Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen allen ei-
nen guten Morgen und uns die zur Vorbereitung des Wo-
chenendes angemessenen Temperaturen bei den heute
anstehenden Beratungen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 e auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi
Brase, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neue Dynamik für Ausbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die duale Berufsausbildung in Deutschland
kontinuierlich verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Statt Ausbildungspakt - Für eine umlagefinanzierte berufliche Erstausbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({2}), Krista Sager, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berufsausbildung umfassend sichern
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2005
- Drucksachen 16/543, 16/235, 16/122, 16/198,
15/5285, 16/1258 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Kretschmer
Patrick Meinhardt
Priska Hinz ({3})
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2006
- Drucksache 16/1370 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,
Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik
- Drucksache 16/2996 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider
({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 16/2540 Redetext
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({1}), Britta Haßelmann, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Wege in der Ausbildung - Strukturen
verändern
- Drucksache 16/2630 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort zunächst dem Kollegen Uwe Schummer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir
haben im Jahresvergleich 400 000 Arbeitslose weniger
als unter der Vorgängerregierung. Wir haben - das geht
aus der Statistik hervor - 100 000 junge Arbeitslose unter 25 Jahren weniger. Das ist ein Erfolg der jetzigen Regierung.
Unerträglich für uns alle - das zeigt auch die Vielzahl
der Anträge zur beruflichen Bildung aus allen Fraktionen - ist aber, dass sich die Ausbildungsplatzlücke in
diesem Berufsbildungsjahr weiter vergrößert hat. Eine
Ursache liegt darin, dass es in diesem Jahr bei den Ausbildungsverträgen erstmals mehr Altbewerber als Neuzugänge aus den Schulen gibt. Etwa 500 000 junge Menschen, die vor zwei oder drei Jahren aus den Schulen
entlassen wurden und sich in Warteschleifen befanden
bzw. Ersatzmaßnahmen wahrgenommen haben, suchen
derzeit einen Ausbildungsplatz. Es gibt etwa 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre, die noch gar keine Qualifizierung erfahren haben. Wir erwarten aufgrund der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, dass diese Vielzahl
junger Menschen jetzt einen Ausbildungsplatz findet.
Was in zehn Jahren an Missständen und Problemen in
diesem Bereich entstanden ist, kann aber auch die beste
Regierung nicht in zehn Monaten abarbeiten.
Mit dem Antrag „Neue Dynamik für Ausbildung“
wollen wir die Strukturen in der beruflichen Ausbildung
verändern. Wir sagen klar Ja zum Ausbildungspakt.
Wenn eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen dazu
führt, dass es nicht genügend Ausbildungsplätze gibt,
dann muss eine Vielzahl von Akteuren daran mitwirken,
diese Strukturen zu verbessern.
Es ist zu begrüßen, dass der Ausbildungspakt neu verhandelt wird - er soll im März unterzeichnet werden -;
wichtig ist aber, dass die Wirtschaft und die Politik eine
Verantwortungsgemeinschaft für die jungen Menschen
eingehen und dafür sorgen, dass nicht nur lamentiert,
sondern konkret gehandelt wird, um mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
({0})
Es gibt Anlass zu Hoffnung. Die Arbeitgeber und Gewerkschaften, BDA und DGB, haben sich in diesen Tagen darauf verständigt, auf unkomplizierte Weise berufsbegleitende Hilfen für diejenigen anzubieten, die
nicht hinnehmen wollen, dass nach Aussage der Kammern 15 Prozent der jungen Menschen nicht ausbildungsfähig sind, und die zum Beispiel auch einen Jugendlichen einstellen wollen, der Sprachprobleme hat
oder Förderunterricht im Rechnen und Schreiben benötigt. Sie sind bereit, in Potenziale zu investieren. Notwendig ist auch die Bereitschaft der Arbeitgeber und der
Gewerkschaften, Sprachunterricht zu organisieren und
mitzufinanzieren. Es ist wichtig, dass neben der Berufsschule ein Förderunterricht in Lesen, Schreiben und
Rechnen organisiert wird, damit der Handwerksmeister,
der Ausbilder, nicht alleine gelassen wird, wenn in Potenziale investiert wird.
({1})
- Ich weiß, Herr Tauss. Wir werden das sicherlich gemeinsam angehen. Aber wir müssen zuerst das anpacken, was auf Bundesebene zu regeln ist. Wir dürfen
hierbei nicht auf andere verweisen. Wir versuchen, die
bestehenden Probleme zu lösen.
({2})
- Wenn Herr Tauss klatscht, dann Vorsicht!
Ich habe bei einer Lossprechungsfeier im Handwerk
Folgendes erlebt: Von 30 jungen Menschen hatte zu Beginn der Ausbildung ein Drittel keinen Hauptschulabschluss. Aber am Ende hatten sie nicht nur den Hauptschulabschluss durch ausbildungsbegleitende Hilfen
gemacht, sondern auch eine hervorragende Gesellenprüfung abgelegt und die Lossprechungsfeier exzellent vorbereitet. Sie haben den beruflichen Einstieg geschafft.
Wir müssen in Potenziale investieren und versuchen,
Defizite zu beheben.
Ein Wort des Lobes: Die Wirtschaft investiert in
Deutschland jährlich 30 Milliarden Euro in die berufliche Ausbildung und damit mehr als Bund und Länder
zusammen. Das gibt es in kaum einem anderen Land
dieser Erde. Diese von der Wirtschaft erbrachte Leistung
liegt im Interesse der jungen Menschen, der Gesellschaft
und der Wirtschaft.
({3})
Unbefriedigend ist bislang die Berufsberatung.
3 000 Berufsberater bei der Bundesagentur für Arbeit
stehen etwa 1 Million Schulabgänger gegenüber. Angesichts dieses Missverhältnisses ist es offenkundig, dass
eine erfolgreiche Vermittlung nicht gelingen kann. Wir
müssen daher die Berufsberatung verstärkt an die Schulen verlagern sowie eine langfristige Qualifizierung und
Beratung durchführen, die durch externe Kräfte unterstützt wird.
Ein weiterer Punkt ist die Aufstockung der Mittel für
Einstiegsqualifizierungen. Wir wissen, dass 60 Prozent
derjenigen, die eine Einstiegsqualifizierung - ein Kind
des Ausbildungspaktes - erfolgreich abschließen, in eine
dreijährige berufliche Ausbildung weitervermittelt werden. Diese betriebliche Ausbildungszeit wird bei der
Nachvermittlung angerechnet. Dieses Instrument ist sinnvoll und hilft, den Berg an Schulabgängern abzuarbeiten.
({4})
Was die Qualifizierung und die berufliche Ausbildung
auf europäischer Ebene angeht, möchte ich auf Ministerin Schavan verweisen. Sie wird in ihrer Rede den
Schwerpunkt darauf legen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aus der Berliner Rede „Bildung für alle“ unseres Bundespräsidenten
Horst Köhler zitieren:
Auch darum ist das Bildungswesen Sache des ganzen Volkes. In den Familien, im Kindergarten, in
der Schule, der Lehrwerkstatt und der Universität
entscheidet sich, in welcher Gesellschaft wir künftig zusammenleben …
So ist es.
Wir fordern daher in dem fraktionsübergreifenden
Antrag „Neue Dynamik für Ausbildung“ einen Bildungspakt, der bei der Erziehung der Eltern beginnt,
sich in den Kindergärten sowie bei der allgemeinen, beruflichen und schulischen Bildung fortsetzt und auch die
Berufsausbildung und die Weiterbildung - Stichwort
„lebenslanges Lernen“ - einbezieht.
Das ist die Aufgabe, die wir in diesem Haus fraktionsübergreifend zu erledigen haben. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Probleme sind bekannt, beschrieben
im Berufsbildungsbericht 2006. Hier heißt es:
Rund 9 % einer Alterskohorte verlassen bundesweit
die Hauptschule ohne Abschluss, rund 22 % der bei
der PISA-II-Studie repräsentierten 15-jährigen
Schülerinnen und Schüler in Deutschland
- das sind rund 80 000 junge Menschen gehören zur so genannten Risikogruppe, die nach
dem Ende ihrer Pflichtschulzeit nur auf Grundschulniveau rechnen und selbst einfache Texte nicht
verstehen können.
Sie wissen also, was falsch läuft, auch Sie, Herr Tauss.
Aber Sie flüchten sich in der weiteren Analyse in Ausreden. Die unzureichende konjunkturelle Entwicklung der
inländischen Wirtschaft in den letzten Jahren sei für die
zurückgegangene Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge verantwortlich, heißt es. Frau Ministerin
Schavan, vor einem Jahr hätten Sie noch ganz andere
Töne angeschlagen.
({0})
Damals hätten Sie klar gesagt, die falsche Mittelstandspolitik von Rot-Grün, die Vernichtung von über 1 Million sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze und die
grundfalsche Steuerpolitik seien die Ursachen, dass gerade Lehrstellen in diesem Land vernichtet worden
seien.
({1})
In diesem Jahr bieten Handel, Industrie und Dienstleistungen 4 Prozent mehr und das Handwerk, obwohl es
60 000 Arbeitsplätze weniger hat, 1,6 Prozent mehr Ausbildungsplätze an.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?
Ich werde doch mit Sicherheit meinem Wahlkreiskollegen Tauss gerne zuhören.
Das ist eine leichtfertige Einladung, keine Frage zu
stellen, sondern ein Kurzreferat zu halten. Der Kollege
erhält das Wort zu einer Zwischenfrage.
({0})
Herr Präsident, ich wollte gerade äußern, dass es nicht
um Zuhören geht, sondern um die einfache Beantwortung einer Frage, nämlich ob Sie, lieber Kollege
Meinhardt, nicht zur Kenntnis genommen haben, dass
die Zeit der größten kontinuierlichen Ausbildungsplatzrückgänge vor 1998 lag, dass es unter Rot-Grün eine gegenläufige Entwicklung - leider nur zu kurz - gab und
dass die Rückgänge, über die Sie klagen, vor 1998 in der
Zeit eines freidemokratischen Wirtschaftsministers stattgefunden haben. Könnte man das vielleicht der Korrektheit halber, wenn man die Diagnose stellt, kurz und
freundlich zur Kenntnis nehmen?
Herr Kollege Tauss, was ich zur Kenntnis nehme, ist
erstens, dass die Abschlüsse von Ausbildungsverträgen
in den Bundesländern am meisten zugenommen haben,
in denen es eine schwarz-gelbe Koalition gegeben hat.
({0})
Zweitens stelle ich fest, dass die Mittel für den Bereich,
der so enorm wichtig ist, nämlich die überbetriebliche
Ausbildung, in der Verantwortung der rot-grünen Koalition von 70 Millionen Euro 1998 auf zuletzt 25 Millionen Euro reduziert worden sind.
({1})
Genau dort, wo Ausbildungsverbünde und Ausbildungsallianzen notwendig gewesen wären, haben Sie gekniffen.
({2})
- Sie müssen sich nur den Haushalt anschauen.
Diejenigen von den Schülern - wir haben gerade die
Hauptschule angesprochen -, die es nicht geschafft haben, auch und gerade die 240 000 Berufsschüler ohne
Abschluss, brauchen eine zweite Chance. Wir haben dieses Jahr einen traurigen Negativrekord vorzuweisen.
Zum ersten Mal übersteigt die Zahl der Altbewerber um
einen Ausbildungsplatz die Zahl der Neubewerber. Es
gibt 51 Prozent Altbewerber. Wo ist denn jetzt die Exzellenzinitiative Weiterbildung? Wo ist der Leuchtturm
„Zweite Chance“? Wo ist die Eliteberufsschule, die diesen jungen Menschen im Rahmen der dualen Ausbildung hilft? Die Bundesregierung, die vollmundig die
Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems proklamiert, muss endlich in die Gänge kommen.
({3})
Konkret heißt dies: Die Bundesagentur für Arbeit
wird ihrer Aufgabe nicht gerecht, noch nicht einmal ansatzweise. In den letzten zwei Jahren sind zwei Drittel
der Weiterbildungsmaßnahmen gekürzt worden. Die
Nachqualifizierung, die Förderung der Weiterbildung
herunterbrechen, Bürokratie abbauen, Aufgaben an die
Jobcenter vor Ort und die Gemeinden delegieren - das
schafft Nähe und das bringt junge Menschen, Betriebe
und Schulen zusammen. Das schafft auch die Ausbildungsmöglichkeiten, die wir vor Ort brauchen. So sieht
eine offensive Weiterbildung konkret aus.
({4})
Die überbetriebliche Ausbildung habe ich schon angesprochen. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe
sind es, die über 80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen. Genau in diesem Bereich ist es unendlich notwendig, dass die Chancen für Ausbildungsverbünde und für
überbetriebliche Ausbildungsstätten eröffnet werden.
Deshalb müssen wir in diesen Bereichen handeln. Hier
muss politisch angesetzt werden. Hier muss auch der
Haushaltsansatz massiv erhöht werden.
Nehmen wir doch einmal das konkrete Projekt
5000 Plus des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Der Vorschlag des Handwerks liegt auf dem
Tisch. Obwohl das Handwerk im Jahre 2006 60 000 Arbeitsplätze verloren hat, sind die Handwerker trotzdem
bereit, Ausbildungsstätten zu fördern, Ausbildungsprogramme zu modernisieren und damit ein Programm für
5 000 neue Ausbildungsplätze aufzulegen. Bisher ist dieses Programm bei der Bundesregierung auf taube Ohren
gestoßen. Die FDP-Fraktion erwartet von der Bundesregierung, dass sie ihrer Verpflichtung nachkommt, ein
klares Nein zu jeder Lehrstellensteuer sagt und diese Allianz für Ausbildung zu ihrem eigenen Programm macht.
({5})
Wir erwarten ein klares Bekenntnis zur dualen Ausbildung, das heißt, auch ein klares Nein zu mehr außerbetrieblicher Ausbildung. Die überbetriebliche Ausbildung ist es nämlich, die hier in allererster Linie gefördert
werden muss. Nötig ist nicht mehr Verschulung, sondern
sind die Modernisierung und die Fortentwicklung unseres bewährten dualen Ausbildungssystems. Man sollte
die EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um sicherzustellen,
dass diese duale Ausbildung auch im europäischen Bildungsraum voll anerkannt wird.
({6})
Praktika für junge Menschen bringen etwas: Sie
können in einen Betrieb hineinschnuppern; sie können
sehen, wo ihre Talente liegen. So weit, so gut. Der Bundesarbeitsminister hat den Unternehmen in diesem Land
vorgeworfen, junge Menschen zu einer „Generation
Praktikum“ zu machen, und gleichzeitig selbst ein Sonderprogramm für 15 000 zusätzliche Einstiegspraktika
auflegt. Das ist an Heuchelei nicht mehr zu überbieten.
({7})
Herr Kollege Meinhardt, darf auch Frau Kressl Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Natürlich darf auch die Kollegin aus meiner Heimatstadt eine Zwischenfrage stellen.
Frau Kressl, bitte.
Herr Meinhardt, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass sich das Thema „Generation Praktikum“
- Herr Müntefering hat es zu Recht in die Diskussion gebracht - auf die ungute Praxis von Unternehmen bezieht,
jungen Menschen trotz einer akademischen Ausbildung
nur noch unbezahlte, womöglich aufeinander folgende
Praktika anzubieten.
({0})
Das, was Sie unzulässigerweise oder vielleicht inkompetenterweise vermischen, bezieht sich auf den Bereich der Einstiegsqualifikation. Hinsichtlich der Zielgruppe - Hauptschulabgänger, im Moment noch deutlich
zu viel Realschulabgänger - geht es darum, Ausbildungsreife zu vermitteln. Unterlassen Sie es bitte, zwei
unterschiedliche Dinge zu vermischen und auf diese Art
einen Eindruck zu erwecken, der überhaupt nicht gerechtfertigt ist!
({1})
Frau Kollegin Kressl, es ist durchaus verständlich,
dass Sie Ihrem Minister zur Seite stehen.
({0})
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ihr Minister
und damit auch Ihre Fraktion zur Kenntnis nehmen müssen, in welcher Art und Weise in diesem Land politische
Diskussionen geführt werden.
({1})
- Moment, Moment.
Ich halte es bestimmt nicht für die richtige Vorgehensweise, zum einen Unternehmen an den Pranger zu stellen, gerade diejenigen, die mit ihren Praktika dabei helfen, jungen Menschen eine Ausbildungsperspektive zu
geben, und zum anderen, Praktika als alternativlos darzustellen, weil man selbst nicht dafür sorgt, dass es auf
dem Markt genug Lehrstellen gibt.
({2})
- Ganz ruhig!
Sehr geehrte Frau Kollegin Kressl, wir schaffen es,
5 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss zu
einem Einstiegspraktikum zu verhelfen. In der Regel
werden 60 Prozent dieser Praktikanten übernommen.
Durch dieses Programm kommen also gerade einmal
3 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluss in eine
Ausbildung. Wir brauchen in diesem Land wirklich
keine Debatte über die neue soziale Frage, über Unterschichten oder über Klassengesellschaften. Das Ganze
ist eine Frage der Politik und die Politik, die hier betrieben wird, ist einfach eine schlechte Politik.
({3})
Das Aktionsprogramm einer großen Ausbildungskoalition wäre eigentlich recht einfach: Hauptschüler qualifizieren, überbetriebliche Ausbildung stärken,
({4})
Ausbildungsallianzen fördern, die schon existierenden,
vielfältigen guten Beispiele sich zum Vorbild nehmen,
Ausbildung endlich flexibler, modularer gestalten und
vor allem einen Schritt in Richtung Teilabschlüsse zulassen. Denn mit Teilabschlüssen, mit Teilqualifikationen,
mit neuen Berufsbildern, die nicht mehr so theoriebelastet, sondern praktisch orientiert sind, schaffen wir neue
Zukunftschancen für junge Menschen, die in Ausbildungsverhältnisse wollen.
So bekommen junge Menschen eine richtige Perspektive. Um es mit den Worten unseres Bundespräsidenten
zu sagen:
Alle diese Menschen haben Anspruch darauf, dass
unser Land die besten Voraussetzungen für Bildung
schafft.
Dafür kommt es auf uns alle an, auf unsere Einstellung, auf unsere Anstrengung, auf unser Vorbild.
Bildung für alle - das gelingt am besten, wenn sich
alle dafür einsetzen, wenn wir alle uns bewegen.
Was hindert uns? Auf geht’s!
({5})
Nun hat Frau Kressl für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist so: Frühe Förderung, Bildung und Ausbildung sowie
lebenslanges Lernen sichern den Menschen eine Perspektive, und zwar häufig besser - gerade in letzter Zeit
haben wir darüber gesprochen - als reine Sozialtransfers. Im Bereich der frühen Förderung und frühen Bildung sowie im Bereich der Ausbildung haben wir
Schritte nach vorn getan, aber bei weitem noch nicht genügend.
({0})
Das wird uns deutlich, wenn wir überlegen, was wir
brauchen, um die Situation weiter zu verbessern. Zunächst einmal müssen wir eine richtige Analyse machen.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, wer Verantwortung für welche Bereiche trägt und wer überhaupt handlungsfähig ist,
({1})
um dann gemeinsam zu überlegen, welches die richtigen
Schritte sind.
Lassen Sie mich zuerst etwas zur Analyse sagen. Im
Bereich der Ausbildung verfügen wir im Moment über
keine endgültigen Zahlen. Das war zu diesem Zeitpunkt
bislang in jedem Jahr der Fall. Die Zahlen sind auch deswegen unklar, weil sich bei der statistischen Erfassung
der Ausbildungsplätze und Bewerber durch die Bundesagentur für Arbeit Veränderungen ergeben haben. Ich
habe das hier schon einmal erwähnt. Wir vermuten
beispielsweise, dass die Quote der Unternehmen, die
Ausbildungsplätze bei der Agentur melden, kleiner geworden ist, wodurch die statistische Lage für uns unklarer wird. Das ändert aber nichts daran, dass sich der Ausbildungsmarkt in einer extrem angespannten Lage
befindet. Wir sind dafür verantwortlich, im Interesse der
jungen Menschen zu überlegen, was wir noch tun können.
({2})
Was wissen wir im Moment? Herr Schummer hatte
das schon angedeutet. Wir sind in diesem Jahr aller Voraussicht nach zum ersten Mal in der Situation, dass es
mehr Bewerberinnen und Bewerber aus den vergangenen Schuljahren gibt, nämlich im Moment 385 000, als
Bewerber aus dem laufenden Jahr. Das ist für die Analyse ganz wichtig, weil dies nämlich deutlich macht,
dass wir nicht darauf setzen dürfen - wir dürfen uns auf
dieser Hoffnung nicht ausruhen -, dass aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren eine
Entlastung auf dem Ausbildungsmarkt eintreten wird.
Wir werden in den kommenden Jahren genauso gefordert sein wie in diesem Jahr und in den vergangenen Jahren. Das ist für die Analyse entscheidend und wichtig.
({3})
Dies bedeutet, dass wir drei Hauptaufgaben haben.
Erstens. Mit Volldampf muss in die Nachvermittlung
gegangen werden. Es wird entscheidend darauf ankommen, den jungen Leuten, die jetzt noch einen Ausbildungsplatz suchen, ein Angebot machen zu können.
({4})
Zweitens. Wir werden uns mit der Frage auseinander
setzen müssen, was wir für die so genannte Bugwelle
- ein sehr technischer Begriff -, also für die jungen
Menschen, die sich nach mehreren Warteschleifen jetzt
wieder bewerben, anbieten können. Sie fordern dies völlig zu Recht. Wir verlangen schließlich von ihnen, dass
sie sich qualifizieren. Also müssen wir uns um diese
Frage ganz besonders kümmern.
({5})
Drittens. Wir haben uns um mittelfristig wirksame
Strukturen zu bemühen. Dazu gehört die Frage des Europäischen Qualifikationsrahmens, dazu gehört auch die
Frage der weiteren Förderung von Ausbildungsverbünden. Herr Meinhardt, die Unterstellung, in den letzten
Jahren seien diese Programme nicht aufgestockt worden,
ist falsch. Gerade in diesen Bereich haben sowohl Frau
Bulmahn als auch Frau Schavan kreative Lösungen, Unterstützung und Geld gegeben.
({6})
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt, zur Frage der
Verantwortung, kommen. Wir haben uns in Deutschland für ein duales Ausbildungssystem entschieden.
Deshalb kann und darf Verantwortung nicht weggeschoben werden. Schon das Bundesverfassungsgericht hat
festgestellt: Im dualen System liegt die Verantwortung
für die betriebliche Ausbildung bei den Unternehmen.
({7})
Das muss auch so bleiben. Bei aller Diskussion über
staatliche Maßnahmen darf die Verantwortung nicht verschoben werden. Das ist mir ganz wichtig.
({8})
In diesem Zusammenhang noch etwas zum Thema
Appelle an Unternehmen. Es muss noch einmal deutlich
gesagt werden, dass es nicht nur um die soziale Verantwortung geht, sondern auch um die Verantwortung für
die ökonomische Zukunft des Landes.
({9})
Wir wissen doch, dass wir, wenn heute nicht genügend
ausgebildet wird, nicht genügend Fachkräfte in den Unternehmen haben werden. Von Unternehmens- und Wirtschaftsseite wird von der Politik immer verlangt, mittelund langfristige Konzepte aufzulegen. In diesem Bereich
aber müssen wir genau das von der Wirtschaft verlangen. Zu den mittel- und langfristigen Unternehmenskonzepten gehört, jetzt auszubilden, um sich später nicht
wieder bei der Politik beschweren zu müssen, warum
nicht genügend Fachkräfte vorhanden sind. Das muss
einmal sehr deutlich gesagt werden.
({10})
Zur Frage der öffentlichen Verantwortung. Als der
Pakt 2004 abgeschlossen worden ist, haben wir als Bundesregierung uns mit finanziellen Mitteln sehr stark in
diesen Pakt eingebracht. Das will ich noch einmal erwähnen, weil es sonst immer so aussieht, als geschehe
das alles nur von Unternehmensseite. Wir haben uns bereit erklärt, auf Bundesregierungsseite die Ausbildungsquote deutlich zu erhöhen, was auch passiert ist. Vor allem aber haben wir uns bereit erklärt, die Finanzierung
der Einstiegsqualifikationen zu übernehmen.
({11})
Ich sage es noch einmal: Es ist sträflich, die Schaffung
von Einstiegsqualifikationen zu verwechseln mit dem
Absolvieren von einem Praktikum nach dem anderen im
Anschluss an ein Studium.
({12})
Es geht darum, junge Menschen an betriebliche Ausbildungspraxis zu gewöhnen.
Frau Kollegin Kressl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hirsch?
Natürlich.
Danke schön, Frau Kressl. - Sie haben sicherlich
Recht damit, dass man Praktika nach dem Studium nicht
mit dem Vorstoß zur Ausweitung von Einstiegsqualifizierung vergleichen kann. Wie stehen Sie dann aber zu
der Aussage des verantwortlichen Staatssekretärs in der
Fragestunde vergangener Woche, es sei durchaus legitim
und nicht verwerflich, dass Unternehmen über die Einstiegsqualifizierung Jugendliche erst einmal ausprobieren? Aus unserer Sicht geschieht genau das, wenn junge
Menschen nach dem Studium in die Praktika-Warteschleife gestellt werden. Dazu hätte ich von Ihnen gerne
eine Aussage.
Frau Hirsch, ich will Ihnen sehr deutlich sagen: Für
meine Fraktion war ich diejenige, die in den Jahren 2003
und 2004 den Gesetzentwurf zur Ausbildungsumlage
mit vorbereitet hat.
({0})
Ich weiß sehr genau, wie wir in den Gesprächen über
den Ausbildungspakt die Einstiegsqualifikationen entwickelt haben. Dabei ging es nie um ausprobieren; vielmehr haben wir uns sehr ernsthafte Sorgen um die Frage
gemacht, was mit Jugendlichen - wir können und dürfen
nicht leugnen, dass es solche Jugendliche gibt - passiert,
die noch nicht ausbildungsreif sind und die beispielsweise - ich mache es jetzt einmal so banal - lernen müssen, was es für Konsequenzen hat, wenn man morgens
nicht zur Arbeit kommt.
Für uns als diejenigen, die die Einstiegsqualifikationen mitentwickelt und mitfinanziert haben, war das Hinführen zur Ausbildungsreife der Hauptgrund. Für uns
war es ganz bestimmt nicht das Ausprobieren. Für das
Hinführen zur Ausbildungsreife bin ich ganz ausdrücklich; denn aufgrund der Thematik der Altbewerber wissen wir, dass es notwendig ist, sehr viele dieser Altbewerber in die betriebliche Praxis zu führen. Deshalb
unterstützen wir ausdrücklich die Aufstockung des EQJProgramms. Doch dabei geht es, wie gesagt, nie vorrangig um ein Ausprobieren.
({1})
Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt ansprechen.
Wir müssen Lösungen angehen. Die Antworten in diesem Bereich brauchen eine sehr differenzierte Bewertung, weil wir auf der einen Seite unsere öffentliche Verantwortung wahrnehmen wollen und müssen, auf der
anderen Seite aber nicht das passieren darf, was ich vorhin beschrieben habe, nämlich dass der Staat schleichend immer mehr Verantwortung für den Ausbildungsbereich übernimmt, was in Wirklichkeit ja schon
längst passiert ist. Dazu muss man wissen, dass in Bund
und Ländern für diesen Bereich über die Finanzierung
von Warteschleifen inzwischen 6 Milliarden Euro jährlich ausgegeben werden. Bei allem, was wir tun, müssen
wir jetzt darauf achten, dass nicht wir sämtliche Verantwortung übernehmen und damit zulassen, dass andere
die Verantwortung, die sie haben, abgeben. Das ist für
mich auch das Problem bei den außerbetrieblichen Sonderprogrammen. Das will ich da bedacht haben.
({2})
Dennoch glaube ich, dass es sich lohnt, im Hinblick
auf junge Menschen, die sich nach Warteschleifen wieder bewerben, gemeinsam noch in diesem Jahr zu überlegen: Welche Wege kann es geben? Das Ziel muss sein,
in den nächsten Jahren zu einer Situation zu kommen, in
der es sich auf dem Ausbildungsmarkt auf der Nachfrageseite um Schulabgänger und nicht mehr vorrangig um
die handelt, die aus den vergangenen Jahren noch nachfragen, und auf der Angebotsseite um angebotene Ausbildungsplätze. Wir werden uns auch Gedanken darüber
machen - das will ich auch für meine Fraktion ausdrücklich hier sagen -, wie wir den Bereich Altbewerberinnen und Altbewerber noch einmal unterstützen können.
({3})
Es darf nicht sein, dass wir zum Beispiel über rein außerbetriebliche Maßnahmen im Ergebnis erreichen, dass
wir das Problem auf den Arbeitsmarkt verschieben. Ich
will nicht, dass wir Ausgebildete erster und zweiter
Klasse haben und letztere nachher nicht eingestellt werden. Deshalb bin ich bei vorschnellen Sofortprogrammen im außerbetrieblichen Bereich ganz vorsichtig.
({4})
Ich will die Fraktion der Grünen - das erlaube ich mir an etwas erinnern. Als wir über die Umlage diskutiert
haben, war es die Grünen-Fraktion, die sich, als wir gesagt haben: „Wir wollen auch überbetriebliche und außerbetriebliche Plätze aufnehmen“, geweigert hat, diese
mit aufzunehmen, und darauf bestanden hat, dass das nur
betriebliche Plätze sein dürfen. Ich bitte Sie einfach, jetzt
bei dem Antrag zu bedenken, welche Diskussion wir damals hatten.
Weil ich glaube, dass wir wirklich etwas tun und noch
einmal genau schauen müssen: „Wie können wir das
Problem der Bugwelle lösen, den Abbau der Bugwelle
unterstützen?“, will ich zusammenfassend wie folgt plädieren: Es wäre schön, wenn wir alle der Versuchung widerstehen würden, uns die jetzige Situation gegenseitig
immer nur um die Ohren zu schlagen. Es wäre schön,
wenn wir gemeinsam hier überlegen könnten: Welche
gezielten Maßnahmen brauchen wir gerade für Altbewerberinnen und Altbewerber? Ich bin davon überzeugt:
Eine sachliche, nüchterne Bewertung der Situation, eine
Diskussion über Vor- und Nachteile verschiedener Lösungen würde am allerbesten einen Beitrag dazu leisten,
dass den jungen Menschen tatsächlich eine Perspektive
gegeben wird; so würde ihnen nicht vorgeführt, dass wir
uns politisch nur die Situation um die Ohren schlagen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Cornelia Hirsch für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was heute Morgen vorgetragen wurde, halte ich für relativ unerträglich.
({0})
Sie alle haben bisher zu Recht zugegeben, dass die Ausbildungssituation in diesem Jahr dramatisch ist. Aber
was wird in der Konsequenz gemacht? Was wird von Ihnen vorgeschlagen? Man macht irgendwelche Nebenschauplätze auf, setzt dann aber doch im Wesentlichen
auf eine Politik des „Weiter so“. Das halten wir als Fraktion Die Linke für falsch.
({1})
Schon letztes Jahr mussten wir im Koalitionsvertrag
lesen, dass die große Koalition am Ausbildungspakt
festhalten will. Sie werden auch in diesem Jahr nicht
müde, immer wieder zu betonen, wie erfolgreich dieser
Pakt doch sei. Wir haben für Ihre Auffassung wirklich
kein Verständnis mehr. Wie kann man denn einen Pakt
als erfolgreich bezeichnen, dessen Ergebnis augenscheinlich ist, dass die Ausbildungssituation mit jedem
Jahr dramatischer wird?
({2})
Der Pakt ist gescheitert - ohne Wenn und Aber. Er
muss beendet werden. Dann wäre der Weg für einen
Neuanfang in der Berufsbildungspolitik frei.
({3})
Frau Kressl, Sie schütteln lächelnd den Kopf. Es war
mir klar, dass Sie davon nichts wissen wollen.
({4})
Die Tausenden von Jugendlichen, die ohne Ausbildungsplatzangebot auf der Straße stehen, fragen sich zu Recht,
was denn ihre Perspektive ist. Sie wollen am Pakt festhalten, nachdem wir drei Jahre lang erfolglos an die Betriebe appelliert haben, doch bitte, bitte mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
({5})
Nachdem Sie immer wieder gesagt haben, wie wichtig
doch eine freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft
ist, entwickeln Sie den Pakt in der Art und Weise weiter,
dass Sie noch ein bisschen lauter appellieren und dass
Sie noch etwas häufiger betonen, wie großartig die freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft an dieser
Stelle ist. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das funktioniert nicht. Das müssten Sie sich endlich eingestehen.
({6})
Von der rechten Seite des Hauses hören wir immer
wieder eine weitere Lüge zur Rechtfertigung der Ausbildungsmisere, die da lautet:
({7})
Die Jugendlichen sind selbst schuld an der Misere.
({8})
Das kann man beliebig variieren. Man kann zum Beispiel sagen, die Jugendlichen seien nicht ausbildungsfähig. Man kann sagen, die Vergütung sei zu hoch. Man
kann sagen, die Mitbestimmungsrechte seien zu umfassend. Dieser Unfug gipfelt dann für gewöhnlich im Vorschlag der Fraktion der FDP, man möge doch bitte drei
Auszubildende für den Preis von zwei einstellen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über was diskutieren wir hier eigentlich? Wir diskutieren doch über die
Ausbildung von jungen Menschen. Bei Ihnen hört sich
das aber eher nach Sonderangeboten im Sommerschlussverkauf an.
({10})
Das wird aber der Situation von jungen Menschen nicht
gerecht.
({11})
Mit Ihrer Politik treten Sie die Rechte von jungen Menschen mit Füßen. Das sollte sich kein Jugendlicher länger gefallen lassen.
({12})
Wir haben zur heutigen Beratung einen Gesetzentwurf eingebracht, in dem wir eine klare Alternative zu
Ihrer Politik vorschlagen. Die Linke fordert die Einführung einer gesetzlichen Ausbildungsumlage.
({13})
Umlage heißt - Frau Kressl hat schon darauf hingewiesen -, dass Betriebe, die nicht ausbilden, zur Kasse gebeten werden sollen und dass diejenigen Betriebe, die ausbilden, dabei unterstützt werden.
({14})
Das ist nicht nur einfach und gerecht, sondern es würde
auch den Rückzug der Arbeitgeber aus der betrieblichen
Ausbildung, den wir schon seit Jahren beobachten, stoppen. Dieser wichtige Schritt muss daher endlich gegangen werden.
Man fragt sich natürlich, was eigentlich gegen die
Umlage spricht. Da können wir von den Kolleginnen
und Kollegen aus der SPD teilweise hören, diese Forderung mache keinen Sinn, denn in der großen Koalition
mit der Union sei sie ohnehin nicht umsetzbar. Wir halten diese Behauptung für sehr scheinheilig.
Frau Kressl hat bereits darauf hingewiesen, dass sie
sich noch gut an die Debatte im Bundestag erinnert, in
der es um die Einführung einer gesetzlichen Ausbildungsumlage ging. Sie hat aber nicht darauf hingewiesen, dass es allen voran die SPD, gemeinsam mit den
Grünen, war, die dieses Gesetz dann im letzten Moment
bis zur Unkenntlichkeit verwässert hat. Statt der Umlage
wurde der Ausbildungspakt vorgeschoben. Wir halten es
für sehr verlogen, dass Sie damals vor der Arbeitgeberseite eingeknickt sind und jetzt versuchen, sich mit Ihrer
unsozialen Politik hinter der Union zu verstecken.
({15})
Herr Tauss, die Union macht es Ihnen leicht, dass Sie
sich mit Ihrer unsozialen Politik hinter ihr verstecken
können; denn sie ist in ihrer Ablehnung einer Ausbildungsumlage sehr direkt. Der Kollege Dobrindt wird
nachher in der Debatte noch sprechen. Ich erinnere hier
an seine Aussage in der Debatte im Frühjahr. Er hat damals zu unserer Forderung nach einer Ausbildungsumlage gesagt: Freiheit und Selbstbestimmung sind wichtiger als Zwangsvorgaben und alles, was sich die Linke
sonst noch so ausdenkt.
({16})
- Ich hatte erwartet, dass Sie an dieser Stelle klatschen.
Aber Sie sollten einmal genau sagen, von welcher Freiheit Sie an dieser Stelle eigentlich reden.
Was hat es denn bitte schön mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun, wenn Jugendliche ohne Perspektive
in eine Warteschleife nach der anderen gesteckt werden?
({17})
Was hat es mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun,
wenn gewerkschaftliche Rechte eingeschränkt werden?
Für die Linke steht fest: Für die große Mehrheit der
Menschen und eben auch für die Tausenden von Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, ist Ihre Freiheit eigentlich das genaue Gegenteil von Freiheit und
Selbstbestimmung.
({18})
Ihre Freiheit ist die Freiheit für die Großunternehmen,
sich immer weiter aus der Ausbildung zurückziehen.
({19})
Ihre Freiheit ist die Freiheit für die Arbeitgeber, die
Rechte der Beschäftigten und Auszubildenden abzubauen. Diese Freiheit wollen wir nicht.
({20})
Immer mehr Menschen spüren, wie falsch und verlogen Ihr Gerede von Freiheit ist, und sie wehren sich gegen diese Politik. Für morgen hat der DGB in Berlin,
Stuttgart und weiteren Städten Demonstrationen angekündigt.
({21})
Wir rufen alle dazu auf, sich daran zu beteiligen und sich
auch gegen diese falsche Ausbildungspolitik zu wehren.
Danke schön.
({22})
Ich erteile nun der Kollegin Priska Hinz, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat aus unserer Sicht beim Thema Ausbildung bislang leider versagt.
Wir hatten die Diskussion um den Ausbildungspakt
und die fehlenden Ausbildungsplätze bereits vor einem
Jahr und seitdem verkündet die Bundesregierung unermüdlich: Der Pakt wird weiterentwickelt, es gibt ein
Programm „Zweite Chance“, es wird strukturelle Veränderungen in der beruflichen Bildung geben und eine bessere Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es wäre gut gewesen, wenn sich die Ministerin
Schavan oder Wirtschaftsminister Glos so richtig in die
Sache reingekniet hätten, um diese Ziele auch in dem einen Jahr zu erreichen.
Aber wie ist die Situation, die wir jetzt haben? Der Innovationskreis der Bundesbildungsministerin tagt und
tagt. Bislang wurde noch nicht einmal ein Zwischenergebnis bekannt gegeben. Das Pakttreffen endet jedes
Mal ohne Ergebnis, das heißt, ohne dass neue Instrumente entwickelt und vereinbart wurden. Durch diese
Untätigkeit über ein Jahr hinweg gibt es in diesem Jahr
mehr Altbewerberinnen und -bewerber und damit eine
größere Anzahl unversorgter Jugendlicher, die auf einen
Ausbildungsplatz warten. Die Nachvermittlung hat jetzt
begonnen. Es ist fraglich, wie viele bei dieser Nachvermittlung überhaupt noch eine Chance bekommen werden. Derzeit gibt es die Befürchtung, dass mehr als die
11 400 Jugendlichen übrig bleiben, die im letzten Jahr
unversorgt geblieben sind. Das wären diejenigen, die uns
nächstes Jahr wieder begegnen, zusätzlich zu denen aus
den Warteschleifen.
Dieses Thema gehört auch in die Debatte um die Armutsentwicklung, die begonnen hat. Denn diese Jugendlichen bleiben direkt am Beginn ihres Berufslebens ohne
Perspektive und viele geraten in eine resignative Haltung, wenn sie von einer Warteschleife in die andere geschickt werden.
Was macht der Wirtschaftsminister? Er hat in der Regierungsbefragung am Mittwoch erklärt: Die Lage ist
wesentlich besser, als sie zum Teil in der Presse dargestellt wird. Das ist schlicht und ergreifend Realitätsverweigerung.
({0})
Es ist Schönfärberei, wenn man nur darauf verweist,
dass es mehr betriebliche Ausbildungsplätze gibt, denn
die betrieblichen Ausbildungsplätze sind insgesamt
Priska Hinz ({1})
- über alle Betriebe und Branchen hinweg gesehen - leider auch in diesem Jahr noch einmal zurückgegangen.
({2})
Ohne die kleinen und mittleren Betriebe - das muss
man deutlich sagen - wäre es noch viel schlimmer. Sie
erfüllen ihre Pflicht, sie zeigen Verantwortlichkeit. Deswegen ist an dieser Stelle durchaus ein Dankeschön an
diese Betriebe zu richten. Viele große Unternehmen, vor
allem die DAX-Unternehmen, kommen dieser Verantwortung aber nicht nach. Ich finde, hier muss weiterer
politischer Druck aufgebaut werden. Für jedes große
Unternehmen muss gelten: Es ist unanständig, nicht auszubilden, dafür aber die Vorstandsgehälter zu erhöhen.
({3})
Wir haben grüne Vorschläge zur Verbesserung der beruflichen Ausbildung.
Kurzfristig wollen wir aus den Überschüssen der
Bundesagentur für Arbeit 50 000 Plätze schaffen. Darüber sind sich selbst Ministerpräsident Koch und der
DGB einig. Manchmal gibt es seltsame Allianzen; die
kann man sich aber zunutze machen.
({4})
Wir wollen strukturelle Veränderungen. Alle berufsvorbereitenden Maßnahmen müssen zertifiziert werden,
damit die Ausbildung darauf aufbauen kann. Sonst haben wir im nächsten Jahr wieder zusätzliche Altbewerber.
Die EQJ-Programme müssen für die Zielgruppe der
benachteiligten Jugendlichen zur Verfügung stehen. Es
kann nicht angehen, dass in der Mehrzahl Jugendliche
mit Realschulabschluss oder höherem Abschluss in diese
Einstiegsqualifizierungen gehen. Die Richtlinien sehen
vor, dass vor allen Dingen Hauptschüler und solche, die
Schwierigkeiten haben, mithilfe dieser Programme einen
Einstieg finden. Die EQJ-Programme müssen mit Berufsschulunterricht versehen und zertifiziert werden, damit es für die weiteren Ausbildungsschritte anerkannt
werden kann.
({5})
Auf diesen Gebieten hat die Bundesregierung noch
Nachholbedarf. Wenn sie den nicht aufholt, werden die
EQJ-Programme ins Leere laufen.
({6})
Wir wollen in Berufsschulen Produktionsschulen integrieren, die gerade lernschwächeren Schülern eine
Chance bieten können. Diesen Schülern, die oft schlicht
und einfach schulmüde sind, nützt es nichts, wenn sie in
vollschulische Ausbildungsgänge geschickt werden.
Diese Schüler können über die Praxis an die Theorievermittlung herangeführt werden. Hiermit könnte man eine
neue Form der Dualität von Ausbildung erproben, nämlich indem solche Produktionsschulen bei der Auftragsvergabe und der Akquirierung von Aufträgen mit örtlichen Betrieben zusammenarbeiten. Das funktioniert in
anderen Ländern ganz gut. Machen wir uns das doch zu
Eigen.
Wir wollen eine Modularisierung der beruflichen
Bildung gestalten. Der Antrag der großen Koalition zum
EQR ist in diesem Sinne sehr gut.
({7})
Das liegt daran, dass Sie im Wesentlichen von uns abgeschrieben haben. Unser Antrag ist ja schon ein halbes
Jahr alt.
({8})
Ich freue mich sehr auf die Anhörung im Bildungsausschuss, weil wir dort wahrscheinlich zu einer großen Einigkeit kommen. Es ist notwendig, dass in der beruflichen Bildung bald mit Modularisierung begonnen wird.
({9})
- Nein, das ist überhaupt nicht neu. Sie lesen unsere Veröffentlichungen anscheinend nicht, Frau Flach. - Wir
wollen die Modularisierung der Lernschritte, damit alle
Jugendlichen tatsächlich eine Chance haben, bis zu einem guten Ausbildungsende zu kommen.
({10})
Die Hilfen zur Berufsorientierung und die Berufsberatung müssen verbessert werden. Wir müssen überlegen
- auch das ist notwendig -, in welchen Zukunftsfeldern
das Ausbildungsangebot ausgebaut werden muss. Das
Erziehungswesen und der Bereich der Pflege sind klassischerweise keine dualen Ausbildungsgänge.
Hier brauchen wir Gehirnschmalz. Wir stehen gerne
zur Verfügung, um Ihnen auf die Sprünge zu helfen, entsprechende Programme zu entwickeln. Sie aber haben
die Verantwortung, die Gewerkschaften, die Unternehmen und die Länder im Pakt zusammenzubringen und
ein umfassendes Konzept vorzulegen. Dieser Verantwortung sind Sie bislang nicht nachgekommen. Ich fordere
Sie auf: Schauen Sie sich unsere Vorschläge an und machen Sie sie sich zu Eigen. Dann stehen wir im nächsten
Jahr auf jeden Fall viel besser da. Knien Sie sich jetzt in
die Sache rein, damit die Jugendlichen in Deutschland
eine Chance haben, bis zum Ende der Nachvermittlungszeit einen Platz zu finden.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun die Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass sich die
Grünen so intensiv mit der beruflichen Bildung beschäftigen und Vorschläge zu diesem Thema vorlegen. Sie
werden mir aber nicht verübeln, dass ich sage: Sie hatten
ziemlich viel Zeit, nämlich sieben Jahre, um zu verhindern, dass dieser Regierung jetzt die Vermittlung einer
so großen Gruppe an Altbewerbern als Aufgabe gestellt
wird. Das sollten Sie nicht vergessen.
({0})
Ich halte die Modularisierung für richtig. Ich werde
gleich darauf zurückkommen. Ich sage mit Blick auf Sie,
Frau Hirsch: Es ist ein ziemlich schräger Vorschlag, den
Ausbildungspakt abzublasen.
({1})
Wir sollten uns am frühen Morgen nicht so furchtbar
darüber echauffieren. Wir alle sehen die Situation, in der
wir uns befinden, gleichermaßen. Die Zahlen sind klar.
Wir haben ein Plus an zur Verfügung gestellten Ausbildungsplätzen.
({2})
Das zeigt, dass es so wichtig war, einen Ausbildungspakt
abzuschließen.
Die Bilanz in diesem Jahr hat zwei Seiten: Licht und
Schatten. Auf der Lichtseite gibt es bei den Industrieund Handelskammern ein Plus der Ausbildungsverhältnisse in Höhe von 4 Prozent. Selbst beim Handwerk
- das wurde eben gesagt - gibt es trotz Arbeitsplatzverlusten ein Plus von 1,6 Prozent. Die Schattenseite ist,
dass es einen deutlichen Anstieg der Bewerbungen gibt.
Deshalb steigt die Zahl derer, die nicht versorgt sind.
({3})
Darüber streitet niemand. Deshalb rate ich uns allen: Lamentieren, Appellieren und wechselseitige Schuldzuweisungen helfen überhaupt nicht weiter.
({4})
Wir stecken mitten in vielen wichtigen Initiativen, mit
denen sich im Laufe der Jahre vieles verändern wird. Ich
nenne Ihnen ein paar, die nicht erst in Vorbereitung, sondern längst in der Durchführung sind.
({5})
Erstens das Programm „Jobstarter“. Wir haben die
Mittel dafür auf 125 Millionen Euro erhöht. Wir haben
damit die Zahl der Projekte in der zweiten Förderrunde
verdoppelt. Das ist ein ganz wichtiges Strukturprogramm.
({6})
Denn wir reden längst nicht mehr nur über das Bemühen
von Unternehmen. Wir kennen sehr genau die Regionen,
in denen es nicht genügend Unternehmen gibt und in denen der Mittelstand nicht so stark vertreten ist, dass wir
darauf setzen könnten, dass die Unternehmen diese Aufgabe leisten. Es ist also ein Strukturprogramm für diese
Regionen - vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auch in einigen alten Bundesländern -, um dort zu neuen Strukturen, zu Verbundmöglichkeiten, zu betriebsnahen Ausbildungen und anderem
zu kommen.
Zweitens die Einstiegsqualifikation. Das Arbeitsministerium hat mit einem Beschluss des Kabinetts die
Zahl der Plätze für die Einstiegsqualifizierung auf
40 000 erhöht.
({7})
Die Erfahrungen der ersten Runde zeigen, dass das in
mehrfacher Hinsicht ein gutes Instrument ist. Wir schicken Jugendliche, die die Nase von der Schule voll haben, nicht wieder in die Schule,
({8})
sondern wir geben ihnen die Möglichkeit, Kontakt zu einem Unternehmen zu knüpfen. Gleichzeitig geben wir
dem Unternehmen die Möglichkeit, junge Leute kennen
zu lernen, die vielleicht schlechte Note haben, sich in der
Praktikumszeit aber sehr gut entwickeln. In der ersten
Runde haben 60 Prozent den Übergang in eine duale
Ausbildung geschafft. Das ist ein gutes Ergebnis.
