen wir Schluss mit dem Anwuchs und Auswuchs an Befristungen. Ehrlich gesagt:
Welche Einstellung in den Betrieben findet denn heute
unbefristet statt?
({9})
Die Einstellungen in den Betrieben finden doch nur mit
sachgrundlosen Befristungen statt. Das sind doch die
Praxis und die Wahrheit, der wir uns nicht verschließen
dürfen.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Die Möglichkeit, Arbeitsverträge bis zu 24 Monate sachgrundlos zu befristen, schaffen wir ab. Mit diesem Missbrauch machen wir
Schluss.
({10})
Im Gegenzug geben wir den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern die Möglichkeit, anstatt der bisherigen sechsmonatigen Wartezeit eine Wartezeit von bis zu 24 Monaten zu vereinbaren, bis der Kündigungsschutz greift.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang mit einem
Missverständnis aufräumen, das landauf, landab durch
die Medien geht: Es wird nämlich nicht die Probezeit
verlängert, sondern die Wartezeit, bis der Kündigungsschutz greift.
({11})
Wenn dann in dieser Zeit, also während der Wartezeit,
gekündigt wird, gelten erstens die allgemeinen Kündigungsfristen und zweitens ist der Betriebsrat zu beteiligen. - Lieber Herr Kollege, wenn Sie im Arbeitsrecht
bewandert sind, wissen Sie, was das bedeutet.
({12})
Deshalb sage ich Ihnen: Man muss auf diese zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen können.
({13})
Wir schaffen Planungssicherheit für die Beschäftigten
und bewahren den Schutz der Arbeitnehmer vor Willkür
und Beliebigkeit.
({14})
Als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit ist es notwendig, die Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft
zu erhalten. Wir werden nicht an der Tarifautonomie
rütteln, die gleichfalls ein Symbol für Freiheit ist. Wir
werden unser Erfolgsmodell Mitbestimmung weiterentwickeln und die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf europäischer Ebene sichern
und gestalten.
({15})
Für die SPD gilt der Leitsatz: Die Wirtschaft muss
dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Alle Reformen müssen sich an diesem Leitsatz messen lassen. Deshalb ist für mich der Zusammenhang zwischen Innovation und sozialer Gerechtigkeit so entscheidend.
Um es auf den Punkt zu bringen: Innovation und soziale Gerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille und
sie bedingen einander: ohne Wachstum keine soziale Balance und ohne soziale Balance kein Wachstum.
Meine Damen und Herren, ich will den Zusammenhang zwischen Wachstum und sozialer Balance an zwei
Punkten festmachen, die für mich zu den Aufgaben der
kommenden Jahre zählen:
Erstens. Die Festigung der Mitbestimmung. Wer
heute ständig schreit, man solle die Mitbestimmung
kräftig einschränken, der schadet dem Standort Deutschland insgesamt.
({16})
Wer die Gewerkschaften schwächen und die Rechte der
Arbeitnehmer beschneiden will, hat ein anderes Selbstverständnis von Arbeit und ein anderes gesellschaftliches Leitbild als wir. Die SPD steht für Teilhabe, für
gleiche Augenhöhe, für starke Gewerkschaften, für
selbstbewusste und motivierte Arbeitnehmer, für Mitverantwortung und für Mitbestimmung. Arbeitgeber und
Arbeitnehmer sind ein Paar, das zusammengehört. Das
sorgt für die Teilhabe der Menschen und dafür, dass unsere hohe Produktivität ein Standortvorteil Deutschlands
ist. Das ist die Ursache für das friedliche Zusammenwirken innerhalb unseres gesellschaftlichen Modells. Auch
deshalb haben der Schutz und der Ausbau der Arbeitnehmerrechte für uns hohe Priorität.
({17})
Deshalb, meine Damen und Herren, sind wir froh,
dass diese Einschätzung im Koalitionsvertrag auch von
der CDU und der CSU geteilt wird.
({18})
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken bzw. die
ehemaligen PDS-Abgeordneten, die neu hinzugekommen sind, mögen einmal zur Kenntnis nehmen: Wir haben vereinbart, dass das Betriebsverfassungsgesetz auch
weiterhin uneingeschränkt gilt.
({19})
Um es deutlich zu sagen: Auf dieser sicheren Grundlage
werden die Betriebsratswahlen im Frühjahr 2006 die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die Arbeitnehmer weiterhin in den Betrieben engagieren und gemeinsam nach konstruktiven Zukunftslösungen suchen
können.
({20})
Zweitens; jetzt muss ich mich besonders an die Kollegen von der FDP wenden.
({21})
Wir alle haben noch in guter Erinnerung, wie Sie im
Wahlkampf auf die Gewerkschaften eingeprügelt haben, die Ihrer Meinung nach „die Wurzel allen Übels“
sind.
({22})
- Jetzt sprechen Sie von den Funktionären.
({23})
Die Funktionäre vertreten die Gewerkschaften, Herr
Niebel.
({24})
Bleiben Sie doch konsistent; entschuldigen Sie mal.
Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass die Gewerkschaften zu großen Reformen in der Lage waren und es
auch weiterhin sind. Gewerkschaften und Arbeitnehmer
haben in den vergangenen Jahren maßgeblich zur Modernisierung dieses Landes beigetragen. Wir haben in
Deutschland, um das deutlich zu sagen, mit die wenigsten Streiktage in der ganzen Welt. In den letzten zehn
Jahren gab es pro 100 000 Arbeitnehmer im Schnitt nur
an vier Tagen im Jahr Arbeitskämpfe. Zum Vergleich: In
unserem Nachbarland Dänemark waren es 171 und in
Kanada 186 Arbeitstage.
({25})
Das zeigt: Der soziale Frieden ist in diesem Land nicht
nur ein gesellschaftlicher Frieden, sondern er hat auch
einen entscheidenden ökonomischen Wert. Nehmen Sie
das bitte endlich zur Kenntnis.
({26})
Den starren Tarifvertrag, den viele immer wieder unterstellen, gibt es in der Praxis gar nicht. Im Jahr 2004
gab es 61 800 gültige Tarifverträge, die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationsfähigkeit mit Öffnungsklauseln ausgestattet waren, die
heute die Regel sind. Drei Viertel aller tarifgebundenen
Betriebe nutzen tarifliche Öffnungsklauseln. Wie kann
man da von Inflexibilität reden und die Abschaffung der
Tarifautonomie fordern, meine Damen und Herren?
({27})
Ich bin sehr froh darüber, dass wir im Koalitionsvertrag ein deutliches Bekenntnis zur Tarifautonomie formuliert haben. Wir stehen dafür, dass Verträge nur dann
eine Wirkung haben, wenn sie für beide Seiten verbindlich sind. Nur wenn sie verlässlich sind, sind sie eine
Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
({28})
Mitbestimmung, Tarifautonomie und Kündigungsschutz sind für mich die besten Beispiele dafür, wie eng
Arbeitnehmerrechte und Wachstum miteinander verbunden sind. Man kann wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt nur mit den Menschen gestalten, nicht
aber, indem man ihnen ihre Teilhabemöglichkeiten
nimmt.
({29})
So wie die Menschen in ihrem Arbeitsleben einen
Anspruch auf verlässliche Arbeitnehmerrechte haben, so
haben auch die Rentnerinnen und Rentner einen Anspruch auf eine ausreichende und verlässliche Alterssicherung.
({30})
Für uns Sozialdemokraten ist dies unverzichtbar, ja eine
Herzensangelegenheit; ich sage das so deutlich. Die Absicherung eines jeden einzelnen Bürgers ist uns Verpflichtung und Antrieb. Im Koalitionsvertrag wurde deshalb festgeschrieben: keine Rentenkürzungen und
Einhaltung der Sicherungs- und Beitragsziele. Hierfür
stehen wir gemeinsam ein und hieran werden wir uns
messen lassen. Die große Koalition eröffnet uns allen die
großartige Möglichkeit, dies im gesellschaftlichen Konsens anzugehen. Hier sind wir uns mit der Union im
Grundsatz einig. Einig sind wir uns auch, dass die grundsätzlichen Weichenstellungen für eine langfristige Sicherung der Renten durch die zurückliegenden Rentenreformen bereits vorgenommen wurden und dass wir in der
gesetzlichen Rente vor allem ein Einnahmeproblem haben; auch darauf hat Frau Falk hingewiesen. Drei Nullanpassungen in Folge sprechen doch eine eindeutige
Sprache. Sie sind nicht Folge der Demographie - um es
deutlich zu sagen -, sondern sie sind allein Folge des
Wegbrechens der Einnahmebasis.
({31})
Immer weniger reguläre Arbeitsverhältnisse, immer geringere Löhne und Gehälter, das hält kein System der
Welt aus. Diese Entwicklung werden wir zusammen mit
der Union stoppen.
({32})
Wir dürfen bei der ganzen Diskussion aber nicht den
Blick für andere, wesentliche Entwicklungen verlieren.
So wächst seit Jahren die Anzahl der Selbstständigen,
die unzureichend für ihr Alter vorsorgen. Dies kann verschiedene Gründe haben: dass sie in der Gründungsphase an anderes denken oder dass sie sich zu Altersvorsorge kaum in der Lage sehen. Warum auch immer - hier
droht Altersarmut. Dieser Entwicklung dürften wir nicht
tatenlos zusehen. In fast allen europäischen Ländern sind
Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung
versichert. Ich meine, wir sollten diesem Vorbild besondere Aufmerksamkeit widmen.
({33})
In der Diskussion darüber, wie wir zusätzliche Arbeitsplätze schaffen können, ist schon häufig das Stichwort „Kombilohn“ gefallen und es ist darüber gesprochen worden, wie im Niedriglohnsektor zusätzliche
Beschäftigung geschaffen werden kann. Völlig klar ist,
dass wir vorurteilsfrei alle Möglichkeiten prüfen sollten
und müssen, wie wir mehr Menschen in Arbeit bringen.
Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung haben wir in
vielfältiger Art gesetzt. Ich glaube, es fehlt uns an Transparenz. Diese Anreize werden auch deshalb nicht in dem
wünschenswerten Maße genutzt, weil sie vor lauter Vielfalt kaum zu überschauen sind. Deshalb ist richtig, was
wir uns vorgenommen haben: diesen Strauß an differenzierten Fördermöglichkeiten zu sortieren, zu bündeln, zu
einem sinnvollen Instrument zusammenzufassen und dabei immer zu prüfen, inwieweit sie zusätzliche Beschäftigung schaffen und inwieweit sie Menschen aus der
Schwarzarbeit herausholen, sie in normale Arbeitsverhältnisse integrieren. Völlig klar ist für uns, dass eine
solche Politik fiskalisch beherrschbar sein muss, dass
Verdrängungseffekte vermieden und Mitnahmeeffekte
minimiert werden müssen. Unser Ziel wird es dabei sein,
Armut zu vermeiden und Chancen zu eröffnen, dass ehrliche Arbeit auch honoriert wird. Was wir uns vorgenommen haben, ist ehrgeizig.
Wenn wir uns die heutigen Arbeitslosenzahlen anschauen, können wir feststellen, dass wir zum ersten Mal
seit der Wiedervereinigung in einem November keinen
Anstieg, sondern einen Rückgang der Arbeitslosigkeit
zu verzeichnen haben.
({34})
Das ist ein ermutigendes Signal; darauf müssen wir aufbauen.
Herr Kollege, Sie wollten Ihr Manuskript jetzt nicht
sortieren, oder?
Ich wünsche uns von dieser verbesserten Basis aus
dazu viel Erfolg. Ich denke, gemeinsam schaffen wir
das.
({0})
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Stand der Debatte zum jetzigen Zeitpunkt in einem Satz zusammenzufassen versucht, kann
man zumindest insoweit Konsens feststellen: Wir brauchen mehr Arbeitsplätze. Das sagen alle und das ist auch
richtig. Denn vollkommen klar ist doch: Mindestens so
lange, wie wir bei der Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse keine Trendumkehr erreichen, können die Sozialsysteme in Deutschland nicht als zukunftssicher gelten. Das allein wird
zwar angesichts der demographischen Herausforderung
nicht reichen, aber es ist die notwendige Voraussetzung,
ohne die alles Weitere nicht geht.
({0})
Herr Kollege Brandner, Tatsache ist: Wir haben - dafür tragen zweifelsfrei Sie Verantwortung - zwischen
dem 30. Juni 2004 und dem 30. Juni 2005 pro Kalendertag durchschnittlich 900 Arbeitsplätze verloren und damit eine entsprechende Zahl an Beitragszahlern. Gleichzeitig werden die Menschen, die ihren Arbeitsplatz
verlieren, oft selbst zu Leistungsempfängern der sozialen Sicherung. Damit wird das Problem bei den Sozialversicherungsträgern zusätzlich verschärft.
Deswegen warne ich sehr vor einer Selbstzufriedenheit, Herr Kollege Brandner, wie Sie sie gestern und
heute zur Schau gestellt haben. „Unsere Reformen zeigen Wirkung“, diese Äußerung von Herrn Brandner war
gestern im Ticker zu lesen. Selbst Herr Wissmann von
der Union sieht schon neue Zuversicht, die sich in den
Statistiken niedergeschlagen habe. Ich glaube, für solche
Äußerungen ist es noch etwas zu früh. Eine Trendwende ist noch nicht erkennbar.
({1})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen
Koalition, dürfen nicht glauben - nach dem, was ich von
Herrn Brandner, Frau Falk und Herrn Minister
Müntefering gehört habe, meine ich, das sagen zu
können -, dass sich ein mittelständischer Unternehmer
dadurch ermuntert fühlen könnte, auch nur einen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen. Davon sind sie weit entfernt.
Ich will Ihnen an einigen Beispielen erläutern, was
wir in den nächsten Monaten zu erwarten haben. Beginnen möchte ich mit einer Maßnahme, die im Sommer
letzten Jahres von Rot-Grün und Union, sozusagen im
Vorlauf der großen Koalition, auf den Weg gebracht
wurde und deren Wirkung erst ab 2006 einsetzen wird
- gerade deswegen darf sie bei der Beurteilung der Arbeitsmarktentwicklung nicht außer Acht gelassen
werden -, nämlich dem Vorziehen der Fälligkeit der
Sozialversicherungsbeiträge.
({2})
Wir sprechen über einen Betrag von 20 Milliarden
Euro, den die Unternehmen künftig 20 Tage früher zahlen müssen als bisher. Weil so große Zahlen immer
schwer zu greifen sind, Herr Brandner, mache ich es etwas anschaulicher am Beispiel eines Betriebes mit zehn
Beschäftigten.
({3})
Dieser muss bei einem Durchschnittslohn von
3 000 Euro pro Beschäftigten bei einem Beitragssatz von
42 Prozent ab Januar 12 600 Euro dauerhaft vorzeitig
abführen. Diesen Betrag muss er vorfinanzieren. Einige
von Ihnen sagen - das haben wir alles gehört -:
12 600 Euro sollten doch wohl kein Problem sein. Ich
sage Ihnen: Das ist für viele Mittelständler ein Problem.
({4})
Seit 2001 gibt es pro Jahr etwa 40 000 Unternehmenspleiten; diese Zahl ist ziemlich konstant. Die Menschen gehen doch nicht aus Jux und Tollerei zum Amtsgericht, um Konkurs anzumelden. Viele Unternehmer
werden in Zeiten von Basel II ein großes Problem bekommen, wenn sie im Januar zu ihrer Bank gehen müssen und die Kreditlinie erweitern wollen. Das wird häufig nicht funktionieren.
