Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/28/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gibt es einige Mitteilungen zu machen. Die erste freut mich ganz besonders: Der Kollege Dr. Wiefelspütz feierte am 22. September seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren herzlich im Namen des Hauses und in Abwesenheit. ({0}) Es stehen einige Wahlen zu Gremien an: Nach dem Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek vom 22. Juni 2006 benennt der Deutsche Bundestag zwei Vertreter für den dortigen Verwaltungsrat. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt den Kollegen Johann-Henrich Krummacher als ordentliches Mitglied und die Kollegin Renate Blank als Stellvertreterin vor. Für die Fraktion der SPD sollen der Kollege Siegmund Ehrmann als ordentliches Mitglied und der Kollege Christoph Pries als Stellvertreter in den Verwaltungsrat. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten Kollegen und Kolleginnen hiermit in den Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek gewählt. Als neues ordentliches Mitglied im Rundfunkrat der Deutschen Welle hat die Fraktion der CDU/CSU für den ehemaligen Abgeordneten Günter Nooke den Kollegen Wolfgang Börnsen vorgesehen. Stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Dorothee Bär werden. Die Fraktion der SPD schlägt für den Rundfunkrat den Kollegen Fritz Rudolf Körper als ordentliches Mitglied vor. Der Kollege Hans-Joachim Hacker, der bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr Stellvertreter werden. Im Verwaltungsrat der Deutschen Welle soll der Kollege Reinhard Grindel von der Fraktion der CDU/ CSU die Kollegin Monika Griefahn als ordentliches Mitglied ablösen. Frau Griefahn wird dem Verwaltungsrat fortan als stellvertretendes Mitglied angehören. Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kollegen in den Rundfunkrat und in den Verwaltungsrat der Deutschen Welle gewählt. Schließlich hat die Fraktion der CDU/CSU mitgeteilt, dass der Kollege Wolfgang Bosbach aus dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Ingo Wellenreuther vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das scheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege Ingo Wellenreuther in das Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gewählt. Interfraktionell ist verabredet worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Bisherige Ergebnisse der Koalition zu einer Reform für ein leistungsfähiges Gesundheitswesen ({1}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen - Drucksache 16/2779 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4}) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen - Drucksache 16/2758 Redetext Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Korruptionsverdacht bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Rolle der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Ächtung von Landminen und Streumunition - Drucksache 16/2780 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen - Drucksache 16/2751 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten - Drucksache 16/2750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für ein menschenwürdiges Existenzminimum - Drucksache 16/2743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz ({10}), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten - Drucksache 16/2748 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten - Drucksache 16/2752 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Sparkassen-Namensschutz sichern - EU-Recht wahren Parlamentarische Einflussnahme sicherstellen - Drucksache 16/2745 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 9, 10 und 18 abzusetzen, wodurch sich einige Änderungen in der Reihenfolge ergeben. Der Tagesordnungspunkt 16 wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen. Die Tagesordnungspunkte 12 und 13 sowie 14 und 15 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungspunkt 22 wird nach dem Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen. Die Tagesordnungspunkte 23 und 24 sowie 25 und 26 werden wiederum jeweils getauscht. Schließlich mache ich auf eine geänderte Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Gesetzentwurf der Fraktion der LINKEN zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen - Drucksache 16/731 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Der in der 22. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich noch herzlich Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier aus Tansania und Rumänien begrüßen. Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag! ({12}) Wir wünschen Ihnen interessante Gespräche und eine gute Zeit in Berlin. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung Deutsche Islamkonferenz - Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft Ich erteile zur Regierungserklärung dem Bundesminister des Innern, Wolfgang Schäuble, das Wort. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Deutschland leben heute zwischen 3,2 und 3,5 Millionen Muslime. Die meisten von ihnen sind vor Jahrzehnten mit ihren Traditionen und Gewohnheiten, mit ihrer ReliBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble gion und mit ihrer Kultur in dieses Land gekommen. Viele von ihnen haben, wie der Regisseur Fatih Akin es beschrieben hat, „vergessen, zurückzukehren“. Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre Talente entfalten und sie sollen unser Land mit weiter voranbringen. Um Perspektiven für die gemeinsame Zukunft zu schaffen, müssen wir versuchen, die Probleme zu lösen, die das Zusammenleben mit Muslimen in unserem Land belasten: Religionsunterricht in Koranschulen und an staatlichen Schulen, Kopftuch, Imamausbildung, die Rolle der Frauen und Mädchen, das Schächten - um nur ein paar Stichworte zu nennen. Nicht nur der Bundesregierung bereitet die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Muslime der zweiten und dritten Generation, häufig als Folge eines zu niedrigen Qualifikationsniveaus, Sorge. Neben solchen Alltagsproblemen führt der islamistische Terror zu Ängsten und Argwohn in der Bevölkerung. Viele Muslime finden sich zu Unrecht unter einen Generalverdacht gestellt, ausgegrenzt und nicht voll in die deutsche Gesellschaft aufgenommen. ({0}) All diese Sorgen müssen wir ernst nehmen und nehmen wir ernst. Die die Bundesregierung tragenden Parteien und Fraktionen, CDU/CSU und SPD, haben sich deshalb im Koalitionsvertrag ausdrücklich zum Dialog mit den Muslimen bekannt. Deshalb habe ich gestern mit der Deutschen Islamkonferenz in der Orangerie im Schloss Charlottenburg den ersten institutionalisierten Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen eröffnet. Das Schloss Charlottenburg - auch das darf man sagen -, Ende des 17. Jahrhunderts erbaut, erinnert an die große Toleranz der preußischen Dynastie ({1}) - ja, der Bürger, aber auch der Dynastie - und war ein guter Ort, um diesen Dialog zu eröffnen. ({2}) Aufgabe dieser Deutschen Islamkonferenz soll es sein, eine Lösung der Probleme des Zusammenlebens gemeinsam und im Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen zu suchen. Es ist viel darüber diskutiert worden, was der Unterschied zwischen der Deutschen Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel sei und ob man sie nicht verbinden könne. Natürlich gibt es eine enge Verbindung zwischen der Integration der Muslime und dem Dialog mit den Muslimen; beides hat viel miteinander zu tun. Trotzdem stehen beim Integrationsgipfel und dem entsprechenden Prozess die Fragen aller in Deutschland lebenden Menschen, die aus vielerlei Gründen nach Deutschland gekommen sind, im Vordergrund, während wir uns in der Deutschen Islamkonferenz ausschließlich mit dem Islam und mit den Muslimen beschäftigen. Im Übrigen unterhält unser Staat geregelte Beziehungen zu den Kirchen. Viele Muslime erwarten zu Recht, dass so ähnlich, wie der Staat Beziehungen zu den christlichen Kirchen und zur jüdischen Gemeinschaft unterhält, er auch Beziehungen zu den Muslimen entwickelt - was insofern komplizierter ist, als die Muslime nicht so verfasst sind wie die christlichen Kirchen. Einen Anstoß zu geben, miteinander zu diskutieren, ist einer der wesentlichen Beweggründe für die Islamkonferenz und einer der Gründe, warum wir uns entschlossen haben, dafür einen eigenen Prozess ins Leben zu rufen. Die Deutsche Islamkonferenz ist keine Veranstaltung, die nur gestern drei Stunden lang stattgefunden hat, sondern gestern war der Auftakt für einen ständigen Dialog, den wir zunächst einmal auf einen Zeitraum von etwa zwei Jahren angelegt haben. Uns geht es, wie es im Koalitionsvertrag steht, um einen Dialog sui generis mit den Muslimen in Deutschland, die nicht mehr länger eine ausländische Bevölkerungsgruppe darstellen, sondern Bestandteil unserer Gesellschaft geworden sind. ({3}) Das muss den Muslimen und auch dem nicht muslimischen Teil unserer Gesellschaft vermittelt werden. Natürlich haben viele gefragt, warum das erst jetzt geschieht. Diese Diskussion führt aber nicht weiter. Besser jetzt als später oder gar nicht. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir zu lange gedacht haben - übrigens nicht nur die Deutschen, sondern auch die meisten Zuwanderer, die einstmals als Gastarbeiter zu uns kamen -, dass sie wieder in ihre Heimat zurückgehen. Irgendwann hat sich das geändert. Wir wissen, dass die meisten von ihnen in Deutschland geblieben sind. Ihre Kinder und Enkel fühlen sich längst als Deutsche türkischer oder arabischer Herkunft. Auch deswegen war es an der Zeit, mit dieser Deutschen Islamkonferenz ein Zeichen des Aufbruchs zu einem neuen Miteinander zu setzen. Die Vertreter des Staates - Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände -, die in der Deutschen Islamkonferenz vertreten sind, haben sehr deutlich gemacht, dass wir in diesem Dialog auch Erwartungen an die Muslime haben. Nach der deutschen Rechts- und Werteordnung verstehen wir den Weg zu einem gedeihlichen Zusammenleben als einen Prozess, in dem kulturelle und religiöse Unterschiede anerkannt werden, in dem aber auch die vollständige Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlangt und vorausgesetzt wird. Die mit dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung geschützten Grundregeln des Zusammenlebens sind für jeden verbindlich, der in Deutschland lebt. Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar. ({4}) Durch das Grundgesetz wird im Übrigen mehr als durch viele andere Ordnungen - das war auch gar nicht streitig Raum für ein friedliches, vielfältiges, kulturelles und tolerantes Zusammenleben geboten. Deswegen ist es im Interesse aller, dass das Grundgesetz nicht verhandelbar ist. In dieser Ordnung, die von christlicher Ethik geprägt ist - auch das muss gesagt werden, was ich gestern auch getan habe -, muss der Islam seinen Platz finden. Hier lebende Muslime können sich Zukunftsperspektiven eröffnen, wenn sie verstärkt Bereitschaft zeigen, unsere Sprache zu erlernen, Bildungsabschlüsse zu erwerben und sich an der Entwicklung der Gesellschaft zu beteiligen. Damit wir die Deutsche Islamkonferenz als Chance für ein neues Miteinander nutzen können, sind die Muslime aufgefordert, sich zu den Grundlagen eines harmonischen Miteinanders zu bekennen: der deutschen Rechts- und Werteordnung, der deutschen Sprache, den in Deutschland gültigen sozialen Konventionen. Dieser Weg in unsere Gesellschaft wird durch das Motto dieser Deutschen Islamkonferenz umschrieben: „Muslime in Deutschland - Deutsche Muslime“. Ich glaube, dass die meisten, die das gestern verfolgt haben, in dem Urteil mit mir übereinstimmen werden, dass der Start gut gelungen ist. ({5}) Es war eine offene Debatte. Wir hatten gar nicht vor, eine harmonische und nur auf Konsens ausgerichtete Veranstaltung durchzuführen, sondern wir wollen, dass innerhalb der Gemeinschaft der Muslime unterschiedliche Auffassungen ausgesprochen werden. Wenn Sie sich die Teilnehmer anschauen, dann wissen Sie, dass es im Vorhinein sehr spannend war, wie das überhaupt gehen sollte. Es ist gut gelungen. Alle haben einander gut zugehört und am Schluss haben auf meine Frage alle gesagt, dass wir uns genau in dieser Zusammensetzung und auf dieser Grundlage jetzt auf den Weg machen und so weitermachen sollten. Deswegen ist der Start gut gelungen. Es war eine offene und in Teilen durchaus kontroverse Debatte. Es wäre unehrlich, etwas anderes zu sagen. Niemand hat auch nur den geringsten Vorbehalt gegenüber der Gültigkeit unserer Verfassungs- und Rechtsordnung geäußert. Das war so selbstverständlich wie nichts anderes. Auch das muss klar gesagt werden. ({6}) Es mag zwar nur ein Randthema gewesen sein, obwohl es ein wichtiger Punkt ist: Die Tatsache, dass alle 30, die um diesen Tisch versammelt waren, gesagt haben, dass es schön wäre, wenn eine bestimmte Operninszenierung bald wieder aufgeführt werden könnte, und dass wir dann alle miteinander dort hingehen, zeigt etwas von dem Klima, das es in dieser Konferenz gibt. ({7}) - Ja, Herr Kollege, aber es ist nicht meine Sache als Innenminister, dem Parlament so einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich halte das allerdings für einen wichtigen Schritt. Ich finde es bezeichnend und gut, dass es gelungen ist, ein entsprechendes Klima zu schaffen. Damit sind natürlich nicht alle Probleme gelöst. Ich bin überhaupt gegen jede Form von Verharmlosung. Das wird ein schwieriger Weg sein und - das haben alle gesagt - es liegt viel Arbeit vor uns. Aber wir haben eine gute Grundlage, diese Arbeit zu bewältigen; das ist eine wichtige Voraussetzung. Wir haben uns vorgenommen, Vereinbarungen zu wichtigen Fragen des Zusammenlebens zu erarbeiten. Das werden keine Vereinbarungen mit einer Verbindlichkeit in juristischem Sinne sein können. Aber als ergebnisoffener und zielgerichteter Prozess soll die Konferenz darauf hinarbeiten, einen gemeinsamen Willen herzustellen, der es Bund, Ländern und Kommunen ermöglicht, gemeinsam mit Muslimen zu handeln. Wir werden auf zwei Ebenen tagen: zum einen in der Form des Plenums, das wir gestern eröffnet haben; zum anderen in drei Arbeitsgruppen und einem Gesprächskreis, in dem Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen mit Vertretern der organisierten wie auch der nicht organisierten Muslime zur Sacharbeit zusammenkommen werden. Dies beginnt am 8. und 9. November in Nürnberg. Wir haben mit der Geschäftsführung dieses Dialogs das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beauftragt. Diese Entscheidung hat allseits große Zustimmung gefunden. Ich bin sehr froh, dass sich das Bundesamt zu Recht einer so großen Anerkennung erfreut, weil es gute Arbeit leistet. Ergebnisse sollen aus sorgfältiger Analyse abgeleitete konkrete Handlungsempfehlungen sein. Im Plenum der Konferenz wollen wir etwa jedes halbe Jahr die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zu einem breit angelegten Konsens zusammenführen. Ich habe im Übrigen die Teilnehmer für das Plenum wie für die Arbeitsgruppen nach vielen intensiven Gesprächen und nach reiflicher Überlegung ausgewählt. Es hat natürlich viele Debatten gegeben; das war unvermeidlich. Aber es war gewollt, dass es darüber schon im Vorfeld Debatten gegeben hat. Ich habe Vertreter der mitgliederstärksten muslimischen Dachverbände mit religiöser Prägung eingeladen. Sie repräsentieren, wenn man die Mitgliederzahl großzügig schätzt, 15 bis 20 Prozent der bei uns lebenden Muslime. Wenn man in diese Schätzung die Zahl der regelmäßigen Moscheebesucher einbezieht, dann kann man hinsichtlich der Repräsentanz der Verbände sogar mit Wohlwollen auf ein Drittel kommen. Daraus ergibt sich aber auch, dass die breite Mehrheit von religiösen und nicht religiösen Muslimen durch die Verbände nicht hinreichend repräsentiert ist und dass niemand den Anspruch erheben kann, nur er allein repräsentiere die Muslime. Deswegen habe ich zur Konferenz bewusst ebenfalls Vertreter der nicht organisierten Muslime eingeladen, die die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit in unserem Lande repräsentieren. Auch das ist in der Konferenz sehr deutlich geworden und es ist am Ende der Konferenz von allen akzeptiert worden. Das ist innerhalb des Dialogs und innerhalb der Gemeinschaft der Muslime in Deutschland ein wichtiger Schritt. Natürlich ist das vorher kritisiert worden, aber auch von vielen positiv erwähnt worden. Ich glaube, alle, die als Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden am Tisch gesessen haben, haben in dieser beeindruckenden Gruppe von 15 Repräsentanten muslimischen Lebens in Deutschland gespürt, dass dies auch in ihrer Vielfalt eine eindrucksvolle Gruppe war. Es ist eben wichtig, dass uns allen - unserer Gesellschaft und damit auch der Öffentlichkeit - die Vielfalt islamischen Lebens in unserem Lande insgesamt bewusst wird. Es wird, wie ich gesagt habe, ein steiniger Weg sein - für die Muslime und für den Staat. Aber nur in einer pluralen Auseinandersetzung haben wir eine Chance, Lösungen zu finden, wie sich der Islam in unserer offenen, freiheitlichen und pluralistischen Demokratie entwickeln kann. Das Spektrum der konkreten Fragen, die wir in der Konferenz erörtern werden, ist so breit, wie der Islam in Deutschland vielfältig ist. Es umfasst als ersten Schwerpunkt die Vereinbarkeit verschiedener islamischer Strömungen mit der deutschen Gesellschaftsordnung. Ausgehend von den Wesensmerkmalen unserer pluralistischen Gesellschaft werden wir in der ersten Arbeitsgruppe, die den Namen „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ trägt, über zentrale Werte sprechen. Dabei geht es nicht allein um die Frage der Gültigkeit der Grundrechte, sondern wir wollen, dass sich Muslime in Deutschland entfalten können. Den zweiten wichtigen Schwerpunkt bildet die Frage, wie sich der Islam als Religion mit den Strukturen und Elementen des deutschen Religionsverfassungsrechts vereinbaren lässt. Wir interpretieren unser Religionsverfassungsrecht nach Art. 4 des Grundgesetzes sehr im Lichte unserer staatskirchenrechtlichen Erfahrungen mit den christlichen Kirchen, was zu Problemen mit der Verfasstheit des Islam führt. Deswegen brauchen wir - beispielsweise wenn wir an staatlichen Schulen Islamunterricht einführen wollen - einen Partner, weil es nicht gut wäre, wenn der Staat dabei allein handeln würde. Dass uns ein solcher Partner zur Verfügung gestellt wird, ist eine weitere Erwartung, die wir an die Arbeit der Islamkonferenz haben. Den dritten Schwerpunkt bildet der Bereich Wirtschaft und Medien. Dabei geht es etwa darum, wie wir die Defizite in der ökonomischen und sozialen Lage vieler Muslime beheben können, wie wir erreichen können, dass die Medien stärker als bisher dazu beitragen, dass Sprachkenntnisse und damit Kommunikation und Integration gefördert werden, und um vieles mehr. Es geht aber auch um die Erwartungen von Muslimen an deutschsprachige Printmedien und elektronische Medien. Auch darüber ist gestern schon gesprochen worden. Wir werden auch über die Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratie durch islamistische Bestrebungen miteinander reden. Es gibt bereits einen Gesprächskreis, in dem schon viele Verbände mit den Sicherheitsbehörden zusammenwirken. In dem Gesprächskreis „Sicherheit und Islamismus“ der Deutschen Islamkonferenz wollen wir zu einer besseren Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des gewalttätigen wie auch des legalistisch vorgehenden Islamismus gelangen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Extremisten die Religion des Islams für ihre Taten in Anspruch nehmen können, gerade weil auch die große Mehrzahl der friedliebenden Muslime Angst vor gewalttätigen Extremisten hat. ({8}) Ich verbinde mit der Eröffnung des Dialogs mit den Muslimen die Hoffnung, dass alle verstehen, dass Muslime in Deutschland willkommen sind. Damit sie ihre Potenziale voll entfalten können, müssen wir die Probleme unseres Zusammenlebens und deren Ursachen erkennen und daraus Konsequenzen ziehen. Nur so schaffen wir Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft. Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islamkonferenz gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, sondern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in unserem Land beizutragen. Ich möchte mit folgenden Worten des in Frankreich lebenden libanesischen Schriftstellers Amin Maalouf schließen, die mir sehr gut zu dem zu passen scheinen, was uns bei der Islamkonferenz bewegt: Wenn ich mich zu meinem Gastland bekenne, wenn ich es als das meine betrachte, wenn ich der Ansicht bin, dass es fortan ein Teil von mir ist wie ich ein Teil von ihm, und wenn ich mich entsprechend verhalte, dann habe ich das Recht, jeden seiner Aspekte zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land mich respektiert, wenn es meinen Beitrag anerkennt, wenn es mich in meiner Eigenart fortan als Teil von sich betrachtet, dann hat es das Recht, bestimmte Aspekte meiner Kultur abzulehnen, die mit seiner Lebensweise oder dem Geist seiner Institutionen unvereinbar sein könnten. Wenn wir das gemeinsam zur Grundlage machen, dann können wir in unserem Lande vieles noch besser zustande bringen, als es bisher der Fall war. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Islamkonferenz war längst überfällig. Allerdings hat Bundesinnenminister Schäuble mit seiner Geheimniskrämerei um Zielsetzung, Teilnehmer und Programm der Islamkonferenz keinen guten Dienst erwiesen. ({0}) Hartfrid Wolff ({1}) Der Dialog muss vor allem in der Bevölkerung und unter unmittelbarer Beteiligung der Volksvertretung, des Parlaments, fortgesetzt werden. Dabei könnte eine allgemein akzeptierte Organisation der deutschen Muslime helfen, die Integration der Muslime in Staat und Gesellschaft zu verbessern. Schon im Vorfeld haben bestimmte Islamorganisationen Ansprüche auf rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen angemeldet. Für mich wäre eine rechtliche Gleichstellung des Islam unter klaren Bedingungen grundsätzlich denkbar. Dazu gehört, dass der Islam die Grundwerte unserer Gesellschaft ohne Vorbehalt akzeptiert und mitträgt. Unbedingte Gewaltfreiheit und die Anerkennung der Trennung von Religion und Staat sind eine wesentliche Voraussetzung dafür. Eine Religionsgemeinschaft, die das Grundgesetz durch die Scharia ersetzen will, kann nicht anerkannt und nicht toleriert werden. ({2}) Eine rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen erfordert ohne Wenn und Aber den vornehmlichen Gebrauch der deutschen Sprache, wie dies die anderen öffentlichrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften praktizieren; denn das Beherrschen der deutschen Sprache eröffnet beiden Seiten die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs. Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, jederzeit zu verstehen, was von einer öffentlichrechtlich verfassten Religionsgemeinschaft gelehrt wird. Die Angehörigen dieser Gemeinschaft haben ein Recht darauf, über ihre Religion in vollem Umfang mit der Gesamtgesellschaft zu kommunizieren. Gerade vor dem Hintergrund wachsender Ängste ist dies unverzichtbar. Die Demokratie lebt von solcher Teilhabe und damit von dem Beherrschen der Landessprache. Wer am hiesigen gesellschaftlichen Diskurs nicht teilnehmen kann, vielleicht sogar bewusst die Diskursfähigkeit verhindert und sich oder seine Angehörigen abschottet, der grenzt sich von der Demokratie ab und aus. ({3}) Deshalb brauchen wir auch in den Moscheen eine größere Offenheit. Die deutsche Sprache muss umfassend Einzug halten. Die angestrebte Gleichberechtigung wirft aber noch andere Fragen auf. Würden muslimische Organisationen in Deutschland nicht glaubwürdiger, wenn sie ihre Forderungen nach Gleichstellung von Christen und Andersgläubigen auch in islamischen Ländern deutlich erheben würden? Von den skizzierten Voraussetzungen scheint mir der gegenwärtige Islam in Deutschland - jedenfalls zum Teil noch fern zu sein. Nicht die Beteuerungen einzelner Funktionäre sind dabei entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, was jeden Tag in den Moscheen und Islamvereinen gelehrt und gepredigt wird. Angesichts befürchteter Übergriffe von Islamisten wächst in Deutschland leider ein Klima der Angst und Unsicherheit. Die Freiheit der Kunst und der Presse sowie die Meinungsfreiheit sind davon bedroht. Hat nicht schon der Karikaturenstreit die Neigung des aufgeklärten Europas zur Selbstzensur drastisch erhöht? Schon damals wurde weltweit gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung agitiert. Die schnelle Kritik muslimischer Verbände am Vortrag Papst Benedikts XVI. in Regensburg hat mich besonders betroffen gemacht. Wer seinen Text unvoreingenommen liest, muss zugeben, dass es dem Papst um das Verhältnis der Vernunft zur Religion und das aus der Vernunft abzuleitende Postulat ging, dass Religion gewaltfrei sein müsse. Klarstellungen oder Entschuldigungen, wie sie etwa vom Zentralrat der Muslime in Deutschland gefordert wurden, waren aus meiner Sicht eigentlich nicht erforderlich. ({4}) Es ist zwar erfreulich, dass nach dem Bedauern des Vatikans eine Beruhigung aufseiten der muslimischen Verbände eingetreten ist. Aber die zuvor inszenierte Aufregung war unnötig. Hier ist die Frage an bestimmte Muslime in Deutschland zu richten, wie sie es denn mit dem vorurteilsfreien Dialog und der Meinungsfreiheit halten. In Deutschland muss jederzeit auch ein offener Diskurs über religiöse Meinungen möglich sein. Die Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ vom Spielplan der Deutschen Oper in Berlin wirkt vor diesem Hintergrund skandalös. Die Deutsche Oper stellt mit ihrer Begründung den Islam in Deutschland unter Generalverdacht, und zwar aufgrund von Hinweisen des Berliner Innensenators Körting. Seine Rolle sollte man sich noch einmal genauer betrachten. Selbst wenn eine Bedrohung vorläge, muss man fragen, ob eine solche Angst vor dem Islamismus nicht den Islamisten in die Hände spielt. Es ist bezeichnend, dass der Islamrat als Dachorganisation vor allem für Milli Görüş diese Selbstzensur, diese Kapitulation der Kunstfreiheit ausdrücklich begrüßt hat. Das Klima der Angst schadet unserer Gesellschaft und schadet allen positiven Bemühungen um Integration. ({5}) Insofern begrüße ich dieses symbolische Signal, Herr Innenminister, dass die Teilnehmer der Konferenz zu der nächsten Opernaufführung gehen wollen. ({6}) Vertreter des Islam haben sich in den letzten Wochen und Monaten manchmal in einer Weise zu Wort gemeldet, die ich für sehr unglücklich halte. Doch die weit überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland ist nicht fundamentalistisch. Es hat immer wieder Stellungnahmen gegeben, die hoffnungsvoll stimmen, die die Integration eines aufgeklärten Islam in unsere westlichdemokratische Gesellschaft möglich erscheinen lassen. So hat sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, für die Kunstfreiheit und gegen die Berliner Opernabsetzung ausgesprochen. Frau Seyran Ateş hat sich in vorbildlicher Weise gegen reaktionär-unHartfrid Wolff ({7}) menschliche Praktiken wie die so genannten Ehrenmorde und gegen Zwangsheirat engagiert. Der deutsche Moslem Peter Schütt hat sich überzeugend für ein sinnund zeitgemäßes Verstehen des Koran ausgesprochen. Viele, sehr viele sind für einen offenen Dialog. Solche Ansätze machen Mut, Muslime in Deutschland willkommen zu heißen. Sie zeigen uns, dass der Islam in Deutschland differenzierter wahrgenommen werden muss, als manch aufgeregte Diskussion es suggeriert. ({8}) Ein so verstandener Islam, der sich unserer Gesellschaft, ihren Werten und ihrer Sprache öffnet, kann unser Zusammenleben sehr bereichern. Eine reaktionäre Gesinnung, die die Aufklärung bekämpft und ein Klima der Angst verbreiten möchte, hat dagegen keinen Platz in unserer Mitte. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Politik wird dieser Tage sehr viel kritisiert und viel zu wenig gelobt. Deshalb fange ich mit einem deutlichen Lob an. Die Einberufung einer Deutschen Islamkonferenz ist eine sehr gute Idee. Sie ist ein wichtiges Signal für die Verständigung mit den in Deutschland lebenden Muslimen und damit auch ein Zeichen dafür, dass der Integrationsgedanke mittlerweile von allen politischen Parteien ernst genommen wird. Es ist gut und wichtig, dass wir nicht mehr übereinander, sondern miteinander reden. Es ist wichtig, dass die Islamkonferenz keine einmalige Veranstaltung ist, sondern als ein langfristiger Prozess angelegt wird. ({0}) Nur durch das dauerhafte und fortgesetzte Gespräch kann man zu ernsthaften Verabredungen und damit zu der Chance kommen, mehr Verständnis füreinander zu entwickeln und Missverständnisse zu beseitigen. Zu einem solchen Dialog hat der Bundesinnenminister in seiner Einladung an die Teilnehmer der Konferenz aufgerufen. Allein darin liegt schon ein wichtiger Schritt in eine moderne, offene und durch Pluralismus gekennzeichnete Gesellschaft. Nun komme ich zu der Frage, was die sozialdemokratische Fraktion in diesem Diskurs, in diesem langfristig angelegten Experiment sieht. Koalitionen leben von zweierlei, von Einheit und Unterschied. Ich stelle drei Fragen an die Konferenz und an die Konzeption. Ich verbinde sie mit einigen Aspekten sozialdemokratischer Integrationspolitik. Erstens. Wer redet hier eigentlich mit wem? Bei der Deutschen Islamkonferenz will der Staat mit dem Islam sprechen, so der Innenminister. Über die eingeladenen Islamvertreter will ich nicht urteilen, sondern nur darauf hinweisen, dass lediglich 10 Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt durch Organisationen vertreten sind. Insofern wird es jeder Gastgeber schwer haben, 15 repräsentative Vertreter des Islam in Deutschland zu finden. Auf der Seite des Staates sind Vertreter von Ministerien, von Ländern und von Kommunen eingeladen, etwas zugespitzt gesagt, die „üblichen Verdächtigen“ der Administration. Abgeordnete sind nicht dabei. Es geht also, um es deutlich zu sagen, nicht um ein Gespräch zwischen und mit Bürgerinnen und Bürgern, sondern es sprechen hochrangige Regierungsvertreter mit einigen wenigen Vertretern des Islam. Gleichzeitig soll das Ziel eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung sein. Aus meiner Sicht gilt Folgendes: Ein sinnvoller Dialog, der langfristig zu einer besseren Integration führen soll, kann nicht zwischen Staat und Islam geführt werden, er muss vielmehr maßgeblich zwischen Bürgerinnen und Bürgern stattfinden. ({1}) Integration ist nämlich eine Aufgabe der Bürgergesellschaft. Der Staat kann aus meiner Sicht Moderator sein. Er kann die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Integration schaffen, beispielsweise ein ausreichendes Angebot an Sprachkursen. Zweite Frage: Worüber soll gesprochen werden? Die Arbeitsbereiche der Konferenz sind - der Innenminister hat sie vorgestellt -: deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens; Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis; Wirtschaft und Medien als Brücke; Sicherheit und Islamismus. Ehrlich gesagt, das klingt mir etwas unvollständig, womöglich etwas einseitig. Diese Themenwahl ist doch vor allem auf die Frage ausgerichtet, wie sich Muslime nahtlos in die bundesrepublikanische Gesellschaft einpassen können. Sie berücksichtigt aus meiner Sicht nicht hinreichend, dass die Integration von Zuwanderern auch von der Aufnahmegesellschaft etwas erfordert, nämlich auf diejenigen, die kommen, zuzugehen. Integration ist, richtig verstanden, ein wechselseitiger Prozess zwischen muslimischen Zuwanderern einerseits und der Aufnahmegesellschaft andererseits. Sie lässt sich auch nicht per Richtlinienkompetenz verordnen. Integration funktioniert ohnehin nicht - das wissen wir - per Assimilation. Unbestritten ist: Die Muslime, die dauerhaft in Deutschland leben wollen, müssen zur Integration bereit sein, wenn das gesellschaftliche Zusammenleben gelingen soll. Deshalb dürfen wir auch legitime Forderungen stellen: Die Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, unserer Rechtsordnung, die Beherschung der deutschen Sprache, die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Bereitschaft zur Toleranz, auch und gerade in Bezug auf religiöse Fragen und ihre Darstellung in der Kultur. Deshalb ist es wichtig, über die deutsche Gesellschaftsordnung zu sprechen und über Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis, wie es vorgesehen ist. Aber Integration verlangt auch der Aufnahmegesellschaft einiges ab, unter anderem die Bereitschaft zur Bekämpfung von Vorurteilen und die Bereitschaft zur Toleranz. Toleranz heißt nicht, dass wir Zwangsehen, Selbstjustiz oder die Unterdrückung von Frauen akzeptieren. ({2}) Sie setzt aber auf jeden Fall voraus, dass man sich mit der kulturellen und religiösen Identität des anderen beschäftigt und Vorurteile abbaut. Um Vorurteile abbauen und Toleranz üben zu können, muss man zunächst Aufklärung betreiben. Daher vermisse ich einen Arbeitsbereich, Herr Innenminister, in dem über die - vermutlich nicht unbedingt einheitliche muslimische Sicht der Dinge diskutiert wird und der über den Islam aufklärt, beispielsweise über das Verhältnis des Islam zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zu Familie, zu Erziehung und zum Recht muslimischer Kinder und Jugendlicher auf ein Leben in freier Entfaltung. Es fehlt ein Arbeitsbereich, in dem die Vertreter des Islam über den Inhalt der Scharia aufklären könnten und über das Verhältnis der Scharia zur demokratischen Rechtsordnung. Vielleicht bietet die Islamkonferenz künftig Raum für diese - aus meiner Sicht notwendigen Betrachtungen. Ich habe ein weiteres Anliegen - ich habe es schon angedeutet -: Wir brauchen für die Integration konkrete Schritte in Richtung Bürgergesellschaft und nicht nur Wunschkataloge auf Papier. Entscheidend ist aus meiner Sicht deshalb, über folgende Fragen zu reden: Was findet vor Ort, in der Gemeinde, im Bezirk, in der Nachbarschaft statt? Aus welchen guten Projekten können wir lernen? Nehmen wir als Beispiel Badr Mohammed, der bei der Auftaktveranstaltung gestern dabei war. Badr Mohammed aus Berlin betont sehr entschieden die Bedeutung der muslimischen Familie und ihrer Struktur für den Prozess der Integration. Seine Überzeugung - die er auch lebt - ist: Integration ist ein Familienprojekt, weil die Familie bei den meisten Muslimen eine ungleich stärkere Bedeutung hat als bei uns weitgehend säkularisierten Westeuropäern. Vor Ort, in der Nachbarschaft, in der Kommune braucht man deshalb Personen mit interkultureller Kompetenz, die als Lotsen der Integration Brücken zwischen Muslimen und Nichtmuslimen bauen können, die die Bildungs-, Ausbildungs- und Teilhabechancen von Angehörigen muslimischer Familien durch Aufklärung, Information und Überzeugungsarbeit erhöhen. Diese Form von Integration ist ein Projekt der Bürgergesellschaft, bei dem der Staat zwar eine wichtige, aber nicht die zentrale Rolle spielt. ({3}) Dritte Frage: Was ist das Ziel der Islamkonferenz? Herr Minister, Sie haben erläutert: Ziel der Konferenz ist eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland; dies dient zum einen der Verhinderung von Islamismus und Extremismus, zum anderen wird der Segmentation von Muslimen in Deutschland entgegengewirkt. Ich fürchte, dass diese Zielsetzung jedenfalls von manchen missverstanden werden kann. Wir müssen einen interkulturellen, interreligiösen Dialog mit dem Islam in erster Linie deshalb führen, weil ein relevanter Teil unserer Bevölkerung muslimisch ist. Wir wollen die religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland in erster Linie deshalb fördern, weil wir endlich der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass Deutschland - das ist auch Teil des Zuwanderungskompromisses 2005 gewesen ein Einwanderungsland geworden ist, und weil deshalb ein zentrales Element unserer Gesellschaftspolitik die gerechte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft sein muss. Niemand will die Gefahren, die von Islamismus und Extremismus ausgehen, ausblenden, aber diese Gefahren sollten richtig gewichtet werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat uns darüber aufgeklärt, dass von den 3,2 bis 3,5 Millionen Muslimen hochgerechnet 1 Prozent Islamisten sind, also solche, die ihren Glauben mit einer politischen Überzeugung verbinden. Da kann auch Gefahr, kann auch Gewalt, kann auch Terrorismus drohen, aber es sind 1 Prozent, über die wir reden. Ich habe den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte Islam und Islamismus jedenfalls von manchen verwechselt werden oder diese 1 Prozent - das wären 32 000 bis 35 000 - von manchen vielleicht sogar für das Ganze genommen werden. Ich betone nochmals: Die Deutsche Islamkonferenz ist ein ganz wichtiger erster Schritt und als Beginn des lange fälligen Dialogs mit dem Islam eindeutig zu begrüßen. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog ist für mich eine Grundvoraussetzung für gegenseitiges Verständnis, Toleranz und den Abbau von Vorurteilen. Deshalb sollten wir diesen Dialog ausweiten. Was spricht dagegen, nicht nur einen Dialog mit dem Islam zu führen, und zwar nicht nur zwischen Staat und Islam, sondern in Deutschland auch einen Dialog aller Weltreligionen - zwischen Christen, Juden und Moslems - zu organisieren? Was spricht dagegen, in der Frage, wie wir die Werteordnung unseres Grundgesetzes verstehen und wie wir das Zusammenleben regeln wollen, auch die Atheisten mit einzubeziehen? Herr Innenminister, Sie haben mit einem Zitat eines Libanesen geschlossen. Es liegt nahe, dass man bei der Suche nach Zitaten zu dieser Debatte zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Ich möchte mit einem Satz der ägyptisch-libanesischen Autorin Andrée Chedid schließen, das für mich Leitlinie für den Diskurs sein kann, den wir in den nächsten Jahren führen wollen. Andrée Chedid hat in sehr kurzer, aber prägnanter Form gesagt: Wer auch immer du bist: Ich bin dir viel näher als fremd! ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Hakki Keskin. ({0})

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute im Bundestag über die Grundlagen eines gleichberechtigten Zusammenlebens der unterschiedlichen Kulturen und Religionen in Deutschland. Nach meiner Wahrnehmung besteht unter den im Bundestag vertretenen Fraktionen ein Konsens über folgende Positionen: Als Demokraten lehnen wir jegliche Art von Gewaltanwendung kategorisch ab. Wir bekennen uns zu den universalen Menschenrechten und zu den Grundrechten unserer Verfassung. Hierzu gehören selbstverständlich auch die Religionsfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wir sind auch der Meinung, Herr Bundesinnenminister, dass keine Religion für politische, ökonomische oder auch ideologische Zwecke instrumentalisiert werden darf. Der säkulare Staat ist nicht verhandelbar. ({0}) Wir stimmen darin überein, dass die Beherrschung der deutschen Sprache von wesentlicher Bedeutung ist. Das sind die Punkte, die wir alle, glaube ich, interfraktionell teilen, über die also Konsens herrscht. Leider bestehen in einer Reihe wichtiger Fragen aber erhebliche Differenzen. Bundesinnenminister Schäube hat in der „FAZ“ vom 27. September - Herr Bundesinnenminister, ich werde Sie jetzt zitieren - Folgendes gesagt: Trennendes erkennen und Verbindendes stärken kann aber nur der, der sich seiner eigenen Wurzeln bewußt ist. Herr Schäuble, Sie haben Recht. Bedauerlicherweise aber haben insbesondere viele Ihrer Unionskolleginnen und -kollegen diesen richtigen Grundsatz in Bezug auf die Migranten und Muslime bis heute ignoriert. Die Fraktion Die Linke befürwortet die Erhaltung und Weiterentwicklung der kulturellen Identität der Migrantinnen und Migranten. Hierzu gehören das Erlernen der eigenen Muttersprache in den Schulen sowie die Anerkennung des Islam - ich begrüße es, wenn Sie, Herr Bundesinnenminister, das wirklich ernst meinen als eine gleichberechtigte Religionsgemeinschaft. Neben dem christlichen Religionsunterricht sollte ein Wahlfach „Islamkunde“ unter der Aufsicht deutscher Schulbehörden eingeführt werden. Kenntnis der Kulturen ist die Voraussetzung für das Einanderverstehen. ({1}) Für die Linke gehört die rechtliche, politische und - das ist ganz zentral, meine Damen und Herren - soziale Gleichstellung der kulturellen Minderheiten zu den Grundvoraussetzungen einer Integrationspolitik. Dies ist allerdings nur möglich, wenn die deutsche Staatsbürgerschaft ohne weiteres erworben werden kann, also die Schwierigkeiten, die es hierbei gibt, behoben werden. ({2}) Für alle politisch Verantwortlichen steht die Einbürgerung jedoch erst am Ende - das höre ich sehr oft auch von Unionspolitikern - des Integrationsprozesses. Was für ein Irrtum! Weite Teile der Union sind noch immer der Ansicht, dass die Migranten eine Bringschuld haben. Sie sollen sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterordnen. Oftmals wird über Integration geredet, leider jedoch Assimilation gemeint. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe leider den Eindruck gewonnen, dass die gestrige Islamkonferenz vor allem aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen stattfand. Die tatsächlichen Motive dieser Konferenz hätten eigentlich integrationspolitischer Natur sein müssen. Dennoch begrüße ich die Islamkonferenz auch heute als Initiative zu einem interkulturellen Dialog. Ein wirklicher Dialog muss jedoch auf gleicher Augenhöhe und in wechselseitigem Respekt geführt werden. Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die bei uns lebenden kulturellen Minderheiten als gleichberechtigte Bürger endlich in die deutsche Gesellschaft aufzunehmen und sie als ihren festen Bestandteil anzuerkennen. Dies erfordert, wenn ich resümieren darf, die Anerkennung der kulturellen Identität von Muslimen und anderen Minderheiten, die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung durch den erleichterten Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, ({3}) tatsächliche Chancengleichheit in den Bereichen Bildung und Ausbildung durch sozial gerechte Reformen im Bildungswesen sowie die berufliche Integration durch besseren Zugang zu Beschäftigung in Deutschland mit menschenwürdigen Einkommen. Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, wenn wir die Integration und die gestrige Islamkonferenz wirklich ernst meinen, müssen diese berechtigten Forderungen ohne weiteren Zeitverlust umgesetzt und realisiert werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Kristina Köhler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst Ihnen, Herr Innenminister, sowie Herrn Staatssekretär Altmaier und Herrn Dr. Kerber herzlich für die umsichtige Art und Weise danken, auf die Sie den Auftakt der Deutschen Islamkonferenz geplant und vorbereitet haben. ({0}) Diese Konferenz kann für Deutschland eine Zäsur im Verhältnis von Staat und Muslimen bedeuten, aber nur, wenn sie keine dieser gängigen Dialogveranstaltungen wird, bei denen kritische Fragen einfach ausgeklammert, werden, und wenn sie nicht von inszenierter Betroffenheit und Gekränktheit getragen ist. Denn es ist richtig: Wer hinter jedem Muslim einen potenziellen Terroristen vermutet, trägt zum kritischen Dialog nichts bei. Genauso wenig aber trägt derjenige etwas bei, der sich ständig als Muslim diskriminiert fühlt, wenn islamistische Auswüchse bekämpft werden. ({1}) Deshalb bin ich froh und dankbar über die Auswahl der Gesprächsteilnehmer. Das Innenministerium hat hier besondere Sorgfalt und Umsicht walten lassen. Neben den Vertretern islamischer Verbände waren auch einzelne muslimische Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft geladen, darunter etwa Frau Seyran Ateş oder Frau Dr. Necla Kelek. Anders als bei vielen Diskussionsveranstaltungen zuvor spiegelt sich hier endlich die gesellschaftliche Realität wider. Realität ist nämlich, dass der Islam in Deutschland eben nicht zum Großteil aus Mitgliedern konservativ-orthodoxer oder gar islamistischer Verbände besteht, sondern vor allem aus säkular orientierten Muslimen, die gerne hier in Deutschland und unter dem geltenden Grundgesetz leben. Deshalb geht die Kritik an der Auswahl der Teilnehmer völlig ins Leere. Auch die Vertreter islamischer Verbände müssen sich darüber klar werden, dass die Muslime in Deutschland eben kein monolithischer Block sind. Wer höchstens 30 Prozent der Muslime in Deutschland vertritt, kann nicht für 100 Prozent sprechen. Die Konferenz gestern war ein Auftakt für einen Prozess. Was genau am Ende dieses Prozesses stehen wird, können wir heute noch nicht beantworten. Das Ziel muss es aber sein, Voraussetzungen für eine Übereinkunft zu schaffen, die es allen verfassungstreuen muslimischen Strömungen ermöglicht, ihre Religion hier in Deutschland frei von Ressentiments und frei von extremistischer Beeinflussung zu leben. ({2}) Diese Übereinkunft ist im Übrigen kein Gesellschaftsvertrag, wie es immer wieder anklang, und zwar weder einer im Sinne der politischen Philosophie noch einer im Sinne traditionalistischer islamischer Auffassung. Denn eines muss doch klar sein: Die Muslime in Deutschland sind bereits Teil dieser Gesellschaft. Wer hier lebt, hat den Gesellschaftsvertrag schon unterzeichnet und sich damit zu den Grundwerten unserer Verfassung und den hier geltenden Regeln und Normen bekannt. Dies muss ein Bekenntnis ohne Vorbehalt sein. Leider wird dies immer noch von so manchem Verband anders gesehen. In Publikationen finden Sie beispielsweise Sätze wie: „Das deutsche Recht gilt für Muslime so lange, solange es dem islamischen Recht nicht widerspricht.“ Diese Diskussion jedoch, meine Damen und Herren, zielt ins Herz der Islamkonferenz. Sie ist keinesfalls nur theoretisch, sondern bildet die Grundlage dafür, dass Integration überhaupt möglich ist. Denn lassen Sie es uns doch ehrlich formulieren: Die Integration bestimmter muslimischer Gruppen in Deutschland ist nur dann möglich, wenn sich diese vom absoluten Geltungsanspruch der islamischen Pflichtenlehre, sprich: der Scharia, verabschieden. Es war daher kein besonders gelungener Beitrag, als der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime Anfang dieser Woche den Bundesinnenminister davor warnte - ich zitiere sinngemäß -, auf der Konferenz eine offene Wertediskussion anzuzetteln. Die Begründung des Generalsekretärs war, kein Staat könne die traditionellen Werte der Scharia in Einklang mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten bringen; der Staat sei vielmehr zur Wertfreiheit verpflichtet und müsse sich „da raus halten“. Hier liegt ganz offensichtlich ein großes Missverständnis vor. Dieser Staat ist nicht wertfrei. Ganz im Gegenteil: Wie jede andere Gesellschaft auch haben wir einen Kern an gemeinsamen Werten, Normen und Symbolen, durch die Gemeinschaft erst begründet, erhalten und weiterentwickelt wird. ({3}) Zu diesem Kern gehört das aus unserem europäischen Erbe geformte und im Grundgesetz verankerte Verständnis von Demokratie und Menschenwürde, Freiheit, Solidarität, der Trennung von Staat und Kirche sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter. Wer in Deutschland lebt, muss diese zentralen Werte und Normen annehmen. ({4}) Er muss diese Werte nicht nur begrüßen und anerkennen, sondern er muss sie annehmen. Hier sehen wir - Herr Professor Keskin, Sie haben diesen Punkt eben angesprochen - in der Tat eine Bringschuld aller Menschen, die in Deutschland leben wollen. ({5}) Das heißt nicht, dass diese Menschen ihre Herkunft verleugnen oder ihre Wurzeln aufgeben sollen. Wo aber Menschenrechte und Demokratie infrage gestellt werden, da gibt es kein Recht auf kulturelle Differenz. Kristina Köhler ({6}) Hier gibt es viele offene Fragen, die die Islamkonferenz beantworten muss. Wir haben gehört, dass es gestern große Einigkeit gab. Wir haben aber auch gehört, dass es an einigen Stellen - so sagte es der Innenminister - „knirscht“. Vor allen Dingen hinsichtlich der Rolle der Frauen und Mädchen gibt es noch Klärungsbedarf. Es ist wichtig, sich eines zu vergegenwärtigen: Alle in diesem Problemkreis diskutierten Phänomene - das sind sehr unterschiedliche Phänomene wie Ehrenmorde und Zwangsheiraten bis hin zur Abmeldung vom Sportunterricht und zu Zwangsverschleierungen - basieren auf einem bestimmten Ehrbegriff, der unserer westlichen Welt sehr fremd ist, auf einem Ehrbegriff, der sich wohl nicht von alleine in unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft integrieren wird. Die Islamkonferenz wird daher auch über Folgendes zu reden haben: Was kann der Islam in Deutschland dazu beitragen, dass der Aufruf der Autorin Serap Cileli endlich umfassend gehört wird: „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre.“? ({7}) Wir als CDU/CSU maßen uns nicht an, uns in theologische Diskussionen über die Auslegung der Scharia einzumischen. Das wäre absolut nicht unsere Aufgabe. Aber wird sind als Volksvertreter verpflichtet, unzweideutig klarzustellen: In Deutschland gilt im Konfliktfall das Grundgesetz, nicht die Scharia. Dies muss Konsens der Konferenzteilnehmer sein. ({8}) Auf solch einer Basis ist es dann möglich, die Integration des Islams deutlich voranzubringen, sei es in Fragen des Islamunterrichts oder bei der Ausbildung von Imamen. Bei aller Diskussion darüber sollten wir jedoch eines nicht vergessen, nämlich dass große Teile der muslimischen Bevölkerung in Deutschland bereits gut integriert sind. Diese Menschen wollen gar keinen kulturellen Sonderstatus. Sie wollen sich überhaupt nicht vom Rest der Gesellschaft absondern, sondern sie wollen schlichtweg nur, dass sie und ihre Kinder in Deutschland eine faire Chance bekommen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich als Erstes von einer regelmäßig geübten parlamentarischen Gepflogenheit abweichen: Auch ich möchte im Namen meiner Fraktion ganz ausdrücklich begrüßen, was Ihnen, Herr Schäuble, beim Aufbauen und Zustandekommen der Islamkonferenz gelungen ist. ({0}) Da ich schon Gepflogenheiten aufgebe, will ich ohne falsche Rücksichtnahme zugestehen: Das hätten wir uns schon von Ihrem Vorgänger gewünscht. ({1}) - Ich habe geahnt, dass Sie da klatschen. - Ich will nicht die Gründe dafür erörtern, warum dieser das wiederum nicht wollte, obwohl es auch zu seiner Amtszeit schon überfällig war. ({2}) Herr Schäuble, ich beglückwünsche Sie dafür, dass Sie gesagt haben: Muslime sind in unserer Gesellschaft ein Stück unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Wenn ein CDU-Bundesinnenminister am Rednerpult sagt, dass Muslime Teil unserer Gesellschaft sind und die Zeit der Einschätzung, es handele sich bei ihnen um Gastarbeiter, zu Ende ist, dann sind wir in der Gesellschaft einen Schritt weitergekommen; denn der Gastarbeitermythos gehörte längst abgeschafft. ({3}) Wir wissen längst, dass es in dieser Republik zum Beispiel in der Altenpflegeausbildung Menschen gibt, die Türkisch lernen müssen. Warum? Weil die erste und zweite Generation der Gastarbeiter hier geblieben ist. Hier ist vielleicht ihre zweite Heimat; aber hier ist die erste Heimat ihrer Kinder und Enkelkinder. Also weg mit dem Gastarbeitermythos! Sie leben hier so wie viele andere Migrantinnen und Migranten; sie leben so wie viele andere Bürgerinnen und Bürger. ({4}) An dieser Stelle will ich auf eines hinweisen, Herr Schäuble: Sie sagen, Muslima und Muslime seien Teil unserer Gesellschaft und das wolle man gemeinsam weiterentwickeln. Diesen Satz will ich denklogisch zu Ende bringen. Das heißt dann auch: Es ist nicht falsch, dass wir mit der Türkei Verhandlungen im Hinblick auf einen EU-Beitritt führen. Denn auch sie gehört dann zu Europa, zu unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft. ({5}) Vielleicht sollten wir den Integrationsgipfel und die Islamkonferenz dazu nutzen, zu sagen: Wir haben hier Bürgerinnen und Bürger, die die unterschiedlichen Religionen und Kulturen kennen und die mehrere Sprachen - zumindest zwei - können. Herr Schäuble, man könnte vielleicht ein wirtschaftliches Plus zustande bringen, wenn Sie auch das angehen würden. Wir als Bündnisgrüne fordern schon lange die Einbürgerung des Islam. „Einbürgerung des Islam“ soll heißen: Das ist eine Religion, an die Menschen hier glauben, die Menschen hier praktizieren, zu der sich Menschen hier bekennen. Deshalb ist ein Dialog darüber längst überfällig. Man hätte ihn eigentlich beginnen sollen, ({6}) als Zehntausende Gastarbeiter mit ihrer eigenen Religion und Kultur nach Deutschland kamen. - Jetzt ruft natürlich von der FDP wieder jemand - das sind immer die Gleichen - nach den Grünen. Ich danke dafür, dass Sie darauf verweisen. Das gibt mir die Möglichkeit, zu sagen, wie oft wir einen solchen Dialog eingefordert haben, ({7}) und darauf hinzuweisen, dass wir im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen eines Integrationsvertragskonzeptes, das verschiedene Standbeine enthält, gesagt haben: Die Einbürgerung des Islam gehört dazu. ({8}) Herr van Essen, dass wir an der Regierung waren, weiß ich. Ich habe auf der Regierungsbank gesessen und immer Ihre traurigen Gesichter gesehen. ({9}) Ich sehe: Ihr Gesicht ist noch immer traurig. Das wird vielleicht längere Zeit so bleiben. ({10}) Diese Islamkonferenz benötigt als Basis Grundrechte für das Zusammenleben. Dazu gehören die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die Glaubens- und Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst. Eines möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Ich habe mich gefreut, zu sehen, wie muslimische Verbände und Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich in den letzten Monaten im gesellschaftlichen Diskurs verhalten haben. Die Reaktion der muslimischen Verbände in Deutschland darauf, dass der Papst gesagt hat, bei den Reaktionen auf sein Zitat handele es sich um ein Missverständnis, hat mich sehr gefreut; denn sie haben seine Erklärung sofort angenommen. Das gilt auch für ihr Verhalten beim Karikaturenstreit und im Hinblick auf die umstrittene Operninszenierung. Ich glaube, daraus kann sich etwas entwickeln. In der Erschrockenheit über die Absage der Operninszenierung und dem Innehalten und dem Nachdenken darüber, wie weit eigentlich die Entwicklung gediehen sei, dass nicht mehr jede Form von Kunst dargestellt werden könne, liegt eine Chance. Vielleicht finden wir uns alle am Ende bei einer Opernaufführung wieder. ({11}) Herr Schäuble, ich sage Ihnen auch: Zum Thema Integration, zur Einbürgerung des Islam, gehört nicht, dass wir ausschließlich von den Muslimen fordern, sich zu bewegen. Es ist vielmehr auch Aufgabe der aufnehmenden Gesellschaft, endlich zu zeigen, dass diese Gesellschaft jahrzehntelang nicht jeden Morgen gesagt hat: Die muslimische Religion ist hier willkommen. Sie hat auch nicht jeden Tag geholfen, Integrationsmaßnahmen durchzuführen oder ihnen, zum Beispiel durch die Vermittlung der deutschen Sprache oder durch Unterstützung bei der Ausbildung, weiterzuhelfen. Die Vorstellung der Grünen ist es, zu sagen: Wir müssen es als einen Vertrag im rousseauschen Sinne verstehen. Die aufnehmende Gesellschaft und die Migranten müssen in dieser Beziehung aktiv werden. Beide Seiten sind gefordert und nicht, Frau Köhler, nur eine Seite. ({12}) Wir haben Erwartungen an diese Konferenz. Wir wollen, dass die besonderen Hindernisse, die der Verleihung des Körperschaftsstatus für die islamischen Religionsgemeinschaften im Wege stehen, beseitigt werden. Das müssen die Muslime zum Gutteil selbst tun. Wir wollen die Einführung des Islamunterrichts auf Deutsch in den deutschen Schulen; wir wollen Imame in Deutschland auf Deutsch ausbilden und wir wollen mehr als diese zwei Lehrstühle für islamische Religion, weil sich am Ende nur so ein europäischer Islam entwickeln kann, ein Islam, der eines gelernt hat, nämlich hier auf der Basis der Grundrechte aktiv zu werden. Unsere Vorstellung ist es auch, weit über diese Islamkonferenz hinauszugehen - das ist mein letzter Satz an Sie, Herr Schäuble -: Ich wünsche mir, dass Sie an einer Stelle nicht mehr blockieren. Sie müssen mit den Migrantinnen und Migranten und den Muslimen auch über eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, des Ausländerrechts reden. Sie müssen die muslimische Familie, die Familie von Ausländern genauso schätzen wie die deutsche Familie. Deshalb sage ich Ihnen: Zur Integration gehört auch, dass wir das Alter für den Familiennachzug bei Frauen und Kindern nicht erhöhen, weil das im Rahmen all Ihrer Bemühungen das falsche Zeichen wäre. Lassen Sie uns also eines vermitteln: Beide Seiten bewegen sich. Dann wird etwas daraus. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion, hat das Wort. ({0})

Fritz Rudolf Körper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will eine persönliche Vorbemerkung an Herrn Schäuble richten. Lieber Herr Bundesinnenminister Schäuble, ich will deutlich unterstreichen: Die Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgegangen sind und umgehen, finde ich richtig, weil sie sachlich, sachbezogen und unaufgeregt ist. Ich denke, das wird diesem Thema gerecht. ({0}) Ich weiß aus meiner Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär um die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Ich weiß beispielsweise um die Schwierigkeit, die sich mit der Frage der Zusammensetzung und der Aufstellung der Teilnehmerliste verbindet. Ich weiß auch, dass es darüber Debatten gegeben hat. Man kann natürlich darüber streiten: Deckt die Zusammensetzung der Konferenz 10 Prozent der deutschen Muslime ab, deckt sie 15 Prozent ab, oder wie viel deckt sie ab? Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es richtig war, dieses Risiko auf sich zu nehmen und die Zusammensetzung so vorzusehen, wie Sie es getan haben. Denn es wäre schlecht gewesen, wenn eine solche Debatte diese Islamkonferenz verhindert hätte. Deswegen muss man an dieser Stelle ein Stück Mut zur Lücke haben. Wenn man dann im Prozess erkennt, dass das eine oder andere noch zu verbessern ist, sollte man das einfach unaufgeregt tun. Ich finde es wichtig, sich auch einmal damit zu beschäftigen, wie sich die Zahl der Muslime - in Deutschland leben rund 3,5 Millionen Muslime - zusammensetzt. Etwa drei Viertel von ihnen sind türkische Staatsbürger oder Deutsche türkischer Herkunft. Es folgen Bosniaken, Iraner, Marokkaner und Afghanen. Sie sind also nicht nur türkischer Herkunft. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass gut die Hälfte aller Muslime in Deutschland länger als 20 Jahre bei uns sind und sie klar ihre Entscheidung getroffen haben, dass Deutschland ein Stück weit ihre Heimat ist. Das sollten wir auch unterstützen. ({1}) Frau Künast, ich finde es richtig, deutlich zu machen, dass die meisten Muslime als Arbeitsmigranten zu uns gekommen sind. Das ist vor dem folgenden Hintergrund wichtig: Wir müssen uns zwar leider mit einem islamistisch orientierten Terrorismus auseinander setzen; es gibt aber absolut keine Anhaltspunkte für Berührungspunkte oder Beziehungen zwischen denjenigen, die islamistischen Terrorismus betreiben bzw. in diesem Feld agieren, und den Menschen, die aus dem Bereich der Arbeitsmigration kommen. Diese Erkenntnis ist - lieber Sebastian, du unterstützt das - für die Debatte in Deutschland wichtig. Es ist richtig, dass der Islam als Religion bisher in unserem Land relativ wenig Beachtung fand. Er ist erst im Zusammenhang mit der Diskussion über den islamistischen Terrorismus in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Um es aber ganz klar festzuhalten: Niemand, der sich mit diesem Thema ernsthaft beschäftigt, darf Islam und Islamismus gleichsetzen. ({2}) Man muss allerdings feststellen, dass das Misstrauen der nicht muslimischen Bevölkerung in Deutschland gegenüber dem Islam in den letzten Jahren, insbesondere in den letzten Monaten, eher gewachsen als geringer geworden ist. Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus mangelnder Kenntnis und Information über den Islam. Deswegen sind Information und Aufklärung geboten. Nur so können wir das Verhältnis und das Verständnis füreinander fördern. Es geht hierbei auch darum, das Verständnis für die in Deutschland lebenden Muslime zu fördern. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es unter den Muslimen auch Anhänger islamistischer Strömungen gibt, die uns Anlass zur Sorge geben. Es ist aber wichtig, sich das Mengengerüst deutlich zu machen: Ihr Anteil liegt bei unter 1 Prozent der muslimischen Bevölkerung in Deutschland. - Es ist gut und richtig, dass wir den Dialog mit dem Islam in Deutschland in Gang setzen. Ich hoffe, dass es möglich ist, auf diesem Weg differenziert vorzugehen. Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist für uns der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland endgültig anerkannte Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche. Der Staat darf und soll sich aus gutem Grund nicht in religiöse Fragen einmischen. ({3}) Umgekehrt dürfen Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, staatliches Handeln bestimmen zu dürfen. ({4}) Auf dieser Grundlage hat sich in Deutschland ein von gegenseitigem Respekt getragenes Verhältnis partnerschaftlicher Kooperation zwischen dem Staat auf der einen Seite und den christlichen Kirchen auf der anderen Seite entwickelt. Wir in Deutschland dürfen von den hier lebenden Muslimen und ihren Gemeinschaften erwarten, dass sie die Trennung von staatlichen und religiösen Fragen beachten, da dies für ein friedliches Miteinander in Deutschland von entscheidender Bedeutung ist. Wir achten die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime ihren religiösen Pflichten und Bräuchen im Alltagsleben nachkommen. Wir werden jedoch nicht zulassen können, dass religiöser Eifer und religiöses Eiferertum staatliches Handeln beeinflussen. Unser Grundgesetz gewährt in Art. 4 die Glaubensund Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum oder in Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört auch die religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsgemeinschaften können daher die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Formen des bürgerlichen Rechtes, vor allem in der Form des eingetragenen Vereins erwerben. Diese Rechte gelten für alle Menschen in Deutschland, also auch für muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig davon, ob ihre Herkunftsstaaten ebenso verfahren. Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung fort, wonach Religionsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen den besonderen Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten können. Dieser den islamischen Vereinigungen bisher nicht verliehene besondere Status vermittelt einer Religionsgemeinschaft ohne Zweifel zusätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die Muslime eine Organisationsform in Deutschland geben, die sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar macht, so wie dies die christlichen Kirchen oder beispielsweise die jüdischen Gemeinden tun. Die initiierte Islamkonferenz und der von ihr ausgehende Arbeitsprozess haben richtigerweise unter anderem den Schwerpunkt, das Thema „Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ zu erörtern. Wenn wir die anstehenden Probleme lösen können, können wir eine ganze Menge der sich daraus ergebenden Fragen, wie beispielsweise die des Religionsunterrichts, besser regeln als in der Vergangenheit. Der mit der gestrigen Veranstaltung eingeleitete Prozess eröffnet uns große Chancen. Wir sollten diese Chancen für ein friedliches, freiheitliches Miteinander in Deutschland nutzen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Innenminister, Sie haben eine ganz zentrale Aussage gemacht, die ich für richtig halte. Sie haben gesagt: „Muslime sind in Deutschland willkommen.“ Das muss gesagt werden; denn das muss bei dieser Diskussion klar sein. Nichts Unterschwelliges darf hier eine Rolle spielen. Mir scheint es allerdings so zu sein, dass das Setzen von Highlights in Form verschiedener Integrationsgipfel über die sonstigen Schwächen der Koalition hinwegtäuschen soll. ({0}) Tatsächlich ist es so, dass in § 45 des Aufenthaltsgesetzes die Verpflichtung des Innenministers enthalten ist, ein bundesweites Integrationsprogramm unter Beteiligung der Religionsgemeinschaften zu erarbeiten. Frau Künast, es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, den Bundesinnenminister in der vorherigen Regierung darauf hinzuweisen. ({1}) Wir haben im Bereich der Integration viele Probleme, die wir lösen müssen. Das liegt an Versäumnissen. Wir haben unsere Vorstellungen und Forderungen gegenüber den zu uns kommenden Menschen in der Vergangenheit nicht hinreichend klar gemacht. Wir haben sie auch nicht hinreichend unterstützt, in ihrer neuen Heimat Wurzeln zu schlagen. Herr Innenminister, Sie haben etwas anderes sehr klar ausgesprochen, das für uns alle selbstverständlich ist: „Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar.“ Insofern ist auch das Selbstverständnis, das unsere Gesellschaft prägt, die Gleichstellung von Mann und Frau, nicht verhandelbar. ({2}) Das Grundgesetz geht sogar darüber hinaus. In Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes heißt es: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Hier fehlt mir vonseiten der Bundesregierung in der heutigen Debatte ein klares Zeichen. Wo ist die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung? Wo ist die Bildungsministerin der Bundesregierung? ({3}) Wo ist die Frauenministerin der Bundesregierung? ({4}) Sie nehmen an dieser Debatte nicht teil, obwohl es um die Zielsetzung des Grundgesetzes geht, Benachteiligungen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung zu beseitigen. Benachteiligungen sind Bildungsnachteile - eine Problemlage, von der insbesondere Frauen und im Zuge ihrer Aufgabe als Mütter auch ihre Kinder betroffen sind. Wir stehen vor großen Bildungsproblemen, die wir zu lösen haben. Auch diese Themen müssen im Rahmen von Integrationsgipfel und Islamkonferenz behandelt werden. Die Mutter-Kind-Sprachkurse beispielsweise sind immer noch nicht so ausgestaltet, dass den Müttern ermöglicht wird, in ausreichendem Maße die deutsche Sprache zu erlernen. ({5}) Das Grundgesetz lässt auch im Hinblick auf Gewalt in der Familie kein Pardon zu. Die Familienehre ist in Deutschland kein Rechtfertigungsgrund für Gewalttaten oder Tötungsdelikte. ({6}) Problematisch erscheint mir allerdings die Vorstellung, von oben bestimmen zu wollen, in welcher Sprache in der Moschee gepredigt wird. Ziel dieser Überlegung ist ja nicht, dass man zum Erlernen bzw. besseren Verständnis der deutschen Sprache durch die Muslime beitragen möchte. Vielmehr möchte man das Aufspüren so genannter Hassprediger erleichtern. Wir dürfen den gläubigen Muslim aber nicht unter Generalverdacht stellen. ({7}) Auch in Deutschland war der Gebrauch der deutschen Sprache in der Kirche lange Zeit nicht selbstverständlich. Wir wissen, dass die Bibelübersetzung durch Martin Luther eine revolutionäre Tat war. Die grundgesetzlich geschützte Glaubensfreiheit beinhaltet selbstverständlich auch die Freiheit der Wahl der Sprache. Allerdings würde ich mich sehr freuen, wenn die muslimischen Gemeinden eine klare Entscheidung für die deutsche Sprache treffen würden. Das wäre, ganz pragmatisch gesehen, auch ein Beitrag zur Sprachförderung. Die Hoover-Schule, die eine ähnliche Zielsetzung verfolgt und solche Impulse gesetzt hat, hat dafür den Nationalpreis bekommen. ({8}) Ein Integrations- und ein Islamgipfel der Bundesregierung reichen nicht aus, um die Probleme der Integration in den Griff zu bekommen. Es ist an der Zeit, im Bundestag gemeinsam und überparteilich Wege aus den Fehlern der Vergangenheit zu suchen. Hierzu eignet sich eine Enquete-Kommission in hervorragender Weise. ({9}) Die Thematik ist zu wichtig, um die Debatte über Integrationsprobleme und Integrationslösungen auf tagespolitische Schlagzeilen zu verkürzen. Dieser Dialog gehört ins Parlament. Er muss in den Diskussionsprozess eingebunden werden. Für die FDP ist es nicht hinnehmbar, dass der notwendige Dialog über Integration und Islam ausschließlich zwischen Regierung und Verbänden, aber ohne den Deutschen Bundestag geführt wird. ({10}) Integrationspolitik darf nicht als mediale Veranstaltung einiger Minister missbraucht werden. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Wir wollen, dass eine Enquete-Kommission zu Integration und Migration diese wichtigen Themen anstößt und vertieft. Ich lade alle Fraktionen ein, zusammen mit der FDP die Möglichkeiten zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Integration und Migration“ auszuloten. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ganz offensichtlich besteht eine überwältigende Einigkeit darüber, dass die gestrige Auftaktveranstaltung der Islamkonferenz ein voller Erfolg war. Deswegen möchte auch ich mich von dieser Stelle aus bei all denen bedanken, die diese Konferenz vorbereitet und an ihr teilgenommen haben, vor allem aber bei demjenigen, der diese Konferenz ins Leben gerufen hat, Herrn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Danke schön! ({0}) In Art. 4 unseres Grundgesetzes heißt es: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. So weit unser Grundgesetz. Diese Religionsfreiheit wird bekanntlich nicht nur den christlichen Kirchen, sondern allen Religionsgemeinschaften gewährt. Doch auch dieses Freiheitsrecht gilt, wie wir wissen, nicht grenzenlos. Es findet seine Grenze in den unveräußerlichen Menschenrechten. Niemand hat also das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die vom Grundgesetz garantierten Rechte anderer zu verletzen. Das Grundgesetz fordert jedoch nicht, dass die politische Öffentlichkeit eine strikte Äquidistanz zu allen Religionen einnimmt. Es ist sehr wohl erlaubt, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es substanzielle Unterschiede zwischen den Religionen gibt. Alle Christen sind sich heute einig, dass Gewalt, Kriege und die Verfolgung von Minderheiten mit dem Evangelium völlig unvereinbar sind. ({1}) Zum Selbstverständnis des Christentums gehört es heute, die Verbrechen, die im Namen der eigenen Religion in früheren Zeiten begangen wurden, einzugestehen und entschieden abzulehnen. ({2}) Insofern hat das Christentum hier einen Weg der religiösen Toleranz beschritten. Das friedliche Nebeneinander der Konfessionen in Deutschland hat dazu geführt, dass konfessionell geprägte Kulturräume entstanden sind: das eher katholisch geprägte Süddeutschland und das eher protestantisch geprägte Norddeutschland. Wir empfinden dies heute als Bereicherung und nicht als Grund, Konflikte auszutragen. Blickt man heute in die Welt, so sieht man, dass Religionsfriede und Religionsfreiheit auch im 21. Jahrhundert nichts Selbstverständliches sind. Der Dialog mit den Gläubigen anderer Religionen, die heute in unserer pluralen Gesellschaft leben, insbesondere der Dialog mit unseren islamischen Mitbürgern, erfordert zweierlei: das Wissen um die eigenen Glaubensinhalte, aber auch zumindest ein Basiswissen über die anderen Religionen. Deswegen ist es wichtig und notwendig, sich mit den Fragen nach der kulturellen und der religiösen Identität auseinander zu setzen. Die Religionsfreiheit des Grundgesetzes fordert etwas anderes als Äquidistanz; das Grundgesetz fordert gegenseitige Achtung. Papst Benedikt hat dies in seiner Predigt in München sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht. Er sagte: … Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht …, ist nicht die Art von Toleranz und von kultureller Offenheit, auf die die Völker warten … Die Toleranz, die wir dringend brauchen, schließt die Ehrfurcht vor Gott ein - die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist. Das ist der Gedanke, der ihm so wichtig ist und auf den wir uns besinnen müssen: Wenn wir kein Gespür mehr haben für das, was uns heilig sein muss, wie können wir dann sensibel sein im Umgang mit dem, was anderen heilig ist? Das ist die Grundlage echter Toleranz. ({3}) Das heißt, das Ausklammern der Frage, welche prägende Tradition eine Gesellschaft hat, macht diese Gesellschaft nicht eo ipso offener und toleranter. Im Gegenteil, kulturelle und religiöse Verwurzelungen ermöglichen erst eine selbstbewusste Offenheit, ermöglichen erst eine Dialogfähigkeit. Vor einiger Zeit stellte bei einem Kamingespräch mit Bischof Huber ein Kollege von uns eine Frage, die mir am Anfang peinlich war: Sagen Sie, Herr Bischof, sind Sie der Meinung, dass das Christentum dem Islam überlegen ist? - Mir war diese Frage peinlich, weil ich dachte: Was soll der arme Bischof dazu sagen? Ohne nachzudenken aber antwortete er: Selbstverständlich ist das Christentum dem Islam überlegen, aber ich werde niemals aufhören, jeden gläubigen Muslim als Person zu achten und zu respektieren. ({4}) Dies war eine ganz spontane Äußerung eines evangelischen Bischofs. Ich finde, es ist wert, darüber nachzudenken. ({5}) Anerkennung und Achtung der Lebensweise, der Gesetze und der Traditionen des Landes, in dem man lebt, gehören eben dazu. Jede Seite sollte gegenüber der anderen Wertschätzung empfinden. ({6}) Wer sich aber bewusst selbst abschottet, wie das viele Muslime derzeit leider tun, und wer Andersgläubige als Ungläubige ansieht und damit abwertet, wie das manche Muslime leider auch tun, der kann nur schwer integriert werden. Vielleicht will er sich dann auch nicht integrieren lassen. Wir fordern also den Respekt unserer Werteordnung und die Achtung unseres Grundgesetzes. Wer dazu nicht bereit ist, der muss sich fragen lassen, warum er dann ausgerechnet in unserem Lande leben will. Eines muss ganz klar sein - lassen Sie mich das auch noch sagen -: Es kann nur null Toleranz gegenüber jenen geben, die gewaltbereit sind, die Hass predigen und die gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestellt sind. Eine abwehrbereite Demokratie muss diesen Versuchen, unsere Grundordnung zu zerstören, entgegenstehen. Der gewaltbereite Muslim muss aber auch auf Ablehnung bei den gemäßigten Muslimen stoßen. ({7}) Hier wäre an manchen Stellen vielleicht ein klareres und tatkräftigeres Bekenntnis gegen Gewalt und Hass wünschenswert. ({8}) Die gestrige Islamkonferenz war der Auftakt zu einem notwendigen und längst überfälligen interkulturellen Dialog. Es war interessant, dass Frau Künast dies auch so empfindet und eine solche Konferenz von dem Vorgänger von Herrn Minister Schäuble in ihrer siebenjährigen Regierungszeit eingefordert hat. Diese sieben Jahre sind auf dem Gebiet aber vertan worden. ({9}) - Frau Kollegin Künast, ich will Sie auch nicht über Gebühr loben. Ihr Gedanke und die Logik, von einem Islamdialog zu einem Automatismus bezüglich der Aufnahme der Türkei in die EU zu kommen, verschließen sich mir in der Tat. ({10}) Der Dialog, der gestern begonnen hat, wird sich sicher über zwei, drei Jahre fortsetzen und darf nicht einseitig sein. Die Muslime müssen auf uns zugehen und auch wir müssen uns bewusst machen, dass die Verweigerung des Dialogs angesichts von 3 Millionen Muslimen deren Isolation und die Spaltung unserer Gesellschaft bewirken würde. Wer will dies verantworten? Dieser Dialog muss von einem festen und eigenen Wertefundament aus geführt werden. Alles andere würde nicht Toleranz, nicht Integration, sondern Aufgabe unserer kulturellen Wurzeln bedeuten. Wir sollten den Dialog mit den Muslimen zum Anlass nehmen, veraltete und religionsfeindliche Affekte endlich hinter uns zu lassen. ({11}) Die gestrige Islamkonferenz war ein hoffnungsvoller Anfang. Dieser offene Prozess muss zu einem besseren Verständnis und zu einem Regelwerk über das Zusammenleben der aufgeklärten deutschen Muslime mit uns führen. Wenn dieser Dialog dazu führt, dass auch wir uns wieder bewusster darüber werden, was die christlich-abendländische Kultur im Innersten zusammenhält, dann wird dieser Dialog von allen Beteiligten mit Sicherheit als große Bereicherung empfunden werden. Danke schön. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Die Linke hat die Kollegin Sevim Dagdelen das Wort. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Uhl, Sie haben Bischof Huber zitiert. Dazu muss ich sagen: Die christliche Arroganz, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, beweist wieder einmal, dass es so wirklich nie zu einem fairen und gleichberechtigten Miteinander zwischen den Religionen kommen kann. Das wollte ich vorweg sagen. ({0}) Grundsätzlich begrüßt die Fraktion Die Linke jede Form der Konfliktvorbeugung, -vermeidung und -bewältigung im Rahmen der gegenseitigen Achtung und eines offenen, transparenten und regelmäßigen Dialogs. Die Bundesregierung hat jedoch die gestrige Islamkonferenz für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Migranten muslimischen Glaubens werden wegen ihrer Religion per se zu Integrationsunwilligen und -unfähigen erklärt. Viel schlimmer noch: Sie werden zu potenziellen Unterstützern von Terror und somit zu einer Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik erklärt. Mit dieser Begründung werden unter anderem Daten für die Antiterrordatei mit der Angabe der Religionszugehörigkeit gesammelt. Wann immer die Themen „Integration“ und „Islam“ in die öffentliche Debatte gebracht werden, wird suggeriert, dass Migranten nicht die notwendige demokratische Gesinnung besitzen. Deshalb wird von den Migranten ein faktisches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Leitkultur verlangt. Dies ist ein eindeutiger Versuch, die Verfassung zu kulturalisieren, und steht im Gegensatz zum kulturellen Individualismus und Pluralismus des aufgeklärten Verfassungsstaats. Für Die Linke ist Religion Privatsache! Die Unterscheidung von Öffentlich und Privat halten wir für eine Grundvoraussetzung einer jeden aufgeklärten und emanzipatorischen Gesellschaft. ({1}) - Da lachen Sie, Frau Künast. - Die Zugehörigkeit der Religion zum Bereich des Privaten ist eine gesellschaftliche Errungenschaft, die man nicht aufgeben kann. Deshalb sollte es auch nicht zu dem Aufgabengebiet des Bundesinnenministers gehören, einen Euro-Islam oder gar einen Germano-Islam zu konstruieren oder zu institutionalisieren. ({2}) Das schließt eines jedoch nicht aus: eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit allen Religionen, wenn es darum geht, dass Grundwerte der Aufklärung beschnitten werden. Ich muss aber auch sagen, dass die Debatte in das Gesamtbild passt, das wir seit dem 11. September 2001, der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh 2004 und dem Karikaturenstreit 2006 haben. Bei jeder mit Glaubensfragen im Zusammenhang stehenden Krise ist man schnell mit der Behauptung bei der Hand, der Kampf der Kulturen sei ausgebrochen. In den letzten Jahren spielt die Frage der Religion in der Öffentlichkeit eine immer stärkere Rolle. Klassische Vorstellungen von Säkularisierung verlieren an Relevanz. Länder werden nach der Religionszugehörigkeit ihrer Bevölkerungsmehrheit definiert und zu so genannten Problemländern erklärt. Herr Kollege Bosbach von der Union fordert, die Reisefreiheit von Menschen aus ebendiesen Problemländern einzuschränken. Ich frage mich, was er sagen würde, wenn Deutschland wegen der Neonazis, die es bis in die Länderparlamente geschafft haben, ebenfalls zu einem Problemland erklärt würde. ({3}) Die Bedeutung der Religion an sich hat auch in unserem Land zugenommen. In einem nicht unwesentlich von Vorurteilen und Angst durchsetzten Klima wird allseits zum Dialog aufgerufen. Inzwischen hat sich der interreligiöse Dialog respektive christlich-islamische Dialog zu einem Knotenpunkt in den interkulturellen Angelegenheiten entwickelt. Im Rahmen des Diskurses vom Kampf der Kulturen werden Integrationsfragen mehr und mehr in Kulturfragen übersetzt und ihre Lösung von einer interreligiösen Verständigung abhängig gemacht. Der interreligiöse Dialog wird öffentlich mit der Aufgabe betraut, bei der Integration von muslimischen Einwanderern zu helfen. So hat sich aus dem muslimischen Einwanderer der eingewanderte Muslim entwickelt. Die politische und gesellschaftliche Anerkennung des Islam als gleichberechtigte Religion neben allen anderen Religionen ist auch eine Forderung, welche Die Linke unterstützt. Die Integration kann jedoch nicht erfolgen, wenn man sie von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen isoliert und auf die Fragen der Religion reduziert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau Kollegin.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Sofern es ein integrationspolitischer Dialog sein soll, wie es auch auf dem Integrationsgipfel angekündigt worden ist, muss dieser übergreifend und nicht nur auf Muslime bezogen geführt werden. Andernfalls wird in der Debatte eben doch wieder eine einseitige Problemlastigkeit im Islam suggeriert. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir - gerade weil es meine erste Rede vor diesem Hohen Hause ist - eine persönliche Vorbemerkung. Ich muss feststellen, dass ich dem Deutschen Bundestag, dem Haus der Freiheit, nur deshalb angehören kann, weil dieses Haus unter Rot-Grün 1999 das Staatsangehörigkeitsrecht geändert hat. Für die Chance, dieses Land nicht nur als Heimat zu empfinden, sondern ihm auch auf diese Weise dienen zu können, bin ich zutiefst dankbar. ({0}) Nun komme ich zur Sache. Meine Fraktion und ich begrüßen bei aller Kritik an Details die Einrichtung der Deutschen Islamkonferenz. Sie hat das Potenzial, mehrere richtige, aber auch wichtige Signale zu setzen: an die Muslime in Deutschland, aber auch an die so genannte Mehrheitsgesellschaft. Angesichts der lobenswerten medialen Vorarbeit des Bundesinnenministers kann man sich nur freuen, dass er sehr viele dieser Signale gegeben hat. Ich hatte den Eindruck, dass er gerade im konservativen Milieu dafür sorgen wollte, dass der Islam in diesem Land als gesellschaftliche Realität anerkannt wird. Das ist ein sehr gutes Ziel, für das wir Grüne seit Jahrzehnten kämpfen, Herr Minister. Ich heiße Sie herzlich willkommen auf der Seite der Realisten in diesem Land. ({1}) Der mit der Islamkonferenz begonnene Dialog bietet Chancen. Er kann und muss die längst überfällige Gleichstellung des Islam mit den anderen Religionen in Deutschland entscheidend voranbringen und schließlich verwirklichen. Ich wünsche mir sehr, dass am Ende dieses Dialoges ein Staatsvertrag steht, der ganz konkrete und praktische Fragen wie die Ausbildung von Vorbetern und Imamen - ich hoffe eines Tages auch von Vorbeterinnen und Imaminnen - an deutschen Universitäten, den Islamunterricht an Schulen, die Teilnahme von Mädchen an Klassenfahrten oder offene Fragen beim Bau von Moscheen regelt. Betreffend die rechtliche Verfasstheit des Islam muss ich feststellen, Herr Minister, dass Ihre Rede leider wenig konkret und ambitioniert war. Hierbei hoffen wir auf mehr. Aber auch die innerislamische Debatte kann dadurch forciert werden. Diese Debatte ist ein Wert an sich und ein fundamentaler Bestandteil der Einbindung des Islam in die Moderne. ({2}) Dieser Dialog braucht eine sensible Moderation, die wir Ihnen zutrauen, Herr Minister. Trotzdem hat es mich irritiert, im Vorfeld lesen zu müssen, dass Sie bisher immer nur über den Koran, aber nicht den Koran selbst gelesen haben. Deshalb will ich Ihnen als Vorsitzender der Deutschen Islamkonferenz heute ein Geschenk machen. Ich hoffe, dass Ihnen diese Koranausgabe bei den weiteren Beratungen der Konferenz behilflich sein wird. ({3}) - Ich habe selbstverständlich ein Neues Testament zu Hause und habe es schon häufiger gelesen. ({4}) Sie bekommen das Geschenk als Hilfe für Ihre Arbeit. Geburtstag hat heute jemand anders, nämlich der bayerische Ministerpräsident. Meine herzlichen Glückwünsche von dieser Stelle aus! Damit komme ich aber auch zu der unangenehmen Begleitmusik im Vorfeld der Konferenz. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende hat der „Bild“Zeitung am 7. September ein Interview gegeben, das meiner Ansicht nach immens schädlich war. Ich zitiere: Das Christentum unterscheidet sich etwa vom Islam dadurch, dass wir Intoleranz ablehnen, Religionsfreiheit gewähren, die Gleichberechtigung von Mann und Frau vertreten, Zwangsheiraten ganz entschieden nicht billigen. Für uns ist jeder Mensch einzigartig, jeder Mensch hat Würde, Freiheitsrechte und ist gleichberechtigt. So geht es nicht, ({5}) nicht nur deshalb, weil Herr Stoiber den großen Theologen heraushängen lässt, sondern auch, weil er sich - ich hoffe sehr, unbewusst - eine fundamentalistische Interpretation des Islam aneignet. Er verkennt in Muftimanier die Tatsache, dass die Pluralität bzw. die Vielfalt der Interpretation im Islam und der Rechtsschulen und vor allem im Rahmen des Grundgesetzes der Schlüssel zur Moderne ist. ({6}) Diese unqualifizierte einseitige Abgrenzung zwischen dem guten, toleranten Christen auf der einen Seite und dem intoleranten, zurückgebliebenen Muslim auf der anderen Seite ist falsch. Wir müssen feststellen, dass der Graben nicht zwischen Muslimen und Musliminnen auf der einen und Christen und Christinnen auf der anderen Seite, sondern zwischen demokratischen, freiheitsliebenden Menschen und den Kräften verläuft, die Demokratie und Freiheit in diesem Land bekämpfen. So muss man den Graben ziehen. Sonst hat man keine Chance, an die Herzen und Köpfe der jungen Menschen heranzukommen, die noch nach Orientierung suchen und die wir gewinnen müssen. Das ist der zentrale Punkt, für den wir eintreten müssen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Wir hoffen, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen all das, was im Vorfeld gesagt wurde, ernst meinen und sich dafür einsetzen, dass der Dialog kritisch geführt wird. Wir unterstützen sie dabei tatkräftig, aber selbstverständlich mit der Wachsamkeit einer kritischen Opposition. Wir werden alles daran setzen, dass dieser Dialog fruchtbar wird und dass letztendlich der Islam als gleichberechtigte Religion in diesem Land anerkannt wird. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede. Wir alle gratulieren Ihnen sehr herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPDFraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Schäuble, von den Komplimenten, die Sie heute bekommen haben, können Sie in den nächsten Wochen zehren. Ich möchte mich dem Lob anschließen. Es ist ein schönes Symbol, dass Sie sich mit den Muslimen getroffen haben. Ich möchte Sie zu diesem mutigen Schritt beglückwünschen. Sie haben ein heißes Eisen angepackt. Ich freue mich außerdem zu hören, dass sich die Teilnehmer der Islamkonferenz entschlossen haben, sich gemeinsam „Idomeneo“ in der Deutschen Oper anzusehen. Auch das ist ein schönes Symbol. Wir, die Abgeordneten, kommen gerne mit, wenn Sie uns einladen. Wer sollte gegen einen Dialog mit den Muslimen sein? Der Dialog muss aber zielgerichtet sein. Ich halte die Prämisse, dass die meisten Muslime in diesem Land nicht integriert sind, schlicht für falsch. Für ganz typisch, aber für genauso falsch halte ich die Vermischung der Themen Integration und Islam. ({0}) Zum ersten Punkt: Welche Assoziationen hat man denn heute bei dem Wort „Moslem“? Ich sage es Ihnen: Der Moslem sitzt den ganzen Tag in der Moschee und betet. Er unterdrückt seine Frau und seine Kinder. Ansonsten ist er arbeitslos, lebt vom Staat und versucht ganz nebenbei, unser Rechtssystem zu unterwandern. Kurz: Er lebt in einer unerforschten Parallelgesellschaft. Der Moslem ist heute die Folie für den unintegrierten Ausländer. Dabei ist es ganz anders. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland ist gut integriert und steht ganz selbstverständlich zu den Werten des Grundgesetzes. Nach der neuesten Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit, IZA, bringen die rund 7 Millionen Ausländer in Deutschland den Sozialkassen zusätzliche Einnahmen in Höhe von sage und schreibe 12,8 Milliarden Euro. Der Wissenschaftler Bonin vom IZA sagt wörtlich: Das Stammtischgerede, dass Ausländer die Sozialsysteme ausplündern, ist blanker Unsinn. Dieses kleine Beispiel soll belegen, wie wenig die Realitäten der Zugewanderten wahrgenommen werden. Auch wenn die Debatte manchmal diesen Anschein erwecken mag, sprechen wir nicht von irgendwelchen Außerirdischen. Wir reden vielmehr von Menschen, die schon seit über 40 Jahren hier leben und zum Teil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Wir sprechen von Familien, die in zweiter oder dritter Generation ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, von Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, Unternehmen gründen, Steuern zahlen, deren Kinder die deutschen Schulen besuchen usw. usf. Diese Menschen mit muslimischem Hintergrund sind ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft und stehen selbstverständlich zu den Werten des deutschen Grundgesetzes. Die deutschen Muslime, die ständig gefordert werden, gibt es längst. Diese Bürgerinnen und Bürger sind in allen gesellschaftlichen Schichten, allen sozialen Milieus - traditionellen und modernen - vertreten. Manche sind sehr fromm, andere säkular, wiederum andere bezeichnen sich als Kulturmuslime. Sie haben genauso unterschiedliche Lebensformen wie Deutsche auch. Auch von den Muslimen sind 10 Prozent homosexuell, auch bei den Muslimen gibt es Scheidungen, Gewalt, Patriarchat, aber auch nicht mehr familiären Zusammenhalt als bei deutschen Familien. Die muslimische Familie, was auch immer sie sein mag, ist nicht anders als die anderen Familien auch. Deswegen kann auch der Islam den Deutschen nicht die Bedeutung von Familie näher bringen. Auch positive Klischees sind Klischees. Aber von Klischees haben Muslime eigentlich schon genug. Was sie stattdessen brauchen, genauso wie jeder andere Mensch, der in Deutschland lebt, ist Chancengleichheit, die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. ({1}) Das ist für mich Integration. Die soziale Frage müssen wir ganz klar von Fragen nach dem Islam in Deutschland trennen. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann ({2}) Nicht die Religion ist daran schuld, wenn Migrantenjugendliche geringere Bildungschancen haben oder keinen Ausbildungsplatz bekommen. ({3}) Hat die doppelt so hohe Arbeitslosenrate unter Migranten etwas damit zu tun, dass manche von ihnen an Allah glauben und andere an den dreieinigen Gott? Wohl eher nicht. Da werden Sie mir zustimmen. Es entspricht der Tatsache, dass viele muslimische Migranten aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Familien stammen und in den letzten 30 Jahren den Anschluss nicht geschafft haben. Wir haben eine ethnisch-religiöse Unterschichtung der Gesellschaft. All das sind Fragen von Integration, also von Chancengleichheit. Sie erfordern knallharte und greifbare Antworten aus dem Bereich der Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, aber keine religiösen Erörterungen. Meine Forderung ist daher: Die Islamkonferenz soll sich mit dem Islam und der Frage nach den Perspektiven des Islam in Deutschland beschäftigen und mit nichts anderem. Die Konferenz muss das Ziel haben, das Selbstverständnis der Muslime zu installieren. Aber die Tatsache, dass sich die muslimischen Organisationen gestern beeilt haben, erst einmal zu sagen, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, zeigt, dass es mit dem Selbstverständnis noch nicht so weit ist. Wären die katholischen Bischöfe eingeladen gewesen, sie wären nicht auf die Idee gekommen, sich erst einmal zu den Werten des Grundgesetzes zu bekennen, weil das selbstverständlich ist. ({4}) Ich wünsche mir dieses Selbstverständnis für alle. Aufgrund des historisch gewachsenen Verhältnisses von Staat und Kirche, auf das in diesen Tagen immer wieder hingewiesen wird, ist in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche vorgesehen. Das heißt, dass Staat und Kirche eben nicht gegenseitig in die Aufgaben des jeweils anderen hineinreden. Das hat Fritz Rudolf Körper als Pastor eben sehr gut erklärt. Ich kann es nicht besser. Aber genauso wie der Staat erwartet, dass sich die muslimischen Gemeinden nicht in die Angelegenheiten des Staates einmischen, darf sich auch der Staat nicht in religiöse Fragen, zum Beispiel die nach der Liturgie, einmischen. Dort aber, wo Gewalt verübt oder dazu aufgerufen wird, muss er einschreiten. An diesem Punkt sollten die muslimischen Gemeinden nicht anders behandelt werden als die christlichen und die jüdischen. Das Grundgesetz ist selbstverständliche Grundlage unseres Zusammenlebens und die rechtliche Gleichstellung der Muslima das Megathema, über das eine Islamkonferenz diskutieren muss. Damit aber eine rechtliche Gleichstellung möglich wird, muss mit dem Kriterium der Verfassungstreue ernst gemacht werden. Wir müssen schon sehr genau fragen, mit wem wir reden und wen wir als Ansprechpartner akzeptieren. Wir alle wissen, dass der Islamrat, der mit am Konferenztisch saß, an dieser Stelle ein Problem hat, und zwar insofern, als eines seiner Mitglieder, nämlich Milli Görüş, vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wie gehen wir damit um? Schwören wir sie auf die Demokratie ein und sanktionieren sie ernsthaft bei Wortbruch oder schließen wir sie aus, weil sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Wir müssen uns entscheiden. Ein Sowohl-als-auch geht nicht. Es soll auf der Islamkonferenz nicht nur um die großen Wertefragen, sondern auch um das Kopftuch, den Islamunterricht und das Schächten gehen. Das alles sind sehr wichtige Fragen, die einer Regelung bedürfen. Hier möchte ich an die Föderalismusreform erinnern, die die große Koalition nach langem Ringen verabschiedet hat. Diese Fragen sind nämlich Ländersache. In der Kopftuchfrage zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig entschieden, dass die Bundesländer Regelungen treffen sollen. Auch der Islamunterricht unterliegt der Kultushoheit der Länder. Einige erfolgreiche Modellprojekte haben wir schon in diesem Bereich. Das haben die Konferenzteilnehmer gestern selbst erwähnt. Diese Beispiele zeigen: Der Islam ist längst Teil der deutschen Realität. Allerdings hat er seinen Platz in der Gesellschaft und in der Rechtsordnung noch nicht gefunden. Genau diesen Platz müssen wir ihm aber analog zu den christlichen und jüdischen Religionen auch einräumen wollen. Da bin ich dabei. Der deutsche Islam braucht keine Sonderbehandlung. Der deutsche Islam braucht eine Perspektive, Anerkennung und Gleichbehandlung, und zwar ganz selbstverständlich und ohne Rabatt. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel, CDU/CSUFraktion. ({0})