({9})
Drittens sind 13 000 Stellen seitens der Bundesregierung in den neuen Ländern zusätzlich geschaffen worden. Nach jetzigem Stand - wir haben gestern im Haushaltsausschuss darüber gesprochen - werden diese
13 000 Stellen auch besetzt.
Viertens sind 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze
vereinbart worden. Staatssekretär Storm aus meinem
Haus hat gemeinsam mit Frau Staatsministerin Böhmer
mit Verbänden von Unternehmern ausländischer Herkunft eine Vereinbarung getroffen. Denn wir wissen,
dass Jugendliche mit Migrationshintergrund von diesem
Problem besonders betroffen sind und dass es hier besonders wichtig ist, eine Ausbildungskultur in den Unternehmen zu entwickeln, die Möglichkeiten zur Ausbildung haben, aber bisher die duale Ausbildung so noch
nicht kennen. Auch das ist ein Fortschritt.
({10})
Ich sage noch einmal: Wer immer rät, den Ausbildungspakt abzuschaffen oder ihn nicht mehr so wichtig
zu nehmen, unterschätzt die Bedeutung des Themas.
Vieles wurde bewirkt. Jedem muss klar sein, dass wir
hier letztlich über einen Teil des Generationenvertrages
sprechen. Deshalb muss der Pakt über 2007 hinaus verlängert werden.
({11})
Auch auf Länderebene geschieht vieles. Heute ist in
den Zeitungen zu lesen: Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister hat angekündigt, dass in der Nachvermittlungszeit seitens des Landes 3 000 zusätzliche Lehrstellen geschaffen werden.
({12})
- Wenn es um Nordrhein-Westfalen geht, klatscht Frau
Flach; das finde ich Klasse.
Die Brisanz dieses Themas muss angesprochen werden. Niemand von uns sollte dieses Problem, das seit
vielen Jahren zu beobachten ist, kleinreden. In dieser
Zeit war fast jede der hier vertretenen Parteien - außer
den Linken - auch einmal an der Regierung beteiligt.
Daher muss man feststellen: Die Verantwortung für die
Zahlen, um die es geht, können wir unter uns aufteilen.
Ich kenne sogar Wirtschaftsminister von der FDP - es
gibt zwar nicht mehr viele, aber zumindest einen kenne
ich noch -, für die dasselbe gilt.
({13})
- Ja, nur gute.
({14})
- Geschenkt.
Nun komme ich auf die Altbewerber zu sprechen.
Dieses Problem lässt sich in der Tat nicht allein durch
den Ausbildungspakt lösen. Dahinter verbergen sich
nämlich noch ganz andere Probleme. Deshalb haben wir
auch hier die notwendigen Schritte auf den Weg gebracht. Wir müssen auf dieses Thema spezifische Antworten finden.
Erstens. Es muss uns in den nächsten Wochen gelingen, einen Überblick über die tatsächlichen Zahlen, nach
Möglichkeit heruntergebrochen auf die Ebene der Regionen, zu bekommen. Wenn zum Beispiel im eigenen
Wahlkreis 100 Jugendliche noch nicht mit einem Ausbildungsplatz versorgt sind, dann werden sie eingeladen. Es
kommen allerdings nur 50 von ihnen.
({15})
Wir müssen klären, warum das so ist. Was steckt dahinter? Was ist mit den anderen 50 Jugendlichen, die die
Einladung nicht annehmen? Haben sie sich inzwischen
anders entschieden? Schlagen sie eine andere Bildungsbiografie ein bzw. machen sie an einer anderen Stelle
Station? Wir brauchen, heruntergebrochen auf die einzelnen Agenturbezirke, genauere Zahlen darüber, welcher Jugendliche für eine Vermittlung zur Verfügung
steht.
Zweitens. Die strukturelle Modernisierung, Frau
Hinz, ist eingeleitet. Die entsprechenden Maßnahmen
liegen längst auf dem Tisch. Über sie wird gerade diskutiert. Weil Sie selbst einmal im Geschäft waren, sage ich
Ihnen: Sie wissen doch, dass hier sehr viele Partner eine
Rolle spielen und dass zunächst einmal sowohl aufseiten
der Gewerkschaften als auch aufseiten beider Sozialpartner über die Frage der Modularisierung diskutiert wird.
Das Konzept, in dem es um die curriculare Modularisierung von fünf bis acht Ausbildungsbausteinen in vier
der großen Berufe geht - so wurde es in der letzten Sitzung des Innovationskreises besprochen -, liegt also auf
dem Tisch. Sie können davon ausgehen, dass wir diesen
Weg, wenn wir die Zustimmung derer finden, die zustimmen müssen, schon zu Beginn des nächsten Ausbildungsjahres beschreiten können. Ich halte diesen Punkt
für wirklich zukunftsweisend.
Wir brauchen die Modularisierung der beruflichen
Bildung. Wenn Jugendliche eine berufliche Vollzeitschule besuchen und Kompetenzen erwerben - das betrifft auch die überbetrieblichen Ausbildungsstätten, die
wir ebenfalls stärker in die Ausbildungsverpflichtungen
und -aufgaben einbeziehen sollten -, dann brauchen wir
sehr viel Transparenz. Die Leistungen müssen zertifiziert werden. Mit diesen Zertifikaten muss jeder Jugendliche seine Ausbildungsschritte, ähnlich wie in einem Baukastensystem, aufeinander aufbauen können
und die Möglichkeit bekommen, eine Prüfung abzulegen.
({16})
Das wird auch so kommen - davon bin ich überzeugt -, weil wir eine Verbindung zwischen dem europäischen Qualifikationsrahmen und dem nationalen
Qualifikationsrahmen benötigen. Dafür brauchen wir in
der gesamten Bandbreite der beruflichen Bildung Transparenz. Ich glaube, hier bietet sich eine wirklich gute
Chance, durch die strukturelle Modernisierung der beruflichen Bildung vor allem die so genannten Altbewerber zu erreichen.
An die Adresse der Industrie- und Handelskammern
muss ich aber auch sagen: Ich werde Druck machen,
dass jetzt endlich die Möglichkeiten ergriffen werden,
die im Berufsbildungsgesetz geschaffen worden sind.
({17})
Denn schon jetzt bestehen Möglichkeiten, die Leistungen der Jugendlichen, die ein kaufmännisches Berufskolleg, und derjenigen, die eine berufliche Vollzeitschule
besuchen, so zu zertifizieren, dass sie nach einer anschließenden Praxiszeit in einem Unternehmen ihre Prüfung ablegen können. Die gesetzlichen Möglichkeiten,
die zu diesem Zweck geschaffen worden sind, müssen
allerdings besser genutzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass das gelingt.
({18})
- Frau Hinz, genauso ist es bereits: Im Rahmen des Innovationskreises geschieht genau das, was Sie fordern.
({19})
Da sitzen die Länder, da sitzen sämtliche Sozialpartner,
da sitzt die Bundesregierung, da sitzen alle an einem
Tisch und lamentieren nicht herum, sondern sind längst
dabei, zu überlegen, wie wir den Einstieg in eine strukturelle Modernisierung schaffen, um die Zukunftschancen
der jungen Generation zu verbessern, wo sie nicht gut
sind, bzw. sie zu sichern. Das ist das, was wir alle wollen. Das gehört zu unseren vornehmsten Aufgaben.
Vielen Dank.
({20})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Willi
Brase das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Manchmal muss man
über die Vergangenheit reden. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir mit unserem Jugendsofortprogramm
knapp 60 000 vollwertige Ausbildungsplätze geschaffen.
({0})
Das, Frau Schavan, war eine positive Leistung der alten
Bundesregierung, um das hier einmal deutlich zu sagen.
({1})
Hochinteressant ist, dass wir im Zusammenhang mit
diesem Programm von einigen heftig dafür kritisiert
worden sind,
({2})
dass wir mit Geld der öffentlichen Hand zusätzliche
Ausbildungsplätze schaffen. Dass jetzt, wo Minister
Laumann in NRW das Gleiche macht - den ich dabei
ausdrücklich unterstütze -, geklatscht wird, das hat ein
Geschmäckle.
({3})
Lassen Sie mich etwas zu § 43 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz sagen, demzufolge auch Bewerber, die eine
vollzeitschulische Berufsausbildung absolviert haben,
die Kammerprüfung ablegen dürfen. Das ist damals von
bestimmter Seite massiv gefordert worden,
({4})
auch von den Kolleginnen und Kollegen, die an einer
Berufsschule als Lehrer tätig sind. Heute, in der Umsetzung, stellt sich genau das Gegenteil dar: Man hält sich
sehr zurück. Denn wenn wir wollen, dass öffentlich finanzierte und betriebliche Ausbildung gleichwertig sind,
muss auch die öffentlich finanzierte so etwas wie Betriebsnähe und Praktika aufweisen. Es scheint für einige
Regionen, vielleicht sogar für viele, eine harte Aufgabe
zu sein, für die jungen Leute, die eine vollzeitschulische
Ausbildung machen, Praktika zu organisieren, wie wir es
im Gesetz formuliert haben.
({5})
Meine Bitte, die ich ein Stück weit an die Länder
richte, ist, diesen Weg mitzugehen. Denn das ist eine
Möglichkeit, Altbewerbern und Altnachfragern eine vernünftige Chance zu geben, eine qualifizierte Ausbildung
von drei oder dreieinhalb Jahren - wo es nicht anders
geht, auch nur von zwei Jahren - zu bekommen.
({6})
Die Bedingungen haben wir hier im Parlament durch die
Reform des Berufsbildungsgesetzes gemeinsam geschaffen.
({7})
Herr Meinhardt, ich möchte etwas zum EQJ sagen.
Wir haben uns seinerzeit, was den Ausbildungspakt angeht, in dieser Frage sehr vorsichtig positioniert, weil
wir nicht genau wussten, ob eigentlich die Personengruppen angesprochen werden, die aus unserer Sicht angesprochen werden müssen, oder ob wieder eine Verdrängung stattfindet. Die bisherigen Untersuchungen
- zum Ruhrostgebiet gibt es eine von der Hans-BöcklerStiftung, ferner gibt es eine von der GIB - besagen, dass
die Grundannahme Klebeeffekt wohl richtig ist. Nahezu
60 Prozent werden in eine betriebliche Ausbildung übergehen.
({8})
Wir erleben aber die Verdrängung von sehr guten Hauptschülern durch Realschüler.
({9})
- Dazu komme ich noch, Herr Tauss, nicht so schnell!
Wir haben mit dem Berufsbildungsgesetz die Berufsausbildungsvorbereitung in den Betrieben ausdrücklich
mit auf den Weg gegeben. Ich sehe das EQJ als Vormaßnahme, als Vorschritt, dorthin zu kommen. Derzeit finanzieren wir es noch über die Bundesagentur für Arbeit. Man könnte, wenn es um Verantwortlichkeiten und
Zuständigkeiten geht, auch einmal darüber diskutieren,
ob das nicht die Unternehmen machen müssten und ob
wir als öffentliche Hand uns nur dann engagieren sollten, wenn junge Leute keinen Abschluss haben oder
Ähnliches. Das wäre eine Weiterentwicklung, die dem
nach meiner Auffassung Rechnung tragen würde.
({10})
Wir haben das IAB-Betriebspanel zu Rate gezogen,
weil es immer wieder heißt, es gibt nicht genügend
Unternehmen, die ausbilden. Wenn man sich dieses
Betriebspanel anschaut, dann stellt man fest, dass je nach
Größe immer noch zwischen 5 und 30 Prozent der Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, nicht ausbilden.
({11})
Interessant ist es, einmal zu schauen, welche Rechtsform die Unternehmen haben, die ausbilden, und welche
Rechtsform die Unternehmen haben, die nicht ausbilden.
Unabhängig davon erwarten wir als SPD-Fraktion, dass
beim Innovationskreis bei Frau Ministerin Schavan endlich genau der Frage auf den Grund gegangen wird, wie
wir an die 20 bis 25 Prozent der Unternehmen herankommen, die ausbilden könnten, es aber nicht tun, damit
sie endlich auch ausbilden. Dann würde es in unserer
Gesellschaft ein Stück weit besser aussehen.
({12})
Wenn Sie vor Ort nachschauen und mit Ihren Kammern reden, also mit den zuständigen Stellen, dann werden Sie feststellen, dass jede zuständige Stelle in der
Lage sein wird, einigermaßen verlässlich zu beziffern,
welches Potenzial dort noch vorhanden ist. Deshalb
bleibe ich dabei: Wir erwarten und erhoffen Antworten
vom Innovationskreis, sodass wir hier ein Stück weit
nach vorne kommen.
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen haben
wir intensiv über Schichten, über Arme und über Ausgegrenzte in dieser Republik diskutiert. Mir ist ein, wie ich
finde, sehr nachdenklich machendes Interview mit dem
Soziologen Professor Heinz Bude zur Kenntnis gelangt.
Es zeigt ein wenig, wie schwierig die Diskussion ist. Er
ist nach der Debatte über eine Klassengesellschaft
gefragt worden und er verweist darauf, dass bei Umfragen von Berufsschullehrern mit ausbildungsmüden
Jugendlichen Folgendes zum Ausdruck kommt: Sie haben das Gefühl, dass sie vielleicht etwas tun können,
dann aber nicht übernommen werden. Was nutzt ihnen
also eine Ausbildung und was bringt sie ihnen eigentlich?
Wenn diese Sichtweise, dass nicht mehr vermittelt
werden kann, was es eigentlich noch bringt, Leistung zu
erbringen, und wo man diese Leistung danach umsetzen
kann, in Teilen der jungen Generation vorherrscht, dann
haben wir in unserer Gesellschaft insgesamt eine Menge
dafür zu tun, sie zu verändern. Das bedeutet: Wenn wir
es nicht schaffen, dass genügend betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden, dann müssen
wir auch zusätzliche Mittel in die Hand nehmen - dies
hat meine Kollegin Nicolette Kressl bereits gesagt -, um
sie mit genau den Maßnahmen zu erreichen, die ihnen
tatsächlich helfen. Da helfen auch keine dauerhafte Diskussion und keine Umlagefinanzierung.
({13})
Bis wir so etwas auf den Weg gebracht haben, sind diese
Jugendlichen noch fünfmal enttäuscht worden.
({14})
Ein weiterer Punkt - dem können wir uns nicht entziehen -: Wir werden demnächst hier im Parlament über
den Bildungsbericht, der im Auftrag der Konferenz der
Kultusminister der Länder und des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung erstellt wurde, diskutieren.
Es fällt auf, dass es Strukturverschiebungen bei der beruflichen Ausbildung und bei der Versorgung von jungen
Leuten gibt, die offensichtlich nicht so einfach zu handhaben sind, wie wir es in der politischen Auseinandersetzung teilweise gerne tun.
Ich will es einmal deutlich sagen: 1995 kamen
547 000 Jugendliche neu in die duale Ausbildung.
180 000 Jugendliche befanden sich im Schulberufssystem. Das ist Landesrecht. Sie haben es angesprochen:
Pflegeausbildung, Ausbildung für Kindererziehung etc.
Daneben befanden sich 341 000 junge Leute in Übergangsmaßnahmen: Grundausbildungslehrgänge, BVJ,
BGJ und was es dort alles gibt. Diese Zahlen haben sich
verändert. 2004 gab es eine Steigerung gegenüber 2003.
Im ersten Sektor waren es 535 000, im zweiten Sektor
waren es 211 000 - die Zahl der Jugendlichen im Schulberufssystem ist also noch einmal angestiegen - und im
dritten Sektor waren es 488 000. Im Jahr vorher waren es
im dritten Sektor 599 000. Die positiven Veränderungen
hatten etwas mit dem JUMP-Programm zu tun. Ich will
damit sagen: Wenn sich dies auf lange Sicht verfestigt,
dann tut sich die Wirtschaft keinen Gefallen damit, wenn
sie nicht mehr und genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt.
({15})
In den 70er- und 80er-Jahren lag der Anteil der Neuzugänge teilweise bei 60 bis 70 Prozent. Es muss das
Ziel sein, dort wieder hinzukommen; denn damit verringern wir automatisch die Anzahl an Warteschleifenmaßnahmen und Ähnlichem. Ich glaube, das ist der richtige
Weg.
({16})
Letzte Bemerkung. Ich halte sehr viel davon, auch
immer zu schauen, wie die Praxis aussieht. Mein Glück
ist, dass ich seit fast 20 Jahren in diesem Bereich tätig
bin.
({17})
Es ist nun einmal so, dass ein Teil der jungen Leuten die
Schule nach wie vor ohne Abschluss verlässt - 9 oder
10 Prozent. Die Forderung des Zentralverbands des
Deutschen Handwerks, diese Zahl innerhalb von vier
oder fünf Jahren um 50 Prozent zu reduzieren, ist richtig.
Das wäre eine vernünftige Kampfmaßnahme der Länder
und unserer Gesellschaft. Damit würden wir den jungen
Menschen etwas Gutes tun.
({18})
Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam streiten.
Wir werden dies im Zusammenhang mit der europäischen Berufsbildungspolitik noch stärker machen müssen. Wir freuen uns auf diese Diskussion.
Herzlichen Dank.
({19})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Willi
Brase, Sie haben zu Recht gesagt: Man muss zwischendurch immer wieder einmal die Vergangenheit betrachten.
({0})
Ich will die Vergangenheit jetzt nicht zu sehr in Haftung
nehmen.
({1})
Aber wir haben bei der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes ganz hervorragend zusammengearbeitet.
({2})
Das war quasi ein Probelauf der neuen Freundschaft, die
wir inzwischen pflegen.
Aber eines muss man schon sagen: Das Gezappel in
Ihrer Fraktion, bis wir den Ausbildungspakt endlich beschlossen hatten, hat schon für Unsicherheit gesorgt.
({3})
Das hat nicht unbedingt dazu beigetragen, neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Aber wir sind uns einig, dass
die Situation momentan nicht zufriedenstellend ist. Die
Ausbildungslücke ist uns allen mit Sicherheit viel zu
hoch. Es fehlen 34 000 Lehrstellen. Das ist kein schönes
Ergebnis. Das erfordert von uns allen noch große Anstrengungen.
Ich erinnere an die Debatte, die wir Anfang dieses
Jahres geführt haben. Wer hätte in der damaligen Situation gedacht, dass wir überhaupt einmal so weit kommen? Dahinter stehen riesige Anstrengungen einer Vielzahl von Unternehmen und auch einer ganzen Reihe von
Mittelständlern, die sich maßgeblich bemüht haben,
neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Auf die seltsame
neue Unterschichtsdebatte will ich nicht näher eingehen.
Aber eines ist klar: Bei der Diskussion um Lehrstellen
geht es nicht nur um einen Ausbildungsplatz für junge
Menschen. Vielmehr geht es für diese jungen Menschen
um einen Platz in unserer Gesellschaft. Diesen müssen
wir bereitstellen.
Dass wir und die Unternehmen es nach großen Anstrengungen geschafft haben, die Ausbildungslücke
stark einzuschränken, hat etwas mit dem Wachstum in
der Bundesrepublik zu tun. Der Wirtschaftsminister prognostiziert ein Wachstum von 2,5 Prozent. Die anspringende Konjunktur wirkt langsam auch auf dem Ausbildungsmarkt. Wir alle haben dazu eine ganze Menge
beigetragen. Ich möchte mich bei den zuständigen Ministern und bei den Kolleginnen und Kollegen ganz
herzlich bedanken, die im Deutschen Bundestag dafür
gearbeitet haben. Namentlich möchte ich auch die CDU/
CSU-Fraktion erwähnen, deren Abgeordnete in ihren
Wahlkreisen eine Ausbildungstour gestartet haben, um
für noch mehr Ausbildungsplätze zu werben. Ich glaube,
all das hat insgesamt geholfen.
({4})
Der Paktlenkungsausschuss hat beschlossen, dass der
Ausbildungspakt weitergeführt werden soll. Die Einzigen, die leider Gottes noch immer nicht im Boot sind,
sind die Gewerkschaften. Wer aber hier nicht mitmacht,
der kann auch bei der Nachvermittlung nicht mitmachen.
Diese Situation ist bedauerlich. Ich möchte alle, die hier
Einfluss haben, bitten, dafür zu sorgen, dass sich zukünftig alle gesellschaftlichen Gruppen am Ausbildungspakt
beteiligen. Gegen Ende diesen Jahres bzw. Anfang
nächsten Jahres wird die Ausbildungslücke - davon bin
ich überzeugt - rechnerisch nahezu gegen null gehen.
Liebe Kollegin Hirsch, nachdem Sie mich in hervorragender Weise zitiert haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Nicht nur für die Unternehmen in unserem
Land, sondern vor allem auch für die Auszubildenden,
die durch die großen Anstrengungen einen Ausbildungsplatz gefunden haben, muss es wie Hohn klingen, wenn
Sie immer wieder sagen: Der Ausbildungspakt funktioniert nicht.
50 Prozent der zur Verfügung gestellten Ausbildungsstellen kommen in Unternehmen zustande, die weniger
als 50 Mitarbeiter beschäftigen. Wir müssen endlich einmal anerkennen, dass es vor allen Dingen die freiwilligen Leistungen der Menschen in unserem Lande sind,
durch die die zukünftigen Lehrstellen geschaffen werden. Dadurch ist es im letzten Jahr gelungen, 27 500 zusätzliche Lehrstellen in der Nachvermittlung bereitzustellen. Ich bin mir sicher, dass diese Zahl dieses Jahr
sogar noch übertroffen wird. Das Ganze funktioniert
ohne sozialistische Keule. Es funktioniert, weil die Menschen ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen wollen - ohne Zwangsregelung, ohne staatliche
Bevormundung und ohne Ausbildungsplatzabgabe.
({5})
Liebe Kollegin Sager, ich spreche Sie an, weil Sie am
Mittwoch dieser Woche in der Regierungsbefragung gegenüber dem Bundesminister Glos dargestellt haben,
dass die vollzeitschulische Ausbildung zurzeit nur in
vier Bundesländern stattfindet und nicht in allen 16. Ich
kann Ihnen dazu sagen: Wir haben in der Debatte, die
wir geführt haben, als wir das Berufsbildungsgesetz novelliert und diese Möglichkeit geschaffen haben, natürlich maßgeblich den Osten dieses Landes vor Augen gehabt. Dort, wo auch bei größten Anstrengungen keine
Lehrstellen im Betrieb eingerichtet werden konnten,
sollte eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen werden,
nämlich die vollzeitschulische Ausbildung. Diese war
aber nie als gleichwertige Alternative zur dualen Ausbildung gedacht und das darf sie auch nie werden.
({6})
Wenn man darüber debattiert, sollte man nicht beklagen, dass es jetzt eine Welle von Altbewerbern gibt. Daran zeigt sich, dass es zur dualen Ausbildung in Betrieb
und Schule keine echte Alternative gibt. Vollzeitschule
und Ähnliches sind nur Hilfskonstrukte, die im Zweifelsfall nur die zweitbeste Lösung sind. Deswegen wollen wir die vollzeitschulische Ausbildung nicht zum Regelfall machen.
({7})
Ich glaube, an dem, was Frau Ministerin Schavan gesagt
hat, ist deutlich geworden: Wir brauchen einen Mix an
Maßnahmen. Wir sind dabei, diesen Mix anzupassen
bzw. zu kreieren. Ich glaube, dass wir letztlich zu einer
guten Situation in der Ausbildungsfrage kommen.
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/1258. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in
Kenntnis des Berufsbildungsberichtes 2005 auf Drucksache 15/5285 die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/543 mit
dem Titel „Neue Dynamik für Ausbildung“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 der Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss in Kenntnis des genannten Berufsbildungsberichts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/235 mit dem Titel „Die duale Berufsausbildung in Deutschland kontinuierlich verbessern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss in Kenntnis des Berufsbildungsberichts
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/122 mit dem Titel „Statt Ausbildungspakt - Für eine umlagefinanzierte berufliche Erstausbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/198 mit dem Titel „Berufsbildung umfassend
sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Auch diese Beschlussempfehlung ist mit wiederum breiter Mehrheit, diesmal gegen die Stimmen der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen, angenommen. So fügt
sich eine Überraschung an die nächste.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/1370, 16/2540 und 16/2630 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/2996 - Tagesordnungspunkt 23 c - soll an dieselben Ausschüsse wie die
Vorlage auf Drucksache 16/2540 und zusätzlich an den
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 13 auf:
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für einen sozial gerechten Mindestlohn in
Deutschland
- Drucksache 16/1878 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Matthias Berninger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Arbeit in Armut verhindern
- Drucksache 16/2978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 1. Juni dieses Jahres haben wir schon einmal
gefordert, in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die teilweise 40 Stunden in der Woche arbeiten, einzuführen.
({0})
Sie haben unseren Antrag, in dem wir die Einführung
einer Mindestlohnregelung gefordert haben, in namentlicher Abstimmung abgelehnt und waren nicht dazu zu bewegen, die von uns vorgetragenen Argumente anzunehmen. Es ist zu erwarten - das hat insbesondere Kollege
Niebel schon angekündigt -, dass auch der vorliegende
Antrag abgelehnt wird.
({1})
Mittlerweile haben Sie eine Armutsdebatte geführt,
die nach dem bekannten Muster verlaufen ist. Zunächst
wurde darüber schwadroniert, ob man den Begriff Unterschichten verwenden dürfe.
({2})
Nachdem diese Debatte beendet war, haben Sie sich gegenseitig die Schuld an der negativen Entwicklung zugeschoben, die Hartz IV in unserer Bevölkerung verursacht
hat.
Wir, die Fraktion Die Linke, glauben, dass solche Debatten zu einer immer stärkeren Politikverdrossenheit
beitragen. Es wäre konsequent, wenn Sie die entsprechenden Schlüsse aus dieser Debatte ziehen würden. Das
hieße erstens, die Hartz-IV-Gesetze zu novellieren, und
zweitens, den gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro pro
Stunde in Deutschland einzuführen.
({3})
Wir haben heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeladen, die zu den derzeitigen Bedingungen arbeiten. Sie erhalten zum Beispiel Stundenlöhne von
5,86 Euro, 5,19 Euro und 6 Euro. Ich habe einen Lohnzettel mitgebracht. Vielleicht kann dieses Beispiel etwas
bei Ihnen bewegen, Herr Niebel, wenn es Sie interessiert, wie es den Menschen draußen geht. Da arbeitet jemand 40 Stunden pro Woche für einen Nettolohn von
797,19 Euro. Es ist doch eine Schande, wenn jemand in
Deutschland 40 Stunden in der Woche arbeiten muss und
dafür nur knapp 800 Euro netto bekommt.
({4})
Stellen Sie sich vor, was das bedeutet, wenn jemand
arbeitslos wird, oder wie sich das später auf die Rente
auswirkt. Es ist ein Ausdruck von Gefühllosigkeit, diese
Bedingungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und nicht
endlich auch bei uns eine gesetzliche Regelung einzuführen, die es bereits in den meisten europäischen Ländern gibt.
({5})
Was bilden wir uns eigentlich ein, dass wir diese gesetzliche Regelung, die in allen anderen europäischen Ländern funktioniert, in Deutschland nicht einführen?
Nun komme ich zu den Argumenten, die immer wieder vorgebracht werden. Das ist erstens das Standardargument der FDP und der CDU/CSU, es würden
Arbeitsplätze vernichtet.
({6})
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Hybris
hinweisen, die insbesondere in den Reihen der FDP
deutlich wird. Sie treten doch für Mindestlöhne Ihrer
Klientel - Ärzte, Rechtsanwälte und alle Freiberufler ein, indem Sie Honorar- und Gebührenordnungen fordern.
({7})
Es ist eine bodenlose Unverschämtheit, dass Sie das, was
Sie für diese Klientel festschreiben - dabei geht es um
Stundenlöhne von 50 Euro und teilweise sogar bis zu
1 000 Euro -, der großen Mehrheit der Bevölkerung verweigern.
Wenn alle, die von den Mindestlohnregelungen betroffen wären, hier versammelt wären, kämen 5 Millionen Bürgerinnen und Bürger zusammen. Vielleicht würden Sie dann nachgeben und Ihre Doppelzüngigkeit
aufgeben.
({8})
Damit Sie es begreifen, Herr Niebel: Wir wollen
keine Gebühren- und Honorarordnung für die oberen
Zehntausend, sondern für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Wir wollen solide Arbeitsbedingungen
für Millionen Menschen in diesem Lande.
({9})
Das zweite Argument, das immer wieder vorgebracht
wird, lautet, dass man nur auf die Tarifbildung warten
und dann die Tarife für verbindlich erklären müsse. Das
ist ebenfalls ein Scheinargument, wie jeder weiß. Erstens
schiebt man dadurch den Gewerkschaften die Verantwortung dafür zu, ob es weitergeht oder nicht. Zweitens
wird dabei die Tatsache ignoriert, dass es in vielen Branchen keine Tarifverträge mehr gibt. In Deutschland gibt
es 30 Branchen, die nicht tarifvertraglich geregelt sind.
Zudem müssten dann für 250 Branchen Mindestlöhne
vereinbart werden.
Das alles ist ein Hin- und Herschieben der Verantwortung. Auch diese Position ist für uns nicht haltbar und
glaubwürdig. Wir wollen vielmehr eine gesetzliche Regelung für alle Menschen, die seit Jahren darauf warten,
für ihre Arbeit ordentlich bezahlt zu werden.
({10})
Im Übrigen vertreten diese Position nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch Wirtschaftsbranchen. Vom Bauhandwerk ist in diesem Zusammenhang schon oft die Rede gewesen genauso wie
von der Gebäudereinigerbranche - hier ist etwas geschehen -, den Sicherheitsdiensten und den Handwerkskammern. Bernd Ehinger, der Handwerkskammerpräsident
des Rhein-Main-Gebietes, hat gegenüber der „Frankfurter Rundschau“ gesagt, ohne Mindestlöhne gingen Arbeitsplätze verloren. Da Sie ständig vorgeben, die Interessen des Handwerks zu vertreten, wäre es gut, wenn
Sie auf die Vertreter der betreffenden Branchen hörten.
({11})
Um Sie vielleicht zum Nachdenken zu bringen - angesichts des Verlaufs der Debatten über dieses Thema in
den letzten Jahren glauben wir nicht, dass wir Sie überzeugen können -, zitiere ich das, was der stellvertretende
Vorsitzende des britischen Industrieverbandes in der Anhörung unserer Fraktion gesagt hat:
Bisher war der Mindestlohn ein großer Erfolg. Für
mehr als 1 Million Arbeitnehmer sind die Löhne
deutlich angehoben worden, ohne dass dies Arbeitsplätze gekostet hätte. Auch die Wirtschaft ist
nicht behindert worden.
Warum hören Sie nicht auf diese Argumente und berücksichtigen Sie nicht die guten Erfahrungen, die im Ausland gemacht wurden? Warum glauben Sie eigentlich
immer, dass Sie alles besser wissen?
({12})
Das Dümmste ist aber Ihr ständiger Vorwurf des Populismus. Vielleicht sollten Sie sich einmal Gedanken
darüber machen, warum Sie als Volksvertreter in den
meisten Entscheidungen gegen die Mehrheit des Volkes
stimmen.
({13})
Die Mehrheit des Volkes will keine Mehrwertsteuererhöhung. Aber Sie scheren sich nicht darum und stimmen
dafür. Die Mehrheit des Volkes will keine Rente mit 67.
Aber Sie scheren sich nicht darum und stimmen dafür.
Die Mehrheit des Volkes wollte niemals die Hartz-IVGesetzgebung. Aber Sie haben die großen Protestkundgebungen einfach übersehen. Sie machen, was Sie wollen.
({14})
Die Mehrheit des Volkes wollte keine Praxisgebühr und
will die nun von Ihnen auf den Weg gebrachte Gesundheitsreform nicht.
({15})
Aber Sie glauben, dass Sie es besser wissen. Welch eine
Volksvertretung ist das, die in wichtigen sozial- und
steuerpolitischen Fragen ständig gegen die Mehrheit des
Volkes stimmt? Darüber sollten Sie einmal nachdenken!
({16})
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass
60 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür eintreten,
dass es in Deutschland eine ähnliche Regelung betreffend den Mindestlohn gibt wie in vielen europäischen
Nachbarstaaten. Vielleicht wäre es heilsam - das wäre
wahrscheinlich der einzige Weg, Sie zum Einlenken zu
bringen -, wenn wir - merken Sie auf! - unsere Diäten
an Mindestlöhne koppelten.
({17})
- Es ist wunderbar, dass Ihnen das nicht passt und Sie
sich aufregen.
Geben Sie sich doch einen Ruck! Sie hätten große Zustimmung vonseiten der Bevölkerung, wenn Sie den Mut
hätten, nicht nur Ihre eigenen Interessen, sondern die Interessen von 5 Millionen Beschäftigten in Deutschland
zu vertreten.
({18})
Herr Kollege Lafontaine, erlauben Sie mir bitte zwei
Hinweise. Erstens. Ein Antrag auf Neuregelung der Bezüge der Abgeordneten im Sinne der von Ihnen gerade
vorgeschlagenen möglichen Regelung wurde mir vonseiten der Fraktion Die Linke bislang nicht vorgelegt.
({0})
- Ich entscheide selber, was geht.
Zweitens. Nach einer Reihe von entsprechenden Äußerungen in den letzten Tagen gibt es einen hinreichenden Anlass, darauf hinzuweisen, dass Sie natürlich jedes
Recht haben, jede Mehrheitsentscheidung dieses Parlamentes zu kritisieren, dass aber die Behauptung, dass das
demokratiefeindlich sei, mit unserem Selbstverständnis,
dass Mehrheiten darüber entscheiden, was gelten soll,
nur schwer zu vereinbaren ist.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Gerald Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Lafontaine hat eben von Hybris gesprochen. Da
hat ein Fachmann für Hybris gesprochen.
({0})
Er sollte zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit des Volkes wollte keine Linke und wollte nicht die linken Rezepte. Wenn uns jetzt eine linke Rezeptur vorgelegt
wird, nähern wir uns diesem Thema trotz des Entrees
von Lafontaine ganz sachlich und nicht kulturpessimistisch. Wir wollen uns mit Ihren Argumenten auseinander
setzen.
Die Frage nach dem existenzsichernden Arbeitseinkommen ist eine ganz alte Frage und leider wieder eine
ganz neue Frage. Man muss die Frage stellen, wie wir es
sicherstellen, dass die Menschen von ihrer Arbeit im
Sinne des Mottos „anständiger Lohn für anständige Arbeit“ leben können. Wir sind überzeugt, dass die AntGerald Weiß ({1})
wort der Linken eine falsche Antwort ist und dies auch
in diesen vier Monaten, Herr Lafontaine, geblieben ist.
({2})
Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist keine geeignete Methode, um das Problem zu lösen.
({3})
Ich will mich diesem Thema nicht kulturpessimistisch
nähern, sondern mit einigen Hoffnung gebenden Daten,
die die Rahmenbedingungen für die Lohnfindung und
für die Einkommenspolitik unserer Tage nach einem
Jahr großer Koalition bilden. Das Sozialprodukt in diesem Jahr wird nicht um 0,00 Prozent wachsen, sondern
es wird voraussichtlich um 2,4 Prozent zunehmen, und
das nach Jahren der Stagnation. Gegenüber dem Vorjahr
gibt es über 200 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr. Wir haben mehr als 400 000 Arbeitslose
weniger als im vergangenen Jahr. Wir haben 33 Prozent
mehr offene Stellen. Die Wirklichkeit ist besser als die
Planung - eine Welturaufführung. Das hat schon mit der
Arbeit der großen Koalition in den vergangenen zwölf
Monaten zu tun.
({4})
Warum sind die Daten, die ich eben nannte, Schlüsselzahlen? Ich wäre Herrn Lafontaine dankbar, wenn er
zuhören würde, so wie auch ich ihm, obwohl es manchmal schwer fiel, zugehört habe. Wenn es mehr Wachstum gibt, gibt es mehr Arbeit. Wenn es mehr Arbeit gibt,
gibt es die Chance auf bessere Löhne. Unbestreitbar ist,
dass das Wachstum des Sozialprodukts im Allgemeinen
und die Produktivitätszunahme im Besonderen Orientierungswerte, wahrscheinlich die wichtigsten, für Lohnverhandlungen sind. Wir dürfen uns zurechnen - ich
nenne nur das Stichwort 25-Milliarden-Programm -,
dass, wenn auch nicht zur Gänze, die Arbeit der Bundesregierung ganz wesentlich dazu geführt hat, dass diese
Schlüsseldaten der Volkswirtschaft in diesem Lande
heute besser sind, als sie vor 24 oder 30 Monaten waren.
Die Opposition mag sich prüfen, wie sie argumentieren
würde, wenn die Zahlen anders lauten würden, nämlich
Minuswachstum, noch mehr Arbeitslose und ein noch
höherer Verlust an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Dann wäre es die Schuld der Regierung.
Also darf man beim Gegenteil auch annehmen, dass es
das Verdienst der Regierung ist, wenn wir endlich Licht
am Ende des Tunnels sehen und auf einem besseren
Wege sind.
Natürlich reicht es nicht, mehr Spielraum für bessere
Löhne und für mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir wissen, dass wir Arbeitsmarktpolitik als Flankenschutz
brauchen, dass wir unter den Stichworten Kombilohn,
50 plus usw. in ganz bestimmten Feldern Handlungsbedarf haben, dass wir in manchen Branchen, insbesondere
in arbeitsintensiven mittelständischen Betrieben, Probleme mit Dumpinglöhnen, Billiglohnkonkurrenz und
schmutzigem Wettbewerb haben. Darauf müssen wir
spezifische Antworten geben.
({5})
- Das können Sie in der Koalitionsvereinbarung nachlesen.
Wir haben gesagt, dass wir den Weg gehen, den man
seit vielen Jahren mit Erfolg im Baugewerbe gegangen
ist. Wir wollen den untersten tariflichen Lohn dem Tarifsystem entnehmen und ihn qua Allgemeinverbindlicherklärung auch für ausländische Anbieter auf dem inländischen Markt über das Entsendegesetz verbindlich
machen. Zunächst setzen wir dort an, wo es am dringlichsten ist - Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben es gemeinsam gefordert -, nämlich bei den Gebäudereinigern.
Der Gesetzentwurf ist auf einem guten Wege; er ist im
parlamentarischen Prozess. Der Bundesrat hat nach der
ersten Beratung Zustimmung signalisiert.
In unserer Koalitionsvereinbarung steht, dass wir prüfen werden, ob die Verhältnisse in anderen Branchen genauso sind. Sollte dies der Fall sein, werden wir durch
die Herausnahme dieser Bereiche aus dem Tarifsystem
über das Entsendegesetz eine Lohnuntergrenze zum
Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber
auch zum Schutz der von schmutziger Konkurrenz bedrängten mittelständischen Betriebe schaffen.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gysi?
Bitte.
Der Gesetzgeber hat in der Zivilprozessordnung geregelt, bis zu welcher Höhe Einkommen pfändungsfrei
ist. Für alle Schuldner in der Bundesrepublik Deutschland gilt: Ein bestimmter Teil des Einkommens darf von
keinem Gläubiger angetastet werden, egal wie hoch
seine Forderung gegen den Schuldner ist. Diese Einkommensgrenze liegt bei 1 000 Euro netto.
Bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro käme
man auf 1 000 Euro netto. Der Gesetzgeber sagt allen
Gläubigern dieser Gesellschaft: Du hast keine Chance,
an die letzten 1 000 Euro des Einkommens eines Schuldners heranzukommen. Der Gesetzgeber hat aber nicht
den Mut, zu sagen: Es muss natürlich auch ein Minimum
beim Einkommen - diese 1 000 Euro - geben. Schließlich erlauben wir noch nicht einmal einem Gläubiger, bei
der Vollstreckung diese 1 000-Euro-Grenze anzutasten. Was spricht dagegen, dass der Gesetzgeber bei den
Lohnbestimmungen das vollendet, was er in der ZPO begonnen hat?
({0})
Ihre Frage nach dem Staat, Herr Gysi, ist für Sie typisch.
({0})
Gerald Weiß ({1})
Nur ein etatistischer Kopf kann eine solche Frage gebären. Wir müssen uns doch zuerst fragen: Was kann das
Tarifsystem leisten? Herr Lafontaine hat eben gesagt:
Man schiebt den Gewerkschaften die Verantwortung
zu. - Das war doch grotesk. In Deutschland tragen die
Gewerkschaften doch zusammen mit den Arbeitgebern
die Verantwortung für die Lohnfindung.
({2})
Der Staat soll sich nur einmischen - das antworte ich Ihnen -, wenn die Tarifparteien mit dieser Aufgabe nicht
fertig werden.
({3})
Ich habe das Zutrauen, dass die Tarifparteien ihrer
Verantwortung gerecht werden, eine praxisorientierte
Würdigung der Umstände in der jeweiligen Branche und
in der jeweiligen Region an den Tag legen und die richtige Antwort geben. In der Regel können Tarifparteien
differenzierter und damit besser vorgehen, als es der
Staat jemals tun könnte.
Herr Gysi, jetzt dürfen Sie sich setzen.
({4})
Der DGB fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von
7,50 Euro, der Wirtschaftsweise Bofinger 4,50 Euro,
Herr Lafontaine und Herr Gysi fordern 8 Euro. Angesichts dessen muss man doch fragen, wie diese undifferenzierte Antwort auf ein differenziertes Problem wirken
wird. Was bedeutet das für die Chemie? Im günstigsten
Falle gar nichts; aber mit einiger Wahrscheinlichkeit
würde dies für die Kolleginnen und Kollegen in dieser
Branche bei den Tarifverhandlungen erschwerend wirken. Lassen wir den Staat außen vor!
Unsere Ziele lauten: Ausländische Anbieter müssen
eingebunden werden. Dumpinglöhne und Schmutzkonkurrenz müssen verhindert werden.
({5})
Es darf kein System entstehen, durch das Menschen in
die Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Wir brauchen eine
praktikable und realitätsnahe Lösung.
({6})
- Ich habe hier doch beschrieben, welchen Weg wir beschreiten. Für die Gebäudereiniger schaffen wir eine entsprechende Regelung über das Entsendegesetz. Wir werden in der großen Koalition gemeinsam prüfen, ob wir
dies auch für andere Branchen machen können.
({7})
Ich weiß natürlich, dass man hier am Ende einer sozialethischen Orientierung folgen muss.
({8})
Es geht nicht nur um den Preis für den Produktionsfaktor
Arbeit, es geht nicht nur um Kosten, sondern es geht
letztlich um die Existenzgrundlage der Mehrheit der
Menschen in unserem Lande.
({9})
Vor 75 Jahren hat Papst Pius XI. gesagt: An erster
Stelle steht dem Arbeiter ein ausreichender Lohn zu für
seinen und seiner Familie Lebensunterhalt.
({10})
Daraus müssen wir gemeinsam die richtigen Konsequenzen ziehen. Nell-Breuning sagte: Für die große Mehrheit
der Menschen, die vom Arbeitslohn leben müssen, muss
gelten, dass der Lohn für den Lebensbedarf der Familie
ausreicht. - Das ist die christlich-soziale Absage an
„working poor“. Wir müssen dieses Ziel in richtiger
Weise mit den richtigen Methoden ansteuern.
({11})
Sie wählen den falschen Weg. Ich bin überzeugt, dass
wir mit der großen Koalition den richtigen Weg gehen.
Ich bedanke mich.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war zu erwarten, dass die seit Anfang dieser Woche laufende Diskussion über eine Unterschicht in Deutschland
in die Debatte über einen Mindestlohn einfließen würde,
nachdem Hubertus Heil und gestern auch der Kollege
Gysi einen Zusammenhang zwischen prekären Lebenslagen und dem Fehlen von Mindestlöhnen hergestellt haben.
Alle mir bekannten Studien beweisen jedoch, Herr
Kollege Lafontaine, dass das größte Armutsrisiko nicht
in niedrigen Löhnen, sondern in Arbeitslosigkeit besteht.
({0})
Deshalb muss unsere Hauptanstrengung darauf gerichtet
sein, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und
sie nicht aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen. Mit der
Einführung von Mindestlöhnen wird aber genau die
Ausgrenzung geschehen. Vor allem Jugendliche, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte werden es nach
der Einführung von Mindestlöhnen schwer haben, einen
Arbeitsplatz zu finden - ich sage Ihnen auch wieso, Herr
Kollege Gysi -, weil die zu zahlenden Löhne aus dem
Gegenwert der von ihnen produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen nicht mehr gedeckt werden
können. Das kann sich auf Dauer kein Unternehmen
leisten. Es wird entweder solche Arbeitsplätze abbauen
müssen oder selbst vom Markt verschwinden.
({1})
- Herr Kollege Gysi, hören Sie bitte zu oder stellen Sie
Ihre Frage. Vielleicht kann ich sie gleich beantworten.
Es besteht bereits Einvernehmen über die Zulassung
einer Zwischenfrage. - Bitte schön, Herr Kollege Gysi.
Nachdem in Großbritannien der gesetzliche Mindestlohn eingeführt worden ist, war zwei Jahre später die
Arbeitslosenquote um die Hälfte gesunken. Wie erklären
Sie sich das? Es ist also das Gegenteil dessen eingetreten, was Sie hier beschreiben.
({0})
Das hängt mit dem Zeitpunkt zusammen. Der gesetzliche Mindestlohn wurde in einer länger anhaltenden
Aufschwungphase eingeführt und hat deswegen nicht in
dem Maße geschadet, wie das sonst der Fall gewesen
wäre.
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch
deutlich machen, Herr Kollege Gysi. Sie haben, so
glaube ich, wenn Sie über Mindestlöhne reden, immer
ausbeuterisches Lohndumping vor Augen: Jemand zahlt
einen niedrigen Lohn, obwohl er eigentlich einen höheren zahlen könnte. - So etwas mag es geben. Ich meine
aber, dass sich in weiten Bereichen der Wirtschaft die Situation anders darstellt. Dort besteht kein Spielraum, um
die Löhne auf eine gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe anzuheben.
Ich möchte nun noch auf die Anmerkung des Kollegen Lafontaine eingehen, der hier die Honorarordnungen kritisiert hat. - Sie dürfen sich gerne setzen, Herr
Kollege Gysi.
({0})
Es besteht ein Unterschied zwischen Umsatz und Gewinn; das ist Ihnen sicherlich nicht entgangen. Eine Honorarordnung regelt, wie bestimmte Leistungen abgerechnet werden können, wie also beispielsweise ein
Architekt einen Planungsauftrag, den er erledigt hat, abrechnen kann. Hierbei geht es aber nicht um das Einkommen des Architekten. Darin werden Sie mir sicherlich Recht geben. Von dem Umsatz muss er vielmehr
seine Büromiete und die Computer, auf denen er seine
CAD-Programme - auch diese kosten Geld - betreibt,
bezahlen. Er muss seine Mitarbeiter entlohnen und seine
sonstigen Kosten bestreiten. Am Ende bleibt, wenn er im
Jahresverlauf hinreichend Einnahmen erzielt hat, um
seine Fixkosten zu decken, möglicherweise - ich wünsche es ihm - ein angemessenes Einkommen übrig. Von
Honorarordnungen auf einen Mindestlohn für Architekten, Apotheker oder Ärzte zu schließen, ist absolut verfehlt.
({1})
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung belegt, dass es durch eine gesetzliche Regelung für Mindestlöhne zu einem massiven Stellenabbau
vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen in den
neuen Bundesländern kommen wird.
({2})
Ich frage Sie: Was macht der Friseur im Erzgebirge, der
bisher, tarifvertraglich vereinbart - mit zwei Unterschriften, nämlich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite -,
3,80 Euro oder 4 Euro pro Stunde zahlt, wenn jetzt ein
Mindestlohn von 8 Euro, wie es Ihren Vorstellungen entspricht, kommt?
Das kann doch nicht funktionieren. Diese Arbeitsplätze werden in absehbarer Zeit verloren gehen, weil
die Leistung künftig in Schwarzarbeit erbracht werden
wird. Deswegen erweisen Sie der Bevölkerung in den
neuen Bundesländern einen Bärendienst, weil Sie mit Ihrem Antrag am Ende zu mehr Arbeitslosigkeit beitragen
werden.