Das haben Sie zumindest teilweise erkannt; denn Sie
haben eine Übergangsregelung in das Gesetz aufgenommen, nach der man den Beitrag für Januar auf die Monate Februar bis Juli verteilen darf. - Sie nicken so
selbstgefällig, Herr Grotthaus.
({5})
Spätestens ab Juli müssen die Unternehmen die volle
Belastung tragen. Dann muss das finanziert werden. Unternehmer sind doch nicht so dumm, dass sie im Januar
Menschen einstellen, wenn sie spätestens im Juli die
volle Belastung zu tragen haben.
({6})
Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich einige in der
Politik gerne in die Taschen lügen.
Es gibt noch weitere Beispiele, die ich anführen will.
Von der Bürokratie, die das Ganze mit sich bringt,
habe ich noch nicht gesprochen. Ich nenne nur die Stichworte „doppelte Beitragsabführung bei den Unternehmen“ und „entsprechende Arbeit bei den Krankenkassen“; das ist wiederum ein anderes Thema. Die
Vermutung liegt nahe, dass die Bürokratie, die hier entsteht, deutlich größer ist als das, was Sie mit Ihrem
Small-Company-Act den Unternehmen an Entlastung
bringen können.
({7})
Der Small-Company-Act ist ein schönes Beispiel dafür, dass Sie nicht die Sprache der Unternehmen in diesem Lande sprechen, zumindest nicht die Sprache der
mittelständischen Unternehmer. Darauf möchte ich hinweisen.
Zu dieser Vorbelastung kommt Anfang 2007 die
Erhöhung der Mehrwertsteuer hinzu. Herr
Müntefering, Sie als zuständiger Minister müssten eigentlich auf die Barrikaden gehen. Denn je nachdem, ob
man die Mehrwertsteuer über die Preise weitergeben
kann oder nicht - vieles spricht dafür, dass man das in
der derzeitigen konjunkturellen Situation eher nicht kann
und dass das von den Unternehmen aufgefangen werden
muss -, werden Arbeitsplätze in erheblicher Größenordnung verlustig gehen. Es werden jedenfalls keine neuen
entstehen. Das gilt es hier festzuhalten.
({8})
Jetzt kommen Sie mir nicht damit, Sie hätten die Beiträge um 2 Prozentpunkte gesenkt. Bildlich kann man
das so beschreiben: Sie nehmen den Leuten die Sau vom
Hof und geben ihnen zur Beruhigung ein Kotelett zurück. Eine echte Verbesserung der Situation der Unternehmen erreichen Sie nicht.
({9})
All das zeigt - das geht an Herrn Brandner und auch
an die Adresse der Kollegen von der Union, die das früher besser gewusst haben -: Sie haben nicht verstanden,
wie neue Arbeitsplätze entstehen. Die entstehen nicht
durch die Appelle des Kollegen Stiegler und des Ministers Müntefering, die Wirtschaftsführer mögen jetzt doch
bitte dafür sorgen, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Sie
entstehen dann, wenn sich ein mittelständischer Unternehmer Gedanken macht und am Ende zu dem Ergebnis
kommt, er könne einen solchen Arbeitsplatz - durchaus
auch mit Gewinn - auf Dauer errichten. Ich muss sagen:
Dass Sie von der CDU und der CSU das vergessen haben, finde ich schon enttäuschend.
({10})
Es bringt nichts, wenn sich Herr Brandner und andere
hier mächtig quälen und sagen, was sie alles getan haben. Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem
Angler.
({11})
- Herr Brandner, was Sie beim Kündigungsschutz getan
haben, ist vollkommen nachrangig. Die Unternehmer
müssen am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass es
sich lohnt, Arbeitsplätze zu schaffen.
({12})
Das wird auch bei den geplanten Änderungen des
Kündigungsschutzgesetzes deutlich. Herr Kollege
Pofalla, den ich heute hier nicht sehe, hat davon gesprochen, dass das eine der größten Reformen des Kündigungsschutzes überhaupt sei.
({13})
Das ist wirklich nicht zu Ende gedacht. In der Praxis
weist das eine ganze Reihe von Problemen auf, die Sie,
Herr Brandner, aus der Gegensicht teilweise hier auch
eingeführt haben.
Es ist nämlich so: Eine sachgrundlose Befristung ist
viel flexibler; denn bei einer Befristung endet das Arbeitsverhältnis automatisch. Eine Kündigung muss dagegen formal richtig geschrieben und zugestellt werden
und der Betriebsrat muss angehört werden.
({14})
Sie sehen schon an diesen wenigen Beispielen, dass das
alles in Zukunft wesentlich bürokratischer wird.
Zum Schluss will ich noch ein paar Sätze zur Rente
sagen. Früher hatten die Bank von England und die deutsche Rentenversicherung das gleiche Ansehen. Beide
galten als Hort der Stabilität und der Seriosität. Herr
Brandner, für die Bank von England gilt das heute noch
immer, während es für die deutsche Rentenversicherung
nach sieben Jahren Rot-Grün leider nicht mehr gilt.
({15})
Die Rentenversicherung lebt von der Hand in den
Mund. Hatten wir 2001 noch eine Schwankungsreserve
von 13,5 Milliarden Euro, so beträgt sie heute unter dem
Label Nachhaltigkeitsrücklage gerade einmal noch etwas weniger als 1 Milliarde Euro. Konnte man das früher noch in Bruchteilen von Monaten ausrechnen, so
muss man das heute in Stunden tun, damit man das überhaupt noch einigermaßen anschaulich darstellen kann.
In der Koalitionsvereinbarung arbeiten Sie weiter
nach dem Motto: Wir haben keine Lösung, also gibt es
auch kein Problem. Das ist Ihre politische Strategie, mit
der Sie hier an die Arbeit gehen.
({16})
Ich finde es schade - leider kann ich das hier nicht
länger ausführen -, dass sich die Kollegen von der
Union hier auf Verschiebebahnhöfe einlassen, zum Beispiel wenn es darum geht, die Beiträge für ALG-IIEmpfänger zu reduzieren, was die Rentenversicherung
immerhin 2 Milliarden Euro kostet. Damit stehen hier
auch wieder 0,2 Beitragspunkte zu Kalkül.
Zum Schluss darf ich noch einen Satz von Frau
Engelen-Kefer zitieren:
({17})
Die in der Koalitionsvereinbarung getroffenen Festlegungen geben zu der Befürchtung Anlass, dass
die engen und komplexen Verflechtungen zwischen
Rentenhöhe, Beitragssatz und Bundeszuschuss in
den Koalitionsverhandlungen möglicherweise nicht
hinreichend berücksichtigt worden sind.
Ich gebe Frau Engelen-Kefer selten Recht, aber an dieser
Stelle muss und will ich es gerne tun.
({18})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Ich erteile das Wort Kollegen Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An
keinem anderen Feld wird der Erfolg oder Misserfolg einer Regierung so festgemacht, wie an dem Feld Arbeit
und Soziales. Das galt für die abgewählte Bundesregierung
({0})
und das wird auch für die neue Bundesregierung gelten.
Ich stimme dem Kollegen Brandner ausdrücklich zu:
Es kann nicht darum gehen, etwas schlecht zu machen
oder etwas schönzureden. Deswegen meine ich, dass
man sich zu Beginn dieser Legislaturperiode die Zahlen
und Fakten, mit denen wir es zu Beginn der Arbeit der
neuen Bundesregierung zu tun haben, einfach noch einmal ganz nüchtern vergegenwärtigen muss.
Wir haben heute eine Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger und über 500 000 Arbeitslose mehr als noch vor drei Jahren. Trotz mehrerer
Nullrunden bei den Renten haben wir heute nur noch
etwa 1 Milliarde Euro in der Rücklage der gesetzlichen
Rentenversicherung, während es vor vier Jahren noch
14 Milliarden Euro waren.
Ich sage das nicht, um Vergangenheitsbewältigung zu
betreiben, sondern weil es einfach ein Unterschied ist, ob
man Rentenpolitik heutzutage mit einer Rücklage oder
ohne eine Rücklage macht. Wir beginnen die Arbeit der
großen Koalition in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit und mit ausgezehrten Sozialkassen. Das ist die
Lage. Aus dieser Lage müssen wir gemeinsam, CDU/
CSU und SPD, nun das Beste für unser Land machen.
({1})
Wir alle wissen: Die Arbeitsmarktpolitik allein ist
nicht in der Lage, Beschäftigungsprobleme zu lösen. Die
Impulse für Wachstum und Beschäftigung müssen in
erster Linie aus der Wirtschafts- und Steuerpolitik und
aus Forschung und Innovation kommen. Dennoch muss
unsere Arbeitsmarktpolitik natürlich daraufhin überprüft
werden, ob sie überall die richtigen Anreize setzt, um zusätzliche Beschäftigung zu schaffen. Deswegen ist es gut
und richtig, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf
verständigt haben, alle Arbeitsmarktmaßnahmen auf
den Prüfstand zu stellen. Was ineffizient und unwirksam
ist, muss abgeschafft oder geändert werden; bewährte Instrumente werden fortgeführt.
Uns ist auch das gemeinsame Ziel, auf das wir uns
verständigt haben, ganz wichtig, nämlich den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung zu senken. Es gehört zu den wenigen Punkten, über die quer durch die
Parteien Konsens besteht, dass die Lohnnebenkosten in
Deutschland zu hoch sind und dass zu hohe Lohnnebenkosten zu Arbeitsplatzverlusten führen. Deswegen ist es
ein wichtiger Schritt, den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung auf 4,5 Prozent zu senken. Es ist gut,
dass wir uns in der großen Koalition darauf verständigt
haben.
({2})
Wir müssen - es ist deutlich geworden, dass wir uns
auch hier einig sind - an das Thema Kombilohn herangehen. Ich weiß, das ist ein schwieriges Feld. Aber ohne
eine intelligente Kombination aus Arbeits- und Transfereinkommen werden wir für viele Menschen in unserem
Land keine Chancen auf Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Wir dürfen zwar nichts übers Knie brechen, aber wir müssen dieses Thema in den nächsten
Monaten entschlossen angehen.
Wir haben uns auch vorgenommen, das Thema Kündigungsschutz anzupacken. Dazu ist viel gesagt worden. Ich stimme Minister Müntefering ausdrücklich zu.
Man sollte nicht schon jetzt sagen, dass das dieses oder
jenes Ergebnis haben wird. Vielmehr macht es Sinn, die
Wirkung dieser Regelung, auf die wir uns verständigt
haben, in Ruhe abzuwarten, nämlich die Wartefrist von
derzeit sechs auf 24 Monate zu verlängern und im Gegenzug die heutigen Möglichkeiten zur sachgrundlosen
Befristung abzuschaffen. Von diesem Ergebnis kann
man sagen: Die Beschäftigten erhalten künftig wieder
unbefristete statt befristete Verträge und die Arbeitgeber
behalten trotzdem die Flexibilität des heutigen Befristungsrechts. Von daher ist das eine vernünftige Vereinbarung.
({3})
Natürlich hätten wir uns im Bereich betriebliche
Bündnisse für Arbeit etwas anderes vorgestellt. Doch
lassen Sie mich, Herr Kollege Niebel, ein für allemal sagen: Diejenigen, die mit betrieblichen Bündnissen für
Arbeit als Ziel in den Wahlkampf gegangen sind, haben
nicht die Mehrheit, um das umzusetzen. So einfach ist
die Sache.
({4})
Deswegen werden wir das machen, was politisch möglich ist.
Ich erwarte allerdings auch, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt ..., auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen
Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.
Die letzten beiden Sätze sind nicht von mir, sondern von
Gerhard Schröder bei der Vorstellung seiner Agenda im
Rahmen seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003.
Das Protokoll vermerkte damals: Beifall bei der SPD
und dem Bündnis 90/Die Grünen. - Wir werden uns also
noch aneinander zu gewöhnen haben. Aber das, was
Bundeskanzler Schröder in diesem Zusammenhang gesagt hat, bleibt im Grundsatz richtig.
Wir werden uns bei den Hartz-IV-Gesetzen unter
Zeitdruck auf Reformen verständigen müssen. Wir haben uns vorgenommen, 3,8 Milliarden Euro einzusparen.
Mir ist aber auch wichtig, dass die Zusage eingehalten
wird, die wir den Kommunen gegeben haben und die wir
auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, dass
wir an der Entlastung der Kommunen um bundesweit
2,5 Milliarden Euro festhalten.
({5})
Es ist notwendig, das zu tun. Wir haben uns das vorgenommen und werden die entsprechenden Maßnahmen
dazu beschließen.
Wir bringen heute das Fünfte SGB-III-Änderungsgesetz in diese Debatte ein. Die Koalition hat sich damit
auf all das verständigt, was laut Koalitionsvertrag unbedingt noch in diesem Jahr gemacht werden muss. Dazu
gehören vor allem die Verlängerung der Arbeitsmarktmaßnahmen für Ältere, die Verlängerung der Förderung
für Ich-AGs um ein halbes Jahr und die Verlängerung
der Übergangsregelung im Arbeitszeitgesetz.
Über die so genannten Hartz-Reformen ist viel diskutiert und gestritten worden. Manches davon war vernünftig, anderes unvernünftig. Mein Vorgänger als Sprecher
für Arbeit und Soziales, Karl-Josef Laumann, hat in seiner unverwechselbaren Art einmal festgestellt, dass wir
den „Hartz-Schrott“ - den es eben auch gibt - beseitigen
müssten. Das haben wir jetzt dankenswerterweise gemeinsam mit den Sozialdemokraten beschließen können.
So wird die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen ab dem nächsten Jahr nicht mehr zwingend sein. Die
Verlängerung der Ich-AG um ein halbes Jahr erfolgt nur
deshalb, um in dieser Zeit zu einer vernünftigen Neuregelung für die Förderung der Selbstständigkeit von zuvor Arbeitslosen zu kommen. Das ist eine vernünftige
Lösung. Die alte Ich-AG wird verschwinden. Damit verschwindet, nebenbei bemerkt, auch ein Unwort, das besser nie erfunden worden wäre, wie ich meine.
({6})
Wir haben uns auf die Einführung einer Übergangsregelung im Arbeitszeitgesetz geeinigt, um das Urteil
des EuGH vom September 2003 hinsichtlich der Bereitschaftsdienste in deutsches Recht umzusetzen. Den Arbeitgebern ist eine zweijährige Übergangsfrist eingeräumt worden, um die Tarifverträge gemeinsam mit den
Arbeitnehmervertretern anzupassen. Das ist bekanntlich
in vielen Bereichen bereits geschehen. In anderen Bereichen steht es aber noch aus. Ich habe Verständnis für den
Unwillen all derer, die sich auf die veränderten Bedingungen eingestellt haben und nun wollen, dass der Gesetzgeber entsprechend handelt. Wir müssen aber auch
die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Es gibt noch Übergangsprobleme. Weil es also offensichtlich notwendig
ist, haben wir uns darauf geeinigt, die Übergangsregelung nochmals um ein Jahr zu verlängern. Es muss aber
klar sein, dass das Arbeitszeitgesetz ab 2007 ohne Einschränkungen gilt.
({7})
Die Schaffung von Arbeitsplätzen hat - das wissen
wir alle - auch grundlegende Bedeutung für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Der Aderlass
bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in den letzten Jahren hat bei allen Sozialkassen zu massiven Beitragseinbrüchen geführt.
In Zukunft geht es insbesondere darum, dass wir alles
tun, um die gesetzliche Rentenversicherung zu konsolidieren und die Rentenfinanzen wieder auf ein sicheres
Fundament zu stellen. Das wird zu den Hauptaufgaben
der Rentenpolitik in dieser Legislaturperiode gehören.