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben 3,3 Millionen Muslime. Sie sind unsere Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen. Niemand hat das Recht, sie unter einen Generalverdacht zu stellen, nur weil sie einer anderen Religion angehören. ({0}) Die Unkenntnis des Islam und auch der Muslime - Frau Kollegin Akgün hat eben einige Klischees genannt -, vor allen Dingen aber die Instrumentalisierung des Islam zur Rechtfertigung schwerer Gewalttaten beunruhigt und verunsichert viele Menschen. Es ist daher höchste Zeit, dass eine Debatte über das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Menschen, die ein anderes oder gar kein Bekenntnis haben, geführt wird; denn nur in einer streitigen Auseinandersetzung können die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten deutlich werden und kann der Weg für eine gemeinsame Zukunft gezeichnet werden. ({1}) Ich danke dem Innenminister sehr dafür, dass er mit der Islamkonferenz, die gestern begonnen hat, den ersten Schritt dazu getan hat, diese Debatte zu führen und diesen Weg zu beschreiten. ({2}) Zu Beginn einer umfassenden Bestandsaufnahme des derzeitigen Zustandes gehört auch, anzusprechen, was die Ursache für besondere Besorgnisse und Vorurteile ist. Ein ehrlicher Dialog verkommt ohne diese Offenheit schnell zu einem seichten Gerede. Zu diesen Tatsachen gehört - das ist heute schon erwähnt worden -, dass eine verschwindend geringe, aber dennoch gefährliche Minderheit der Muslime in Deutschland den Islam für ihre politischen Zwecke und für Gewaltanwendung instrumentalisiert. Gegen diese müssen wir uns gemeinsam wenden, Muslime und Nichtmuslime in Deutschland. ({3}) Große Sorge bereiten uns die so genannten Hassprediger; auch sie sind angesprochen worden. Dieses Phänomen zeigt auch, wie wichtig die Diskussion um die Ausbildung von Imamen in Deutschland ist. Es zeigt ferner, wie wichtig es ist, dass wir einen Dialog darüber führen, wie die deutsche Sprache in islamische Gottesdienste einzuführen ist. ({4}) Probleme sind auch Geistliche, die große Menschenmassen aufgrund bewusst missverstandener Aussagen von Politikern oder geistlichen Führern zu Gewalttaten aufstacheln, wie wir es vor kurzem im Zusammenhang mit der Äußerung des Papstes erlebt haben. Im Nahen und im Mittleren Osten, gab es, bereits kurze Zeit nachdem das umstrittene Papstzitat bekannt geworden war, Demonstrationen mit brennenden Papstpuppen und brennenden Deutschlandfahnen. Der Islamismus verfügt offensichtlich über ein sehr großes Potenzial, das schnell aktiviert werden kann. Deshalb war und ist es ein gutes Zeichen, dass die religiösen Verbände der Muslime in Deutschland die infolge der Mohammed-Karikaturen und des Papstzitates entstandenen Gewalttätigkeiten deutlich verurteilt haben. ({5}) Ein Schlagwort, das immer wieder in die Diskussion eingebracht wird, lautet: Toleranz. Wer wollte für sich gelten lassen, dass er nicht tolerant ist? Toleranz setzt aber voraus, dass man sich selber über die eigenen Wertvorstellungen im Klaren ist. Jede Toleranz hat Grenzen; sonst wird sie zur Beliebigkeit. ({6}) Diese Grenze ist für mich die Wertordnung, wie sie in unserem Grundgesetz zum Ausdruck kommt. ({7}) Im Verhältnis zwischen dem Staat und allen Religionen muss eines gelten: Keine Religion darf die staatliche Ordnung und die Wertentscheidung des Grundgesetzes infrage stellen. Diese beiden Punkte sind, wie Innenminister Dr. Schäuble zu Recht und unmissverständlich festgestellt hat, nicht verhandelbar. Die Wertordnung ist für alle gültig. Im Dialog mit dem Islam müssen wir betonen, dass auch die Gleichberechtigung von Frau und Mann zu dieser Wertordnung gehört. ({8}) Die Diskussion um die Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ ist ein Beispiel dafür, wie wichtig das Bewusstsein für unsere Wertordnung ist. Zu unserer Wertordnung gehört die Freiheit der Kunst. Ich will nicht bestreiten, dass die abgeschlagenen Häupter von Jesus oder des Propheten Mohammed religiöse Gefühle von Christen und Muslimen verletzen können. Niemand muss diese Inszenierung gut finden. Nach unserem Verständnis muss man aber Kritik sowie die Infragestellung der eigenen Position und damit auch seiner Religion ein Stück weit ertragen können. Wer sich verletzt fühlt, kann seine Kritik offen äußern und so einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten. Ich bin auch sicher, dass Muslime mit ihren Werten und Überzeugungen eine Menge zu diesem öffentlichen Diskurs in unserem Land beitragen können und ihn bereichern werden. Was jedoch nicht hingenommen werden kann, sind Gewalt und die Androhung von Gewalt. Ich hoffe, dass die Islamkonferenz das Verhältnis von Islam und Gewalt, das von vielen als kritischer Punkt angesehen wird, abschließend und endgültig klärt. Die Absetzung der Mozart-Oper verdeutlicht auch, wie gefährlich Islamismus wirken kann. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen und das Papstzitat darf nicht zu einer Selbstzensur führen. Die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind für unsere Demokratie konstituierend. Wenn wir uns im vorauseilenden Gehorsam eine Selbstzensur auferlegen, haben wir viel zu verlieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus ist dann nämlich nicht mehr möglich. Wir müssen den Respekt vor unserer Werteordnung dadurch fördern, denke ich, dass wir selbst zu unseren Werten stehen und diese auch verteidigen. ({9}) Im Vorfeld der Islamkonferenz kam vielfach die Frage auf, welche Organisation denn den Islam in Deutschland vertritt. Die Diskussion darüber - das ist mehrfach angesprochen worden -, ist bekannt. Es ist klar geworden, dass es eben keine allgemeine Vertretung der Muslime in Deutschland gibt. Es ist nach meiner Auffassung aber nicht die Aufgabe des Staates, hier eine gemeinsame Basis herzustellen, die eine Vertretung der Muslime gewährleistet. Dies ist Aufgabe der Religionsgemeinschaften selbst. Deshalb wehre ich mich auch dagegen, den Muslimen in Deutschland vorzuschreiben, wie sie sich zu organisieren haben. ({10}) Die Frage, ob der Körperschaftsstatus verliehen werden sollte, kann daher nicht am Beginn des zu beschreitenden Weges stehen. ({11}) Es gibt rechtliche Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, um diesen Status zu erlangen. ({12}) Nach meiner Auffassung liegt es also bei den Religionsgemeinschaften selbst, sich diese Voraussetzungen zu erarbeiten. Auch wenn eine einheitliche Vertretung der Muslime in Deutschland für uns wünschenswert ist, so liegt der Schlüssel hierfür doch bei den Muslimen selbst. Wir können diesen Prozess unterstützen, wir können ihn aber nicht staatlich verordnen. ({13}) Ich schließe mit einem Zitat von Benedikt XVI., der in den letzten Wochen vor allem wegen einer - missverstandenen - Äußerung Gegenstand vieler Debatten war. Benedikt XVI. sagt: Vom Dialog zwischen Christen und Muslimen hängt zum großen Teil unsere Zukunft ab. Ich glaube, das gilt auch in Deutschland. Ich wünsche uns allen einen fruchtbaren Dialog. Er hat gestern begonnen. Ich wünsche uns auch, dass er viele Jahre dauern möge und dass er uns alle zu guten Ergebnissen bringt. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Modernes Kündigungsschutzrecht und flexible Befristungsregelungen im Interesse der Arbeitsuchenden - Drucksache 16/1443 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Ausweitung und Stärkung des Kündigungsschutzes - Drucksache 16/2080 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({2})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der letzten Zeit in Deutschland und namentlich in der Union, Herr Kollege Brauksiepe, viel über Lebenslügen gesprochen worden, von denen man sich befreien müsse. Ich will hier ganz klar sagen: Für mich ist eine der größten und auch meistverbreiteten Lebenslügen in der Politik, der Kündigungsschutz habe nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob in Deutschland Arbeitsplätze entstehen oder nicht. Dabei ist aus unserer Sicht die Diagnose bzw. der Befund sehr eindeutig: Wir freuen uns über die heute bekannt gegebene Fortsetzung der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt in Form von weniger Arbeitslosen und mehr Erwerbstätigen und einem leichten Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aber die Tatsache, dass auch in Zeiten eines beginnenden Aufschwungs die wirtschaftliche Dynamik den Arbeitsmarkt nur sehr, sehr gebremst erreicht, offenbart jedem, der sehen will, die strukturellen Markteintrittsschwellen, die für Arbeitsplatzsuchende durch den bestehenden Kündigungsschutz aufgebaut sind. ({0}) Umgekehrt zeigt ein Blick über die Grenzen hinaus, etwa in die Schweiz oder nach Dänemark, dass dort, wo ein mit dem deutschen vergleichbarer Kündigungsschutz nicht existiert, annähernd Vollbeschäftigung herrscht. Von Vollbeschäftigung sind wir in Deutschland allerdings noch weit entfernt. Besonders paradox ist, dass es, obwohl das Kündigungsschutzrecht in Deutschland auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses ausgerichtet ist, nach einer Kündigungsschutzklage in der Praxis nur in wenigen Fällen tatsächlich zu einer Weiterbeschäftigung kommt. Tatsächlich ist die arbeitsgerichtliche Realität von einem Feilschen um Abfindungszahlungen und fragwürdigen Vergleichen gekennzeichnet. Die Arbeitsgerichte werden durch diese Prozesspraxis - ich sage: unnötigerweise bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit belastet. ({1}) Kleine Unternehmen ohne eigene Personalabteilung haben nach wie vor große Schwierigkeiten bei der Anwendung des sehr komplizierten und sehr vielschichtigen Kündigungsrechts. Es ist für viele Betriebsinhaber immer noch schwer, wenn nicht unmöglich, ohne rechtskundigen Rat eine auch nach dem Kündigungsschutzgesetz wirksame Kündigung auszusprechen. Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dazu geführt, dass gerade kleine Unternehmen bei einem beginnenden Aufschwung oder bei Nachfragespitzen weiterhin versuchen, mit der vorhandenen Belegschaft mittels Überstunden auszukommen, anstatt neue Mitarbeiter einzustellen. Das Kündigungsschutzrecht hat sich damit von seiner Funktion als soziales Schutzrecht hin zu einer Einstellungshürde für diejenigen verkehrt, die arbeitslos sind und eine neue Stelle suchen. ({2}) Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag daher Flexibilität dort schaffen, wo heute verkrustete Strukturen und ideologische Denkmuster vorherrschen. Dabei sind wir mit unserer Analyse nicht allein. Wir sehen uns vielmehr durch das Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eindrucksvoll bestätigt. Selbst in einem „IAB Kurzbericht“ heißt es: Will man aber mehr Bewegung ins Beschäftigungssystem bringen, bedarf es beim Kündigungsschutz eines Paradigmenwechsels. Es geht um den Übergang vom Bestandsschutzprinzip zum Abfindungsprinzip. Auch in der Union wird durchaus Handlungsbedarf gesehen. So hat der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, im März dieses Jahres gesagt, wenn der Kündigungsschutz ein Einstellungshindernis sei, dann müsse er verändert werden. Wörtlich sagte er: Wir können ja nicht die Arbeit dadurch verhindern, dass wir gesetzliche Hürden aufbauen. Recht hat der Mann. Das muss man hier einmal klipp und klar sagen. ({3}) Doch wie findet das seinen Niederschlag in der Politik der großen Koalition? Anstatt endlich die notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes in Angriff zu nehmen, herrscht in der großen Koalition nur großes Chaos. Ein Umstand, den die „Berliner Morgenpost“ vor wenigen Tagen in der Überschrift zusammenfasste: „Chronik des Scheiterns: Der Kündigungsschutz bleibt“. - Ich stelle hier unmissverständlich fest: Es ist vor allem die Chronik des Scheiterns der CDU und ihres Generalsekretärs, Ronald Pofalla. Es offenbart, wie wenig Ahnung ein führender Vertreter der Union davon hat, was den Mittelstand in Deutschland davon abhält, neue Arbeitsplätze zu schaffen. ({4}) Dass die SPD mit dem Mittelstand nichts am Hut hat, war seit langem bekannt. ({5}) Dass die CDU zwar viel über die Nöte des Mittelstandes redet, aber in der Praxis, von wenigen Ausnahmen - Ernst Hinsken, Peter Rauen und Kollegen Dr. Fuchs abgesehen, ({6}) nichts wirklich dafür tut, diese Nöte zu lindern, wurde offenbar, als die Regelungen des Koalitionsvertrages zum Kündigungsschutz bekannt wurden. Man muss schon sehr wenig Ahnung haben - und davon viel -, wenn man wie Ronald Pofalla die einschlägigen Passagen des Koalitionsvertrages als größte Reform in den letzten Jahrzehnten glaubte etikettieren zu müssen. Tatsache ist: Jeder, der in seinem Leben schon einmal in der Situation war, einen Arbeitnehmer einzustellen - als mittelständischer Unternehmer weiß ich hier sehr genau, wovon ich rede -, hat sofort erkannt, dass es eine Verschlimmbesserung war, was dort ausgehandelt wurde. Der Verhandlungsführer der Union, eben Ronald Pofalla, hatte sich ganz offensichtlich über den Tisch ziehen lassen. Deswegen war es nur konsequent, dass die deutschen Unternehmen und die sie vertretenden Verbände in der Folge das vergiftete Geschenk dankend ablehnten. Nun herrscht große Ratlosigkeit in der Union. Ich frage Sie: Soll es das jetzt wirklich gewesen sein? Die FDP-Bundestagsfraktion ist jedenfalls entschieden der Meinung, dass die Reform des Kündigungsschutzes nicht einfach ersatzlos ausfallen darf. ({7}) Deswegen legen wir heute einen Antrag vor, der den Kündigungsschutz reformiert und gleichzeitig das Instrument der befristeten Beschäftigung weiterentwickelt. Denn das war doch der faule Kompromiss, den am Schluss keiner haben wollte, dass nämlich für eine, noch dazu bürokratisch ausgestaltete, Änderung der Wartezeit im Kündigungsschutzgesetz die sachgrundlose Befristung ersatzlos abgeschafft werden sollte. Wir brauchen aber nicht das eine oder das andere, wir brauchen beides: Änderung im Kündigungsschutzgesetz und Erhalt der sachgrundlosen Befristung. Weil gerade kleine Unternehmen mit der sachgrundlosen Befristung ein unbürokratisches Mittel haben, Auftragsspitzen mit Neueinstellungen zu bewältigen, schlagen wir vor, die Dauer der sachgrundlosen Befristung auf vier Jahre zu verlängern, wie sie heute bei Neueinstellungen schon gilt. Wir schlagen vor, dass das Verbot, einen Arbeitnehmer sachgrundlos befristet zu beschäftigen, wenn er bei dem gleichen Arbeitgeber schon einmal beschäftigt war, aufgehoben wird. Wir wollen eine Verlängerung der Wartezeit auf zwei Jahre, und zwar nicht per Vertrag, sondern per Gesetz. Wir wollen, dass der Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten begrenzt wird; denn ein Mittelständler stellt in der Regel nicht ein, um zu entlassen, aber er muss dann, wenn eine konjunkturelle Notlage entsteht, die Chance haben, auf einen Auftragsrückgang zu reagieren. ({8}) Wir glauben, dass das Lebensalter als Kriterium für die Sozialauswahl - das ist nämlich das entscheidende Handicap eines älteren Arbeitnehmers am Arbeitsmarkt gestrichen werden muss. Außerdem wollen wir, wie auch der Sachverständigenrat, das Vertragsoptionsmodell in das Kündigungsschutzgesetz einarbeiten. Das sind Vorschläge, die sicherlich nicht alle populär sind. Aber am Ende wird es ohne einen Paradigmenwechsel nicht gehen. Denn das, was Albert Einstein gesagt hat, gilt auch heute noch: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ ({9}) Ausschlaggebend ist nicht die Sichtweise eines SPDParteitages oder eines CDU-Generalsekretärs, sondern allein die Sicht desjenigen, der darüber entscheidet, ob ein Mitarbeiter neu eingestellt wird oder nicht. Wie sich die Politik dabei fühlt, ist nachrangig. Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Deswegen laden wir Sie mit dem vorliegenden Antrag heute ein, das Notwendige zu tun. Es geht um Millionen von Menschen in unserem Lande, vor allen Dingen solche mit geringer Qualifikation, die eine Chance auf die Rückkehr in das Erwerbs- und Arbeitsleben bekommen müssen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte zum Kündigungsschutz und die Anträge von der Linken und der FDP zeigen, dass die Bandbreite, in der dieses Thema in der Gesellschaft diskutiert wird, auch hier im Parlament vorhanden ist. ({0}) - Das ist auch gut so. Dennoch muss man im Parlament immer darauf schauen, wie man zu Mehrheiten kommt. Das Thema ist aus meiner Sicht ein Symbolthema. Die einen sagen, besonders sozial sei es, die Grenzen zu erweitern; die anderen sagen, sie seien Modernisierer, wenn sie möglichst viele Hürden einreißen. Die Wirklichkeit bewegt sich möglicherweise in der Mitte. Jedermann weiß, dass es bei jeder Koalition bestimmte Bandbreiten und unterschiedliche Schnittmengen gibt. Ich persönlich glaube nicht, dass der Kündigungsschutz zurzeit das entscheidende Rädchen ist, um den Arbeitsmarkt voranzubringen. Wir wissen aus der Diskussion der vergangenen Jahre, dass der Kündigungsschutz immer ein Thema war. Es gibt verschiedene Stellschrauben: die Höhe des Schwellenwertes, befristete und unbefristete Arbeitsverhältnisse, längere Einstiegsfristen für Neueinstellungen, Alternativen zu Kündigungsschutzregelungen, zum Beispiel in der Form von vereinbarten oder angebotenen Abfindungsregelungen. Wir haben uns in den letzten Jahren durchaus in die Richtung der Modernisierung bewegt. Schon heute ist es möglich, bis zu viermal befristet einzustellen. Als Folge der Arbeit des Vermittlungsausschusses im Jahre 2003 - es gab schon damals eine Art großer Koalition - gab es ab 1. Januar 2004 Verbesserungen in diesem Bereich. Allerdings konnten wir nicht alles umsetzen. Wir haben aber den Schwellenwert von fünf auf zehn hochgesetzt. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob das genug ist oder ob er nicht auf 20 oder sogar auf 50, wie Herr Brüderle vor zwei Jahren gefordert hat, hochgesetzt werden sollte. Wir haben Änderungen zur flexibleren Gestaltung der Sozialauswahl eingeführt. Damit kann man zufrieden sein oder man kann sagen, man könnte noch ein Stück weitergehen. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, dem Arbeitnehmer eine Abfindung anzubieten, der dafür auf sein Recht verzichtet, gegen seine Kündigung zu klagen. Man kann sich vorstellen, dass dieser Punkt vor der Einstellung geregelt wird. Außerdem wird es bei Existenzgründungen erleichtert, befristet einzustellen. Die Frist beträgt inzwischen vier Jahre. Da ich weiß, was die heute vorliegenden Anträge bedeuten, sage ich: Die Union als Volkspartei ist gut beraten, das Thema Kündigungsschutz von allen Seiten und differenziert zu betrachten. ({1}) Einerseits gilt, dass vor allem in Großbetrieben der Kündigungsschutz wichtig für die Sicherheit der Arbeitnehmer und deren Motivation ist. Andererseits gilt, dass Kündigungsschutzregelungen den Einstieg von Arbeitsuchenden in den Arbeitsmarkt nicht behindern dürfen. Das trifft vor allem auf kleinere und mittlere Betriebe zu. ({2}) Innerhalb der großen Koalition ist die Union im Vergleich zur SPD sicherlich derjenige Partner, der die Notwendigkeit zur Flexibilisierung stärker sieht. Dennoch sage ich: Die beiden vorliegenden Anträge, also auch der FDP-Antrag, sind letztlich Schauanträge. ({3}) Es wird in diesem Parlament keine Mehrheit für den Antrag der FDP und für den Antrag der Linksfraktion geben. ({4}) Mit diesen Schauanträgen wollen Sie sich besonders gut darstellen, obwohl Sie aufgrund der Mehrheitsverhältnisse und der Koalitionsmöglichkeiten in diesem Haus wissen, dass Sie keine Chance haben, Ihre Anträge zu realisieren. ({5}) In Ihrem Antrag verweist die FDP auf den Sachverständigenrat und auf eine IAB-Untersuchung. Sie erwecken damit den Eindruck, Ihre Forderungen seien daraus abgeleitet. Wenn ich mir aber anschaue, was der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten sagt, dann kann ich zunächst feststellen, dass er fünf Handlungsfelder skizziert hat. Das zentrale Handlungsfeld ist Lohnersatzleistungen; das zweite Handlungsfeld ist Arbeitsmarktpolitik; das dritte Handlungsfeld ist Tarifvertragsrecht und das vierte Handlungsfeld ist Kündigungsschutz. Der Kündigungsschutz steht also nicht herausgehoben an erster Stelle. Der Sachverständigenrat fordert auch sehr deutlich ein Gesamtkonzept. Man muss also die Forderungen im Zusammenhang sehen und man darf sie nicht auf den Kündigungsschutz reduzieren. Ich erwähne auch das fünfte Handlungsfeld, das wir häufig vergessen, nämlich den unverzichtbaren Beitrag der Tarifvertragsparteien zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der IAB-Bericht von 2004 beschäftigte sich unter der Überschrift „Arbeitsmarkt-Reformen - Betriebe reagieren kaum auf Änderung beim Kündigungsschutz“ mit dem Effekt aufgrund der Änderung des Schwellenwertes. Ganz so einfach darf man es sich also nicht machen, wenn man seine Begründung auf diesen IAB-Bericht stützen will. Es gibt sogar Beispiele aus dem Ausland, wo es gegenteilige Entwicklungen gab. In Irland war der Kündigungsschutz Ende der 90er-Jahre extrem gering. Trotzdem ist dort die Arbeitslosenquote auf 12 Prozent gestiegen. In Norwegen war die Entwicklung allerdings umgekehrt. Ich will damit nicht sagen, dass diese Maßnahme keine Wirkung hat. Aber sie hat nicht die Wirkung, von der Sie in Ihrem Antrag sprechen. ({6}) Ich will nun etwas zum Antrag der Linken sagen. Im Antrag der Linken wird gefordert, die Möglichkeit, Arbeitsverhältnisse ohne das Vorliegen sachlicher Gründe befristen zu können, abzuschaffen. Sie wollen die Wartezeit auf drei Monate verkürzen und den Schwellenwert wieder heruntersetzen. Mit Ihrem Antrag wollen Sie den Eindruck erwecken, als ließe sich alles, was es bereits gibt, zurückdrehen. Außerdem wollen Sie den Eindruck erwecken, als seien Sie die sozialsten Leute in diesem Haus. Das Gegenteil ist der Fall. ({7}) Ihre Position ist rückwärts gewandt. Sie wollen um diejenigen, die Arbeit haben, einen Schutzzaun errichten. Das ist - ich sage es deutlich - sehr unsozial und unsolidarisch; denn Sie errichten eine Mauer um die Betriebe. ({8}) Das ist eine Closed-Shop-Politik; denn diejenigen, die Arbeit suchen, bekommen keine Arbeit. Auch Ihnen sage ich: Für diese Vorstellung finden Sie keinen Partner im Parlament. ({9}) Sie haben keine Chance auf Realisierung und finden in der gesamten Bevölkerung keinen Zuspruch; auch das müssen Sie wissen. ({10}) - Ich habe gesagt: in der gesamten Bevölkerung. Denn jeder, der zumindest mit anderthalb Beinen im Leben steht, weiß, dass das, was Sie vorschlagen, völlig lebensfremd ist, an der Realität vorbeigeht und so sicherlich nicht mehr kommt. ({11}) - Das mag so sein. Denjenigen, die das anders sehen, sage ich: Schaut genau hin. Die schließen die Betriebe für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, ab, sodass diejenigen, die außerhalb der Betriebe sind, nicht hineinkommen. Das ist die Wirkung Ihrer Regelung. Noch einmal zum FDP-Antrag. Auch Ihr Antrag ist - das habe ich bereits gesagt - ein Schauantrag. Über einzelne Punkte könnten wir sicherlich miteinander reden. Das wissen wir; das haben wir in der Vergangenheit auch getan. Aber schauen Sie sich die Mehrheitsverhältnisse an: Es gibt keine Chance, in die Richtung etwas zu verändern, wie Sie das wollen. ({12}) Herr Kolb, ich weiß nicht, ob Kollege Brüderle und andere, die neuerdings mit den Roten flirten - das liest man ja in den Medien -, ({13}) diesen Antrag schon vorab mit der SPD besprochen haben. Ich glaube, die Chancen auf Realisierung wären noch geringer. Es geht nicht, einerseits mit den Roten zu flirten und andererseits einen Antrag einzubringen, bei dem überhaupt keine Chance besteht, ihn mit der SPD durchzusetzen. ({14}) Sie von der FDP haben alle, aber auch wirklich alle Vorschläge, die es zur Lockerung des Kündigungsschutzes gibt oder gegeben hat, in ein Papier geschrieben. ({15}) Ein modernes und in sich stimmiges Modell haben Sie damit nicht vorgelegt. Denn es fehlt der Gesamtzusammenhang, der Bezug zu anderen Bereichen. Der Kündigungsschutz spielt zwar eine Rolle, aber nicht die zentrale Rolle. Ich glaube, noch andere Dinge sind da wichtig. Deswegen werden Sie hierzu nicht die Zustimmung der CDU/CSU finden. Wenn Sie über Wartezeiten nachdenken, besteht zum Beispiel die Frage: Warum sehen Sie vier Jahre und nicht drei oder fünf Jahre vor? Warum wollen Sie beim Schwellenwert von zehn auf 20 und nicht auf 50 Arbeitnehmer gehen? ({16}) Das alles sind Fragen, über die man einmal reden muss. So wie Sie diese Dinge vorsehen, sind sie nicht stimmig. Lassen Sie mich zum Ende festhalten, dass wir in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben, bei Neueinstellungen eine Wartezeit von bis zu zwei Jahren bis zur Begründung des Arbeitsverhältnisses festzulegen. Wir wissen, dass in der Wirtschaft eher das Interesse vorhanden ist, bei befristeten Arbeitsverhältnissen zu bleiben. Darüber muss geredet werden. Möglicherweise kommt man, wenn man sich dazu entscheidet, zu der einen oder anderen kleinen Regelung. ({17}) Das müssen wir in der großen Koalition ausloten. Denn wir müssen im Rahmen der Schnittmengen, die bei uns bestehen, so viel wie möglich an Flexibilisierung durchsetzen. Jedenfalls ist das der Wille der Union in der großen Koalition. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Werner Dreibus, Fraktion Die Linke. ({0})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will anders als meine beiden Vorredner versuchen, in diese Debatte auch ein Stück weit die gesellschaftliche Realität einzubringen. ({0}) Die gesellschaftliche Realität sieht leider so aus: Es vergeht kaum eine Woche ohne Nachrichten über Massenentlassungen. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass angekündigt und auch vollzogen wird, dass Tausende Menschen ohne ihr Verschulden ihren Arbeitsplatz verlieren. Ihnen wird gekündigt. Sie dürfen sich in das Heer der Millionen Arbeitslosen einreihen. ({1}) Nur um eine Größenordnung aus verschiedenen Forschungsergebnissen zu nennen, Herr Dr. Kolb: Jedes Jahr erhalten über 2 Millionen Beschäftigte eine so genannte arbeitgeberseitige Kündigung. In dieser Situation - das ist die Realität - meint nun die FDP, dass es am Besten für die Beschäftigten sei, wenn der Kündigungsschutz weiter abgebaut wird. Was soll eigentlich der Ingenieur bei Siemens, die Sachbearbeiterin bei der Allianz, der Elektrotechniker bei der AEG, die Telefonistin im Callcenter der Telekom, was sollen diese Menschen von einer solchen Politik halten? Diese Menschen haben Angst, Angst davor, morgen auf der Straße zu stehen, und die FDP sagt ihnen: Wir möchten den Unternehmen Entlassungen noch leichter machen. Sie behauptet dann auch noch, dadurch würden mehr Menschen eingestellt. ({2}) Das ist schlicht und ergreifend grotesk. ({3}) Das ist blanker Zynismus. Dann wundern wir uns an Wahlsonntagabenden gemeinsam, warum immer weniger Menschen zur Wahl gehen. Wer die Sorgen der Menschen so missachtet, wie es die FDP mit diesem Antrag tut, der das Ziel hat, das „Hire and Fire“ zu erleichtern, der leistet der Abkehr der Menschen von der Demokratie und den demokratischen Parteien wissentlich oder unwissentlich Vorschub. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber gern.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dreibus, damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch wir bedauern natürlich, wenn Menschen in unserem Lande ihren Arbeitsplatz verlieren, sei es durch Kündigung, sei es durch Konkurs des Unternehmens. Die entscheidende Frage ist doch, ob es für diese Menschen eine Chance gibt, erneut in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. ({0}) Man muss doch feststellen, dass für bestimmte Personenkreise, beispielsweise ältere Arbeitnehmer, Menschen mit einer geringeren Qualifikation, durch das Kündigungsschutzgesetz Eintrittsschwellen errichtet worden sind, die zu überwinden einer großen Zahl von Menschen schwer fällt. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahrzehnten mit jedem Abflachen der Konjunktur der Sockel an Arbeitslosigkeit in Deutschland erneut zugenommen hat. Diese Analyse muss man ehrlicherweise vornehmen. Stimmen Sie dieser Auffassung zu?

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. ({0}) Herr Dr. Kolb, klar und deutlich: Reden ist das eine; Schreiben und Handeln ist das andere. Wenn zum Beispiel das, was Sie in Ihrem Einleitungssatz als Bedauern formuliert haben, in die Situationsanalyse Ihres Antrags eingegangen wäre, dann könnten wir wenigstens über die Realität reden. Die blenden Sie jedoch in Ihrem Antrag völlig aus. ({1}) Wer tatsächlich Demokratie will - das ist unsere feste Überzeugung -, muss dafür sorgen, dass die Demokratie eben nicht am Betriebstor endet. Das erfordert betriebliche Mitbestimmung und das erfordert ebenso Schutz vor Kündigungen. Und es erfordert einen Blick auf den Arbeitsmarkt, der eben nicht von solchen ideologischen Vorurteilen - wie das eben auch in Ihrer Frage zum Ausdruck kam - verstellt ist. Was hat denn die Aufweichung des Kündigungsschutzes in den letzten Jahren gebracht? Was etwa hat die Heraufsetzung des Schwellenwertes auf zehn Beschäftigte und die Einschränkung der Sozialauswahl, was hat die Möglichkeit für Existenzgründer zur grundlosen Befristung von Arbeitsverträgen tatsächlich bewirkt? Die so genannten Reformen des Kündigungsschutzes haben nicht zu einem zusätzlichen Arbeitsplatz geführt. Die Hürde ist - entgegen dem, was Sie behauptet haben nicht niedriger geworden. ({2}) Das verwundert auch nicht - ich schätze Ihre praktische Erfahrung; deswegen wundert es mich, dass Ihr Blick in Ihren Reden ideologisch verstellt ist; in der Praxis verhalten Sie sich wahrscheinlich ganz anders -, weil jeder Unternehmer bestätigen kann: Unternehmer schaffen neue Arbeitsplätze, wenn sie Aussicht auf höheren Absatz und auf höhere Gewinne haben, und nicht, wenn sie Beschäftigte leichter rauswerfen können. ({3}) Zwischen beiden Sachverhalten besteht doch keine Beziehung. Die OECD hat mehrfach, in X Studien, herausgestellt, dass auch ein umfassender Kündigungsschutz kein Beschäftigungshemmnis ist. Es ist vorhin durchaus schon zu Recht gesagt worden: Der von Ihnen und von der Mehrheit des Sachverständigenrates - es ist ja nur die Mehrheit - aus ideologischen Gründen hergestellte Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Kündigungsschutz ist wissenschaftlich nicht herleitbar, nicht in Deutschland und auch nicht in Europa. ({4}) Lesen Sie die Studien der OECD! ({5}) - Es gibt auch andere Wissenschaftler. Auch ein Blick in die Wirklichkeit der Unternehmen ist hilfreich. ({6}) Welche Anforderungen stellen denn Unternehmen an ihre Beschäftigten? Sie wünschen sich motivierte, kreative und flexible Beschäftigte. Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, weil er von heute auf morgen vor die Tür gesetzt werden kann, der wird doch nicht motiviert, kreativ und flexibel sein. Vielmehr wird er in seiner Leistungsfähigkeit und seiner Motivation massiv eingeschränkt sein. Das kann nicht im Interesse der Unternehmen sein. ({7}) Die Durchsetzung der Rechte von Beschäftigten - die Einhaltung von Tarifverträgen, die Einhaltung der Gesetze über Arbeitszeit usw. - basiert auf einem Kündigungsschutz, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Ohne diesen wären und sind Beschäftigte erpressbar. Genau auf einen solchen Zustand laufen Ihre Vorschläge hinaus. Ihr so genanntes Vertragsoptionsmodell suggeriert, dass die Beschäftigen bei Vertragsabschluss zwischen gesetzlichem Kündigungsschutz, Abfindungszahlungen und Weiterbildungsangeboten wählen könnten. Zu einer Wahl aber gehören tatsächlich gleichwertige Optionen und das Agieren auf Augenhöhe. Ein betriebliches Weiterbildungsangebot beispielsweise kann niemals auch nur eine ähnliche Sicherheit bieten wie der Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen. Die Behauptung, Arbeitnehmer und Arbeitgeber seien gleichberechtigte Vertragspartner, ist bei 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen pure Ideologie. ({8}) Die Begründung Ihres Antrages ist irreführend. Die Beschäftigten gewinnen eben nicht an Selbstbestimmung hinzu, wenn der Kündigungsschutz geschliffen wird. Stattdessen würden sie mit den gesetzlich garantierten Rechten den Rückhalt für selbstbestimmtes Handeln verlieren. Allein die gesetzliche Einschränkung der unternehmerischen Freiheit ermöglicht die Freiheit der Beschäftigten. Der Antrag der FDP konterkariert diesen Zusammenhang: Wer den Kündigungsschutz einschränkt, schränkt die Möglichkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein, ihre Interessen wahrzunehmen. Das ist nicht mehr, sondern weniger Demokratie. Die Linke will mehr Demokratie. Das bedeutet an dieser Stelle konkret: Wir brauchen tendenziell eher eine Ausweitung des Kündigungsschutzes. Das betrifft vor allem den Geltungsbereich. Die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses und die Zahl der in einem Betrieb notwendigerweise beschäftigten Menschen, ab der der Kündigungsschutz greift, diskriminieren bereits heute über 6 Millionen Beschäftigte. Über 6 Millionen Beschäftigte haben keinen gesetzlichen Kündigungsschutz. Das ist in etwa so, als würde man Führerscheinanfänger aus dem Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung ausschließen - Drängeln, Schneiden und Vorfahrtnehmen wären bei Anfängern erlaubt -; die Begründung dafür würde lauten: So finden die Fahranfänger leichter in den Straßenverkehr hinein und die übrigen Verkehrsteilnehmer können sich flexibler bewegen. Das ist doch pure Ideologie! ({9}) - Nein, überhaupt nicht. Den habe ich in einem Betrieb gehört. Da bin ich öfter als Sie. Wenn Sie meinen, eine solche Begründung wäre absurd, dann bitte ich Sie, einen Blick in das bestehende Kündigungsschutzgesetz zu werfen. Was verschleiernd als Wartezeit oder Schwellenwert bezeichnet wird, ist nichts anderes als der Ausschluss von Millionen Menschen von Schutzregeln mit der Begründung, sie würden dann leichter in den Arbeitsmarkt hineinfinden. ({10}) Ähnliches gilt - auch das ist ein wichtiges Thema für ältere und kranke Beschäftigte. Während wir diesen Menschen im Straßenverkehr - um bei diesem Beispiel zu bleiben - mit besonderer Rücksicht begegnen, meinen Sie - ich spreche die FDP und die Koalition gleichermaßen an -, auf besondere Schutzvorschriften für Kranke und Ältere auf dem Arbeitsmarkt verzichten zu können. Dieser Zustand der Rechtsfreiheit von Millionen Beschäftigten muss aus unserer Sicht beendet werden. Deshalb fordern wir unter anderem die Aufhebung des Schwellenwerts, die Verbesserung des Kündigungsschutzes für Ältere und Kranke und die Reduzierung der Wartezeit auf drei Monate; das ist ein Zeitraum, der nach aller betrieblichen Erfahrung für die Erprobung eines Arbeitsverhältnisses vollkommen ausreichend ist. Selbstverständlich sind weitere Maßnahmen notwendig, um die Unsicherheit, die am Arbeitsmarkt herrscht, zurückzudrängen. Die Regierung Kohl und die Regierung Schröder haben viel dafür getan, das Leben vieler Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unsicherer zu machen. Die so genannten Arbeitsmarktreformen haben die Arbeitslosigkeit nicht reduziert. Sie bedrohen aber die Zukunftsperspektive von immer mehr Beschäftigten. Wer zu Hungerlöhnen arbeitet, wer vom Mini- in den 1-EuroJob und wieder zurückwechselt, wer aus einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis entlassen wird, um als Leiharbeitskraft am selben Arbeitsplatz mit weniger Lohn und ungewisser Beschäftigungsdauer wieder eingestellt zu werden - all das ist Realität; all das haben wir mittlerweile -, der verliert die Grundlage für eine Lebensplanung, die über den Tag hinausgeht. ({11}) Die Regierung Merkel führt diese - so sieht es jedenfalls aus - aus unserer Sicht völlig falsche Politik ihrer Vorgänger nahtlos fort. Gleichzeitig beklagen die alten neuen Reformer sonntagabends die Verrohung der Gesellschaft, die geringe Geburtenrate, die Finanzmisere der Sozialversicherungen usw. Der Arbeitsmarkt ist - darin stimme ich meinem Vorredner durchaus zu - nicht der Generalschlüssel zur Lösung dieser Probleme. Sicher aber ist, dass diese Probleme nicht so gravierend wären, wenn das Credo der so genannten Arbeitsmarktreformen nicht im Abbau unbefristeter, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse liegen würde; denn nichts anderes bedeuten Mini- und Midijobs, Leiharbeit, 1-Euro-Jobs und Co. Dass diese Instrumente zum Abbau der Arbeitslosigkeit untauglich sind, hat ein unideologischer Blick auf die Praxis längst erwiesen. Wer heute das Problem der Arbeitslosigkeit ernsthaft angehen will, muss auch die bereits existierende Beschäftigung sicherer machen. Meine Fraktion wird deshalb in den kommenden Monaten weitere Vorschläge zur Zurückdrängung prekärer Beschäftigung - also Beschäftigung, die keine Arbeitsplätze schafft, aber den Menschen Einkommen und Zukunftsperspektiven nimmt - vorlegen. Wir werden dabei unter anderem die Vorschläge der DGB-Gewerkschaften ernsthaft prüfen, die beispielsweise die Verlagerung von Standorten und Kündigungen trotz gut laufender Geschäfte und Profite einschränken wollen. ({12}) Bevor jetzt all die Marktradikalen wieder aufschreien, möchte ich einen der erfolgreichsten deutschen Unternehmer zitieren, den Porschechef Wiedeking. Er sagte vergangene Woche: Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsplätzen streichen … ({13}) Ich sehe in dieser Entwicklung ein Warnzeichen für die Gesellschaft. Ich schließe mich diesen Worten eines großen, bedeutenden und sehr erfolgreichen Unternehmers ausdrücklich an. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Anette Kramme, SPDFraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlich willkommen zur Märchenstunde von Linken und FDP ({0}) oder sollte ich sagen: vom Möchtegern-Robin-Hood und dem Sheriff von Nottingham? ({1}) Beim Märchen handelt es sich um eine relativ kurze Erzählung mit ausgeprägten surrealen Elementen. Das trifft ohne Wenn und Aber auf die hier vorliegenden Anträge zu. Es war einmal die FDP, diese erzählte allen Menschen, dass sie mit einer Abschaffung des Kündigungsschutzes nur dem Wohl der Arbeitnehmer dienen wolle. Tatsächlich war und ist sie - wie schon immer - der Wolf im Schafspelz. ({2}) Meine Damen und Herren, Sie sind wie eine leiernde Schallplatte oder, um es moderner auszudrücken, ({3}) Sie sind wie Spammails. Sie wiederholen sich unendlich und nerven. ({4}) Ihre Sprücheklopferei kann man nicht mehr hören. Es sei der rigide Kündigungsschutz, der Arbeitgeber davon abhalte, Neueinstellungen vorzunehmen. Ich weiß gar nicht, wie viele solche unsinnige Anträge Sie in diesem Haus schon gestellt haben. ({5}) Eines ist allen Ihren Anträgen gemeinsam: Die Empirie bleibt außen vor. ({6}) Alle Untersuchungen der OECD oder wissenschaftlicher Institute im In- und Ausland belegen hinlänglich, dass ein Abbau der Schutzrechte von Arbeitnehmern die Beschäftigungslage nicht verbessert. ({7}) Wir haben registriert - Herr Kolb, Sie sollten mir zuhören -, ({8}) dass Ihre Forderungen bei Ihren Gedankenspielen im Hinblick auf eine sozial-liberale Koalition moderater geworden sind. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Sie von einer vierjährigen Wartezeit und einem Schwellenwert von 50 Arbeitnehmern sprachen. ({9}) Aktuell wollen Sie den Schwellenwert von heute zehn auf nur 20 Arbeitnehmer erhöhen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der FDP, tatsächlich irgendwann mit der SPD koalieren wollen, ({10}) müssen Sie sich viel weiter bewegen. Das gilt insbesondere für Sie, Herr Kolb. ({11}) Bei einer Umsetzung Ihres Vorschlags würden 90 Prozent der Betriebe nicht mehr dem Kündigungsschutz unterliegen. 28 Prozent bzw. 9 Millionen Beschäftigte stünden im Falle einer ungerechtfertigten Kündigung ohne Schutz da. Die Erhöhung des Schwellenwertes hat im Übrigen keinerlei Bedeutung für den Arbeitsmarkt. Ich erinnere an die großen Erwartungen, die damals entstanden, als die Regierung Kohl den Schwellenwert auf zehn heraufgesetzt hat. ({12}) In der Bundestagsdrucksache 13/4612 vom 10. Mai 1996 heißt es: Es kann davon ausgegangen werden, daß ein Teil der Betriebe … bei Anhebung des Schwellenwertes neue Einstellungen vornehmen wird. ({13}) Wenn jeder der Betriebe, die gegenwärtig zwischen fünf und neun Arbeitnehmer beschäftigen, zusätzlich nur einen Arbeitnehmer einstellt, ergibt das eine halbe Million möglicher Neueinstellungen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Kramme, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel? ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich. Herr Niebel erfreut mich immer. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, Kollegin Kramme, Sie machen Ihren Koalitionspartner durch solche Äußerungen außerordentlich nervös. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das macht nichts.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben gerade die Anhebung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz auf zehn Arbeitnehmer durch die Bundesregierung Kohl kritisiert, die Sie durch Ihre Korrekturgesetze unmittelbar nach dem Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahre 1998 rückgängig gemacht haben. Würden Sie mir zustimmen, dass Sie den gleichen Text fünf Jahre später mit Ihrer rot-grünen Mehrheit exakt wortgleich - Punkt für Punkt und Komma für Komma - wieder haben Gesetz werden lassen? ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das stimmt, ({0}) wie Sie wissen, nur zum Teil. Ihnen ist sehr wohl bekannt, dass die Anhebung des Schwellenwertes von fünf auf zehn Arbeitnehmer auf unseren jetzigen Koalitionspartner zurückgeht. ({1}) Dem haben wir angesichts des Gesamtpakets, um das es ging, zustimmen müssen. Aber wir wissen - das ist die Position der SPD -, dass das Ganze nichts bringen wird. ({2}) - Das sehe ich anders. ({3}) Politik bedeutet, Vergleiche einzugehen. Vergleiche einzugehen, heißt immer gegenseitiges Nachgeben. ({4}) Ich komme auf die heute vorliegenden Anträge und auf die Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 1996 zurück, die ich bereits angesprochen habe. Die Rechnung von damals ist nicht aufgegangen. Selbst der Zentralverband des Deutschen Handwerks räumte ein, dass die entscheidenden Motive im Hinblick auf das Einstellungsverhalten - wie könnte es auch anders sein? - die konjunkturelle Lage ({5}) und die Beschäftigungserwartungen sind. ({6}) Eine aktuelle Studie der Universität Hamburg - sie wurde erst gestern veröffentlicht - belegt ebenfalls, dass der Kündigungsschutz bei Neueinstellungen keine große Rolle spielt. Nur drei von 41 Personalverantwortlichen waren der Meinung, der Kündigungsschutz spiele bei Neueinstellungen eine erhebliche Rolle. ({7}) Trotzdem haben wir den Schwellenwert in der vergangenen Legislaturperiode - ich sage an dieser Stelle ganz klar: aufgrund der Forderung unseres jetzigen Koalitionspartners - auf zehn Arbeitnehmer erhöht. Allerdings erwarten wir nicht, dass sich daraus erkennbar positive Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben. Die Evaluierung wird kein anderes Ergebnis bringen. ({8}) Wir dürfen die Unsicherheiten unserer Zeit nicht vergrößern. Wer kauft sich ein Haus oder ein Auto, wenn er ständig Angst haben muss, seinen Job zu verlieren? Wie soll sich ein Arbeitnehmer mit seinem Unternehmen identifizieren, wenn er nicht weiß, wie lange er dort noch arbeitet? ({9}) Zu den Abfindungsoptionen. Auch Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, dürfte bekannt sein, dass es keine Vertragsparität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt. Vertragsfreiheit genießt in der Realität nur eine Seite: die Arbeitgeberseite. Für den Arbeitnehmer hätte ein Wechsel vom Bestandsschutz zum Abfindungsschutz nur eine Folge: den Verlust des Arbeitsplatzes, selbst wenn die Kündigung des Arbeitgebers nicht sozial gerechtfertigt wäre. Auch für den Arbeitgeber wäre die vorgeschlagene Regelung von Nachteil, weil eine Abfindung auch dann gezahlt werden müsste, wenn die Kündigung sozial gerechtfertigt wäre und der Arbeitnehmer nach geltendem Recht gar keinen Abfindungsanspruch hätte. Deshalb - jetzt sollten Sie aufmerksam sein - beurteilen BDH und ZDH eine solche Regelung sehr kritisch. ({10}) Eines der Argumente, die in der Diskussion über den Kündigungsschutz angeführt werden, ist, dass die Betriebe diese Änderung beim Kündigungsschutz dringend benötigten, weil sie sich von ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nur mühselig trennen könnten. Von denjenigen Menschen, die in diesem Lande gekündigt werden, gehen nur etwa 16 Prozent zum Arbeitsgericht. Das sind zwar doppelt so viele wie noch 1979. Im gleichen Zeitraum stieg allerdings auch die Arbeitslosigkeit rapide an. Von allen Gekündigten bekommen lediglich 15 Prozent eine Abfindung. Unkalkulierbare Risiken birgt das Kündigungsschutzgesetz für den Arbeitgeber also wahrlich nicht. Die große Mehrheit der Deutschen steht zum Kündigungsschutz: Laut einer repräsentativen Studie der Universitäten Jena und Hannover möchten 48 Prozent die bestehenden Regelungen beibehalten. 19 Prozent plädieren sogar für eine Ausweitung. Interessant ist dabei, dass vor allen Dingen Arbeitslose einen starken Kündigungsschutz bevorzugen. Die These „Lieber Arbeit ohne Kündigungsschutz als arbeitslos mit Kündigungsschutz!“ stimmt also nicht. ({11}) Kommen wir zum anderen Extrem, lassen Sie mich noch ein Wort zu den Linken verlieren: Der Unterhaltungswert Ihrer Forderungen mag groß sein, mehr als blanker Populismus ist das jedoch nicht gewesen. ({12}) Den Schwellenwert für den Kündigungsschutz abzuschaffen, bedeutet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus den Augen zu verlieren. Ihre Forderung verstößt gegen das Grundgesetz. Denn durch Art. 12 Grundgesetz werden nicht nur die Interessen des Arbeitnehmers geschützt, sondern ebenso das Interesse des Kleinunternehmers, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen. Ich darf an dieser Stelle aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1998 zitieren: Auf der anderen Seite ist auch das Kündigungsrecht des Kleinunternehmers in hohem Maße schutzwürdig. In einem Betrieb mit wenigen Arbeitskräften hängt der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrieben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf seine Leistungsfähigkeit kommt es ebenso an wie auf Persönlichkeitsmerkmale, die für die Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind. Trotz einer Störung des Vertrauensverhältnisses dürfte ein Arbeitgeber seinem einzigen Arbeitnehmer, ginge es nach dem Vorschlag der PDS, verhaltensbedingt nur noch dann kündigen, wenn dieser tatsächlich und wahrhaftig den goldenen Löffel klaut. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, den Arbeitgebern die Möglichkeit einzuräumen, die gesetzliche Regelwartezeit von 6 auf bis zu 24 Monate auszudehnen. Dafür wollen wir die Möglichkeit streichen, Arbeitsverträge in den ersten 24 Monaten sachgrundlos zu befristen. Ein letzter Satz: Diese Pläne wurden von den fünf Wirtschaftsverbänden BDA, BDI, DIHK, HDE und ZDH gemeinschaftlich abgelehnt. Ich sage ganz klar: Weiter gehende Änderungen gibt es nicht. Wenn die Wirtschaft mit diesen Vorschlägen nicht einverstanden ist, belassen wir es einfach beim Alten. Die SPD braucht keine Änderung des Kündigungsschutzgesetzes. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über den Kündigungsschutz in Deutschland ist eine hoch ideologisierte Debatte; das zeigen die beiden Anträge, die uns heute vorliegen. Herr Dreibus und Herr Kolb sind Protagonisten dieser Debatte. Sie führen diese ideologisierte Debatte, obwohl wir inzwischen wissen - Sie selbst, Herr Dreibus, haben in Ihrer Rede darauf hingewiesen und auch im Vorspann Ihres Antrages steht es sehr deutlich -: Der Kündigungsschutz hat keinen entscheidenden Einfluss darauf, wie viele Leute eingestellt werden und wie viele Leute entlassen werden. Da fragt sich doch die geneigte Leserin: Warum trägt diese richtungweisende Erkenntnis nicht den Forderungsteil Ihres Antrages, warum sprechen Sie dort eine andere Sprache? ({0}) Herr Kolb, noch einmal zu Ihnen: Ich finde es phänomenal, wie stark eine interessengeleitete Einsichtsbarriere wirken kann: Sie sind in der Lage, Studien zu zitieren, die haargenau das Gegenteil von dem beschreiben, was Sie hier behaupten. ({1}) Sie sagen, die Menschen sind blind und erkennen nichts - dabei machen Sie beide Augen zu und auch noch die Hühneraugen! ({2}) Das hilft uns in dieser Debatte nicht weiter. ({3}) Auch wenn der Kündigungsschutz nicht darüber entscheidet, in welchem Umfang eingestellt oder entlassen wird, muss man zur Kenntnis nehmen, dass es nicht egal ist, wie der Kündigungsschutz im Einzelnen ausgestaltet ist. Herr Dreibus, wenn Ihre Forderungen gesellschaftliche Realität werden, dann führt die Regulierungsdichte tatsächlich zu einem bürokratischen Quantensprung. Das wird allerdings negative Auswirkungen auf Einstellung und Beschäftigung haben. Sie stellen dar, dass Sie zur dreimonatigen Probezeit zurück wollen. ({4}) - Sie wollen die dreimonatige Probezeit. - Das mag für einen Industriearbeitsplatz angemessen sein. Dort kann man in drei Monaten vielleicht erkennen, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie Arbeitsanforderungen und Potenzial des Arbeitnehmers zusammenpassen. Bei Arbeitsverhältnissen, die ein vielschichtiges Anforderungsprofil haben, ist das aber ganz anders. ({5}) Ich bin der Auffassung, dass dort eine sechsmonatige Probezeit völlig richtig und notwendig wäre. ({6}) Ich frage Sie: Wem dient es, wenn an einem Arbeitsplatz das Potenzial, das eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer mitbringt, und das Anforderungsprofil nicht zusammenpassen? Dann kommt es nämlich zu erheblichen Schwierigkeiten für beide Seiten. Was spricht also gegen diese Probezeit von sechs Monaten? ({7}) Sie wollen weiter, dass über eine Umlagefinanzierung Abfindungen reguliert werden. Ich kann nicht glauben, dass das Ihr persönlicher Ernst ist, Herr Dreibus. Dafür halte ich Sie für viel zu vernünftig und zu gescheit. Wie soll das denn funktionieren? Ein fehlerhaftes Verhalten einzelner Arbeitgeber sollen andere Arbeitgeber ausbaden. Wie soll diese Umlage denn gestaltet werden? Wer soll für wen wie viel einzahlen? Ich kann Ihnen sagen: „Umlageverfahren“ klingt immer schön einfach und nach Solidarität. Die Umsetzung bedeutet aber einen hochgradig bürokratischen Akt, der sehr viele Ungerechtigkeiten in sich birgt. Deswegen ist das falsch. ({8}) Die Ausgestaltung des Kündigungsschutzes hat Auswirkungen auf die Struktur der Beschäftigten. ({9}) Wenn der Kündigungsschutz zu weitgehend ist und Arbeitsverhältnisse gewissermaßen zubetoniert werden, dann hat das tatsächlich die Wirkung, dass die Arbeitgeber auf noch mehr Zeitarbeitsverträge und auf Leiharbeit ausweichen. ({10}) Das kann gerade nicht im Interesse der Schwächeren am Arbeitsmarkt sein. Deswegen kommt es auf das richtige Verhältnis und die richtige Ausgestaltung an. Herr Kolb, mit Ihrem Antrag zeigen Sie, dass Sie davon noch nie etwas gehört und gesehen haben. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Auch eine falsche Lockerung des Kündigungsschutzes kann genau gegenteilige Wirkungen haben. ({11}) Wenn der Kündigungsschutz in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit, in der wir uns jetzt ja bekanntermaßen befinden, so weit gelockert wird, dass die Beschäftigten, die daran interessiert sind, ihr Arbeitsverhältnis zu verändern und zu einer anderen Firma zu gehen, damit rechnen müssen, dass sie eine zweijährige Probezeit haben und dass ihr Arbeitsvertrag einer vierjährigen sachgrundlosen Befristung unterliegt, dann überlegen sie sich das sehr gut. ({12}) Das heißt, die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt wird geringer. Damit zementieren Sie die Strukturen. ({13}) Das ist zumindest in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, in jeder Hinsicht kontraproduktiv. ({14}) Wenn Sie sich mit Ihrer Vorstellung durchsetzen, dann sind ungefähr 6 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt davon betroffen. Das heißt, diese Menschen werden sich entsprechend vorsichtig verhalten. Das gilt übrigens auch beim Konsum. Sie produzieren 6 Millionen Angstsparer, Herr Kolb. ({15}) Ich kann Ihnen sagen: Das hat auch Auswirkungen auf die Konjunktur in diesem Land. Herr Kolb, solche Regelungen haben auch in anderer Weise Wirkungen auf die Entscheidungen der Menschen. Wir führen hier endlose und wortreiche Debatten über die Frage, wie wir junge Paare davon überzeugen können, Kinder in die Welt zu setzen, also Kinder in ihre Zukunftsplanung mit einzubeziehen. Kinder brauchen Verlässlichkeit. Kinder brauchen ein Stück Sicherheit. Wenn aber der Kündigungsschutz so ausgestaltet wird, wie Sie das wollen, dann wird das auch Rückflüsse auf solche gesellschaftlichen Fragen haben. Jedenfalls wird mit dem, was Sie vorschlagen, die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt nicht zu-, sondern eher abnehmen. ({16}) Ihre Einäugigkeit, Herr Kolb, bei Vergleichen mit anderen Ländern ist uns inzwischen vertraut. Sie bringen als Beispiel Dänemark und erklären, dass dort alles besser ist, weil es dort so gut wie keinen Kündigungsschutz gibt. Sie sehen aber nicht die andere Seite der Medaille, Herr Kolb: In Dänemark ist nämlich die Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit extrem hoch. ({17}) Wo ist denn der Antrag, Herr Kolb, in dem auch das einmal eingefordert wird? In den Niederlanden gibt es einen sehr viel höheren Kündigungsschutz. Das führt dann aber auch dazu, Herr Dreibus, dass dort die Zahl von Zeitarbeitsverhältnissen sehr hoch ist. Zusammengenommen zeigt dies, dass es vernünftig ist - ich finde, das ist in Deutschland inzwischen der Fall -, den Kündigungsschutz und die Bedingungen für Leiharbeit zwischen Flexibilität und Sicherheit ausgewogen zu gestalten. Wissen Sie, was ich glaube? Wirklicher Handlungsbedarf besteht nicht so sehr im Kündigungsschutz, sondern wirklicher Handlungsbedarf besteht beim Arbeitsrecht. ({18}) Das Arbeitsrecht in Deutschland ist so schlank, dass es in der Auslegung zum Richterrecht wird. Das verursacht Probleme. Es lohnt, sich damit auseinander zu setzen. Ich verspreche Ihnen hier schon einmal, dass wir das tun werden. ({19}) Noch ein paar Worte zur großen Koalition. Es ist falsch, sich in der Arbeitsmarktpolitik auf die Debatte um den Kündigungsschutz zu konzentrieren. Andere Themen sind viel wichtiger, zum Beispiel die hohe Belastung von kleinen Einkommen, mangelnde Investitionen in Weiterbildung und lebenslanges Lernen, Lohndumping, Unterbietungskonkurrenz zulasten von Beschäftigten und die bessere Förderung von Langzeitarbeitslosen. Genau diese Projekte stehen jetzt an. Damit könnte man wirklich für mehr Beschäftigung sorgen. Stattdessen gab es bei der großen Koalition unter Führung des CDU-Generalsekretärs, den ich jetzt gerade nicht sehe - ist er fahnenflüchtig? -, ({20}) ein Jahr lang ein einziges Hin und Her in Sachen Kündigungsschutz. Ein solcher Murkskurs sucht wirklich seinesgleichen. Auch Sie in der CDU/CSU-Fraktion sehen dieses arbeitsmarktpolitische Fiasko und feixen darüber. Gut ist, dass sich der Generalsekretär nicht durchsetzen konnte. Gut ist das vor allem für die Beschäftigten in unserem Lande. Ich danke Ihnen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schluss mit dem Flirten! Die FDP hat sich in den letzten Wochen unserem in fester Partnerschaft lebenden Koalitionspartner angenähert. Diese Flirtversuche sind zwischenzeitlich offensichtlich gescheitert. ({0}) Mit Blick auf die Linkspartei muss ich sagen: Mit den beiden heutigen Anträgen hat sie gezeigt, dass sie als Partnerin für Sie denkbar ungeeignet ist. Auch da wird nichts passieren. Wenn ich den linken und den rechten Rand des Plenums so vor mir sehe ({1}) - der rechte Rand ist für mich jetzt die FDP -, dann bin ich froh, dass wir mit dem, was dort ausgebrütet worden ist, nicht werden leben müssen. ({2}) Davor bewahrt uns Gott sei Dank ein gesunder Mittelweg, den wir als große Koalition mit Augenmaß beschreiten wollen. Vielleicht hat der breite Block in der Mitte des Plenums nicht nur einen optischen, sondern tatsächlich auch einen ganz praktischen Effekt. Frau Pothmer, ich möchte Sie ausdrücklich einbeziehen, wenngleich mir die letzten Ausführungen Ihrer Rede nicht sonderlich gefallen haben. ({3}) Aber in vielen Bereichen sind Sie arbeitsmarktpolitisch nicht auf dem Holzweg. Wenn sich die Kollegen von der Linkspartei und der FDP die Mühe gemacht hätten, ihre Anträge einmal vom jeweils anderen gegenlesen zu lassen, dann wären hier Tumulte zu befürchten. Spätestens jetzt wird jeder merken, was für ein unverträgliches Gemisch die beiden Anträge zum Tagesordnungspunkt Kündigungsschutz darstellen. Insofern wundert es mich nicht mehr, dass die FDP aus der Opposition raus will. Die Gemeinsamkeiten der Oppositionsparteien beschränken sich darauf, dass keiner von beiden regiert. So gut wie nichts ist in beiden Anträgen deckungsgleich: Während die Linkspartei keinen belegbaren Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz und Beschäftigungsentwicklung sieht, ist er laut FDP für die hohe Arbeitslosigkeit mit verantwortlich. Die Linken wollen die Schwelle, ab der das Kündigungsschutzgesetz gilt, von jetzt sechs auf drei Monate senken. Auf Wunsch der FDP soll es erst nach zweijähriger Betriebszugehörigkeit anwendbar sein, als ob nicht schon heute eine entsprechende Befristung möglich wäre. Ähnlich radikal gehen die Meinungen bei den sachgrundlosen Befristungen auseinander. Die FDP will sie bis zu vier Jahren ermöglichen, die Linkspartei sie ganz abschaffen. Dasselbe Bild bietet sich beim Kündigungsschutz: Die FDP will die Zahl der Beschäftigten in einem Betrieb, ab der der Kündigungsschutz eintritt, von zehn auf 20 erhöhen; ({4}) die Linken wünschen dem Schwellenwert eine Beerdigung erster Klasse. Aus unserer Sicht macht die Grenze von zehn Beschäftigten schon deshalb Sinn, weil wir kleinen und mittleren Betrieben entgegenkommen müssen. Wenn es nach den Linken ginge, würden ordentliche Kündigungen für Arbeitnehmer ab 55 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von mehr als zehn Jahren völlig ausgeschlossen. Ihr Oppositionspartner sieht das etwas anders: Die Liberalen wollen das Lebensalter als Kriterium für die Sozialauswahl streichen, wenn es um betriebsbedingte Kündigungen geht, weil es die Einstellungschancen älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt erschwere. Wie die Einstellungschancen verbessert werden sollen und was sie als Alternative zu bieten haben, sagen die Liberalen allerdings nicht. Was aber ein Liberaler - Sie, Herr Niebel - in der vergangenen Wahlperiode gesagt hat, als es schon einmal um einen FDP-Antrag zum Kündigungsschutz ging, gibt allerdings zu denken. In der Debatte am 3. April 2003 wurde gesagt: Denn wir sind durchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine soziale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situation beenden, in der oftmals die Luschen bleiben können und die Leistungsträger gehen müssen. ({5}) Damals hat Herr Niebel noch für das Lebensalter als Kriterium der Sozialauswahl plädiert, das in dem aktuellen Antrag bezeichnenderweise gestrichen werden soll. Ein Schelm ist, wer Schlechtes denkt und als Luschen ältere Mitarbeiter gemeint sieht. ({6}) Die Initiative „50 plus“, die Bundesarbeitsminister Müntefering kürzlich vorgestellt hat, geht schon sehr viel weiter als der FDP-Antrag. Darin sind übrigens auch Befristungsregelungen ab dem 52. Lebensjahr vorgesehen. Die Regierung hat längst etwas getan, was die liberalen Kollegen unter Punkt 1 ihres Antrages fordern. ({7}) Was die Bundesregierung sicherlich nicht umsetzen wird, ist das, was die Linkspartei unter den Punkten 5 und 6 auf ihrem Wunschzettel fordert: Wir werden die Sozialauswahl nicht um Kriterien wie Arbeitsmarktchancen oder Mobilitätseinschränkungen erweitern. Welches Unternehmen soll das wasserdicht überprüfen? Unter solchen Bedingungen würden betriebsbedingte Kündigungen nachhaltig erschwert. Eine weitere Zunahme der Klagen vor den Arbeitsgerichten wäre zwangsläufig die Folge. Gänzlich widersinnig ist ein anderer linker Wunsch: Die Linkspartei fordert, die Möglichkeit, Betriebsvereinbarungen zur Sozialauswahl und Namenslisten zu den zu Kündigenden abzuschließen, zu streichen. Der individuelle Rechtsschutz würde dadurch unzulässig eingeschränkt. Liebe Kollegen, Ihre Möchtegern-Bündnispartner von den Gewerkschaften werden sich für diesen Tritt vor das Schienbein bedanken und es sicherlich nicht gerne sehen, wenn die Rechte der Betriebsräte auf diese Art beschnitten werden. Das müssten Sie aufgrund Ihres beruflichen Hintergrundes sehr wohl wissen, Herr Dreibus. Sie können zwar gerne sozusagen als Trotzpflaster ein Verbandsklagerecht fordern; im AGG haben wir das aber glücklicherweise gerade noch abwenden können. Beim Kündigungsschutz kann die Opposition keine tragfähige Alternative bieten. Die Liberalen würden den Kündigungsschutz wohl am liebsten ganz abschaffen und den Arbeitsmarkt mit seinen schwächsten Gliedern dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Das Ergebnis wäre ein Marktfundamentalismus ohne soziale Rahmenbedingungen. ({8}) Die Linkspartei lädt den Kündigungsschutz ideologisch auf und stellt ihn auf einen Sockel aus falschen Sicherheiten. ({9}) Sie will den Status quo einmauern und Stellschrauben, die helfen würden, auf Veränderungen am Arbeitsmarkt flexibel zu reagieren, gleich mit einbetonieren. Ihr Kündigungsschutz, liebe Kollegen von der Linksfraktion, ist nicht mehr als Besitzstandswahrung für Arbeitsplatzbesitzer. Sie wird den Arbeitslosen dieser Republik nichts bringen. Für so viele überzogene Forderungen entschädigt der Blick auf die große Koalition. ({10}) Anders als unsere Opposition wollen wir die Sozialsysteme nicht zerstören ({11}) - ja, die Grünen sitzen in der Mitte; ich habe Sie deshalb eben zum Teil mit angesprochen, Frau Pothmer -, sondern sie den Realitäten anpassen. Es gilt, einen verfassungsgemäßen Interessenausgleich zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zu gewährleisten. Wir sollten nicht darüber streiten, ob, sondern wie wir Kündigungsschutz wollen, ({12}) damit zum einen die Menschen geschützt werden und zum anderen das nötige Maß an Flexibilität gewährt wird. Zusammen mit der SPD behalten wir das Machbare im Auge. Gemeinsam werden wir in Ruhe ausloten, welche Änderungen wann und wie möglich sind. ({13}) Nur so können wir größtmögliche Rechtssicherheit schaffen und Transparenz gewährleisten. Es wird nicht einfach, aber der Schlüssel liegt bei uns Politikern. Wir müssen den Menschen erklären, warum und welche Änderungen beim Kündigungsschutz und welche Arbeitsmarktreformen notwendig sind und wie man die Solidarität zusammen mit der Flexibilität erhalten kann. Ich habe zwar noch fast zwei Minuten Redezeit. Diese Zeit schenke ich aber dem Plenum. Ich habe auf eine Zwischenfrage der FDP gewartet. Leider ist sie nicht gekommen. Ich bedanke mich und wünsche Ihnen noch eine gute Diskussion. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Rohde, FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lehrieder, es hätte mich eher verwundert, wenn Sie Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der FDP und dem der Linken gefunden hätten. Ich denke, der Linksfraktion geht es genauso wie mir. Ich denke, dass wir alle über die Fraktionsgrenzen hinweg das Ziel im Auge haben, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen sowie Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu fördern. ({0}) Wenn wir die Beschäftigung in Deutschland fördern und Arbeitslosen zu einem Arbeitsplatz verhelfen wollen, dann müssen wir für Arbeitgeber und Unternehmer flexible und moderne Rahmenbedingungen schaffen. Alle gesetzlichen Barrieren, die einen Arbeitgeber heute noch davon abhalten, neue Jobs zu schaffen, müssen abgeschafft oder minimiert werden. Das ist unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag. ({1}) Das Kündigungsschutzrecht ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie sich Gesetze gegen die Interessen der Beschäftigten - genauer gesagt: der Nichtbeschäftigten - gewendet haben. Durch den Kündigungsschutz werden Arbeitgeber, die Zweifel haben, ob potenzielle Stellen dauerhaft geschaffen werden können, davon abgehalten, neue Jobs zu schaffen. Mit dem besonderen Kündigungsschutz für Behinderte werden ebenfalls Barrieren für die Betroffenen auf dem ersten Arbeitsmarkt erzeugt. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sind vor einigen Wochen die Chancen für Behinderte, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, deutlich gesunken. Wenn nun zur ersten Barriere eine zweite Barriere hinzukommt, dann dürfen wir uns in Deutschland nicht wundern, wenn sich die Arbeitslosigkeit bei den Schwerbehinderten weiter negativ entwickelt. Hier müssen wir umsteuern. ({2}) Ich habe als behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion diese Forderung auch bei Behindertenverbänden offen angesprochen. Dort ist man zwar reserviert, aber auch bereit, über dieses heiße Thema offen zu diskutieren; denn wenn die Wirtschaft auf einen nachhaltigen Pakt zugunsten der Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt einginge, dann könnte man im Gegenzug den Kündigungsschutz für Schwerbehinderte lockern. Das ist ein schönes Betätigungsfeld für die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen; das könnte man doch einmal ausloten. Wir müssen gemeinsam die Barrieren für mehr Beschäftigung in Deutschland abbauen. Mit dem uns heute vorliegenden Antrag der Linksfraktion auf Ausweitung des Kündigungsschutzes sollen aber viele neue Beschäftigungsbarrieren errichtet werden. Dieser Antrag geht in die völlig falsche Richtung. ({3}) Bevor ich aber auf einzelne Punkte dieses Antrags eingehe, möchte ich festhalten, dass wir zumindest beim ersten Satz des Antrages der Linksfraktion übereinstimmen: Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ist das drängendste innenpolitische Problem in Deutschland. ({4}) Aus Sicht der FDP ist dies aber auch der einzige Satz in dem Antrag der Linksfraktion, mit welchem wir übereinstimmen. Sie haben mit Ihren Forderungen ausschließlich die Arbeitsplatzbesitzer im Blick. Die Arbeitslosen bleiben bei Ihnen durch die Erhöhung der Barrieren für die Schaffung von Jobs auf der Strecke. Hier schließe ich mich Herrn Meckelburg und Herrn Lehrieder an. Liberale Politik dagegen berücksichtigt beide Gruppen: Beschäftigte und Jobsuchende. ({5}) Herr Dreibus und Frau Pothmer, Sie müssen Ihren Blickwinkel einmal um 180 Grad drehen. Wenn wir einen echten flexiblen Arbeitsmarkt hätten, dann müssten sich Beschäftigte keine Sorgen um eine Kündigung machen, weil sie wüssten, dass sie wieder eine Chance auf einen neuen Job haben. So wird ein Schuh daraus. ({6}) Während meiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Betriebsrat habe ich fast zwölf Jahre mit vielen Arbeitnehmern und Chefs gesprochen. Auch als ehrenamtlicher Politiker und nun als Abgeordneter habe ich mich in dieser Zeit mit Entscheidern und Betriebsräten beraten. Herr Dreibus, auch liberale Politiker haben das Ohr in den Betrieben. Wir reden mit allen Beteiligten. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Schaaf.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rohde, stimmen Sie mit mir überein, dass dann, wenn Ihre Theorie, dass weniger Kündigungsschutz und weniger Schutzrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Arbeitsplätze schafften, stimmte, gar kein Kündigungsschutz unter Umständen zu Vollbeschäftigung führen müsste? Das heißt, wie viel weniger Rechte brauchen die Menschen, damit tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden? Wenn Sie diese Theorie tatsächlich aufrechterhalten wollen: Auf welche Daten berufen Sie sich bei dieser Theorie? Mir wird überhaupt nicht klar, woher Sie Ihre Erkenntnisse nehmen; denn alle unsere Erkenntnisse, auch die aus dem europäischen Ausland, besagen, dass weniger Schutzrechte nicht mehr Arbeit schaffen. Sagen Sie uns in diesem Hohen Hause bitte, woher Sie Ihre Erkenntnisse beziehen. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schaaf, ich bin Ihnen für die Frage dankbar. Beim ersten Teil hatte ich schon gehofft, Sie hätten Einsicht in unsere Bemühungen gezeigt. Es gibt wirklich Unternehmer, die sagen, bei diesen Schwellenwerten stelle ich nicht ein, weil der Kündigungsschutz für alle Arbeitnehmer greift, wenn ich einen zusätzlichen Arbeitnehmer einstelle. Deswegen schaffen sie keine neuen Jobs. Ich habe mehrere Beispiele aus verschiedenen Branchen. Sie haben es überspitzt dargestellt. Wir wollen nicht gar keinen Kündigungsschutz, sondern wir brauchen flexiblere Regelungen, wie sie zum Beispiel im Antrag der FDP gefordert werden. ({0}) Gerade als ehemaliger Betriebsrat setze ich mich für einen flexiblen Arbeitsmarkt ein. Die FDP ist eben die echte Arbeitnehmerpartei. ({1}) Wir wissen alle, dass wir in Deutschland ein Problem bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer haben. Das Lebensalter hat Einfluss auf die Gestaltung der Sozialpläne und daher finden ältere Arbeitslose kaum einen neuen Job. Die Initiative „50 plus“ von Herrn Müntefering bekämpft hier übrigens nur die Symptome, aber nicht die Ursachen. Würden wir als Bundestag dem Antrag der Linken zum Beispiel bei der Ausweitung des Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer in Punkt 3 folgen, so hätten schon 45-Jährige ein Problem, einen neuen Job zu finden. Bei der Forderung in Ihrem Punkt 8, ein Umlagesystem für Abfindungsansprüche in kleinen und mittleren Unternehmen einzurichten, sträuben sich mir sogar die Nackenhaare. Sie erfinden ein neues bürokratisches Monster, welches kleine und mittlere Unternehmen finanziell belastet, und viele schwache Firmen werden zur sofortigen Aufgabe ermuntert. Eine Rückfrage, liebe Linke: Wie lange müsste ich denn als Unternehmer in welcher Höhe in das Umlagesystem einzahlen, damit ich das Recht habe, einem langjährigen Mitarbeiter zu kündigen und diesem zu einer Abfindung zu verhelfen? Ihr Vorschlag ist weder praktikabel noch finanzierbar. Wer befristete Arbeitsverhältnisse nicht erlauben will, der hat auch keine Chance, dass wenigstens solche Jobs entstehen. Es wird Sie ebenfalls nicht überraschen, dass die Liberalen das Verbandsklagerecht für Gewerkschaften ablehnen. Wenn die Sozialauswahl um die von Ihnen geforderten Kriterien erweitert wird, dann wird es etliche Unternehmensteile geben, die nicht mehr saniert, sondern sofort aufgelöst werden. Wenn die Leistungsträger der Firma auf die Straße gesetzt werden, dann kann der Chef den Laden auch gleich zusperren. Das kann doch nicht wirklich Ziel Ihrer Politik sein. In Deutschland brauchen wir, wie es auch der Sachverständigenrat gefordert hat, ein Vertragsoptionsmodell. Vorschläge dazu haben wir vorgelegt. Ich empfehle daher der Bundesregierung und den beiden Koalitionsfraktionen, den Antrag der FDP anzunehmen und gleichzeitig den Antrag der Linken abzulehnen. Entfernen Sie Barrieren, damit schnell neue Jobs in Deutschland entstehen! Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion Die Linke, zu einer Kurzintervention.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Rohde, ich habe gehört, dass Sie mit Ihrem Antrag, beim Kündigungsschutzgesetz den Schwellenwert zu erhöhen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen. Kennen Sie die IAB-Panels für Ostdeutschland, die auf der Grundlage von SÖSTRA-Studien seit mittlerweile über zehn Jahren erfasst werden? Wissen Sie, dass mit der Anhebung des Schwellenwertes auf 20 Beschäftigte - es werden nicht Vollzeitbeschäftigte, sondern Köpfe gezählt, also auch Teilzeitbeschäftigte - in Ostdeutschland der Kündigungsschutz nur noch in 5 Prozent aller Betriebe überhaupt gelten würde? Das heißt, 95 Prozent aller ostdeutschen Betriebe würden vom Kündigungsschutzgesetz nicht mehr betroffen sein. Ist Ihnen das bewusst? Wollen Sie tatsächlich so weit gehen? ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, der Kündigungsschutz, den wir hier im Bundestag besprechen, gilt natürlich für ganz Deutschland. Wir wissen, dass in Ostdeutschland ein strukturelles Problem herrscht. Wir haben schon damals zu Beginn, als die neuen Bundesländer hinzukamen, andere Vorschläge gemacht, zum Beispiel zum Steuerrecht, um genau diese Situation nicht entstehen zu lassen. Jetzt haben wir leider die Situation, die wir heute vorfinden. Deswegen müssen wir für die gesamte Wirtschaft - das Arbeitsrecht gilt ja für Gesamtdeutschland - die Gesetze, die die FDP vorschlägt, einführen. Dann besteht die Chance, unter anderen Rahmenbedingungen einen Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu erreichen. Die Situation in Ostdeutschland ist verfahren. Wir dürfen uns aber nicht nur regionalen Problemen widmen, sondern wir müssen die Probleme für ganz Deutschland anpacken. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Doris Barnett, SPDFraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den beiden Anträgen beschleicht mich wie den Kollegen Lehrieder der Gedanke: Es muss wohl daran liegen, dass diese beiden Fraktionen am Rande sitzen. Das sage ich, auch wenn ich sie damit - um Gottes willen - nicht als Randerscheinung bezeichnen will. Die von ihnen vorgelegten und heute diskutierten Anträge verdienen wirklich nur ein Prädikat: besonders daneben. Während die FDP in gewohnter Manier dem Heuern und Feuern frönt und dabei noch behauptet, sie sei die wahre Arbeitnehmerpartei, ({0}) fordert die Linke, dass einem 56-jährigen Mitarbeiter in einem Handwerksbetrieb mit zwei Angestellten, der längere Zeit keine Aufträge hat - dieser Mitarbeiter ist dort schon zehn Jahre tätig, hat sich über den Chef geärgert und macht deswegen nur noch Dienst nach Vorschrift -, nicht gekündigt werden darf, während einem erst 45-jährigen Leistungsträger - er ist in diesem Betrieb drei Jahre tätig und rackert für zwei - gekündigt werden muss. Dadurch geht der Betrieb endgültig ein. Sechs Jahre nach der Jahrtausendwende kann das alles doch nicht wahr sein. Seien wir also froh, dass in Deutschland Augenmaß herrscht und dass wir mit dem bestehenden und bewährten Kündigungsschutz den Bedürfnissen unserer modernen und flexiblen Arbeitswelt entsprechen. Das war mein Fazit; ich habe es vorweggenommen. Jetzt komme ich zu den Anträgen. Zunächst einmal komme ich auf den FDP-Antrag zu sprechen. Sie verweisen auf den Sachverständigenrat und sagen, die Liberalisierung des Kündigungsschutzes sei erforderlich, um die Verfestigung der Arbeitslosigkeit aufzubrechen; dies gelte besonders für Langzeitarbeitslose und Geringverdiener. ({1}) Wenn das alles so wäre, wie Sie es darstellen! Langzeitarbeitslose und Geringverdiener haben doch nicht wegen des Kündigungsschutzes ein Problem, sondern wegen ihrer Defizite. Man muss sie erst einmal ordentlich qualifizieren. Warum stecken wir denn so viel Geld in die Qualifizierung, damit diese Menschen den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schaffen? Das hat doch mit Kündigungsschutz überhaupt nichts zu tun. Wenn es einen solchen Zusammenhang gäbe, dann hätte man sämtliche älteren Langzeitarbeitslosen schon längst eingestellt; schließlich ermöglicht dies die Gesetzeslage, Stichwort „ständige Befristung“. ({2}) - Doch, doch, doch! In Ihrem Antrag steht, nötig sei der Übergang vom Bestandsschutz zum Abfindungsprinzip. Die FDP verabschiedet sich damit ganz offensichtlich vom Kündigungsschutz als gesetzlicher Regelung. Sie wollen ein Kündigungsschutzrecht für eine moderne Wirtschaftsordnung. Wie sieht dieses Recht aus? Es soll entfallen! Das kann doch alles nicht sein. Sie wollen ein Vertragsoptionsmodell, das vorsieht, dass beim Vertragsabschluss die Höhe der Abfindung vereinbart wird. Ich stelle mir einmal Folgendes vor: Ein Geringverdiener oder ein Langzeitarbeitsloser - diese Menschen liegen Ihnen ja am Herzen - versucht, mit einem möglichen Arbeitgeber über die Höhe einer Abfindung zu verhandeln. Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Offensichtlich glauben Sie, dass der Arbeitssuchende mit seinem Rechtsanwalt kommt und eine Abfindungssumme vereinbart. Was Sie hier vorschlagen, das ist doch alles nicht von dieser Welt. Ganz besonders komisch ist es, dass Sie vorschlagen, ein Arbeitssuchender könne statt einer Abfindung eine Weiterbildung vereinbaren. Ich stelle mir jetzt vor: Ein Fahrer unseres Fahrdienstes verhandelt dahin gehend, dass er, wenn er zwei, drei oder fünf Jahre angestellt war, eine Ausbildung bekommt, wobei er selbst Inhalt und Kosten der Ausbildung bestimmt; der Arbeitgeber nickt das alles ab. Das ist blanker Unsinn. Wissen Sie, was dann geschehen würde? Eigentlich müssten wir uns über die Umsetzung Ihres Vorschlags freuen, weil die Arbeitsverwaltung dadurch - theoretisch - entlastet würde; schließlich ist sie bisher für die Eingliederung zuständig. Eine solche Änderung wäre eine schöne Sache. Ich frage Sie: Warum fordern Sie nicht Ihre Seite, also die Arbeitgeberseite, auf, das ganze Geld in die Qualifizierung vor der Kündigung zu investieren, damit die Angestellten erst gar nicht entlassen werden müssen? ({3}) Dann würde ein Schuh daraus. Aber darüber kann man mit Ihnen offensichtlich überhaupt nicht sprechen. Ihren Forderungen liegen ein Menschenbild und ein Gesellschaftsbild zugrunde, über die man nur den Kopf schütteln kann. Sie wollen die Sperrzeiten so ändern, dass es keine Kettenverträge gibt. An und für sich wollen Sie aber Kettenverträge; schließlich fordern Sie die Möglichkeit von Befristungen ohne sachlichen Grund bis zu vier Jahren; in den ersten zwei Jahren soll sowieso kein Kündigungsschutz bestehen. Wenn überhaupt, dann soll es einen Kündigungsschutz nur für Betriebe ab 20 Arbeitnehmern geben. Aber jetzt kommt es: Die Prorata-temporis-Regelung soll gelten. Wir sprechen also über eine Grenze von - im schlimmsten Fall - 40 Arbeitnehmern und da sagen Sie, das sei ein moderner Kündigungsschutz in unserem Staat. ({4}) Hinzu kommt noch: Bei der Vertragsoption verlangen Sie, dass es nicht zu einer Sperrzeit kommen soll, wenn man sich auf so etwas einlässt. Damit belasten Sie wieder die Kasse der Arbeitslosenversicherung, die es nämlich tragen muss, wenn die Arbeitnehmer ihr Geld einfach bekommen. Das ist eine Besserstellung, wiederum zulasten Dritter, nämlich hier der Arbeitsverwaltung. Zum Antrag der Linken ist Folgendes zu sagen: Über die eine oder andere Formulierung könnte man sich mit Ihnen verständigen. So sagen Sie, dass der Kündigungsschutz vor unbegründeter Entlassung und willkürlicher Entscheidung des Arbeitgebers bewahrt. Das ist insoweit richtig. Aber bei den einzelnen Forderungen von Ihnen muss ich doch einige Fragezeichen setzen. Sie sagen, Motivation und Kreativität der Beschäftigten seien höher, wenn sie keine Angst hätten. Angst ist immer der schlechteste Ratgeber und führt auch im Arbeitsleben nicht zu mehr Leistung. Wenn man den Beschäftigten einen interessanten Arbeitsplatz gibt und wenn man sie fortbildet, dann wird ein Schuh daraus. Wir brauchen deswegen nicht unbedingt nur einen besseren Kündigungsschutz, sondern wir brauchen auch gute Betriebsräte und gute Tarifverträge, die absichern. Sie sagen, dass man den Kündigungsschutz unbedingt braucht, um Rechte durchzusetzen, weil nämlich die Menschen sonst erpressbar sind. Ich erwidere darauf: Um Rechte durchzusetzen, braucht man auch einen vernünftigen Betriebsrat, vernünftige Gesetze - ein gutes Betriebsverfassungsgesetz gehört dazu - und Tarifverträge, die die Arbeitnehmer schützen. Da darf man sich nicht leicht herausschleichen können. Ich sehe, dass meine Redezeit abläuft; deswegen kann ich nur noch Folgendes sagen: Die Linke will zwar vordergründig durch den Kündigungsschutz die Arbeitnehmer stärken. Leider behindert der aber massiv Neueinstellungen. Sie von der Linken scheinen aber auch einen Systemwechsel zu wollen, nämlich weg von der Interessenvertretung durch Betriebsräte hin zu einer solchen durch Gewerkschaften, die direkt in Betriebe eingreifen, wie das in Spanien der Fall ist. Wenn Sie das wollen, dann würde ich Sie schon auffordern, das dann auch so zu sagen. Beim Kündigungsschutz geht es um die Art und Weise, in der wir mit den Arbeitnehmern umgehen. Die Arbeitnehmer brauchen ein Mindestmaß an Sicherheit, um ihre Existenz und möglicherweise eine neue, nämlich die einer Familie, zu sichern. Sie wollen vorwärts kommen und sind bereit - dazu müssen sie auch bereit sein -, ihre Beschäftigungsfähigkeit durch ständige Weiterbildung zu gewährleisten. Das nützt ihnen, ihrem Preis, aber auch den Arbeitgebern; denn nur hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter bringen die notwendige Innovation. Beide Seiten sind mit ihren Schicksalen eigentlich so ineinander verwoben und voneinander abhängig, dass nur ein gerechter Ausgleich Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schafft. Deswegen brauchen wir einen guten Kündigungsschutz. Den haben wir. Den brauchen wir nicht zu verändern. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Michael Fuchs, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Kolb, ich vermisse heute hier eigentlich den rheinland-pfälzischen Dampfplauderer und Kuschelkursfahrer Rainer Brüderle. ({0}) Es hätte mich sehr gefreut, wenn Sie in dieser Woche diesen Termin zur Brautschau tatsächlich durchgeführt hätten ({1}) und Ihren Antrag mitgenommen hätten, um einmal auszuloten, wie groß die Gemeinsamkeiten sind; das kann man an diesem Antrag sicherlich sehr gut machen. Verehrte Frau Pothmer, der - inzwischen leider verstorbene - Professor Nipperdey hat sich mit Arbeitsrecht und dieser Materie insgesamt in Deutschland beschäftigt. Er hat ein dickes Werk dazu verfasst. Es gibt über 90 Gesetze und Verordnungen nur zum Arbeitsrecht. Da kommt kaum noch ein normaler Jurist mit. Man braucht hoch spezialisierte Fachjuristen; denn das Arbeitsrecht ist außerordentlich kompliziert und unübersichtlich. Das ist sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass sich Unternehmer, vor allem kleinere Unternehmer, schwer damit tun, jemanden einzustellen. Das haben wir dann ja auch in den letzten Tagen, genauer gesagt: gestern, wieder bestätigt bekommen. In einer Studie des World Economic Forum landen wir in puncto Regulierung von 125 Staaten auf Platz 79, ({2}) beim Kündigungsschutz belegen wir sogar Platz 120. ({3}) Wir brauchen also eine grundlegende Vereinfachung des Arbeitsrechtes in Deutschland. ({4}) Jeder Arbeitgeber sollte Einstellungen und die zusätzliche Beschäftigung von Mitarbeitern als Chance und nicht als ein unkalkulierbares Risiko ansehen können. ({5}) Es ist, nebenbei gesagt, fast genauso wie im Steuerrecht. Wir haben da ja auch mittlerweile die Situation, dass nur noch Experten mit diesem Steuerrecht überhaupt klarkommen. Diese sind dann allerdings in der Lage, die berühmten Nischen zu finden, die wir noch nicht zugemacht haben. Dank einer verbesserten Auftrags- und Beschäftigungslage, die wir ja Gott sei Dank gemeinsam geschaffen haben - ich bin sehr froh, jetzt Zahlen mitteilen zu können, die gerade eben aus Nürnberg veröffentlicht worden sind -, haben wir 409 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr - ein echter Beschäftigungsaufwuchs! Ich freue mich gemeinsam mit unseren Partnern von der SPD darüber, dass wir da ein ganzes Stück vorangekommen sind. Das ist nämlich eine zentrale Aufgabe für uns in diesem Hohen Hause. ({6}) Der Antrag der FDP-Fraktion enthält aus meiner Sicht - das wird Sie vielleicht nicht überraschen - viele sinnvolle Schritte zur Modernisierung des Arbeitsrechts. ({7}) Über einige Einzelheiten dieses Antrags könnte man auch intensiv nachdenken. Aber - das ist kein Vorwurf an die FDP - der Antrag ändert nichts an der Unübersichtlichkeit und Kompliziertheit unseres Arbeitsrechts. Da müssen wir noch ein ganzes Stück weiterkommen. ({8}) Was wir in Deutschland eigentlich brauchen, ist ein großer Wurf beim Arbeitsrecht. ({9}) Es gibt in diesem Zusammenhang Gott sei Dank Bemühungen, das zu verändern und ein einheitliches Arbeitsvertragsgesetzbuch zu schaffen. ({10}) Ich halte die Diskussion darüber für ausgesprochen wichtig, Herr Kollege Niebel, ob man nicht die über 40 Gesetze, in denen heute das Arbeitsvertragsrecht einschließlich des Kündigungsschutzrechts verstreut ist, in einem Gesetz zusammenfasst. Das kann ja eigentlich nur Sinn machen. ({11}) Die Bertelsmann Stiftung hat eine entsprechende Kommission eingesetzt und ein erster Arbeitsentwurf liegt vor. Damit sollten wir uns beschäftigen. Angesichts der vielen in den letzten Jahren neu erlassenen Gesetze ist es sicherlich sinnvoll, hier ein vernünftiges Werk zu schaffen. Das könnten wir dann auch gemeinsam in Gang setzen. Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass es zur Zukunft des Arbeitsrechts in diesem Hohen Hause immer unterschiedliche Auffassungen gegeben hat und auch weiterhin geben wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Arbeitsrechtes und zur Modernisierung des Kündigungsschutzrechtes vorgelegt. Leider - daraus mache ich jetzt auch keinen Hehl gibt es in der jetzigen Regierungskonstellation und auch in den Koalitionsfraktionen hierüber keinen Konsens. Wir werden entsprechend der Koalitionsvereinbarung eine Nachfolgeregelung für die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen mit älteren Arbeitnehmern, die so genannte 52er-Regelung, finden müssen. Ich gehe davon aus, dass wir im Zusammenhang mit der Initiative „50 plus“ des Arbeitsministers Müntefering jetzt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen werden, der die Beschäftigungshemmnisse gerade für ältere Arbeitnehmer abbaut. Das muss unser Ziel sein. Außerdem sollten wir bei dieser Gelegenheit einen auf dem Jobgipfel im Jahr 2005 gemachten Vorschlag aufgreifen. Da wurde vereinbart, das Verbot aufzuheben, einen ohne sachlichen Grund ehemals befristet Beschäftigten ein zweites Mal befristet einzustellen. Ich halte das für sinnvoll. Es handelt sich um diese berühmte Praktikantenregelung. Jemandem, der also einmal ein Praktikum in einem Betrieb gemacht hat, eine befristete Einstellung zu verwehren, halte ich für schlicht unsinnig. Wir werden das hoffentlich gemeinsam angehen. Ich denke, da besteht Konsens auf allen Seiten des Hauses. ({12}) Den Vorschlag der FDP, zwischen wiederholten Einstellungen nur eine dreimonatige Frist vorzusehen, halte ich für falsch. Hier sollten wir bei sechs Monaten bleiben, wie wir es auf dem Jobgipfel diskutiert haben. Ich halte es für sinnvoll, in diese Richtung zu gehen. Bei einer Frist von nur drei Monaten ist mir die Gefahr, dass Missbrauch betrieben wird, einfach zu groß. ({13}) Meine Damen und Herren, der Vorschlag aus dem Koalitionsvertrag, anstelle der sachgrundlosen Befristung eine neue Wartezeitoption einzuführen, hat sich als nicht sinnvoll umsetzbar erwiesen. Unter anderem hätten wir einen Sonderkündigungsschutz während einer 24-monatigen Warteoption aufgeben müssen, wenn man die sachgrundlosen Befristungen durch eine solche Option hätte ersetzen wollen. Rechtlich gesehen wäre das sehr schwierig geworden. Deswegen wird es so etwas nicht geben. Wir müssen aber trotzdem an die 52er-Regelung für ältere Arbeitnehmer herangehen. In diesem Zusammenhang sollten wir auch über den Wegfall des Verbots der Wiedereinstellung durch den gleichen Arbeitgeber diskutieren. Wir werden darauf achten - das halte ich für sehr wichtig -, ob und wie betriebliche Bündnisse für Arbeit im Rahmen der Tarifautonomie genutzt werden. Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Die tarifvertragliche Öffnung ist für mich ein wichtiges Flexibilisierungsinstrument bei unseren überregulierten Märkten. Sie funktioniert aber immer noch nicht in allen Branchen. Ehrlicherweise muss ich hier Gerhard Schröder loben, der in seiner Agenda 2010 gerade diesen Punkt aufgegriffen und gesagt hat, dass wir dann, wenn keine vernünftigen Bündnisse für Arbeit entstehen, über das Gesetz regeln müssen, dass solche Öffnungen ermöglicht werden. Wir sollten daran herangehen und das Ganze völlig emotionslos betrachten. Ich glaube, das wird die große Koalition auch so tun. ({14}) Meine Damen und Herren, ich habe eigentlich überhaupt keine Lust, etwas zu dem zweiten Antrag, dem der Linken, zu sagen. ({15}) Man merkt, dass die Herrschaften noch nie in Betrieben gewesen sind, ({16}) schon gar nicht in kleinen Betrieben. Sie, Herr Dreibus, waren vielleicht als Gewerkschaftssekretär der IG Metall einmal bei irgendwelchen Betriebsratsseminaren. ({17}) Aber mit der wirklichen Arbeit haben Sie noch nie etwas zu tun gehabt, sonst könnten Sie so einen Unfug gar nicht erzählen. ({18}) Wenn Sie glauben, den Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht bei sozial ungerechtfertigter Kündigung geben zu müssen, frage ich mich, wer eigentlich feststellt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist: die Gewerkschaften in ihrer völligen Neutralität? Wie soll das bitte gehen? Wir schaffen damit ein zusätzliches Richterrecht, davon haben wir in Deutschland wahrlich genug. ({19}) Das Arbeitsrecht sollte ein Recht für Arbeit sein und nicht ein Recht gegen Neueinstellungen. ({20}) Wir schützen oftmals aber diejenigen, die einen Job haben. Aber noch effektiver schützen wir Arbeitslose davor, einen zu bekommen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass weder unser geltendes Recht noch die vorliegenden Anträge diesem Ziel endgültig entsprechen und dass wir tiefer greifende Veränderungen für ein vereinfachtes und grundlegend modernisiertes Arbeitsrecht brauchen. In dem Sinne sollten wir vernünftig weiter zusammenarbeiten. Vielen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Josip Juratovic von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder kommt der Kündigungsschutz auf die Tagesordnung. Die Mär, der Kündigungsschutz sei ein Beschäftigungshemmnis, hält sich hartnäckig, besonders in den Reihen der Liberalen. Die Argumente der Liberalen, warum der Kündigungsschutz aufgeweicht werden sollte, sind bereits mehrfach widerlegt worden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der immer wieder beiJosip Juratovic nahe ideologisch thematisierte Kündigungsschutz nichts anderes als Augenwischerei und Rechtfertigung der FDP und einzelner Verbände für ihre Konzeptlosigkeit und mangelnde Kreativität ist. Aus meiner Erfahrung sind die Betriebe beschäftigungspolitisch erfolgreich, die in Bildung, Qualifizierung, Innovation und Organisation investieren, und vor allem diejenigen, die ihr Kapital im Betrieb anlegen und nicht in Villen und Yachten. ({0}) Zu dem Antrag von PDS und Linken stelle ich fest: Sie versuchen mit Versprechen, die an der Realität völlig vorbeigehen, Punkte zu sammeln. Ihr vermeintlicher Schutz älterer Arbeitnehmer würde in der Realität das Gegenteil bewirken. Dazu ein Beispiel aus der Praxis. Nehmen wir einen Kleinunternehmer mit einem Mitarbeiter, der nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit 55 Jahre alt ist, die Hälfte seine Arbeitszeit krankheitsbedingt fehlt und erst mit 65 Jahren in Rente gehen kann: Bei Umsetzung Ihres Antrages hätten wir nicht eine Beschäftigungssicherung, sondern zwei Arbeitslose mehr, nämlich den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber, da der Kleinunternehmer die Belastung nicht mehr tragen könnte. ({1}) Es ist in der Tat so, dass das nur jemand fordern kann, der keine Ahnung von betrieblicher Realität hat oder der die Menschen mit der reinen Lehre beglücken will. ({2}) Bei der Fülle hochrangiger Gewerkschaftsfunktionäre in Ihren Reihen grenzt es übrigens an ein Wunder, dass sich dieser Unsinn bis zum Antrag entwickeln konnte. ({3}) Für uns ist der Kündigungsschutz mehr als nur ein ökonomischer Wert oder ein betrieblicher Kostenfaktor. Er gibt den Beschäftigten Sicherheit und Planungsmöglichkeit. Eine Kündigung ist ein tiefer Eingriff in das Leben eines Menschen, da der Arbeitsplatz die einzige Quelle für seinen Lebensunterhalt ist. Außerdem ist der Kündigungsschutz mehr als ein Schutz vor dem Arbeitsplatzverlust. Ohne Kündigungsschutz sind auch die kollektiven Rechte aus der Betriebsverfassung kaum einzufordern, ohne befürchten zu müssen, deshalb den Arbeitsplatz zu verlieren. Ein geringerer Kündigungsschutz schürt nur Ängste. Zu beiden Anträgen kann ich aus meiner 22-jährigen Betriebserfahrung sagen: Die Menschen vor Ort sind sehr sensibel. Viele bangen um ihren Arbeitsplatz; viele sind bereits arbeitslos. Doch sie wissen, dass es in der verstärkt globalisierten Welt keine Patentrezepte gibt. Deshalb erwarten sie berechtigterweise von uns mehr Seriosität und ein ernstes Herangehen an ihre Probleme. Dies trägt zur Sicherheit bei. Diese Sicherheit motiviert zum Konsum. Kauffreudigkeit stärkt die Beschäftigung. Das ist das Ziel der großen Koalition. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Clemens Bollen, SPDFraktion.

Clemens Bollen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003875, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich erstaunlich, wie locker ein existenzielles Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der FDP-Fraktion zur Disposition gestellt wird. ({0}) Das, was über Jahrzehnte als Schutz im Rahmen eines Sozialkonsenses in dieser Gesellschaft erkämpft worden ist, wird nun umgedeutet als Barriere. Die Menschen, die arbeitslos sind und die nicht für den Abbau der Rechte der Beschäftigten missbraucht werden wollen, und auch die Menschen, die Arbeit haben, fragen sich: Wo leben eigentlich die, die da jetzt diskutieren? Alle wissenschaftlichen Untersuchungen - davon war bereits die Rede; gestern legte das Institut für Öffentliche Wirtschaft und Personalwirtschaft der Universität Hamburg die neuesten Ergebnisse einer Untersuchung vor - machen deutlich: Es gibt keinen relevanten Zusammenhang zwischen Einstellungsverhalten der Betriebe und Kündigungsschutz. ({1}) Marcus Allen, ein amerikanischer Soziologe, sagte sehr schön: Manche leiden mehr unter ihren Vorstellungen als unter der Wirklichkeit. ({2}) Die Hamburger Forscher haben erneut mit dem Vorurteil aufgeräumt, dass der Kündigungsschutz Einstellungen verhindert. Im Gegenteil: Schon jetzt zeigt der Arbeitsmarkt in Deutschland eine hohe Fluktuation. 4 Millionen Menschen wechseln jährlich den Arbeitsplatz. Man muss sich einmal vorstellen, was diese Mobilität aufgrund des Arbeitsplatzwechsels für schulpflichtige Kinder bedeutet! Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beweisen hohe Flexibilität und hohe Mobilität. Arbeitnehmerrechte wie Kündigungsschutz und Mitbestimmung unterstützen die Betriebsräte, wenn es um die Vereinbarung von Sozialplänen geht. Dagegen sind Abbau von Kündigungsschutz und Ausweitung von befristeten Verträgen auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht - das sollte besonders die FDP interessieren - problematisch. Vor wenigen Tagen ist eine neue Kölner Langzeitstudie unter dem Titel „Die hohen Kosten der Angst“ veröffentlicht worden. Die Zahlen sind für alle, die Verantwortung tragen, in der Tat alarmierend und machen deutlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unsicheren Arbeitssituationen eine dramatisch verringerte Produktivität haben. Ihre prekäre Situation erfüllt die Menschen mit Zukunftsangst, wodurch sie gelähmt werden. Angst beeinträchtigt die Motivation, das Engagement und die Kreativität. Dabei sind genau diese Faktoren für die Betriebe wichtig. Aus diesem Grunde ist ein Drehen am Kündigungsschutz so gefährlich, wenn es um das Mitziehen der Arbeitnehmer in den Betrieben geht. Die Kölner Studie - diese Zahlen muss man sich einmal vor Augen halten - beziffert den Produktivitätsverlust für die Wirtschaft zwischen 50 und 100 Milliarden Euro. Das muss alle alarmieren. Wir dagegen wollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich bei ihrer Arbeit engagieren, die sich mit ihren Betrieben identifizieren und die mit Einsatz und Kreativität die Produktion und Verwaltung nach vorne bringen. Was geht in einem Arbeitnehmer vor, der vielleicht morgen seinen Stuhl vor der Tür stehen hat? Wie soll er sich engagieren? Was geht in einem Arbeitnehmer vor, der nicht weiß, ob sein Vertrag verlängert wird? Um dies alles zu verhindern, müssen wir uns für feste Arbeitsverhältnisse einsetzen und benötigen wir Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherheit. Wir brauchen dies aber nicht nur aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sondern auch für unsere Gesellschaft. Es wird die alternde Gesellschaft beklagt und dass es immer weniger Familien mit Kindern gibt. Wir brauchen eine familienfreundlichere Arbeitswelt. Die Vorschläge der FDP führen zum genauen Gegenteil. Sie behauptet, dass ältere und jüngere Arbeitnehmer von einem gelockerten Kündigungsschutz oder von befristeten Arbeitsverträgen profitieren würden. ({3}) Ich frage Sie ganz ehrlich: Wie sollen jüngere Menschen eine Familie gründen und ihre Zukunft planen, wenn sie keine gesicherte wirtschaftliche Grundlage haben, auf die sie sich verlassen können? Wer vom Praktikum zum Kurzzeitjob und zum Zeitvertrag wandert, kann keine Zukunft planen. Zukunftsangst und wirtschaftliche Unsicherheit sind keine Grundlage für eine familiengerechte Zukunft. ({4}) Deshalb bleibt festzuhalten: Der Antrag der FDP ist beschäftigungspolitisch wirkungslos, betriebswirtschaftlich kontraproduktiv und sozialpolitisch nicht zu verantworten. Stattdessen müssen und werden wir in der großen Koalition eine Balance zwischen der notwendigen Flexibilität der Unternehmen und der ebenso notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bollen, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für die weitere Arbeit! ({0}) Ich erteile nun das Wort Kollegen Andreas Steppuhn, SPD-Fraktion.

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hier zur Beratung anstehenden Anträge der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke zum Thema Kündigungsschutz könnten wohl kaum unterschiedlicher ausfallen. Sie, meine Damen und Herren von der FDP, wollen den Kündigungsschutz gänzlich abschaffen. ({0}) Bravo, sage ich da nur; denn damit schärfen Sie erneut deutlich Ihr Profil als arbeitnehmerfeindlichste Partei Deutschlands. Herr Kolb, ich schlage Ihnen deshalb vor, Ihre Partei am besten gleich umzubenennen - ich habe mir schon einen Namen ausgedacht -, und zwar in AFPD, in arbeitnehmerfeindlichste Partei Deutschlands, um damit in Ihrem Namen gleich für alle erkennbar Ihre Arbeitnehmerfeindlichkeit zum Ausdruck kommen zu lassen. ({1}) Ich kann Ihnen eines mit auf den Weg geben: Das Heuern und Feuern von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen. ({2}) Im Übrigen empfehle ich an dieser Stelle, einen Blick nach Italien zu werfen, wo man den Kündigungsschutz fast vollständig abgeschafft hat und nunmehr feststellt - wir Sozialdemokraten haben das schon immer gewusst -, dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes gänzlich ohne beschäftigungspolitische Wirkung bleibt. Nun zu Ihnen, meine Damen und Herren vom ganz linken Spektrum. Auch Ihr Antrag lässt jeglichen Realitätssinn vermissen, obwohl auch ich finde, dass es beim Kündigungsschutz durchaus Verbesserungen geben könnte. Den Menschen jedoch vorzugaukeln, im Himmel sei Jahrmarkt, und mal eben pauschal all das zu fordern, was einem so einfällt, zeugt nicht unbedingt von Glaubwürdigkeit, sondern hat schon etwas von Populismus. Sie stellen Forderungen auf, die noch nicht einmal von den Gewerkschaften zu hören sind. Da fordern Sie zum Beispiel - das ist ja an sich lobenswert - den absoluten Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer ab 55 Jahre und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit. Soll ich Ihnen sagen, wie das werden würde, wenn wir das so beschließen würden? Alle Unternehmen würden versuchen, ihren älteren Beschäftigten vor dem 55. Lebensjahr und vor dem Erreichen einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren zu kündigen, da dies nach Überschreitung dieser beiden Zeitpunkte faktisch nicht mehr möglich wäre. Die Folge wäre eine noch höhere Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer. ({3}) Wir Sozialdemokraten wollen, dass ältere Arbeitnehmer wieder mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, und wollen sie nicht in die Arbeitslosigkeit treiben. Dann fordern Sie, den Schwellenwert, also die Beschäftigtenzahl eines Unternehmens, ab der der Kündigungsschutz einsetzt, gänzlich abzuschaffen, sodass dieser faktisch beim ersten Beschäftigten einsetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Steppuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreibus?

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gleich. Ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende bringen. - Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich habe einmal nachgeschaut: So etwas hat noch nicht einmal die alte DKP im alten wilden Westen gefordert. ({0}) Bitte sehr, Herr Dreibus.

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Steppuhn, ist Ihnen bekannt, dass die Regelung, die wir für ältere Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit im Sinne eines Schutzes vor ordentlicher Kündigung - das ist kein vollkommener Kündigungsschutz; ich hoffe, dass Sie das wissen - vorsehen, bereits seit 40 bis 50 Jahren für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland gilt, nämlich per Tarifvertrag, und dass es in den Bereichen, in denen dies gilt, beispielsweise in der Metall- und Elektroindustrie, sehr viele Menschen gibt, die älter als 55 Jahre sind und einen Arbeitsplatz haben?