({3})
Herr Kollege Kolb, möchten Sie den Dialog mit dem
Kollegen Gysi noch eine Weile fortsetzen?
Sehr gerne. Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.
Sie haben mir eine Frage gestellt; eigentlich müsste
ich jetzt darauf antworten. Weil das aber nicht erlaubt ist,
muss ich die Antwort in eine Frage kleiden.
({0})
Würden Sie beachten wollen, dass erstens ein Friseurmeister, wenn sein Konkurrent erstmalig einen gesetzlichen Mindestlohn bezahlen müsste, dasselbe tun müsste,
mit anderen Worten also die Gleichheit der Wettbewerbschancen beibehalten bliebe, dass wir zweitens für die
kleinen Unternehmen in den strukturschwachen Regionen - auch im Osten - Übergangszeiten etc. vorgeschlagen haben, um die angesprochenen Schwierigkeiten zu überwinden, und dass es drittens wichtig bleibt,
beides unter einen Hut zu bringen, anstatt immer nur die
eine Seite zu sehen und zu sagen, es interessiere nicht,
was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland verdienen? Diese Frage stelle ich einmal ganz unabhängig davon, dass ich zu Ihren anderen Punkten natürlich auch noch etwas sagen könnte, mir das aber
verkneife.
({1})
Herr Kollege Gysi, wir haben beide einen etwas
schütteren Haarwuchs - Sie vielleicht noch etwas mehr
als ich.
({0})
Trotzdem werden Sie, denke ich, gelegentlich zum Friseur gehen und dort, so wie ich das tue, Gespräche führen. Dann wissen Sie, dass schon heute die Dienstleistung Haareschneiden massiv von der Konkurrenz in
Schwarzarbeit bedroht ist.
({1})
Natürlich gibt es keine offiziellen statistischen Zahlen
dazu. Aber jeder, der die Situation auch nur ein bisschen
beobachtet, weiß, dass ein Großteil dieser Dienstleistungen mit der Schere heute schon nebenbei im Haushalt
von Dritten gegen Entgelt erledigt wird. Wenn Sie diese
Situation noch verschärfen wollen, dann müssen Sie in
der Tat genau das fordern, was Sie jetzt fordern. Aber
damit helfen Sie den Menschen nicht.
({2})
Mit der Bitte um Verständnis - wir haben uns ja auf
gewisse Redezeiten verständigt - nun die ultimativ letzte
Zwischenfrage, die sich hoffentlich nicht auf Haarwuchs
bezieht; denn in diesem Punkt fühle ich mich irgendwie
auch betroffen.
({0})
Herr Präsident, ich weiß schon, welche Themen ich
vermeide.
({0})
Meine Frage bezieht sich auf die Schwarzarbeit. Insofern hatten Sie ja in gewisser Weise Recht. Aber
Schwarzarbeit ist doch in gewisser Weise wie Diebstahl.
({1})
Ich verstehe Ihre Aussage nicht. Das muss man bekämpfen. Wir können doch nicht sagen, wir müssten Warenhäuser schließen, weil dort geklaut wird.
({2})
Schwarzarbeit gilt es zu bekämpfen, damit das nicht zur
Methode wird. Sie aber benutzen die Kriminalität, um
eine gesetzliche Regelung abzulehnen. Entschuldigung,
aber das ist doch indiskutabel!
({3})
Herr Kollege Gysi, Sie sollen mir nicht das Wort im
Munde verdrehen. Ich bin der Letzte, der der Schwarzarbeit das Wort reden würde. Wir müssen gemeinsam ein
Interesse daran haben, zu weniger Schwarzarbeit zu
kommen. Dass wir Schwarzarbeit haben, hat Ursachen.
Das liegt an sehr hohen Steuersätzen, das liegt an hohen
Sozialversicherungsabgaben.
({0})
- Aber natürlich, Frau Kollegin Nahles, Schwarzarbeit
fällt doch nicht vom Himmel. - Das führt dazu, dass
Menschen in die Illegalität ausweichen. Ich halte das für
falsch; wir müssen das bekämpfen. Die Konsequenz ist
aber doch nicht, künstlich die Löhne zu erhöhen, sondern dass man gemeinsam darüber nachdenkt, wie man
Steuerbelastungen und Sozialabgaben reduzieren kann,
damit demjenigen, der arbeiten kann, am Ende bei einem
angemessenen Brutto auch ein angemessenes Netto verbleibt.
({1})
Wenn das dann immer noch nicht reicht, weil ein bestimmter Lohn aus betriebswirtschaftlichen Gründen
nicht gezahlt werden kann, dann muss der Staat bei Bedürftigkeit ergänzend einen Transfer gewähren. Dazu
haben wir Liberalen mit dem Bürgergeld einen ganz
konkreten Vorschlag gemacht: eine negative Einkommensteuer, die sozusagen zum Netto hinzukommt, wenn
das erzielte Einkommen nicht ausreicht. Das ist der Weg,
den wir gehen müssen. Ich möchte Sie - bei aller Betriebsblindheit, die Sie haben - auffordern, einmal darüber nachzudenken, ob das nicht ein Weg sein könnte.
({2})
Herr Präsident, ich bitte Sie, kurz die Uhr anzuhalten.
Für mich waren als Redezeit vier Minuten vorgesehen,
Sie haben mir aber acht Minuten gegeben. Das würde
bedeuten, dass der Kollege Niebel nichts mehr sagen
dürfte.
({3})
Ich bitte Sie daher, mir von den noch zur Verfügung stehenden 4:56 Minuten nur noch die 56 Sekunden zu lassen, damit der Kollege Niebel noch eine Chance hat.
Herr Kollege, das wäre natürlich viel einfacher gewesen, wenn Sie das Plenum jetzt nicht ausdrücklich auf
die Lage aufmerksam gemacht hätten.
({0})
Wir sind aus den genannten Gründen gegen Mindestlöhne. Wir glauben, dass wir in der Vergangenheit gelernt haben, dass überproportionale Lohnerhöhungen,
insbesondere Sockellohnanhebungen, dazu geführt haben, dass geringqualifizierte Beschäftigte aus dem Arbeitsmarkt verdrängt wurden.
({0})
Das ist doch das Problem. Da bei Geringqualifizierten
die Arbeitslosenquote heute bereits 25 Prozent beträgt,
ist es das Gebot der Stunde, diese Problemlage nicht
weiter zu verschärfen.
Der Herr Kollege Brandner hat vor kurzem gesagt:
Wer einen existenzsichernden Mindestlohn will, der ist
gut beraten, vorab keine Zahl festzulegen. - Dann bleibt
am Ende doch das offenkundige Dilemma: Ein Mindestlohn, der zu niedrig angesetzt wird, ist wirkungslos. Ein
zu hoher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze.
Ich sage Ihnen voraus: Das Einzige, was mit der Einführung von Mindestlöhnen einen Aufschwung erleben
wird, Herr Kollege Gysi, ist leider die Schwarzarbeit in
Deutschland. Deswegen sollten wir bei dem Vorschlag,
den uns die Linke hier unterbreitet hat, sehr vorsichtig
sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Nahles,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil 2,7 Millionen Menschen trotz Arbeit - nicht wegen Arbeitslosigkeit, Herr Kolb, sondern trotz Arbeit - arm sind. Das
können wir nicht akzeptieren.
({0})
Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil es
schön und gut ist, über prekäre Arbeitsverhältnisse zu reden,
({1})
aber es den Menschen nicht hilft, wenn daraus keine
Konsequenzen gezogen werden. Eine der Konsequenzen
ist, dass sich Menschen Auge in Auge mit ihrem Arbeitgeber gegen Lohndrückerei wehren können. Dafür brauchen sie eine Haltelinie nach unten. Auch das ist ein
ganz zentraler Grund für Mindestlöhne.
({2})
Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil es
nicht angehen kann, dass mittlerweile 1 Million Menschen, die arbeiten, aufstockend noch Arbeitslosengeld II bekommen müssen, von denen die Hälfte sogar
sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, wobei gerade in den letzten Monaten der Anteil derjenigen, die
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und obendrauf ALG II bekommen, gestiegen ist. Das heißt doch
nichts anderes, als dass sie so wenig für ihre Arbeit bekommen, dass der Staat einspringen muss. Aber das ist
nicht unsere Aufgabe. Das muss von der Wirtschaft für
die geleistete Arbeit erbracht werden.
({3})
Auch ordnungspolitisch kann ich das nicht akzeptieren.
Wir brauchen Mindestlöhne in Deutschland, weil wir
unsere Hausaufgaben machen müssen. In drei Jahren
wird es die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa
geben. Deutschland ist ein Land, das an neun Staaten
grenzt. Wir müssen an dieser Stelle wahrnehmen, was es
bedeutet, wenn wir keine Haltelinien und Mindeststandards definieren. Da hilft es wirklich wenig, in Studien
zu schauen, sondern da hilft einfach schlichtes Nachdenken darüber, Herr Kolb, was uns passiert, wenn wir
keine Mindeststandards einführen.
Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin das ebenfalls
einsieht; das sage ich auch an meine Kollegen der
Union. Ich zitiere aus einem Interview der „Wirtschaftswoche“ mit ihr. Darin hat sie gesagt:
Und dann gibt es ja in 19 europäischen Ländern
auch schon einen Mindestlohn: von 1 500 Euro monatlich in Luxemburg bis 116 Euro
- wegen der niedrigen Lebenskosten in Lettland. Daran kann ich nicht einfach vorbeigehen und den Bürgern sagen, Mindestlohn ist ordnungspolitisch unsinnig. Punkt! Das würde keiner
begreifen.
Wo die Frau Bundeskanzlerin Recht hat, hat sie Recht.
({4})
Deswegen sind wir uns an der Stelle, denke ich, auch einig.
Wir brauchen aber nicht nur Mindestlöhne, wir wollen auch Mindestlöhne.
({5})
Das ist deswegen gut zu wissen, weil hier von Ihnen,
Herr Lafontaine, lieber Oskar,
({6})
ein Popanz aufgebaut wurde. Dazu kann ich nur sagen:
Ich habe die letzten neun Monate damit verbracht, mit
den Einzelgewerkschaften ein gemeinsames Konzept
zum Mindestlohn zu erarbeiten.
({7})
Das ist gelungen. Es gibt eine gemeinsame Position des
Gewerkschaftsrats und der SPD, einen Zweistufenplan.
({8})
Die Gewerkschaften haben es nicht als Belastung
empfunden, sondern es war ihr ausdrücklicher Wunsch,
dass wir sie als Tarifpartner bei der Findung von
Mindestlöhnen in Deutschland nicht außen vor lassen.
Im Gegenteil, wir sagen ganz klar: Branchenspezifische
Mindestlöhne gehen vor. - Die Tarifparteien sind mit
im Boot. Das ist eine gemeinsame Position. Man kann
hier also nicht so tun, als ob die Gewerkschaften und die
Welt darauf warten, dass die staatliche Ebene einfach
mal einen Mindestlohn festsetzt. Das kann ich nicht für
gut befinden. Wir haben starke Tarifparteien, die im
Übrigen, Herr Gysi, weitaus stärker als diejenigen in
England sind. Wir sollten sie daher in diesen Prozess
einbinden und nicht gegen sie arbeiten und über ihre
Köpfe hinweg entscheiden.
({9})
Wir wollen Mindestlöhne. Das Entsendegesetz soll
dazu auf alle Branchen ausgedehnt werden; das ist ein
Angebot. Das bedeutet, dass sich die Tarifpartner zusammensetzen müssen. Die Chance besteht, dass es am Ende
branchenspezifische Mindestlöhne gibt und nicht einen
pauschalen Mindestlohn über alle Branchen hinweg.
Weil wir die Äußerungen der BDA und speziell die
von Herrn Göhner, die wir regelmäßig vernehmen müssen, kennen, sage ich aber auch, dass die Blockade der
Arbeitgeber dann ein Ende finden muss, wenn absehbar
ist, dass es in bestimmten Branchen - im Gebäudereinigerhandwerk hat man sich geeinigt; hoffentlich gibt es
auch bald im Bereich der Zeitarbeit eine allgemeinverbindliche Regelung - zu keiner Vereinbarung kommt.
Die Branchen, die sich noch weigern, werden am Ende
gegen die Interessen ihrer Arbeitnehmer handeln und mit
Konkurrenz, die Dumpinglöhne zahlt, zu tun haben. An
dieser Stelle muss sich die Politik einschalten. Gesetzliche Mindestlöhne müssen da greifen, wo es keine branchenspezifischen Vereinbarungen gibt. In diesem abgestuften Verfahren, das ein gangbarer Weg ist, haben wir
uns sehr gut positioniert.
({10})
Wir brauchen Mindestlöhne. Wir von der SPD wollen
Mindestlöhne. Wir haben einen gangbaren Weg aufgezeigt. Aber was die Linkspartei heute vorschlägt, geht
leider nicht. Sie sollten sich lieber zusammensetzen und
noch einmal darüber diskutieren. Sie schlagen vor, dass
ein Mindestlohn in Höhe von 8 Euro gesetzlich vorgeschrieben werden soll. Dabei haben Sie aber das Gefühl,
dass diese Grenze willkürlich sein könnte. Sie trauen
also Ihrer eigenen Festlegung nicht. Deswegen schlagen
Sie einen komplizierten Apparat vor, mit dem Ausnahmen und Stufenpläne ermöglicht werden sollen.
Obwohl Sie einerseits den Gesetzgeber auffordern, einen Mindestlohn von 8 Euro festzulegen, wollen Sie andererseits eine unabhängige Kommission, sozusagen
einen Alibi-Mindestlohnrat, einrichten, die die Modalitäten organisieren soll. Ich schlage Ihnen vor: Verabschieden Sie sich von Ihrer populistischen Forderung nach
8 Euro Mindestlohn! Gehen Sie den Weg, den wir vorschlagen!
({11})
Auch das ist der britische Weg. Wir sollten es lieber den
Tarifpartnern und den Wissenschaftlern überlassen, zu
bestimmen, wie hoch der Mindestlohn am Ende sein
darf. Die Politik sollte sich nicht zum Tarifpartner aufschwingen. Das sind wir nicht und das wollen wir auch
nicht werden.
({12})
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreibus?
({0})
Selbstverständlich. Eine Frage von Herrn Dreibus ist
mir immer willkommen.
Kollegin Nahles, nach Ihren Äußerungen habe ich
eine Frage, auf die man zwei Antworten geben kann.
Können Sie bitte versuchen, mir zu erklären, an welcher
Stelle sich unser Antrag von dem unterscheidet, was der
DGB-Bundeskongress im Mai beschlossen hat und was
alle Einzelgewerkschaften bis auf eine innerhalb des
DGB öffentlich zu ihrem Konzept gemacht haben, und
wieso der von uns vorgeschlagene Weg aus Ihrer Sicht
nicht funktionieren soll?
({0})
Herr Dreibus, zunächst muss ich sagen: Wenn Sie
Konzepte abschreiben, dann bitte richtig.
({0})
Als erstes Beispiel dafür fällt mir ein, dass 7,50 Euro
ein anderer Betrag ist als 8 Euro.
Außerdem sagen Sie, dass von den 8 Euro Mindestlohn nicht abgewichen werden kann und eine unabhängige Kommission eingerichtet werden soll. Der DGB
will aber, dass die Tarifpartner eingebunden werden.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist: Der DGB will
keine Ausnahmeregelung für ganze Branchen. Sie schlagen aber ein Stufenkonzept vor, weil Sie anscheinend ein
schlechtes Gewissen haben und befürchten, ein Mindestlohn von 8 Euro sei nicht verkraftbar. Das ist aber nicht
der Vorschlag des DGB. Wenn Sie es wollen, kann ich
Ihnen das gerne belegen.
({1})
Es ist legitim, wenn Sie Konzepte abkupfern. Sie sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass der DGB sehr genau
weiß, dass eine Regelung bei den Tarifpartnern am Ende
besser aufgehoben ist als im Parlament. Andernfalls
würde die Gefahr bestehen, dass vor einer Wahl ein bisschen mehr Mindestlohn versprochen würde und nach der
Wahl ein bisschen weniger Mindestlohn herauskäme.
Das ist auch meine Überzeugung.
({2})
Ich denke, wir sollten uns aufmachen, einen zeitlichen Rahmen und ein Verfahren miteinander zu vereinbaren. Das geht auch an den Koalitionspartner. Wir befinden uns jetzt im Herbst in einem Verfahren, in dem es
darum gehen muss, über Niedriglohnbereich, Minijobs,
Hinzuverdienstmöglichkeiten, Kombilohn und Mindestlohn zusammen zu diskutieren. Das tun wir gerade auch.
({3})
- Das muss man zusammen diskutieren.
Aber machen wir uns nichts vor, hier gibt es offensichtlich Differenzen. Ich sage aber auch: Wenn Sie
Kombilohn wollen, dann wollen wir Mindestlohn. Aus
unserer Sicht ist auch notwendig, dass wir das nicht auf
die lange Bank schieben. Es darf allein schon deshalb
nicht auf die lange Bank geschoben werden, weil es in
drei Jahren die Arbeitnehmerfreizügigkeit geben wird.
({4})
Deshalb wünschen wir uns in diesem Herbst konkrete
Vereinbarungen mit Ihnen, bei denen wir auch bereit
sind, Kompromisse einzugehen, aber an dem Ziel eines
Mindestlohnes werden wir auf keinen Fall rütteln wollen. Es müssen an dieser Stelle alle das Wohl der Bevölkerung im Auge behalten.
Ich sage ganz offen: Mich überzeugen die Argumente
der FDP hier nicht.
({5})
Sie stellt sich zwar scheinheilig hin und bejammert die
Schwarzarbeit. Wenn man das aber weiterdenkt, was Sie
immer vorschlagen, dass Löhne genau wie Produkte lediglich dem Marktpreis unterworfen sind, dann kommt
als Pointe dabei raus: Lohn null Euro und der Staat bezahlt die Miete.
({6})
Das können wir aufseiten der SPD nicht akzeptieren,
denn wir wollen, dass es faire Löhne für gute Arbeit
gibt, damit die Leute davon leben können. Das, was Sie
vorschlagen, ist eine Spirale, die keine Grenze nach unten kennt.
({7})
Ich sage auch ausdrücklich: Ich empfinde es mittlerweile
als Lohndeflation, was wir hier im Land haben. Die
muss gestoppt werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Weiß, Sie haben hier den Eindruck erweckt, als sei das
Problem des Lohndumpings eigentlich im Begriff, sich
aufzulösen.
({0})
Ich möchte Ihnen sagen, dass sich das Problem in die
entgegengesetzte Richtung entwickelt. 1996 waren es
noch 15,9 Prozent, in Zahlen 3,3 Millionen Menschen,
die unterhalb der Niedriglohnschwelle gearbeitet haben.
Inzwischen ist die Zahl auf 18,4 Prozent oder 3,6 Millionen Menschen angestiegen. Herr Weiß, wir haben einen
erheblichen Handlungsdruck. Wenn Sie hier so tun, als
sei das bisschen Aufschwung die Lösung des Problems,
zeigt das, dass Sie sich mit der Problematik nicht ernsthaft auseinander gesetzt haben.
({1})
Herr Weiß, die Anwendung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf zwei von über 1 000 Branchen reicht
nicht aus, um das Problem zu lösen; das hätte auch Papst
Pius nicht zufrieden gestellt.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal sagen, über welche Lohnhöhe wir überhaupt reden. Wir reden zum Teil über Löhne, die unterhalb von 4 Euro die
Stunde liegen.
({3})
Jetzt noch einmal speziell an die Kolleginnen und
Kollegen von der CSU: Herr Söder hat in der Debatte
um Hartz IV und im Rahmen der Armutsdebatte gesagt,
man müsse das ALG II absenken, weil es sonst keinen
Anreiz gebe, eine Arbeit aufzunehmen.
({4})
Ich gebe hier einmal Folgendes zur Kenntnis: Die HansBöckler-Stiftung hat herausgefunden, dass über 2 Millionen Menschen, die aufgrund ihres geringen Einkommens einen Anspruch auf Aufstockung über das ALG II
hätten, ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Und Sie führen Missbrauchsdebatten! Ich frage die christliche Partei: Wie weit wollen Sie die Mindestabsicherung absenken? Es geht um Löhne von weniger als 4 Euro.
Unter welche Schwelle wollen Sie diese Menschen drängen? Darauf möchte ich, insbesondere von den Kollegen
von der CSU, einmal eine Antwort haben.
({5})
Herr Kolb, Sie erwecken immer den Eindruck, als
wären Löhne oberhalb dieses niedrigen Niveaus nicht zu
zahlen, weil die Produktivität das nicht hergibt. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass im Niedriglohnbereich im
Wesentlichen keine unqualifizierten Menschen arbeiten,
sondern fast 80 Prozent dieser Menschen haben eine
qualifizierte Ausbildung und einige haben sogar ein Studium absolviert.
({6})
Da liegt doch der Gedanke nahe, dass es nicht nur um
die Produktivitätsrate der Menschen, sondern um ganz
fieses Lohndumping geht.
({7})
Die FDP sagt doch auch sonst nicht: Staatliche Eingriffe? Niemals! Wenn es darum geht, Apotheker zu
schützen oder mittelalterliche Handwerksordnungen aufrechtzuerhalten, dann regeln Sie sich doch dumm und
dämlich. Wenn es um Ihre Klientel geht, fordern Sie
staatliche Eingriffe, dann stellen Sie sich vor Ihre Klientel.
({8})
Hier wollen Sie doch nur deshalb keine Regelung, weil
Ihnen diese Gruppe von Menschen nichts wert ist.
({9})
Jetzt noch einmal kurz zu Frau Nahles. In der Beschreibung der Problemlagen sind wir uns einig.
({10})
Sogar was die Lösung des Problems angeht, sind wir uns
relativ nahe.
({11})
Das Problem ist, dass Sie in der letzten Debatte angekündigt haben, dass im September Vorschläge vorgelegt
würden. Wir haben jetzt Ende Oktober. Das Laub fällt.
({12})
Frau Nahles, der Herbst geht zu Ende. Sie inszenieren
Debatten über Armut, tun aber nichts gegen Armut. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
({13})
Sie weisen auf den Koalitionspartner und auf das, was
die Kanzlerin gesagt hat, hin. Das ist doch Pfeifen im
Walde. Das wissen Sie doch selber. Die CDU/CSU will
einen Kombilohn und Sie wollen einen Mindestlohn.
Diese beiden Grundgedanken stehen sich unversöhnlich
gegenüber. Sie werden sie nicht so einfach zusammenbinden können, wie Sie hier den Eindruck erwecken,
weil ganz unterschiedliche Ideologien dahinter stehen:
Wer einen Kombilohn will, der will, dass das fehlende
Einkommen vom Staat aufgebracht wird. Wer einen
Mindestlohn will, der will, dass das fehlende Einkommen von den Unternehmern ausgezahlt wird. Das sind
sehr grundlegende Unterschiede.
({14})
Ich glaube, der Versuch, das zusammenzubringen, wird
zu ähnlichem Schrott führen wie bei der Gesundheitsreform, wo Sie versucht haben, Kopfpauschale und Bürgerversicherung zusammenzubringen.
({15})
Das ist wahrlich nicht im Sinne der Betroffenen.
Eine vernünftige Lösung wird insbesondere deshalb
nicht gelingen, weil es Ihnen nicht in erster Linie um die
Probleme der Menschen geht, sondern um die eigenen
Geländegewinne. Das steht einer produktiven Lösung
dieser Probleme entgegen.
({16})
Ich sehe vor meinem geistigen Auge folgendes Szenario: Die SPD steigt in das Mindestlohnmodell. Die
CDU/CSU steigt in das Kombilohnmodell. Beide rasen
wie wild aufeinander zu. Dabei kommt ein großer Haufen Schrott heraus.
({17})
Den versuchen Sie uns hinterher als glänzenden Kompromiss zu verkaufen.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Linksfraktion, festgebissen an Ihrem einzigen Thema,
({0})
haben Sie sich nunmehr schon zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode einen Antrag zum Mindestlohn
und neue Begriffe wie „dualer Mindestlohn“ und „Mindestlohnrat“ ausgedacht.
({1})
Bei Stellung des Antrags müssen jedoch die früheren
und aktuellen Gewerkschafter aus den Reihen der
WASG, die in der diffusen Konstellation mit der PDS
heute als Linkspartei firmieren, geschlafen haben, oder,
um es noch deutlicher zu sagen: Sie befinden sich sicherlich längst im Winterschlaf.
({2})
Elf von 54 Mitgliedern Ihrer Fraktion haben einen gewerkschaftlichen Hintergrund.
Ich erlaube mir, zunächst aus einem nur wenige Tage
alten Interview zu zitieren - ich werde Ihnen am Ende
des Zitats mitteilen, wer der Interviewte ist -:
Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn würde
die Tarifautonomie im Kern beschädigen. Das ist
mit uns nicht zu machen. … Der Mindestlohn ist
von herausragender Bedeutung, eben weil es am
Ende um die Zukunft der Tarifautonomie geht. Wir
befürchten, dass mit einem einheitlichen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn unser Tarifsystem ausgehöhlt wird. … Auch die IG BAU
und die IG Metall hatten den Mindestlohn ursprünglich abgelehnt. Wir hatten da eine gemeinsame Position.
({3})
Diese Linien haben dann die beiden Gewerkschaften verlassen.
Frau Nahles, Sie haben das gerade schon festgestellt.
Dieses Zitat ist von niemand anderem als Hubertus
Schmoldt, einem Zeitgenossen, der wahrlich nicht im
Verdacht steht, Hofberichterstattung für die CDU/CSUFraktion betreiben zu wollen.
({4})
Vielmehr ist er jemand in den Reihen der Gewerkschaften - er ist Chef der Chemiegewerkschaft -, der zumindest in der Lage ist, den noch vorhandenen Realitätsbezug offen auszusprechen.
({5})
Ich darf ein weiteres Zitat bringen. Es ist gerade einmal zwei Stunden alt. Um 9.40 Uhr fragte Frau Cornelia
Hirsch von der Linkspartei an diesem Pult: „Was hat es
mit Freiheit … zu tun, wenn gewerkschaftliche Rechte
eingeschränkt werden?“
Ja, was wollen Sie denn? Auf der einen Seite beschneiden Sie die Gewerkschaften in ihren Rechten mit
Ihrer Forderung nach einem Mindestlohn. Auf der anderen Seite wollen Sie starke Gewerkschaften. Das passt
doch nicht zusammen.
({6})
Sie, Herr Lafontaine, haben gerade hier gestanden
und mit einem Presseartikel gewedelt. Das kann ich
auch. „Untaugliches Mittel, verfehlter Zweck. Die fatalen Folgen eines gesetzlichen Mindestlohns“ von Professor Dr. Wolfgang Franz, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung und Mitglied im
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, „SZ“ vom 26. September
2006.
„Handelsblatt“, 8. September 2006: „Mindestlöhne
gefährden Minijobs“ ist das Fazit einer Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit. Es seien Hunderttausende
Stellen bedroht. Vor allem Frauen wären die Verlierer.
Die wollen Sie auf die Verliererstraße schicken, meine
Damen von der Linksfraktion.
({7})
„Mindestlöhne schwächen Geringqualifizierte. IfWStudie untersucht Auswirkungen auf Arbeitsmarkt“,
„Handelsblatt“ vom 18. September 2006. Es geht unendlich so weiter.
Frau Nahles, Sie haben ausgeführt, dass Sie in den
letzten neun Monaten Gespräche mit den Gewerkschaften geführt haben.
({8})
- Ich weiß.
Neun Monate sind ein Zeitraum, in dem man, biologisch betrachtet, etwas zustande bringen kann, das Hand
und Fuß hat.
({9})
Wir hoffen, dass Ihre Gespräche mit den Gewerkschaften ähnlich erfolgreich sind.
Frau Pothmer, Sie haben mich angesprochen.
({10})
Sie haben gefragt, wie sich das christliche Selbstverständnis mit meiner Ablehnung des Mindestlohnes vereinbaren lässt. Sofern Mindestlohn zur Verlagerung, zur
Abschaffung von Arbeitsmöglichkeiten für gesellschaftlich Schwache und Geringqualifizierte führt - Frau
Pothmer, passen Sie auf -,
({11})
ist es der christliche Auftrag, diese Arbeitsplätze zu
schützen. Ich komme im Detail noch darauf zurück.
Völlig diametral zur hier vorgetragenen Auffassung
der Chemiegewerkschaft steht nunmehr ein erneuter Antrag der Linkspartei. Dahinter steckt nichts Neues. Es
handelt sich bedauerlicherweise um dieselbe Realitätsferne, die wir seit langem von Ihnen gewohnt sind. Mit
alten Rezepten aus der SED-Zeit,
({12})
40 Jahre Staatswirtschaft, werden Sie die Probleme
Deutschlands nicht lösen können.
({13})
Sie haben die Existenz von Mindestlohn in 18 von
25 EU-Staaten als Argument angeführt. Dieses Thema
verdient es, dass man einmal genauer hinblickt. Zum
Beispiel im Fall Frankreich, das so hoch gelobt wurde,
kann ich dem Argument beim besten Willen nicht folgen. Man kann gut beobachten, was passieren würde,
wenn sich der Wunsch der Linkspartei erfüllen sollte.
Der französische Mindestlohn, SMIC, liegt derzeit bei
8,25 Euro und wird jährlich angepasst. Dabei wird nicht
nur die Teuerungsrate aufgeschlagen, sondern auch die
Hälfte des Kaufkraftzuwachses des vom Arbeitsministerium festgestellten Durchschnittslohns. Ich gehe davon
aus, dass Sie dies wissen. Betriebsgrößen und Produktivitätsentwicklung in den einzelnen Branchen werden
hierbei jedoch überhaupt nicht berücksichtigt. Seit 2002
stieg der Mindestlohn in Frankreich - auch aufgrund anderer, zum Teil populistischer Maßnahmen - auf diese
Weise um 20 Prozent.
Die Folgen: Vor allem auf dem Niedriglohnsektor
wurden viele Arbeitsplätze vernichtet. Unternehmen
verlagerten ihre Fertigung ins Ausland. Die Eintrittsschwelle in den Arbeitsmarkt steigt immer weiter. Der
Staat bezahlt: für eine Erhöhung des Mindestlohns um
1 Prozent etwa 750 Millionen Euro, weil im Gegenzug
Ausgaben gesenkt und Sozialausgaben ausgeweitet werden, und für Arbeitsgelegenheiten auf dem so genannten
dritten Arbeitsmarkt, die er schaffen muss, um den durch
den Mindestlohn arbeitslos gewordenen Personen - in
der Regel handelt es sich um niedrig Qualifizierte, aber
auch um Jugendliche - eine Beschäftigung zu bieten.
Nein, meine Damen und Herren, das wollen wir nicht.
Auch das Beispiel England, das Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, angeführt haben, kann nicht überzeugen. Das Centre for Economic
Performance der London School of Economics beispielsweise untersucht seit 1999 die gesamtwirtschaftlichen Effekte des britischen Mindestlohns. Es hat festgestellt, dass die Einführung der Mindestlöhne auf die
Beschäftigungsmöglichkeiten von Geringverdienern nur
eine sehr begrenzte Wirkung hatte.
Wenn Sie schon auf unsere Nachbarn verweisen, hätte
ich mir gewünscht, von Ihnen auch etwas zur Situation
in Dänemark, Norwegen, Schweden oder Österreich zu
hören.
({14})
Diese Länder sind nämlich auch ohne gesetzlichen Mindestlohn beschäftigungspolitisch erfolgreich. Ein Mindestlohn, wie Sie ihn wollen, ist nicht sozial gerecht. Er
würde nur Schaden anrichten. Sie müssen auch bedenken, dass die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns Hunderttausende Mini- und Midijobs gefährden würde.
Ich würde zwar gerne noch einige andere Punkte ansprechen. Aber wie ich sehe, läuft meine Redezeit allmählich ab. Da ich nicht die Redezeit meiner Nachfolgerin in Anspruch nehmen möchte, sage ich abschließend:
Die Einführung eines Mindestlohns, wie von den Gewerkschaften abermals auf völlig untaugliche Weise gefordert, ist abzulehnen. Ein Mindestlohn hilft uns nicht,
unsere Probleme zu lösen. Wenn überhaupt, liebe Frau
Kollegin Nahles, könnten wir diesen Gedanken in eine
Diskussion über ein Kombilohnmodell einfließen lassen, wenn es darum geht, wie wir in Deutschland die
Existenzsicherung der gering Qualifizierten gewährleisten können. Aber dieses Thema eignet sich nicht für
dieses Podium.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dank der vorzüglichen Interaktion zwischen den
Kollegen Gysi und Kolb kann ich mich nun auf andere
Dinge konzentrieren, die Herr Kolb leider noch nicht ansprechen konnte. Herr Kollege Gysi, dafür danke ich
Ihnen außerordentlich. Der Vortrag des Kollegen
Lafontaine motiviert mich natürlich ganz besonders
dazu. Denn seit dem 1. Juni dieses Jahres, als hier eine
namentliche Abstimmung zum diesem Thema stattfand,
hat sich an der Situation nichts Wesentliches verändert.
({0})
Herr Lafontaine, wenn ich mich recht entsinne, waren
Sie derjenige, der damals auf dem Mannheimer Parteitag
Herrn Scharping als SPD-Vorsitzenden politisch gemeuchelt hat.
({1})
Dass Herr Scharping Brutto und Netto nicht unterscheiden konnte und Sie Umsatz und Gewinn nicht unterscheiden können, das sagt einiges über Ihren wirtschaftspolitischen Sachverstand aus.
({2})
Allerdings stellt sich die Frage, ob der Sozialdemokratie
mit dem damaligen Wechsel der Parteivorsitzenden tatsächlich gedient war.
({3})
Weil ich zur Kenntnis genommen habe, dass Sie sich
gestern von mir angegriffen fühlten, aber im Rahmen der
gestrigen Aktuellen Stunde keine Zwischenfrage stellen
durften, möchte ich Ihnen diese Gelegenheit heute geben. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass Sie sich hier
als Rächer der Enterbten darstellen und so tun, als wollDirk Niebel
ten Sie Geringverdienern oder arbeitslosen Menschen
eine Hilfestellung geben, während ein Mitglied des saarländischen Landesvorstands der Linkspartei, Ihre Frau,
Herr Lafontaine - das spreche ich noch einmal an, damit
Sie heute Ihre Zwischenfrage stellen können -, in der
„Süddeutschen Zeitung“ zitiert wird. Dieses Zitat lautet
wie folgt:
Durch umfassende staatliche Familienberatung
lasse sich die „Reproduktion des asozialen Milieus“
begrenzen.
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn jemand Geringverdiener, Arbeitslose oder Menschen, die eine Antriebsschwäche haben, als „asoziales Milieu“ bezeichnet,
das sich durch Familienberatung verhindern ließe, dann
wirft das ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise,
wie Sie tatsächlich über die Menschen denken, für die
einzutreten Sie vorgeben.
({4})
Herr Kollege Niebel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?
Selbstverständlich. Um dem Kollegen die Möglichkeit zu geben, eine Zwischenfrage zu stellen, habe ich
mir erlaubt, dieses Thema heute noch einmal anzusprechen.
Vielen Dank, Herr Kollege Niebel. Das ist sehr fair
von Ihnen. Aber noch viel fairer wäre es gewesen, wenn
Sie korrekt zitiert hätten. Meine Frau hat sich mit der Situation von Kindern auseinander gesetzt, die verwahrlosen und misshandelt oder gar umgebracht werden. In
diesem Zusammenhang sprach sie von „asozialem Milieu“. Wenn Sie dieses Zitat derart verfälschen, wie Sie
es getan haben, dann sollten Sie sich schämen!
({0})
Herr Kollege, auch wenn ich in Ihren Ausführungen
keine Frage erkennen konnte, möchte ich Ihnen gerne
antworten. Ich berufe mich auf Seite 6 der „Süddeutschen Zeitung“ vom 18. Oktober dieses Jahres. Selbstverständlich werde ich diese Passage dem Protokoll zur
Verfügung stellen, sodass Sie dieses korrekte Zitat nachlesen können. Aber ich muss Ihnen sagen: In der Diskussion über vermeintlich neue Unterschichten bzw. in
einem solchen Klassenkampf - das würden Sie wahrscheinlich eher postulieren wollen - ist es außerordentlich verwerflich, über Menschen, die in diesem Land nur
geringe Chancen haben, in einer derartigen Terminologie zu reden. Das lehnen wir strikt ab.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung: Die Einführung von
Mindestlöhnen trägt nicht dazu bei, dieses Problem zu
lösen. Vielmehr wird dieses Problem, insbesondere für
gering Qualifizierte, durch Mindestlöhne zusätzlich verstärkt; das ist bereits mehrfach angesprochen worden.
Man muss sich nur einmal die Zahlen vergegenwärtigen: Die Arbeitslosenquote gering Qualifizierter liegt
aktuell bei 25 Prozent. Bei Fachkräften beträgt sie
10 Prozent und bei Akademikern 4 Prozent. Ungefähr
50 Prozent, also 1,2 Millionen Menschen, die arbeitslos
gemeldet sind und Arbeitslosengeld beziehen, haben
keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das ist exakt
der Personenkreis, der Anlerntätigkeiten sucht, Tätigkeiten, die eine geringe Wertschöpfung, eine geringe Produktivität haben.
({1})
Doch wenn die Produktivität einer Arbeit nicht die Kosten des entsprechenden Arbeitsplatzes erreicht, wird
diese Arbeit in der legalen Wirtschaft bzw. im Inland
nicht mehr angeboten. Genau darum geht es hier.
({2})
Ich finde es bemerkenswert, wenn zwei IG-MetallFunktionäre wie Herr Dreibus und Frau Nahles versuchen, einen Gewerkschaftstag im deutschen Parlament
nachzuvollziehen. Genauso finde ich es bemerkenswert,
wenn zwei Koalitionspartner wie Union und SPD in der
Frage eines Mindestlohns einen Kompromiss zu finden
versuchen, obwohl sie auch hier völlig unterschiedliche
Konzepte haben.
({3})
Das wird natürlich genauso katastrophal enden wie der
Versuch, die Bürgerzwangsversicherung mit der Kopfpauschale zusammenzuführen.
Herr Müntefering hat erklärt, er will keinen gesetzlichen Mindestlohn. Die Argumente für einen solchen hat
Frau Nahles genannt. Man kann sie gut oder schlecht
finden - er will ihn nicht.
({4})
Auch Herr Glos sagt, er will keinen gesetzlichen Mindestlohn. Er argumentiert exakt wie ich: weil dadurch
die Chancen für gering Qualifizierte auf Arbeit und damit ihre Möglichkeiten der Teilhabe in diesem Land verschlechtert werden.
Lassen Sie uns den Menschen mit einem Steuer- und
Transfersystem aus einem Guss die Möglichkeit geben,
entsprechend ihrer Produktivität wieder mitzumachen
am Arbeitsmarkt. Früher gab es in fast jedem mittleren
Betrieb eine Art Faktotum, einen Menschen, der aufgrund langjähriger Erfahrung vielseitiges Wissen hat
und unentbehrliche Hilfstätigkeiten ausführt, etwas positiv Besetztes. Jemanden, der solche Hilfstätigkeiten
ausführt, gibt es heute nicht mehr, weil ein entsprechender Lohn von den untersten Tariflohngruppen nicht mehr
abgebildet wird. So jemand könnte von der Produktivität
her vielleicht 3 bis 4 Euro verdienen. Wenn Sie die Möglichkeit schaffen, dass diese Menschen wieder Arbeit
finden, und zwar indem Sie ihren Lohn mit dem System
einer negativen Einkommensteuer kombinieren, wie wir
es mit unserem Bürgergeld vorschlagen, haben wir
viele positive Effekte, die die psychosozialen Folgekosten der Langzeitarbeitslosigkeit minimieren.
({5})
Wir haben eine höhere Wertschöpfung, weil der Mensch
etwas verdient. Er selbst fühlt sich besser, weil er etwas
verdient und etwas ausgeben kann. Und dieser Mensch
ist den ganzen Tag beschäftigt und hat keine Zeit mehr
für Schwarzarbeit. Geben Sie sich einen Ruck! Lassen
Sie die Konzepte der Vergangenheit! Machen Sie nicht
noch einmal die gleichen Fehler! Diese Konzepte haben
zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit offensichtlich nicht funktioniert. Man kann nicht immer mehr
Staatsknete verteilen.
({6})
Man muss neue Wege gehen. Wir brauchen ein integriertes System aus Steuern und Transferleistungen.
Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag gemacht im Gegensatz zur SPD, deren Vertreter die einzigen sind,
die sich mit dieser Thematik offenkundig noch nie beschäftigt haben. Kehren Sie um! Geben Sie den Menschen die Möglichkeit, mitzutun!
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anette Kramme von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Herr Lafontaine, ich erinnere mich nur
sehr ungern an Ihre Zeit als Finanzminister,
({0})
das Amt, das Sie als Bettvorleger verlassen haben. Früher haben Sie wenigstens noch argumentiert, heute sind
Ihre Darstellungen nur noch billig. Sie praktizieren den
Populismus, den Sie uns vorwerfen.
({1})
Meine Damen und Herren, hören Sie genau zu:
Wer heute Mindestlöhne fordert, kann morgen den
Brotpreis durch den Staat festlegen lassen.
({2})
Raten Sie einmal, wer diesen skandalösen Satz gesagt
hat. Das war Guido Westerwelle. An sich möchte man
sagen: Wer sonst?
({3})
- Meinetwegen Sie auch, Herr Niebel!
({4})
Wer solche Sprüche klopft, der liebt die Menschen nicht,
sondern verachtet sie.
({5})
Lassen Sie mich eine kurze Zeitreise machen. Am
18. Oktober 1961 hat Deutschland zusammen mit anderen Mitgliedstaaten des Europarates die Europäische
Sozialcharta unterzeichnet. Darin geht es auch um den
Anspruch auf einen gerechten Verdienst. Mit Art. 4 verpflichteten sich die Vertragsparteien damals, das Recht
der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen,
welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen
angemessenen Lebensstandard zu sichern. Heute, fast
auf den Tag genau 45 Jahre später, setzen wir uns mit
ebendiesem Punkt wieder auseinander.
Gesetzliche Mindestlöhne gelten in 18 von 25 Mitgliedstaaten der EU. Deutschland ist eines der wenigen
Länder ohne Mindestlohn und auch ohne Mindestlohnäquivalent. In Skandinavien beispielsweise ist ein gesetzlicher Mindestlohn nicht vonnöten; denn dort
herrscht - glücklicherweise - ein gewerkschaftlicher
Organisationsgrad von 80 bis 90 Prozent. Oder nehmen
wir Österreich als Beispiel: Dort gibt es eine Tarifbindung von 98 Prozent durch die Pflichtmitgliedschaft der
Unternehmen in der Wirtschaftskammer. In Italien beträgt die durch die Verfassung abgesicherte Tarifbindung
90 Prozent.
Im Frühjahr 2004 hat die SPD die Debatte über existenzsichernde Löhne öffentlich angestoßen. Die Diskussion hält seitdem an. Die Bundesregierung hat angekündigt, noch in diesem Jahr einen Vorschlag dafür zu
unterbreiten, wie im Bereich der existenzsichernden
Löhne weiter verfahren werden soll. Schon heute werden wir durch den vorliegenden Antrag mit einigen
wahrlich kreativen Ideen zu diesem Thema erfreut.
Meine Damen und Herren von der Linken, ich hoffe,
dass Ihr heutiger Antrag ernst gemeint und nicht wieder
nur eine Farce ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in zahlreichen Studien wird belegt, dass der Niedriglohnsektor wesentlich
größer geworden ist. In allen Studien wird auf zwei
übereinstimmende Fakten hingewiesen:
Erstens sind im Niedriglohnsektor Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwerbstätig. Das
Institut für Arbeit und Technik geht davon aus, dass
6 Millionen Menschen und damit knapp 21 Prozent aller
Beschäftigten Niedriglöhne erhalten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung gibt eine ähnliche große
Dimension an. Auch die Uni Frankfurt kommt in einer
Untersuchung zum dem Schluss, dass 20 Prozent aller
Vollzeitbeschäftigen als prekär einzustufende Löhne haben.
Zweitens ist es in den letzten Jahren zu einem starken
Anstieg der Beschäftigung im Niedriglohnbereich gekommen. So stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, für die Jahre 1997 bis 2001 einen
Anstieg der Beschäftigung im Niedriglohnbereich von
15,6 Prozent auf 17,4 Prozent fest. Eines dürfte durch
diese Zahlen belegt werden: Relevant ist schon lange
nicht mehr das Ob eines Mindestlohnes, sondern vielmehr das Wie.
Die SPD hat ihre Beschlüsse gefasst. Wir favorisieren
ein zweistufiges Modell, um sicherzustellen, dass die
Menschen, die in Vollzeit arbeiten, davon auch leben
können.
Erste Stufe. Die Lohnfindung ist in Deutschland vor
allen Dingen eine Angelegenheit der Tarifvertragsparteien.
({6})
Deshalb sprechen wir uns für eine Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Wirtschaftsbereiche aus, um hierdurch branchenbezogene Mindestlöhne zu erreichen, wie dies im Baugewerbe mit großem
Erfolg praktiziert wird. Ich sage ganz klipp und klar: Die
im Koalitionsvertrag getroffene Festlegung ist nicht ausreichend.
({7})
Zweite Stufe. Für Branchen, in denen es keine Tarifverträge gibt oder in denen diese nicht greifen, und für
Branchen, in denen in den Tarifverträgen ein gewisses
Niveau des Mindestlohnes unterschritten wird, wird ein
einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Die
Einführung erfolgt in einem definierten Übergangszeitraum. Es dürfte dabei falsch sein, wenn der Gesetzgeber
den Mindestlohn unmittelbar selbst festlegt, nach dem
Motto: Darf es ein bisschen mehr sein, wenn Wahlen anstehen, und ein bisschen weniger, wenn gerade keine
Wahlen vor der Tür stehen. - Der Bundestag ist kein Basar, auf dem um die Entgelte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gefeilscht werden darf.
({8})
Wir sollten uns deshalb an der britischen Low Pay
Commission orientieren. Es ist schön, dass auch die Damen und Herren der Linken dies zumindest im Ansatz
erkannt haben.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird insbesondere von der FDP immer wieder behauptet, Mindestlöhne würden schaden und zu einem drastischen Arbeitsplatzabbau führen.
({10})
Das ist blanker Unsinn und Panikmache. Nichts weiter!
({11})
In Großbritannien zum Beispiel wurde der gesetzliche
Mindestlohn seit seiner Einführung im Jahre 1999 um
40 Prozent erhöht.
({12})
Im gleichen Zeitraum ging die Arbeitslosigkeit um
25 Prozent zurück. Auch durch die Anhebung des Minimum Wage in San Francisco im Jahre 2004 auf
8,50 Dollar wurden laut einer Evaluierung keine negativen Beschäftigungseffekte ausgelöst.
Noch ein Wort zur Bundestagsfraktion der FDP. Sie
bezeichnen Mindestlöhne als maximalen Unsinn.
({13})
Ihre Anhänger sind klüger. Die Zahl der Befürworter eines Mindestlohns unter Ihren Anhängern ist in den vergangenen fünf Monaten um 8 Prozentpunkte auf 44 Prozent angestiegen.
({14})
Nur noch 49 Prozent lehnen eine gesetzliche Regelung
des Mindestlohnes ab. Dies entspricht einer Abnahme
von 9 Prozentpunkten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Deutschen
Bundestag ist es Zeit für Mindestlohnregelungen.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Lafontaine, Frau Pothmer, ich habe Ihre beiden Redebeiträge mit Geduld angehört. Dabei drängte sich mir die
Frage auf, ob Ihnen der Name Iwan Petrowitsch Pawlow
etwas sagt.
({0})
Dieser war ein russischer Forscher, der die Theorie aufgestellt hat, dass künstliche Reflexe antrainiert werden
können. An dieses Phänomen haben mich Ihre beiden
Redebeiträge erinnert. Das war wirklich Beißreflex pur.
Der Hund von Pawlow hatte leider nicht die Gabe, seine
Reflexe einzustellen. Der Mensch hat Verstand und
sollte das - jedenfalls in der Regel - können. Na gut!
({1})
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag
ist ein weiteres Werk aus der Reihe „Populismus pur“.