Ich meine, eine solche Herkulesaufgabe gemeinsam zu
meistern ist auch eine Rechtfertigung für eine große
Koalition. Ich begrüße außerdem, dass wir uns darauf
verständigt haben, trotz der notwendigen Erhöhung des
gesetzlichen Renteneintrittsalters denjenigen, die auf
45 Beitragsjahre kommen, die Möglichkeit zu bieten,
abschlagsfrei in Rente zu gehen, und damit deren Lebensleistung anzuerkennen.
({8})
Herr Minister Müntefering, lassen Sie mich zum Abschluss gewissermaßen unter uns Westfalen noch ein
persönliches Wort sagen.
({9})
Sie haben Ihre Volksschulzeit im Sauerland angesprochen. Sie waren meines Wissens damals auch Messdiener. Ich kann Ihnen versichern: Sie werden in unserer
Fraktion - mich eingeschlossen - wahrscheinlich mehr
Menschen als in jeder anderen Fraktion finden, die auch
zu diesem Kirchendienst bestellt waren.
({10})
Sie haben sich dann für einen parteipolitischen Weg
entschieden, von dem Ihnen vermutlich die Mehrheit der
regelmäßigen Kirchgänger in Ihrer hochsauerländischen
Heimatgemeinde eher abgeraten hätte. Sie haben sich
dann nach 51 Berufsjahren entschlossen, gemeinsam mit
uns Deutschland voranzubringen. Sie haben das in den
letzten Wochen mit großem Einsatz und unter großen
persönlichen Opfern getan, Herr Minister. Wie Sie den
Parteivorsitz verloren und gleichwohl konzentriert und
zielorientiert mit uns weiterverhandelt haben, das war
schon stark. Das hat uns beeindruckt, Herr Minister.
({11})
Das Ausmaß an Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Arbeitseinstellung, das Sie dabei gezeigt
haben, stößt in unserer Fraktion auf großen Respekt.
({12})
Sie werden es nie erleben, dass wir solche Charaktereigenschaften als Sekundärtugenden verspotten, Herr Minister.
({13})
Sie haben Ihren guten Willen eindrucksvoll demonstriert. Wir haben ebenfalls guten Willen. Lassen Sie uns
die Arbeit also im Interesse unseres Landes und seiner
Menschen gemeinsam angehen.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Damen und Herren! Die Linke im Bundestag begrüßt ausdrücklich die Angleichung der Regelleistungen beim Arbeitslosengeld II. Dieser Schritt ist längst
überfällig; denn die Lebenshaltungskosten in SachsenAnhalt unterscheiden sich nicht von denen in Hessen
oder Niedersachsen. Die unbegründete Unterscheidung
zwischen Ost und West war für viele Menschen im letzten Jahr auch ein Grund dafür, protestierend auf die
Straße zu gehen.
({0})
Wir hatten damit Recht. Die Montagsdemonstrationen
haben viel in unserem Land verändert, unter anderem
und nicht zuletzt die Zusammensetzung dieses Hohen
Hauses.
({1})
Deshalb ist die Anhebung des Arbeitslosengeldes II in
Ostdeutschland auf 345 Euro dringend geboten, und
zwar rückwirkend zum 1. Januar 2005.
({2})
Die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe war ein richtiger Schritt. Sozialhilfeempfänger sind endlich sozialversichert.
Die Forderung der Sozialverbände und der Arbeitsgruppen war, die alte Sozialhilfe armutsfest zu machen.
Das ist mit Hartz IV nicht erfüllt worden.
({3})
Ein Anspruch auf Würde und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist mit dem staatlich gewährten
Existenzminimum in Höhe von 345 Euro plus Wohnund Heizkosten kaum möglich. Glauben Sie mir, ich
weiß, wovon ich spreche.
({4})
In der alten Sozialhilfe gab es Einmalleistungen, zum
Beispiel für die Schulausstattung eines Kindes oder den
Kauf einer Waschmaschine. Heute verlangt der Gesetzgeber, dass der notwendige Betrag zur Deckung der Kosten angespart wird. Täglich stehen dem Arbeitslosengeld-II-Empfänger zur Verfügung: 88 Cent für das
Frühstück, je 1,57 Euro für Mittag- und Abendessen,
60 Cent für den öffentlichen Nahverkehr, 7 Cent für Telefonate sowie 15 Cent für Sport- und Freizeitveranstaltungen. Sollen unsere Bürgerinnen und Bürger ohne Arbeit lieber die täglichen 34 Cent für Zeitungen und
Zeitschriften oder 34 Cent für den täglichen Café- oder
Kneipenbesuch einsparen?
({5})
- Das wäre eine Möglichkeit. - Verzichteten sie auf Zeitungen und Zeitschriften, dann könnten sie sich nach einem Jahr Handwäsche mit etwas Glück den „Luxus“ einer gebrauchten Waschmaschine leisten.
({6})
Im Koalitionsvertrag steht zu Recht: „Eine Gesellschaft ohne Kinder hat keine Zukunft.“ Diesen Satz
müssen wir aber auch ernst nehmen. Eine Familie aus
meiner Nachbarschaft in der Nähe von Aschersleben
versucht, diesen Anspruch bei ihren fünf Kindern umzusetzen. Bis zum letzten Jahr haben drei von ihnen die
Musikschule besucht. Unter Arbeitslosengeld-II-Bedingungen wäre es vielleicht noch möglich, einem Kind den
„Luxus“ von Busfahrt und Musikunterricht zu gönnen.
({7})
Welches Kind darf es sein? Wie würden Sie entscheiden? Ich sage Ihnen das Ergebnis: Keines der Kinder
geht mehr hin.
({8})
345 Euro plus Wohnkosten reichen nicht aus, um
Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen. Hartz IV
führt zu Existenzunsicherheit, Armut und sozialer Isolation und erzeugt in der Gesellschaft ein Klima der Angst.
({9})
Sozial ist nicht nur, was Arbeit schafft. Man muss davon
auch menschenwürdig leben können.
({10})
Hartz IV sollte Erwerbslose fördern, damit sie wieder in
den ersten Arbeitsmarkt kommen. Hartz IV hat zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber fast nur in der Verwaltung
der Arbeitslosigkeit.
({11})
Das war wohl nicht der Zweck dieser teuren „Jahrhundertreform“.
Die Verdächtigungen von Herrn Clement lenken von
dem Versagen der Reformen ab. Eigentlich wäre eine öffentliche Entschuldigung fällig.
({12})
Stattdessen will die große Koalition Leistungsempfänger
zur Teilnahme an telefonischen Umfragen verpflichten.
Damit höhlt sie die geltenden Rechtsgrundlagen aus.
Das geplante Instrument des Datenabgleichs greift auf
die Methoden der Rasterfahndung zurück.
Politik verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn das gesellschaftliche Problem der Erwerbslosigkeit durch Beschimpfung und Druck auf einkommensschwache und
erwerbslose Menschen gelöst werden soll.
({13})
Zuerst bauen Sie soziale Rechte ab, jetzt schränken Sie
auch noch bürgerliche Freiheitsrechte ein. Das ist das
Gegenteil von „Mehr Freiheit wagen“.
({14})
Die Regierungskoalition will 3,8 Milliarden Euro im
Haushalt der Bundesagentur streichen. Ein Teil dieser
Sparsumme soll durch Kürzung der Rentenbeiträge
erwerbsloser Menschen von monatlich 78 Euro auf
40 Euro erbracht werden. Das ist aber ein Sparen auf
Kosten der zukünftigen Rentenleistungen genau dieser
Menschen.
({15})
Die von Ihnen geplanten Vorhaben, vor allem die Erhöhung der Mehrwertsteuer, bedeuten für Erwerbslose
und einkommensschwache Menschen eine weitere Einschränkung ihres Lebensunterhaltes um bis zu 15 Prozent.
Eine zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik muss
sich an anderen Kriterien messen lassen: Wie kann die
vorhandene Erwerbsarbeit gerecht verteilt werden? Wie
können gesellschaftliche Tätigkeiten, Pflege- und Erziehungsaufgaben zu Feldern der Erwerbsarbeit werden?
Auf diese Fragen ist im Koalitionsvertrag kaum eine
Antwort zu finden.
({16})
Meine Fraktion hält einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für unumgänglich.
({17})
Er ist auch finanzierbar, wenn unter anderem die 1-EuroJobs in reguläre, versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse überführt werden. Es gibt viele soziale, ökologische, kulturelle und sportliche Aufgabenfelder.
Die Linke im Bundestag fordert eine bedarfsgerechte
soziale Grundsicherung, und zwar für jeden Bedürftigen. Eine Kindergrundsicherung muss schnellstmöglich
eingeführt werden. Das ist die wirkliche Alternative zu
Hartz IV.
({18})
Eine Antwort auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit wird die Politik nur mit den Menschen finden.
Eine solche Politik muss sozial gerecht sein und allen
Menschen eine Perspektive bieten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Kollegin Reinke, das war Ihre erste Rede. Herzliche
Gratulation!
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sozial ist, was Arbeit schafft. Unter diesem Slogan haben wir in der vergangenen Zeit Wahlkampf geführt,
aber auch gearbeitet. Auch wenn das in abgewandelter
Form oft das große Anliegen anderer Parteien war, so
stehen wir heute hier im Plenum bei Antritt der neuen
Bundesregierung natürlich dafür, dies in die Tat umzusetzen. Denn Arbeit bedeutet, wie unsere Bundeskanzlerin vorgestern in der Regierungserklärung bereits treffend ausgeführt hat, mehr als Einkommen und Geld für
die Menschen, sie bedeutet auch Erfüllung für die Menschen. Dies ist hier ein entscheidender Gesichtspunkt.
({0})
Wir wollen, dass Arbeit Lebensperspektiven schafft,
den Menschen Sicherheit gibt und ihnen Würde und
Selbstachtung vermittelt. Das ist ein entscheidender
Gesichtspunkt unserer Koalitionsvereinbarung, die wir
getroffen haben. Dies geschah zugegebenermaßen in
schwierigen Verhandlungen, weil wir mit den verschiedensten, vielleicht auch sehr voneinander entfernten politischen Vorstellungen in den Wahlkampf gezogen sind.
Ich bin aber überzeugt, dass wir eine gute Grundlage für
die nächsten vier Jahre gelegt haben, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und damit den Menschen eine bessere Zukunft zu geben. Dies ist auch in
unserem Koalitionsvertrag formuliert. Das bedeutet auch
Sicherheit für die Familien und die Förderung unserer
Kinder durch Bildung sowie Stärkung der Wissenschaft
und damit Chancen für die zukünftigen Entwicklungen
in Deutschland.
Verschiedene Redner der Opposition haben heute
manche Maßnahme bereits der Kritik unterzogen. Deshalb möchte ich einen Punkt aufgreifen. Kollege Niebel
hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise eine Mehrwertsteuererhöhung kontraproduktiv wäre.
({1})
Ich aber bin der Meinung, dass man das nicht vereinzelt
darstellen darf. Wir werden die Mehrwertsteuer anheben, aber gleichzeitig die Lohnnebenkosten um 2 Prozentpunkte senken.
({2})
Die Senkung der Lohnnebenkosten bedeutet eine
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft
und zugleich eine Verbesserung der Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der entscheidende
Gesichtspunkt ist, dass bei uns mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich wohne im Grenzgebiet zu Oberösterreich, wo der Mehrwertsteuersatz bei 20 Prozent liegt.
Ich kann nicht erkennen, dass es dort mehr Schwarzarbeit als bei uns gibt. Man sollte das Ganze vielleicht etwas realistischer betrachten.
Ich erinnere an die letzte Regierungserklärung von
Bundeskanzler Schröder. Es war Wahlkampf und er hat
unser Wahlprogramm - es sah eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte vor bei gleichzeitiger Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von
6,5 Prozent auf 4,5 Prozent des Bruttolohns - mit dem
Hinweis darauf kritisiert, dass die skandinavischen Länder den Arbeitsmarkt offensichtlich besser in den Griff
bekommen haben. In diesem Zusammenhang hat er allerdings vergessen, darauf hinzuweisen, dass die skandinavischen Länder einen Mehrwertsteuersatz von 25 Prozent haben. Lassen Sie uns das ohne Scheuklappen
diskutieren! Wir sollten uns mit dieser Problematik in
den kommenden Gesetzgebungsverfahren intensiv auseinander setzen.
Es wird über das Vorziehen der Beitragszahlung an
die Rentenversicherung um 20 Tage geklagt; dies bedeute eine Mehrbelastung für die Betriebe. Als Selbstständiger kann ich das nachvollziehen. Aber, werte Kollegen von der FDP, was wäre die Alternative gewesen?
Eine Erhöhung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung um 0,5 Prozentpunkte! Leider habe
ich von Ihnen dazu nichts gehört.
({3})
Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Dritten
Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze schaffen wir
wichtige Perspektiven für die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Wesentliche Punkte dieses Gesetzentwurfs
wurden hier schon dargelegt. Wir stärken vor allen Dingen die Chancen für Jugendliche. Dies ist eines der
entscheidenden Kriterien. Bundesarbeitsminister Franz
Müntefering hat bereits auf den Ausbildungspakt hingewiesen. Ich möchte mich der damit verbundenen Aufforderung an die Wirtschaft anschließen. An dieser
Stelle möchte ich den zahlreichen Betrieben, die sich der
Ausbildung verbunden fühlen und zusätzliche Lehrstellen schaffen, aber auch ein Dankeschön sagen. Ihr Tun
bedeutet Zukunftschancen für unsere jungen Bürgerinnen und Bürger. An dieser Stelle wollen wir auch zukünftig ansetzen.
({4})
Es gilt natürlich auch, die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken. In der
Schweiz und in Schweden sind zwei Drittel der über
55-Jährigen erwerbstätig. In Großbritannien sind es
56 Prozent. Bei uns waren es im Jahr 2004 nur knapp
42 Prozent. Das muss uns natürlich nachdenklich stimmen. Vor allen Dingen unter dem Gesichtspunkt des Erfahrungsschatzes, den ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ins Erwerbsleben einbringen, müssen wir die
Situation bei uns verbessern.
Wir werden die Geltungsdauer der Maßnahmen der so
genannten 58er-Regelung verlängern.
({5})
Meines Erachtens sollten wir dabei aber sehr kritisch
vorgehen. Ich halte es hier mit dem Kollegen Dr. Peter
Struck, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, der immer
sagt: Ein Gesetz kommt aus dem Gesetzgebungsverfahren nicht so heraus, wie es hineingegangen ist. Möglicherweise müssen wir über dieses Gesetz noch diskutieren. Denn es kann natürlich nicht sein, dass Großbetriebe
diese Chancen letztendlich nutzen können, während die
Kleinbetriebe den Kürzeren ziehen, weil die Beschäftigten dort bis zum 65. Lebensjahr arbeiten müssen, da die
finanzielle Lage der Betriebe es nicht erlaubt, hohe Abfindungen oder Ähnliches zu zahlen.
({6})
Es geht zwar darum, den Übergang vom Erwerbsleben
zur Rente zu erleichtern, aber die Kosten für die Allgemeinheit sind dabei auch zu berücksichtigen.
({7})
Lassen Sie uns darüber also noch nachdenken.
In diesem Zusammenhang gilt es klarzustellen - das
ist heute bereits in vielfältiger Weise getan worden -,
dass wir es schaffen müssen, die älteren Arbeitnehmer
verstärkt im Arbeitsprozess zu halten. Das entspricht den
Beschlüssen zur Rentenversicherung, die wir im KoaliMax Straubinger
tionsvertrag in den Eckpunkten niedergelegt haben. Das
ist meines Erachtens entscheidend.