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist mir bekannt. Ich habe ja sehr deutlich gesagt, dass auch wir Sozialdemokraten uns Verbesserungen vorstellen können. Aber ich halte es für falsch, solche Regelungen im Kündigungsschutzgesetz flächendeckend in Deutschland einzuführen. ({0}) Das, was von FDP und der Linken in ihren Anträgen formuliert worden ist, ist mehr als jenseits von Gut und Böse. Deshalb bin ich froh, dass wir Sozialdemokraten für einen wirksamen Kündigungsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eintreten und dies auch gegenüber unserem Koalitionspartner beharrlich vertreten. Wir Sozialdemokraten haben das Ziel, den Kündigungsschutz weiterzuentwickeln, Beschäftigung zu fördern, die Schutzfunktion für bestehende Arbeitsverhältnisse nachhaltig zu sichern und die unbefristete Beschäftigung gegenüber den befristeten Arbeitsverhältnissen zu stärken. Die großen Wirtschaftsverbände haben sich gegen das in der Koalitionsvereinbarung verankerte Vorhaben der sachgrundlosen Befristung ausgesprochen. Die Gewerkschaften lehnen diese Pläne wegen der Wartezeitverlängerung gänzlich ab. Wir stehen zum Kündigungsschutz, wie er zurzeit existiert, und sind überhaupt nicht böse darüber, dass der in der Koalitionsvereinbarung niedergeschriebene Änderungswille nunmehr nicht umgesetzt wird. Wir Sozialdemokraten sehen keine Veranlassung, den Kündigungsschutz und das darin enthaltene Befristungsrecht gegen den Willen der Sozialpartner in Deutschland zu ändern. Eine erneute Debatte über Änderungen im Kündigungsschutzgesetz und im Befristungsrecht würde die Wirtschaft, aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verunsichern und den beginnenden Aufschwung am Arbeitsmarkt negativ beeinflussen. Wir haben in Deutschland einen Kündigungsschutz, der sich in der Vergangenheit bewährt hat, und dieses soll auch zukünftig so bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/1443 und 16/2080 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Es folgen nun eine ganze Reihe Abstimmungen. Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 o sowie Zusatzpunkt 2 auf: 35 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft - Drucksache 16/513 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/2703 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahnmautrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/2718 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern - Drucksache 16/2708 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 30. September 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Re- publik Belarus zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2705 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 1. Dezember 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisi- schen Republik zur Vermeidung der Doppel- besteuerung und zur Verhinderung von Steu- erhinterziehungen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2706 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 3. Mai 2006 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2707 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes - Drucksache 16/2704 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion der LINKEN Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland - Drucksache 16/1202 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Europäische Bodenschutzstrategie durch eine sachgerechte Klärschlammverwertung unterstützen - Drucksache 16/1679 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Biologische Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz nutzen - Drucksache 16/2088 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({8}), HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schienenanbindung des Jade-Weser-Port sicherstellen - Drucksache 16/2091 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({10}), HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Modellversuch für Wassertaxen in Berlin starten - Drucksache 16/2519 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({12}), Silke Stokar von Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bessere Evaluierung der Anti-Terror-Gesetze - Drucksache 16/2072 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({13}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes präziser gestalten - Drucksache 16/2671 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({14}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen - Drucksache 16/2779 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 t sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 36 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Unternehmen der Deutschen Bundespost - Drucksachen 16/1938, 16/2476 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) - Drucksache 16/2789 Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Bettina Hagedorn Roland Claus Anja Hajduk Der Haushaltsausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 36 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. August 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ghana zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen, vom Vermögen und vom Veräußerungsgewinn - Drucksache 16/2254 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({16}) - Drucksache 16/2759 Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Kolbe Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei einer gewissen Unklarheit bei der FDP angenommen. ({17}) Zur Erläuterung: Es gibt nur eine zweite Lesung, da es ein Vertragsgesetz ist. Tagesordnungspunkt 36 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands - Drucksache 16/2255 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18}) - Drucksache 16/2775 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Martin Gerster Gisela Piltz Ulla Jelpke Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linksfraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 36 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19}) zu der - Verordnung der Bundesregierung Fünfundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Verordnung der Bundesregierung Einhundertfünfte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/1788, 16/1941 Nr. 2.1, 16/2459, 16/2548 Nr. 2.3, 16/2737 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 16/1788 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linksfraktion und gegen die Stimmen der Grünen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - auf Drucksache 16/2459 ebenfalls nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über Stoffe, die die Ozonschicht schädigen ({21}) - Drucksachen 16/2209, 16/2548 Nr. 2.1, 16/2654 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({22}) Heinz Schmitt ({23}) Eva Bulling-Schröter Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/2209 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen und bei Enthaltung der Linksfraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 36 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({25}) - Drucksachen 16/2212, 16/2548 Nr. 2.2, 16/2655 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({26}) Detlef Müller ({27}) Angelika Brunkhorst Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/2212 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Linksfraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 36 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({28}) zu dem Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, HansJosef Fell, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Verbrennung von Halmgut als Biobrennstoff in Kleinfeuerungsanlagen neu regeln - Drucksachen 16/1149, 16/2564 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Marko Mühlstein Angelika Brunkhorst Hans-Josef Fell Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1149 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({29}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die strukturelle Unternehmensstatistik KOM ({30}) 66 endg.; Ratsdok. 6715/06 - Drucksachen 16/1101 Nr. 2.5, 16/2575 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange ({31}) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei unklarer Abstimmungslage bei der Linksfraktion angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({32}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung ({33}) Nr. 2201/2003 im Hinblick auf die Zuständigkeit in Ehesachen und zur Einführung von Vorschriften betreffend das anwendbare Recht in diesem Bereich ({34}) KOM ({35}) 399 endg.; Ratsdok. 11818/06 - Drucksachen 16/2555 Nr. 2.115, 16/2784 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Dirk Manzewski Christine Lambrecht Sevim Dagdelen Der Ausschuss empfiehlt, festzustellen, dass zu dem Verordnungsvorschlag keine Bedenken hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bestehen und im Übrigen der Verordnungsvorschlag einer späteren Befassung vorbehalten bleibt. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({36}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/2761 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 36 k bis 36 t. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 36 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 87 zu Petitionen - Drucksache 16/2639 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 87 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 88 zu Petitionen - Drucksache 16/2640 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung der Linksfraktion angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 36 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 16/2641 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 89 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 90 zu Petitionen - Drucksache 16/2642 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 90 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 16/2643 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 91 ist mit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 93 zu Petitionen - Drucksache 16/2644 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 93 ist mit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 36 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 94 zu Petitionen - Drucksache 16/2645 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linksfraktion und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 r: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44}) Sammelübersicht 95 zu Petitionen - Drucksache 16/2646 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 95 auf Drucksache 16/2646 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von FDP und Linksfraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 36 s: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45}) Sammelübersicht 96 zu Petitionen - Drucksache 16/2647 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 96 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der drei anderen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 t: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46}) Sammelübersicht 97 zu Petitionen - Drucksache 16/2648 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 97 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Ablehnung durch die Linksfraktion und bei Enthaltung durch die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen - Drucksache 16/2758 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Korruptionsverdacht bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Rolle der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Christine Scheel, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt, weil es vom BMF unterschiedliche und widersprüchliche Aussagen zu den Korruptionsfällen bei der BaFin gegeben hat und weil wir der Auffassung sind, dass es uns Parlamentarier und Parlamentarierinnen umtreiben muss, wenn es in Behörden, die für den Finanzplatz Deutschland äußerst wichtig sind, zu solchen Vorfällen kommt. ({0}) Es geht nicht nur um die Frage: Was ist in der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht passiert? Vielmehr geht es in diesem Zusammenhang immer auch um die Frage: Wie steht es um die Reputation Deutschlands in der Welt? Denn Korruption ist ein Krebsgeschwür, das wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen und dem wir alle unsere größte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit schenken müssen. ({1}) Vertrauen kann nur durch völlige Transparenz und Klarheit zurückgewonnen werden. Gerade deshalb haben wir uns sehr gewundert, dass die Spitze des BMF noch in der letzten Woche in der Sitzung des Finanzausschusses behauptet hat, vom Bericht des Prüfungsamtes des Bundes vom März 2004 keine Kenntnis gehabt zu haben. ({2}) Dabei ist es doch nahe liegend, dass man Kenntnis von diesem Bericht hatte. Denn nach eigenen Angaben hat das BMF sowohl die Fach- als auch die Rechtsaufsicht. ({3}) Korruption in einer nachgelagerten Behörde ist nun einmal keine Lappalie. ({4}) Die BaFin ist als Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde gegenüber allen Banken, Versicherungen und Finanzdienstleistern verantwortlich tätig. Wenn in ihrem eigenen Hause über Jahre hinweg aufgrund mangelhafter interner Finanzkontrollen Korruptionsfälle möglich waren, dann hat diese Finanzaufsichtsbehörde ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Bereits im März dieses Jahres hat das Prüfungsamt im internen Controlling erhebliche Schwachstellen erkannt. Es hat festgestellt, dass die Auftragsvergabe der BaFin mangelhaft kontrolliert und dass gegen vergaberechtliche Vorschriften verstoßen wurde. Daraufhin wurden Prüfberichte der Innenrevision erarbeitet. Dann wurde im Auftrag des BMF von Pricewaterhouse-Coopers ein Gutachten angefertigt, in dem man im Grundsatz zu genau den gleichen Ergebnissen kam: dass die Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsbekämpfung nicht rechtzeitig umgesetzt worden ist und die Behördenleitung die Verwaltung nicht ausreichend kontrolliert hat. In der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses konnte vonseiten des BMF immer noch nicht gesagt werden, ob und, wenn ja, wann die Antikorruptionsrichtlinie in der BaFin umgesetzt wurde. Wir finden, so nachlässig darf man mit einem solch wichtigen Thema wie der Korruptionsbekämpfung nicht umgehen. ({5}) Als Parlamentarier und Parlamentarierinnen müssen wir uns schon fragen, warum das Prüfungsamt des Bundes vor zwei Jahren überhaupt einen Bericht angefertigt hat. Er führte anscheinend zu keinerlei Konsequenzen. Dabei hätten alle Alarmglocken schrillen müssen. Die Lebensrealität zeigt doch: Wo Rauch ist, ist in der Regel auch Feuer. Wie konnte es sein, dass ein Brand zwei Jahre schwelt, ohne dass er entdeckt wird? Hier muss es eine Verantwortungslücke geben, die die mehrjährige Korruption überhaupt erst möglich machte. Hierfür ist nicht nur der Chef der BaFin verantwortlich, sondern auch das BMF hat eine gewisse Verantwortung dafür, dass solche Korruptionsfälle nicht auftreten. Wenn der jetzt angeklagte BaFin-Mitarbeiter sagt, es wurde ihm leicht gemacht, ein Doppelleben in Saus und Braus zu führen, fällt ein dunkler Schatten auf die Führung der Finanzaufsichtsbehörde. Auch die Innenrevision hat die verschiedenen Kontrollsysteme als entwicklungsbedürftig bezeichnet. Sie hat moniert, dass die Vorgaben noch nicht umgesetzt worden seien. Das muss ja wohl schon eine ganze Weile so gewesen sein. Deswegen muss man klar sagen: Wer andere kontrollieren muss, sollte wenigstens sein eigenes Haus bestellen können. Der Korruptionsbekämpfung muss der Stellenwert beigemessen werden, der ihr gebührt, um zukünftige Brände von vornherein auszuschließen. ({6}) Es geht nicht, dass die Führung des BMF erklärt: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. ({7}) Ich kann nur an die Leitung des BMF appellieren: Klären Sie lückenlos auf, verschweigen Sie und beschönigen Sie vor allem nichts und tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende, um solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern! Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt von der CDU/CSU-Fraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die kriminellen Machenschaften in dieser Bundesbehörde sind ein schlimmer Vorgang; darin stimmen alle überein, die sich mit diesem Vorfall beschäftigen, Frau Kollegin Scheel. Die Frage, ob es gut ist, sich mit einem so komplizierten Vorgang in einer Aktuellen Stunde zu beschäftigen, wo man sich nur fünfminuten5196 weise damit auseinander setzen kann, kann ich nicht beantworten. Wir haben uns gestern im Finanzausschuss ausführlich damit beschäftigt. Das ist der richtige Ort für die Erörterung dieses Vorgangs. Dort kann man die einzelnen Argumente besser würdigen. ({0}) Jeder, der schon einmal eine größere Behörde oder Firma geleitet hat, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Es gibt leider kriminelle Energien Einzelner. Die bekommen Sie durch das beste System nicht in den Griff; wir lesen darüber jeden Tag etwas in den Zeitungen. Dennoch: An eine Behörde, die das Finanzwesen beaufsichtigt, legen wir natürlich besonders strenge Maßstäbe an. Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass noch eine Reihe von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen laufen. Von daher ist keiner heute in der Lage, den Vorgang abschließend zu beurteilen. Das war der Grund, warum der Verwaltungsrat sich nicht in der Lage sah, zu einer Entlastung zu kommen. Es liegt nichts vor, was einer Entlastung im Wege stehen würde - das sage ich sehr deutlich -, aber es laufen noch fünf Verfahren und es können neue Aspekte hinzukommen. Im Interesse des Finanzplatzes Deutschland können wir alle nur daran interessiert sein, dass die Vorgänge umfassend und möglichst schnell aufgeklärt werden. Denn natürlich nehmen durch diese Diskussion der Finanzplatz Deutschland, die Behörde und auch ihr Präsident Schaden; das können wir gar nicht verhindern. Andererseits wissen wir, dass die Finanzaufsicht in Deutschland international einen guten Ruf hat; auch das muss man in dieser Diskussion sagen. Es gibt eigentlich niemanden, der hier irgendwelche fachlich-kritischen Fragen stellt. Im Gegenteil, die Diskussion vor Ort läuft ganz anders. Da heißt es eher, dass die Aufsicht ein bisschen zu viel arbeiten würde, wie so manche kleine Sparkasse oder Volksbank berichtet. Auch Sie werden davon gehört haben. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, generell über die Arbeit der BaFin zu sprechen, unabhängig von diesen unangenehmen Vorfällen. Im Moment wird eine große Befragung durchgeführt, an der sich nach meinen Informationen zwei Drittel der Kreditinstitute beteiligen. Wir werden uns mit dem entsprechenden Bericht, sobald er vorliegt, sicherlich ausführlich beschäftigen. Hier wurden drei Institutionen zu einer zusammengelegt. Mit 1 000 Mitarbeitern fing das Ganze an, inzwischen sind es 1 500. Wir haben der Behörde auch immer neue Aufgaben übertragen, sodass es sicherlich Zeit ist, sich mit dem Problem generell zu beschäftigen. Ich finde es auch gut, dass wir in dieser großen Behörde inzwischen einen besonderen Ausschuss eingerichtet haben, nämlich einen Haushalts- und Kontrollausschuss, damit sich einige wenige intensiver damit beschäftigen können. Auch dies ist sicher ein richtiger Schritt. Wir alle sind gut beraten - jeder Einzelne muss sich daran messen lassen -, alles zu unterlassen, was dieser Behörde Schaden in der Öffentlichkeit zufügt. Wir haben in Deutschland eine hervorragende Finanzaufsicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern haben wir keine Probleme - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - mit Banken, Versicherungen usw. Das ist sicher ein Erfolg unserer guten Aufsicht. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht deshalb, weil einige wenige - drei oder vier, vielleicht sind es auch nur zwei; von einem wissen wir es schon - kriminelle Handlungen begangen haben, nach außen den Eindruck erwecken, in der Behörde gehe alles drunter und drüber. Das stimmt nicht. ({1}) Insofern hoffe ich, dass uns in Kürze die abschließenden Berichte vorliegen, dass wir dann zu den notwendigen Entscheidungen kommen und dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir in Deutschland eine gute Finanzdienstleistungsaufsicht behalten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen immer wieder den Satz gehört, dass Herr Sanio ein hervorragender Kapitalmarktexperte mit einer hervorragenden Fachkompetenz ist. Niemand stellt die fachlichen Qualifikationen von Herrn Sanio infrage, am allerwenigsten die FDP. ({0}) In dieser Affäre aber geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es um die Frage, wie glaubwürdig der oberste Bankenkontrolleur sein kann, wenn er seine eigene Behörde nicht unter Kontrolle hat. ({1}) Bei dieser Frage geht es auch nicht nur um Rücktritt oder kein Rücktritt von irgendwelchen Personen und auch nicht in erster Linie um Herrn Sanio, sondern es geht um das Ansehen des Finanzplatzes Deutschland. Herr Kollege Bernhardt, darauf haben Sie zu Recht hingewiesen. Das bisherige Verhalten der Bundesregierung in diesem Korruptionsskandal war allerdings alles andere als hilfreich. Erst wurde Herr Sanio kritisiert, dann teilweise demontiert und schließlich wieder rehabilitiert. ({2}) Ihm wurde das Vertrauen ausgesprochen, die Entlastung wurde ihm aber verweigert. Dieses wechselhafte Verhalten ist wenig professionell, Frau Staatssekretärin Hendricks. Mit diesem Krisenmanagement werden Sie den Aufgaben, die Sie haben - zum Beispiel auch Schaden vom Finanzplatz Deutschland abzuwenden -, nicht gerecht. ({3}) Dabei steht das Finanzministerium in dieser Sache keinesfalls gut da. Es stimmt doch nachdenklich, dass die Staatssekretärin in der letzten Woche in die Sitzung des Finanzausschusses gekommen ist - wohl wissend, dass über die BaFin geredet werden sollte - und einfachste Fragen nicht beantworten konnte. ({4}) Frau Hendricks konnte weder sagen, wann sie das erste Mal von den Vorgängen erfahren hat, noch wusste sie, ob das Ministerium überhaupt darüber informiert worden ist. Das Bundesfinanzministerium brauchte sage und schreibe eine Woche, um sich zu erinnern, dass es bereits 2004 von dem Gutachten des Prüfungsamtes in Koblenz erfahren hat, in dem das mangelhafte Vertrags- und Vergabemanagement der BaFin kritisiert wurde. ({5}) Frau Staatssekretärin Hendricks, selbst damit sind Sie erst herausgerückt, nachdem die Presse darüber berichtet hatte. In dieser Woche haben Sie uns erklärt, dass der zuständige Referatsleiter versetzt und auch ein Personalwechsel in der Unterabteilung vollzogen wurde, was Sie dem Parlament wiederum nur auf wiederholtes Nachfragen mitgeteilt haben. Dann erklärten Sie uns noch, dass das selbstverständlich nicht das Geringste mit den Vorfällen in der BaFin zu tun habe. ({6}) Es kommt noch toller. Frau Staatssekretärin Hendricks hat uns auch noch versichert, es sei absolut in Ordnung, dass der Bericht des Prüfungsamtes in Koblenz aus dem Jahre 2004 den Schreibtisch des zuständigen Referatsleiters nicht verlassen habe. Es gab keine Information des Unterabteilungsleiters und keine Information der Hausspitze. Wozu auch? ({7}) Es geht ja offensichtlich nur um kleine Unregelmäßigkeiten. Was ist das schon? Einen Korruptionsverdacht bei der nationalen Bankenaufsicht erledigt man in Ihrem Hause offensichtlich auf Beamtenebene. Warum sollte man damit auch die Politik belästigen? Dass bei der Organisation der BaFin einiges nicht in Ordnung war, steht außer Frage. Aber inzwischen vermittelt auch der Finanzminister den Eindruck, dass die Dinge in seinem Haus ganz schön durcheinander geraten sind, und zwar just in der für die BaFin zuständigen Abteilung. Was in dieser Angelegenheit besonders bedauerlich ist: Die Leitungsebene des Bundesministeriums der Finanzen will offenbar nichts davon wissen, wenn Prüfungsbehörden des Bundes Unregelmäßigkeiten bei der BaFin feststellen. Sie wollen keine Kontrolle, weil Sie sonst die Verantwortung übernehmen müssten. Aber wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht entlassen. ({8}) Sie legen hier ein Desinteresse an den Tag, das ich erstaunlich finde. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigen Sie, Herr Kollege Wissing. Herr Kollege Pronold, Sie haben nachher das Wort. Dann können Sie Ihre Argumente vortragen. - Bitte schön. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. Wenn Untersuchungsberichte des Bundesrechnungshofs zu einer Angelegenheit der Arbeitsebene gemacht werden - das haben Sie, Frau Hendricks, mit Ihrer Erklärung gemacht -, dann ist das schon ein gefährliches Indiz dafür, dass die politische Kontrolle der Verwaltung nur noch eingeschränkt stattfindet. Rechnungshofberichte sind nicht irgendwelche Berichte. Sie sollen letztlich verhindern, dass das Geld der Bürgerinnen und Bürger verschwendet wird. Das kann man, Frau Staatssekretärin Hendricks, nicht zur Angelegenheit der Arbeitsebene erklären. ({0}) Sie machen das frei nach dem Motto: Die Steuererhöhungen sind Chefsache und um die Ausgabenkontrolle kümmert sich die Beamtenebene. Das darf es nicht geben, schon gar nicht wenn es um Kritik an der Finanzaufsicht geht. Die Aufsicht der Bundesregierung kann nicht darin bestehen, dass sie ihre Beamten beauftragt, Warnhinweise einfach abzuheften, ohne die politische Führung einzubinden. Es ist bedauerlich, dass wir uns heute mit diesem Thema erneut auseinander setzen müssen. Ich bin mir durchaus im Klaren, dass diese Debatte dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland nicht förderlich ist. Aber die Verantwortung dafür, dass wir heute diese Aktuelle Stunde durchführen müssen, trägt nicht die Opposition. Die Verantwortung liegt beim Finanzministerium, das sich an der Aufklärung dieser Affäre bisher nicht gerade durch aktive Unterstützung ausgezeichnet hat. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wo Rauch ist, ist auch Feuer, so hat eben Frau Kollegin Scheel gesagt. Nach dem Motto „Es bleibt immer etwas hängen“ verfahren in dieser Debatte bisher Frau Kollegin Scheel und Herr Kollege Wissing, und zwar wider besseres Wissen. ({0}) Wir haben gestern und auch in der vergangenen Woche im Finanzausschuss über diese Angelegenheit sehr ausführlich debattiert. Ich hatte Sie, Herr Kollege Wissing, eindringlich darum gebeten, Ihre Falschaussage, die Sie heute wissentlich vor dem Plenum gemacht haben, nicht zu wiederholen; denn ich habe Sie gestern darauf hingewiesen, dass die Versetzung der beiden Beamten, die Sie ansprechen, nun wirklich gar nichts mit dem Thema zu tun hat, weil nämlich beide Beamte in dem fraglichen Zeitraum 2004 überhaupt nicht zuständig waren. Beide waren damals nicht in der entsprechenden Funktion. Mit Bezug auf das, was Sie vortragen, kann es überhaupt keinen Anlass geben, die Beamten jetzt zu versetzen, wenn sie damals für ganz andere Tätigkeitsfelder verantwortlich waren. Der eine war zu der Zeit in der Haushaltsabteilung und der andere war im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen im außereuropäischen Ausland tätig. Das habe ich Ihnen gestern erläutert. Dadurch, dass Sie das heute wider besseres Wissen wiederholen, missachten Sie die Fürsorgepflicht gegenüber Beamten, die auch Sie als Bundestagsabgeordneter haben. ({1}) Ich nehme im Übrigen zu dem Thema der aufgedeckten Veruntreuung bei der BaFin und den damit zusammenhängenden Fragen, soweit sie das Bundesministerium der Finanzen betreffen könnten, Stellung. Ich will dabei auf drei Punkte eingehen. Erstens: die Mitteilung des Prüfungsamtes des Bundes Koblenz über die Prüfung der Auftragsvergaben der BaFin vom 10. März 2004. In diesem Zusammenhang werfen Sie uns Versäumnisse vor. Dies ist aber kein Korruptionsfall, um das ganz deutlich zu sagen. Zweitens: die Mitteilung des Bundesrechnungshofes über die Prüfung der Jahresabschlussunterlagen 2003 der BaFin vom 4. Mai 2005. Drittens: die Korruptionsrichtlinie, zu der ich gestern in der Tat noch keine abschließende Auskunft geben konnte. Sie werden sich vorstellen können, dass ein Ministerium über einen großen Aktenbestand verfügt. Im Folgenden stelle ich den Ablauf der Bearbeitung zu den beiden genannten Prüfungsmitteilungen dar, wie er aus den im Bundesministerium der Finanzen vorliegenden Unterlagen ersichtlich ist. Erstens: Mitteilung des Prüfungsamtes Koblenz aus 2004 zur Prüfung der Auftragsvergaben. Das Prüfungsamt Koblenz hat der BaFin und dem Bundesministerium der Finanzen mit Schreiben vom 7. Juli 2003 die Prüfung der Auftragsvergaben der BaFin angekündigt. Am 10. März 2004 übersandte das Prüfungsamt Koblenz die Mitteilung über die Prüfung der Auftragsvergaben der BaFin an die BaFin. Das Prüfungsamt bat die BaFin, innerhalb von drei Monaten zu den Prüfungsfeststellungen Stellung zu nehmen. Zeitgleich wurde dem BMF der Abdruck der Prüfungsmitteilung mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Eingang des Schreibens wurde am 17. März 2004 im Referat Z A 3 registriert. Das Referat Z A 3 in unserer Zentralabteilung ist im BMF die zentrale Eingangsstelle für Prüfberichte des Bundesrechnungshofes. Von dort wurde die Prüfungsmitteilung am 25. März 2004 an das für die Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin zuständige Referat VII B 1 ({2}) - weil es in der Zwischenzeit eine Umstrukturierung gegeben hat, die aber nicht aus aktuellem Anlass erfolgt ist, sondern ohnehin erfolgen sollte, um das deutlich zu machen mit der Bitte um Kenntnisnahme weitergeleitet. Dies ist der übliche Kommunikationsweg zwischen Referaten ohne Hierarchieeinbindung. Im Referat VII B 1 ({3}) wurde der Eingang am 26. März 2004 vom damaligen Referatsleiter mit der Fragestellung abgezeichnet, ob die Prüfungsmitteilung in der Sitzung des Verwaltungsrates der BaFin am 18. Mai 2004 behandelt werden sollte. Auf der Tagesordnung dieser Verwaltungsratssitzung war der Punkt „Berichte des Bundesrechnungshofs“ allgemein vorgesehen. Dem Wortprotokoll und der Niederschrift zur betreffenden Verwaltungsratssitzung ist zu entnehmen, dass die Mitteilung des Prüfungsamtes Koblenz in der Sitzung am 18. Mai 2004 nicht angesprochen wurde. Allerdings hatte, wie sich aus einer Anlage zum am 4. Mai 2006 in Auftrag gegebenen Bericht von Pricewaterhouse-Coopers ergibt, die Innenrevision der BaFin für das Büro der Leitung der BaFin eine Hintergrundinformation mit einem Vorschlag für den Sprechbeitrag zur Sitzung des Verwaltungsrats am 18. Mai 2004 gefertigt. Das heißt, die BaFin war auf diesen Tagesordnungspunkt vorbereitet. Er wurde aber nicht abgehandelt. Soweit aus den Akten ersichtlich, wurde die Prüfungsmitteilung des Prüfungsamtes Koblenz auch nicht in der Verwaltungsratssitzung verteilt. Es bestand zu der Zeit Unklarheit, ob der Bundesrechnungshof durch die Satzung verpflichtet werden kann, seine Berichte dem Verwaltungsrat zur Verfügung zu stellen. Der Bundesrechnungshof vertrat die Auffassung, dass keine gesetzlichen Verpflichtungen bestünden, dem Verwaltungsrat zuzuarbeiten; er könne auch nicht durch die Satzung dazu verpflichtet werden. Die Lösung bestand in einer Änderung der Satzung von 2004. Zu diesem Zeitpunkt bestanden unterschiedliche Rechtsauffassungen, die durch die Satzung einerseits und die Bundeshaushaltsordnung andererseits ausgedrückt wurden. Deshalb musste die Satzung 2004 geändert werden, um sie mit der Bundeshaushaltsordnung in Einklang zu bringen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Stellungnahmefrist für den Präsidenten noch nicht abgelaufen war und der Präsident - wie sich später herausstellte - die Absicht hatte, den Empfehlungen des Bundesrechnungshofes zu dessen Zufriedenheit zu entsprechen. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2004 teilte der Bundesrechnungshof unter Bezugnahme auf die mit Schreiben des BaFin-Präsidenten vom 7. Juni 2004 beschriebenen Maßnahmen den Abschluss des Prüfverfahrens mit. Den gesamten Vorgang „Prüfungsamt Koblenz“ verfügte der damals neu für die BaFin zuständige Leiter des Referates VII B 1 am 27. Juli 2004 zu den Akten. Am 3. August 2004 - nach Ablauf der vom Prüfungsamt der BaFin eingeräumten dreimonatigen Frist zur Stellungnahme - bat das Referat VII B 1 die BaFin per E-Mail um Übersendung ihrer Stellungnahme zur Prüfungsmitteilung. Daraufhin sandte die BaFin ihre gegenüber dem Prüfungsamt abgegebene Stellungnahme des Präsidenten vom 7. Juni 2004 am 10. August 2004 an das Referat VII B 1. Die Stellungnahme des Präsidenten schließt mit der Feststellung, dass „damit dann alle Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Durchführung der Vergabeverfahren uneingeschränkt geschaffen“ seien. Aufgrund dieses Ergebnisses hat ein weiterer Kontakt zwischen BMF und BaFin in dieser Sache nicht mehr stattgefunden. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass die erwähnte Feststellung des Präsidenten auch Ausdruck seiner Gesamtverantwortung für die Organisation seiner Behörde ist. Diese Organisationshoheit des Präsidenten ist im Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz verankert. Wie ausgeführt, bestätigte der Bundesrechnungshof mit Schreiben vom 28. Oktober 2004, mit dem der Abschluss des Prüfverfahrens bekannt gegeben wurde, die Auffassung des Präsidenten. Zu Punkt eins - Prüfungsamt Koblenz - möchte ich abschließend hervorheben, dass in der Prüfungsmitteilung empfohlen wird, wie die Mängel abgestellt werden können. Ein strafrechtlicher Bezug wurde vom Prüfungsamt selbst nicht hergestellt. Insofern konnte und musste der zuständige Referatsleiter davon ausgehen, dass es sich um einen Routinevorgang handelt, der keine Leitungsbefassung erforderte. Es wurde ganz offenbar auch kein Korruptionsvorwurf erhoben; denn die Prüfungsfeststellungen wurden zur Zufriedenheit des Bundesrechnungshofes im Oktober abgeschlossen. Wenn also irgendjemand hier oder später gegenüber der Öffentlichkeit noch einmal behauptet, dass dies irgendetwas mit Korruption zu tun gehabt haben könnte, tut er dies wider besseres Wissen und entgegen der Wahrheit. Darauf mache ich ausdrücklich aufmerksam. ({4}) Zweitens: Mitteilung des Bundesrechnungshofs vom 4. Mai 2005 über die Prüfung der Jahresabschlussunterlagen des Jahres 2003. Mit Schreiben vom 4. Mai 2005 hat der Bundesrechnungshof dem zuständigen Referat im Bundesministerium der Finanzen die Mitteilung über die Prüfung der Jahresabschlussunterlagen 2003 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Bundesrechnungshof regt darin zum Prüfungsschwerpunkt „IT-Ausgaben“ an, dass die BaFin die Entwicklung der IT-Ausgaben stärker überwacht, Abweichungsanalysen erstellt und im Bedarfsfall die Leitung bzw. das Aufsichtsorgan entsprechend unterrichtet. Der zuständige Leiter des Referates VII B 1 schrieb die Prüfungsmitteilung im Hinblick auf eine vorgesehene Befassung des Verwaltungsrates am 24. Mai 2005 zu den Akten. Es war vorgesehen, dass ein Vertreter des Bundesrechnungshofes unter anderem zur Prüfung der Jahresrechnung 2003 vorträgt. Da dieser Vertreter des Bundesrechnungshofes aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen konnte und zudem das kontradiktorische Verfahren noch nicht abgeschlossen war, wurde auf Vorschlag des Verwaltungsratsvorsitzenden die Aussprache auf die Herbstsitzung 2005 vertagt. In der Herbstsitzung am 17. November 2005 verzichtete der Verwaltungsrat auf den Vortrag zur Prüfung der Jahresrechnung 2003. Dies ist aus Sicht des Bundesministeriums der Finanzen auch deswegen gerechtfertigt, weil der Bundesrechnungshof zuvor, am 26. September 2005, der BaFin und zeitgleich dem Bundesministerium der Finanzen zum Prüfungsschwerpunkt „IT-Ausgaben“ Folgendes mitgeteilt hatte - ich zitiere -: Wir hatten festgestellt, dass die Planansätze einzelner IT-Titel stark von den Istausgaben abwichen. Wir hatten daher angeregt, dass die BaFin die Entwicklung der Ausgaben stärker überwacht und angemessene Abweichungsanalysen erstellt. Sie hatten erläutert, dass erst nach Aufstellung des Haushalts 2003 die genauen IT-technischen Rahmenbedingungen des wesentlich für diese Abweichungen verantwortlichen Verfahrens KONAN bekannt wurden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hendricks, ich darf Sie unterbrechen. Sie haben die nach der Geschäftsordnung zulässige Zeit überschritten. Wenn Sie weitersprechen, kann eine Fraktion einen Antrag auf Eröffnung der Aussprache stellen. Es liegt in Ihrer Hand, das zu entscheiden.