Dies ist besonders bedauerlich, weil das Problem, über
das wir reden, viele Menschen in diesem Land betrifft,
nämlich keine ausreichende Existenzsicherung durch eigene Arbeit zu haben. Populismus war aber noch nie geeignet, Probleme zu lösen.
In Deutschland gibt es mehr als 2,5 Millionen Menschen, die trotz einer Vollzeitbeschäftigung arm sind.
({2})
Sie arbeiten jeden Tag schwer und haben trotzdem kein
ausreichendes Einkommen.
({3})
Ich glaube, wir alle kennen Menschen, denen es so geht:
Frisöre, Verkäuferinnen und Floristinnen. Gemäß Tariflohn verdienen sie pro Stunde 6,49 Euro, 5,94 Euro oder
4,93 Euro. Ich betone: Das sind Tariflöhne im Westen.
Wer hart arbeitet, sollte davon leben und eine Familie
ernähren können. Diese Menschen können es definitiv
nicht. Damit stellt sich die Frage: Wie lässt sich ihre
Existenz sichern? Als eine Antwort auf diese Frage wird
der Mindestlohn diskutiert. Diese manchmal sehr aufgeregte Diskussion wird nicht immer von Sachkenntnis
getragen. Es gibt mehrere Möglichkeiten zur Einführung
von Mindestlöhnen. Wie auch immer: Es bleibt eine ausschließliche Inanspruchnahme der Arbeitgeber. Die Verantwortung für die Existenzsicherung wird den Unternehmen aufgebürdet. Dies ist aber eine Aufgabe des
Staates. Das sehe ich eben anders als Sie, Frau Nahles.
({4})
Aufgabe der Unternehmen ist nicht die Existenzsicherung, sondern eine gerechte Entlohnung. Sicher gibt es
Arbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer ausnutzen. Aber
Lohnwucher ist sittenwidrig. Dafür gibt es bereits heute
ausreichende Regelungen. Gerade in den kleinen und
mittelständischen Betrieben werden Sie keinen Lohnwucher finden; denn diese Betriebe leben entgegen Ihrer
zum Teil sehr verzerrten Wahrnehmung nicht von, sondern durch und mit ihren Arbeitnehmern.
({5})
Wir sprechen - so in meiner Heimat - von Betrieben
mit durchschnittlich zwölf Mitarbeitern. Da kennt der
Betriebsinhaber jeden Mitarbeiter von Angesicht zu Angesicht, weiß um seine familiären Verhältnisse. Diese
Betriebe haben übrigens nicht das Vermögen der so genannten Globalplayer. Inzwischen gibt es nicht wenige
Mittelständler in Deutschland, die ihre Altersversorgung
auflösen und ihren privaten Besitz belasten, um ihren
Betrieb, auch im Interesse der Arbeitnehmer, fortführen
zu können.
({6})
80 Prozent der deutschen Arbeitnehmer werden von
diesem Mittelstand beschäftigt. Am Arbeitsmarkt kann
also nicht bestehen, wer Politik zulasten dieser Betriebe
macht. Da stellt sich die Frage, wie sich dort ein Mindestlohn auswirken würde. Beim Bau oder bei den Gebäudereinigern stellt die branchenbezogene Mindestlohngrenze ein probates Mittel dar - der Kollege Weiß
hat das ausgeführt -, vor allem aus Gründen des Außenschutzes. Deswegen hat die große Koalition reagiert und
das Entsendegesetz erweitert. Wir werden in diesem Zusammenhang prüfen, ob eine Erstreckung auf weitere
Branchen sinnvoll ist. Das dürfen wir allerdings nur mit
und nicht gegen den Mittelstand tun, sonst würden wir
weitere Arbeitsplätze vernichten.
({7})
Damit würden wir nicht nur die Beschäftigten treffen,
sondern wir würden auch denjenigen eine Chance nehmen, die keine Arbeit haben. Ganze Teile unserer Bevölkerung sind vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Wir müssen erreichen, dass genau diese Menschen wieder Arbeit
finden und eine Perspektive erhalten. Das ist übrigens
wirklich eine Frage sozialer Gerechtigkeit.
({8})
Ein gesetzlicher Mindestlohn wird gering qualifizierten oder langzeitarbeitslosen Menschen keinen einzigen
neuen Arbeitsplatz bringen. Im Gegenteil, er wird Arbeitsplätze zerstören. Ist er zu niedrig und liegt unter
dem gezahlten Marktlohn, ist er wirkungslos. Ist er zu
hoch, vernichtet er Jobs.
({9})
Und er entlässt den Staat - ich komme darauf zurück aus einer Verantwortung, die ihn alleine trifft, nämlich
für eine Existenzsicherung zu sorgen. Ich zitiere insoweit den Sachverständigenrat:
Die Realisierung von Verteilungs- oder Gerechtigkeitszielen ist ... eine staatliche Aufgabe, die ...
nicht ... über Eingriffe in die Lohnfindung in Form
gesetzlich vorgeschriebener Mindestlöhne erfolgen
sollte.
({10})
Jemand, der am ersten Arbeitsmarkt nur ein geringes
Einkommen erzielt, muss unterstützt werden; überhaupt
keine Frage. Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben
können. Aber wir können die Gesetze des Marktes
nicht außer Kraft setzen. Die soziale Verantwortung der
Existenzsicherung trifft uns als Staat.
Aus diesem Grund müssen wir das Arbeitseinkommen fördern. Dazu brauchen wir die Kombination aus
eigenem Arbeitseinkommen und ergänzender staatlicher
Leistung.
({11})
Nur so kann der Niedriglohnsektor belebt werden. Nur
so erhalten gering qualifizierte Arbeitnehmer und LangGitta Connemann
zeitarbeitslose die Chance auf den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Das ist sozial gerecht.
Lassen Sie es mich abschließend mit Abraham
Lincoln sagen - und das an die Adresse der Linken -:
Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr
die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren
Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet
keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassenhass schürt.
Recht hatte er.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich der Kollegin Angelika Krüger-Leißner von
der SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat heute wieder
einmal gezeigt, dass man dem Thema Mindestlohn nicht
gerecht werden kann, wenn man es sich sehr leicht
macht. - Ich schaue in bestimmte Richtungen.
Für mich gab es immer einen guten Grund, dass wir in
Deutschland zu diesem Instrument bisher nicht gegriffen
haben, auch um eine starke Tarifautonomie zu erhalten;
denn die Lohnbildung zwischen starken Tarifpartnern
hat für mich einen hohen Stellenwert und ist das bessere
Mittel im Vergleich zu einer politischen Festlegung.
({0})
Aber die Situation in Deutschland hat sich geändert;
das müssen wir feststellen. Der Markt regelt immer mehr
die Tarife und er regelt sie nicht gut. Ich sage: Jede Zeit
braucht ihre Antworten, auch in Bezug auf die Mindestlöhne. Gerade in Ostdeutschland merken wir immer
mehr, dass tarifliche Löhne nicht eingehalten werden.
({1})
Die Tarifbindung liegt in Ostdeutschland mittlerweile
unter 45 Prozent. Im Westen sind es noch 63 Prozent,
aber mit sinkender Tendenz.
Selbst wenn die Tarife eingehalten werden, liegen die
Löhne oft weit unter dem, was einer einigermaßen fairen
Entlohnung entspricht:
({2})
3,06 Euro für eine Friseurin in meinem Heimatland
Brandenburg, 4,15 Euro für den Wachdienst, um nur einige Beispiele für Dumpinglöhne zu nennen. Das dürfen
wir aus meiner Sicht nicht mehr zulassen. Das hat mit
Würde, Anstand und Gerechtigkeit nichts mehr gemein.
Zugleich sind diese Löhne die Folge einer deutlichen
Verschiebung der Kräfteverhältnisse bei den Tarifparteien - zugunsten der Arbeitgeberseite. Ich denke, das
kann niemanden hier in diesem Hause freuen.
({3})
Die Folgen sind uns deutlich vor Augen gehalten
worden. Wir haben gestern hier das Problem der gesellschaftlichen Gruppe der Ausgeschlossenen und Chancenlosen diskutiert. Wir haben festgestellt, dass das besonders in Ostdeutschland ein großes Problem ist.
Chancenlosigkeit heißt hier zuallererst Arbeitslosigkeit.
Chancenlosigkeit heißt aber auch, dass es kaum Aussicht
gibt, eine Arbeitsstelle zu bekommen, über die man seinen Lebensunterhalt auch nur annähernd bestreiten
kann.
Drei große A sind die Folge: sozialer Abstieg, Ausgrenzung und Armut. Das überträgt sich mittlerweile
auch auf die Kinder, die kaum noch Chancen haben, dieser Situation zu entfliehen.
Je nach Berechnung sind zwischen 19 Prozent und
36 Prozent aller ostdeutschen Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig. Ich denke aber, dass die bloße Existenz
von Niedriglöhnen unter 1 300 Euro nicht das eigentliche Problem ist. Das Problem besteht vielmehr darin,
dass die Niedriglohnquote immer größer wird, dass extrem niedrige Löhne unter 5 Euro pro Stunde immer
häufiger werden und dass die Lohnspreizung ansteigt. In
meiner Heimat, dem Bundesland Brandenburg, arbeiten
mittlerweile mehr als 60 000 Menschen für Armutslöhne, die unter 50 Prozent des Durchschnitts liegen. Sie
alle brauchen staatliche Zuschüsse, um einigermaßen
über die Runden zu kommen.
Hier wächst ein soziales Problem heran, das offenbar
mithilfe der Tarifparteien alleine nicht mehr zu lösen ist.
({4})
Auch wenn die Dramatik der Situation vor allem Ostdeutschland betrifft, sollten wir uns nichts vormachen:
Wir haben ein Problem, das weiter zunimmt und nach
und nach das ganze Land angeht.
({5})
Was wir in der Debatte über die Chancenlosen diskutiert haben, ist richtig und wichtig. Wir haben festgestellt, dass wir mehr Bildung brauchen. Das stimmt. Wir
brauchen mehr zielgerichtete Förderung für den Einzelnen und wir brauchen einen ehrlichen dritten Arbeitsmarkt.
({6})
Aber wir brauchen auch eine gerechte Entlohnung
und mehr Chancengleichheit und wir müssen das Auseinanderdriften der Gesellschaft beenden. Das bedeutet
in der Konsequenz auch, dass wir einen Mindestlohn
brauchen.
Ich will eines deutlich sagen: Ich bin für die Vereinfachung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und
die Ausweitung des Entsendegesetzes - ich hoffe, dass
wir das als Nächstes gemeinsam mit den Gewerkschaften bei der Zeitarbeit schaffen -, ich bin aber auch für
die Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohnes, wenn
er notwendig ist.
({7})
Für mich ist das ein gangbarer Weg.
Ich halte aber nichts von Festlegungen auf irgendeinen Betrag nach dem Motto „Wer die höchste Zahl in
den Raum wirft, ist am sozialsten“, wie es in dem Antrag
der Linken der Fall ist.
({8})
Eine solche Gleichung geht nicht auf.
Ich halte auch nichts von der These, dass sich ein
Mindestlohn und ein Kombilohn generell ausschließen
müssen. Man kann für bestimmte Gruppen beides sehr
sinnvoll vereinbaren.
Eines steht aber fest: Ein Mindestlohn muss sehr
sorgsam eingeführt werden. Minister Müntefering hat
mit dem Stufenplan einen sehr guten Vorschlag eingebracht. Ich meine, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen sollten.
Danke.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/1878 und 16/2978 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d
auf:
15 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und
der Länder ({0})
- Drucksache 16/2950 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes
({2})
- Drucksache 16/2921 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({4}), Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung schließen
- Drucksache 16/821 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({6}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anti-Terror-Gesetze - Zeitliche Befristung
beibehalten und Rechtsschutz der Betroffenen
verbessern
- Drucksache 16/2081 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nicht nur die Kofferbomben oder die Anschlagsplanungen in London zeigen, dass die Bemühungen um die Sicherheit vor den Gefahren des internationalen Terrorismus auf der Liste der politischen Prioritäten stehen.
Es gibt sicherlich keine hundertprozentige Sicherheit.
Aber dies befreit uns nicht von der Notwendigkeit, das
Menschenmögliche zu tun. Das wichtigste Instrument,
Anschläge zu verhindern, ist, rechtzeitig zu wissen, was
die Planungen sind. Deswegen ist Information das
wichtigste präventive Mittel, wenn es darum geht, Anschläge zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten.
Die Vernetzung von Informationen ist das Wichtigste,
wenn es darum geht, die Effizienz zu steigern.
Die Untersuchungen der Amerikaner nach dem
11. September 2001 zeigen: Sie hatten zwar alle Informationen, waren aber nicht in der Lage - wir wären dazu
genauso wenig in der Lage gewesen -, sie zu vernetzen.
Deswegen ist es ein großer Fortschritt, wenn wir nun den
Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des
Bundes und der Länder verabschieden. Hier werden auf
kluge Weise die Belange des Quellen- und Geheimschutzes und die Notwendigkeit des Datenschutzes in
Einklang gebracht sowie auf intelligente Weise Volltextund Indexdatei miteinander verbunden.
({0})
Ich möchte mich bei allen sehr herzlich bedanken, die
an dem schwierigen Prozess der Abwägung zwischen
den verschiedenen, gleich wichtigen Gesichtspunkten
mitgewirkt haben. Der Quellen- und Geheimschutz ist
für die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste
genauso wichtig wie der Datenschutz für die Funktionsfähigkeit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Alles muss so verknüpft werden, dass es den Anforderungen der Gewährleistung von Sicherheit gerecht
wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir mit
den Ressorts der Bundesregierung und den
Koalitionsfraktionen - bei diesen bedanke ich mich
herzlich - sorgfältig abgestimmt haben, tragen wir dem
Rechnung. Zukünftig haben alle Sicherheitsbehörden bei
gesuchten oder verdächtigen Personen unmittelbaren
Zugriff auf die notwendigen Informationen. Sie wissen
dann, welche Behörden welche Informationen haben. Es
ist darauf ausgerichtet, dass die zuständigen Stellen miteinander kommunizieren, was ganz wichtig ist. Es gibt
zudem eine Regelung, die es ermöglicht, dass dies im
Eilfall auf Knopfdruck funktioniert, sodass wir keine
Zeit verlieren. Ich glaube, dies ist eine optimale Lösung.
Deswegen bin ich froh, dass wir heute diesen Gesetzentwurf vorlegen. Wir bereiten das Bundeskriminalamt darauf vor, dass, wenn das Gesetz in Kraft tritt, wir schnell
alles in die Tat umsetzen können, um die Zusammenarbeit voranzubringen.
Ich will noch eine Bemerkung zum Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz machen. Wir haben eine
Evaluierung der zeitlich befristeten Gesetzgebung vorgenommen und haben festgestellt, dass sie sich im Wesentlichen bewährt hat. Deswegen wollen wir die Geltungsdauer verlängern. Wir schlagen aber vor, dies in
dem einen oder anderen Punkt praxisgerechter zu gestalten und die Instrumente des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes auch zur Bekämpfung von Extremismus einzusetzen, wenn er einen Gewaltbezug hat.
Ich glaube, das ist gerade angesichts der Sorgen wichtig,
die wir uns über die Zunahme rechtsextremistischer und
gewaltbezogener Tendenzen machen.
({1})
- Richtig, soweit er einen Gewaltbezug hat.
({2})
- Herr Wieland, ich führe gerne eine Debatte darüber, ob
der gewaltbezogene Rechtsextremismus nicht auch erfordert, dass wir zu seiner Bekämpfung auch rechtsstaatliche Instrumente zur Terrorismusbekämpfung einsetzen,
wenn wir nicht nur Sonntagsreden halten, sondern von
montags bis freitags unsere Pflicht wahrnehmen wollen.
({3})
Ich sage ganz ruhig und freundlich: Angesichts der
Tatsache, dass überall in Europa die Gefahr des „homegrown“ Terrorismus zunimmt - das ist in Deutschland
nicht anders als in Großbritannien -, müssen wir den
Nachrichtendiensten die Möglichkeit geben, Daten im
Inland zu erheben, die Daten eines Kraftfahrzeughalters,
und zwar auch außerhalb der Dienstzeiten des Kraftfahrt-Bundesamtes, im Rahmen des automatisierten Datenabrufs abfragen zu können, zum Beispiel. Von dieser
Qualität sind die Verbesserungen durch das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz. Es geht nicht um grundsätzliche Änderungen, sondern darum, Bewährtes
anhand der Erfahrungen aus der Praxis so weiterzuentwickeln, dass wir im Kampf für Sicherheit, im Kampf
gegen den Terrorismus, die große Bedrohung unserer
Zeit, unsere Verantwortung wahrnehmen und das Menschenmögliche tun.
Ich füge eine letzte Bemerkung hinzu. Natürlich wird
der Kampf gegen die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus nicht allein mit polizeilichen und nachrichtendienstlichen Maßnahmen, mit Maßnahmen der
inneren Sicherheit zu gewinnen sein, sondern er wird
immer auch erfordern, dass wir unseren Beitrag leisten,
um die Konflikte und die Entwicklungen weltweit beherrschbarer zu machen. Dieser Zusammenhang, der in
vielen Debatten in diesem Haus thematisiert wird, muss
auch in dieser Debatte deutlich gemacht werden. Neben
der Gewährleistung von Sicherheit dürfen wir den
Kampf um die Köpfe und Herzen derjenigen nicht aufgeben, die vielleicht in die Fänge der Hassprediger, der
Terroristen und derjenigen, die Anschläge planen, fallen
könnten. Das Potenzial dieser Menschen müssen wir
möglichst klein halten. Auch darum bemühen sich die
Bundesregierung und die Koalition.
Ich bitte das Hohe Haus um eine zügige Beratung des
Gesetzentwurfs, weil ich glaube, dass das Gesetz notwendig ist, um die innere Sicherheit in unserem Lande
angesichts der Bedrohung durch den Terrorismus weiter
zu verbessern.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel des vorgelegten Gesetzentwurfes ist es, den Informationsaustausch durch die beteiligten Behörden zur
Bekämpfung des Terrorismus zu verbessern. Diese Forderung unterstützt meine Fraktion voll und ganz.
({0})
Sie hat sich für die Verbesserung dieses Austausches
seit Jahren eingesetzt. Herr Minister, wenn es denn auch
aus unserer Sicht ein kluger Gesetzentwurf ist, dann
werden wir ihm gerne zustimmen. Im Übrigen sichern
wir Ihnen aber auch zu, ihn zügig zu beraten. Da sind
wir an Ihrer Seite. Das ist gar keine Frage.
({1})
- Wir haben nie etwas anderes gesagt. Das Problem ist
nur, dass es wegen Maximalforderungen insbesondere
konservativer Innenminister aus einigen Bundesländern
in der Vergangenheit nicht gelungen ist, dieses Thema
früher in den Deutschen Bundestag einzubringen.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz
machen uns deutliche Vorgaben. Hier möchte ich zum
einen das Trennungsgebot hervorheben. Ich möchte
heute gar nicht mit den Kollegen der CDU/CSU darüber
diskutieren, ob das im Grundgesetz steht oder nicht.
({3})
Wir werden eine Anhörung dazu haben. Ich sage Ihnen
schon heute: Selbst wenn es nicht im Grundgesetz steht,
ist es für uns ein wichtiges Verfassungsprinzip.
({4})
Daher werden wir das ernsthaft prüfen müssen. Wir werden diesen Gesetzentwurf zum anderen aber auch am
Recht auf informationelle Selbstbestimmung messen
müssen. Wir werden am Ende zustimmen, wenn wir der
Ansicht sind, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist.
Wir haben noch einige Probleme mit diesem Gesetzentwurf. Dass nicht nur wir diese haben, sondern beispielsweise auch die Länder Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen, haben die Sitzungen des Rechtsund Innenausschusses des Bundesrates diese Woche gezeigt; denn auch dort wurden Anträge gestellt, denen
zum Teil im Innenausschuss gefolgt worden ist, zum Teil
nicht. Man sieht, dass die IMK-Vereinbarung offensichtlich doch nicht so eindeutig war und nicht so eindeutig
in diesen Gesetzentwurf eingeflossen ist, wie das oft gesagt worden ist.
({5})
Ein grundsätzliches Problem für uns betrifft die
Datensparsamkeit. Jede Sammlung und Weitergabe
von Daten bedeutet einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dieser bedarf einer besonderen Rechtfertigung. Maßstab ist dabei immer die
Effektivität und Zweckmäßigkeit dieser Speicherung
und Weitergabe. Da stellt sich uns insbesondere bei dem
Merkmal der Religionszugehörigkeit die Frage: Wenn
die Erhebung eines Merkmals einen Mehrwert gegen
null generiert, brauchen wir es dann wirklich? Das ist
unser erstes Problem.
({6})
Das zweite Problem ist aus unserer Sicht das so genannte Freitextfeld, wo ergänzende Hinweise und Bewertungen gespeichert werden können. Damit wird den
Polizeibehörden aus unserer Sicht der Zugriff auf nicht
gesicherte Informationen eröffnet, die als solche für die
Erfüllung ihrer Arbeit nicht unbedingt notwendig und
weder geeignet noch erforderlich sind. Die Polizei kann
bei der Verfolgung von Straftätern - normalerweise
quellengeschützte - Geheimdienstinformationen bekommen. Das ist aus unserer Sicht durchaus fragwürdig. Von
daher schließen wir uns der Protokollnotiz des nordrhein-westfälischen Innenministers an, der dies ausdrücklich kritisiert hat.
Damit verbunden ist nämlich ein weiteres Problem:
die Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden. Dieses Problem wollen wir uns sicherlich nicht auch noch
- sozusagen en passant - aufhalsen. Das Freitextfeld ist
ein bisschen wie eine Missgeburt, ein Kompromiss zwischen Index und Volltext, eine für eine große Koalition
typische Konzession. Das ist aus unserer Sicht falsch.
({7})
Auch die im Gesetzentwurf vorgesehene Speicherung
von Daten von Kontaktpersonen sehen wir sehr kritisch. Dabei handelt es sich um Personen, bei denen Anhaltspunkte für eine Verbindung mit dem Terrorismus
sprechen. Was bedeutet das denn? Sie verleihen Ihr
Handy an jemanden, Sie telefonieren mit jemandem:
Reicht das schon? Wir jedenfalls werden genau darauf
achten, dass vom Terrorismus bisher wirklich unberührte
Menschen durch diesen Gesetzentwurf nicht in Verdacht
geraten können, mit Terrorismus etwas zu tun zu haben.
Wir freuen uns, dass uns die Länder Baden-Württemberg
und Nordrhein-Westfalen im Bundesrat zur Seite stehen.
Auch die Regelung des Eilfalls ist aus unserer Sicht
sehr kritisch zu sehen; denn damit könnte durch die Hintertür ein umfassender Gebrauch der Daten eingeführt
werden.
({8})
- Das ist immer so. Ich muss Ihnen nicht erzählen, wie
dieses System funktioniert.
Ich komme zum Schluss. Nach § 6 Gemeinsame-Dateien-Gesetz soll auch eine Verwendung der Daten zu einem anderen Zweck als zur Aufklärung oder zur Bekämpfung des Terrorismus zulässig sein. Mit diesem
Ausnahmefall werden aus unserer Sicht die Datenverwendung nochmals deutlich erweitert und das Trennungsgebot nochmals ausgehöhlt. Auch das können wir
so nicht mittragen.
({9})
Ich wiederhole unser Angebot: Wir arbeiten gern an
einem verfassungsgemäßen Gesetz mit. Aber wenn es
darum geht, dass das Trennungsgebot und das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung ausgehöhlt werden
sollen, dann können wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Hofmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zum ersten Mal in der großen Koalition legen CDU/CSU und SPD nun gemeinsam
Gesetze im Bereich der Politik der inneren Sicherheit
vor. Anders als auf vielen anderen Fachgebieten, beispielsweise bei der Gesundheitsreform oder der Steuerreform, haben es die Innenpolitiker geschafft, sich zu einigen, ohne ständig negative Schlagzeilen zu liefern.
({0})
Natürlich war in den internen Gesprächen - das wissen auch wir - lange nicht alles eitel Sonnenschein. Es
entbrannte eine intensive Debatte, zum Beispiel über das
Trennungsgebot. Eine solche Debatte gab es auch im
Plenum; Frau Piltz hat das ebenfalls angesprochen. Wir
hatten auch intensive Diskussionen über die Fragen „Indexdatei“ und „Volltextdatei“. Wir haben es geschafft,
auf der fachlichen Ebene gut zusammenzuarbeiten und
zwei gute Gesetzesentwürfe vorzulegen.
({1})
Für uns, die SPD, möchte ich betonen: Natürlich
bauen wir auf dem Terrorismusbekämpfungsgesetz
auf, das wir unter Rot-Grün 2002 geschaffen haben. Die
Staatsaufgaben Freiheit und Sicherheit wurden schon damals in verfassungsrechtlich gut vertretbarer Weise in
Einklang gebracht.
({2})
Die Evaluation dieses Gesetzes hat ergeben, dass die
grundsätzliche Regelung angemessen und erfolgreich
ist,
({3})
was sich beispielsweise bei der Aufklärung des HamasFinanzierungsnetzwerkes in Europa gezeigt hat. Trotzdem machten die Sicherheitsbehörden von dem zur Verfügung gestellten Instrumentarium nur sehr restriktiv
Gebrauch: insgesamt nur 99 Anwendungsfälle in drei
Jahren.
Befürchtungen bestimmter Medien und politischer
Gruppierungen, es könnte zu ähnlichen Überreaktionen
kommen, wie ich sie in den USA durch den Patriot Act
und weitere Gesetze sehe, sind nicht eingetreten. Diesen
erfolgreichen Weg werden wir angesichts der fortbestehenden Bedrohung durch den internationalen Terrorismus weiter beschreiten.
Den Kritikern möchte ich sagen: Nicht nur der
Rechtsschutz, sondern auch der Rechtsgüterschutz ist
eine essenzielle Legitimationsgrundlage und gehört zu
den herausragenden Aufgaben unseres Staates.
Meine Damen und Herren, mit der Einbringung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes soll das Bekämpfungsgesetz
von 2002 um weitere fünf Jahre verlängert werden. Wie
die Evaluierung gezeigt hat, hat sich dieses Gesetz bewährt. Es soll auf der Grundlage von Erfahrungen aus
der Praxis verbessert werden. Wir werden wiederum
eine Evaluierung und Befristung festschreiben. Dabei
wird ein externer Wissenschaftler einbezogen, der im
Einvernehmen mit dem Bundestag ausgewählt wird. Das
ist qualitativ etwas Neues. Hier werden die Kontrollrechte des Bundestages gestärkt.
({4})
- Ich möchte auf Ihren Zuruf „Schuldeingeständnis“ eingehen. Wir - Sie und ich, die Grünen ebenso wie die
SPD und die anderen - versuchen, bei dem Thema Evaluierung weiterzukommen. Wir alle wissen, dass wir hier
erst am Anfang stehen.
({5})
Wir bemühen uns weiterzukommen und sind auch bereits einen Schritt weiter.
({6})
Bei diesem Schritt handelt es sich um etwas Neues und
Gutes. An dieser Stelle können sicherlich auch Sie uns
zustimmen.
Die jetzige Ausgestaltung der Befristungs- und die
Evaluationsklausel sind das Verdienst der SPD-Fraktion.
Bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhang
auch bei dem Bundesdatenschutzbeauftragten, Peter
Schaar, dessen Rat wir im Rahmen der beiden Gesetzgebungsverfahren mehrmals eingeholt haben, dass er dazu
beigetragen hat, dass wir dem Datenschutz den angemessenen Stellenwert einräumen konnten.
Festhalten möchte ich aber auch: Die SPD-Fraktion
hat Wert darauf gelegt, dass die Auskunftsrechte nicht
auf den gesamten Extremismus ausgedehnt werden, sondern nur, soweit ein Bezug zum Terrorismus eindeutig
auf der Hand liegt.
({7})
Zum Trennungsgebot brauche ich heute wohl keine
weiteren Ausführungen zu machen. Das werden wir in
den Anhörungen und den Ausschussberatungen sicherlich noch debattieren müssen. Im Zusammenhang mit
der Antiterrordatei haben sich das Bundesjustizministerium und die Justizministerin, Frau Zypries, große Verdienste erworben und rechtsstaatlich einwandfreie Verfahrensvorschläge unterbreitet.
({8})
Frank Hofmann ({9})
Problematisch fand ich als Vertreter des Deutschen
Bundestages, der immer gesagt hat: „Hierbei handelt es
sich um ein Gesetz, das vom Bundestag zu verabschieden ist“, dass sich die Innenministerkonferenz für
meine Begriffe zu sehr zu einem Ersatzgesetzgeber aufschwingen wollte. Das war nicht die richtige Ebene.
Wenn es eine Errichtungsanordnung gibt, an der die Länder mitarbeiten sollen, da sie hierzu etwas zu sagen haben, dann soll das auf dieser Ebene bleiben.
({10})
Dem Wunsch der Länder, noch weitere Polizeibehörden, die Zugang zur Antiterrordatei haben, benennen zu
können, stehen wir als SPD-Fraktion skeptisch gegenüber. Wir sind noch nicht von der unbedingten Notwendigkeit überzeugt und wollen noch einmal prüfen, ob wir
den Kreis der beteiligten Behörden angesichts des sensiblen Datenmaterials nicht begrenzen können. Aber
selbst bei einer Ausweitung auf andere Antiterrorspezialdienststellen wäre klar: Der Schutzmann auf der
Straße hat keinen Zugriff auf diese Daten.
Wir haben des Weiteren darauf geachtet, dass die Antiterrordatei nicht zu einem Selbstbedienungsladen wird.
Die Anfragen sind zu kontrollieren und der Austausch ist
zu dokumentieren. Für mich bleibt es - anders als dies
Frau Piltz sieht - bei dem Grundsatz einer Indexdatei.
Die von einigen Bundesländern, insbesondere von Bayern und Niedersachsen, favorisierte Volltextdatei hat sich
aus meiner Sicht nicht durchsetzen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer in den
beiden vorgelegten Gesetzentwürfen Schritte in den
Überwachungsstaat zu erkennen glaubt, muss auch nach
den nächsten Anschlägen dazu stehen können. Auch wir
würden gern die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger um den Datenschutz und um die Grundrechte herum
bauen. Das aber geht an der Realität vorbei. Zur Klarstellung: Die Regierungskoalition hat die Einrichtung einer Antiterrordatei beschlossen, keiner Antibürgerdatei.
Eine Analyse des internationalen Terrorismus, die lediglich das Problem der Überreaktion des Staates thematisiert und mit dem Schlagwort „Überwachungsstaat“
beschreibt, ist naiv und praxisfremd.
({11})
Eine Politik der inneren Sicherheit ist immer eine
Gratwanderung. Es geht um das Austarieren von Erforderlichkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit.
Wir glauben, dass dies mit den vorliegenden Gesetzentwürfen gelungen ist.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den terroristischen Anschlägen in den USA am
11. September 2001 wurden auch in der Bundesrepublik
zahlreiche so genannte Antiterrorgesetze in Kraft gesetzt. In Anlehnung an den Namen des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily wurden sie salopp „OttoPakete“ genannt. Heute nun nähern wir uns
„Schäuble I“.
({0})
Wieder geht es um mehr Befugnisse für die Geheimdienste und um weitere Eingriffe in Grund- und Bürgerrechte.
Wir haben damals die „Otto-Pakete“ abgelehnt. Ich
sage es vorweg: Die Fraktion Die Linke wird auch den
Entwurf des vorliegenden Ergänzungsgesetzes ablehnen.
({1})
Im Kern geht es dabei um zweierlei: Die so genannten
Sicherheitsgesetze, die damals befristet wurden, sollen
zum einen verlängert und zum anderen verschärft werden. Ich komme zunächst zur Verlängerung. Dazu melden auch die FDP und die Grünen in ihren Anträgen
Zweifel an - zu Recht, finde ich. Denn niemand verlängert ein Gesetz oder einen Vertrag, wenn er nicht davon
überzeugt ist, dass dieser gut und richtig ist. 2001 und
2002 wurde deshalb auch versprochen, die „Otto-Pakete“ binnen drei oder vier Jahren genau daraufhin zu
untersuchen, also - wie es auf Fachdeutsch heißt - zu
evaluieren. Diese Evaluierung hat bis heute nicht umfassend stattgefunden. Es gab lediglich - das hat der Minister dargestellt - eine regierungsinterne Überprüfung. Die
hatte dann allerdings das zu erwartende Ergebnis: ein
Selbstlob mit - wie der Minister heute sagte - der einen
oder anderen lebensnahen Präzisierung. Eine wirkliche
Überprüfung von Wirkungen und Folgen der „Otto-Pakete“ hat es bis heute nicht gegeben.
Doch es gibt zwei Ausnahmen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwei wesentliche Elemente der Antiterrorpakete als verfassungswidrig kassiert: den großen
Lauschangriff und das Luftsicherheitsgesetz. Das war
aber bestimmt keine Empfehlung zur Verlängerung und
Weiterführung dieser Politik, sondern eine Ohrfeige für
Rot-Grün. Ich sage Ihnen voraus, dass auch Sie sich,
wenn Sie so weitermachen, in Karlsruhe eine solche
Ohrfeige abholen.
({2})
Schon deshalb wird die Linke der Verlängerung nicht
zustimmen. Das wäre falsch, weil die Gesetze tief in verbriefte Bürgerrechte ein- und rechtsstaatliche Prinzipien
angreifen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger werden
unter Generalverdacht gestellt und entsprechend behandelt. Das ist das Wesen der alten und der neuen Antiterrorgesetze. Bürgerinnen und Bürger werden nicht als
Souverän, sondern als potenzielle Gefahr betrachtet. Das
lehnen wir grundsätzlich ab.
({3})
Damit bin ich bei den Ergänzungen zum Antiterrorgesetz, die von der Bundesregierung bereits beschlossen
wurden und nun von den Unionsparteien und der SPD
dem Bundestag vorgeschlagen werden. Zählt man die
zahlreichen Einzelvorschläge zusammen, erkennt man
drei große Linien. Linie 1: Die Geheimdienste werden
enthemmt und aufgerüstet. Linie 2: Der Datenschutz
wird zum Abschuss freigegeben. Linie 3: Der Abbau
von Bürgerrechten wird grenzüberschreitend forciert.
Das sind tiefe Einschnitte - zwar freundlich verpackt,
mit Demokratie aber unvereinbar.
Ein konkretes Beispiel. Zuweilen wird der Eindruck
genährt, unsere Sicherheitsbehörden seien geradezu gelähmt, weil sie über zu wenig Daten verfügten. Ich
wollte es nun genauer wissen. Die Bundesregierung hat
mir spezifisch und konkret geantwortet - zwar unvollständig, aber immerhin. Demnach gibt es bei den verschiedenen Sicherheitsbehörden über 160 spezifische
Dateien, die sich auf Kriminalität bzw. Terrorismus beziehen. In diesen Dateien gibt es über 60 Millionen Datensätze über Personen und Personengruppen, die verdächtigt werden. Ich frage Sie: 60 Millionen Datensätze
- zumeist geheim gehalten und zugleich legal erhoben in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern?
({4})
Das ist eine Überwachungsqualität, der niemand ernsthaft zustimmen kann, der das Grundgesetz sowie Bürger- und Freiheitsrechte ernst nimmt.
({5})
Nun wollen Sie zudem noch eine Zentraldatei, die
gemeinsam von der Polizei und den Geheimdiensten gespeist und genutzt wird. Die Linke wird das aus zwei
Gründen ablehnen. Erstens wird damit - davon war
heute schon die Rede - das Trennungsgebot zwischen
Polizei und Geheimdiensten unterlaufen. Zweitens ist es
egal, wie Sie diese Zentraldatei ausgestalten, als Volltextdatei, als Indexdatei oder als Mischform: Die Geheimdienste werden zum Schluss immer die Deutungshoheit über die Polizei haben. Das halte ich für schlicht
grundgesetzwidrig.
({6})
Die Linke jedenfalls wird nicht die Geltungsdauer
von Gesetzen verlängern, die die Bürgerrechte derart infrage stellen. Die Linke wird keine Gesetze ergänzen,
die so den Rechtsstaat infrage stellen. Wir werden also
nicht die Arbeit jener übernehmen, vor denen uns diese
Gesetze angeblich schützen sollen.
Abschließend: Sicherheit ist ein hohes Gut. Jede und
jeder hat Anspruch darauf.
({7})
Natürlich muss der Staat dem entsprechen. Aber sobald
sich die Sicherheit des Staates über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger erhebt, ist Widerspruch angesagt.
Genau deshalb widerspricht die Linke heute.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Pau, wir als Grüne haben nach dem 11. September
2001 die so genannten Otto-Kataloge - so hat man sie
gemeinhin genannt - mitgetragen.
({0})
- Der gute Otto Schily pflegte nichts zu verschenken; er
pflegte schon gar nicht den Bürgerinnen und Bürgern
Pakete zu schicken. Das war nicht sein Staatsverständnis. Von daher: Lassen wir es bei „Kataloge“!
Wir haben sie nicht mitgetragen, um, wie Ihre Fraktion immer falsch kolportiert, vor - Kollege Benneter hat
einmal vorgeschlagen, zu sagen: unser aller Otto, der
ganz Große ({1})
diesem unser aller Schily den Kotau zu machen, sondern
weil auch wir der Ansicht waren, dass auf die Globalisierung auch des Terrors, die wir erlebt haben, nicht nach
dem Motto „Alles bleibt, wie es ist; wir ändern gar
nichts“ reagiert werden kann, sondern das maßvoll Notwendige getan werden muss. Aus dieser Vergangenheit
stehlen wir Grüne uns nicht davon. Dazu stehen wir.
({2})
- Frau Jelpke, anders als der Kollege Grindel werfe ich
Ihnen nicht vor, dass Sie möglicherweise mal den „Arbeiterkampf“ verteilt haben. Aber dass Sie noch heute,
nach 30 Jahren, Leitartikel des „Arbeiterkampfes“ in unveränderter Form hier vorzulegen pflegen, ist wirklich
etwas befremdlich.
({3})
Das gilt auch für Frau Pau, die einen völlig abstrakten
Begriff von Bürgerrechten hat und sich der Notwendigkeit entzieht, dieses Spannungsverhältnis zu definieren
und auszuhalten. Wir tun das jedenfalls nicht.
Deswegen ärgert es uns wirklich - das sage ich an die
Damen und Herren der Sozialdemokratie gerichtet -,
dass das, was wir seinerzeit als Begrenzungen und
Schranken in diese Gesetze hineingeschrieben haben,
nun von Ihnen einfach weggewischt wird
({4})
und wir dann auch noch begeistert sein sollen, Herr Kollege Hofmann.
Erstens. Es sollte vor dem Ablauf eine tatsächliche
Evaluierung stattfinden, eine Evaluierung, die dann natürlich auch zu Ergebnissen führt, aber nicht dazu, dass
man sagt: Wir machen alles weiter wie bisher. - Nichts
soll danach wegfallen. Auch Befugnisse, die nie angewandt worden sind, sollen bleiben.
({5})
Es war im Übrigen eine Selbstevaluierung des Ministeriums
({6})
- ja -, endend am 31. Dezember 2004. Der Bundesinnenminister hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, das zu aktualisieren. Dann hat man gesagt: Das
ganze Instrumentarium bleibt, zum Beispiel der Lauschangriff zur Eigensicherung der Beamtinnen und Beamten. Wie es heißt: nie in Anspruch genommen. Auskunft
bei Postdienstleistern: nie in Anspruch genommen. Das
alles soll so bleiben.
Das ist so, als ob man eine soziale Einrichtung sich
selbst evaluieren lässt. Sie stellt dann fest: Wir haben
eine Spätsprechstunde. Da ist in vier Jahren nie ein
Mensch erschienen, aber wir führen sie weiter. Vielleicht
kommt ja doch mal irgendjemand.
Die Evaluierung, die Sie vorschlagen, ist doch eine
Reise nach Absurdistan.
({7})
Herr Kollege Wieland, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Gerne. Eine Frage von Herrn Wiefelspütz führt uns
immer weiter.
Bitte schön.
Herr Kollege, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erwartet von Ihnen, dass Sie diesem Gesetz zustimmen, weil es ein vernünftiges Gesetz ist.
Das ist bis jetzt noch keine Frage.
Ich bitte Sie, zu meinem Hinweis, dass wir von Ihnen
erwarten, dass Sie diesem Gesetz zustimmen, einmal
Stellung zu nehmen.
Sehr gerne. - Wir erwarten, dass in der gesamten parlamentarischen Beratung und insbesondere in der Anhörung die absolut notwendigen Änderungen dieses Gesetzes erfolgen werden. Dann können wir, ähnlich wie die
FDP, darüber reden. Aber dann muss noch sehr viel an
dem, was Sie hier vorgelegt haben, geändert werden.
({0})
Als Zweites hatten wir seinerzeit als Verfahrenssicherung die Antrags- und die Anordnungsbefugnisse
durch die Hausspitzen, den Minister oder den Chef des
Bundeskanzleramts, festgeschrieben. Diese Befugnis
wollen Sie jetzt nicht mehr.
Als Drittes hatten wir Befugnisse differenziert nach
Diensten: nach dem Inlandsnachrichtendienst und dem
Verfassungsschutz. Aber Sie weiten das jetzt einfach auf
MAD und BND aus. Das ist vergleichbar mit Eltern, die
allen ihren Kindern ein Fahrrad schenken, weil ein Kind
zum Geburtstag ein Fahrrad bekommen hat. Was ist das
für eine unsinnige Logik?
({1})
Warum soll der BND, den man - ich zitiere - als Augiasstall ausmisten müsste, weitere Befugnisse bekommen
und warum sollen so, um beim Bild zu bleiben, weitere
Viecher da hineingetrieben werden? Das darf doch nicht
die Antwort auf die Affären der letzten Monate sein.
Noch einmal: Zu einem solchen Entwurf, lieber Kollege Wiefelspütz, können wir nicht Nein sagen.
({2})
- Ich meine: nicht Ja sagen. Dieser Gesetzentwurf macht
uns geradezu sprachlos. Das wäre wohl die richtige Antwort.
({3})
Alle drei Nachrichtendienste, unabhängig von ihrer eigentlichen Aufgabe, gleich zu behandeln, kann es nicht
sein.
Der entscheidende Punkt ist: Diese Maßnahmen waren doch für die Terrorismusbekämpfung vorgesehen.
({4})
Entweder man braucht sie zur Terrorismusbekämpfung
oder man braucht sie zu anderen Zwecken. Der Bundesinnenminister sagte, es gebe so genannte Mischformen.
Sie erweitern die Regelungen nicht nur auf islamistische
Hassprediger und auf Rechtsextreme - das geht rechtlich
eigentlich nicht -, Sie erweitern auch auf andere Personen, unabhängig davon, aus welcher Motivation diese
Personen Gewalt bejahen. Ob gegen Rechts oder gegen
Links: Sie beginnen mit Bin Laden und werden irgendwann bei irgendeinem Sozialforum in der Bundesrepublik enden, das zum Beispiel zum Kampf gegen HeuWolfgang Wieland
schrecken aufruft. Diese Erweiterung können wir also
nicht mittragen.
({5})
Über die Antiterrordatei haben wir vor drei Wochen
diskutiert. Dabei haben wir unsere Bedenken vorgetragen. Wir haben die Befürchtung, dass viel zu viele Daten
eingestellt werden und dass viel zu viele nicht definierte
Polizeidienststellen, Herr Kollege Hofmann, auf diese
Daten Zugriff nehmen können. Dies kann natürlich nicht
ein Dorfpolizist tun, aber zum Beispiel die zuständige
Abteilung einer Großstadtpolizei.
Es droht, dass der Eilfall - er ist als Ausnahmefall gedacht - zum Regelfall wird. Denn eine Gefahr für Leib
und Leben ist bei terroristischer Bedrohung in der Regel
anzunehmen, wie zum Beispiel im Fall der beiden Kofferfunde. Es droht also, dass das Umschwenken auf die
Volltextdatei zur Regel wird. Auch das wollen wir nicht.
Abschließend will ich sagen: Es ist eine akademische
Diskussion, Kollege Binninger, ob das Trennungsgebot
Verfassungsrang hat oder nicht.
({6})
Ich will diese Diskussion gar nicht führen. Spannend
wird es nur, wenn jemand das Trennungsgebot abschaffen will. Erst dann würde sich die Frage stellen, ob das
Gebot von der Verfassung geschützt ist. Wir wollen dies.
Aufgrund unserer NS-Vergangenheit ist das Trennungsgebot bei uns schärfer gefasst als in anderen Ländern.
Das bedeutet, dass die Nachrichtendienste keine Exekutivbefugnisse haben und dass die Polizei keine geheimdienstlichen Befugnisse hat.
Wenn wir jetzt eine Art gemeinsames Notizbuch für
beide schaffen - das ist ja diese Datei -, dann muss völlig klar sein, dass es hier lediglich um Kooperationen,
nicht um eine Verschmelzung oder Vermischung geht.
Das muss bei der Ausgestaltung klar werden. Wir
wollen die parlamentarische Auseinandersetzung in und
nach der Anhörung und wir wollen, dass Sie sich nicht
dem Änderungsbedarf, den wir hier sehen, verschließen,
sondern die Ohren und Ihr Herz öffnen, Herr Kollege
Wiefelspütz, dann werden wir weitersehen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Wieland, Sie hatten gerade
einen süßen Versprecher. Das ist nicht weiter schlimm,
das ist uns allen schon passiert. Interessant war aber,
dass Sie anschließend gesagt haben: „Dieser Gesetzentwurf macht uns geradezu sprachlos“, aber in der kurzen
Zeit mehr Vokabeln als jeder andere Redner hier im Parlament gebracht haben. Sagen wollten Sie aber eigentlich etwas anderes. Sagen wollten Sie nämlich: Wenn
wir noch in einer Koalition mit der SPD wären, dann
würden wir natürlich zustimmen, aber jetzt sind wir in
der Opposition und deshalb dürfen wir das nicht mehr.
({0})
Eine Bemerkung zur Kollegin Pau. Was Sie gesagt
haben, war wenigstens halb richtig, aber leider nur halb.
({1})
Die akustische Wohnraumüberwachung war kein Bestandteil der beiden „Otto-Kataloge“ und ist auch nicht
verfassungswidrig. Richtig ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen enger gefasst hat.
({2})
Auch das Luftsicherheitsgesetz ist nicht verfassungswidrig. Richtig ist allerdings, dass die umstrittenste Vorschrift des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt worden ist.
Frau Kollegin Piltz, herzlichen Dank, dass Sie mit so
großer Liebenswürdigkeit auf das starke Engagement
der konservativen Innenminister in unserem Land hingewiesen haben. Es wäre nur schön gewesen, wenn Sie mit
dazu gesagt hätten, dass die konservativen Innenminister
in diesem Land diejenigen sind, die bei der Bekämpfung
der Kriminalität mit Abstand am erfolgreichsten sind.
Das sollte man an dieser Stelle auch einmal sagen.
({3})
In aller Kürze: Der 20. Oktober 2006 ist ein guter Tag
für die innere Sicherheit in Deutschland, weil wir
gleich zwei wichtige Gesetzgebungsvorhaben mit neuen,
mit unverzichtbaren Instrumenten für die Sicherheitsbehörden in unserem Land auf den Weg bringen.
Deutschland ist Teil eines großen Gefahrenraumes.
Wir haben eine anhaltend besorgniserregende Bedrohungslage und es ist unsere Aufgabe als Parlamentarier,
alles zu tun, was menschenmöglich und rechtsstaatlich
unbedenklich ist, um die Menschen in unserem Land so
sicher wie nur möglich vor den Gefahren des internationalen Terrors zu schützen.
Mit dem Entwurf des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes machen wir gerade das, was angemahnt
worden ist, die Evaluierung, die Überprüfung der schon
existierenden Gesetze zur Beantwortung der Frage: Gibt
es Schutzlücken, die wir schließen müssen? Auch die
neuen Vorschriften werden befristet sein, auch die neuen
Vorschriften werden überprüft werden, im Übrigen nicht
nur von denjenigen, die die Vorschriften selber geschrieben haben. Da werden wir auch externen Sachverstand
hinzuziehen.
({4})
Mit der Einführung der Antiterrordatei kommt nun
eine jahrelange, quälende Debatte zum Abschluss. Wir
haben in Deutschland auf Bundesebene und auf Länderebene 38 Behörden mit Sicherheitsaufgaben. Es geht gerade nicht darum, neue Daten zu erheben; es geht nicht
darum, neue Datensammlungen anzuhäufen, sondern es
geht nur um eine bessere Vernetzung dieser Sicherheitsbehörden und darum, dass wir zu einem schnelleren Datenaustausch kommen.