Wir stehen dazu, dass vor allen Dingen die Rente sicher ist und dass dies auch im Rahmen der Generationengerechtigkeit gestaltet werden kann. Trotz aller Problematik ist doch festzustellen: Die Rentnerinnen und
Rentner können sich auf das deutsche Rentenversicherungssystem verlassen, auch wenn es natürlich besser
wäre, wenn wir eine höhere Rücklage in der gesetzlichen
Rentenversicherung hätten. Es ist entscheidend, dies
auch in der Zukunft sicherzustellen. Gerade die große
Koalition hat hierfür eine gute Chance. Haben wir bis
Anfang oder Mitte der 90er-Jahre die Rentenpolitik in
der Regel gemeinsam gestaltet, so ist diese Gemeinsamkeit in der Folge, vielleicht aus Wahlkampfgründen, aufgekündigt worden. Wir haben jetzt die große Chance, für
die Renterinnen und Rentner wieder eine gemeinsame
Politik quer über alle Parteien zu betreiben. Ich rufe hier
alle dazu auf, daran mitzuwirken, dass die Rente sicher
ist; denn das höchste Gut für die Rentnerinnen und Rentner ist Sicherheit.
Entscheidend ist nicht immer die Höhe, auch wenn
wir stolz darauf sein können, dass die Einkommenssituation der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland gut
ist. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat festgestellt, dass nur 1,3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner oder der älteren Generation der Sozialhilfe anheim fallen.
({8})
Das ist um 2 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt aller. Darauf können wir stolz sein. Auch das sollten wir
den Menschen hier einmal darlegen.
({9})
Dennoch werden wir sicherlich zusätzlich die kapitalgedeckte Vorsorge stärken müssen.
Ich komme damit zum Schluss. - Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam die Probleme in Deutschland
bewältigen können, wenn wir sie mit dem nötigen Mut
und der nötigen Zuversicht angehen.
({10})
Wichtig ist für mich dabei auch, festzustellen, dass wir
natürlich positiv nach vorn blicken müssen. Den Bedürftigen in unserer Gesellschaft, seien es ältere oder kranke
Menschen, Menschen mit Behinderung oder Sozialhilfeempfänger, können wir nur dann wirklich helfen, wenn
wir Deutschland gemeinsam stark machen, wenn jeder
Einzelne sein Bestes gibt und mit vollem Engagement
dabei ist. Wer ein Herz für mehr Leistung hat, der hat
auch einen längeren Atem für mehr Hilfe.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns die Aufgaben angehen! Ich bin davon überzeugt, auch aufgrund der Verhandlungen zum Koalitionsvertrag und der abgelaufenen
Tage und Wochen, die wir gemeinsam erlebt haben - ich
danke an dieser Stelle ausdrücklich
({11})
dem Bundesarbeitsminister Franz Müntefering für die
großartige Arbeit in der Verhandlungsgruppe; ich durfte
dabei sein -, dass Deutschland nach vier Jahren besser
dastehen wird als jetzt, wenn wir auf dieser Grundlage
und mit diesem Geist die Probleme angehen.
Danke schön.
({12})
Ich erteile Kollegen Markus Kurth, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über weite Strecken dieser Debatte wähnt man sich
nicht im Bundestag, sondern bei einem Wettbewerb der
Zauberer und Illusionisten. Die einen versprechen das
Land, in dem Milch und Honig fließen, wenn man nur
Robin Hood zum politischen Schutzpatron wählt.
({0})
Die anderen - original Müntefering - versprechen ordentlich Brot und Aufstrich; als Instinktsozialdemokrat
wissen Sie, was da ankommt. Aber Sie verursachen ein
derartiges Chaos bei der Finanzierungsarchitektur der
Sozialversicherungssysteme, dass man sich fragen muss,
ob am Ende überhaupt noch ein Knäckebrot übrig bleibt.
Denn was machen Sie? Erstens nehmen Sie eine
Mehrwertsteuererhöhung vor, von der gestern Peer
Steinbrück, Ihr eigener Finanzminister, sagte, sie sei für
die Wirtschaft kontraproduktiv.
({1})
Man muss also gar nicht auf Zitate aus dem Wahlkampf
zurückgreifen; erst gestern ist das von dieser Stelle aus
festgestellt worden. Das heißt, Sie beschränken Wachstum, aber auch Beschäftigung und die Lohnsumme und
damit natürlich die Einnahmen für die Sozialversicherung. Einen Teil von diesem Geld wollen Sie zur Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge verwenden.
Weil das aber nicht komplett reicht, müssen Sie - das
finde ich bedauerlich, liebe Sozialdemokraten - auch die
aktive Arbeitsmarktpolitik ein bisschen ausdünnen, obwohl sie schon zurückgefahren worden ist. Dieses bisschen Geld, diese Steuermittel, packen Sie dann in die
Sozialversicherung.
Gleichzeitig aber nehmen Sie zweitens aus einem benachbarten Zweig der Sozialversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung, Steuern in Höhe von
4,2 Milliarden Euro heraus und produzieren durch die
Mehrwertsteuererhöhung eine zusätzliche Finanzierungslücke von 900 Millionen Euro. Das macht zusammen 0,5 Beitragssatzpunkte.
({2})
Drittens wird die gesetzliche Rentenversicherung,
ein weiterer Zweig der Sozialversicherung, kurzfristig
mit einem Einnahmeausfall von 2 Milliarden Euro belastet, weil Sie nämlich den Rentenversicherungsbeitrag für
die Arbeitslosengeld-II-Bezieher um die Hälfte kürzen.
Viertens. 2007 wird der Rentenversicherungsbeitrag
auf 19,9 Prozent erhöht.
Auf dieses unselige Kuddelmuddel von Geben und
Nehmen setzen Sie dann laut Koalitionsvertrag als mittelfristige Perspektive auch noch die Absicht, den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung einzufrieren. Dazu
sagte am 16. November selbst der damalige CDURentenexperte Andreas Storm - der jetzt ins Bildungsministerium weggelobt wurde, damit er nicht mehr stören kann - ganz klar, dass der Bundeszuschuss weder auf
diesem Niveau noch auf dem Niveau von 2007 eingefroren werden kann.
Auf diese Art und Weise werden Sie die kürzlich vereinbarten Ziele der Niveausicherung der Rente und der
Beitragssatzstabilität nicht erreichen. Das muss man hier
einmal ganz klar feststellen.
({3})
Alles in allem ist das Ganze ein unheimlich grobes
Gefummel. Von Ihren kleinen Schritten gehen letzten
Endes einer vor, einer zurück und zwei Trippelschritte
seitwärts
({4})
und am Ende des Tages kratzen Sie sich am Kopf und
fragen sich, warum Sie nicht vorwärts gekommen sind.
Man findet keine Antwort auf die Kardinalfrage bezüglich der sozialen Sicherung, nämlich das Problem der
zurückgehenden abhängigen Beschäftigung und der zurückgehenden Sozialversicherungseinnahmen. Das ist
das Kernproblem. Da mögen manche sagen, die Minijobs seien dafür verantwortlich. Aber selbst wenn wir
alle Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umwandeln würden, hätten wir in der Erwerbsgesellschaft weiterhin den Trend, dass mehr outgesourct wird, dass es mehr so genannte Ein-MannUnternehmen oder Freelancer gibt,
({5})
dass die Arbeitswelt sich so verändert, dass die Sozialversicherungseinnahmen sinken, weil die abhängige Beschäftigung zurückgeht.
Sie hatten doch zumindest im Ansatz einmal die Erkenntnis, dass die Lohneinkommen sinken und andere
Einkommensarten - Einkommen aus Kapital, Selbstständigkeit, Vermögen, Zinsen, Mieten, Pachten - an Bedeutung gewinnen. Sie selbst, liebe Sozialdemokraten,
haben doch genau darauf die Forderung einer Bürgerversicherung und einer Verbeitragung ebendieser Bestandteile des Volkseinkommens fußen lassen. Von diesen ganzen Überlegungen und Erkenntnissen ist im
Koalitionsvertrag aber überhaupt nichts mehr zu finden.
({6})
Stattdessen setzen Sie auf die Belebung des klassischen
Vollbeschäftigungsmodells, das es so nicht mehr geben
wird. So ehrlich müssen wir sein und das müssen wir
klar sagen.
({7})
Wir als Bündnis 90/Die Grünen haben darauf Antworten.
({8})
Wir sind dafür, die soziale Sicherung über einen stärkeren Steueranteil zu finanzieren, statt ein solches Hin und
Her zu veranstalten. Wir haben die Bürgerversicherung
ganz klar thematisiert. Wir schlagen vor, die Steueranteile zielgerichtet dort einzusetzen, wo sie die größte Hebelwirkung entfalten, nämlich bei den gering Qualifizierten und Niedriglohnbeschäftigten; dort kann eine
Bezuschussung der Sozialversicherungsbeiträge in der
Perspektive die höchste Beschäftigungswirkung entfalten.
Aber wenn Sie schon bei der Finanzierung keine großen Schritte machen können oder wollen, hätte man
doch wenigstens einen kleinen Schritt bei der institutionellen Struktur der Sozialversicherung machen können.
Was meine ich? Ich meine, die einzelnen Zweige der Sozialversicherung wirken unvollständig und nicht wirklich gut zusammen. Nirgends wird das so deutlich wie
im Bereich der Politik für Menschen mit Behinderungen, wo wir im Moment die absurde Situation haben,
dass die Berufsförderungswerke nicht hinreichend von
der Bundesagentur für Arbeit beschickt werden, wodurch wir es versäumen, Menschen mit Behinderungen
eine ordentliche zweite Berufsausbildung zu geben, damit sie wieder einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Erwerbsleben einnehmen können.
Was wir da auf der einen Seite kurzfristig bei der
Bundesagentur einsparen, das werden wir in den nächsten Jahren wegen der Langzeitarbeitslosigkeit dieser
Personen ausgeben müssen; ganz abgesehen von dem
persönlichen Schicksal dieser Menschen. Das ist ein riesiges Problem, bei dem ich mir gewünscht hätte, dass
Sie das angesprochen hätten. Denn ich glaube, dass in
diesem Haus in Bezug auf diese Frage eine relativ große
Einigkeit besteht. Wir haben es kurz vor Ende der letzten
Legislaturperiode als rot-grüne Koalition im Zusammenhang mit dem Bericht der Bundesregierung über die
Lage von Menschen mit Behinderung in einem Entschließungsantrag angesprochen. Ich weiß, dass von der
CDU/CSU Herr Hüppe und andere Kleine Anfragen zur
Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen
in den Beruf gestellt haben. Sie haben uns da ja auch
richtig getriezt und die richtigen Fragen gestellt.
Schließlich vermute ich, dass auch der Kollege Seifert
zustimmen wird. Das heißt, wir hätten die Chance, hier
eine ganz große Koalition für einen kleinen, aber wichtigen Schritt für einige zehntausend Menschen zustande
zu bekommen.
({9})
Lassen Sie uns doch wenigstens versuchen, bei solchen
Punkten den notwendigen Pragmatismus an den Tag zu
legen, wenn man es schon nicht hinbekommt, die wirklich großen Schritte in die richtige Richtung zu tun.
Vielen Dank.
({10})
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/109, Tagesordnungspunkt 8,
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/120,
Zusatzpunkt 8, soll an den Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen abschließend zu dem Themenbereich
Verteidigung. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in diesen Tagen gerade das 50-jährige
Bestehen der Bundeswehr gefeiert. Wir konnten, glaube
ich, gemeinsam feststellen, dass die Bundeswehr hohes
Ansehen in unserer Bevölkerung genießt. Deshalb
möchte ich dies zu Beginn meiner Rede deutlich herausstellen und den Soldatinnen und Soldaten meinen herzlichen Dank sagen, die in 50 Jahren dafür gesorgt haben,
dass Frieden, Freiheit und Sicherheit in unserem Land
gewährleistet werden - und dies teilweise auch in gefährlichen Einsätzen. Deshalb noch einmal mein herzlicher Dank an die Soldatinnen und Soldaten für ihren
Einsatz.
({0})
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen in diesem
Bereich eine gute gemeinsame Grundlage gefunden. Ich
möchte daher meinem Amtsvorgänger, dem Kollegen
Peter Struck, für seine Arbeit und seinen Dienst für unser Land während seiner Amtszeit als Bundesminister
der Verteidigung danken.
({1})
Die Koalitionsvereinbarung ist, denke ich, eine gute
Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik. Die
Bundeswehr befindet sich ja mitten in einem Transformationsprozess. Die Bundeswehr hat in den letzten
15 Jahren den Wandel erfolgreich gestaltet; sie ist zu einer Armee der Einheit und auch zu einer Armee im Einsatz geworden. Sie dient der Friedenssicherung nach innen und nach außen
({2})
und auch dem Ansehen unseres Landes im Ausland. Sie
leistet hier Hervorragendes.
({3})
Das internationale Engagement Deutschlands in den
Vereinten Nationen, in der NATO und in der Europäischen Union entspricht den Interessen und der Verantwortung unseres Landes. Ich möchte hervorheben, dass
die NATO den starken Anker unserer Sicherheits- und
Verteidigungspolitik darstellt. Die Allianz ist eine Wertegemeinschaft; sie ist die Verbindung zwischen Europa
und Amerika. Ich glaube, sie muss weiter ausgebaut und
fortentwickelt werden, weil das die Grundlage auch für
die Sicherheit in unserem Land gewährleistet.
Wir nehmen auch in Europa unsere Verantwortung
wahr, und zwar gemeinsam an der Seite Nordamerikas.
Wir werden diese gemeinsame Position fortentwickeln.
Ich denke, dass die Stärkung der freundschaftlichen Beziehungen zu unseren Verbündeten, insbesondere zu den
Vereinigten Staaten von Amerika, von hoher Bedeutung ist.
Ich will in diesem Zusammenhang hinzufügen: Unser
Land hat den Vereinigten Staaten von Amerika viel zu
verdanken. Ich denke dabei an den Aufbau unseres Landes, an die Berliner Luftbrücke und an die deutsche Einheit. Deshalb ist es richtig, dass die Sicherheit Deutschlands im Bündnis mit den Vereinigten Staaten
gewährleistet wird. Wir werden diesen Weg auch in Zukunft gemeinsam gehen.
({4})
Ein starkes Europa ist der beste Partner für ein starkes
Amerika. Wir brauchen die Fortentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um
im Bündnis wirkungsvoll zusammenzuarbeiten.
Mit der Beteiligung an den Einsätzen der Allianz und
der Europäischen Union zeigt Deutschland Solidarität
mit den Verbündeten und Partnern, wird seiner internationalen Verantwortung gerecht und trägt damit zur Sicherheit des eigenen Landes bei.
Die Veränderung der Lage wird dadurch deutlich,
dass sich auf Grundlage der Beschlüsse des Deutschen
Bundestages die Bundeswehr mittlerweile in Auslandseinsätzen vom Balkan über das Horn von Afrika bis
nach Afghanistan mit über 6 000 Soldatinnen und Soldaten befindet. Dass dies gefährliche Einsätze sind, mussten wir leider Gottes in den letzten Wochen wieder zur
Kenntnis nehmen. Ich glaube daher, dass gerade dieses
Parlament unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren gefährlichen Einsätzen besonders unterstützen muss, weil
sie der Sicherheit unseres Landes dienen.
({5})
In meine Überlegungen beziehe ich ein, dass wir den
Reformprozess weiter politisch begleiten müssen. Aber
wir müssen auch die finanziellen Grundlagen schaffen,
damit diese Einsätze auch in Zukunft gewährleistet werden können. Man kann nämlich nicht verantworten, Soldatinnen und Soldaten in solch gefährliche Einsätze zu
schicken, ohne die finanziellen Grundlagen und die
Grundlagen für Ausbildung und Ausrüstung zu schaffen.
Diese Grundlagen sind aber notwendig, damit solche
Einsätze verantwortet werden können.
({6})
Es ist richtig, dass die Angehörigen der Bundeswehr
und ihre Familien Planungssicherheit brauchen. Deshalb
haben wir in der Koalitionsvereinbarung beschlossen,
dass wir an den getroffenen Stationierungsentscheidungen festhalten. Aber wir brauchen auch ein klares
Bekenntnis zur Situation der Bundeswehr, was ihre Ausrüstung und ihre Positionierung angeht. Deshalb bin ich
froh und glücklich darüber, dass wir gemeinsam beschlossen haben, an der allgemeinen Wehrpflicht festzuhalten.
({7})
Die allgemeine Wehrpflicht hat sich bewährt. Nach
über 50 Jahren Bundeswehr und ihrer positiven Entwicklung kann man feststellen, dass die Verwurzelung
der Bundeswehr mit der Demokratie ein besonderer Aspekt der Wehrpflichtarmee ist. Auch aus diesem Grunde
sollte man an der Wehrpflicht festhalten und sie fortentwickeln.
({8})
Verteidigung bedeutet in der Welt der Globalisierung,
Gefahren von deutschem Territorium fernzuhalten. Deshalb prägen die Einsatzerfordernisse Fähigkeiten, Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehr. Wir gehen diesen Weg konsequent weiter und damit bleibt die
Bundeswehr im internationalen Friedenseinsatz und in
der internationalen Gefahrenabwehr leistungsfähig im engen Zusammenwirken mit unseren Verbündeten
und Partnern.
Das heutige Verständnis von Verteidigung schließt
aber den direkten Schutz Deutschlands vor neuartigen
Bedrohungen wie den internationalen Terrorismus ein.
Die Bundeswehr muss daher ihre Fähigkeiten auch im
Inland bei Katastrophen und zum Schutz Deutschlands
einbringen. Auch in Ansehung der Verhandlungen vor
dem Bundesverfassungsgericht über das Luftsicherheitsgesetz haben wir vereinbart, dass wir, wenn es notwendig ist, in Bezug auf dieses Gesetz eine rechtliche Klarstellung vornehmen, damit derartige Einsätze auf
gesicherter Grundlage verantwortet werden können.
({9})
Darüber hinaus ist es natürlich so, dass die Bundeswehr beispielsweise im Katastrophenschutz und in anderen Notsituationen entsprechende Unterstützung leistet.
Ich will nur kurz erwähnen, dass die Bundeswehr bei
dem Stromausfall im Münsterland selbstverständlich dafür Sorge getragen hat, dass die Menschen in dieser
schwierigen Situation ausreichend Verpflegung hatten.
Zudem wurden beispielsweise Unterkünfte für
400 Menschen zur Verfügung gestellt. 900 Soldaten waren im Einsatz, um dafür zu sorgen, Menschen zu bergen
und Stromerzeugungsaggregate zur Verfügung zu stellen.
({10})
Auch im Bereich der Katastrophenhilfe und der Nothilfe
in unserem Land hat die Bundeswehr wichtige Funktionen.
({11})
Sicherheit umfasst heute ganz neue Dimensionen.
Deshalb brauchen wir grundsätzlich eine sicherheitspolitische Standortbestimmung in Deutschland. Daher haben
wir vereinbart, dass wir im nächsten Jahr ein Weißbuch
vorlegen - denn das letzte Weißbuch stammt aus dem
Jahre 1994 -, womit wir dafür Sorge tragen wollen, dass
die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland vorankommt. Wir wollen darin eine gemeinsame Standortbestimmung vornehmen und zu einem gemeinsamen
Verständnis von Sicherheit und zu einer sicherheitspolitischen Gesamtstrategie kommen. Ich glaube, das ist notwendig. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir ein derartiges Weißbuch vorlegen.
({12})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten genießen zu Recht großes Vertrauen
und Anerkennung. Aus dem Primat der Politik ergibt
sich für uns gegenüber der Bundeswehr die Verpflichtung, eine Politik auf der Grundlage von Verantwortung,
Verlässlichkeit und Gemeinsamkeit zu gestalten. Wir
wollen gemeinsam erfolgreich arbeiten: für Frieden und
Freiheit und für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Jung, zunächst einmal Glückwunsch zur
Übernahme der Befehls- und Kommandogewalt über die
Bundeswehr! Sie haben ein äußerst verantwortungsvolles Amt übernommen. Bei keinem anderen Minister haben Entscheidungen, wie dies bei Ihnen der Fall ist, einen so direkten Einfluss auf das Wohl und auf Leib und
Leben der Menschen, für die Sie Verantwortung tragen.
Deshalb wünsche ich Ihnen im Namen der FDP-Fraktion
für die Ausübung Ihres Amtes stets eine glückliche
Hand.
({0})
Die deutschen Streitkräfte leisten Herausragendes,
nicht nur in Afghanistan oder auf dem Balkan. Die Soldatinnen und Soldaten leisten Herausragendes im Rahmen aller Einsätze im Ausland, aber auch bei ihrem
Dienst in der Heimat, an ihren Standorten in Deutschland. Herr Minister Jung, Sie können sich auf eine vorbildlich funktionierende Truppe verlassen. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr Dank und Anerkennung.
({1})
Es ist erfreulich, dass dieser Dank und diese Anerkennung von einer so großen Mehrheit dieses Hauses geteilt
werden. Unverständlich ist allerdings für uns, wie SPD
und Union beschließen konnten, den Wehrpflichtigen
das Weihnachts- und Entlassungsgeld zu streichen,
({2})
das Weihnachtsgeld der Zeit- und Berufssoldaten zu halbieren oder die bislang steuerfreien Übergangsbeihilfen
der Zeitsoldaten zukünftig zu besteuern. Meine sehr verehrten Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, davon sind jährlich 65 000 Wehrpflichtige, 130 000 Zeitund 60 000 Berufssoldaten, also die gesamten Streitkräfte, betroffen.
({3})
Ich frage Sie: Ist das Ausdruck von Dank und Anerkennung?
({4})
Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages
warnte vor wenigen Tagen eindringlich vor weiteren
Einkommenskürzungen. Er hat festgestellt, dass Wehrpflichtige einen geringeren Tagessold bekommen als
Putzfrauen an Stundenlohn, und der ist wahrlich nicht
hoch. Ist das in den Augen der Regierung Ausdruck von
Dank und Anerkennung?
Herr Minister Jung, Sie haben sich ausdrücklich gegen die Kürzungen gewandt. Dabei haben Sie unsere
volle Unterstützung. Setzen Sie die Rücknahme der Beschlüsse im Sinne der Soldatinnen und Soldaten durch!
({5})
Herr Minister, Sie haben in den letzten Tagen geäußert, wieder mehr Wehrpflichtige einberufen zu wollen.
Dabei haben wir 55 000 Dienstposten und wissen, dass
wir eigentlich kein Geld haben, die Zahl der Stellen auszuweiten. Auch mit den angedachten Kürzungen passt
das nicht zusammen. Die FDP ist der Meinung, dass wir
die Aussetzung der Wehrpflicht brauchen. Sie ist nämlich weder sicherheitspolitisch erforderlich noch gesellschaftspolitisch vermittelbar.
({6})
Wenn heute nicht einmal mehr jeder fünfte pflichtdiensttaugliche junge Mann zum Dienst in der Bundeswehr herangezogen wird, hat das mit Gerechtigkeit nichts mehr
zu tun.
({7})
In Ihrem Koalitionsvertrag steht:
Die Bundesregierung bekennt sich zur Allgemeinen
Wehrpflicht. Diese Dienstpflicht ist nach wie vor
die beste Wehrform.
Wer nach einer Begründung sucht, findet sie nicht. Sie
bleiben sie schuldig. Ich frage mich daher: Ist dies vielleicht deshalb die beste Wehrform, weil Wehrpflichtige
so preiswert zu haben sind oder weil sich die Dienstpflichtigen nicht wehren können, wenn der Sold jahrelang nicht erhöht wird oder plötzlich über die Streichung
des Weihnachtsgelds gesprochen wird? Oder kann man
aus dem Kreis der Wehrpflichtigen leichter den notwendigen Nachwuchs an Zeitsoldaten rekrutieren? Meine
Damen und Herren der Koalition, das ist keine taugliche
Argumentation. Die allgemeine Wehrpflicht war zu Zeiten des Kalten Krieges, als es ausschließlich um die Verteidigung des Landes ging, die einzig richtige Wehrform.
({8})
Wir wissen aber alle, dass diese Zeiten vorbei sind. Die
Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz.
({9})
Deswegen ist diese Argumentation nicht mehr akzeptabel.
({10})
Herr Minister Jung, ich möchte mich noch einmal direkt an Sie wenden. Sie haben in der „Welt“ gesagt:
... die Wehrpflicht ist die Grundlage für unsere demokratische Armee.
Diese Behauptung ist ebenso falsch wie die erste.
({11})
Wie sollen denn die 40 000 jungen Männer, die die Armee in ihrem neunmonatigen Pflichtdienst nur flüchtig
kennen lernen, die Entwicklung und das Selbstverständnis der Bundeswehr bestimmen? Was ist eigentlich mit
den 60 000 Berufs- und den 130 000 Zeitsoldaten? Welchen Einfluss auf die Entwicklung und das Selbstverständnis der Bundeswehr haben nach Ihrer Auffassung
eigentlich die knapp 40 000 Offiziere und 130 000 Unteroffiziere? Wirken sie nicht viel mehr bestimmend als
die Wehrpflichtigen? Unsere Zeit- und Berufssoldaten
sind Staatsbürger in Uniform. Sie leisten allein schon
aufgrund ihrer Anzahl einen deutlich höheren Beitrag
bei der Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft.
({12})
Herr Minister, Sie haben ein neues Weißbuch angekündigt. Das ist in der Tat überfällig; das letzte stammt
aus dem Jahr 1994, auf den Weg gebracht von den Ministern Volker Rühe und Dr. Klaus Kinkel. In den sieben
Jahren der rot-grünen Bundesregierung gab es nur entsprechende Ankündigungen. Das ist eine unverantwortliche Nachlässigkeit. In den letzten zehn Jahren, in den
Jahren des größten Umbruchs in der deutschen Sicherheitspolitik, gab es keinerlei wegweisende Festlegung
der Aufgaben und der Zusammenarbeit der für die Sicherheit verantwortlichen Institutionen im Rahmen einer
umfassenden nationalen Sicherheitsvorsorge. Wir hoffen, dass sich dieser Zustand rasch ändert, und sagen unsere konstruktive Begleitung bei der Erarbeitung des
Weißbuchs zu.
Darüber hinaus geht die FDP-Fraktion fest davon aus,
dass die Bundesregierung in dem Weißbuch auch die
Kriterien für die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Auslandseinsätzen definiert. Das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Wir können nicht jedes
Mal aus dem Bauch heraus entscheiden. Es muss klare
Kriterien geben. Diese müssen sich in dem Weißbuch
wiederfinden.
({13})
In gleicher Weise werden wir die Statusfrage des
Kosovo bei allen Zeitplanungen für den Transformationsprozess hin zu einer gefestigten innenpolitischen
Struktur verfolgen. Nachdem der UN-Sicherheitsrat jetzt
grünes Licht für den Statusprozess gegeben hat, ist es
absolut unerlässlich, dass die Bundesregierung den Statusunterhändler der UN, Expräsident Martti Ahtisaari, in
jeder Weise unterstützt. Sobald es das Umfeld des Einsatzes zulässt, muss die militärische Präsenz reduziert
und die zivile Hilfe erhöht werden. Das Ziel dieser Maßnahme ist, dass wir beim Übergang in demokratische
Strukturen mithelfen.
({14})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz die Verfahrensgrundlage der konstitutiven
Entscheidung des Deutschen Bundestages über Auslandseinsätze der Bundeswehr bleiben soll. Wir, die
FDP-Bundestagsfraktion, sind ohne Wenn und Aber für
die Beibehaltung der Parlamentsarmee. Parlamentsarmee ist kein Selbstzweck. Wenn man sich die Diskussionen im Deutschen Bundestag über Einsätze der Bundeswehr ansieht, kann man sagen, dass noch jede Beratung
zu Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz geführt hat.
({15})
Ich möchte zum Schluss sagen, dass die Ausstattung
und Bewaffnung der Streitkräfte uns schon Sorgen machen. Es ist enttäuschend, welche lapidaren Sätze in der
Koalitionsvereinbarung stehen. Damit ist den deutschen
Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan überhaupt
nicht geholfen; denn nur die Hälfte ihrer Fahrzeuge bietet Schutz gegen Sprengstoff- und Minenanschläge. Damit ist im Übrigen auch dem Heer nicht geholfen, dessen
Ausrüstung weiter veraltet. Einen Silberstreif am Horizont gibt es da nicht. Wir hören wohl die Ankündigungen, dass es eine bestmögliche Ausrüstung der Bundeswehr geben soll, aber leider sehen wir im Augenblick
noch nicht, wie Sie das erreichen wollen. Wir sagen Ihnen klar und deutlich: Den Worten müssen Taten folgen.
Wenn sie das tun, haben Sie die Unterstützung der FDPBundestagsfraktion.
({16})
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion wird die
Bundesregierung auf dem Feld der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik konstruktiv, aber eben auch kritisch
begleiten. Im Mittelpunkt unseres gesamten Handelns
werden die Menschen stehen, unabhängig davon, ob in
Uniform oder in Zivil.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Walter Kolbow, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister, ich
gratuliere Ihnen zu Ihrer Jungfernrede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Es ist auch Ihre erste Rede als Inhaber der Befehls- und
Kommandogewalt. Frau Kollegin Homburger hat das
- wie so häufig, aber leider nicht immer - charmant und
treffend gewürdigt.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion sichert Ihnen, Herr Bundesminister, eine konstruktive, kooperative und gute
Zusammenarbeit zu. Da der frühere Bundesverteidigungsminister und meine Wenigkeit in der SPD-Bundestagsfraktion aufgrund deren Beschlüsse einflussreiche
Ämter ausüben dürfen, ist eine solche Zusammenarbeit
mit der Breite unserer Fraktion auch gewährleistet.
({2})
Ich denke, Frau Kollegin Homburger, dass wir Beschlüsse erst kritisieren können, wenn sie denn gefasst
sind. Der Erste, der sich gegen die Einbeziehung der Bundeswehr in die berühmt-berüchtigte 1 Milliarde Euro, die
bei Einsparungen im öffentlichen Bereich zu erbringen
sind, gewandt hat, war der ehemalige Verteidigungsminister und jetzige Fraktionsvorsitzende. Also kritisieren
Sie uns nicht schon, bevor Sie die Tatsachen kennen.
({3})
Ich denke, Sie müssten dann später sagen: Aha, es ist
doch nicht eingetreten, was ich hier schon als beschlossen dargestellt habe. Bleiben Sie also bitte bei der Wirklichkeit!
({4})
Der Koalitionsvertrag und die Debatte über die Regierungserklärung haben gerade hinsichtlich des sicherheitspolitischen Bereichs deutlich gemacht, dass sich die
Koalitionsparteien mit der Bundesregierung in der Umsetzung der europäischen Sicherheitsstrategie wiederfinden wollen. Denn sie verbindet eine vorausschauende
Friedenspolitik, Fähigkeiten zur Prävention und das Setzen auf Verhandlungslösungen bei Konflikten mit dem
Ausbau der Fähigkeiten zu gemeinsamen militärischen
Handlungen.