Niemand in der Union und in der Koalition stellt das
Trennungsgebot in Frage. Insbesondere wollen wir
keine Vermischung von nachrichtendienstlichen und polizeilichen Kompetenzen.
Das so häufig zitierte Gebot der Trennung von Polizei
und Geheimdiensten wird allerdings häufig völlig missverstanden. Das Trennungsgebot bedeutet doch nicht ein
Verbot von Informationsaustausch. Schon nach geltender Rechtslage können Behörden selbstverständlich Informationen austauschen.
({5})
Die jüngste Maßnahme in Niedersachsen, die vorläufige Festnahme, war nur dank einer engen Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei möglich. Beispiel Nena-Konzert in Duisburg: Die Erkenntnisse
waren vom Verfassungsschutz gesammelt worden, der
Zugriff erfolgte selbstverständlich durch die Polizei.
Wir wollen gerade nicht den Nachrichtendiensten
polizeiliche Befugnisse übertragen, wir wollen den Polizeien keine nachrichtendienstlichen Befugnisse übertragen, aber wir wollen auch nicht, dass die 38 Behörden
mit Sicherheitsaufgaben nach der Methode arbeiten: Ich
weiß etwas, was du nicht weißt. Das Trennungsgebot besagt doch nicht, dass sich der Staat künstlich dumm stellen muss.
({6})
Die Behörden müssen die Informationen haben, die sie
brauchen, um die innere Sicherheit in Deutschland gewährleisten zu können.
({7})
Wenn der Staat auf all seinen Ebenen all das wüsste,
was man auf den einzelnen Ebenen weiß, dann wären
wir viel sicherer, als wir es zurzeit sind.
({8})
Wir können doch nur der Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass die Behörden nicht nebeneinander, sondern miteinander arbeiten. Jetzt geben wir ihnen ein Werkzeug für
eine bessere Vernetzung der Informationen an die Hand,
die insbesondere dann wirksam sein wird, wenn Gefahr
in Verzug ist. Es werden keine neuen Daten erhoben. Für
Fälle der Eilbedürftigkeit haben wir eine besondere Regelung vorgesehen.
Wir befinden uns nicht auf dem Weg in den Überwachungsstaat. Wir wollen keinen Überwachungsstaat.
Frau Pau, vor 16 Jahren haben wir Gott sei Dank einen
Überwachungsstaat auf deutschem Boden abgeschafft.
({9})
Welches Interesse sollten wir daran haben, einen neuen
Überwachungsstaat einzurichten? Wir wollen auch keinen Polizeistaat. Selbst die Polizei möchte keinen Polizeistaat. Aber wir möchten einen starken Staat, der die
Bürger wirksam zu schützen weiß.
Herr Kollege Wieland, deshalb ist es gut, dass Sie
nicht in den alten rhetorischen Rhythmus verfallen sind
- nach dem Motto: Sicherheit oder Freiheit -, sondern
gesagt haben: Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen
Sicherheit und Freiheit. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses, das in der Tat nicht zu bestreiten ist, bewahrt
die Koalition Maß und Mittel.
({10})
Wir tun das, was wir tun müssen, ohne dabei rechtsstaatliche Grundsätze zu verletzen.
Wann kommt die Datei? Das ist die wichtigste Frage.
Der Bundesinnenminister hat zu Recht eine zügige Beratung angemahnt. Wir müssen gründlich und zügig beraten. Es gibt legitime Fragen, zum Beispiel, ob es nicht
notwendig ist, den Begriff „Kontaktperson“ - möglicherweise im Gesetzestext und nicht erst in der Begründung - näher zu konkretisieren.
Im Übrigen: Ich habe die FDP, anders als die Grünen
und die Linkspartei, nicht so verstanden, dass sie dieses
Gesetz - schon bevor wir es beraten haben - rundweg
ablehnt, sondern so, dass sie sich dieses Gesetz noch einmal gründlich angucken will.
({11})
Es wäre gut, wenn man nicht Nein sagt, bloß weil man in
der Opposition ist. Je größer die Mehrheit für das Vorhaben im Parlament ist, desto höher ist auch die demokratische Legitimation in einem Rechtsstaat.
Die beiden Gesetzgebungsvorhaben beweisen, dass
die innere Sicherheit bei dieser Koalition in guten Händen ist.
Danke fürs Zuhören.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn dieser Woche haben wir uns alle über die
Besorgnis erregende Meldung erschrocken, dass die
Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten stark angestiegen ist. Das hat daran erinnert, dass es einmal ein NPDVerbotsverfahren gegeben hat, das im Wesentlichen daran gescheitert ist, dass die eine Sicherheitsbehörde nicht
wusste, was die andere gemacht hat. Ein solches Fiasko
können wir uns bei der Terrorismusabwehr nicht leisten.
({0})
Deswegen sagt die FDP: Im Prinzip ist es richtig und
vernünftig, wenn man die vorhandenen Daten besser
miteinander vernetzt.
({1})
Dabei sind aber - selbstverständlich - rechtsstaatliche
Prinzipien zu beachten. Lieber Kollege Frank Hofmann,
in der Rede war vorhin ein Satz, der noch einmal überdacht werden sollte:
Auch wir würden gern die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger … um die Grundrechte herum
bauen. Das aber geht an der Realität vorbei.
Eine solche Position darf nicht Ausgangspunkt einer Debatte über innere Sicherheit im Deutschen Bundestag
sein.
({2})
Mit diesem sehr schiefen Ansatz gerät man nämlich in
die Nähe derer, die die Einhaltung von Grundrechten als
ein Hindernis für die innere Sicherheit betrachten. Richtig ist doch, dass wir die innere Sicherheit auf den
Grundrechten aufbauen müssen. Das ist der richtige Ansatz.
({3})
Wir haben Zweifel, ob das mit dem Gesetzentwurf
zur Errichtung gemeinsamer Dateien gelungen ist. Frau
Piltz hat die Kritikpunkte genannt, insbesondere die
Möglichkeit, in einem Eilfall Informationen zu erhalten,
die aus guten Gründen bei den Geheimdiensten bleiben
müssten und nicht für die Polizei geeignet sind. Diese
Möglichkeit, in Eilfällen die normalen Regeln zu umgehen, kann so nicht bestehen bleiben.
({4})
In der Sachverständigenanhörung muss in dieser Sache
Klarheit geschaffen werden. Dort brauchen wir Änderungen, um nur einen Punkt zu nennen.
Nun haben Sie heute die Verlängerung der so genannten Schily-Kataloge mit auf die Tagesordnung gesetzt.
Ich halte es für ein unangemessenes Verfahren, zwei so
wichtige Gesetzesvorhaben in einer knappen Debatte abzuhandeln.
({5})
Nur ganz kurz: Kollege Wieland, dass Ihnen ein Lapsus Linguae unterlaufen ist, erklärt sich daraus, dass Sie
dem Gesetzentwurf vor fünf Jahren zugestimmt haben.
Sie konnten Ihrer Anhängerschaft dies nur plausibel machen, indem Sie gesagt haben: Das Gesetz gilt nur befristet und wird später evaluiert.
({6})
Jetzt sehen wir: Eine Evaluierung, die derjenige macht,
der das Gesetz selber geschrieben hat,
({7})
ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wird.
({8})
Wir müssen in Zukunft zu neuen Regeln kommen und zu
einer neuen Qualität, also zu einer echten Evaluierung,
die externen Sachverstand und Bürgerrechtler einbezieht.
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hartmann?
Ja, für die bin ich sehr dankbar. Denn sonst hätte ich
meine Rede jetzt beenden müssen.
Bitte schön, Herr Hartmann.
Herr Stadler, wir arbeiten ja in der Innenpolitik und
im Untersuchungsausschuss gut zusammen. Deshalb hab
ich mit Bedauern gesehen, wie knapp Ihre Redezeit bemessen ist.
({0})
Ich möchte Ihnen mit meiner Zwischenfrage die Chance
geben, diese zu verlängern. Ich habe aber natürlich vor
allem und zuerst ein drängendes Fragebedürfnis.
Sie haben darauf hingewiesen, wie kritisch manches
aus Ihrer Sicht zu bewerten ist. Ich habe aber auch sehr
wohl verstanden, dass Sie trotz dieser kritischen Anmerkungen bereit und willens sind, den Gesetzgebungsprozess der grundsätzlichen Notwenigkeit wegen weiter positiv zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund möchte ich
Sie fragen: Wir haben den Datenschutzbeauftragten
sehr eng in beide großen Gesetzgebungsverfahren eingebunden, übrigens auf Bitten des Kollegen Hofmann. Finden Sie es nicht mit uns gemeinsam positiv, dass der Datenschutzbeauftragte diesem Gesetzgebungsverfahren,
und zwar so, wie wir es heute einbringen, grundsätzlich
positiv und offen gegenübersteht?
Lieber Herr Kollege Hartmann, Ihre Freundlichkeit
mir gegenüber ist heute wirklich grenzenlos. Sie geben
mir Gelegenheit, die Sprache noch einmal auf einen
ganz wichtigen Punkt zu bringen.
({0})
Sie sagen zu Recht, dass der Datenschutzbeauftragte
dem Gesetzgebungsvorhaben im Grundsatz zustimmt.
Wir vertreten - Frau Piltz hat es ausgeführt - hinsichtlich der Zentraldatei die Auffassung, dass ein Index das
Richtige ist, weil man das System nicht komplett ändern
darf. Geheimdienste in der Bundesrepublik Deutschland
dürfen viel - und dies ohne richterliche Erlaubnis. Die
Polizei ist dazu berufen, konkrete Gefahren abzuwehren,
und sie unterliegt bei ihren Eingriffen engen Grenzen,
insbesondere sind vielfach richterliche Vorbehalte zu beachten. Solche Systeme kann man nicht beliebig vermischen.
({1})
Es muss bei den bewährten Regeln des Datenaustausches bleiben. Eine solche neue Datei kann, wie Kollege
Bosbach versprochen hat, eigentlich nur den Sinn haben,
dass die Technik verbessert
({2})
und der Austausch schneller wird. Aber die grundlegenden Prinzipien müssen erhalten bleiben. Ihre Frage gibt
mir Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dies
nach Meinung der FDP im bisherigen Entwurf nicht gewährleistet ist.
Um Ihre Frage umfassend zu beantworten,
({3})
weise ich darauf hin, dass ein letzter Punkt ebenfalls
noch nicht gewährleistet ist. Er ist aber ganz entscheidend. Durch das, was von der großen Koalition vorgeschlagen wird, bekommen die Geheimdienste im Vergleich zu dem, was Herr Schily seinerzeit im Eiltempo
durchgesetzt hat, noch mehr Eingriffsbefugnisse. Es ist
doch das Logischste auf der Welt, dass man als Gegengewicht die Kontrolle der Geheimdienste verbessern
muss.
({4})
Ich verstehe nicht, Herr Kollege Hartmann, warum
sich die große Koalition weigert, sich den entsprechenden Gesetzentwürfen der Opposition anzuschließen. Die
FDP hat längst dem Entwurf eines Gesetzes zur Kontrolle der Geheimdienste eingebracht. Wenn Sie den Geheimdiensten erneut weitere Befugnisse übertragen wollen, wäre jetzt der richtige Moment, auch ihre Kontrolle
zu verbessern. Denn das ist dringend notwendig.
({5})
Damit ist Ihre Frage, wie ich glaube, umfassend beantwortet.
({6})
Herr Kollege Stadler, nach dieser, wie es die Geschäftsordnung vorschreibt, kurzen und präzisen Antwort bitte ich Sie, zum Schluss zu kommen.
Mein Schlussgedanke lautet: Wir müssen uns des Gedankens bewusst werden, dass es auch einen Grundrechtsschutz durch Verfahren gibt. Dieser Grundrechtsschutz durch Verfahrensbestimmungen bzw. durch
Kontrolle ist in den vorliegenden Gesetzentwürfen noch
nicht hinreichend berücksichtigt. Deswegen müssten wir
in den Ausschüssen noch jede Menge Nachbesserungen
vornehmen, wenn wir am Ende des Gesetzgebungsprozesses tatsächlich zustimmen können sollen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
von der SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Terror macht Angst. Terroristen wollen Angst machen. Terroristen wollen verunsichern. Terroristen wollen Überreaktionen provozieren.
Das sind die Hintergründe dieser Gefahren- bzw. Bedrohungslage. Die große Koalition hat mit Außenmaß und
den richtigen Mitteln getan, was notwendig ist. Auch bei
dieser Koalition ist die innere Sicherheit unseres Staates
in guten Händen.
({0})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, welche Reaktionen
unsere demokratische Verfassung von uns verlangt. Von
der Opposition wird immer wieder behauptet, wir würden
unsere Verfassung infrage stellen bzw. die Bürgerrechte
nicht in ausreichendem Maße berücksichtigen.
Ich meine, gerade bei diesem Thema geht es darum,
dass der Staat die Bürgerrechte sichert und seiner Verpflichtung nachkommt, die Bürger zu schützen. Dadurch
tut er genau das, was ihm die Verfassung vorschreibt: die
Bürgerrechte zu gewährleisten.
Dass wir unsere Bürger schützen, ist unbestritten.
Jetzt geht es um die Frage, wie wir die Sicherheit der
Bürger am sinnvollsten schützen können. Nicht die Bürger sind die potenzielle Gefahr, Frau Pau. Vielmehr müssen wir jetzt die potenzielle Gefährdung der Bürger im
Blick haben.
Mit unseren Gesetzentwürfen sorgen wir dafür, dass
das Erforderliche und das Verhältnismäßige getan wird.
Das, was erforderlich und verhältnismäßig ist, ist auch
verfassungsgemäß. Wir lassen nicht zu, dass die Grenzen zwischen Strafverfolgung, polizeilicher GefahrenabKlaus Uwe Benneter
wehr, Geheimdienst und Militär planiert werden. Manche Kollegen sprechen in dieser Diskussion vom Krieg.
Sie meinen, bei der Bekämpfung des Terrors müssten
militärische Grundsätze gelten. Das ist aber nicht der
Fall. Der BND ist und bleibt ein Auslandsgeheimdienst.
Ihm werden keine zusätzlichen Befugnisse übertragen.
Die Behauptung - verschiedentlich wurde sie hier aufgestellt -, der BND dürfe nun all das, was der Verfassungsschutz bisher im Inland tun durfte, auch tun, ist falsch.
({1})
Der BND bekommt kein Fahrrad, sondern höchstens
eine Klingel, um hier tätig werden zu können.
({2})
- Für Sie bekommt er eine Luftpumpe.
({3})
Der BND und die Geheimdienste bekommen keine Eingriffsbefugnisse, sondern lediglich Auskunftsbefugnisse. Diese Befugnisse können sie nicht verpflichtend
durchsetzen. Auch darauf haben wir ganz besonders geachtet.
Nun komme ich auf das Trennungsgebot zu sprechen. Was ist das Trennungsgebot? Es ist nicht entscheidend, ob es sich dabei um eine verfassungsrechtliche
Vorschrift handelt oder nicht. Das Trennungsgebot besagt, dass die Geheimdienste gerade keine operativen
Eingriffsbefugnisse bekommen dürfen,
({4})
und zwar deshalb, weil sie sehr weit im Vorfeld Informationen einholen dürfen und mit diesen Informationen anders umgehen dürfen, als das die Polizei ohnehin nur bei
konkretem Tatverdacht tun darf.
Herr Kollege Benneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?
Bitte.
Bitte, Herr Wieland.
Herr Kollege Benneter, stimmen Sie mir zu, dass der
Verfassungsschutz nach der alten Gesetzeslage nur Auskunftsrechte hatte, aber keine -pflichten statuiert wurden - mit einem gewissen Erstaunen wurde vom Bundesinnenministerium festgestellt, dass immer Auskunft erteilt wurde, auch wenn es keine Verpflichtung dazu gab -,
und dass das Recht, von Finanzdienstleistern, von Banken, von Telekommunikationsunternehmen Auskunft zu
verlangen, nun auch den anderen Nachrichtendiensten
eingeräumt werden soll?
Ja, doch ausdrücklich nur zur Abwehr und Bekämpfung des internationalen Terrorismus, nicht, um - wie es
hier behauptet wird - ihnen die gleichen Rechte zu geben, die der Verfassungsschutz im Inland hat. Jeder hat
seinen ausdrücklich festgelegten Aufgabenkatalog. Das
muss man klar trennen.
({0})
Herr Kollege Benneter, erlauben Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
({0})
Bitte.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Herr Kollege Benneter, es ruft mich auf den Plan,
dass Sie sagen, diese Befugnisse gelten nur für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Haben Sie
schon einmal einen flüchtigen Blick auf § 3 Abs. 1 des
Bundesverfassungsschutzgesetzes geworfen?
({0})
Sie wollen mit Ihrem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz erreichen, dass all diese Befugnisse - die,
die vorher geschaffen worden sind, und die, die jetzt zusätzlich geschaffen werden sollen - nicht nur bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus gelten, sondern beispielsweise auch bei der Überwachung und
Aufklärung von Bestrebungen von Gewaltbefürwortern
im Inland, was mit Terrorismus überhaupt nichts zu tun
hat. Der Kollege Wieland hat bereits darauf hingewiesen, dass auf dieser Grundlage in der Vergangenheit
in Deutschland immer wieder Organisatoren von Demonstrationen
({1})
oder Vereine, von denen man angenommen hat, dass in
ihnen Befürworter von Gewalt verkehren, überwacht
worden sind. Geben Sie mir deshalb Recht, dass schon
die Überschrift des Gesetzes, die Sie offenbar gelesen
haben und aufgrund deren Sie vermuten, dass es sich um
ein Terrorismusbekämpfungsgesetz handelt, ein Etikettenschwindel ist? Denn unter diesem Etikett verbirgt
sich etwas ganz anderes: dass die Befugnisse der Geheimdienste erheblich ausgeweitet werden, auch auf
viele andere Gebiete der Gefahrenabwehr.
({2})
Herr Kollege Ströbele, Sie werden verstehen, dass ich
Ihnen nicht Recht gebe in dem, was Sie mir da in den
Mund legen wollen.
({0})
Wir von der SPD haben gerade im Vorfeld sehr genau
darauf geachtet, dass es hier keine Vermengung, keine
Vermischung gibt, dass hier nicht planiert wird, dass Extremismus und Terrorismus nicht zusammengeworfen
werden.
({1})
Sie müssen den Gesetzestext einmal genau lesen! Dann
werden Sie feststellen, dass für die Anwendung zwei Voraussetzungen vorliegen müssen: internationaler Terrorismus und Gewaltbezogenheit. Das betrifft beispielsweise auch islamistische Hassprediger, die wir zum
Vorfeld des Terrorismus zählen. Deshalb sind auch sie
Gegenstand der Bekämpfungsstrategie.
({2})
Ich habe darauf hingewiesen: Verfassungsmäßigkeit
liegt vor, wenn etwas verhältnismäßig und erforderlich
ist. Erforderlich ist es, möglichst frühzeitig vollständige
Informationen aus allen möglichen Quellen zu bekommen. Erfolgreich ist nur die Terrorismusbekämpfung, die
dem Terror einen Schritt voraus ist, sowohl bei der Prävention als auch bei der Recherche und der Aufklärung.
Wir müssen diesem Netzwerk des Terrors ein Netzwerk
der Sicherheit gegenüberstellen. Das tun wir mit diesen
beiden Gesetzen.
({3})
Noch einmal: Wir werden keine neuen Daten erheben, sondern alle bisher schon bei den 38 nebeneinanderher arbeitenden Behörden vorhandenen Daten sollen
nach Verabschiedung der Gesetzentwürfe aufgrund der
technischen Möglichkeiten lediglich schneller abgerufen
werden können und verfügbar sein. Nur das wird in diesem Gesetz geregelt.
Zu den Erweiterungen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns gerade in diesen Tagen bestätigt, dass die
Regelungen über den IMSI-Catcher, mit dem Mobiltelefone abgehört und Standorte erforscht werden können,
verfassungsgemäß sind. Verfassungsgemäß ist eben das,
was zur Terroristenabwehr erforderlich ist, und das tun
wir in diesem Zusammenhang.
Die Regelungen über die Sicherstellung bei einem
Geldwäscheverdacht - bei einem solchen Verdacht können wir natürlich tätig werden - erweitern wir jetzt auch
auf die Fälle, in denen es um einen Terrorismusverdacht
geht, sodass wir dann auch hier entsprechend vorgehen
können. Gerade hier spielen Finanzquellen ja immer
eine große Rolle.
({4})
Es ist geradezu genial, dass die Justizministerin auf
den Einfall gekommen ist, die entsprechende Datei
zweizuteilen, um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu
wahren. Sie wird in eine offene und in eine verdeckte,
erweiterte Datei aufgeteilt. An all die Daten in der erweiterten Datei kommt nicht nur der kleine Schutzmann auf
der Straße nicht heran, sondern auch andere haben keinen Zugriff. Wir werden darauf achten, dass der Zugriff
auf die wirklich zentralen Sicherheitsbehörden beschränkt wird, die sich mit dem internationalen Terrorismus befassen, und dass auf diese Datei nur zugegriffen
werden kann, wenn es um den internationalen Terrorismus geht.
Herr Wieland, wir tun hier also maßvoll und zügig,
aber gründlich das Notwendige.
({5})
Wir erweitern, aber wir verschärfen nicht.
({6})
Wir werden das künftig auch noch besser evaluieren. Ich
räume Ihnen gerne ein, dass das noch nicht ausgereicht
hat. Es waren ja auch nur drei Jahre.
Denken Sie aber immer daran: Optimale Sicherheit
bedeutet auch ein großes Stück Freiheit. Wer Angst hat,
ist unfrei. Deshalb müssen wir die Erforderlichkeit und
die Verhältnismäßigkeit immer im Auge behalten. Dadurch werden wir dann auch die Bürgerrechte sichern.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Mehr sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die heutige Debatte zeigt, dass die große Koalition allen Unkenrufen
zum Trotz handlungs- und entscheidungsfähig ist.
({0})
Nachdem in der letzten Legislaturperiode keine Einigung erzielt werden konnte, ist es jetzt in weniger als einem Jahr gelungen, sich auf zwei wichtige Gesetzentwürfe zur Gewährleistung der inneren Sicherheit zu
einigen. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz
und das Gemeinsame-Dateien-Gesetz sind zwei wichtige
Meilensteine, um Deutschland sicherer zu machen.
Durch das Gemeinsame-Dateien-Gesetz wird endlich ermöglicht, dass alle Sicherheitsbehörden des Bundes und
der Länder wissen können, was sie wissen müssen.
Der Föderalismus in Deutschland ist ein Markenzeichen und hat sich bewährt. In der Vergangenheit hat sich
aber gezeigt, dass durch die Zersplitterung - es gibt insStephan Mayer ({1})
gesamt 38 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder - gewisse Probleme in der Praxis auftauchen. Hierbei
muss uns eines klar sein: Auch durch eine gemeinsame
Antiterrordatei werden wir nicht zu 100 Prozent vor allen Gefahren des internationalen Terrorismus geschützt.
Es wäre falsch und unehrlich, zu suggerieren, dass die
Politik ein Allheilmittel hat, um jegliche terroristischen
Angriffe auszuschließen. Für eines müssen wir aber Garant sein: Eine effiziente und umfassende Bekämpfung
des internationalen und insbesondere des islamistischen
Terrorismus darf nicht daran scheitern, dass einer Sicherheitsbehörde Informationen nicht zur Verfügung stehen,
die eine andere Sicherheitsbehörde hat.
Durch die nunmehr konzipierte Antiterrordatei wird
den Sicherheitsbehörden in Deutschland das notwendige
Rüstzeug geboten, um präventiv, zielgenauer und informierter arbeiten zu können. Gleichzeitig aber wahrt sie
in angemessener und ausgewogener Art und Weise die
berechtigten Interessen der einstellenden Sicherheitsbehörden und des Quellenschutzes sowie selbstverständlich die erforderlichen Vorgaben des Datenschutzes.
Dennoch halte ich es für enorm wichtig, dass man in
begründeten Fällen bestimmten Staatsschutzbehörden
der Länder den Zugriff auf die vorhandenen Erkenntnisse erlaubt; denn gerade die Aufklärung krimineller islamistischer Strukturen sowie die Bearbeitung herausragender Staatsschutzdelikte erfordert es, dass man bei
Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr im Einzelfall
sehr zügig und ohne Zögern die Kenntnisse der örtlichen
Polizeivollzugsdienste mit den Kenntnissen der überörtlichen Staatsschutzdienste vereinigen kann.
Gerade die Gott sei Dank fehlgeschlagenen Kofferbombenattentate in Dortmund und Koblenz haben gezeigt: In Zukunft werden im Bereich des islamistischen
Terrorismus immer mehr kleine autonome Gruppierungen eine Rolle spielen, die zum Beispiel durch Selbstradikalisierung entstehen und die sich aus Personen zusammensetzen, die bisher entweder gar nicht oder kaum
auffällig in Erscheinung getreten sind. Es muss deshalb
unbedingt gewährleistet sein, dass zum Beispiel die Information, dass einer der drei dringend Tatverdächtigen
der Kofferbombenattentate vor wenigen Monaten noch
als Rädelsführer einer Demonstration in Kiel gegen die
Mohammed-Karikaturen in Erscheinung getreten ist, allen Sicherheitsbehörden in Deutschland sehr zügig und
in geeigneter Weise zur Verfügung steht.
Da derzeit und aller Voraussicht nach auch in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten im Bereich des Terrorismus die größte Gefahr für die westliche Zivilisation
vom islamistischen Terrorismus ausgehen wird, ist es
ebenso notwendig und angebracht, dass zu den erweiterten Grunddaten, die in der Antiterrordatei abgerufen
werden können, auch das Merkmal der Religionszugehörigkeit zählt.
Einen weiteren wichtigen gesetzlichen Pfeiler stellt
das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz dar. Dieses Gesetz ist die sachgerechte, konsequente und erforderliche Fortsetzung der bisherigen Terrorismusbekämpfungsgesetze aus dem Jahr 2002, die sich generell
bewährt, aber in der Praxis gewisse Defizite offenbart
haben.
({2})
So ist es richtig, dass nunmehr auch dem Bundesverfassungsschutz zur Aufklärung verfassungsfeindlicher
Bestrebungen im Inland diese Befugnisse eingeräumt
werden können. Gerade das Beispiel der Hassprediger
hat gezeigt, dass es häufig einen fließenden Übergang
zwischen Extremismus und Terrorismus gibt. Es muss
möglich sein, den Personen, die mit ihrer fundamentalistischen und der westlichen Welt gegenüber hasserfüllten
Agitation bisher unbedarfte und unauffällige Personen
verhetzen, mit den gleichen polizeilichen Präventionsund Aufklärungsmaßnahmen begegnet werden kann wie
den terrorverdächtigen Personen selber.
Das Gesetz muss in meinen Augen auf jeden Fall in
fünf Jahren auf seine Praxistauglichkeit und Effizienz
hin überprüft werden. Die Frage ist allerdings, ob man
mit einer Befristung der Geltung des Gesetzes den großen Sicherheitsinteressen Deutschlands und der Bürgerinnen und Bürger in ausreichendem Maße Rechnung
trägt.
Die Begriffe Freiheit und Sicherheit stehen, wie
schon erwähnt, in einem demokratischen Rechtsstaat in
einem interessanten Spannungsverhältnis. Eines sollte
uns allerdings klar sein: Trotz des vorhandenen Spannungsverhältnisses bedingen sich Freiheit und Sicherheit
gegenseitig.
({3})
Auch Sicherheit ist ein elementares Bürgerrecht. Ohne
Sicherheit gibt es kein Leben in Freiheit. Die beiden Gesetzentwürfe, die wir heute in erster Lesung behandeln,
stellen einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit in Deutschland dar. Ich kann deshalb nur an Sie alle
appellieren: Unterstützen Sie diese Gesetze mit Ihrer
Stimme, um die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn
meiner Ausführungen zum Gemeinsame-Dateien-Gesetz
kann ich meinen Vorrednern nur zustimmen. Der Anschlag vor wenigen Wochen in unserem eigenen Land
hat uns die Gefahr des internationalen Terrorismus unmittelbar vor Augen geführt. Auch die Anschläge in
Spanien und Großbritannien haben auf furchtbare Weise
gezeigt, dass sich Europa insgesamt im Fadenkreuz der
Terroristen befindet.
Damit haben wir leider einen guten Grund dafür, uns
mit dem Thema zu beschäftigen. Ich denke, wir stimmen
im ganzen Haus überein, dass das Bedrohungspotenzial, das vom internationalen Terrorismus ausgeht, sich
in den letzten Jahren nicht verringert, sondern vergrößert
hat.
Deutschland ist Teil eines weltweiten Gefahrenraumes. Auch die Meinung der Öffentlichkeit ist ein wichtiger Indikator für die tatsächliche Bedrohung. Die Angst
vor Terror ist stark angestiegen. Eine Meinungsumfrage
von Allensbach vom 17. Oktober dieses Jahres belegt,
dass die Furcht vor Terroranschlägen in Deutschland
größer ist als je zuvor. Die Terroristen haben das Ziel,
Terror - lateinisch für: Furcht - zu verbreiten, also erreicht. Wenn man bedenkt, dass das Sicherheitsbedürfnis
eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen
ist, ist es gerade unsere Pflicht als Staat, allen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit zu gewähren, und zwar - das
sage ich gerade in Ihre Richtung, Frau Pau - unabhängig
vom Geldbeutel.
({0})
Dazu gehört für mich, dass unsere Sicherheitsbehörden auf Instrumente zugreifen können, die sie in die
Lage versetzen, vernetzt der erhöhten Gefahr durch den
nicht minder vernetzt operierenden internationalen Terrorismus effektiv zu begegnen. Zu beachten ist dabei die
Verhältnismäßigkeit. Eine angemessene Sicherheitspolitik beeinträchtigt die Freiheitsrechte nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Dem Bereich des Datenschutzes kommt dabei eine zentrale Stellung zu.
Mit dem im Gesetzentwurf vorgesehenen Verfahren
wird - das sage ich im Gegensatz zu Ihnen, Herr
Wieland - die geplante Datei aus den Grunddaten bestehen, die abgerufen werden können. Andererseits gibt es
die so genannten erweiterten Grunddaten, die auch Telekommunikationsanschlüsse, Bankverbindungen und - nur
soweit im Einzelfall erforderlich - die Religionszugehörigkeit beinhalten. Diese Daten können aber nur auf Anfrage im Einzelfall durch die speichernde Behörde unter
Beachtung der geltenden Übermittlungsvorschriften
weitergeleitet werden.
({1})
Machen wir uns nichts vor: Die Übermittlung von
Daten ist bei Zusammenarbeit zwischen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden bislang schon im Einzelfall möglich, wie Herr Bosbach vorhin richtig ausgeführt
hat. Dafür gibt es bereits Vorschriften. Wir müssen nur
die Vernetzung ermöglichen, damit von diesen Vorschriften zugunsten der Bürgerinnen und Bürger Gebrauch gemacht werden kann.
({2})
Dies erfolgt durch eine Indexdatei und das ist gut so.
Frau Pau, mir ist es nicht egal, ob eine Indexdatei oder
eine Volltextdatei zur Verfügung gestellt wird. Eine Volltextdatei, die in großem Umfang personenbezogene Informationen zum Abruf bereitstellt, gibt es mit uns nicht.
({3})
Ebenso darf es nicht sein, dass jede Sicherheitsbehörde unbeschränkten Zugriff auf alle vorhandenen Daten hat. Auch in Zukunft wird nicht jeder alles wissen,
wird es auch keinen Teil geben, der alles weiß, sondern
wird jeder wissen, was er wissen muss, um den Terrorismus zu bekämpfen.
Wir versetzen durch das Gemeinsame-Dateien-Gesetz
die Sicherheitsbehörden in die Lage, unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Planungen
und Vorbereitungshandlungen im Bereich des Terrorismus rechtzeitig aufzudecken und eine effektive Arbeit
zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
zu leisten. Lassen Sie uns auch in den künftigen Beratungen die Grundlage der Verhältnismäßigkeit nicht aus
den Augen verlieren. Ich bin mir sicher, dass wir damit
zu einem guten Ergebnis kommen werden, genau so wie
wir mit dieser Vorlage schon einen guten Start hinbekommen haben,
({4})
wofür ich mich bei den Innen- und Rechtspolitikern der
Koalitionsfraktionen und auch bei den zuständigen Ministerien herzlich bedanke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2950, 16/2921, 16/821 und 16/2081
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/821 soll
federführend im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung und zur Regelung der Aufgaben des Bundesamts für Justiz
- Drucksache 16/1827 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/3009 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wolfgang Nešković
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der Gesetzentwurf zur Errichtung des Bundesamts für
Justiz ist für mich sehr erfreulich,
({0})
und zwar deshalb, weil wir das „Richtfest“ für eine Bundesbehörde feiern, die zum Zuständigkeitsbereich des
Bundesministeriums der Justiz gehört.
({1})
Ich danke allen Damen und Herren Abgeordneten, die
ihren Beitrag dazu geleistet haben und noch immer leisten. Mein besonderer Dank gilt nicht Ihnen, Herr
Wieland; er gilt aber den Abgeordneten des Haushaltsausschusses, die die Ampel schnell auf Grün gestellt haben, und vor allem den Abgeordneten des Rechtsausschusses, die das für die Justiz wichtige Vorhaben
konstruktiv gefördert haben.
({2})
Auch beim Bundesinnenministerium möchte ich mich
ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit bei den Vorbereitungen bedanken. Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unserem Haus, die dieses Vorhaben gut und gründlich vorbereitet haben.
Wir schaffen indes keine neue Behörde mit völlig
neuen Aufgaben. Es gibt nur ein neues Dach. Das Bundesamt für Justiz wird Aufgaben gebündelt wahrnehmen, die bisher auf unterschiedliche Stellen verteilt waren. Damit wollen wir die jeweilige Kernkompetenz
stärken und Verfahrensabläufe optimieren - ganz im
Sinne des Programms der Bundesregierung „Moderner
Staat - Moderne Verwaltung“. Diese Umstrukturierung wird zudem finanzneutral im Bundeshaushalt vollzogen werden. In einer Zeit knapper Kassen ist dieser
Aspekt nicht unerheblich.
Das Bundesamt für Justiz wird im Kern sämtliche
Aufgaben der Dienststelle Bundeszentralregister des
Bundesgeneralanwalts übernehmen, zum Beispiel die
Führung verschiedener Register. Dazu kommen Aufgaben, die derzeit noch vom Bundesjustizministerium erledigt werden, wie etwa das Verkündungs- und Bekanntmachungswesen.
Die Verwaltungsaufgaben können zum Teil von Bediensteten unserer jetzigen Dienstelle Bonn wahrgenommen werden. Die Arbeitsplätze bleiben somit - nur in
anderer Organisationsform - in der Bundesstadt Bonn
erhalten. Wir tragen damit dem Berlin/Bonn-Gesetz
Rechnung und wollen die Dienststelle Bonn erhalten.
Die weiteren Inhalte und Aufgaben des Bundesamts für
Justiz wird Herr Kollege Dr. Dressel erläutern.
Dem internationalen Rechtsverkehr kommt eine
immer größere Bedeutung zu. Ich bin davon überzeugt,
dass die neue Bundesoberbehörde in ihrer vorgesehenen
Struktur für viele Fragen, die sich künftig in diesem Zusammenhang stellen, ein kompetenter Ansprechpartner
sein wird. Dies schafft Transparenz und Bürgernähe.
Deshalb ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass die
derzeit auf den Generalbundesanwalt, das Bundesverwaltungsamt und die Bundesländer verteilten Zuständigkeiten in Auslandsunterhaltssachen im Bundesamt für
Justiz zusammengeführt werden. Den Vorschlag des
Bundesrates, dem Bundesamt die Zuständigkeit für die
Übermittlung ausgehender Ersuchen nach dem UN-Unterhaltsübereinkommen zu übertragen, haben wir daher
gerne aufgegriffen.
Es freut mich, dass es in der Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens noch gelungen ist, zu der gegenwärtig beim Bundesverwaltungsamt angesiedelten Zuständigkeit als Empfangsstelle zu einer einvernehmlichen
Lösung zu kommen. Dies ist eine bürgerfreundliche
Strukturverbesserung, da gerade auch für die Beteiligten
im Ausland nun ein einheitlicher Ansprechpartner zur
Verfügung stehen wird.
Die Diskussion - auch im Bundesrat - über weitere
Zuständigkeitsübertragungen auf das Bundesamt für
Justiz bestärkt uns darin, dass wir mit diesem Projekt auf
dem richtigen Weg sind. Weitere Aufgabenzuweisungen
erfolgen durch das gerade verabschiedete Gesetz über
elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, EHUG, sowie
das Gesetz zur Umsetzung des Haager Übereinkommens
über den internationalen Schutz von Erwachsenen, das
als Regierungsentwurf vorliegt.
Sie sehen: Das Bundesamt für Justiz ist bereits jetzt
auf Wachstum ausgerichtet. Optimismus im Hinblick auf
die weitere Entwicklung ist deshalb mehr als angezeigt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise ist die Errichtung einer Behörde
nicht unbedingt etwas, was man mit Beifall begrüßen
und unterstützen sollte. Wir, die FDP-Fraktion, unterstützen aber die Errichtung eines Bundesamtes für Justiz, weil hier sinnvollerweise Aufgaben aus unterschiedlichen Bereichen zusammengeführt werden.
Die Justiz muss sich neuen Herausforderungen stellen, die sich insbesondere aus der zunehmend enger werdenden justiziellen Zusammenarbeit in Europa und der
Wahrnehmung vielfältiger internationaler Verpflichtungen ergeben. Die Bündelung und Konzentration von
Aufgaben ist geeignet, einen Beitrag zur Steigerung der
Leistungsfähigkeit und Effektivität der Justiz zu leisten.
Ich hoffe, dass das zu errichtende Bundesamt für Justiz
positive Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger
hat. Für uns ist ein entscheidender Aspekt, dass durch
die Bündelung von Aufgaben - diese könnten sonst aufgrund mangelnder Übersichtlichkeit nicht so gut erledigt
werden - eine Anlaufstelle für die Bürgerinnen und Bürger geschaffen wird, die schnell und bürgerfreundlich reagiert. Das erwarten wir von dem neuen Bundesamt für
Justiz. Nach unserer Meinung ist es daher richtig, ein
solches Amt zu errichten.
Wir halten es ebenfalls für richtig, dass bestimmte
Aufgaben des Generalbundesanwalts auf das Bundesamt
für Justiz übertragen werden; denn so richtig hat sich
bislang nicht erschlossen, warum internationale familienrechtliche Angelegenheiten, die sich aus dem Auslandsunterhaltsgesetz, verschiedenen Sorgerechtsübereinkommen und dem Haager Adoptionsübereinkommen
ergeben, ausgerechnet vom Generalbundesanwalt in
Karlsruhe wahrgenommen werden müssen. Da hier ein
enger Sachzusammenhang mit den Kernaufgaben des
Generalbundesanwalts nicht erkennbar ist, unterstützen
wir die Zusammenführung der Aufgaben beim Bundesamt für Justiz, das nun zur nationalen Kontaktstelle für
Angelegenheiten der justiziellen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union wird. Angesichts der nach
wie vor bestehenden Notwendigkeit einer besseren Vernetzung der Justizarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehen wir hier einen ständigen Zuwachs an
Aufgaben. Es ist daher gut, dass die Aufgaben an einer
Stelle zusammengeführt werden.
({0})
Wir unterstützen das Vorhaben, das Bundesamt für
Justiz in Bonn anzusiedeln. Ich erinnere daran, dass das
Bundeszentralregister damals im Rahmen des Berlin/
Bonn-Gesetzes - das war quasi ein Tauschgeschäft nach Bonn gekommen ist. Das hatte auch mit der damaligen Aufgabenverteilung des Bundesministeriums der
Justiz zu tun. Das Berlin/Bonn-Gesetz gilt nach wie vor.
Das mag man kritisieren, aber das ist nun einmal die
rechtliche Grundlage. Da das Bundeszentralregister in
Zukunft Nukleus des Bundesamtes für Justiz ist - über
300 Stellen des Bundeszentralregisters werden beim
Bundesamt für Justiz angesiedelt -, ist es nach unserer
Meinung richtig, es in Bonn zu belassen. Es wäre jedenfalls teurer geworden, das Bundeszentralregister und das
zu errichtende Bundesamt für Justiz, wie vorgeschlagen,
in Berlin oder in einem der neuen Bundesländer anzusiedeln. Das hätte natürlich Kosten des Umzugs mit sich
gebracht. Jetzt aber wurden nicht von vielen Stellen
viele Aufgaben nach Bonn verlagert, sondern die meisten Aufgaben waren schon dort angesiedelt. Daher sagen
wir in diesem Punkt: Jawohl, der Standort Bonn ist gerechtfertigt. - Ich will am Rande bemerken, dass unserer
Meinung nach langfristig ein Zusammenführen gerade
der Ministerien in Berlin erfolgen muss.
({1})
Ob es wirklich eine Dienststelle BMJ in Bonn neben
dem Bundesamt für Justiz geben muss, kann man sehr
wohl hinterfragen - natürlich leichter, wenn man kein
Abgeordneter aus dem Wahlkreis Bonn ist.
({2})
Für uns ist ganz entscheidend, dass der Grundsatz der
Haushaltsneutralität nicht nur jetzt, sondern auch
künftig Maßstab bei der Entwicklung des Bundesamtes
für Justiz ist. In diesem Zusammenhang hat uns Abgeordneten nicht gefallen, dass bis zur letzten Sekunde ein
Streit innerhalb der Bundesregierung zwischen dem Justiz- und dem Innenministerium stattgefunden hat. Das
Innenministerium wollte vielleicht gerne Aufgaben loswerden, aber keine Stellen übertragen. Das hätte das
Bundesverwaltungsamt vielleicht etwas geschmälert; ich
weiß es nicht. Es gab ein Gezerre über viele Wochen
hinweg. Jetzt hat man einen Kompromiss gefunden. Ob
der mit diesem geteilten In-Kraft-Treten, das im Gesetzentwurf vorgesehen ist, so glücklich ist, bezweifle ich.
Aber insgesamt - das habe ich dargelegt - stimmen wir
dem Gesetzentwurf zur Errichtung des Bundesamts für
Justiz zu.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir von der CDU/CSU-Fraktion
haben uns dem Bürokratieabbau verschrieben und das ist
auch mein ganz persönliches Anliegen. Jetzt wird mit
dem vorliegenden Gesetz das Bundesamt für Justiz, also
eine neue Behörde, gegründet. Da mag sich mancher
Bürger zu Recht fragen, was das mit weniger Bürokratie
und mit schlankem Staat zu tun hat und vor allen Dingen
was das kosten wird.
Lassen Sie uns diese Punkte im Einzelnen betrachten.
Zuerst die Frage, ob die neue Behörde mit dem Ziel eines schlanken Staates zusammenpasst. Schauen wir uns
als Erstes an, was die Behörde machen soll, welche Aufgaben das Bundesamt für Justiz erledigen soll. Die Behörde wird vor allen Dingen bestehende Aufgaben aus
dem Bundesjustizministerium und vom Generalbundesanwalt übernehmen. Hinzu kommen einzelne Aufgaben
aus dem Zuständigkeitsbereich anderer Bundesressorts
wie beispielsweise die Zwangsvollstreckung. Wir schaffen hier also keine zusätzliche Bürokratie. Das Bundesamt für Justiz wird lediglich Aufgaben übernehmen, die
bisher von anderen Stellen ausgeführt wurden. Im Gegenteil: Wir verschlanken die Institutionen, die Aufgaben an das Bundesamt abgeben. Wir gestalten Strukturen
übersichtlicher als bisher. Im Laufe der Jahre haben das
Ministerium und der Generalbundesanwalt mehr oder
weniger wahllos administrative Tätigkeiten übernommen bzw. übernehmen müssen, obwohl diese eigentlich
nicht richtig zu den einzelnen Institutionen passten.
Dazu kommt, dass sowohl europäisches als auch internationales Recht in den vergangenen Jahren stetig an
Bedeutung hinzugewonnen hat, und zwar durch die voranschreitende europäische Integration, durch eine zunehmende internationale Verflechtung der Wirtschaftsräume und durch die wachsende Mobilität der Menschen. Diese Entwicklung erfordert immer stärker, dass
die Vertragspartner bzw. die Mitgliedstaaten zentrale
Anlaufstellen bzw. eine internationale Kontaktstelle für
den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr benennen
können. Das gilt natürlich auch für Deutschland. Eine
zentrale Anlaufstelle ist wichtig für die ausländischen
Institutionen, sie ist aber auch besonders wichtig für die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die sich an
diese Stellen wenden wollen oder wenden müssen.
Betrachten wir beispielsweise die Aufgabe im Bereich
des Auslandsunterhaltsrechts. Bisher sind zuständig:
das Bundeszentralregister nach dem Auslandsunterhaltsgesetz, das Bundesverwaltungsamt für eingehende Ersuche nach dem Gesetz zum UN-Unterhaltsübereinkommen und - nach demselben Abkommen - die Länder für
die ausgehenden Ersuche.
Eine solche Verteilung von Kompetenzen in einem
Rechtsbereich ist doch von niemandem zu verstehen. Es
macht keinen Sinn, dass nach dem Gesetz die 16 Länder
für ausgehende Ersuche zuständig sind, während der
Bund für eingehende Ersuche zuständig ist. Genauso
wenig sinnvoll ist es, die Regelung der Zuständigkeiten
davon abhängig zu machen, aus welchem Land ein Gesuch gestellt wird. Bei Ersuchen aus den USA und Südafrika war bisher der Generalbundesanwalt zuständig.
Bei Ersuchen aus Mexiko, Brasilien oder europäischen
Ländern ist das Bundesverwaltungsamt der richtige Ansprechpartner. Das macht keinen Sinn.
Wir alle profitieren von der Zusammenführung der
Aufgaben: die Bürger, die dann wissen, an wen sie sich
wenden sollen, und der europäische und internationale
Rechtsverkehr durch einen einheitlichen Ansprechpartner. Wir erreichen durch einen Gleichlauf der Verfahren
eben auch Synergieeffekte: Die Verfahren können beschleunigt werden; Sach- und Personalkosten können
eingespart werden.
Neben den Auslandsunterhaltsangelegenheiten wird
dem Bundesamt für Justiz noch eine Reihe weiterer Aufgaben übertragen, die zum Teil bereits genannt worden
sind. Ich denke, wir können hier auf eine detaillierte
Aufzählung verzichten.
Lassen Sie mich aber noch auf zwei ganz wesentliche
Bereiche eingehen:
Erstens. Das Bundesamt für Justiz wird die Aufgaben
der Dienststelle Bundeszentralregister, die bisher vom
Generalbundesanwalt erfüllt worden sind, übernehmen.
Aufgrund der Aufgabenübertragung kann die dortige
Dienststelle komplett aufgelöst werden. Die Neuorganisation ermöglicht, dass sich der Generalbundesanwalt
auf seine originäre Kompetenz konzentrieren kann. Die
Führung der verschiedenen Register gehört ebenso wenig zu den Kernkompetenzen einer Strafverfolgungsbehörde wie die schon angesprochenen familienrechtlichen
Angelegenheiten.
Zweitens. Das Bundesamt für Justiz übernimmt eine
Reihe von Tätigkeiten des Bundesministeriums, deren
Verbleib in ministerieller Zuständigkeit nicht sinnvoll
ist. Beispiele hierfür sind die Wahrnehmung von Aufgaben auf dem Gebiet der internationalen Konflikte, in
Kindschaftssachen und Aufgaben im Rahmen der europäischen und internationalen Zusammenarbeit im Justizbereich. Auch hier ist der wesentliche Vorteil, dass das
Bundesministerium sich jetzt auf seine originären ministeriellen Aufgaben konzentrieren kann.
Wir kommen nun zur ganz entscheidenden Frage:
Was kostet uns das alles? Veranschlagt im Haushalt sind
für die Gründung einmalige Kosten in Höhe von
400 000 Euro. Das Bundesministerium hat uns versichert, dass wir diese Veranschlagung eher unter- als
überschreiten werden. Die Mittel hierfür können innerhalb des Etats durch Umschichtungen erbracht werden.