Dabei stellt sich die Frage: Welchen globalen sicherheitspolitischen Bedrohungen sehen wir uns heute gegenüber und wie müssen wir vor diesem Hintergrund
- allerdings nicht aus dem Bauch heraus, Frau Kollegin
Homburger - in verantwortlicher Weise unsere parlamentarischen Entscheidungen treffen, wenn es um Auslandseinsätze geht?
Deswegen, denke ich, ist es ganz wichtig, dass wir
uns bewusst sind, dass der Generalsekretär der Vereinten
Nationen, Kofi Annan, fünf wesentliche Gruppen von
Bedrohungen identifiziert hat: Armut, Seuchen und
Umweltzerstörung, international organisierte Kriminalität, zwischenstaatliche und innerstaatliche Konflikte,
Massenvernichtungswaffen und ihre illegale Verbreitung
sowie den internationalen Terrorismus. Das ist mit dem
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu verbinden,
wenn es denn notwendig ist.
Auch denke ich, dass die neue Fraktion in diesem
Hause, wenn wir über UNMIS entscheiden - wie es also
im Süden des Sudans weitergehen soll -, überprüfen
muss, wo sie steht, wenn es darum geht, Menschen auch
mit militärischen Maßnahmen zu helfen und sie zu retten.
({5})
Wir sind auch hier im Parlament weite Wege gegangen, um zu solchen Entscheidungen zu kommen.
Aus militärpolitischer, aber auch aus sicherheitspolitischer Sicht sind die wesentlichen Bedrohungen die
durch den internationalen Terrorismus, durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie durch
zwischenstaatliche und innerstaatliche Konflikte. Sie
müssen genau analysiert werden, bevor wir unsere Entscheidungen treffen. Das haben wir auch getan und aus
den neuen Bedrohungslagen Schlussfolgerungen gezogen.
Die deutsche Antwort ist anhand der drei Grundpfeiler unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik plakativ zu erläutern: Deutsche Sicherheitspolitik
ist umfassend, multinational und präventiv. Im Zeitalter
der Globalisierung sind Sicherheit und Verteidigung
nicht mehr geographisch und inhaltlich einzugrenzen.
Die neuen Bedrohungen und Herausforderungen machen
es erforderlich, die Gewährleistung von Sicherheit nicht
allein auf polizeiliche oder militärische Mittel zu stützen.
Unser neues sicherheitspolitisches Umfeld verlangt in
zunehmendem Maße nach Antworten, die den vielfältigen, oft nicht militärischen Ursachen von Gewalt und Instabilität gerecht werden, und nach Antworten, die dem
genannten Bedrohungs- und Risikospektrum entsprechen und sowohl zur Prävention und zur langfristigen
Entschärfung von Bedrohungen unserer Sicherheit wie
auch zu ihrer unmittelbaren Bekämpfung beitragen.
Ich denke, dieser umfassende deutsche Ansatz, den
wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen
Fraktion, miteinander erarbeitet haben, begegnet nicht
lediglich den Symptomen von Konflikten, sondern er
setzt an ihren Wurzeln an. Es kommt also nicht allein
darauf an, terroristische Taten zu verhindern, sondern
auch darauf, dem Heranwachsen neuer Täter vorzubeugen. Dazu gehören - denn im Weiteren wäre es immer
möglich, Streitkräfte einzusetzen - auch die Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit,
({6})
die Verbreitung von Menschenrechten und demokratischen Werten - das hat der Kollege Weisskirchen gestern
in seiner beeindruckenden Rede zum Schluss der außenpolitischen Debatte dargestellt ({7})
wie auch die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe.
Bei der Umsetzung benötigen wir alle, Frau Kollegin
Homburger, natürlich Einfühlungsvermögen. Wir sind
immer sehr stark mit unseren Emotionen dabei. Aber wir
brauchen natürlich auch ein umfassenderes Verständnis
fremder Kulturen und Religionen; denn wir müssen alles
Belehrende vermeiden. Auch das haben unsere Soldatinnen und Soldaten im Rahmen ihrer Auslandseinsätze unter Beweis gestellt. Sie waren nicht nur Botschafter, sondern sie haben auch zivil-militärische Zusammenarbeit
praktiziert, dadurch Eigenschutz betrieben, Bedrohungen vermindert und dem Land und den Leuten geholfen.
Das ist beeindruckend und verdient Dank und Anerkennung.
({8})
Meine Damen und Herren, auch der zweiten Säule
unserer Sicherheitspolitik, dem Handeln im multinationalen Rahmen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit
widmen. Krisenbewältigung einschließlich der Verhütung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus
kann aus unserer Sicht am nachhaltigsten unter dem
Dach und mit der Mandatierung der Vereinten Nationen,
von NATO, Europäischer Union und OSZE sichergestellt werden.
Die Reform der Vereinten Nationen muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Denn die Vereinten Nationen sind die einzige politische Institution mit
universellem Charakter; sie haben das Gewaltmonopol.
Laut der Charta der Vereinten Nationen trägt ja der Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung
des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.
Herr Kollege Gysi, sie haben gestern das Völkerrecht
apostrophiert. Ich respektiere das. Aber bei Entscheidungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist es
doch nichts anderes als das Völkerrecht, das eine Rolle
spielt, und dem haben auch wir uns verpflichtet.
({9})
Ich denke, dass Sie sich zu Herzen nehmen sollten, was
Heribert Prantl in Bezug auf Sie gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben hat:
dass man eine Linkspartei nicht mit gehobenem
Schabernack repräsentiert.
Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit Militärbeobachtern an den UN-geführten Beobachtermissionen in
Georgien, Äthiopien und Eritrea sowie im Sudan, bei der
in diesen Tagen eine Verlängerung des Mandates ansteht. Zu den schon angesprochenen UN-mandatierten
Einsätzen SFOR und KFOR leistet die Bundeswehr
maßgebliche Beiträge. Ich unterstütze, was Sie gesagt
haben zum Einflussnehmen auf die redlichen und wichtigen Bemühungen des UN-Beauftragten dort, des ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten. Auch bei ISAF in
Afghanistan leisten wir maßgebliche Beiträge - im
Sinne und unter Ausgestaltung ebendes Völkerrechtes.
Herr Minister, bei dem, was Sie zur NATO und zur
Europäischen Union gesagt haben, bin ich mit Ihnen
ganz auf einer Linie. Ich denke, dass der Besuch der
Bundeskanzlerin bei der NATO, bei Generalsekretär
de Hoop Scheffer - am ersten Tag ihrer Auslandsreisen nicht nur ein gutes und richtiges Signal war, sondern
dass das auch zum Ausdruck gebracht hat, dass wir nicht
nur bündnisfähig, sondern auch im Bündnis aktiv und
verantwortungsbereit sind.
({10})
Die aktuellen Diskussionen über die NATO der
Zukunft - wir erinnern uns an die Münchener Sicherheitskonferenz vom Februar 2005 - zeigen, dass auch bei
unseren Freunden und Alliierten unbestritten ist, dass
Handlungsbedarf zur Wiederbelebung des politischen
und strategischen Dialogs in der NATO besteht. Auch in
der Nordatlantischen Versammlung werden wir sicherlich daran arbeiten und damit auch das transatlantische
Bündnis, die transatlantischen Beziehungen EuropaUSA, Deutschland-USA auf eine richtige Basis stellen.
Die Beschlussfassungen der Koalitionsfraktionen und
der Bundesregierung weisen hier den richtigen Weg.
NATO und EU sind keine Gegensätze, sondern ergänzen
sich. Die EU kann weiterhin zentrale Beiträge zur Bewältigung der sicherheitspolitischen Herausforderungen der
Zukunft leisten.
Die dritte Säule deutscher Sicherheitspolitik besteht
in der Prävention von Konflikten. Wenn wir sie mit
Engagement und politischem Willen betreiben, wird sie
zum Ergebnis haben, dass wir hier im Parlament nicht zu
häufig über Auslandseinsätze debattieren müssen, sondern dass durch die Qualität unserer präventiven Politik
auf allen Ebenen gewährleistet wird, dass der Einsatz
militärischer Mittel die Ultima Ratio bleibt. Ich darf
deshalb auch noch einmal an den von der alten Bundesregierung im Mai 2005 verabschiedeten Aktionsplan
„Zivile Krisenprävention und Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ erinnern, der unseren Willen, dass
präventive Maßnahmen Vorrang haben, unterstreicht.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen - bei Beibehaltung des Kernauftrages Landesverteidigung - die Transformation der Bundeswehr. Sie garantiert am besten gut vorbereitete, ausgebildete und
ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten, die in den Bündnissen und in Zusammenarbeit mit der internationalen
Staatengemeinschaft ihre Aufgaben für den Frieden in
der Welt erfüllen und die sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern. Wir sind auf
diesem Weg an Ihrer Seite und an der Seite der Bundesregierung.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! In knapp 30 Tagen
geht das von der alten Bundesregierung ins Leben gerufene Einsteinjahr zu Ende. Wir haben in diesem Jahr
schöne, interessante und nachdenkenswerte Zitate von
Einstein gelesen, so am Kanzleramt, am Bundespresseamt und jetzt am Berliner Fernsehturm. Ich hätte mir gewünscht, an der Fassade des Kanzleramtes folgendes
Zitat des großen Gelehrten lesen zu können:
Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir die
Kräfte, die ein Krieg entfesselt, für den Aufbau einsetzten.
({0})
Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes
wären ausreichend, um den Menschen aller Länder
zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen
und die Katastrophe der Arbeitslosigkeit zu verhindern.
Paul Schäfer ({1})
({2})
Das klingt idealistisch. Inzwischen liegen die weltweiten Militärausgaben wieder über 1 Billion US-Dollar. Knapp die Hälfte davon entfallen auf die USA, zwei
Drittel auf die NATO-Staaten insgesamt. Das ist ein riesengroßer Brocken, der der Lösung der Probleme des
21. Jahrhunderts im Wege steht. Es wäre wichtig, solchermaßen fehlgeleitete Ressourcen endlich auf soziale,
ökologische und entwicklungspolitische Zwecke zu konzentrieren.
({3})
Ich fürchte, dass auch diese Bundesregierung meinen
Wunsch nach diesem schönen Graffiti nicht erfüllen
wird; denn Abrüstung steht bei ihr nicht auf der Agenda.
Sie, Herr Verteidigungsminister, haben uns ja bereits
vorgewarnt, dass Sie für die mögliche Ausweitung von
Bundeswehreinsätzen noch mehr Geld als bisher geplant
benötigen. Dieses Geld wollen Sie aber nicht aus Ihrem
Etat aufbringen, sondern Sie wollen, dass das zulasten
anderer Haushalte geht. Sie sollten der Öffentlichkeit
rechtzeitig sagen, zu wessen Lasten die Finanzierung der
noch höheren Rüstungsausgaben gehen soll. Die Linke
bleibt dabei: Aufrüstung ist mit uns nicht zu machen.
Wir stehen für Rüstungsminderung.
({4})
Doch bevor wir über Geld reden, sollten wir über das
Wozu sprechen. Bundespräsident Köhler hat auf der
Kommandeurstagung im Oktober zu einer solch breiten
gesellschaftlichen Debatte über Sicherheitspolitik und
Sicherheitsstrategie aufgefordert. Der pensionierte Viersternegeneral Klaus Reinhardt hat in diesem Rahmen
eine, wie ich finde, spitze These geliefert - ich darf zitieren -:
Mit Ausnahme von Osttimor und Mazedonien kann
keiner der Auslandseinsätze, an denen die europäischen Soldaten beteiligt waren, als Erfolg bezeichnet werden.
({5})
Der Mann weiß bestimmt, wovon er redet.
({6})
Anstatt einfach immer nur weiterzumachen, sollte uns
eine solche Aussage zu gründlichem Nachdenken zwingen.
Meine Damen und Herren, für die Fraktion Die Linke
gilt: Erstens. Die Streitkräfte sind gemäß § 87 a Grundgesetz zum Zwecke der Verteidigung des Landes aufgestellt. Der Hindukusch gehört nicht zum deutschen
Staatsgebiet.
({7})
Zweitens. Die Bundesrepublik Deutschland hat globale Verantwortung wahrzunehmen. Ich frage mich nur:
Warum kommen Sie in diesem Zusammenhang immer
gleich auf Soldaten?
({8})
- Darauf komme ich noch zu sprechen.
Drittens. Richtig ist, dass der Terror, Terrorgruppen
und Terrornetzwerke bekämpft werden müssen. Aber der
von der Bush-Regierung ausgerufene unbegrenzte Krieg
gegen den Terrorismus hat in eine Sackgasse geführt und
ist zum Scheitern verurteilt.
({9})
Bei Peter Scholl-Latour können Sie nachlesen, dass in
vielen muslimischen Haushalten inzwischen das Bild
des Kapuzenmanns von Abu Ghureib aufgehängt ist gleichsam das Menetekel an der Wand. Abu Ghureib,
Guantanamo, die Brandbomben von Falludscha - der
dümmste Krieg seit Augustus -: Das wirft nicht nur einen Schatten auf den Antiterrorkampf - so mögen Sie
das vielleicht empfinden -, das ist entschieden mehr, das
kommt eher Geschenken an al-Qaida gleich.
({10})
Es ist eine Selbsttäuschung der Bundesregierung, man
könne neben diesem Krieg mit all seinen schmutzigen
Komponenten einen sauberen Job als Entwicklungs- und
Aufbauhelfer verrichten. Ich denke, man muss zu diesem
Krieg „gegen das Böse in der Welt“ unmissverständlich
auf Distanz gehen. Das hat nichts damit zu tun, auf eine
Zerrüttung des transatlantischen Verhältnisses hinauszuwollen, wie das der Kollege Schockenhoff vorgestern
meinte. Es muss uns vielmehr darum gehen, die transatlantischen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen, nämlich auf die Grundlage eines kooperativen Multilateralismus und der Beachtung des Völkerrechts.
({11})
Das muss im Übrigen dann aber auch für die Bundesregierung gelten. Beim Jugoslawienkrieg war das nicht
der Fall. Man hat sich nicht darauf bezogen.
Viertens. Wir wenden uns dagegen, dass den Streitkräften immer mehr Aufgaben zugeschrieben werden,
für die sie nicht gemacht sind und für die sie keine Lösung bringen können. In diesem Zusammenhang sage
ich: Lassen Sie strikt die Hände von einer Ausweitung
des Einsatzes von Streitkräften im Innern. Bombenattentate wie in London und Madrid sind durch Panzer
nicht zu verhindern.
({12})
Ich nenne noch zwei andere Beispiele:
Erstes Beispiel, die ALTHEA-Mission in Bosnien.
Die Bundeswehr geht dort gegen Holzdiebstahl vor und
ist dort mit Brückenbau beschäftigt. Ich frage mich: Warum werden dort nicht Aufträge an regionale Unternehmen vergeben, um die dortige Wirtschaft auf die Beine
zu bringen?
({13})
Paul Schäfer ({14})
Herr Minister, Sie haben in diesem Zusammenhang
jetzt selber eingeräumt, dass man überprüfen müsse, ob
man diese Auslandseinsätze umstrukturieren könne, weil
es nicht sein dürfe, dass die Bundeswehr quasi die Funktionen einer Hilfspolizei übernehme. Diese Spur sollten
Sie weiterverfolgen. Wir werden in diesem Sinne beantragen, die militärische ALTHEA-Mission zu beenden
und in eine internationale Polizeimission umzuwandeln.
({15})
Zweites Beispiel. Laut Koalitionsvertrag soll die Bundeswehr bei der territorialen Absicherung der Grenzen
des Bündnisgebietes helfen. Das ist interessant. Glauben Sie wirklich, dass sich das Problem des Zuwanderungsdrucks mit dem sechs Meter hohen Zaun von Melilla, den elektronischen Überwachungssystemen von
Andalusien und den Fregatten und Schnellbooten der
NATO lösen lässt? Ich glaube nicht.
({16})
An anderer Stelle hat sich die Bundeswehr als hilfreich erwiesen. Ich danke den Soldatinnen und Soldaten,
die Hilfsgüter für die Erdbebenopfer nach Pakistan gebracht haben. Angesichts der 400 000 Menschen, die
dort noch immer ohne Unterkunft sind, möchte ich die
Bundesregierung dringend bitten, ihr Engagement dort
zu verstärken.
({17})
Wir regen in diesem Zusammenhang an, die vorhandenen Kapazitäten und Fertigkeiten der Bundeswehr auszugliedern und in einem zivilen Katastrophenhilfskorps
zu bündeln.
Meine Damen und Herren, ich wollte noch etwas zur
Bundeswehrreform und den aktuellen Zahlen sagen, die
deutlich machen, dass von einer Wehrgerechtigkeit überhaupt keine Rede mehr sein kann. Deshalb sollte die
Wehrpflicht endlich und unwiderruflich aufgehoben
werden.
Lassen Sie mich mit einem Ceterum censeo schließen, das wir Ihnen in den nächsten Monaten nicht ersparen können und immer wieder einbringen werden: Die
Atomsprengköpfe in Büchel und Ramstein sind unverzüglich abzuziehen und zu zerstören.
({18})
Gerade mit Blick auf die bedrohlichen Entwicklungen
im Iran füge ich hinzu: Wer Nuklearwaffen besitzt oder
wer nukleare Teilhabe praktiziert, der kann von anderen
schlecht nukleare Enthaltsamkeit fordern. Sowohl im
Nahen Osten als auch bei uns führt der Weg hier nur
über die allgemeine Abrüstung.
Ich bedanke mich.
({19})
Herr Kollege Schäfer, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation dazu.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Minister Jung, als Oppositionsfraktion
wünschen wir Ihnen als neuem Verteidigungsminister,
der Sie eine ganz besondere Verantwortung unter den
Ministern haben, eine glückliche Hand für eine Politik
der Gewaltverhütung und Gewalteindämmung im
Dienste kollektiver Sicherheit.
({0})
Auch als so genannte Einsatzarmee ist und bleibt die
Bundeswehr weiterhin eine Parlamentsarmee. In der
Koalitionsvereinbarung ist ein Prüfauftrag formuliert
worden: Sollte sich angesichts neuer Erfahrungen ein
- Zitat - „Bedarf zur Weiterentwicklung ergeben, so
werden die Koalitionsfraktionen Initiativen einbringen“.
Das ist zunächst eine Selbstverständlichkeit.
Zugleich muss ich aber von Vornherein klarstellen:
Die Überprüfung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
darf nicht zum Einfallstor für die Unionsforderung aus
der letzten Legislaturperiode werden, nämlich die Parlamentsbeteiligung im Falle der NATO Response Force
zu lockern. Würden solche potenziell härtesten und riskantesten Einsätze der Bundeswehr vom Parlamentsvorbehalt ausgenommen, so wäre die Parlamentsbeteiligung
im Mark getroffen.
({1})
Ich gehe davon aus und hoffe, dass eine übergroße
Mehrheit des Bundestages eine solche Selbstentmachtung des Bundestages nicht mitmachen würde.
({2})
Zur anderen Seite des Hauses, zur Fraktion Die
Linke, sage ich: In Sachen Friedens- und Sicherheitspolitik sind wir als grüne Fraktion ausdrücklich an einer
ernsthaften und echten Auseinandersetzung mit Ihnen
und selbstverständlich auch mit den anderen Fraktionen
interessiert. Die Herausforderungen auf diesem Feld
sind inzwischen allerdings so groß und dynamisch, dass
wir es uns ersparen sollten, allzu viel aneinander vorbeizureden.
({3})
Gestatten Sie deshalb ein paar grundsätzliche Klarstellungen, die ich bereits in der vorherigen Legislaturperiode von diesem Platz aus schon häufiger gemacht
habe. Aber zu Beginn einer Legislaturperiode ist eine
Wiederholung angebracht:
Erstens. In der Tat wird nach unserer Auffassung
Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt. Dort geht
es gerade um zentrale und kollektive Sicherheitsinteressen und auch um zentrale europäische und deutsche
Sicherheitsinteressen, aber nicht um die Existenz der
Bundesrepublik und nicht um die Wahrnehmung eines
nationalen Selbstverteidigungsrechts Deutschlands. Das
ist die erste Klarstellung.
Zweitens. Einsätze bewaffneter Streitkräfte dürfen
ausschließlich auf Grundlage der Verfassung und des
Völkerrechts erfolgen. Laut Grundgesetz und Urteil des
Bundesverfassungsgerichts von 1994 darf die Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung nur im Rahmen
von Systemen kollektiver Sicherheit zum Zweck der
Friedenssicherung und der Durchsetzung internationalen
Rechts eingesetzt werden. Mit anderen Worten: nur für
Ziele der Vereinten Nationen und nach den Regeln der
Vereinten Nationen.
({4})
Es gilt die Präambel der Vereinten Nationen - es ist
wichtig, sie immer wieder einmal durchzusehen -: Erstens. Krieg ist eine Geißel der Menschheit. Zweitens. Es
gilt das Gebot der internationalen Friedenssicherung und
des internationalen Gewaltverbots. Drittens - auch das
steht in der Präambel -: Waffengewalt ist nur im gemeinsamen Interesse zulässig.
Nun zum Koalitionsvertrag und dem, was in Zukunft
nötig ist: Die Bundeskanzlerin will mit der großen
Koalition mehr Freiheit wagen. In Sachen Wehrpflicht
tun Sie genau das Gegenteil.
({5})
Mit schwachen Argumenten halten Sie an einer Grundrechtseinschränkung fest, die vor allem von den betroffenen jüngeren Menschen in keiner Weise mehr nachvollzogen werden kann.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom ehemaligen
Koalitionspartner SPD, mehr Demokratie wagen erscheint in diesem Bereich genau entgegengesetzt. Eine
innerparteiliche Willensbildung zu dieser Streitfrage
wurde zunächst vertagt, dann noch einmal vertagt und
anschließend auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
({7})
Inzwischen haben wir mehr als zehn Jahre Erfahrung
mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr und mit deutschem Engagement in Krisenregionen insgesamt. Angesichts wachsender Ernüchterung in den letzten Jahren ist
eine große und umfassende Zwischenbilanz und Auswertung dieses Engagements angesagt. Was wurde erreicht, was wurde nicht erreicht? Wo gab und gibt es
gute Ansätze, wo Lücken?
Eine solche Bilanzierung ist die notwendige Voraussetzung für eine deutsche Sicherheitsstrategie. Auf der
europäischen Ebene haben wir inzwischen ein solches
strategisches Dokument. Auf der Ebene der Vereinten
Nationen - Kollege Kolbow hat das angesprochen - gibt
es mit dem Bericht von Kofi Annan und der High Level
Group ebenfalls Dokumente strategischer Dimension.
Aber auf deutscher Ebene fehlt ein solches Dokument.
Das müssen wir angehen. Eine solche Sicherheitsstrategie ist notwendig, um einen klareren außen- und sicherheitspolitischen Kurs zu fahren. Sie ist auch für mehr
Kohärenz und Transparenz notwendig.
In den letzten Jahren hat es aus nachvollziehbaren
Gründen eine regelrechte Entgrenzung deutscher Sicherheitspolitik gegeben. Ich glaube, jetzt ist es angesagt,
sich über neue Grenzen zu verständigen.
({8})
- Nein. Sie waren bei den verteidigungspolitischen Debatten in der letzten Legislaturperiode möglicherweise
nicht dabei. Das ist regelrecht ein Mantra von mir. Das
ist keine neue Erkenntnis.
Zur Abrüstung: Dabei hat natürlich auch die Frage
der nuklearen Teilhabe einen besonderen Stellenwert. In
der Tat ist die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik
völliger Unsinn und lässt sich nicht mehr begründen.
({9})
Eine umfassende, auf Gewaltvorbeugung ausgerichtete Sicherheitspolitik braucht Fähigkeiten, die am
Bedarf orientiert und ausgewogen sind. Bei den Beschaffungen der Bundeswehr sind - angefangen bei der
dritten Tranche des Eurofighter - erhebliche Korrekturen nötig und möglich.
Sicherheitspolitik, die wirksam und gleichzeitig Friedenspolitik sein soll, erfordert vor allem bessere Fähigkeiten zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und
Friedenskonsolidierung. Hier sind in den vergangenen
sieben Jahren sehr wichtige Fortschritte erzielt worden.
Es war eine ausdrückliche Erleichterung, festzustellen,
dass im neuen Koalitionsvertrag die Umsetzung des
Aktionsplans zur Zivilen Krisenprävention angekündigt wird.
({10})
Vor der Rede des Kollegen Kolbow musste ich feststellen, dass kein anderer Redner der großen Koalition
dazu Stellung genommen hat. Es ist eine weitere gewisse
Erleichterung, dass wenigstens Sie diesen Punkt betont
haben.
Im Koalitionsvertrag wird die Vorlage eines Weißbuchs versprochen. Das ist zu begrüßen. Kanzlerin
Merkel verspricht eine umfassende Diskussion. Dies ist
richtig, aber die Diskussion darf nicht wieder im Nachhinein stattfinden, wie es in der Vergangenheit immer
wieder der Fall war. Die Diskussion muss stattdessen die
Erarbeitung des Weißbuchs begleiten.
({11})
Herr Kollege Nachtwei, Sie müssen bitte zum Ende
kommen.
Ich komme jetzt zum Schluss. - Denn nur mit einer
solchen breiten sicherheits- und friedenspolitischen Debatte können wir der zunehmenden Abkehr von einer
Politik internationaler Verantwortung in der Bevölkerung entgegenwirken. Den „freundlich Desinteressierten“, wie es der Bundespräsident formuliert hat, in der
Gesellschaft, aber auch in der Politik sollten wir deutlich
machen, dass es hierbei um nicht weniger als die Frage
des Verhältnisses der Bundesrepublik zu Krieg und Frieden geht.
Danke schön.
({0})
Ich erteile Kollegen Bernd Siebert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einem Dank beginnen. Ich möchte den Soldatinnen und Soldaten und den vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meinen ausdrücklichen Dank
für 50 Jahre erfolgreicher Arbeit der Bundeswehr aussprechen.
({0})
Die Geschichte der Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte der Streitkräfte in der Demokratie. Als Armee
des Volkes gewährleistet sie nach wie vor die Landesund Bündnisverteidigung in einem sicherheitspolitisch
veränderten Umfeld. Als Armee des Friedens leistet sie
tagtäglich wertvolle Arbeit bei der internationalen Krisenbewältigung und Konfliktbegrenzung im Ausland.
Als Armee der Wehrpflicht hat sie im Bündnis und auch
in der deutschen Bevölkerung Vertrauen geschaffen.
({1})
Als Armee der Einheit hat sie die Integration zwischen
Ost und West überaus erfolgreich bewältigt.
Generationen von Berufs- und Zeitsoldaten wie auch
von Wehrpflichtigen haben dazu ihren ganz persönlichen
Beitrag geleistet. In diesem Sinne danke ich unserer
Bundeswehr für fünf Jahrzehnte Dienst an den Menschen und Frieden in der Welt.
({2})
Zu diesem Zeitpunkt die Verantwortung im Verteidigungsministerium zu übernehmen, um an entscheidender Stelle die Erfolgsstory der Bundeswehr fortzusetzen,
ist eine besondere Herausforderung. Deshalb gratuliere
ich dem neuen Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Franz Josef Jung, herzlich zu seiner Ernennung und
wünsche ihm bei all seinen Entscheidungen eine glückliche Hand und viel Erfolg.
({3})
Die CDU/CSU-Fraktion wird dabei trefflich mithelfen.
Die Bundeswehr ist auf dem schwierigen Weg der
Transformation ein gutes Stück vorangekommen. Aber
es bleibt noch viel zu tun. Die Angehörigen der Bundeswehr haben nicht immer hinreichend das Gefühl, dass
sie mit ihrem Fachwissen ernst genommen werden. Externer Sachverstand kann langjährige Erfahrung nur begrenzt kompensieren und schon gar nicht ersetzen. Hier
dürfen wir die Motivation unserer hoch qualifizierten
Mitarbeiter nicht ohne Not aufs Spiel setzen.
Auf der anderen Seite müssen sich die Angehörigen
der Bundeswehr stärker als bisher mit den Reformen in
der Bundeswehr identifizieren. Nicht überall ist die Bereitschaft zum Umbruch in befriedigendem Maße vorhanden. Wir müssen dieses Vertrauen auch gewinnen,
indem wir ein Ziel definieren, das die Bundeswehr erreichen soll. Deshalb ist das Weißbuch, von dem Dr. Franz
Josef Jung vorhin gesprochen hat, dringend notwendig.
Die Privatisierung von Leistungen, die nicht zu den
Kernfähigkeiten zählen, sollte im Lichte bereits gemachter Erfahrungen vorangetrieben werden. Es geht dabei
um Effizienzgewinne für die Streitkräfte, die Konzentration auf die Kernfähigkeiten und die Entlastung der Bundeswehr von einsatzunterstützenden Aufgaben. Das sind
nach unserer Auffassung die Grundlagen und der Maßstab für Privatisierungen.
Wir müssen aufpassen, dass die Bundeswehr nicht
zum Spielball finanzpolitischer Engpässe wird. Die
Bundeswehr hat wie kaum eine andere Organisation in
den vergangenen Jahren Einsparungen erbracht. Ihre
Mitarbeiter haben dafür viele Entbehrungen, wie Versetzungen oder Einschnitte in ihre persönliche Lebensführung, hinnehmen müssen, von denen weite Teile unserer
Gesellschaft nicht betroffen sind. Dies bedeutet aber
auch, dass im Verteidigungshaushalt nicht weiter gestrichen werden kann. Wer dies tut, riskiert die Motivation
der Soldatinnen und Soldaten sowie der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr.
({4})
Deshalb sage ich ganz deutlich: Eine Streichung des Urlaubs- und des Entlassungsgeldes für Wehrpflichtige
halte ich für nicht akzeptabel.
({5})
Wenn ernsthaft darüber diskutiert wird, rund 172 Euro
Weihnachts- und rund 690 Euro Entlassungsgeld für
junge Menschen einzusparen, denen wir ein persönliches
Opfer, nämlich die Wehrpflicht, abverlangen, dann kann
ich nur sagen: Dies ist nur sehr schwer hinnehmbar. Ich
werde mich deshalb mit aller Kraft dafür einsetzen, dass
es dazu nicht kommen wird.
({6})
Wir werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr
auch in Zukunft parlamentarisch begleiten, und zwar
auch kritisch. Wer unsere Männer und Frauen einem Risiko für Leib und Leben aussetzt, muss ihnen das beste
Material zu ihrem Schutz an die Hand geben. Dazu gehört auch eine optimale Ausbildung für die Erfüllung ihres Auftrages. Dies zu gewährleisten ist eine wesentliche
politische Verantwortung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Wer als Soldat in einen Einsatz geschickt wird, muss wissen, wofür. Ein an deutschen Sicherheitsinteressen orientierter Auftrag ist damit eine
wichtige Voraussetzung für künftige Einsätze. Wer in
Einsätze geht, muss sicher sein können, dass sein Auftraggeber, das Parlament, für seine soziale Absicherung
im Falle eines ungünstigen Ereignisses sorgt. Auch dies
ist eine wichtige politische Verantwortung der Parlamentarier. Wer in Einsätze geht, muss eine Ausstiegsoption
haben. Hier ist die Politik in besonderem Maße gefordert.