Eine entsprechend niedrige Veranschlagung ist nur deshalb möglich, weil die räumliche Unterbringung des
Bundesamtes in Bonn genau dort erfolgt, wo momentan
die Dienststelle Bundeszentralregister und die Dienststelle Bonn des Justizministeriums angesiedelt sind.
Auch die laufenden Kosten der Umstrukturierung hat
man im Griff. Für die übertragenen Aufgabenfelder sind
auch bisher Personalkosten und Sachkosten angefallen;
sie müssen lediglich umgeschichtet werden. Mittel- bis
langfristig ist unser Ziel natürlich, Kosteneinsparungen
zu erreichen. Dabei wirken dann die Synergieeffekte, die
durch die Konzentration der Aufgaben erzielt werden.
Auch die Personalkosten können mittelfristig gesenkt
werden, weil die Ministerialzulage natürlich abgeschmolzen wird.
Die Kosten waren eben der ganz entscheidende Faktor für die Standortwahl. Nur dadurch, dass quasi mit der
Aufgabe auch die Räumlichkeiten vom Ministerium und
vom Bundeszentralregister auf das neue Bundesamt für
Justiz übergegangen sind, ist die weitestgehende Kostenneutralität möglich. Jede andere Standortentscheidung
hätte erheblichen organisatorischen und finanziellen
Aufwand bedeutet.
Ich finde, die Standortentscheidung ist auch gegenüber den Mitarbeitern des Bundeszentralregisters fair.
Das Bundeszentralregister musste ja erst vor wenigen
Jahren von Berlin nach Bonn ziehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, zusammenfassend
bleibt festzustellen, dass wir mit der Gründung des
Bundesamtes für Justiz drei wesentliche Ziele erreichen:
Erstens das BMJ wie auch zweitens der Generalbundesanwalt können sich jetzt auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Drittens wird für den internationalen Rechtsverkehr eine zentrale Anlaufstelle geschaffen.
Für die Zukunft verbleibt jetzt noch die Aufgabe, die
eingeleitete Reorganisation des Bundesjustizministeriums zu vollenden. Durch die Ausgliederung der nicht
ministeriellen Aufgaben in das Bundesamt für Justiz ist
es auch aus sachlichen Gründen nicht mehr notwendig,
eine Außenstelle des Ministeriums in Bonn zu unterhalten. Ich kann mir gut vorstellen, dass die vom Bundesministerium für Justiz vorgesehene Aufgabenverteilung
Vorbildfunktion für andere Ministerien haben kann, indem man sich hier in Berlin auf die ministeriellen
Aufgaben konzentriert und die nachgelagerten, die administrativen Aufgaben in Bonn wahrnimmt. Diese Aufgabenteilung zwischen Bonn und Berlin ist vernünftig.
Wir sollten jetzt den Mut haben, das Berlin/Bonn-Gesetz
entsprechend zu überdenken und eine Neuordnung vorzunehmen.
Vielen Dank.
({0})
Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković für die
Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schröder, Sie haben völlig Recht. Wir reden von
Bürokratieabbau. Es ist aus finanziellen Gründen notwendig, jeden Euro zweimal anzuschauen, bevor man
ihn ausgibt. In dieser Situation bedarf es einer besonderen Rechtfertigung, ein neues Bundesamt zu schaffen.
Wir haben uns im Rechtsausschuss den Stellenkegel
genau angeschaut. Wir haben feststellen können, dass
keine neuen Stellen geschaffen werden. Sämtliche Stellen werden durch Umstrukturierungen dem neuen Bundesamt zugeschlagen. Selbst der Leiter, also der Präsident, des neuen Bundesamts, verursacht keine
zusätzliche finanzielle Belastung des Haushaltes, da
seine Stelle aus Stellen des Bundeszentralregisters geschaffen wird. Mit diesem Bundesamt sind keine neue
Bürokratie und keine Mehrausgaben verbunden.
Man muss sich auch der Frage stellen, ob es richtig
und notwendig ist, ein solches Bundesamt zu errichten.
Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine nationale Anlaufstelle für diverse neue Aufgaben, die uns
sowohl im völkerrechtlichen Verkehr als auch in der
Europäischen Union zuwachsen. Es ist richtig, diese nationale Anlaufstelle in Form eines Bundesamts zu organisieren.
({0})
- Danke, Herr Kollege Wieland.
({1})
Es ist auch richtig, dass wir sowohl das Bundesjustiz-
ministerium als auch den Generalbundesanwalt von den
1) Anlage 2
Aufgaben entlasten, die nicht zum Kernbereich ihrer Tätigkeit gehören.
({2})
Die einzelnen Punkte, die Aufgabenbereiche, die in
diesem neuen Bundesamt zusammengefasst werden,
sind schon aufgeführt worden. Die Zustimmung zur Errichtung dieses neuen Bundesamtes fällt mir umso leichter, als sie mit einem positiven Lerneffekt bei den Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der CDU/CSU
verbunden ist. Meine Damen und Herren von der SPDFraktion, Sie werden sich daran erinnern, dass die Union
in den letzten Legislaturperioden immer wieder vehement dagegen gewettert hat, dass Entschädigungen für
Opfer rechter Gewalttaten gewährt werden. Nun stellen wir fest, dass die große Koalition einmütig die Bewältigung der Aufgabe der Entschädigung der Opfer
rechter Gewalt dem neuen Bundesamt für Justiz zuweisen will. Damit erkennen Sie gleichzeitig die Notwendigkeit dieser Aufgabe an.
({3})
Ich bin sehr zufrieden, dass Sie insofern wieder an die
tatsächlichen Probleme und Aufgaben, die im justiziellen Bereich wahrzunehmen sind, herangekommen sind.
Es gibt über die Aufgaben, die im Bundesamt zusammengeführt werden sollen und in diesem Gesetz schon
aufgeführt sind, hinaus weitere Aufgaben. Eine haben
wir Grünen schon parat. Die Grünen haben heute der
Öffentlichkeit ein Gesetz zur Reform der Telekommunikationsüberwachung in Deutschland vorgestellt. Die statistische Erfassung der Telekommunikationsüberwachung in Deutschland und die Aufarbeitung der Daten
zur Präsentation beim Bundestag bewerkstelligt zurzeit
noch die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen. Es ist durchaus
sinnvoll, auch diese Aufgaben dem neuen Amt zu übertragen.
({4})
In diesem Sinne sage ich: Wir wünschen dem neuen
Bundesamt eine gute Arbeit, ein gutes Gelingen. Wir als
Grüne werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen.
Danke.
({5})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Dr. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
am 1. Januar des kommenden Jahres das Gesetz über die
Errichtung des Bundesjustizamts - mit, wie ich denke,
breiter Mehrheit in diesem Hause beschlossen - in Kraft
tritt, wird am Standort Bonn zunächst einmal nichts anderes geschehen, als dass dort Türschilder ausgewechselt werden. Es entfällt das Schild „Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof“ und es kommt das
Schild „Bundesjustizamt“. Das ist auch schon alles, was
man in Bezug auf den Standort sagen kann. Die nahezu
400 Beschäftigten des Bundeszentralregisters als Bonner
Dienststelle des Generalbundesanwalts werden weiter in
Bonn arbeiten können. Wer, wie im Ausschuss geschehen, irgendwelche Benachteiligungen der neuen Bundesländer oder die Nichteinhaltung des Koalitionsvertrages
vermutet,
({0})
handelt nur populistisch. Wir schaffen keine neue Bundesbehörde. Wir bündeln nur Zuständigkeiten in einem
Haus.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang am Rande
bemerken, dass ich es, gerade im Hinblick auf die Schaffung von neuen Stellen, gut finde, dass Potsdam, wie
diese Woche beschlossen, Sitz der Bundesstiftung für
Kultur wird. So realisiert man die Vorgaben des Koalitionsvertrages. Damit können wir zufrieden sein.
Zufrieden sein können wir auch damit, dass die angesprochene Umstrukturierung im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Justiz kostenneutral im Bundeshaushalt vollzogen wird. Weder werden neue Stellen
geschaffen, noch werden Stellenhebungen durchgeführt.
Meines Erachtens ist das, was wir im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Justiz schaffen, vorbildlich
für die Aufteilung der Aufgaben zwischen Bonn und
Berlin: Die politisch-steuernden Funktionen werden in
Berlin wahrgenommen, während das Bundesjustizamt in
Bonn - zusammengesetzt aus den Zuständigkeiten des
Generalbundesanwalts, den Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsamts und den Exekutivzuständigkeiten
des Justizministeriums - arbeitet.
Das Bundesjustizamt wird verschiedene Zuständigkeiten haben: als zentrale Verwaltungsbehörde für den
grenzüberschreitenden Rechtsverkehr, aber auch als
Vollzugsbehörde für andere Aufgaben. Wir als Deutscher Bundestag sind vor wenigen Wochen den ersten
Schritt gegangen, indem wir im Gesetz über das elektronische Handels- und Unternehmensregister bereits die
Zuständigkeit des Bundesjustizamts festgeschrieben haben.
Jetzt gehen wir zusammen den zweiten Schritt, indem
wir dieses Bundesjustizamt errichten.
({1})
Ministerium und Generalbundesanwalt werden sich
dann auf die Kernkompetenzen konzentrieren können.
Insbesondere das Bundesministerium wird nicht mehr
sinnwidrig als erstinstanzliche Verwaltungsbehörde eingesetzt. Wir haben dann eine Bundesoberbehörde, die
als kompetenter Ansprechpartner mehr Transparenz und
Bürgernähe gewährleisten wird. Damit machen wir unsere Justiz für den nationalen, den europäischen und den
internationalen Justizverkehr fit.
Ich freue mich darüber, dass nach dem, was von den
bisherigen Rednern gesagt worden ist, wir dieses Gesetz
zumindest unter den Fraktionen, die gesprochen haben,
einstimmig verabschieden können.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Druck-
sache 16/1827 zur Errichtung und zur Regelung der Auf-
gaben des Bundesamts für Justiz. Der Rechtsausschuss
empfiehlt auf Drucksache 16/3009, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke von
den übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Kai Gehring, Monika Lazar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Datenschutzaudit umsetzen - Gütesiegel
stärkt Bürgerrechte und schafft Akzeptanz für
wirtschaftliche Innovationen
- Drucksache 16/1499 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datenschutz-Audit-Verfahren und Datenschutz-Gütesiegel einheitlich regeln
- Drucksache 16/1169 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Deutsche Bundestag hat sich bereits im Jahre 2003 auf
ein Datenschutzaudit verständigt. § 9 a des Bundesdatenschutzgesetzes sieht vor, dass die näheren Anforderungen an die Prüfung und Bewertung eines Auditverfahrens durch ein besonderes Gesetz geregelt werden
sollen. Dieser klare Auftrag des Bundestages wurde
von der Exekutive bis heute nicht umgesetzt.
Ich bekenne offen: Es hat hier auch unter Rot-Grün
bedauerlicherweise nicht die erforderlichen Fortschritte
gegeben. Der ehemalige Bundesinnenminister Otto
Schily hat jede Modernisierung im Datenschutz blockiert und die SPD musste beim Thema Datenschutz immer wieder neu zum Jagen getragen werden, sodass wir
durch die Neuwahl in die Situation gekommen sind, dass
wir das Informationsfreiheitsgesetz zwar geschafft haben, das Thema Datenschutzaudit aber bedauerlicherweise wieder einmal liegen blieb.
Wir wollen das Thema Datenschutzaudit nicht ad acta
legen; ganz im Gegenteil: Wir suchen neue Bündnispartner. Im Bereich der Wirtschaft haben wir sie längst gefunden. Auch ohne bundesgesetzliche Regelung entwickeln sich Gütesiegel für den Datenschutzbereich. So
hat sich beispielsweise die Firma Coca-Cola durch
TÜViT zertifizieren lassen. Das Gütesiegel „quid!“
- Qualität in Datenschutz - wurde in einem von der
Bundesregierung geförderten Forschungsprojekt entwickelt. Es entstehen derzeit auch aktuell immer neue
IT-Sicherheitszertifikate.
Angesichts entsprechender Bemerkungen aus den
Reihen der SPD, die ich auf dem Weg hierher gehört
habe, könnte man sich die Frage stellen: Wofür brauchen
wir noch eine gesetzliche Regelung, wo doch der Markt
sich die erforderlichen Zertifikate selbst schafft? Aber
genau an dieser Stelle liegt das Problem. Was fehlt, sind
anerkannte Kriterien für das Datenschutzaudit. Ein
Wildwuchs an Zertifikaten nutzt weder der Wirtschaft
noch wird dadurch das notwendige Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen. Wenn dieser
Wildwuchs so weitergeht, dann gibt es vielleicht demnächst ein Gütesiegel aus den USA, worauf steht: Die
Fluggastdaten sind bei der CIA in den besten Händen. Solche Gütesiegel wollen wir nicht. Wo Datenschutz
draufsteht, muss erkennbar und verlässlich Datenschutz
drin sein.
({0})
Die datenschutzrechtliche Qualität von Produkten,
Dienstleistungen und Datenverarbeitungssystemen in
Wirtschaft und Verwaltung muss nach einem einheitlichen Prüfschema bewertet werden. Wir wollen Anreize
setzen, Datensicherheit und Datenvermeidung schon bei
der Produktentwicklung mitzudenken. Zielsetzung des
Datenschutzaudits ist es auch, einen Wettbewerb um die
Entwicklung und um den Einsatz datenvermeidender
Technologien auszulösen. Insofern - das könnte auch bei
der SPD irgendwann einmal ankommen - ist es ein Innovationsthema und ein wirtschaftsfreundliches Thema.
Wie ich vorhin bereits gesagt habe: Die Wirtschaft ist in
diesen Bereichen viel weiter als die Politik.
Ich finde es gut, wenn wir zu einem Ergebnis kommen könnten. Wir sollten versuchen, die alten Gräben
zuzuschütten. Wir sollten uns erneut und offen mit dem
Thema Datenschutzaudit auseinander setzen. Vielleicht
könnten wir uns in Form einer Anhörung im Innenausschuss auf den aktuellen Stand der gesellschaftlichen
Debatte bringen.
Im Zusammenhang mit den RFID-Chips, über die
wir schon geredet haben, kommt die EU zu dem Ergebnis, dass die Marktfähigkeit dieser neuen Technologie
entscheidend davon abhängt, dass Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet sind. Die Forderung steht im
Raum, das entsprechende Vertrauen in der Bevölkerung
zu schaffen, um eine Akzeptanz für neue Produkte im
Bereich der Informationstechnologie zu erreichen. Das
erreichen wir aber nur, wenn wir mit verlässlichen Gütesiegeln und Prüfkriterien arbeiten.
({1})
Ich halte das Datenschutzaudit für ein Thema, bei
dem wir den Versuch unternehmen sollten, fraktionsübergreifend einen Schritt weiterzukommen. Wenn wir
es schaffen, das Datenschutzaudit in Deutschland umzusetzen, dann wäre es ein Reformschritt nach vorne. Wir
erleben bei der großen Koalition ja nicht allzu oft, dass
es einen Schritt nach vorne gibt. Das Ergebnis wäre
mehr Qualität im Datenschutz. Damit würden wir, wie
schon gesagt, auch Anreize für die Entwicklung neuer
Produkte im Bereich der Informationstechnologie schaffen. Reden Sie einmal mit den Unternehmen der ITBranche. Sie sind längst auf der Seite der Grünen und
unterstützen uns bei unserer Forderung nach einem Datenschutzaudit.
Danke schön.
({2})
Für die Unionsfraktion hat das Wort die Kollege
Beatrix Philipp.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Stokar, ich konnte vorhin Ihrer Rede - ich
bekenne, dass das öfter der Fall ist - phasenweise zustimmen.
({0})
Ich will aber nicht allzu viel Hoffnung wecken.
({1})
Wir sollten uns weiterhin an der Sache orientiert auseinander setzen.
Sie wissen auch, dass ich immer für das Zuschütten
von Gräben bin. Vielleicht könnte man das durch die von
Ihnen angeregte Anhörung erreichen. Es war aber auch
wieder nur so halb richtig. Richtig ist, der Deutsche Bundestag hat sich 2003 darauf verständigt, aber nur mit
Mehrheit. Wir sind schon damals - wie Sie sich sicherlich erinnern können - gegen das jetzt zur Diskussion
stehende Datenschutzaudit gewesen, weil wir gesagt haben, es wird in erheblichem Maße den Mittelstand und
die Industrie belasten. Und nach wie vor sind wir der
Auffassung, dass es Dinge gibt, für die wir keine Gesetze brauchen, die von den Betroffenen im Zweifelsfall
also selbst geregelt werden können. Das wird sicherlich
- da stimmen wir zu - in der Ausschussberatung noch
einmal eine Rolle spielen.
Es ist sicher auch immer interessant, wenn nach und
nach der Sand im Getriebe der letzten Regierungskoalition sichtbar wird. Das ist sicher interessant, aber es ist
nicht immer zielführend und manchmal auch nicht nachvollziehbar.
Die Bedenken, die es dagegen gegeben hat, dieses
Ausführungsgesetz zu schaffen, teilen wir heute noch
immer. Wie gesagt, im Jahr 2000/2001 sind ausführliche
Debatten über diesen § 9 a BDSG geführt worden. Ich
glaube, im Moment müssen wir alles andere tun, als die
mittelständische Wirtschaft, die es in den meisten Fällen
betrifft, zusätzlich zu belasten.
Sie haben darauf hingewiesen, was wir damals mitgetragen haben:
Zur Verbesserung des Datenschutzes und der Datensicherheit können Anbieter von Datenverarbeitungssystemen und -programmen und datenverarbeitende Stellen ihr Datenschutzkonzept sowie ihre
technischen Einrichtungen durch unabhängige und
zugelassene Gutachter prüfen und bewerten lassen
sowie das Ergebnis der Prüfung veröffentlichen.
({2})
Damit sind wir völlig einverstanden. So weit, so gut.
Dann heißt es aber weiter:
Die näheren Anforderungen an die Prüfung … sowie die Auswahl und Zulassung der Gutachter werden durch besonderes Gesetz geregelt.
Das haben wir schon damals nicht für richtig gehalten
und eigentlich haben sich die Bedingungen, die damals
dazu geführt haben, dass wir Nein gesagt haben, eher
verschärft, wenn ich mir im Augenblick die Situation anschaue.
Ich finde es auch ein bisschen bemerkenswert - das
kann ich mir einfach nicht verkneifen -, dass Sie eigentlich einige Jahre Zeit hatten, das umzusetzen.
({3})
- Jawohl, das ist gut. Mit dieser Inaussichtstellung haben
Sie vier Jahre lang gelebt und das eigentlich nicht erwähnt, nun sollen wir aber unverzüglich Ihre Hausaufgaben machen.
({4})
Das ist eigentlich nicht so ganz in Ordnung.
Was könnte in solchen Anregungen denn stehen?
Zweifellos Bewertungsmaßstäbe, die dazu geeignet
sind, dass der Verbraucher etwas mehr Sicherheit - Sie
haben das Vertrauen genannt - empfindet. Dagegen ist
sicherlich überhaupt nichts zu sagen. Wir wehren uns
nur dagegen, dass staatlicherseits, vonseiten der Regierung, ein Gesetz mit diesem Inhalt, wie Sie es angesprochen haben, erlassen wird.
Wir sind in Sachen Datenschutz auch kein Entwicklungsland. Ich denke, das muss man auch einmal sagen.
Wir haben Kontrollinstanzen, wir haben Aufsichtsbehörden, die kontrollieren. Wir haben in großen und größeren Firmen betriebliche Datenschutzbeauftragte, die
ihrer Aufgabe sehr intensiv und verantwortungsvoll
nachkommen. Also würde damit so etwas wie eine dritte
Kontrollinstanz geschaffen werden. Das halten wir vor
dem Hintergrund des angestrebten Abbaus von Bürokratie für nicht ganz richtig.
Ich habe heute Morgen die Debatte aufmerksam verfolgt und dabei gedacht: Es gibt zwischen Ihnen und uns
schon einen wesentlichen Unterschied in der Auffassung, wie man mit Daten und Datenschutz umgeht.
({5})
- Das ist wirklich so. Das hat sich heute Morgen bis hin
zur Debatte über die Terrorismusbekämpfung gezeigt.
Datenschutz ist für mich immer noch eine Frage der
Abwägung. Vielleicht ist es hier oder da tatsächlich nötig, diese Abwägung anders vorzunehmen. Oder besser:
Wir nehmen sie anders vor als Sie und sind im Zweifelsfall bereit, im Sinne der Terrorismusbekämpfung hier
und da Einschränkungen der persönlichen Freiheit hinzunehmen, wenn das tatsächlich zu mehr Sicherheit
führt.
Vielleicht müssen diese Dinge mehr offen ausgetragen werden. Wir sind dafür, dass man die Wirtschaft, die
Industrie auffordert, sich in diesem Sinne mehr der
Schaffung eines Gütesiegels zu öffnen, als das bisher der
Fall ist. Ich stimme Ihnen auch zu, um Wildwuchs kann
es dabei nicht gehen.
Ich denke, darüber werden wir uns in der Ausschussberatung intensiv austauschen. Diesem Antrag auf
Ausschussberatung werden wir selbstverständlich auch
zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Gisela Piltz hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über ein Versäumnis der letzten Bundesregierung; das ist schon mehrfach angesprochen worden. Es droht aber immer mehr zu einem Versäumnis
dieser Bundesregierung zu werden.
Bereits im Jahr 2001 - auch das wurde schon ausgeführt - wurde das Datenschutzaudit als bloße Programmnorm in das Bundesdatenschutzgesetz aufgenommen. Damit kann es aber leider nicht umgesetzt
werden. So ist das im Leben. Bereits im Dezember 2004
hat es in diesem Hause zu diesem Thema einen aus meiner Sicht ziemlich eindeutigen - einstimmigen - Beschluss gegeben. Für diejenigen, die ihn vergessen haben, lese ich ihn mit Ihrer Genehmigung vor. In
Drucksache 15/4597 steht:
Der Deutsche Bundestag erwartet, dass die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode ein Ausführungsgesetz zu § 9 a des Bundesdatenschutzgesetzes vorlegt, damit dieses wichtige Element der
jüngsten Novellierung nicht weiter leer läuft. Dabei
ist einer möglichst unbürokratischen Lösung der
Vorzug zu geben, die sich an den realen Interessen
der Anbieter und Verbraucher orientiert.
Das war aus meiner Sicht - wenn ich das so sagen darf eine ganz große Koalition für das Datenschutzaudit und
das Datenschutzgütesiegel.
({0})
Heute wurde oft gesagt: Im Prinzip wollen wir es;
aber nicht so. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht
einen für alle gangbaren Weg finden sollten. Aus meiner
Sicht spricht nichts dagegen.
({1})
Es ist eine Sache, dass die letzte Bundesregierung das
nicht geschafft hat. Frau Stokar, Sie dürfen es mir nicht
übel nehmen, dass ich es lustig finde, dass Sie - ebenso
wie wir - einen Antrag gestellt haben; schließlich konnten Sie das bei Herrn Schily lange nicht durchsetzen. Ich
habe eine Ahnung, warum das so war.
({2})
- Damit endet sie nicht. Wenn man sich aber an das erinnert, was in der letzten Legislaturperiode passiert ist und
was nicht, was gesagt wurde und was nicht, dann findet
man es schön, dass manche Sachen doch wieder auf den
Tisch kommen. An manchen Punkten hätten wir uns eine
öffentliche Äußerung Ihrer Fraktion in Sachen Datenschutz gewünscht.
({3})
Die haben wir häufig nicht gehört. Die FDP stand damit
oft alleine. Das wissen Sie genau.
({4})
Aus unserer Sicht sind ein Datenschutzaudit und ein
Gütesiegel sinnvoller denn je; denn immer mehr Menschen tummeln sich im Internet. Das Datenschutzgütesiegel hat zwar nicht nur mit dem Internet zu tun; wir
brauchen es aber insbesondere für Transaktionen im
Internet. Wenn wir wollen, dass die Menschen das Internet nutzen - übrigens möchte auch der Staat, dass die
Menschen das Internet nutzen, um über E-Government
viele Behördengänge zu sparen -, dann macht es Sinn,
dafür zu sorgen, dass die Nutzer sich mittels eines simplen Verfahrens darüber informieren können, ob ihre
Transaktionen sicher sind. Dafür könnte dieses Siegel
Sorge tragen. Deshalb unterstützen wir das.
Dem Gütesiegel wird häufig entgegengehalten, dass
es zu viel Bürokratie mit sich brächte. Frau Philipp, das
haben auch Sie vorhin gesagt. Wenn wir ein typisch
deutsches Verfahren installieren würden, wenn wir es
also überfrachten würden, wäre das der Fall. Ich glaube
aber, dass man auch ein relativ einfaches Verfahren installieren kann: Man kann klare Kriterien setzen, die einzuhalten sind. Ich glaube, dass wir ein solches Genehmigungsverfahren, das nicht typisch deutsch ist, erfinden
können.
Ein solches Verfahren wäre flexibel und würde die
Wirtschaft wenig belasten. Eines ist klar: Die FDP
möchte den Mittelstand nicht weiter belasten. Ganz im
Gegenteil: Wir wollen dem Mittelstand - überhaupt allen deutschen Unternehmen - eine Chance bieten; denn
wir halten es für einen Wettbewerbs- und Innovationsvorteil, wenn deutsche Unternehmen mit einem solchen
Siegel werben können.
Dass das geht und dass die Welt davon nicht untergeht, zeigen die Erfahrungen, die man in Schleswig-Holstein gesammelt hat. Schleswig-Holstein hat als erstes
und einziges Bundesland ein solches Ausführungsgesetz.
({5})
- Private können aber darauf zurückgreifen. Es ist in erster Linie nur für staatliche Stellen. Aber wenn private
Stellen für den Staat arbeiten, können sie das ebenso erhalten.
Von daher denke ich, dass die Welt nicht untergegangen ist. Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn ein Land
mit einem solchen Gesetz Erfahrungen gemacht hat, die
zeigen, dass es geht. Wir halten es für sinnvoll, das jetzt
auch für private Unternehmen möglich zu machen. Ich
glaube, dass nichts dagegen spricht. Wenn ich die Rede
von Frau Philipp richtig verstanden habe, dann komme
ich zu dem Schluss, dass wir uns in einem Berichterstattergespräch darüber verständigen sollten, wie wir mit
dem Thema umgehen. Denn ich finde, es sollte nicht daran scheitern, dass die einen es so und die anderen es anders verstehen. Wir sollten im Interesse des Datenschutzes und der Nutzer ein solches Siegel einführen.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Michael
Bürsch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist
der Tag der großen Gemeinsamkeiten. Nicht nur bei der
Debatte über das Bundesamt für Justiz, sondern auch
hier werden wir feststellen, dass es inhaltlich keine entscheidenden Meinungsunterschiede gibt, allenfalls Unterschiede hinsichtlich des Zeitpunkts. Datenschutz - da
sind wir uns alle einig - ist einerseits eine sehr wichtige
Materie, andererseits leider auch eine sehr komplexe.
({0})
Deshalb richte ich im Voraus eine grundsätzliche Bemerkung an Frau Kollegin Stokar und an die Adresse der
FDP. Bei der Diskussion über Regelungen zum Datenschutz, wie sie heute auf der Tagesordnung stehen, sind
vor allem Gründlichkeit und Genauigkeit geboten.
Schließlich geht es um ein essenzielles Bürgerrecht, das
wir mühsam erkämpft haben, nämlich um die informationelle Selbstbestimmtheit des einzelnen Bürgers und
der einzelnen Bürgerin. Diese Selbstbestimmtheit ist in
unseren Augen - zumal wir heute in einer Wissensgesellschaft leben - zentraler Bestandteil der subjektiven
Freiheitsrechte und deshalb ein besonders schützenswertes Gut.
Die Wissens- und Informationsgesellschaft ist dadurch charakterisiert, dass in ihr ein immer größerer Datenstrom in Bewegung gerät, der durch sämtliche Bereiche des modernen Lebens fließt und immer mehr
Informationen über den einzelnen Menschen - als Konsument oder als Kunde - erfasst werden. Die zunehmende weltweite Vernetzung von Computern erhöht
ganz wesentlich die Möglichkeit von Datenmissbrauch
und -manipulation. Sie stellt für den Einzelnen eine
kaum noch zu überblickende Gefahr für die Souveränität
seiner Handlungen und Entscheidungen dar.
({1})
In der Diskussion über den Datenschutz muss allerdings auch im Lichte der Informationsfreiheit die Frage
nach dem Sinn weiterer Gesetze gestellt werden dürfen.
Schließlich ist es eine Materie, die sich ohnehin schon
durch ein relativ kompliziertes Geflecht von Regelungen
auszeichnet. Es geht um widerstreitende Interessen: einerseits um die Sorge um legitime Freiheitsansprüche
des Einzelnen, andererseits - Frau Philipp hat darauf
hingewiesen - um die Furcht vor der Erschaffung weiterer bürokratischer Hemmnisse und Barrieren. Daher
muss bei aller guten Absicht, die informationelle
Selbstbestimmtheit zu schützen, immer im Auge behalten werden, dass man so wenig wie möglich neue Bürokratie schafft. Denn Bürokratie ist stets in der Gefahr,
sich zu verselbstständigen, manche gute Absicht zu konterkarieren oder manchmal sogar ins Absurde zu führen.
Die Antwort auf die hier aktuelle Frage, warum man
ein Datenschutzauditgesetz braucht, fällt nahezu lakonisch aus. Ein Datenschutzaudit würde helfen, den Datenschutz effektiver und besser zu machen. Da sitzen wir
alle im selben Boot. Worum geht es? In § 9 a Bundesdatenschutzgesetz ist die Einführung eines allgemeinen
Datenschutzaudits vorgesehen. Das Audit ist die Prüfung und Bewertung des Datenschutzniveaus datenverarbeitender Stellen durch unabhängige Sachverständige.
Offen ist lediglich die Frage, wie ein Datenschutzaudit
letztlich auszugestalten ist. Wenn der Bundesbeauftragte
für den Datenschutz schon in seinem Tätigkeitsbericht
2003/2004 die Frage stellt, wann ein solches Datenschutzaudit endlich komme, dürfte ihm in der Sache
kaum jemand ernsthaft widersprechen.
Zwei Punkte scheinen mir wichtig zu sein. Zum einen
kann man das Prinzip Freiwilligkeit beim Datenschutz
nicht hoch genug bewerten. Ich halte auf dieses Prinzip
große Stücke, weil es vor allem den Akteuren in der
Wirtschaft Spielräume lässt, über das Ob und insbesondere über das Wie eines Audits selber zu entscheiden.
Aus der Lebenserfahrung muss man sagen: Auf das,
wozu sich jemand freiwillig verpflichtet hat, kann man
sich im Zweifelsfalle etwas mehr verlassen als auf die
Befolgung und nötige Kontrolle gesetzlicher Regelungen. Auch die Grünen weisen in ihrem Antrag zu Recht
darauf hin. Als Schleswig-Holsteiner bedanke ich mich
in diesem Zusammenhang ganz besonders für das von
allen Seiten ausgesprochene Lob für mein Bundesland,
das in diesem Bereich schon mit einem Modellprojekt
vorangeschritten ist.
({2})
Das führt mich zu meinem zweiten Punkt, der aus
dem ersten folgt: Datenschutz darf für Unternehmen und
Dienstleister in Zukunft nicht mehr als Verhinderungsoder Abschreckungsinstrument gelten. Vielmehr - darauf hat der Datenschutzbeauftragte wiederholt hingewiesen - müssen die positiven Aspekte des Datenschutzes als Bestandteil der Qualität der angebotenen
Dienstleistungen betont werden.
Das Datenschutzaudit muss sich aus meiner Sicht zu
einem echten Standortvorteil für Unternehmen entwi5730
ckeln. Wirtschaftlicher Erfolg muss sich unmittelbar aus
der Freiwilligkeit solcher Datenschutzmaßnahmen ergeben. Die Frage nach Art und Umfang eines Datenschutzauditgesetzes muss daher besonders genau geprüft
werden.
An genau dieser Stelle setzen wir mit unseren noch
bestehenden Bedenken an. Sie sind nicht inhaltlicher,
sondern im Wesentlichen zeitlicher Natur. Zum Gesetzgebungsverfahren gehört unermüdliche Überzeugungsarbeit: in der Politik, in der Wirtschaft und natürlich
auch innerhalb der Verwaltung. Schließlich ist es die
Verwaltung, die für die Umsetzung zuständig ist.
Frau Kollegin Stokar, aufgrund unserer Erfahrungen
mit dem Informationsfreiheitsgesetz wissen wir: Es hat
lange gedauert - das ist unbestritten -, aber letztendlich
haben wir gesiegt. Wir haben ein Gesetz zustande gebracht. Sechs Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber der
Erfolg hat uns Recht gegeben.
({3})
Wir haben diese Zeit genutzt, um auch die Verwaltung
davon zu überzeugen, dass dieses Vorhaben sinnvoll ist.
Denn es nützt nichts, wenn man es mit einer Verwaltung
zu tun hat, die eine Maßnahme nicht unterstützen will.
Kollege Bürsch, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Stokar zulassen?
Ich nehme gerne eine Zwischenfrage von Frau Stokar
und auch von jedem anderen Mitglied dieses Hohen
Hauses entgegen. Frau Kollegin, da wir in der vorigen
Koalition zusammengearbeitet haben, freue ich mich natürlich ganz besonders auf Ihre Frage.
Herr Kollege Bürsch, nachdem die SPD-Fraktion das
Datenschutzauditgesetz unter Rot-Grün sieben Jahre
lang trotz inhaltlicher Debatten blockiert hat - darauf
hatte ich hingewiesen - und Sie sich heute hier hinstellen
und sagen, für die SPD-Fraktion sei noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, frage ich Sie: Könnten Sie
mir mitteilen, wann in etwa die SPD Ihrer Meinung nach
in der Lage sein wird, im Hinblick auf ein modernes Datenschutzauditgesetz eine Entscheidung zu treffen?
Frau Kollegin, ich kann Ihnen mit nur einem einzigen
Wort antworten: bald.
({0})
Gut Ding braucht Weile. Wie es auch beim Informationsfreiheitsgesetz der Fall war, haben wir die Zeit sinnvoll genutzt. Wir nutzen sie auch weiterhin. Momentan
unterziehen wir uns der Mühe der Ebene, die Verwaltung
und andere, die wir dafür ins Boot holen müssen, davon
zu überzeugen, dass wir ein solches Audit brauchen und
seine Rahmenbedingungen jetzt festlegen müssen.
Das wird auf jeden Fall noch in dieser Legislaturperiode geschehen. Meine zeitliche Antwort lautet daher: Es wird bald passieren. Jetzt könnten Sie in Gesetzestexten nachlesen, wie der Begriff „bald“ in
rechtlicher Hinsicht zu verstehen ist. „Bald“ bedeutet:
etwas länger als unverzüglich. Denn das heißt bekanntlich: ohne schuldhaftes Zögern. Wir brauchen noch etwas länger.
({1})
Zusammengefasst möchte ich sagen: Gerne schließen
wir uns inhaltlich dem Ansinnen der Grünen, der Liberalen und all derer in diesem Hohen Hause, die den Datenschutz hochhalten wollen, an. Aber wie schon beim Informationsfreiheitsgesetz brauchen wir noch Zeit, um
wirklich alle, die dieses Gesetz anwenden sollen, ins
Boot zu holen. Denn wenn es um die Abwehr von unliebsamen Gesetzen geht, zeigt sich, wie viel Fantasie
eine Verwaltung haben kann; das wissen wir. Ich kann
das aufgrund meiner zehnjährigen Verwaltungserfahrung
bestätigen.
Das Motto im Hinblick auf das Datenschutzauditgesetz, das wir alle wollen, lautet: Ende gut, alles gut, und
das bald.
({2})
Der Kollege Jan Korte spricht nun für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das,
was ich jetzt sage, kann man als Mitglied der Linksfraktion nicht oft sagen: Heute liegen zwei überraschend
gute Anträge vor, die wir aus vollem Herzen unterstützen.
Die Kollegin Piltz hatte Recht - ich habe im Protokoll
nachgesehen -: Im Jahre 2001 gab es in diesem Hause
eine regelrechte Aufbruchstimmung, als man sich vornahm, Europas modernstes Datenschutzrecht zu schaffen. Allein seine Umsetzung funktioniert nicht; das müssen wir heute erneut zur Kenntnis nehmen. Auch im
Februar 2005, als es um den 19. Tätigkeitsbericht des
Datenschutzbeauftragten ging, waren die Erwartungen
hoch. Es ist einstimmig beschlossen worden, noch in der
15. Wahlperiode, ein Ausführungsgesetz vorzulegen.
Geschehen ist nichts.
({0})
Das betrifft nicht nur das Auditgesetz, sondern auch das
Gendiagnostikgesetz und den Arbeitnehmerdatenschutz. Da fragt man sich schon, ob das nicht System
hat. Offensichtlich will die Mehrheit dieses Hauses es
nicht.
SPD und Grünen muss ich in diesem Falle zur Seite
stehen: Dass es in der 15. WP nicht geklappt hat, ein
Ausführungsgesetz zu verabschieden, hat etwas damit zu
tun, dass diese Wahlperiode - zum Glück - wesentlich
kürzer ausgefallen ist. Deshalb haben Sie dies nicht
mehr umsetzen können; das will ich zu Ihren Gunsten
gerne anmerken.
Zu den beiden Anträgen. Ich finde, dass das Thema
Datenschutz nach wie vor aktuell ist, weil viele Unternehmen personenbezogene Daten ihrer Kunden mit technischen Mitteln verarbeiten müssen. Insbesondere die
kleinen Unternehmen dürfen den Schutz dieser Daten
nicht als lästige Behinderung ihrer Geschäftstätigkeit
wahrnehmen, sondern müssen ihn als Qualitätsmerkmal
und als Vermarktungschance begreifen. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen werden dankbar dafür
sein, wenn sie vorbildlichen Schutz der ja wirklich sensiblen Daten ihrer Kunden durch ein Gütesiegel dokumentieren können. Das ist ein konkreter Vorteil gegenüber den großen Konzernen, wenngleich diese das unter
finanziellen Gesichtspunkten schon jetzt realisieren können.
({1})
- Danke.
Ich bin mir sicher, dass das Niveau des Datenschutzes
dadurch insgesamt steigen wird und dass die Menschen
in diesem Lande dadurch für die Bedeutung des Datenschutzes insgesamt stärker sensibilisiert werden. Nicht
zuletzt sind die Verbraucherinnen und Verbraucher die
Nutznießer eines geregelten Auditverfahrens mit vergleichbaren Standards. Anhand eines Auditsiegels erhält
jeder Bürger die Möglichkeit, konkret zu prüfen, ob der,
dem er Zugriff auf seine schützenswerten Daten zu gewähren gedenkt, ein seriöser Geschäftspartner ist. Auch
deswegen ist dieser Vorschlag sinnvoll.
Ich glaube, über das, was der Kollege Bürsch gesagt
hat, herrscht Einigkeit in diesem Hause. Deswegen freue
ich mich, dass auch wir von der Linksfraktion heute gemeinsam mit allen anderen Fraktionen diesen beiden
Anträgen zustimmen können.
({2})
Das ist eine schöne Sache. Es wäre allerdings schön,
wenn das öfter so wäre.
({3})
- Das liegt nicht an uns, das hängt von der Qualität dessen ab, was uns vorgelegt wird.
({4})
Angesichts der Debatte über die Antiterrordatei und
über weitere Eingriffe in die Grundrechte - ich möchte
noch einmal an die Vorratsdatenspeicherung erinnern wäre es ein gutes Zeichen für die Verbraucher, wenn wir
heute, zum Wochenende, dem gemeinsam zustimmen.
Wir werden das tun. Die Anträge sind sinnvoll.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache, muss allerdings den Kollegen Korte enttäuschen: Heute kann nicht einstimmig
abgestimmt werden, weil interfraktionell vorgeschlagen
ist, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/1499 und
16/1169 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen - es sei denn, es kommt jetzt aus
dem Plenum der Vorschlag, anders zu verfahren.
({0})
- Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieLuise Dött, Katherina Reiche ({1}),
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Petra
Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands Verantwortung national und
international mit einer umfassenden Strategie
zur biologischen Vielfalt wahrnehmen
- Drucksache 16/1996 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Lage der
Natur
- Drucksache 15/5903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsidentin Petra Pau
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({4}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nationale Biodiversitätsstrategie zügig vorlegen
- Drucksache 16/1497 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({6}), Rainder Steenblock,
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verstöße gegen FFH-Richtlinie umgehend
abstellen
- Drucksache 16/1670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundesminister Sigmar Gabriel das Wort.
({8})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über
den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur und
die dazu vorliegenden Anträge wird heute gemeinsam
beraten. Ich glaube, es ist sinnvoll, darauf hinzuweisen,
dass der Bericht der Bundesregierung zur Lage zur Natur
noch aus der letzten Legislaturperiode stammt. Einem
Auftrag des Parlaments folgend wurde damit erstmals
auf der Basis aktueller naturwissenschaftlicher Daten
eine politische Bewertung durch die Bundesregierung
vorgenommen.
Im Ergebnis wird in diesem Bericht eine ganze Reihe
von Hausaufgaben formuliert, die wir noch zu erledigen
haben. Ich nenne die wichtigsten: Es wird die Entwicklung einer nationalen Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt gefordert, es wird die Dringlichkeit des
Schutzes des nationalen Naturerbes unterstrichen und es
wird gefordert, Deutschland solle mehr Verantwortung
im internationalen Naturschutz wahrnehmen.
Ich will zu diesen Hausaufgaben nur so viel sagen:
Wir haben diese nationale Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt erarbeitet. Sie befindet sich derzeit in
der Ressortabstimmung. Wir werden darüber im Hause
sicher noch zu diskutieren haben. Innerhalb der Bundesregierung wird sie derzeit abgestimmt.
Die Dringlichkeit des Schutzes des nationalen Kulturerbes ist bereits in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen worden. Wir haben es immerhin geschafft,
125 000 Hektar Fläche als nationales Kulturerbe zusammenzufassen, den Verkauf zu verhindern und eine Stiftung zu organisieren. Wir debattieren derzeit auch im
Rahmen der Haushaltspolitik über die schwierigste dabei
zu lösende Aufgabe, nämlich wie wir mit dem Personal
umgehen, das bisher in der Bundesverwaltung dafür zuständig war. Wir haben es zunächst einmal geklärt. Ich
glaube, das ist ein Riesenschritt.
({0})
- Es ist selten, dass Sie von den Grünen als Erstes klatschen, aber ich glaube, es gibt noch genug Themen, über
die wir miteinander debattieren müssen.
Ich finde, es war eine gute Entscheidung der Bundesregierung, die nächste UN-Konferenz zur biologischen
Vielfalt nach Deutschland einzuladen. Im Jahre 2008
sind wir Gastgeber.
({1})
- Jetzt klatschen die Bonner zuerst. - Ich glaube, wenn
man so etwas tut, dann ist es auch richtig, darauf hinzuweisen, dass das Gastgeberland natürlich eine besondere
Verantwortung dafür hat, im eigenen Land dazu beizutragen, dass die vorhandene Artenvielfalt nicht mehr so
stark bedroht wird. Deswegen will ich zu Beginn gerne
ein paar Bemerkungen dazu machen.
Schauen Sie sich um! Wir diskutieren über dieses
Thema und mit einigen wenigen Ausnahmen, über die
wir Fachpolitiker uns sicher ganz besonders freuen, sitzen im Wesentlichen die Fachpolitiker hier. Ich glaube,
wir müssen zugeben, dass das Thema biologische Vielfalt, Artenvielfalt nicht im Mittelpunkt der öffentlichen
Debatte steht. Wir haben nicht den Eindruck, dass viele
Menschen Verständnis dafür haben.
Wann regen sich die Menschen bei uns auf? Das tun
sie, wenn sie merken, dass Wilderer in Afrika Elefanten
oder Löwen töten, weil das für uns natürlich wichtige
Symboltiere sind. Wenn es bei uns aber darum geht, ein
Biotop zu schützen, dann macht man sich schnell über
den Feldhamster oder die Mopsfledermaus lustig, weil
sie uns weniger interessieren. Man muss offen sagen:
Der Schutz unserer kleinen Biotope ist im Kern der Auftrag, den wir in unserem Land zu erfüllen haben. Der
Feldhamster und die Mopsfledermaus oder auch Bruno,
der Bär, sind eben die Tiere, die wir bei uns zu schützen
haben.
({2})
Es ist sehr schwer, den Afrikanern klar zu machen,
dass sie ihre Elefanten und Löwen nicht töten sollen,
wenn bei uns der erste Braunbär, der um die Ecke
kommt, erschossen wird.
({3})
- Ja, ich hatte viel Verständnis für die schwierige Lage
des Kollegen Schnappauf, trotzdem ist das international
schwer zu verstehen, was durch die entsprechenden Diskussionen deutlich wird. - Für die Afrikaner und die
Asiaten ist es auch schwer zu verstehen, dass wir ihnen
immer kluge Ratschläge geben, wie sie die von uns so
sehr geliebten Großtiere doch bitte schützen sollen,
wenn sie gleichzeitig sehen, dass die Artenvielfalt bei
uns dramatisch abnimmt, weil wir für die bei uns heimischen Arten relativ wenig tun und weil wir nicht bereit
sind, sie zu schützen.
Dass die Artenvielfalt bei uns zurückgeht, wird durch
ein paar Zahlen, wie ich finde, dramatisch deutlich:
Weltweit gibt es 400 000 bis 450 000 Pflanzen- und Pilzarten. In Deutschland haben wir ganze 7 Prozent davon.
Man muss wissen, dass von den Biotopen, die wir für
den Schutz dieser Pflanzen und Pilze haben, über
60 Prozent bedroht sind. Weltweit gibt es über
1,4 Millionen Tierarten. In Deutschland haben wir weniger als 4 Prozent davon. Davon sind mehr als 36 Prozent
vom Aussterben bedroht.
Das heißt, wenn wir über Artenvielfalt und Biodiversität reden, dann reden wir gleichzeitig über eine dramatische Lage in unserem Land. In Europa ist sie übrigens
nicht viel anders. Wir sind weit davon entfernt, die 2010Ziele zum Stopp des Rückgangs der weltweiten Artenvielfalt in unserem eigenen Land und in Europa zu erreichen. Wenn wir es mit dem Thema ernst meinen, dann
müssen wir es schaffen, dass das öffentliche und auch
das politische Interesse über die Fachpolitik hinausgeht.
Wir können jetzt eine Menge über den Antrag der
Grünen zur FFH-Richtlinie und über den Antrag der
Koalitionsfraktionen diskutieren. All das wird geduldiges Papier bleiben, wenn es uns nicht gelingt, beim
nächsten Mal eine Öffentlichkeit zu erreichen, die über
die hier im Parlament Anwesenden hinausgeht, was auch
mit der Tageszeit zusammenhängt, zu der wir über dieses Thema diskutieren.
({4})
- Ich sage das durchaus selbstkritisch. Diese Kritik ist
nicht an einen Einzelnen gerichtet. Aber wir müssen eine
größere Öffentlichkeit erreichen, sonst haben wir mit
diesem Thema keine Chance und sonst bleibt all das,
was wir sagen und aufschreiben, relativ bedeutungslos.
Man kann zu diesem Thema unterschiedliche Zugänge finden. Vielleicht ist der Zugang, den wir traditionell wählen, an das Verständnis zu appellieren und die
Bedeutung der Schöpfung hervorzuheben, wichtig. Aber
er ist nicht schlagkräftig genug, um andere davon zu
überzeugen, dass dieses Thema über die Fachpolitik hinaus eine Bedeutung hat. Lassen Sie mich also ein wirtschaftliches Thema aufgreifen, von dem ich glaube, dass
es im Zusammenhang mit der Bewahrung der Artenvielfalt zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.
Wenn man nicht selber ein ökologisches Verständnis
hat oder aus christlichen oder religiösen Gründen - aufgrund des Respekts vor der Schöpfungsgeschichte - einen Zugang zum Erhalt der Artenvielfalt findet, dann
gibt es einen ökonomischen Zugang, der in Zukunft
mehr in den Mittelpunkt der Debatte gestellt werden
muss. Wir wissen, dass heute 6,5 Milliarden Menschen
auf der Erde leben. In absehbarer Zukunft wird diese
Zahl auf 9 Milliarden steigen. Wir wissen, dass wir auf
der Basis begrenzter Rohstoffe, die wir traditionell nutzen, die wirtschaftliche Entwicklung dieser 6,5 Milliarden und in Zukunft 9 Milliarden Menschen vorantreiben
müssen. Wir haben nicht unbegrenzt Energie, Öl und
Gas. Wir haben auch nicht unbegrenzt Kupfer und viele
andere Rohstoffe, die wir brauchen, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben.