Mandatserteilungen dürfen nicht einem Automatismus folgen, sondern müssen das Ergebnis intensiver parlamentarischer Beratungen sein und bleiben. Sie müssen
die internationalen Verpflichtungen Deutschlands und
ihre auf Partnerschaft beruhenden integrierten Einbindungen in internationale Stäbe berücksichtigen. Die Einsätze müssen in regelmäßigem Abstand unter Berücksichtigung der sicherheitspolitischen Lageentwicklung
neu bewertet werden. Im Sinne dieser drei Punkte muss
auch das Parlamentsbeteiligungsgesetz im Lichte gewonnener Erfahrungen weiter optimiert werden.
Grundsätzlich wird sich Deutschland im Rahmen seiner Möglichkeiten weiterhin an friedenserhaltenden Einsätzen beteiligen. Dabei ist eine Überdehnung der vorhandenen Fähigkeiten dringend zu vermeiden. Die
Bundeswehr ist aber nicht nur auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Sie muss so strukturiert sein, dass sie weiterhin
auch die Landesverteidigung als verfassungsgemäßen
Kernauftrag gewährleisten kann. Eine Absenkung des
Zielumfanges von circa 250 000 Soldaten ist deshalb
ebenso wenig in unserem Sinne wie eine weitere Aufgabe von Standorten und Truppenteilen.
({7})
Ich bin sehr dankbar und zufrieden, dass sich diese
Bundesregierung zur allgemeinen Wehrpflicht bekennt. Sie ist gemessen an unserer Geschichte und unserer gesellschaftspolitischen Struktur nach wie vor die
beste Wehrform für unser Land. Sie dient der wichtigen
Verklammerung zwischen Streitkräften und Gesellschaft, ohne die auch ein Parlament keine hinreichende
Entscheidungsbasis besitzt.
({8})
- Wir in der großen Koalition haben beschlossen, daran
festzuhalten, weil unsere Gesellschaft damit außerordentlich gute Erfahrungen gemacht hat. Das soll auch so
bleiben. Die Risiken, die einzugehen Sie vorhaben, werden wir nicht eingehen.
({9})
Der Erhalt nationaler wehrtechnischer Kapazitäten
und Kernfähigkeiten zur bedarfsgerechten Ausrüstung
unserer Streitkräfte bleibt auch in der Zukunft aus
sicherheits- und kooperationsbedingten Gründen notwendig. Die technologische Leistungsfähigkeit und die
wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der deutschen
wehrtechnischen Industrie beruhen in erster Linie auf einer hohen Ingenieurkunst, leistungsfähigen Mitarbeitern
und zukunftsfähigen Unternehmen. Hier beziehe ich
ausdrücklich die vielen mittelständischen Betriebe in
diesem Bereich ein. Wir wollen, dass sie auch bei internationalen Kooperationen zur Realisierung von Waffensystemen ein technologisch und industriell attraktiver
Partner bleiben. Das trägt nicht zuletzt zum Erhalt hochwertiger Arbeitsplätze in unserem Land auch in Zukunft
bei.
({10})
Die Bundesregierung steht also auch im Verteidigungsbereich vor großen Herausforderungen. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion wird einen entscheidenden
Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme in Zukunft leisten. Ich bin sicher, dass wir im Sinne der Bundeswehr und im Sinne unseres Landes tragfähige Beschlüsse und Ergebnisse erreichen werden und dass
damit die große Koalition auch in diesem Bereich eine
erfolgreiche Arbeit abliefert.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letztem Redner erteile ich dem Kollegen Rainer
Arnold, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst auch einen herzlichen Glückwunsch, Herr
Jung, zu Ihrer neuen und schwierigen Aufgabe. Sie können sich darauf verlassen, dass wir Ihre Arbeit im Sinne
der Menschen bei der Bundeswehr unterstützen. Sie haben bereits die erste Windböe gespürt. Es stellte sich die
Frage, wie wir mit den jungen Menschen, die bei der
Bundeswehr oder im zivilen Ersatzdienst einen ganz besonderen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten, wirklich fair umgehen. Auch wir sagen Ihnen zu: Eigentlich
müssten wir denen ein bisschen mehr geben. Sie hätten
das verdient. Auf keinen Fall darf es bei denen weniger
werden. Hier gibt es eine große Gemeinsamkeit.
({0})
Diese Gemeinsamkeit haben wir auch bei den Koalitionsverhandlungen schon nach wenigen Stunden gespürt. Es ist ein gutes Zeichen, dass der Verteidigungsbereich als erster eine Vereinbarung zustande gebracht hat.
Das ist auch ein wichtiges Zeichen für die Menschen in
der Bundeswehr. Ich habe den Eindruck, dass es angesichts ihrer schwierigen Aufgaben für die Soldatinnen
und Soldaten arg wichtig ist, dass sie stets das Gefühl
haben, dass das, was sie im Ausland und im Inland leisten, von der Gesellschaft in ihrer großen Breite getragen
wird. Deshalb war es ein gutes Symbol, dass wir so
schnell zusammengekommen sind.
({1})
Es lag eigentlich auch auf der Hand: Diese neue Koalition will die Strukturreformen in Deutschland fortsetzen.
Im Bereich der Verteidigung stehen wir nicht am Anfang. Minister Struck hat die Transformation der
Streitkräfte bereits ein gutes Stück vorangebracht.
({2})
Es bleibt auch in Zukunft bei den sicherheitspolitischen Kernaussagen der Vergangenheit. Die Bundeswehr dient der internationalen Konfliktverhütung und
der Krisenbewältigung. Sie dient der Unterstützung und
der Kooperation mit unseren Bündnispartnern. Es bleibt
aber auch bei der wichtigen Aufgabe der Landesverteidigung. Es bleibt bei der Aufgabe der Rettung von deutschen Staatsbürgern. Natürlich leistet die Bundeswehr
auch zukünftig einen Beitrag zur Hilfe im Inland.
Lassen Sie mich an dieser Stelle Folgendes sagen: Ich
bin sehr dafür, dass unsere Soldaten Hilfestellung im Inland immer auf einer eindeutigen und klaren Rechtsgrundlage leisten können. Wenn sich zeigt, dass wir
diese Rechtsbasis verändern müssen, dann sollten wir
das auch gemeinsam tun. Ich will aber nicht, dass die
Soldaten andere Aufgaben als die der Amtshilfe übernehmen. Ich will schon gar nicht, dass mancher Ruf eines Innenministers aus den Ländern, der meint, man
könne aus den Soldaten Hilfspolizisten machen, hier in
Berlin gehört wird.
({3})
Darum wird es in der Zukunft eben nicht gehen.
Diese Koalition bekennt sich zum geplanten Transformationsprozess und damit auch zum Stationierungskonzept der Bundeswehr. Ganz wichtig, besonders für diejenigen, die eine Familie haben, ist: Die Soldatinnen und
Soldaten und die Zivilbeschäftigten haben - trotz aller
Veränderungen, die sie mitmachen müssen; wir wollen
die Menschen auf diesen Reformweg mitnehmen - auch
unter der neuen Koalition Planungssicherheit. Dabei
bleibt das Parlamentsbeteiligungsgesetz die Grundlage
der Entscheidungen für die Entsendung von deutschen
Streitkräften in Auslandseinsätze.
Frau Homburger, ich war schon ein bisschen überrascht, dass Sie es so dargestellt haben, als wenn man
solche Entscheidungen aus dem Bauch heraus trifft.
({4})
Wenn das bei Ihnen der Fall war, dann würde ich das bedauern. Ich habe das nie so empfunden. Wir haben solche Entscheidungen immer sehr sorgsam abgewogen.
Sie wollen einen Kriterienkatalog: Wenn so und so viele
Kriterien erfüllt sind, dann kann man zu einem Auslandseinsatz Ja sagen. Diese Vorstellung ist nun wirklich
absurd.
({5})
Es wird dabei bleiben, dass in jedem Einzelfall abgewogen wird.
({6})
Dazu gehört natürlich, dass wir uns der Verantwortung,
Völkermord in der Welt zu verhindern, stellen. Dazu gehört, dass wir uns auch dazu bekennen, deutsche, also
nationale Interessen in der Staatengemeinschaft zu wahren.
({7})
Das alles ist legitim. Wir haben auch ein Interesse an
Stabilität in Europa. Dies ist aber Konsens. Wir alle sind
uns einig: Ein solches Weißbuch sollte nicht nur von einer Debatte in diesem Parlament, sondern auch von einer
breiten gesellschaftlichen Diskussion über Sicherheitspolitik in Deutschland begleitet werden; das wäre schon
eine guter Prozess. Das Weißbuch bietet hierfür eine
Chance. Wir werden alles dafür tun, um einen möglichst
breit angelegten Prozess zu initiieren. Ein solcher Prozess ist ganz wichtig.
({8})
Es bleibt auch bei der Verlässlichkeit der Wehrpflicht. Wer glaubt, man könne, was die Bundeswehr angeht, einfach einen Hebel betätigen - FDP und Grüne
denken das gelegentlich - und die Wehrpflicht so mir
nichts, dir nichts abschaffen, zeigt, dass er wirklich nicht
weiß, wie komplex dieses Gefüge ist: praktische Rolle
der Wehrpflichtigen, innere Struktur, Befindlichkeiten
und Mentalitäten bei den Streitkräften.
Frau Homburger, Sie machen einen gewaltigen Fehler. Die Argumentation, eine Einsatzarmee könne keine
Wehrpflichtarmee mehr sein, ist definitiv falsch. Ich
nenne Ihnen nur zwei Beispiele:
Eine - quantitativ und qualitativ - wichtige Säule im
Auslandseinsatz sind die freiwillig länger Wehrdienst
Leistenden. Glaubt jemand, man könne diese jungen
Männer, die im Regelfall Abitur haben oder einen Ausbildungsberuf erlernt haben, ganz einfach durch Mannschaftsdienstgrade ersetzen, die man auf dem Arbeitsmarkt rekrutiert? Was wäre das für eine Veränderung?!
Manche unserer Bündnispartner beneiden uns um diese
jungen Männer. Glauben Sie wirklich, dass eine Einsatzarmee keine Aufgaben im Inneren mehr hat, die Wehrpflichtige erledigen können, zum Beispiel in den Büros,
in der Logistik oder woanders? Ihr Argument, eine Einsatzarmee passe nicht zur Wehrpflicht, ist wirklich
falsch.
({9})
Kollege Nachtwei, unsere Partei, die Sozialdemokratische Partei, wird diese Diskussion nicht ablehnen, wie
Sie uns unterstellen. Wir werden sie in Verbindung mit
der Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm ganz
sorgsam führen. Dazu wird gehören, dass wir alle gesellschaftlichen Auswirkungen mitdiskutieren. Wir werden
darüber im nächsten Jahr eine sehr sorgsame Diskussion
zu führen haben.
Lassen Sie mich am Ende noch ein paar Sätze zu den
Überlegungen von der Fraktion der Linken über
Auslandseinsätze sagen. Manche Debatte wird für uns
einfacher - den Eindruck habe ich -, wenn Sie, werte
Kolleginnen und Kollegen, einfach einmal mit nach Afghanistan oder ins Kosovo fahren;
({10})
denn dann werden Sie merken, dass Ihre Behauptung,
eine Armee könne nicht helfen, im Sinne von humanitärer Hilfe, der Realität nicht standhält. Was die Bundeswehr dort im Bereich von CIMIC an Kooperationen leistet, was Reservisten an beruflicher Erfahrung als Maurer
oder Ingenieur einbringen und wie dankbar die Leute für
diese Unterstützung sind, das sollten Sie sich einfach
einmal anschauen; dann werden Sie so sicherlich nicht
mehr reden können.
({11})
Sie haben Einstein zitiert. Er hat natürlich Recht damit, dass Krieg nicht die Probleme löst. Auch der General, den Sie zitiert haben, hat natürlich Recht damit, dass
die Bundeswehr diese Prozesse nicht zu Ende führen
kann. Die Bundeswehr ist im Kosovo nicht dafür zuständig, den politischen Prozess zu einer Lösung der Statusfrage zu führen. Soldaten können das Töten und Morden
stoppen und sie können eine Situation sozusagen einfrieren, damit Diplomatie Zeit und Raum hat, die Prozesse
zu organisieren. Hierbei haben die Soldaten eine wichtige Aufgabe; denn ohne die Soldaten hätten wir überhaupt nicht die Gelegenheit, die politischen Prozesse zu
gestalten.
({12})
Es ist natürlich ein ziemlich oberflächliches Vorurteil,
dass wir zunächst auf die militärische Karte setzen. Das
ist schlichtweg falsch. Diese Koalition und alle europäischen Partner setzen natürlich auf das ganze Paket der
Fähigkeiten. Da ist Prävention. Da ist faire wirtschaftliche Zusammenarbeit. Da ist natürlich in erster Linie Diplomatie gefragt. Aber dort, wo sie versagt, muss es dabei bleiben, dass wir uns auch mit Soldaten vor
Menschen in Bedrängnis stellen. Das ist ein zutiefst humanitärer Auftrag. Ich verstehe nicht so recht, warum
sich eine linke Partei vor so einer internationalen Verpflichtung unseriös in die Büsche schlägt.
({13})
Wir können uns nicht Scheuklappen aufsetzen und
darauf hoffen, dass wir als Deutsche mit den Problemen
der Welt nichts zu tun haben.
({14})
Dies geht uns alle etwas an. Es ist ein gefährlicher Ansatz. Schauen Sie einmal, wer alles Ihnen applaudiert!
Möglicherweise bekommen Sie bei Ihren Thesen auch
Applaus von der falschen Seite. Wir werden diese Diskussionen in den nächsten Jahren sicherlich noch führen.
Alles in allem: Die Bundeswehrreform bleibt auf gutem Weg. Die Bundeswehr wird am Ende des Reformprozesses noch mehr können und leisten als im Augenblick. Wir setzen auf das wichtigste Kapital, nämlich die
Menschen bei der Truppe. Wir werden alles tun, damit
sie bei der Besoldung möglicherweise einen eigenständigen Status bekommen, um den individuellen Bedürfnissen besser Rechnung tragen zu können. Wir werden alles
tun, damit die Menschen bei der Bundeswehr durch eine
gute Ausbildung eine tragfähige Brücke in das Zivilleben finden. Wir werden alles dafür tun, dass das Allerwichtigste, nämlich der notwendige Schutz für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, mit der allerhöchsten
Priorität zur Verfügung gestellt wird. Das heißt, die Bundeswehr ist auch in dieser neuen Koalition in allerbesten
Händen. Es bleibt bei Kontinuität beim Transformationsprozess. Es bleibt bei Kontinuität beim Stationierungsprozess. Es bleibt dabei: Deutschland bleibt ein verlässlicher sicherheitspolitischer Partner für die Vereinten
Nationen und für die ganze Welt.
Herzlichen Dank.
({15})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. - Ich
schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Dezember 2005, 13 Uhr,
ein. Gleichzeitig mache ich darauf aufmerksam, dass in
dieser Sitzung die Befragung der Bundesregierung und
die Fragestunde stattfinden werden.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ein freundliches Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.