Wenn wir das wissen und wenn wir gleichzeitig wissen, dass die Intelligenz der Natur in Form nachwachsender Rohstoffe vielfach geeignet ist, diese begrenzten
Rohstoffe so zu ersetzen, dass man bei der Produktion
von Industriegütern oder Medikamenten keine Qualitätsverluste hat und dabei gleichzeitig eine wesentlich geringere Belastung der Umwelt durch die industrielle Produktion erreichen kann, dann ist das nicht nur eine Frage
der Vernunft und der Verantwortung, sondern auch der
ökonomischen Klugheit, stärker als in der Vergangenheit
auf diese Intelligenz der Natur zu setzen.
In Braunschweig hat das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt am Forschungsflughafen seinen Sitz. Es
experimentiert damit, traditionelle Werkstoffe in der
Luftfahrtindustrie, also zum Bau von Flugzeugen, eben
nicht mehr durch Stahl, Aluminium oder Kunststoff bereitzustellen, sondern durch nachwachsende Rohstoffe.
Es ist erstaunlich, was an Materialfestigkeit und Qualitätssicherung mit einem völlig anderen Rohstoff erreicht
werden kann. Wenn Sie mich vor ein paar Jahren gefragt
hätten, ob es möglich ist, Flugzeugteile aus nachwachsenden Rohstoffen zu bauen, dann hätte ich zumindest
etwas ungläubig geguckt.
In der Mikrobiologie, der Weißen Biotechnologie,
gibt es die Möglichkeit, Enzyme synthetisch herzustellen, die in Waschmitteln genauso gut wirken, aber die
Umwelt wesentlich weniger schädigen. Auch die Nanotechnologie bietet viele Chancen. Wir haben - das sage
ich deutlich, weil das eine kritische Debatte ist - bis hinein in die Gentechnik nicht nur Risiken, sondern auch
Chancen.
({5})
- Es klatscht zwar nur die eine Seite, aber debattieren
müssen wir über dieses Thema;
({6})
denn davor können wir uns nicht drücken.
Wenn man sehr viel Wasser nutzen muss, um aus einer Kartoffel ein bisschen Stärke für die chemische
Industrie zu gewinnen, und wenn es in Zukunft eine Kartoffelsorte gibt, bei der nicht die Gefahr der Ausstäubung oder der Kontamination auf andere landwirtschaftliche Flächen besteht und die auch nicht die
Mikroorganismen in der Erde verändert, bei der man
aber gleichzeitig weniger Wasser braucht, um sogar
mehr Stärke für die chemische Produktion bereitzustellen, dadurch weniger Abwasser verbraucht und damit
die Umwelt weniger belastet. Dann müssen wir zumindest darüber reden, ob es sich nicht lohnt, diesem Forschungsprozess nachzugehen.
({7})
- Ich sage nicht, dass man darüber nicht unterschiedlicher Auffassung sein kann. Aber man kann dieser Frage
nicht ausweichen, wenn man weiß, dass aus 6,5 Milliarden irgendwann 9 Milliarden Menschen werden.
({8})
- Die Frage, ob wir dieses Wissen nur dazu benutzen, es
uns gegenseitig vorzuhalten, sagt auch etwas über die
Ernsthaftigkeit der Debatte aus.
Mir geht es in der Sache um Folgendes: Wenn wir
merken, dass wir mit dem altruistischen Zugang, die Artenvielfalt zu schützen, nicht weit genug gekommen
sind, müssen wir einen zweiten Zugang, nämlich ökonomische Vernunft, bei der Frage anmahnen, ob wir zulassen, dass die Artenvielfalt immer geringer wird. Denn
wenn die Intelligenz der Natur in Zukunft stärker genutzt
werden soll, dann darf man natürlich nicht die Dummheit begehen, den Bestand der Natur ständig zu verringern, wodurch immer mehr Pflanzenarten, immer mehr
Tierarten, immer mehr Fläche, immer mehr Biotope verloren gehen,
({9})
sondern dann muss ein ökonomisches Interesse bestehen, die Artenvielfalt zu erhalten. Ich sage das selbstverständlich nicht, um damit eine Ökonomisierung herbeizuführen, bei der nur noch das Bestand hat, was einem
wirtschaftlichen Verwertungsinteresse entspricht.
Herr Minister Gabriel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin - was auch ermöglichen
würde, die Redezeit genauer einzuschätzen?
Wenn ich erst den Gedanken zu Ende führen darf,
gerne.
Ich meine ausdrücklich nicht, dass man die Rechtfertigung des Naturschutzes aus sich selbst heraus an die
Seite stellen und nur noch ökonomisches Verwertungsinteresse im Blick haben sollte. Aber mich bedrückt, dass
diese Diskussion die Mitte der Gesellschaft noch lange
nicht erreicht hat. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass bei der Frage, ob wir die Artenvielfalt erhalten
oder weiter dazu beitragen wollen, dass sie zerstört wird,
die ökonomische Vernunft stärker in den Blick rückt.
({0})
Bitte schön, Herr Koppelin.
Herr Bundesminister, da mir an Ihrer Rede auffällt,
dass überwiegend nur CDU/CSU und FDP klatschen:
Kann es sein, dass die SPD-Fraktion das, was Sie sagen,
noch nicht begriffen hat?
Nein, die SPD-Fraktion hat das von mir so oft gehört
und so viel Beifall geklatscht, dass sie sich derzeit mit
freundlicher Zustimmung zufrieden gibt. Das ist der einzige Grund, Herr Kollege Koppelin.
({0})
Ich habe gedacht, die Ernsthaftigkeit der Debatte ist
durch Ihre Anwesenheit größer. Manchmal nützt natürlich Anwesenheit allein nichts, Herr Koppelin; man
muss auch versuchen, in die Sache einzusteigen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe - das sage ich in
aller Offenheit - jetzt nichts von dem vorgetragen, was
mir das Haus klugerweise zu dem Thema aufgeschrieben
hat. Ich könnte eine Menge zur FFH-Richtlinie und zu
anderen Themen sagen. Ich bin froh, dass wir es geschafft haben, dass die Klagen zurückgenommen worden
sind, dass wir alle pünktlich gemeldet haben und dass
wir Natura 2000 erreicht haben. Das ist übrigens auch
ein Erfolg der großen Koalition, in sehr vertrauensvoller
Zusammenarbeit mit den Ländern. Auf diese Ausführungen verzichte ich jetzt und gebe sie notfalls zu Protokoll,
falls dazu die Chance besteht.
Ich wäre aber dankbar, wenn Sie mithelfen würden,
die entscheidende Menschheitsfrage, wie wir mit unserer
biologischen Vielfalt in den kommenden Jahren umgehen, mehr in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen und
vielleicht etwas ernsthafter mit dem Thema umzugehen,
als sich nur gegenseitig vorzuwerfen, wer gerade
klatscht und wer nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Herr Minister, es geht nicht, dass Sie Ihre Rede zu
Protokoll geben. Aber ich denke, die Werbung war so
deutlich, dass die Kollegen, die das alles nachlesen wollen, sich Ihr Manuskript gern bei Ihnen abholen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Sorge um die sich beschleunigende Abnahme der Artenvielfalt ist groß. Die Abnahme betrifft alle Regionen dieser Welt. Es geht um den Erhalt der Biodiversität. Das ist
ein schweres Wort. Wenn ich damit vor Ort argumentiere, dann fragen alle Hörer erst einmal: Was, bitte
schön, ist das denn? - Ich denke, wir sollten, um das
Thema ein bisschen unter die Leute zu bringen, diesen
Begriff vielleicht nur in den Fachgremien benutzen. Ich
spreche jetzt - ich hoffe, ich halte es durch - von der Artenvielfalt.
Das ist auch für die FDP ein wichtiges Thema. Wir
haben uns diesbezüglich gerade in dieser Sitzungswoche
mit den Naturschutzverbänden getroffen, um herauszufinden, was für sie die Topthemen sind. Dabei wurde
deutlich, dass auch dieses Thema bei ihnen ein
Topthema ist.
Ich will jetzt keine Zahlen nennen, wie groß der Verlust ist oder wie weit wir bereits von der Substanz leben,
sondern ich will nur darauf hinweisen, dass wir von der
Substanz leben und dass wir dafür sorgen müssen, dass
dieser Zustand gestoppt wird. Um das wirklich zu schaffen, bedarf es sehr starker Anstrengungen. Der Minister
hat den Erfolg eben schon zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Die Bundeskanzlerin hat angekündigt,
den Schutz der biologischen Vielfalt unter der EU-Ratspräsidentschaft ab 2007 und der Führung des G-8-Gipfels zu einem Topthema zu machen.
Ich möchte - aus nationaler Sicht betrachtet - darauf
hinweisen, dass es zum guten Stil gehört - das gilt zumindest für die Liberalen -, sich mit Vertretern von wissenschaftlichen Einrichtungen zu treffen, um das eigene
Wissen zu komplettieren. Wir haben in diesem Sommer
wissenschaftliche Einrichtungen insbesondere an der
Küste besucht, um uns über die Meere zu informieren.
Dort ist das Hauptaugenmerk zunächst einmal darauf gerichtet, die Artenvielfalt zu dokumentieren; denn die
Meere sind noch weitgehend unerforscht.
Ich bin von den Wissenschaftlern darauf hingewiesen
worden, dass wir Politiker unser Hauptaugenmerk weniger auf Grenzwerte oder Konzentrationen als auf Wirkungsketten im Ganzen richten sollten. Das bedarf eines
regen Dialogs und Kontakts mit den Fachleuten.
({0})
Deutschland wird im Mai 2008 die neunte CBD-Vertragsstaatenkonferenz der Vereinten Nationen ausrichten. Ich hatte die Möglichkeit, an der siebten Konferenz
in Malaysia teilzunehmen. Ich kann bezeugen, dass die
Verhandlungsführung der deutschen Mitarbeiter dort ein
sehr hohes Ansehen genossen hat. Das wünsche ich mir
auch für die Zukunft. Wir waren dort Ansprechpartner
für viele kleinere Nationen. Ich denke, wir waren insbesondere deswegen so interessant für die anderen, vor
allem die kleineren Länder, weil wir deren Belange, kulturellen Hintergründe und Traditionen sensibel aufgenommen haben. Das wünsche ich mir auch für die zukünftigen CBD-Konferenzen.
({1})
Nun möchte ich die weltweiten Bemühungen um den
Erhalt der biologischen Vielfalt ansprechen. Ich denke,
es geht dabei um zwei vordringliche Ziele. Zum einen
geht es darum, Wissensdefizite aufzuarbeiten, und zwar
nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch durch die
Nutzung und Stärkung der vernetzten internationalen
Forschungsaktivitäten. Zum anderen geht es auch darum, konkrete und praktikable Instrumente für die Zukunft anzubieten, um dort, wo entsprechende Entwicklungen erkennbar sind, irreversible Schäden abwenden
zu können.
Die bisherigen CBD-Vertragsstaatenkonferenzen haben deutlich gemacht, dass der Hauptanteil des biologischen Reichtums in wenigen Ländern der Welt konzentriert ist. In 15 Ländern finden sich 80 Prozent der
biologischen Vielfalt. Von diesem Reichtum können die
Länder profitieren. Er bietet ihnen eine Entwicklungschance bzw. die Chance, die Armut zu überwinden.
Deshalb sind Anstrengungen insbesondere vonseiten der
Industrienationen notwendig, die über das notwendige
marktwirtschaftliche und technische Know-how verfügen, um den Support leisten zu können. Statt einseitig
auf ihren Nutzen bedacht zu sein, sollten sie sich als
Partner mit entsprechenden Pflichten verstehen, um diesen Ländern die Wertschöpfung ihrer eigenen Ressourcen zu ermöglichen. Das ist uns sehr wichtig.
({2})
Letztlich werden wir alle weltweit davon profitieren,
wenn wir so vorgehen. Denn der Schutz der biologischen Vielfalt bietet in einer globalisierten Welt auch
den nachfolgenden Generationen die Chance, das genetische Reproduktionspotenzial zu erhalten und damit zusätzliche Medikamente und Heilverfahren zu entwickeln.
Ich möchte zum Schluss noch auf den Antrag der
Grünen eingehen, den ich in den meisten Punkten als
erledigt ansehe. Auch hierbei ist wieder die Tendenz zu
erkennen, im vorauseilenden Gehorsam die europäischen Vorgaben über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus zu erfüllen. Das Mahnverfahren gegen Deutschland
ist aber inzwischen eingestellt worden. Insofern bin ich
zufrieden. Ich möchte an dieser Stelle all den Unbekannten herzlich danken, die im Hintergrund dafür gesorgt
haben, dass es zu einem lautlosen Abschluss des Verfahrens gekommen ist.
Die Broschüre des BMU ist meines Erachtens gut zu
lesen. Sie ist mit den vielen Bildern auch nett anzuschauen. Sie ist letztlich eine gute Broschüre für den
Bürger, nicht unbedingt für mich als Politikerin. Die
Schnittmengen werden sehr gut dargelegt. Es wird aufgezeigt, was beispielsweise Landwirtschaft, Industriepolitik und die Jagd mit Naturschutz zu tun haben. Ich
wünsche mir aber, dass zukünftige Broschüren etwas
konkreter sind und Handlungsanweisungen für die Politik geben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche allen ein schönes Wochenende.
({3})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Marie-Luise Dött.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
Freitagnachmittag. Wir denken langsam an das Wochenende und die Arbeit in unseren Wahlkreisen und hoffen,
etwas Zeit mit unseren Familien, Freunden, Verwandten
und Bekannten zu verbringen; das ist auch richtig so.
In den letzten Tagen haben wir im Plenum des Bundestages sowie in den Ausschüssen, den Fraktionen und
den Arbeitsgruppen über viele so genannte harte Themen diskutiert und entschieden, von der Abrüstungspolitik über die Rentenpolitik bis hin zur Bekämpfung des
Terrorismus. Am Ende der Sitzungswoche widmen wir
uns nun einem so genannten weichen Thema, dem Naturschutz.
Dem möchte ich aber sofort widersprechen; denn der
Naturschutz ist in Wahrheit gar kein weiches Thema.
Oder ist die Stabilisierung des Klimas, die die Natur leistet, etwa ein weiches Thema? Ist die Versorgung mit sauberer Luft etwa ein weiches Thema? Ist fruchtbarer Boden, den die Natur bildet, ein weiches Thema? Ist
trinkbares Wasser, das eine intakte Natur zur Verfügung
stellt, ein weiches Thema? Sind etwa erneuerbare Rohstoffe nur dann ein hartes Thema, wenn wir über deren
Besteuerung sprechen? Natürlich nicht! Bei all den Fragen nach den Funktionen der Natur und den Herausforderungen des Naturschutzes geht es um nicht mehr und
nicht weniger als um unsere natürlichen Lebensgrundlagen, um die Basis unserer bloßen Existenz. Das als
weich zu bezeichnen wäre schlicht verfehlt.
({0})
Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist
das härteste Thema überhaupt. Die Natur braucht uns
nicht, aber wir brauchen die Natur. Ich könnte jetzt leicht
und locker einige Gefährdungen aufzählen, denen unsere
natürlichen Lebensgrundlagen heutzutage ausgesetzt
sind. Ich könnte die Degradierung von Ökosystemen
nennen, auf die Zerstörung der Regenwälder hinweisen,
die Überfischung der Meere anprangern, die Folgen des
Klimawandels analysieren sowie auf das größte Artensterben seit der Zeit der Dinosaurier eingehen. Diese und
andere Gefährdungen werden aber bei allen möglichen
Gelegenheiten und zur Genüge aufgezählt. Ich will das
nicht wiederholen. Zwar müssen wir - selbstredend - die
Gefährdungen beim Namen nennen, brauchen wir differenzierte wissenschaftliche Fakten über die Natur, die
Ökosysteme und deren Gefährdungen, um unser Handeln danach auszurichten. Aber viel zu oft verkürzt sich
diese Übung auf das Entwerfen von Katastrophenszenarien, das Malen düsterer Zukunftsbilder und das Entwickeln von Horrorvisionen. Genau das brauchen wir
nicht. Solche Bilder machen Angst und Angst ist ein
schlechter Ratgeber.
({1})
Der Naturschutz hat in der Vergangenheit viel zu oft
mit düsteren Bildern operiert. Er war viel zu oft eine
Spielwiese von fundamentalistischen Zukunftspessimisten. Er hat sich damit oft in eine Ecke manövriert, in der
ihn keiner mehr so richtig ernst genommen hat. In diese
Ecke gehört der Naturschutz aber nicht. Dafür ist er viel
zu wertvoll und wichtig. Um die unzweifelhaft vorhandenen und wachsenden Probleme beim Schutz unserer
natürlichen Lebensgrundlagen wirklich anzugehen,
brauchen wir keinen fundamentalistischen Zukunftspessimismus. Angst lähmt Kraft und verhindert Kreativität.
Wir brauchen aber viel Kreativität und Kraft. Wir brauchen einen optimistischen, zukunftsorientierten Umweltund Naturschutz. Diverse Beispiele hat unser Minister
Gabriel schon gebracht; darauf brauche ich jetzt im Speziellen nicht einzugehen. Vielen Dank dafür.
Wir müssen den Menschen und insbesondere den in
Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortlichen die Freiheit geben, Kreativität und Kraft für den Schutz der Umwelt zu entwickeln, und wir müssen sie in die Lage versetzen, mit dieser Freiheit verantwortlich umzugehen.
({2})
Eine Gesellschaft, in der alle aus tief empfundener Verantwortung heraus schonend mit ihrer Umwelt umgehen,
erreicht letztendlich einen besseren Schutz von Umwelt
und Natur, als dies staatliche Regelungsflut jemals
könnte. Dies ist keine Schwärmerei über ein ideales Gesellschaftsbild. Dies wird ganz konkret, wenn es darum
geht, neue detaillierte Vorschriften zu ersinnen oder lieber Ziele zu vereinbaren und einen Rahmen zu definieren, in dem viele verantwortliche Akteure ihre Kreativität einsetzen, um die gemeinsamen Ziele so effektiv wie
möglich zu erreichen. Hier gilt der Grundsatz: mehr Umweltschutz durch mehr Freiheit.
({3})
Das Leitplankenkonzept des Wissenschaftlichen
Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, WBGU, ist in meinen Augen ein solcher zukunftsorientierter Ansatz. Oft wird davon gesprochen,
einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des
Schutzes der Natur und den berechtigten Interessen der
Nutzung zu finden. Das klingt zunächst gut und ist bei
vielen Einzelentscheidungen auch der richtige Weg. Die
Erfahrung lehrt aber, dass allzu oft die Natur angesichts
übermächtiger Interessen im Endeffekt den Kürzeren
zieht und ein vermeintlich gerechter Ausgleich der Interessen einer Prüfung am Prinzip der Nachhaltigkeit nicht
standhält, weil der Naturhaushalt eben doch derart belastet wird, dass zukünftigen Generationen Entwicklungsund Nutzungsmöglichkeiten genommen werden. Das
Leitplankenkonzept des WBGU sieht demgegenüber
vor, Grenzen zu definieren, deren Überschreitung jetzt
oder in der Zukunft intolerable Folgen mit sich bringt.
Das Überschreiten dieser Leitplanken in dem Bereich
der Nichtnachhaltigkeit sollte dabei so weit wie möglich
verhindert werden. Ich halte das deshalb für einen zukunftsorientierten Ansatz, weil innerhalb der Leitplanken breite Entwicklungsspielräume eröffnet werden.
Dieses Konzept, auf den Schutz der Ökosysteme angewandt, braucht keine Katastrophenszenarien, sondern
öffnet den Blick für eine nachhaltige Zukunft. Genau das
ist es, was wir brauchen.
({4})
Eine der zentralen Forderungen, also gewissermaßen
eine Leitplanke, die sich daraus für die globale Ebene ergeben und die auch der WBGU formuliert hat, ist, repräsentative Ausschnitte aller großen Ökosysteme der Erde
zu schützen. Hierfür wird ein Netzwerk von Schutzgebieten benötigt, das repräsentative Beispiele aller natürlichen Ökosystemtypen der Erde einschließt. Wir tragen
in Deutschland beispielhaft mit der Sicherung des nationalen Naturerbes zu einem solchen globalen Schutzgebietsnetz bei. Darauf können wir stolz sein. Wir leisten
damit auch einen Beitrag zum Schutz des Klimas; denn
ein erheblicher Teil des Kohlenstoffs ist in den Wäldern,
den Mooren und auch in den tierischen Organismen gebunden. Wenn wir diese schützen, verhindern wir zugleich die Freisetzung des darin gebundenen CO2 und
damit eine Verschärfung des Treibhauseffektes. Mit gutem Recht kann man diese Zusammenhänge sehr kurz
zusammenfassen: Naturschutz ist Klimaschutz.
Dies gilt natürlich ganz besonders dort, wo immer
noch in erschreckend hohem Maße und oft mit wachsender Tendenz Raubbau an der Natur betrieben wird.
Die CO2-Mengen, die durch die Abholzung des Regenwaldes oder durch die Vernichtung von Mooren und anderen Feuchtgebieten freigesetzt werden, tragen ganz erheblich zum Treibhauseffekt bei. Diesen Ländern dabei
zu helfen, die Ursachen für den Raubbau zu überwinden,
ist also nicht nur eine moralische Pflicht; es ist in unserem ureigenen Interesse. Wir müssen unserer internationalen Verantwortung gerecht werden, die wir als große
Industrienation haben. Dazu gehört, dass wir zuerst unsere Hausaufgaben machen. Nur dann können wir mit
Recht von anderen fordern, ihre Verantwortung ebenfalls
wahrzunehmen.
({5})
Ich weiß, dass das von manchen nicht gerne gehört wird.
Aber wir müssen, wie ich schon sagte, in unserem ureigenen Interesse Vorreiter, Beispielgeber und Vorbild bei
der Verwirklichung des Prinzips der Nachhaltigkeit sein.
({6})
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über
die biologische Vielfalt, die viel zitierte CBD, ist ein
modernes Instrument des Naturschutzes, weil es den
Schutz der biologischen Vielfalt und ihre nachhaltige
Nutzung integriert. Dieses Übereinkommen berücksichtigt mit dem Ziel des gerechten Ausgleichs der ökonomischen Vorteile, die aus der Nutzung der genetischen Ressourcen der biologischen Vielfalt entstehen, auch die
berechtigten Wünsche der Entwicklungsländer nach einer nachhaltigen Entwicklung. Nur zur Erinnerung: Biologische Vielfalt ist die Vielfalt der Arten, die Vielfalt
der Lebensräume, in denen diese Arten leben, und die
genetische Vielfalt innerhalb der Arten; Frau Brunkhorst
hat darauf schon hingewiesen. Die CBD ist also ein
wahrhaft umfassendes Übereinkommen und das macht
sie für die globale Umweltpolitik so wertvoll.
Deutschland als Vertragspartei des Übereinkommens
und als Ausrichter der nächsten Vertragsstaatenkonferenz hat eine besondere Verantwortung, an der Umsetzung und Weiterentwicklung der CBD konstruktiv mitzuarbeiten. Wir fordern die Bundesregierung deshalb in
dem von den Koalitionsparteien heute vorgelegten Antrag auf, eine umfassende und anspruchsvolle nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt als Beitrag zu einer
weltweiten nachhaltigen Entwicklung vorzulegen. Wir
unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich darin,
die bereits begonnenen Arbeiten zu einer solchen Strategie engagiert fortzusetzen. Ich freue mich darüber, dass
es diese Bundesregierung ist, die nach sieben Jahren
Rot-Grün diese Strategie vorlegen wird.
({7})
In der vergangenen Woche fand hier in Berlin die
Deutschlandpremiere des Films des früheren amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore über seinen Einsatz für
den Umwelt- und insbesondere den Klimaschutz statt.
Ungeachtet der Rolle Al Gores, die jeder bewerten mag,
wie er es für richtig hält, zeigt dieser Film sehr eindrucksvoll, was Klimawandel ist, was seine Ursachen
sind und was wir tun können. Ich würde mir wünschen,
dass die Geografie-, Biologie-, Religions- und Politiklehrer Deutschlands mit ihren Klassen in die Kinos gehen und diesen Film anschließend im Unterricht besprechen. Das wäre für die Bildung eines größeren
Umweltbewusstseins sehr wichtig.
Ich erwähne diesen Film aber auch aus einem anderen
Grunde. Natürlich, so möchte man es fast formulieren,
werden in dem Film auch Schreckensszenarien aufgezeigt. Aber dies ist nur ein kleiner Teil der Inhalte. Am
Ende steht die Botschaft: Wir haben die Fähigkeit, die
Kreativität und die Instrumente, die Dinge zu ändern.
Wir müssen es nur wollen. Allein unser Wille ist entscheidend. - Dies ist eine positive und zukunftsgerichtete Botschaft, die die Menschen zu verantwortlichem
Handeln auffordert.
({8})
Diese Botschaft müssen wir an die Menschen weitergeben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Lutz
Heilmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Dött, ich muss Sie leider enttäuschen: Ich
bin weder Ökofundamentalist noch Pessimist. Ich bin
Optimist. Ich liebe das Leben und ich liebe meine Familie.
({0})
Sie haben den herausragenden Stellenwert des Naturschutzes gerade deutlich gemacht. Ich möchte nur daran
erinnern, dass wir hier am 30. Juni eine Föderalismusreform verabschiedet haben, die den Naturschutz in die
Kleinstaaterei zurückgebracht hat. Wir werden der
Dinge harren, die da auf uns zukommen.
Doch nun zu dem, was ich eigentlich sagen wollte.
Am Donnerstag titelte die „Süddeutsche Zeitung“ auf
Seite 2: „Tropennächte in Freiburg“. Am Mittwoch
konnte man ebenfalls in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen, dass uns langfristig um bis zu 50 Meter steigende
Wasserspiegel erwarten werden. Wissen Sie, welche
Auswirkungen sich daraus für das Land Schleswig-Holstein, das Land zwischen den Meeren, ergeben? Ein
Beispiel: Der Bungsberg bei Lübeck hat eine Höhe von
circa 140 Metern über dem Meeresspiegel. Herr Kollege
Liebing - ich weiß, Sie wohnen auf Sylt -, haben Sie
sich schon mal nach einer neuen Wohnung umgeschaut? Ich möchte zukünftig keinen anderen Wahlkreis haben.
Ich möchte weiterhin in Schleswig-Holstein aktiv sein.
Darum müssen Maßnahmen ergriffen werden, die sicherstellen, dass wir weiterhin dort leben können.
Angesichts der Auswirkungen des Klimawandels
wird die heutige Debatte der Thematik nur zum Teil gerecht. Lassen Sie mich dazu einige grundsätzliche Gedanken äußern. Es wurde bereits gesagt: Die Natur ist
unsere Lebensgrundlage; der Mensch ist Teil der Natur.
Die Natur schützt unser Leben und das Leben der nachfolgenden Generationen. Sie ist auch - der Bundesminister hat schon darauf hingewiesen - ein wichtiger Rohstofflieferant. Bei einer weiteren Schädigung der Natur
durch Artenvernichtung, durch Zerstörung von Lebensräumen sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, der Natur
eine Chance im Klimawandel zu geben!
Wird die derzeitige Politik der Bundesregierung den
vor uns liegenden Aufgaben gerecht? Ich sage: Nein.
Vielmehr liefert sie Stoff für ein Drama nach Shakespeare.
Herr Minister, Sie sprachen die ökologische Vernunft an.
Vor Ort lassen Sie das vermissen. Gerade auch Politiker
aus Ihrer Partei betreiben zum Beispiel in Lübeck den
Ausbau des Flughafens und damit eine weitere Einschränkung von FFH-Gebieten.
Nun einige Gedanken zur Biodiversitätsstrategie.
1993 hat die Bundesrepublik Deutschland die Konvention aus dem Jahr 1992 unterschrieben. Jetzt haben wir
das Jahr 2006. Sage und schreibe 14 Jahre sind seither
ins Land gegangen. Den Verlust und die Gefährdung von
Tier- und Pflanzenarten hat der Minister bereits angesprochen. Ich frage mich, warum eine fertige Strategie
zum Schutz der Artenvielfalt in der Schublade liegen
bleibt. Bei Hartz IV haben Sie nicht so viele Skrupel.
Dazu jagen Sie im Prinzip jeden Monat eine Verschärfung und weitere Diskriminierungen der Betroffenen
durch dieses Haus.
Nun noch einige Gedanken zu den vorliegenden Anträgen. Der Antrag der Koalition wird unserer Aufgabe
nicht gerecht. Frau Dött, Sie haben es bereits gesagt: Wir
müssen unsere Hausaufgaben hier machen. - Tun Sie
das dann aber auch! Schreiben Sie das in Ihren Antrag
und sprechen Sie nicht nur von internationaler Verantwortung, wie Sie es in diesem Antrag tun.
Lassen Sie uns Vorbild sein und auf Verkehrsprojekte
und Infrastrukturprojekte verzichten, die diesem Ziel widersprechen.
Nun noch einige Gedanken zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Auch ich frage
mich, was Sie sieben Jahre lang in der Regierungsverantwortung getan haben. Sie hatten schon vor 2005, als
endlich ein Referentenentwurf für eine Strategie ins Gespräch kam, die Möglichkeit, hier aktiv zu werden.
Jetzt zur FFH-Problematik. Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, haben in Ihren Antrag
geschrieben, dass die Bundesregierung aufgefordert
werden soll, das EuGH-Urteil zügig umzusetzen. Das ist
richtig, aber überflüssig. Die Bundesregierung - der
Herr Minister unterhält sich gerade ({1})
müsste sich an Recht und Gesetz halten und das Urteil
umsetzen, obwohl ich mir angesichts der von der Bundesregierung zu dieser Thematik vorgelegten Eckpunkte
nicht sicher bin, ob das der Fall sein wird. Sie wollen
sich Zeit nehmen bis zum Jahre 2007 - allein diese Zeitverzögerung macht deutlich, dass meine Zweifel wohl
berechtigt sind -, obwohl - das ist für mich nicht einsichtig - nach Einschätzung der Bundesregierung das
Bundesnaturschutzgesetz lediglich in fünf Paragrafen
geändert werden muss.
Zurück zum Antrag der Fraktion der Grünen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Fraktion, das Bundesnaturschutzgesetz, das Sie einst als Erfolg Ihrer Regierungszeit betitelten, ist, wie gerade vom
EuGH festgestellt wurde, ein Freifahrtschein zur Vernichtung von Arten. Das sollte Ihnen zu denken geben.
Ich appelliere an Sie: Hören Sie auf, an dem Ast zu
sägen, auf dem wir sitzen! Lassen Sie uns gemeinsam
- die Betonung liegt auf „gemeinsam“ - endlich effektive Schritte zum Schutz der Natur und zum Schutz der
Artenvielfalt tun. Dazu gehören zum Beispiel eine wirkliche Vernetzung von Schutzgebieten im Rahmen von
Natura 2000, eine wirklich anspruchsvolle Biodiversitätsstrategie, eine Verringerung der Flächenversiegelung
und vieles andere mehr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun.
Lassen Sie uns ganz einfach anfangen!
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe
verbliebenen Kolleginnen und Kollegen hier im Raum!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Dass in ungefähr 490 Tagen die Bundesrepublik Gastgeberin der 9. Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen über die Biologische
Vielfalt ist, ist mehrfach erwähnt worden und keinem im
Raum neu. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass in
diesen 490 Tagen rund 49 000 Arten diesen Erdball verlassen haben werden. Sie verschwinden - Sie beschrieben es vorhin - mit all ihrem Potenzial, mit allem, was
mit Blick auf nachwachsende Rohstoffe und medizinische Anwendung in ihnen steckt, mit ihrer Schönheit und
mit ihrer Vielfalt. Während in den letzten 200 Millionen
Jahren ungefähr 90 Arten pro 100 Jahre ausgestorben
sind, schaffen wir heute 100 Arten an einem Tag.
Ich denke, diese Zahlen haben deutlich gemacht, wie
groß der Handlungsdruck ist; denn das kann nicht gut
gehen. Ich frage Sie, Frau Dött, welche fundamentalistischen Zukunftspessimisten Sie eigentlich gemeint haben. Auf jeden Fall haben die es nicht zu verantworten,
dass wir an diesen Punkt gekommen sind, an einen
Punkt, der wahrlich bedenklich ist. Angesichts der Situation, in der wir uns befinden, finde ich die Debatte, die
wir hier führen, teilweise ziemlich oberflächlich.
({0})
- Warum beschwören Sie denn immer wieder dieses
Fundamentalistenbild, wenn es darum geht, Dinge ernsthaft beim Namen zu nennen und zu sagen, wie kritisch
eine Situation ist? Es hilft nichts, nur zu sagen, so
schlimm werde das alles schon nicht, wir würden die
Kurve noch kriegen.
Wir wissen, dass der Klimawandel eines der größten
Probleme für die Artenvielfalt ist. Es wird wärmer. Vielen Pflanzen mag das gut gefallen - die Stechpalme ist
Richtung Norden unterwegs; das ist schön -, anderen
wird es zu warm. Sie verlassen diese Erde, weil sie den
Klimawandel nicht überstehen. Die Arten, die nicht aufgrund der Folgen des Klimawandels sterben oder sich
zurückziehen müssen, verschwinden, weil ihnen die bestäubenden Insekten fehlen oder weil wir ihre Lebensräume komplett vernichten. Auch da gehen wir munter
zur Sache.
Es ist richtig, dass wir heute diese Debatte führen.
Wir müssen uns aber auch fragen, wie konsequent wir
dabei sind. Klimawandel ist - ein jeder spricht davon ein wichtiges Problem. Aber sobald wir über Verkehrspolitik reden, hört die Unterstützung schon auf.
({1})
Es ist schwer, mit all jenen, die den Klimawandel beklagen, über eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Autobahnen zu reden. Doch beides hängt unmittelbar zusammen.
({2})
Es heißt also, mit den Herausforderungen umzugehen
und solche Debatten ernsthaft zu führen. Deshalb ist es
richtig, dass der Staatssekretärsausschuss im Jahre 2005
beschlossen hat, die Biodiversität zum Schwerpunktthema der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie für
das Jahr 2006 zu machen. Nur so ist diese Nachhaltigkeitsstrategie wirklich komplett. Dieses Thema gehört
unbedingt dazu.
Herr Heilmann, Sie haben gefragt, was wir bisher gemacht haben. Das Bundesnaturschutzgesetz war ein
riesengroßer Fortschritt.
({3})
Die Punkte, an denen nachgebessert werden muss, haben
wir schon damals angesprochen. Es ist doch völlig normal, dass man an einem bestehenden Gesetz Verbesserungen vornimmt. Wer damals die Debatte miterlebt hat,
weiß, was für ein elementarer Fortschritt das Bundesnaturschutzgesetz war.
({4})
Reden Sie mit den Verbänden! Sie werden es bestätigt
bekommen.
({5})
Die große Koalition, die sich jetzt mit dem Thema befasst, fängt ja nicht bei null an. Es gab ja bereits den Entwurf einer Biodiversitätsstrategie aus dem August 2005.
Allerdings muss ich sagen, dass das Arbeitsklima der
großen Koalition im Moment von einer ziemlichen Gemächlichkeit gekennzeichnet ist. Ich glaube nicht, dass
das an Ihnen liegt, Herr Minister. Es ist bestimmt nicht
einfach - Sie deuteten das auch schon an -, dieses
Thema zwischen den Ressorts zu verhandeln. Wir müssen aber mehr daraus machen, als nur darüber zu reden.
Ich war dabei, als die Bundeskanzlerin in Bonn zu dem
Festakt „100 Jahre Naturschutz als Staatsaufgabe“ eine,
wie ich fand, wunderbare Rede gehalten hat. Nur habe
ich leider den Eindruck, dass das Beste an der Rede ist,
dass man sie zitieren kann. Ich habe nicht den Eindruck,
dass das Gesagte bereits Grundlage des Regierungshandelns ist.
Undine Kurth ({6})
Wenn wir uns als Gastgeber der 9. Vertragsstaatenkonferenz nicht blamieren wollen, dann müssen wir da
deutlich mehr Druck machen, mehr Tempo vorlegen.
Wie gesagt, Herr Minister, unsere Unterstützung haben
Sie dabei. Wir wissen, dass das nicht leicht sein wird,
aber natürlich wenden wir uns auch an Sie und sagen: Da
muss einfach mehr Druck in die Hütte.
({7})
Es ist schon mehrfach erwähnt worden: Es ist nicht
Sache der anderen, nicht der Dritten und Vierten Welt,
der Entwicklungsländer, uns die Biodiversität zu erhalten. Das ist, bitte schön, unsere ureigene Aufgabe. Da
müssen wir vorbildlich vorangehen. Wir können nicht
von anderen verlangen, etwas zu tun, wozu wir nicht bereit sind.
({8})
Wir brauchen zum Beispiel eine Entkopplung von
Wirtschaftswachstum und Bodenverbrauch. Das ist
allen klar. Aber wenn wir das Ziel, das wir immer propagieren, nämlich im Jahr 2020 den täglichen Flächenverbrauch auf 30 Hektar reduziert zu haben - nicht mehr,
wie heute, 100 Hektar, sondern nur noch 30 Hektar am
Tag zu verbrauchen -, wirklich erreichen wollen, dann
müssen wir endlich in die Puschen kommen.
Es gibt noch mehr solcher Themen.
Wenn wir alle ernst meinen, dass uns der Erhalt der
Artenvielfalt am Herzen liegt, dann müssen wir uns fragen lassen, warum wir es nicht einmal hinbekommen,
gemeinsam so einfache Anfangsschritte wie den, ein
Verbot des Imports von Wildvögeln zu erlassen - jeder
weiß, wie viele Arten dadurch gefährdet werden, was
das für riesige Entnahmen aus der Natur sind -, zu beschließen, oder warum wir nicht einmal ein Urwaldschutzgesetz hinbekommen.
({9})
Leider haben Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, dem nicht zugestimmt.
Frau Brunkhorst, Sie haben richtigerweise angesprochen, dass wir relativ wenig über das maritime Leben
wissen. Es ist ein großer, unbekannter Kontinent. Trotzdem sind wir nicht in der Lage, die Schleppnetzfischerei zu verbieten. Wir wissen überhaupt nicht, was wir da
anrichten, aber machen fröhlich weiter. Dann können wir
uns diese Bekenntnisreden hier sparen. Entweder sind
wir bereit zu handeln, oder wir lassen es.
({10})
Richtigerweise ist angesprochen worden, dass es ein
schwer zu vermittelndes Thema, ein sperriges Thema ist.
Die 9. Vertragsstaatenkonferenz ist eine wunderbare Gelegenheit, eine Kommunikationsstrategie vorzulegen,
die mehr Menschen erreicht und die dieses wichtige
Thema stärker in das Bewusstsein vieler holt, vor allem
in das Bewusstsein der Entscheider in den anderen Häusern; denn was uns unter den Begriffen der - angeblichen - Entbürokratisierung, der Vereinfachung und der
Verschlankung an Zurückfahren von Standards und Zurückfahren von notwendigen Auseinandersetzungen und
Prüfungen im Sinne des Naturschutzes und des Artenschutzes alles angeboten wird, ist teilweise verblüffend.
Ich habe den Eindruck: Nicht nur in den anderen Häusern, sondern auch in den Industrie- und Handelskammern muss Umweltbildung wirklich zu Erfolgen führen.
Es ist nötig, dass wir uns alle endlich deutlich machen, ob uns dieses Thema wichtig ist oder nicht. Wenn
es uns wichtig ist, dann müssen wir uns auch unbequeme
Auseinandersetzungen zutrauen, dann müssen wir denen
widersprechen, die sagen: Das geht gerade nicht, das
können wir uns im Moment nicht leisten, das hemmt die
wirtschaftliche Entwicklung. - Wir müssen den Mut haben, auch Unbequemes deutlich und laut auszusprechen.
Ich danke Ihnen und fordere Sie auf, das zu tun.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dirk
Becker.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
möchte zu Beginn eines feststellen: Trotz einiger inhaltlicher Unterschiede waren Sie, Frau Brunkhorst, Frau
Dött und Frau Kurth, in großen Teilen sehr bemüht, sich
auf die Sache zu beschränken. Das macht deutlich, dass
uns dieses Problem gleichermaßen beschäftigt, weil es
eine große Herausforderung nicht nur für die Politik ist.
Herr Heilmann, Sie sind selbst schuld, dass ich Sie
nicht mit erwähne. Ich muss ganz ehrlich sagen: Das
Beste an Ihrer Rede waren für mich der Gruß und der
Wunsch zum Wochenende. Was Sie inhaltlich vorgetragen haben, hat sich wieder mal - wieder mal! - erschöpft
in einem Beweinen, in Kritik dahin gehend, es sei alles
nicht weit genug. Sie sind nicht bereit, auch einmal Fortschritte anzuerkennen und zu sagen: Wir haben in den
letzten 20 Jahren mit dem Umweltbundesamt oder auch
in 100 Jahren Naturschutz in Deutschland einiges auf
den Weg gebracht, darunter auch etwas, das wir als Vorzeigeobjekte international präsentieren können.
Wir sind noch lange nicht am Ziel - das hat der Bundesumweltminister deutlich gemacht -, aber von Ihnen
höre ich immer nur Kritik. Ich hätte mich gefreut, wenn
Sie auch einmal gesagt hätten, an welchen Punkten Sie
denn inhaltlich anders einsteigen wollen. Das haben Sie
nicht getan. Sie bleiben Antworten schuldig und kritisieren. Das ist zu wenig.
({0})
Ich will es einmal anders deutlich machen: Naturschutz und biologische Vielfalt sind nicht nur ein politisches Thema. Dieses Thema berührt die Menschheit insgesamt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu
erwähnen, dass sich mehr als 5 Millionen Ehrenamtliche
in diesem Bereich in NGOs organisieren. Wenn man
ständig sagt, es sei viel zu wenig passiert, dann ist es das
falsche Signal an diese Menschen. Man sollte vielmehr
betonen, dass diese Menschen dazu beigetragen haben,
dass wir auf einem guten Weg sind und dass bereits eine
Menge erreicht wurde. Dieser Punkt kommt mir zu kurz.
({1})
Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema, nämlich
zum Schutz der biologischen Vielfalt.
Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heilmann?
Bitte.
Herr Kollege Becker, Sie konnten meiner Rede entnehmen, dass die Linke die Umsetzung von konkreten
Maßnahmen fordert. Es geht zum Beispiel um die Vernetzung im Rahmen von Natura 2000, die Rückführung
der Flächeninanspruchnahme und eine anspruchsvolle
Biodiversitätsstrategie. Was die Regierungskoalition in
ihrem Antrag gefordert hat, reicht da nicht aus.
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Natura 2000.
In diesem Zusammenhang sollten Sie Folgendes zur
Kenntnis nehmen: Wir haben 13 Prozent der Landflächen - das sind ein Drittel der AWZ - unter Schutz gestellt. Damit haben wir mehr getan, als es unserer Verpflichtung entspricht. Das ist ein Erfolg der Politik.
({0})
Wenn Sie sich daran beteiligen möchten, dann nehmen
wir Sie gerne mit ins Boot.
Ansonsten haben Sie immer nur Gedanken zu Anträgen der anderen Fraktionen von Ihnen geäußert. Ich habe
vermisst, dass Sie Ihre eigenen Positionen dargestellt haben. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen. Vielleicht
habe ich aber auch ein Nickerchen gemacht und es deswegen nicht mitbekommen.
({1})
- Danke.
Ich möchte wieder zu meinem Beitrag zurückkehren.
Wir haben in allen Beiträgen etwas über die Bedeutung der biologischen Vielfalt gehört. Wir wissen, dass
der Verlust der biologischen Vielfalt neben der Bedrohung durch den Klimawandel die größte umweltpolitische Gefährdung und Herausforderung ist. Herr Minister
Gabriel hat zu Recht die Frage gestellt: Wer nimmt das
Thema überhaupt in angemessener Weise wahr? Wir
führen hier eine Fachdebatte unter Umweltpolitikern.
Wir führen auch Debatten mit den NGOs. Aber die Bürgerinnen und Bürger, auf deren Verhalten es maßgeblich
ankommt, haben wir sicherlich noch nicht so erreichen
können, wie es erforderlich wäre, um die Einsicht in die
Notwendigkeit von Verhaltensänderungen zu wecken. Ich habe gerade den Zuruf „Er ist ein Lipper!“ gehört.
Dazu kann ich nur sagen: Auch die Lipper gehen verantwortungsvoll mit der Natur um.
({2})
Wir müssen uns die Frage stellen, was die Politik tun
kann, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass eine
Notwendigkeit für die Änderung von Verhaltensmustern
besteht. Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass es in Deutschland auf diesem Gebiet noch viel zu
tun gibt. Gleichwohl glaube ich, dass die Situation für
uns Politiker, unabhängig von unserer Auffassung, recht
komfortabel ist, weil die Menschen in Deutschland hinsichtlich dieses Themas aufgeklärt sind.
Das ist in anderen Ländern nicht der Fall. Ich weiß
beispielsweise nicht, wie man in einem Land, in dem
Menschen vielleicht vom Raubbau an der Natur abhängig sind, diesen Menschen erklären will, warum sie
das unterlassen müssen; denn es geht um ihre Existenz.
Auf diese Frage müssen wir den Menschen in Peru, Indonesien oder wo auch immer eine Antwort geben. Ohne
Alternativen für die Existenzsicherung aufzuzeigen, haben wir hinsichtlich des Naturschutzes gerade im Bereich der Urwälder - Frau Kurth hat das Thema Urwaldschutzgesetz bereits angesprochen - kaum eine Chance,
zu einem Umdenken zu bewegen. Das gilt erst recht für
eine Änderung der Verhaltensweisen.
Über das Urwaldschutzgesetz diskutieren wir heute
nicht. Daher will ich dazu nur eine kurze Bemerkung
machen. Sie kennen sicherlich die Argumente. In dem
von Ihnen vorgeschlagenen Urwaldschutzgesetz ist eine
nicht kontrollierbare Zertifizierung enthalten.
({3})
Sie bringt einen enormen Aufwand mit sich und bedarf
einer sehr langen Umsetzungszeit. Dafür ist die Bereitschaft zur Mitarbeit der Staaten, in denen es Urwälder
gibt, notwendig. Das heißt, wir brauchen eine breite Bereitschaft auf internationaler Ebene. Deutschland alleine
kann hier keinen ausreichenden Beitrag leisten.
Wir haben klar gesagt, dass das FLEG in der derzeitigen Ausgestaltung nicht ausreichend ist. Aber wir werden uns für eine Verbesserung einsetzen. Dazu stehen
wir.
({4})
- Das ist eine Behauptung. Das von Ihnen vorgeschlagene Zertifizierungssystem würde daran nichts ändern.
Ich möchte jetzt ganz konkret auf Maßnahmen eingehen. Was wollen wir tun? - Wir haben mit der CBD ein
Instrument, das ohne Frage eine Menge Schwierigkeiten
zu bewältigen hat. Wir kennen die Probleme, im Rahmen der CBD zu Ergebnissen zu kommen. Fakt ist, dass
wir zwei wichtige Ziele haben. Wir haben vereinbart, bis
zum Jahr 2010 den Verlust an biologischer Vielfalt signifikant zu reduzieren. Auf EU-Ebene wird dieses Ziel
dahin gehend konkretisiert, den Verlust bis dahin ganz
einzuschränken. Für uns Sozialdemokraten ergeben sich
daraus resultierende Verpflichtungen und Verantwortungen für die Politik in diesem Land, und zwar auf drei
Ebenen: Das ist die nationale Ebene, das ist die Ebene
der EU und das ist die internationale Ebene.
Ich möchte ganz kurz einige Punkte aufgreifen:
NATURA 2000 habe ich erwähnt. Herr Minister
Gabriel, in dem Bericht zur Lage der Natur, den wir in
Bonn in einer öffentlichen Ausschusssitzung schon hinreichend beraten haben, haben Sie einige Punkte deutlich gemacht. Den Stopp des Flächenverkaufs und das
nationale Naturerbe haben Sie selbst erwähnt. Ich
möchte zwei weitere Bereiche aufgreifen, nämlich die
Notwendigkeit der Verringerung des Flächenverbrauchs
von derzeit rund 100 auf 30 Hektar täglich bis zum
Jahr 2020, aber auch die Stärkung der Agrarumweltprogramme, die wir aufgelegt haben, sowie die Erarbeitung
der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.
Ich darf Ihnen namens meiner Fraktion für den vorgelegten Bericht danken. Er ist umfangreich, und ich
denke, er ist trotz aller aufgeworfenen Probleme auch für
die weitere Arbeit motivierend. Zumindest werden wir
ihn so aufnehmen.
({5})
Auf EU-Ebene - damit komme ich zu Ihnen, Frau
Kurth - sehen wir sehr wohl die Notwendigkeit, zu Verbesserungen bei FLEGT zu kommen und möglicherweise
auch im Rahmen von bilateralen Abkommen mit den betroffenen Staaten den Urwaldschutz voranzubringen. Wir
sehen ähnliche Notwendigkeiten zur Verringerung der
Einfuhr bedrohter Tierarten und Pflanzen - da sind wir
überhaupt nicht auseinander -, aber auch zum Ausbau des
europäischen Schutzgebietnetzes NATURA 2000 und zu
weiteren Maßnahmen zum Schutz der Meeresumwelt,
die in der Diskussion häufig leider viel zu kurz kommt.
Wenn man bedenkt, welchen Anteil die Meere an der gesamten Oberfläche haben, bedarf es auch hier weiterer
Anstrengungen.
Der letzte Blick geht natürlich auf die internationale
Herausforderung, die sich auch der Bundesrepublik
Deutschland stellt. Zum einen möchte ich ganz bewusst
den Bereich der verstärkten Entwicklungszusammenarbeit nennen. Ich verweise hier auf unseren Koalitionsvertrag, in dem wir uns klar zu dem VN-Ziel bekannt haben, nämlich bis 2010 mindestens 0,51 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für diesen Bereich auszugeben. Mir ist es wichtig, das hier ausdrücklich zu erwähnen.
({6})
Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal von der Kollegin BullingSchröter?
Ich bin jetzt fast am Ende meiner Rede und möchte
das gern zu Ende bringen.
Bitte, das ist Ihre Entscheidung.
Als weitere Bereiche in dem internationalen Engagement der Bundesrepublik Deutschland gelten natürlich
auch die Schaffung eines gerechten Vorteilsausgleichs
sowie der Ausbau des bisher erfolgten Wissensaustausches. Andere Länder müssen nicht die gleichen Fehler
machen, die wir begangen haben. Es ist wichtig, sie an
dem teilhaben zu lassen, was wir bereits erarbeitet haben, natürlich auch an dem Bereich des Technologietransfers. Minister Gabriel hat es deutlich gemacht: Die
Bundesrepublik Deutschland stellt weltweit ungefähr
19 Prozent im Bereich der Umwelttechnologien. In
Deutschland sind in diesem Bereich 1,5 Millionen Menschen beschäftigt.
Ich persönlich finde es nicht ehrenrührig, wenn wir
unsere Anstrengungen zum internationalen Naturschutz
mit anderen verbinden, indem wir entsprechend auch
deutsche Technologien in neue Märkte einbringen, der
Umwelt damit einen zusätzlichen Dienst erweisen, aber
damit natürlich auch beispielsweise für den Mittelstand
in Deutschland neue wichtige Impulse schaffen.
Herr Minister, wir werden intern zur Frage der Gentechnologie noch eine interessante Diskussion führen. Es
gibt auch andere Auffassungen als die Ihre, das muss ich
hier auch einmal sagen dürfen.
({0})
Ich denke, wir werden im Interesse der Sache diese Argumente auch austauschen. Aber das machen wir bekanntermaßen immer intern, wir Sozialdemokraten tun
so etwas ja nie öffentlich.
({1})
Abschließend noch zur Rolle Deutschlands im Jahr
2008, wenn wir die neunte Vertragsstaatenkonferenz zu
Gast haben.
Kollege Becker, das schaffen wir nun wirklich nicht
mehr. Das Leuchten da sagt Ihnen ganz deutlich etwas.
Finden Sie bitte einen letzten Satz!
Ich werde den letzten Satz finden. - Im Jahr 2006 haben wir die Welt zu Gast bei Freunden begrüßt. Es ging
um die schönste Nebensache mit dem größten Medieninteresse. 2008 wird das anders sein. Das Medieninteresse ist geringer, die Sache umso bedeutender. Durch
eine engagierte Politik wollen wir unserer VerantworDirk Becker
tung für den Schutz der biologischen Vielfalt und damit
unserer Verantwortung für nachfolgende Generationen
sowie für einen gerechten regionalen Ausgleich gerecht
werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und Ihnen,
Frau Präsidentin, für Ihre Geduld.
({0})
Kollege Becker, ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu
mehreren Premieren. Sie haben heute Ihre erste Rede im
Plenum des Bundestages gehalten und dabei gleich alles,
was einem während einer Rede widerfahren kann, erlebt:
Zwischenfragen, auf die Sie geantwortet haben, Zwischenfragen, die Sie zurückgewiesen haben, und Zwischenrufe, die es eigentlich gar nicht gibt, weil auf der
Regierungsbank Ruhe zu herrschen hat.
({0})
Alles Gute für die weitere Arbeit!
({1})
Für die Unionsfraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Christian Ruck.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Becker hat in seiner Jungfernrede noch etwas geschafft:
Er hat in einer umweltpolitischen Debatte das Gewicht
der Entwicklungspolitik erwähnt. Ich bin froh darüber,
dass auch ich, wenngleich zu später parlamentarischer
Stunde, im Kreise vieler altbekannter Kollegen Umweltpolitiker einige entwicklungspolitische Ausführungen
machen darf.
Ich glaube, dass wir, wenn es um biologische Vielfalt
geht, die alte Rio-Connection, die Phalanx zwischen
Entwicklungs- und Umweltpolitikern, wieder zum Leben erwecken müssen. 80 Prozent der Tier- und Pflanzenarten - das wurde schon gesagt - leben in 15 TopZentren der Biodiversität, die sämtlich in Entwicklungsländern liegen: von Bolivien und Brasilien über Kenia
und Südafrika bis nach Indonesien und zu den Philippinen.
Umweltpolitisch sind die Entwicklungsländer sowohl Opfer als auch Täter. Bei der Klimaverschlechterung, die immer noch mehrheitlich durch Industrieländer
entsteht, sind sie Opfer. Sie sind auch Opfer mancher
kontraproduktiven Regelungen im Welthandelssystem.
Auf der anderen Seite sind sie aber auch Täter, wenn es
um mangelnden politischen Willen der Entscheidungsträger zum sorgfältigen Umgang mit natürlichen Ressourcen geht, wenn es um Korruption, schlechte Regierungsführung usw. geht.
Fest steht: Die flächendeckende Umweltzerstörung
in Entwicklungsländern läuft nahezu ungebremst weiter
und nimmt dramatische Formen an. Die Hälfte des ursprünglichen tropischen Regenwaldes ist inzwischen
vernichtet. In manchen Ländern sind es schon fast
100 Prozent. 1 Milliarde Menschen ist von der zunehmenden Verwüstung des Planeten existenziell bedroht.
Die Folge ist nicht nur ein zunehmendes Artensterben;
gewaltige ökologische, ökonomische und politische Probleme sind ebenfalls Folgen der Zerstörung. Ein Beispiel
dafür ist die Klimaverschlechterung - auch das wurde
schon angesprochen - durch brennende Urwälder. In
manchen Jahren stammt die Hälfte des CO2-Ausstoßes
von diesen ungelöschten Bränden.
Aber auch der Verlust an wirtschaftlichen Chancen ist
von Bedeutung. 40 Prozent des Weltmarkthandels beruhen auf biologischen Verfahren und Produkten. Eine Verschlechterung der Lebensbedingungen führt zu einer
massiven Migration - vor allem innerhalb des Südens,
immer stärker aber auch von Süd nach Nord -, die erheblichen politischen Sprengstoff birgt. Das erkennt man,
wenn man an die Wasserproblematik im Nahen Osten, in
Nordafrika und anderswo denkt. All diese sozialen
Sprengsätze könnten auch uns teuer zu stehen kommen.
Die Analysen sind bekannt. Nach der Anhörung, die
wir diese Woche im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung durchgeführt haben,
sind eigentlich auch die Gegenmaßnahmen bekannt. Es
ist bekannt, was technisch und politisch zu tun wäre. Es
gibt viele hervorragende Projekte, gerade auch im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke
zum Beispiel an unser Nationalparkprojekt im Kongo,
das wir mit Zähnen und Klauen über all die Jahre verteidigt haben und das immerhin der zweitgrößte Arbeitgeber des gesamten östlichen Kongo ist. Ich denke an unsere Küstenregenwaldschutzprojekte in Brasilien über
all die Jahre hinweg. Ich denke auch daran, dass durch
unsere EZ wieder ganze Wüstenlandstriche zum Leben
erweckt worden sind.
Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kurth?
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Kurth.
Vielen Dank, Herr Kollege, für diese Möglichkeit.
Angesichts dessen, was Sie gerade schildern - diese
Aussagen teilen wir vollständig -, möchte ich an Sie die
Frage richten, ob es vor dem Hintergrund des Geschilderten nicht vielleicht doch richtig gewesen wäre, der
Flugticketabgabe zuzustimmen, um wenigstens ein
bisschen mehr Geld für die so dringend benötigte Entwicklungszusammenarbeit zu bekommen und um die
Länder, von denen Sie gerade berichten - sie sind in hohem Maße betroffen und auch in hohem Maße Täter -,
darin zu unterstützen, hier Abhilfe zu schaffen?
({0})
Frau Kollegin, die aktuelle Diskussion über die Flugticketsteuer wurde erst vor zwei Wochen durch den einen oder anderen Antrag bereichert. Wir haben unsere
Meinung dazu breit dargelegt. Sie lautet, dass wir durchaus offen sind für alles, was uns dazu verhilft, den versprochenen Anteil in Höhe von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2010 zu erreichen. Wir sind
durchaus offen, aber diese Maßnahmen müssen erstens
wirklich etwas erreichen und zweitens realisierbar und
vernünftig sein.
Es stellt sich die Frage: Sind wir da allein oder wie
viele schließen sich uns an?
({0})
Das muss geklärt werden. Das andere ist: Sie, die Grünen, haben sehr auf das französische Modell rekurriert.
Das französische Modell ist - das ist die Meinung innerhalb der Koalition - für uns untauglich; denn dabei
kommt zu wenig heraus. Deswegen muss man einige
ernsthafte Detailfragen stellen. Ich sage aber noch einmal: Wir sind für alles offen, was dazu führt, dass wir bis
2010 das, was wir versprochen haben, auch mit Ihrer
Unterstützung, umsetzen.
({1})
In diesem Sinne lassen Sie mich noch einmal darauf
zurückkommen, dass wir international gute Ansätze haben. Ich darf an dieser Stelle sagen, dass es hervorragende öffentliche Projekte gibt, bei denen wir mit NGOs
zusammenarbeiten und die wirklich funktionieren. Aber
die Trendumkehr ist nicht in Sicht. Da dürfen wir uns
nichts vormachen.
Immer dann, wenn die Rezepte bekannt sind, aber
nicht richtig umgesetzt werden, müssen wir politische
Strukturen überwinden oder verbessern. Dazu vielleicht noch einige Stichworte: Die Entwicklungspolitik
wurde ja schon erwähnt. Wir müssen die Entwicklungspolitik weltweit effizienter gestalten. Wir brauchen eine
bessere internationale Arbeitsteilung. Wir müssen noch
einmal über Schlüsselsektoren - kein Gießkannenprinzip - sprechen. Was befördert Entwicklung? Was befördert ländliche Entwicklung? Was können wir tun, um
Kapazitäten aufzubauen? Und vor allem: Was können
wir tun, um entweder Good Governance, gute Regierungsführung, zu erzwingen oder langfristig schlechte
Regierungsführung zu transformieren? Das ist ganz
wichtig. Denn es bedeutet, die Entscheidung in die Länder selbst zu tragen und sie selbst zu verantwortungsbewusstem und umweltbewusstem Handeln zu befähigen.
Das muss uns gelingen. Dazu müssen wir einen Beitrag
leisten.
({2})
- Das machen wir schon, aber wir müssen es - das sage
ich ausdrücklich - weltweit effizient gestalten. Die Arbeitsteilung funktioniert international eben nicht, zum
Beispiel nicht zwischen uns und der EU, zwischen uns
und der Weltbank, zwischen der Weltbank und der EU
usw.
Wir müssen und werden in unserer Entwicklungspolitik neue Akzente und Initiativen im Bereich der
Biodiversität setzen und entwickeln. Das steht im
Koalitionsvertrag und dazu bekennen sich beide Koalitionspartner. Wir haben uns zwischen den Koalitionspartnern im AWZ darüber verständigt, dass wir im
nächsten Jahr, also 2007, im Vorfeld der Vertragsstaatenkonferenz von 2008 diese neuen Initiativen und Akzente
erarbeiten wollen.
Darüber hinaus müssen wir durch den Schutz der Biodiversität Einkommen sichern; auch das ist schon angeklungen. Die Menschen vor Ort müssen am Schutz der
natürlichen Ressourcen unmittelbar Geld verdienen können. Dabei geht es um die Frage: Wem gehört das Einkommen aus dem Wissen der Genpools, zum Beispiel im
Regenwald? Das muss genau organisiert werden; auch
hier sind wir uns einig.
Ich möchte noch einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen: den Klimaschutz und die Biodiversität. Wir
müssen einen neuen Anlauf nehmen, um auch den
Schutz der Naturwälder in das Kiotoprotokoll aufzunehmen. Das ist damals nicht gelungen.
({3})
Wir müssen die Schwellenländer beim Schutz der
natürlichen Ressourcen mehr als bisher in die Pflicht
nehmen. Das gilt auch, wenn man sich vergegenwärtigt,
auf welche Art und Weise zum Beispiel die Volksrepublik China in Afrika auftritt. Darüber müssen wir mit
den Schwellenländern reden.
Wir müssen die großen Konzerne in die Verantwortung nehmen, vor allem diejenigen, die in sehr natursensiblen Bereichen agieren. Ebenso müssen wir die WTOVerhandlungen zu einem Abschluss bringen, der ein
Mehr an Umwelt- und Ressourcenschutz und eine Verbesserung der Armutsbekämpfung bedeutet.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass in diesem Haus in den letzten Wochen und Monaten andere
Themen im Vordergrund standen. Dabei ging es von der
Situation im Irak bis zum Libanoneinsatz der Bundeswehr.
Kollege Ruck, wie der Kollege Becker schon bemerkte, bin ich ein sehr geduldiger Mensch.
Jawohl.
Aber ich finde, jetzt sollten Sie zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich bin im Sinkflug.
({0})
Die größte tickende Zeitbombe ist die Verwüstung
unseres Planeten. Um diese Entwicklung zu vermeiden,
sollten wir im Rahmen der G 8, im Verlauf unserer EURatspräsidentschaft und auf der im Jahre 2008 in unserem eigenen Land stattfindenden Vertragsstaatenkonferenz einen neuen Anlauf nehmen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/1996, 15/5903, 16/1497 und
16/1670 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatzpunkt 14 auf:
29 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von
Erntehelfern in der Landwirtschaft grundlegend überarbeiten
- Drucksache 16/2685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualifizierung statt Quoten - Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und andere
grüne Berufe
- Drucksache 16/2991 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Geisen für die FDPFraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der FDP zum Einsatz von
Erntehelfern in der Landwirtschaft. Darin fordern wir
eine grundlegende Überarbeitung und Korrektur der geltenden Eckpunkteregelung für die Jahre 2006 und 2007.
Die aktuelle Regelung, so meinen wir, ist praxisfremd
und gefährdet die Existenz vieler Sonderkulturbetriebe
in Deutschland.
({0})
Dies ist für uns, die FDP, nicht hinnehmbar. Wir fordern, die verschärfte Kontingentierung der ausländischen Saisonarbeitskräfte aufzuheben. Schwarz-Rot
muss diesen gravierenden Fehler dringend korrigieren.
Ob in Winzereien, in Obst- und Gemüseanbaubetrieben
oder im Gartenbau - in all diesen Bereichen ist man auf
die unbürokratische Vermittlung von Erntehelfern
angewiesen,
({1})
solange inländische Arbeitskräfte nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.
Die bisherigen Erfahrungen belegen eindeutig, dass
es schwierig ist, für diese Tätigkeiten inländische Arbeitskräfte zu gewinnen. Die Gründe dafür kennen wir
alle: die hohen körperlichen Anstrengungen, die geringen Verdienstmöglichkeiten und vieles andere. In diesem Zusammenhang möchte ich beispielhaft auf die vernichtenden Ergebnisse der Umfrage des Deutschen
Bauernverbandes vom Sommer dieses Jahres verweisen,
die einmal mehr belegen, dass die von Schwarz-Rot verschärfte Kontingentierung im letzten Jahr in der Praxis
kläglich versagt hat.
({2})
Diese Tatsache möchten die verantwortlichen Bundesminister Müntefering und Seehofer anscheinend nicht
zur Kenntnis nehmen.
({3})
Mit staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Vermittlung
von Arbeitslosen an die Landwirtschaft sind die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes nicht zu lösen.
({4})
Das ist Planwirtschaft und kann nicht funktionieren.
Die jetzige Regelung passt auch nicht in unser Europa
der offenen Grenzen. Das Einzige, was die Minister mit
diesem planwirtschaftlichen Schulterschluss erreichen,
ist, dass sie die Existenz vieler landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland gefährden.
({5})
Große Mengen Spargel und Erdbeeren mussten auf den
Feldern bleiben, weil nicht genügend Erntehelfer zur
Verfügung standen. Auch die Weinlese wird beeinträchtigt. Ich frage Sie von der CDU/CSU und der SPD: Soll
sich dieses Trauerspiel im nächsten Jahr wiederholen?
Sollen Spargel, Erdbeeren, Kirschen und Gemüse im
kommenden Jahr erneut auf den Feldern vergammeln?
Wie sollen die Sonderkulturbetriebe ihre Chancen am
Markt nutzen, wenn ihnen die erforderlichen Saisonarbeitskräfte fehlen?
Leider hält die Bundesregierung halsstarrig an ihrem
Kurs in Richtung noch mehr Staatswirtschaft fest. Das
ist falsch und für die FDP völlig inakzeptabel.
({6})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal vor allem an die
Vertreter von CDU und CSU appellieren, ihren Worten
endlich Taten folgen zu lassen. Die Agrarpolitiker der
Union haben wie die der FDP das Scheitern der Eckpunkteregelung immer wieder beklagt. In dieser für die
Landwirtschaft zentralen Frage darf es aber nicht weiter
bei Worten bleiben - die Kontingentierung muss endlich
weg.
({7})
Anders als bei den bürokratischen und finanziellen Belastungen, die aus dem Scheitern des bilateralen Abkommens mit Polen resultieren, liegt die Verantwortung in
dieser Frage einzig und allein bei Schwarz-Rot. Sie alleine haben zu verantworten, dass es hierfür noch immer
keine praxisgerechte Lösung gibt.
({8})
Auch der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ist unserer Meinung nach nicht zielführend. Ich
meine, wir haben Agenturen genug und auch genügend
freie Plätze zur Qualifizierung im Agrarbereich; das ist
nachweislich so. Was wir brauchen, sind eben Saisonarbeitskräfte. Dauerarbeitskräfte haben hier keine Zukunft. Die Zeit der allgemeinen Handarbeitsstufe ist vorbei; das müssten Sie alle wissen. Und das ist auch gut so.
So viel zum Grünen-Antrag.
Die verschärfte Eckpunkteregelung ist das Werk der
Minister Müntefering und Seehofer.
({9})
Es wird allerhöchste Zeit, dass diese praxisfremde und
unternehmensfeindliche Kontingentierung korrigiert
wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, zwingen Sie Ihre Minister, die Wirklichkeit in der
Landwirtschaft anzuerkennen und den Weg für Korrekturen endlich frei zu machen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Gitta
Connemann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
stamme von einem Hof in Ostfriesland. Meine Familie
baut dort seit mehr als 40 Jahren Erdbeeren an. Über
20 Jahre lang wurden die Früchte von Arbeitnehmerinnen aus unserem Dort geerntet. Es gab damals keine Probleme, weder sprachlich noch administrativ, es mussten
keine aufwendigen Anwerbe- oder Arbeitserlaubnisverfahren durchgeführt werden, Kosten für ausländische
Sozialversicherung fielen nicht an. Das Wichtigste: Unsere Mitarbeiterinnen identifizierten sich mit unserem
Betrieb und wir auch mit ihnen. Das ging so sehr lange
Zeit.
Mitte der 80er-Jahre schieden diese Arbeitnehmerinnen aus Altersgründen nach und nach aus. Deutscher
Nachwuchs war nicht zu finden. Die Erntearbeit ist unbestritten hart, aber in diesen Jahren hatte sich auch das
Ansehen körperlicher Arbeit geändert. Sie genoss
keine Anerkennung mehr - eine Einstellung, die sich leider bis heute hartnäckig hält.
({0})
In diesen Jahren hatte sich aber auch der Arbeitsmarkt verändert. Es gab genügend Arbeitsplätze in begehrteren Branchen. In den folgenden Jahren wurden
meinen Eltern dann jedes Jahr aufs Neue Hilfeempfänger zugewiesen. 1995 fanden sich von 36 angekündigten
Kräften nur sechs ein. Die Ernte konnte nicht eingebracht und Lieferverträge konnten nicht eingehalten
werden. Ab 1996 wichen meine Eltern auf Anraten der
Behörden auf Mitarbeiter aus Polen aus - wie übrigens
auch viele andere Betriebe in Deutschland. Die Zahl der
Saisonarbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern
stieg in den folgenden Jahren kontinuierlich an, während
die Arbeitslosigkeit in Deutschland gleichzeitig wuchs.
2005 standen 4,9 Millionen Arbeitslosen 320 000 Saisonarbeitnehmer gegenüber. Ich frage mich: Kann und
darf das sein? Ist Deutschen diese Arbeit wirklich nicht
zumutbar? Wohl kaum. Muss nicht jeder Versuch unternommen werden, inländische Arbeitnehmer in die Saisonarbeit zu vermitteln? Ich meine: Ja. Für die Betroffenen wird die Arbeitslosigkeit damit befristet beendet.
Die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung in Betrieben, die eine ähnliche Tätigkeit wie die Saisonarbeit anbieten, wird erhöht, die Einkommenssituation wird verbessert und die Aufwendungen der Gesellschaft für
Versicherungsbeiträge und Sozialleistungen können verringert werden.
Vor diesem Hintergrund musste über eine Änderung
der Eckpunkteregelung nachgedacht werden. Gemäß der
neuen Eckpunkteregelung für die Jahre 2006 und 2007
sollen verstärkt auch inländische Arbeitslose durch eine
gezielte Arbeitsvermittlung und enge Zusammenarbeit
mit den landwirtschaftlichen Betrieben für die Saisonarbeit gewonnen worden. Diese Zielsetzung ist richtig.
({1})
Die Bundesregierung erklärte aber auch - das scheinen Sie überhört zu haben, Herr Dr. Geisen -, dass es dadurch nicht zu Einbußen bei der Aufgabenerledigung
kommen darf. Das war keine leere Ankündigung; denn
schon in der Saison hat die Bundesregierung durch das
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Regelung im Sinne der Betriebe
verbessert und zum Beispiel durch eine Härtefallregelung ergänzt. Ein Monitoring wird durchgeführt.
Die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeitsverwaltung und der Betriebe haben zu einem Teilerfolg auf dem
Weg zu mehr Beschäftigung geführt. Laut den Ergebnissen der ersten Befragungswelle zur Saisonbeschäftigung
in der Landwirtschaft wurde bei immerhin 63 Prozent
der befragten Betriebe eine ausreichende Anzahl inländischer Bewerber vorgeschlagen. Das ist ein Teilerfolg,
den es nach dem Willen der FDP-Fraktion nicht geben
würde; denn diese will eine vollständige Abschaffung
der Neuregelung. Dies ist umso unverständlicher, als der
vereinbarte Monitoringprozess noch gar nicht abgeschlossen ist.
({2})
Die Ergebnisse der zweiten Befragungswelle werden
erst am Montag vorgestellt.
({3})
Es geht der FDP also offensichtlich nicht um die Sache,
sondern um reine Opposition.
({4})
Insoweit trifft ein Wort des Schriftstellers Hans Kasper
zu, der den Begriff Opposition einmal wie folgt definiert
hat:
Stets anderer Meinung zu sein ist das Gegenteil davon, eine eigene Meinung zu haben.
({5})
Genauso empfinde ich Ihr Verhalten. Meine Damen
und Herren von der FDP-Fraktion, damit dienen Sie der
Sache der Landwirtschaft übrigens nicht. Diese hat berechtigte Anliegen, die aber nur ernst genommen werden, wenn sie auch seriös begleitet werden.
Es gibt offensichtlich Handlungsbedarf. Die bereits
zitierte Befragung hat nämlich auch ergeben, dass
37 Prozent der Betriebe keine Vorschläge auf ihre Vermittlungsgesuche erhielten. Die Erfahrungen sind regional sehr unterschiedlich. In vielen Gebieten Ostdeutschlands konnte das benötigte Kontingent inländischer
Saisonarbeitskräfte erfüllt werden. In einigen Regionen
West- und Süddeutschlands gab es dagegen erhebliche
Probleme.
Dafür gibt es Gründe. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitslosen ist regional unterschiedlich. Außerdem ist der Anbau von Sonderkulturen in bestimmten
Regionen konzentriert. Und: Die Bereitschaft zu einer
Arbeitsaufnahme ist offensichtlich nicht überall gleich
ausgeprägt.
Ich wende mich an die Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen. Ich freue mich, dass Sie in der Zielsetzung mit
uns übereinstimmen. Wir teilen sicherlich auch die Einschätzung der Problematik. Aber ich glaube nicht, dass
wir der Lösung durch die Einrichtung von Vermittlungsagenturen näher kommen. Die Agenturen und die Zentren für Arbeit haben sich zwar bemüht, die Qualifikation der Arbeitslosen - das wollten Sie ja mithilfe der
Vermittlungsagenturen erreichen - durch Trainingsmaßnahmen zu verbessern. Aber eines ist eben schlecht
möglich, nämlich Arbeitslose zu motivieren, die sich offensichtlich nicht motivieren lassen.
Fragen Sie zum Beispiel den Kollegen Georg
Schirmbeck. Im Stadt- und Landkreis Osnabrück lag im
Frühjahr dieses Jahres die Zahl der Arbeitslosen bei
22 000. Mit der Arbeitsagentur wurde alles unternommen, um einen Teil dieser Arbeitslosen in regionale Saisonbetriebe zu vermitteln: Trainingsmaßnahmen wurden
durchgeführt und finanzielle Anreize in Form von Aufwandsentschädigungen, Durchhalteprämien und Einstiegsgelder gesetzt.
Das Ergebnis: Fünf Arbeitnehmer blieben während
der ganzen Saison. Alle anderen traten die zugewiesene
Arbeitsstelle nicht an oder gaben sie nach einigen wenigen Tagen auf. Etliche Betriebe erlitten Ernteausfälle,
Spargelfelder wurden umgepflügt, Früchte verrotteten
auf dem Feld. Die Leidensfähigkeit dieser Betriebe ist
überschritten. Handlungsbedarf besteht; denn diese Betriebe brauchen eine ausreichende Planungsgrundlage
für das nächste Jahr.
({6})
Die derzeitige Unsicherheit führt dazu, dass einige
Betriebe über eine Reduzierung ihres Anbaus nachdenken. Damit wäre ein Verlust von Dauerarbeitsplätzen
wie auch von Marktanteilen bei Obst und Gemüse verbunden. Diese Entwicklung als Folge der neuen Eckpunkteregelung wäre fatal. Daher muss über eine Weiterentwicklung nachgedacht werden. Dabei sind die
Interessen der betroffenen landwirtschaftlichen Betriebe
zu berücksichtigen. Dafür müssen wir aber zwingend
das Ergebnis des Monitorings abwarten. Es ist zu erwarten, dass sich der aufgezeigte Trend verstetigen wird.
Damit stellen sich folgende Fragen: Wie kann stärker
auf regionale Gegebenheiten Rücksicht genommen werden? Warum haben manche Arbeitsagenturen oder Zentren für Arbeit die vereinbarte Flexibilisierung nicht wie
vorgesehen angewandt? Danach können zusätzliche ausländische Kräfte genehmigt werden, wenn keine ausreichende Anzahl an inländischen Bewerbern vorhanden
ist. Waren die Arbeitsanweisungen für Sanktionen im
Falle eines unentschuldigten Fehlens ausreichend? Wie
muss die Härtefallregelung ausgeweitet werden, damit
eine ständige Verfügbarkeit der notwendigen Arbeitskräfte sichergestellt wird? Wie können wir den Arbeitgebern helfen, die einen Arbeitsvertrag mit einem Inländer
abgeschlossen haben, der seine Arbeit nicht aufnimmt
oder abbricht, und zwar ohne Anrechnung auf sein Kontingent? Ist ein Übergang von der 80 : 10 : 10- zu einer
90 : 10-Regelung erforderlich? Und, und, und.
Unser gemeinsames Ziel muss bleiben, mehr inländische Beschäftigte für Saisonarbeiten zu gewinnen.
({7})
Wir können es uns nicht gefallen lassen, dass diese Arbeit grundsätzlich nicht von Deutschen verrichtet wird.
Körperliche Arbeit ist wertvoll. Sie ist notwendig und
vor allem ehrbar.
({8})
Dieser Umdenkungsprozess kann aber nicht allein auf
Kosten der landwirtschaftlichen Betriebe vorangetrieben
werden. Diese müssen verlässliche Personalplanungen
vornehmen können. Deshalb müssen wir die bestehenden Teilprobleme lösen. Die vorliegenden Anträge tragen dazu allerdings nicht bei. Wir werden sie deshalb
beide ablehnen.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Über das Thema Saisonarbeit
müssen wir sehr differenziert und gleichzeitig grundsätzlich diskutieren.
Es geht um eine existenzielle Frage im ländlichen
Raum, nämlich Arbeitsplätze. Ich nenne hier einmal die
Zahl 400 000. Das ist nach Schätzungen der IG BAU die
Anzahl der Arbeitsplätze, die im ländlichen Raum unterdessen nur noch zeitweise zur Verfügung stehen. Diese
Arbeitsplätze sind aus verschiedenen Gründen - einige
sind schon genannt worden - für den heimischen Arbeitsmarkt wenig attraktiv. Dafür haben sie zu einer europaweiten Wanderarbeiterbewegung beigetragen, und
zwar mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen, über
die wir einmal reden müssten.
Es gibt noch mehr Zeitarbeitsplätze im ländlichen
Raum; es gibt sie im Tourismus, in den Hotels und in
den Restaurants. Was bedeutet Saisonarbeit? Saisonarbeit stellt keine Lebensperspektive dar; denn sie bietet
erstens keine soziale Absicherung, zweitens keine Alterssicherung und ist drittens auch für den Moment oft
nicht existenzsichernd. Sie ist prekär, wie man heute
sagt. Trotzdem teile ich das Anliegen, dass diese
400 000 Arbeitsplätze wieder dem heimischen Arbeitsmarkt zugänglich gemacht werden müssen. Wenn dies
das Anliegen der Eckpunkteregelung ist, dann unterstützte ich sie insoweit. Aber eine Quotenregelung allein
ist keine Lösung.
Die Vermittlungsprobleme allerdings nur mit Faulheit
oder fehlender Leistungsfähigkeit einheimischer Arbeitskräfte zu erklären, ist nahezu absurd. Denn schauen
wir uns doch einmal die Erntehelferjobs an: 3,50 Euro
im Osten, 5 bis 6 Euro im Westen sind unter bundesdeutschen Lebensverhältnissen Armutslöhne. Sie sind auch
angesichts der Schwere der Arbeit nicht leistungsgerecht. Bürokratische Abläufe bieten zudem wenig Anreiz für so kurzzeitige Arbeitsaufnahmen. Unterbringung, Arbeitsbedingungen und Anfahrt sind gelegentlich
problematisch. Vielleicht sollten wir zur Erlangung von
Selbsterfahrung einmal eine Aktion „MdBs in die Ernte“
machen; dann könnten wir über dieses Thema vielleicht
konkreter sprechen.
({0})
Trotz der beschriebenen Bedingungen gibt es auch
gute Erfahrungen mit der Vermittlung von Erntehelfern.
Ich kenne zum Beispiel Brandenburger Betriebe, die
nicht nur 10 Prozent, sondern 100 Prozent einheimische
Erntehelfer beschäftigen, auch heutzutage. Von guten
Erfahrungen hat mir im August auch die Fachagentur für
Landwirtschaft bei der BA in Eberswalde berichtet. Dort
wurden 118 Saisonarbeitskräfte regional vermittelt und
128 nach Hessen. 90 Prozent blieben zwei Monate,
10 Prozent sogar vier Monate. Außerdem kenne ich das
Projekt „Agrotime“ in Potsdam, wo bis zum
August 2006 220 Erntehelfer vermittelt wurden. Dort
lag die Abbrecherquote unter 10 Prozent.
Es liegt also wohl auch an der Durchführung und an
der Betreuung der Erntehelfer und der Betriebe,
({1})
ob die Eckpunkteregelung zu einem Desaster geführt hat
oder nicht.
Aber seien wir einmal ehrlich: Die fehlende Aussicht
auf reguläre Beschäftigung zwingt Menschen in Saisonarbeit, obwohl sie keine soziale Perspektive bietet. Das
ist ein Grund dafür, dass die Erfahrungen in Ost und
West so unterschiedlich sind. Aber genau das ist die
wirkliche Herausforderung: Wie können wir Saisonarbeit mit einer sozialen Perspektive verbinden? Wir sollten im Ausschuss einmal über französische Arbeitgeberzusammenschlüsse diskutieren. Diese teilen sich
nicht nur die Maschinen - das ist ja auch bei uns üblich -,
sondern sie beschäftigen auch Personal gemeinsam, und
zwar ganzjährig und sozial abgesichert, trotz Saisonarbeit.
({2})
Das ist zum Vorteil für beide Seiten.
Die vielfältigen Tätigkeiten in den verschiedenen Betrieben sind eine permanente Weiterbildung: Im Frühjahr
geht es in die Gärtnerei, im Sommer aufs Feld, im
Herbst in die Baumschule und im Winter in die Holzernte oder ins Sägewerk. Das sind nur einige Beispiele.
Wenn es einmal gar nichts zu tun gibt, werden Weiterbildungen organisiert.
Im Jahr 2004 gab es in Frankreich 4 100 solcher Arbeitgeberzusammenschlüsse allein in der Landwirtschaft.
Kollegin Tackmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Geisen?
Ja, selbstverständlich.
({0})
Frau Tackmann, wie stellen Sie sich bei der hohen
Technisierung und Automatisierung auch in der Landwirtschaft und eher einer Zunahme dieser Technisierung
konkret vor, eine größere Anzahl von Arbeitskräften in
Einsatz zu bringen? Wollen Sie bestimmte Tätigkeiten
wieder auf eine andere Arbeitsebene bringen? Können
Sie ein Beispiel nennen?
({0})
- Es gäbe zum Beispiel die Handarbeit. Aber ich kann
mir nicht vorstellen, wie Sie 400 000 Arbeitnehmer wieder in die Landwirtschaft bringen wollen.
Mir geht es darum, dass man mit einer Verstetigung
der Arbeitsverhältnisse Menschen eher motivieren kann,
eine solche Arbeit aufzunehmen, als es vielleicht der
Fall ist, wenn sie die Aussicht haben, nur zwei Monate
oder vielleicht sogar nur einen Monat Spargel zu stechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was in
Frankreich möglich ist, hier nicht möglich sein soll.
Frankreich hat keine weniger technisierte Landwirtschaft; dort gibt es genau die gleichen Strukturprobleme.
Ich denke, wenn das in Frankreich möglich ist, müsste
das auch in Deutschland möglich sein. Es liegt eher an
den gesetzlichen Bedingungen als an fehlendem Willen
und fehlenden Möglichkeiten, wenn das hier nicht funktioniert.
({0})
Eine weitere Zwischenfrage lasse ich nicht zu, Herr
Geisen. Sie haben der Kollegin Tackmann schon geholfen, dass ich ihre Rede nicht ab- oder unterbrechen
musste. Aber nun muss sie zu ihrem Schlusssatz kommen.
Ich komme zu meinem Schlusssatz. - Jedenfalls haben die Arbeitgeber in den Arbeitgeberzusammenschlüssen offensichtlich auch große Vorteile; denn sie haben
Personal, das sich dem Betrieb verbunden fühlt, auf das
sie jederzeit zugreifen können und das für die Arbeiten
qualifiziert ist. Wir haben seit 2004 mit einem solchen
Projekt im Spreewald Erfahrungen sammeln können. Ich
würde gerne mit Ihnen im Ausschuss darüber diskutieren
und freue mich auf die Diskussion.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Drobinski-Weiß.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn fachfremde Leserinnen und Leser die Presseartikel zum Thema Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft verfolgen, dann
könnten sie leicht vermuten, die Landwirte, Verbände,
die Regierung, aber auch wir übten uns in Prozentrechnung. Varianten wie „80 + 10 + 10“ oder „90 + 10“ geistern als Kurzform durch die Presse und spalten die Eingeweihten in Befürworter oder Gegner.
Dabei geht es doch um Arbeitsplätze. Ein Blick in
die aktuelle Statistik zeigt, dass die Arbeitslosenzahlen
gesunken sind. Dennoch hatten wir im September immer
noch 4,23 Millionen Arbeitslose. Es gibt deshalb keinen
Grund, in unseren Anstrengungen nachzulassen, Arbeitssuchende wieder in Beschäftigung zu bringen.
Ende 2005 hat - das ist bereits ausgeführt worden das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemeinsam mit den Verbänden der Landwirtschaft und des Gartenbaus sowie der IG BAU Eckpunkte für die verstärkte
Vermittlung von inländischen Arbeitskräften in die Saisonbeschäftigung festgelegt. Die Agenturen für Arbeit
und die Arbeitsgemeinschaften erhielten das Rüstzeug,
um die Integration von Arbeitslosen so effektiv wie
möglich zu unterstützen. Denn das unbestrittene Ziel
war und ist es, den landwirtschaftlichen Betrieben weiterhin die notwendige Sicherheit für ihre Personalplanung zu bieten, damit sie ihre Ernten zuverlässig und
ohne Schäden einbringen können.
({0})
Herr Geisen, ich kann den von Ihnen genannten Horrorzahlen nicht folgen.
In Prozenten ausgedrückt wurden jedem Betrieb
80 Prozent statt wie bisher nur 68 Prozent mittel- und
osteuropäische Saisonarbeitskräfte ohne vorherige Prüfung von Vermittlungsmöglichkeiten inländischer Kräfte
bewilligt. Weitere 10 Prozent des Bedarfs können durch
ausländische Arbeitskräfte gedeckt werden, wenn nach
Prüfung des Bedarfs durch die Arbeitsagenturen keine
inländischen Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen.
Ganze 10 Prozent des bisherigen Arbeitskräftebedarfs
sollen durch die Gewinnung von inländischen Arbeitskräften ausgeglichen werden. Auch hier wurde nachweislich ein flexibles Verfahren angeboten. Trotz der hohen Arbeitslosenzahlen wurden dieses Ziel und der Weg
dahin seit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers
von vielen als untragbar, ja sogar als Zumutung zurückgewiesen. Nur wenige haben ihre Verantwortung auch
gegenüber der Gesellschaft erkannt und sind aktiv geworden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Geisen?
Es ist gleich 15.45 Uhr und ich halte den Antrag der
FDP-Fraktion ohnehin für überflüssig. Ich möchte keine
Zwischenfrage zulassen, sondern mit meiner Rede fortfahren.
({0})
Es ist viel einfacher, die Einmischung des Staates in
die Wirtschaft und in den Arbeitsmarkt zu beklagen,
Herr Geisen. Die inländischen Arbeitssuchenden wurden
schnell mit Attributen wie unmotiviert, unflexibel und
faul abgeurteilt. Regelmäßig vor, während und erst recht
nach der Ernte wurde gefordert, die Eckpunkteregelung
abzuschaffen oder wenigstens gründlich zu überarbeiten.
Dass es auch andere Beispiele gibt - die Arbeitsagenturen, Arbeitsgemeinschaften oder die zugelassenen
kommunalen Träger arbeiten erfolgreich mit den Arbeitgebern zusammen und die Landwirte haben sehr wohl
deutsche Erntehelfer gefunden, die flexibel sind und auf
die sich die Landwirte verlassen können -, wird leider
weniger lautstark propagiert.
({1})
Solche Beispiele kann ich Ihnen aus meinem Wahlkreis,
der Ortenau, nennen. Die Arbeitsfördergesellschaft Ortenau hat sich weder von Unkenrufen noch von früheren
Misserfolgen abschrecken lassen. Dank einer intensiven
Auswahl geeigneter Arbeitsloser, Trainingsmaßnahmen
und Praktika - das ist schon erwähnt worden - konnten
viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abgeschlossen werden. Ich will auch einmal
Zahlen nennen. 600 Arbeitssuchende wurden von der
kommunalen Arbeitsförderung in der Ortenau für den
Einsatz in der Landwirtschaft vorgeschlagen. Immerhin
wurden davon 168 Praktikanten rekrutiert. 118 gingen
schließlich - das sind fast 70 Prozent - ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein. Natürlich sind im Laufe der Zeit einige wieder ausgeschieden. Dennoch ist die Zahl derjenigen in einem
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis groß
geblieben. Ähnliche Erfahrungen hat der Maschinenund Betriebshilfsring Breisgau in Baden-Württemberg
gemacht. Positive Erfahrungen gibt es auch in anderen
Regionen. Ganz wichtig ist - das ist schon ausgeführt
worden -, dass 72 Prozent der befragten Landwirte mit
den inländischen Saisonarbeitskräften zufrieden waren
und wieder auf diese zurückgreifen würden.
Ich sehe gar keine Notwendigkeit, die Eckpunkteregelung zu ändern; denn sie bietet eine echte Chance,
Menschen in Arbeit zu bringen. Wir brauchen vielmehr
ein differenziertes Bild. Die Erfahrungen mit der Eckpunkteregelung sind regional sehr verschieden. Erste
Monitoringberichte zur Spargel- und Erdbeerernte bestätigen gerade im Osten gute Ergebnisse. Ich kann das für
den Südwesten bestätigen. Der zweite Befragungszyklus
läuft - Frau Connemann hat das bereits ausgeführt bzw. wird in der nächsten Woche vorgestellt. Deswegen
kann ich nicht verstehen, warum Sie zum jetzigen Zeitpunkt einen Antrag einbringen.
({2})
Ich bin nicht bereit, vor einer detaillierten Analyse der
Befragungsergebnisse zu beurteilen, ob die ergriffenen
Maßnahmen im Rahmen der Eckpunkteregelung ausreichend sind bzw. angepasst werden müssen, oder Aussagen zu treffen, welche zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden müssen. Warten wir den Bericht ab!
({3})
- Ganz gewiss nicht, Herr Geisen.
Eines ist bereits klar geworden: Für die regional ungenügende Deckung des Arbeitskräftebedarfs sind nicht
allein die Kontingentierung der ausländischen Saisonarbeitnehmer oder mangelnde Vermittlungsbemühungen
der Arbeitsagenturen verantwortlich.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir an dem
Ziel der verstärkten Vermittlung inländischer Arbeitssuchender in die landwirtschaftliche Saisonarbeit festhalten. Ich gehe sogar so weit und sage, dass die Kontingentierung weitaus besser und erfolgreicher ist als ihr
Ruf; denn ohne sie hätte kaum ein Arbeitgeber den
Schritt gewagt, wieder verstärkt inländische Arbeitskräfte zu beschäftigen. Schon aus diesem Grund sollten
wir an einer Kontingentierung festhalten. Schließlich
geht es hier um Menschen, die dadurch einen Arbeitsplatz finden und in ihrem Wertegefühl wieder gestärkt
werden.
Herr Kollege Geisen, das Gesetz ist nicht praxisfremd
und ist alles andere als ein Ausdruck von Planwirtschaft.
Wir lehnen deshalb den Antrag der FDP ab. Gestatten
Sie mir abschließend die Bemerkung, dass Ihnen Ihr Antrag nicht so wichtig gewesen zu sein scheint. Zu diesem
Schluss komme ich, wenn ich sehe, dass von 61 FDPAbgeordneten gerade noch zwei Abgeordnete - vorhin
waren es noch drei - übrig geblieben sind.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Frau Connemann hat zwar in ihrer Rede Einsicht gezeigt. Aber im Wahlkampf hat die
CDU/CSU den Bauern noch vollmundig billige Arbeitskräfte aus dem Osten versprochen, während Bauernverbandspräsident Sonnleitner die Bauernbefreiung ausgerufen hat. Herausgekommen sind eine Eins-zu-einsUmsetzung der europäischen Regelung betreffend das
Sozialrecht sowie eine Quote.
Aber nun verlangt die FDP, im Tourismus, in der Gastronomie - das sind riesige Bereiche - und in der Landwirtschaft ausländische Saisonarbeitskräfte, wie Sie
schreiben, wieder ungehemmt einsetzen zu können. Ich
finde, das missachtet ganz massiv die Situation von Millionen von Arbeitslosen und von Ausbildungssuchenden
in unserem Land.
({0})
Gerade heute Morgen ist doch darüber gesprochen worden. Es sind nicht nur die 400 000, die in der Landwirtschaft arbeiten, sondern es sind noch viel mehr im Tourismus und in der Gastronomie. Die FDP verweist ferner
auf die niedrigen Löhne in der Landwirtschaft, was übrigens nur zum Teil zutrifft. Hier würden die Einführung
von Mindestlöhnen oder auch Qualitätsanforderungen
bei der Unterbringung sehr viel weiter führen und der
richtigere Weg sein.
({1})
Richtig ist jedenfalls, dass die Eckpunkte nicht so erfolgreich sind, wie sie vielleicht sein könnten, würde
daraus etwas anderes gemacht. Es gibt in der Landwirtschaft und den grünen Berufen, den verwandten Bereichen, einen wachsenden Bedarf nach qualifizierten und
motivierten Fachkräften. Das trifft auf die saisonale
Beschäftigung zu, aber das trifft auch auf Dauerarbeitsverhältnisse zu; denn die Landwirtschaft spezialisiert
sich weiter. Auch nach Saisonarbeitskräften ist die
Nachfrage vielfältig. Es geht nicht nur um das Spargelstechen, sondern es geht auch um die Weinlese, den
Rebschnitt, den Obstbau, die Baumschulen, den Zierpflanzenbau, Garten- und Landschaftsbau, Holzwirtschaft und um Arbeitsplätze in der Tierhaltung. Das ist
ein ganz breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten.
Bei intelligenter Vermittlung - da sehen wir Bedarf,
nachzubessern; sowohl Frau Connemann als auch Frau
Drobinski-Weiß haben das im Prinzip angedeutet - und
ausreichender Qualifizierung entstehen auch Perspektiven für eine ganzjährige Beschäftigung. Deswegen ist
das Ziel, das mit den Eckpunkten verbunden ist, wirklich
richtig. Es hapert an der Umsetzung. Dass das funktionieren kann, haben die Beispiele, die die Kollegen gebracht haben, gezeigt.
Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Geisen?
({0})
Herr Geisen, ich bitte um Verständnis. Die Kollegen
wollen wohl nicht mehr.
({0})
Ich will mich nicht gänzlich unbeliebt machen.
Dann müssen wir diese Debatte in den Ausschüssen
und in der zweiten und dritten Lesung führen.
Es gibt positive Beispiele wie Potsdam-Mittelmark
und Unna/Westfalen. Wir als Grüne schlagen vor, grüne
Agenturen zu schaffen, die durch Qualifizierung, Schaffung von Beschäftigungspools, die auch Frau Tackmann
erwähnt hat, und eine entsprechende Unterstützung von
Arbeitssuchenden sowohl den Betrieben entgegengekommen als auch den arbeitsuchenden Menschen helfen, damit diese eine vernünftige Perspektive auf eine
qualifizierte und ganzjährige Beschäftigung in den grünen Berufen bekommen. In diesen Bereichen kann man
gut arbeiten. Das sind gute Berufe.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/2685 und 16/2991 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. Oktober 2006, 14 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise und ein erfolgreiches und hoffentlich auch erholsames Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.