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Das ist mir klar. Ich frage die Fraktionen, ob sie jetzt eine vollständige Aufklärung wünschen oder nicht. ({0}) - Gut.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann fahren Sie bitte fort. Ihre Redezeit wird dann von der Redezeit der Kollegen aus der SPD-Fraktion abgezogen.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident, ich bitte darum, vor dem Hintergrund der Geschäftsordnung zu prüfen, ob es unterbleiben kann, meine Redezeit von der eines Kollegen aus meiner Fraktion abzuziehen; denn offenbar sind die Fraktionen an einer vollständigen Aufklärung meinerseits interessiert. Zudem wurde insbesondere von den Oppositionsfraktionen bemängelt, dass es bislang keine vollständige Unterrichtung gebe. Mir liegt also daran, eine vollständige Unterrichtung zu geben. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, diese Vollmacht habe ich nicht. Die Geschäftsordnung und die Vereinbarung über die Redezeit sehen das vor. Ich muss die Zeit abziehen.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ich fahre mit dem Zitat aus der Mitteilung des Bundesrechnungshofes fort: Aufgrund der gemachten Erfahrungen wurden bereits diverse Maßnahmen ergriffen, um die Qualität und Belastbarkeit zu optimieren. Zusammenfassend stellt der Bundesrechnungshof fest: Wir befürworten, dass Sie bereits erste Maßnahmen umgesetzt haben und auf die weitere Umsetzung noch offener Punkte achten wollen. Der Bundesrechnungshof wird sich über die noch offenen Punkte bzw. über die Wirksamkeit bereits umgesetzter Maßnahmen in späteren Prüfungen informieren. Im Übrigen kann ich darauf hinweisen, dass auch Kollegin Christine Scheel dem Verwaltungsrat der BaFin für den Zeitraum Juli 2002 bis 31. Dezember 2003 angehörte. Wie ausgeführt, befasste sich die Prüfungsmitteilung des Bundesrechnungshofes auch mit den IT-Ausgaben. Das IT-Rahmenkonzept ist Teil der ergänzenden Unterlagen für jede Haushaltsplanung, zusammen mit Erläuterungen zum Haushaltsplan selbst und Erläuterungen zum Personalhaushalt für das jeweilige Kalenderjahr. Der Entwurf des Haushaltsplans mit umfangreichen Angaben zum IT-Haushalt ging und geht jedem Verwaltungsratsmitglied und stellvertretenden Mitglied rechtzeitig vor der Herbstsitzung als Unterlage zur Sitzungsvorbereitung zu. Der Verwaltungsrat ist nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 der Satzung zur Feststellung des Haushaltsplans berufen. Mir ist nicht bekannt, dass Kollegin Christine Scheel in ihrer Funktion als Verwaltungsratsmitglied den IT-Rahmenplan kritisch hinterfragt hätte. ({0}) Zu drittens, Korruptionsrichtlinie. Die Richtlinie vom 7. Juli 2004, die nach wie vor gültig ist, wurde mit Schreiben vom 30. August 2004 von dem in der Zentralabteilung im Bundesministerium der Finanzen zuständigen Referat Z A 7 an alle Abteilungen des BMF zur Kenntnisnahme und gegebenenfalls zur Bekanntgabe im Geschäftsbereich des BMF gesandt. Die Kopie des daraufhin in das damals für die Rechts- und Fachaufsicht zuständige Referat gelangten Schreibens hat der damalige Referatsleiter zu den Akten verfügt. Eine darüber hinausgehende Bearbeitung ergibt sich aus diesem Schriftstück nicht. In der BaFin wurde die Richtlinie spätestens am 14. Oktober 2004 durch Information der Ansprechpartner für die Korruptionsbekämpfung bekannt gemacht. So viel zu den bisher offenen Punkten. Ich gehe davon aus, dass damit alle Fragen beantwortet sind, die möglicherweise gestern in der Finanzausschusssitzung noch offen geblieben sein könnten, auf die man sich im Zweifelsfall aber natürlich nicht vollständig und umfassend vorbereiten kann, weil man nicht auf jede Idee kommen kann, die ein Kollege haben könnte. Insofern bitte ich, mir das nicht als Versäumnis vorzuhalten. Antworten auf Fragen, die ich in einer Sitzung nicht beantworten kann, weil zu ihrer Beantwortung die Akten benötigt werden, werden entweder schriftlich oder mündlich in der nächsten Sitzung nachgetragen. Dies ist Übung und das werden wir auch in diesem Verfahren so halten. Ich bitte, dies nicht als Missachtung des Parlamentes zu betrachten. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Betrug muss bekämpft werden, Vetternwirtschaft muss bekämpft werden, völlig klar. Wenn es Betrug, Vetternwirtschaft oder gar Fälle von Bestechung gab, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist genauso selbstverständlich. Wenn die Bundesregierung Kenntnis von solchen Machenschaften bei der BaFin hatte und nicht angemessen gehandelt hat, dann müssen - das ist auch klar - auch die dortigen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Verwaltungsrat der BaFin muss sich fragen, was vielleicht in seiner eigenen Arbeit zu verbessern ist. Das werden alle Mitglieder dieses Hauses unterschreiben. Das ist, so meine ich zumindest, völlig selbstverständlich. Über Selbstverständliches zu reden, ist aber etwas langweilig. Daher lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der für mich nicht so selbstverständlich ist. Ich werde den Verdacht nicht los, dass einige die Unregelmäßigkeiten in der BaFin nutzen, um eigene Ziele zu verfolgen, Ziele, die deutlich weiter gehen, als bloß die aktuellen Betrugsfälle aufzugreifen. ({0}) Ich will ganz konkret werden. Es tobt eine Diskussion darüber, ob Teile der Finanzaufsicht nicht besser der Bundesbank zuzuordnen sind. In einer Umfrage haben die Banken erst kürzlich mehrheitlich gesagt, und zwar völlig unabhängig von den aktuellen Betrugsfällen: Wir, die Banken, wollen lieber, dass die Bundesbank AufgaDr. Axel Troost ben der BaFin übernimmt. - Ich aber sage: Die Bundesbank ist eine undemokratische Behörde. Die Banken wollen, dass diese undemokratische Behörde mehr Kontrollaufgaben bekommt. Das will ich nicht. ({1}) Ich will, dass wir als Parlament, dass wir als Volksvertreter wenigstens einen minimalen Einfluss auf die Institution ausüben können, die die Finanzmärkte der größten Volkswirtschaft Europas kontrolliert. ({2}) Die BaFin untersteht der Fachaufsicht durch das BMF. Natürlich, die aktuellen Fälle zeigen: Es gibt da möglicherweise Probleme. Vieles muss verbessert werden. Es gibt aber zum Beispiel auch die Möglichkeit, Herrn Sanio durch den Verwaltungsrat nicht zu entlasten. Obwohl das zunächst einmal streng juristisch genommen ohne weitere Konsequenzen bliebe, ist das wenigstens eine kleine demokratische Einflussmöglichkeit, und das ist besser als gar nichts. Die Bundesbank ist dagegen nach einer vollkommen anderen Philosophie aufgebaut. Sie ist für uns das Musterbeispiel einer Expertokratie. Sie ist das Musterbeispiel einer Behörde, die sich die Aura des - ich sage das ganz bewusst - scheinbar neutralen Expertentums gibt. Sie ist das Musterbeispiel einer Behörde, die sogar stolz darauf ist, dass sie gegen Einflüsse aus der Politik völlig immun ist. Wir sagen dagegen: Die Finanzaufsicht muss nicht nur effizient und kostengünstig sein. Sie muss nicht nur transparent und ohne Mauscheleien arbeiten. Sie muss - das ist uns wichtig - auch demokratisch kontrollierbar sein. ({3}) Wir brauchen eine transparente und demokratisch kontrollierte Finanzaufsicht. Ich will ergänzen: Wir brauchen die BaFin als starke Kontrollbehörde, die die internationalen Finanzmärkte einigermaßen in den Griff bekommt, die die zunehmenden Risiken, Verwerfungen und Probleme auf diesen Märkten - auch einmal durch unbequeme Regulierungsvorschläge - in den Griff zu bekommen versucht. ({4}) Gerade hier hat sich die BaFin unter Herrn Sanio verdient gemacht. Sanio war es, der öffentlich gesagt hat, dass Hedge-Fonds die schwarzen Löcher des Weltfinanzsystems sind. Sanio ist es, der ausdrücklich weitere weltweite Regulierungen der Hedge-Fonds fordert. Wir brauchen also die nahtlose Aufklärung all dieser Fälle. Es ist aber auch notwendig - das will ich zum Schluss ansprechen -, dass der Aufsichtsrat sich auch mit sonstigen Fällen in der BaFin beschäftigt. ({5}) - Entschuldigung, der Verwaltungsrat. - Es scheint in der BaFin ein - ich sage es einmal ganz vorsichtig doch recht eigenartiges Klima zwischen Behördenleitung und Beschäftigten zu herrschen. Man wird aufmerksam, wenn man Vokabeln wie „Kriegserklärung“ hört, wenn der Vorwurf der Vorzugsbehandlung engerer Mitarbeiter im Raum steht und wenn der Vizebehördenchef die Beschäftigten gar als „Nieten“ bezeichnet. ({6}) Der Verwaltungsrat hat eigentlich die Aufgabe, einmal genauer hinzusehen und darauf hinzuarbeiten, dass es zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Behördenleitung und Personalrat kommt. Das ist eine Forderung, die immerhin Gesetzesrang hat. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir erleben jetzt, was die Fraktionen der Grünen mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde erreicht hat: Mittlerweile sprechen wir über das Demokratieprinzip bei der Deutschen Bundesbank. Wenn man einmal von der ausführlichen Darstellung der Bundesregierung absieht - sie war notwendig und gut -, dann erkennt man, dass diese Debatte zur Aufklärung nichts beitragen wird. Lieber Herr Troost, die Bundesbank ist unabhängig und das ist gut so. ({0}) Ich glaube, die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist mit dem Wirken der Notenbanker in Deutschland zufrieden. ({1}) Man kann und man soll an dieser Stelle nichts beschönigen. Für eine Aufsichtsbehörde und zumal für die Bankenaufsicht gibt es wohl kaum etwas Schlimmeres als einen Fall von Veruntreuung in Millionenhöhe im eigenen Haus. Aber man darf an dieser Stelle auch nicht vergessen: Dieser Fall wurde aufgedeckt, und er hat sich in der Beschaffung, nicht in der Aufsicht abgespielt. ({2}) Deshalb ist es schon verwunderlich, was die Fraktion der Grünen auf der Basis eines typischen Mix aus pauschalen Verdächtigungen einerseits und wilden Spekulationen andererseits hier aufbereitet. Es ist auch der Situation unangemessen. Meine sehr geehrte Kollegin Scheel, Korruption bedeutet im strafrechtlichen Sinne Bestechlichkeit. Der Fall, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist Untreue. Das hat mit Korruption im engeren Sinne nichts zu tun. Dass die Grünen eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema veranlassen, ist deshalb mehr als verwunderlich: Es ist ein Stück weit unverantwortlich. Denn als Vorsitzende des Finanzausschusses ({3}) wissen Sie sehr genau: Es gibt genügend andere Wege, das nachvollziehbare Informationsbedürfnis der Opposition zu befriedigen. ({4}) Dass aber gerade die Fraktion, die noch bis vor einem Jahr in der Regierungsverantwortung stand und mit Ihnen, Frau Scheel, auch noch die Vorsitzende des Finanzausschusses stellte, auf diesem Wege heute Fragen nach der Rolle der Bundesregierung in einer Zeit stellt, in der sie selbst in der Regierungsverantwortung war, das mutet schon mehr als seltsam an. ({5}) Eigentlich wäre es heute an uns, Ihnen Fragen zu stellen, meine Damen und Herren von der grünen Fraktion. Wo waren denn Ihre Initiativen im Verwaltungsrat? Wo haben Sie denn die Haushaltspläne infrage gestellt oder hinterfragt? Wie haben Sie sich denn mit den Prüfungsmeldungen auseinander gesetzt? Werte Kollegin Scheel, ich erspare mir hier, gerade unter der Überschrift „Korruption“ auf Nebengeräusche einzugehen, die es im Zusammenhang mit Ihrem Rücktritt als Verwaltungsratsmitglied der BaFin aus Ihrer eigenen Fraktion Ende des Jahres 2003 gegeben hat. ({6}) - Ich kann Ihnen zum Stichwort „Korruption“ aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. Dezember 2003 vorlesen: Die Grünen stören sich plötzlich an Nebentätigkeiten ihrer Finanzexpertin Christine Scheel … Beirat Barmenia, Verwaltungsrat Deutsche Ausgleichsbank, Beirat Hamburg-Mannheimer, Aufsichtsrat Nürnberger Krankenversicherung … ({7}) Das war Ausgangspunkt der Niederlegung Ihres Sitzes im Verwaltungsrat der BaFin. Es hieß, das könne gegebenenfalls ein schlechtes Licht auf Ihre fachliche Arbeit werfen. Bei der BaFin scheint es sich um einen besonders gravierenden Fall von krimineller Energie mit immensen Ausmaßen zu handeln. Doch das muss eigentlich nicht unser politisches Thema sein. Unser politisches Thema muss vielmehr sein: Was tut die BaFin jetzt, damit so etwas in Zukunft nicht wieder passieren wird? Nur dann, wenn die BaFin in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium schnell und konsequent effektive Kontrollmechanismen entwickelt, die dann auch funktionieren und greifen, wird das Ansehen des Finanz- und vor allem des Aufsichtsplatzes Deutschland gewahrt bleiben. In diesem Zusammenhang sind die Rolle und die Zukunft einzelner Personen eigentlich von untergeordneter Bedeutung. Ein erster wichtiger Schritt ist die Einrichtung eines Haushaltskontroll- und Prüfungsausschusses, ({8}) wie sie auf Initiative der CDU/CSU am Dienstag in der Sitzung des Verwaltungsrats der BaFin beschlossen wurde. ({9}) Der zweite Schritt ist die Auswertung der Ergebnisse des Gutachtens von Pricewaterhouse-Coopers. Der dritte Schritt besteht darin, dass man auf der Basis dessen, was man sofort einleiten kann, ein Bündel von Maßnahmen schnürt, die nach Auffassung der Prüfer, PwC, des Bundesrechnungshofs und der Vertreter der Branchen, die Mitglieder des Verwaltungsbeirats stellen, geeignet sind, die Probleme zu lösen. Das haben wir am Dienstag bereits auf den Weg gebracht. Zu den ergriffenen Maßnahmen zählen ein zentrales Vertragsmanagement, neue Zeichnungsbefugnisse und eine anders organisierte Innenrevision. Des Weiteren sind Änderungen der Aufbau- und der Ablauforganisation vorgesehen. So werden zum Beispiel verschiedene Zuständigkeiten in einer neuen Hauptabteilung zusammengefasst und ein integrales internes Kontrollsystem geschaffen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Fahrenschon, kommen Sie bitte zum Schluss.

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das, meine Damen und Herren von der grünen Fraktion, ist der Unterschied zwischen Ihrem Beitrag und dem Beitrag der unionsgeführten Regierung: Wir handeln sofort und im Sinne des Finanzplatzes. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte erst kurz sagen, um was es uns nicht geht. Es geht uns nicht darum, heute die fachliche Arbeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht als Finanzdienstleistungsaufsicht zu bewerten. ({0}) Das werden wir im Rahmen des Evaluierungsberichtes tun. Ich möchte das strikt trennen. Das sind zwei Paar Stiefel. ({1}) Uns geht es heute darum, welche Rolle die Bundesregierung ({2}) im Zusammenhang mit den Unregelmäßigkeiten bei der BaFin gespielt hat, um nichts anderes. ({3}) Es ist die Frage gestellt worden, warum es heute eine Aktuelle Stunde dazu gibt. Wenn ein Thema dieser Bedeutung für den Finanzplatz Deutschland in den Medien und in allen Gesprächen in der Branche eine zentrale Rolle spielt, dann kann es doch nicht daneben sein, es auch im Parlament zu diskutieren. Da möchte ich ein paar Vorwürfe ganz eindeutig zurückweisen. ({4}) - Ja, auf diesen Punkt, Herr Dautzenberg, möchte ich gerade jetzt als Zweites eingehen. Im April 2006 sind die Korruptionsfälle aufgeflogen. Daraufhin wurde noch einmal ein Gutachten vom BMF in Auftrag gegeben. Etwa Mitte September ist die Sache presseöffentlich geworden, wie auch immer das zustande kam, über ein Mitglied des Verwaltungsrates oder jemand anderen. Wenn meine Fraktion dann am 20. September im Finanzausschuss konkrete Fragen zu diesem Fall stellt, dann darf ich doch wohl erwarten, dass die Antworten, die das Finanzministerium uns auf diese zentralen Fragen gibt, besser vorbereitet sind als die, die wir bekommen haben. Es ist ja nicht so, als wäre dieses Thema am 20. September zum ersten Mal virulent geworden. Da war es schon viele Tage in der Presse. Intern ist ja offensichtlich auch die Brisanz des Falles erkannt worden, sonst hätte man ja nicht extra ein Wirtschaftsprüfergutachten in Auftrag gegeben. ({5}) Natürlich kann es immer sein, dass man noch mal eine Antwort auf eine gezielte Nachfrage nachreichen muss; das ist nicht der Punkt. Wenn aber ein Thema schon wochenlang klar ist, in den Medien groß diskutiert wurde und auf der Tagesordnung des Finanzausschusses steht, dann erwarte ich, dass auch entsprechende Antworten gegeben werden. Sie selbst hätten die Aktuelle Stunde von heute überflüssig machen können, wenn Sie von Anfang an intern intensiv recherchiert und den Ausschuss entsprechend informiert hätten. ({6}) Insofern möchte ich dem Kollegen Wissing, der davon sprach, dass er den Eindruck habe, hier herrsche ein gewisses Desinteresse vor, durchaus Recht geben. Ein Spiel darf nicht stattfinden, nämlich dass man jetzt alles in Richtung BaFin abschiebt. Natürlich ist es richtig, von Herrn Sanio zu fordern, darzulegen, welche Konsequenzen er intern zu ziehen gedenkt. Natürlich ist das völlig richtig - Herr Fahrenschon hat diese Punkte ja schon aufgezählt -, was im Verwaltungsrat beschlossen wurde. Aber entschuldigen Sie bitte: Es geht nicht nur um die BaFin. In den Grundsätzen über die Ausübung der Rechts- und Fachaufsicht des Finanzministeriums ist ganz eindeutig festgelegt, dass das Finanzministerium die politische Verantwortung für die Tätigkeit der BaFin trägt. Diese ist nicht auf irgendwelche großen Vorhaben eingeschränkt, sondern für die gesamte Tätigkeit der BaFin trägt das Finanzministerium die politische Verantwortung. Deswegen kann es nicht nur um die Frage gehen, die Sie gestellt haben, Herr Fahrenschon, was die BaFin tut, sondern auch um die Frage, die wir als Grüne stellen, nämlich was das BMF tut. Hier interessiert uns besonders, welche Voraussetzungen geschaffen werden, damit, wenn in Zukunft etwas passiert - ich stimme Herrn Bernhardt ausdrücklich zu, dass wir nicht verhindern können, dass etwas passiert -, sichergestellt ist, dass die Informationen rechtzeitig an die richtige Ebene gelangen, dass unverzüglich gehandelt und reagiert wird und dass die Umsetzung von vorhandenen Richtlinien auch rechtzeitig erfolgt. In Ihrer Antwort, Frau Staatssekretärin, auf meine Frage, welche Richtlinien und Anweisungen der Bundesregierung allgemein Gültigkeit für die BaFin haben, weil sie Teil der Bundesbehörden ist, und welche speziell nur für die BaFin Gültigkeit haben, haben Sie zum einen gesagt: Es handelt sich um eine solche Vielzahl, dass man sie nicht darstellen kann. Das nehme ich so zur Kenntnis. Sie haben aber zum anderen auch gesagt: Die Umsetzung wird im Einzelfall von der Bundesregierung nicht geprüft. Das haben Sie in Bezug auf die allgemeinen wie auch auf die speziellen Richtlinien und Anweisungen, die einschlägig für die BaFin sind, gesagt. Wenn die Umsetzung von entsprechenden Vorgaben nicht überprüft wird, möchte ich wissen, wie das BMF die Rechts- und Fachaufsicht, die im Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz festgelegt ist, eigentlich wahrnimmt. Das diskutieren wir hier. Deshalb weise ich die Vorwürfe, dass wir hier unverantwortlich eine Aktuelle Stunde beantragt haben, zurück. Zum Schluss möchte ich noch einmal aus dem Koalitionsvertrag zitieren: ({7}) Die Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen … ist zu verstärken. Das haben Sie selber niedergelegt. ({8}) Da kann es doch nicht falsch sein, dass wir aus aktuellem Anlass hier fragen, wie die Koalition genau dieses Vorhaben als Konsequenz aus den Fällen, die derzeit in der Presse diskutiert werden, umzusetzen gedenkt. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Nina Hauer von der SPDFraktion.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Schick, Sie machen mir Spaß! Sie reden hier darüber, dass Sie gar nicht die Aufsicht und die Qualität der Aufsicht infrage stellen oder öffentlich thematisieren wollen, und dann beantragt Ihre Fraktion eine Aktuelle Stunde zu Themen, die wir auch im Ausschuss viel sachlicher und sachgemäßer miteinander hätten behandeln können. Sie haben Nerven! Sie zünden an und sagen hinterher, Sie wollen beim Löschen dabei sein. Die Argumentation, die Sie hier vortragen, ist nicht konsistent. Wir haben 2002 in der rot-grünen Regierungszeit die Allfinanzaufsicht gemeinsam gegründet, um den Finanzplatz zu stärken. Wenn man sich anschaut, wie wir international dastehen, auch was die Wertschätzung gegenüber unserer Aufsicht angeht, denke ich, dass es uns auch gelungen ist, diesen Finanzplatz damit zu stärken. Die FDP-Fraktion macht immer wilde Vorschläge zu mehr Altersversorgung in Hedge-Fonds. Das zeigt schon, wie notwendig es ist, dass wir eine Aufsicht haben, die ihre Qualität vor allem aus ihrer Seriosität und Transparenz bezieht. Ich finde, dass wir an dieser Stelle auch einmal sagen können, dass unser oberster Aufseher, der Leiter der Allfinanzaufsicht, zu diesem internationalen Ruf beigetragen hat. Denken Sie einmal daran, was wir bei den Verhandlungen zu Basel II für den deutschen Mittelstand erreicht haben. Da haben wir als Bundestag zweimal den Verhandlungsführer Jochen Sanio aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass wir international bessere Bedingungen für unsere kleinen Unternehmen aushandeln. Das ist gelungen. Sie wissen selber - das brauche ich Ihnen nicht zu sagen -, dass es ein hartes Pflaster auf dem Markt gibt, auf dem er dort verhandelt hat. Da brauchen wir jemanden von internationalem Rang. Ich denke, deshalb müssen wir zwischen dem, was die Qualität und die Aufgabe der Aufsicht angeht, und dem, was am Ende in dieser Behörde vor sich geht, unterscheiden. ({0}) Es ist ganz offensichtlich so, dass die Leitung einer deutschen Behörde, die nach unseren Verwaltungsvorstellungen auch ihre Tücken hat, nicht gleichzeitig so mit der Aufsicht über einen hochdynamischen Markt in einer Person zusammengeht, wie wir uns das wünschen. Nicht umsonst hat deshalb der Verwaltungsrat am Dienstag - ich denke, zu Recht - beschlossen, dass wir sagen: Wir haben Vertrauen in die Fähigkeiten und in den Willen der Leitung der Aufsicht, genau diese beiden Kulturen so zusammenzubringen, dass es möglich ist, internationaler Finanzaufseher zu sein und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass eine Behörde gut funktioniert. Dafür ist es notwendig, dass wir im Verwaltungsrat, aber auch hier im Parlament noch einmal darüber reden, wie diese Behörde aufgestellt sein muss, wie ihre Struktur sein muss, nicht nur ihr internes Kontrollsystem. Mit Kontrollsystemen und verschiedenen Zeichnungen sind wir immer schnell dabei. Aber die vierfachen Durchschläge von vierfachen Prüfberichten werden am Ende auf dem internationalen Finanzmarkt wenig ausrichten. Mitarbeiter, die sich in diesem Bereich einer ständigen Kontrolle unterworfen sehen, werden die Leistungen, die wir von ihnen brauchen, und die Selbstständigkeit und die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, wahrscheinlich auch nicht auf einmal bringen können. Deshalb müssen wir alle gemeinsam - dafür tragen wir auch Verantwortung - dafür Sorge tragen, dass unsere Behörde so gut funktioniert, dass sie sorgfältig geleitet werden kann, dass Mitarbeiter Verantwortung und Freiheit in gleichem Maße haben und wir auch ein Prinzip zwar nicht der Überwachung, aber der sorgfältigen Überprüfung dessen, was gezeichnet wird, haben. Gleichzeitig muss der hochdynamische Markt von jemandem beaufsichtigt werden können, der die Zeit und auch die Freiheit hat, das zu tun. Ich denke, das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam haben, und eine Konsequenz, die wir aus diesen Vorgängen ziehen müssen. Liebe Frau Scheel, Sie waren selber bis Ende 2003 Mitglied im Verwaltungsrat. Ihnen ist auch nicht aufgefallen, wie sich der Haushalt an dieser Stelle im IT-Bereich entwickelt. ({1}) Selbst wenn wir den Prüfbericht früher gesehen hätten - was wir als Verwaltungsrat gar nicht gemusst hätten -, sage ich Ihnen: Wir hätten die kriminelle Energie, die hinter diesen Machenschaften steckt, nicht entdecken können. ({2}) Deshalb sollten wir selber hier nicht so tun, als ob wir nicht auch die Aufgabe hätten, unsere Finanzmarktaufsicht zu schützen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hauer, kommen Sie bitte zum Schluss.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, es ist richtig, zu sagen, wir haben Vertrauen, wir haben auch unsere eigene Verantwortung, aber wir müssen unserem Finanzmarkt auch dadurch gerecht werden, dass wir hier in der öffentlichen Debatte deutlich machen, dass wir eine gute Aufsicht haben. Wir wollen diese Aufsicht und wir brauchen sie auch, damit unser Markt im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche Finanzmarkt braucht eine leistungsstarke Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit glaubwürdigen Persönlichkeiten an ihrer Spitze. ({0}) Diese Tatsache steht für mich über allen Fragen, die wir heute diskutiert haben und die wir sicherlich auch noch in den nächsten Tagen und Wochen weiter diskutieren werden. Der aktuelle Untreueverdacht bei der BaFin ist ein ernstes Thema, mit dem sich der Finanzausschuss intensiv und sehr kritisch befassen muss. Darüber besteht überhaupt kein Dissens. Ob aber eine Aktuelle Stunde am heutigen Tage dafür der richtige Rahmen ist, meine Damen und Herren von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wage ich jedoch zu bezweifeln. Zu der Frage, ob Sie der richtige Antragsteller für diese Aktuelle Stunde waren, haben Kollege Fahrenschon und andere schon einiges gesagt. Frau Kollegin Scheel, es ist schon kurios, wie Sie sich hier vom Gremiumsmitglied zur Chefanklägerin entwickeln. Gerade weil das Thema ernst ist, hätte ich mir eher eine sachorientierte Selbstbefassung im Ausschuss gewünscht, sobald die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft - das wird voraussichtlich im Oktober der Fall sein - abgeschlossen sind. Ich persönlich werde mir meine abschließende Meinung zu dem gesamten Fall und der Person Sanio jedenfalls erst nach Abschluss der Ermittlungen bilden. Dennoch ist es richtig - das haben die Beiträge in den letzten Minuten deutlich gemacht -, dass wir bereits heute nach der Sitzung des Verwaltungsrates am Dienstag und nach Vorlage des gestrigen und auch des heutigen Berichts in den Reden der Frau Staatssekretärin Hendricks im Finanzausschuss und hier im Plenum einige Einschätzungen abgeben: erstens zu den Konsequenzen, welche die BaFin als Organisation aus den kriminellen Machenschaften ziehen muss, und zweitens zur Rolle des Bundesministeriums der Finanzen in der Frage der Rechts- und Fachaufsicht. Lassen Sie mich zunächst in aller Kürze auf die Rolle des Finanzministeriums eingehen. Auch hier - das muss man der Vollständigkeit halber sagen - fehlen mir letztlich noch einige Informationen, um die Rolle des Finanzministeriums - wohlgemerkt: zur Zeit der rot-grünen Regierung - umfassend beurteilen zu können. ({1}) Deswegen werde ich mich heute noch nicht abschließend positionieren. Ebenso wenig werde ich mich an den Verschwörungstheorien von Teilen der Opposition, die hier geäußert wurden, beteiligen. Wir wissen heute nur, dass ein Mitarbeiter des Finanzministeriums bereits im Jahr 2004 über Unregelmäßigkeiten bei der BaFin informiert war. Daraus gleich eine Verstrickung der politischen Leitung in den gesamten Fall zu konstruieren, liegt mir fern und ist auch abwegig. Auf dem Stand der aktuellen Informationen kann ich mir heute also kein abschließendes Urteil über ein Fehlverhalten des damaligen Finanzministeriums erlauben. Für die Zukunft kann ich mir aber durchaus vorstellen, dass wir das Ministerium durch eine stärkere Rechtsund Fachaufsicht mit dafür in die Pflicht nehmen. Das ist der erklärte politische Wille, wie im Koalitionsvertrag ausdrücklich dargelegt. Aber heute sind erst andere Fragen aufzuwerfen. Neben der besseren Rechts- und Fachaufsicht sind die Kontrollmechanismen bei der BaFin selbst in den Vordergrund zu stellen. Dafür hat Herr Sanio vorgestern dem Verwaltungsrat geeignete Maßnahmen vorgeschlagen: erstens die Einrichtung eines zentralen Vertragsmanagements; zweitens die Neuordnung der Innenrevision und der Zeichnungsbefugnisse - es ist nämlich mit Blick auf die Außenwirkung nur schwer nachvollziehbar, dass von der Bankenaufsicht das Sechsaugenprinzip verlangt wird, aber intern in manchen Bereichen noch nicht einmal das Vieraugenprinzip angewendet wird - und drittens die Verbesserung des internen Kontrollsystems. Ich erwarte von der Leitung der BaFin, dass diese Maßnahmen zügig und konsequent umgesetzt werden. Ebenso unterstütze ich die Forderung des Verwaltungsrates, dass die Innenrevision Herrn Sanio direkt unterstellt wird. Darüber hinaus ist auch die Initiative der Union durch ihre Vertreter im Verwaltungsrat umgesetzt worden, über den Haushaltskontroll- und Prüfungsausschuss mit dazu beizutragen, dass Fehlentwicklungen besser vorgebeugt werden kann. Aber gegen kriminelle Machenschaften sind auch die beste Organisation und die beste Leitung manchmal nicht gefeit. Für die zweite Bedingung wurde bei der Verwaltungsratssitzung am Dienstag der Grundstein gelegt. In den Bereichen der Ablauforganisation sollen Verbesserungen erzielt werden, damit Fehlentwicklungen vorgebeugt wird. Insgesamt geht es - ich komme zum Schluss - nicht nur um die Zukunft der BaFin. Es geht nicht nur darum, ob unter Umständen im Finanzministerium Fehlleistungen festzustellen sind. Unsere Zielsetzung muss vielmehr sein, dass die Funktionsfähigkeit unseres Finanzmarktes und unseres Finanzplatzes weiterhin in guten Händen ist und zur Verbesserung unserer gesamten wirtschaftlichen Situation beitragen wird. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verwaltungsrat der BaFin hat sich am Dienstag vom Präsidenten Sanio vortragen lassen, welche organisatorischen Maßnahmen er bereits durchgesetzt und welche weiteren Umstrukturierungen er eingeleitet hat, um nach menschlichem Ermessen Vorkommnisse, zu denen es bedauerlicherweise und unentschuldbar gekommen ist, für die Zukunft auszuschalten. Der Bundesrechnungshof und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse waren vertreten. Beide haben die Maßnahmen, die der Präsident erläutert hat, als angemessen und sachgerecht bezeichnet. Deswegen hat der Verwaltungsrat sein Vertrauen in die Amtsführung des Präsidenten ausgedrückt. Der Kollege Fahrenschon hat völlig zu Recht unterstrichen, dass die Vorkommnisse, um die es sich hier handelte, nicht die Aufsichtsfunktion der BaFin betroffen haben. Es handelte sich vielmehr um Unkorrektheiten und in einem Falle offensichtlich um wirklich kriminelle Machenschaften bei Beschaffungsvorgängen. Das ist ein Unterschied. Dass der Verwaltungsrat das Vertrauen in die Amtsführung des Präsidenten bekundet hat, hängt damit zusammen, dass Präsident Sanio mit seinen Mitarbeitern in den schwierigen Jahren nach dem 11. September 2001, als die Finanzmärkte international, aber auch in Deutschland an mehreren Stellen empfindlich getroffen waren, eine hervorragende Arbeit geleistet hat. Herr Wissing, Sie haben vorhin mit einem gewissen Hochmut, der Ihnen vielleicht angemessen erscheint, die Bemerkung gemacht, dass so etwas nicht passieren darf. Das stimmt. Es darf eigentlich nicht sein. Es gibt manchmal zu viel Vertrauen. Gegen kriminelle Machenschaften oder auch große Schlampereien war allerdings selbst die FDP-Fraktion nicht gefeit, ({0}) als sie vor einiger Zeit Schwierigkeiten mit ihren Finanzen hatte. Auch die FDP als Partei hat mit solchen Dingen - das ist nicht sehr lange her - zu kämpfen gehabt; das kann man natürlich nicht Ihnen persönlich vorwerfen. ({1}) Ich würde aber ein bisschen vorsichtiger sein, wenn der Leiter einer preußischen Behörde unterstellt, dass die Mitarbeiter zunächst einmal von Anstand geleitet sind. Das ist auch in aller Regel der Fall. Es gibt einige wenige, die das Vertrauen gelegentlich missbrauchen. Um das zu verhindern, brauchen wir entsprechende Strukturen. Aber Hochmut ist nicht angemessen. ({2}) Ich sage noch einmal: In der Aufsichtsfunktion hat die BaFin eine hervorragende Rolle gespielt. Dies soll sie auch weiter tun. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von der SPD-Fraktion. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich durfte hier ja keine Zurufe machen. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich ist schon aufschlussreich, was hier veranstaltet wird. Denn in den zwei letzten Finanzausschusssitzungen gab es eine sehr ausführliche Darstellung der Vorkommnisse, und dies weitergehend, als es hier möglich ist. ({0}) Da sind alle bestehenden Fragen geklärt worden. Herr Wissing hat wider besseres Wissen falsche Behauptungen aufgestellt und Vermischungen unterschiedlicher Dinge vorgenommen. ({1}) Darum muss man eines deutlich machen: Die Prüfungsmitteilung aus dem Jahr 2004 hat keinerlei Anhaltspunkt dafür enthalten, dass es kriminelle Machenschaften gegeben hat. ({2}) Der zuständige Referatsleiter im BMF hat diese Prüfungsmitteilung von der BaFin erhalten. Er hat seine Rechts- und Fachaufsicht ausgeübt und bei der BaFin nachgefragt, was denn mit dem Vorgang sei. Die BaFin hat darauf dem Prüfungsamt und auch dem BMF als Rechts- und Fachaufsicht geantwortet. Danach hat das Prüfungsamt den Vorgang für erledigt betrachtet. Jetzt wird der Vorwurf in den Raum gestellt: Warum hat der Referatsleiter dieses nicht an die Leitung des Hauses weitergegeben? Aus der Sicht des Jahres 2004 war der Vorgang ordnungsgemäß und im Rahmen der üblichen Verfahrensweisen abgehandelt. Da gibt es nichts hineinzugeheimnissen und es können auch keine Schuldzuweisungen in Richtung BMF konstruiert werden. Unterschlagungen mit gefälschten Rechnungen bei Software sind auch nicht so einfach aufzudecken. Denn diejenigen, die das kontrollieren, müssen fragen: Ist die Software da? Wo ist sie denn? - Das ist ja vom Prüfungsamt gemacht worden; diese Auskunft ist eingefordert worden. Die Antwort wurde immer wieder verschoben. Nach den formalen Kriterien, die bis dahin auch für die Beschaffung gegolten haben, ist das Vieraugenprinzip bei diesem Vorgang eingehalten worden. Es ist noch nicht einmal ein objektiver Systemfehler festzustellen. Der Fehler in Bezug auf das Vieraugenprinzip liegt bei der betreffenden Person und bei der Weisungsabhängigkeit. Aber daraus kann man doch nicht im Nachhinein einen Vorwurf konstruieren; das war ja im Jahr 2004 überhaupt nicht ersichtlich. Man sollte auch nicht die Entschuldigungen, die der Täter jetzt öffentlich vorbringt, dass man es ihm nämlich leicht gemacht habe - das sagt er, um Strafmilderung zu erreichen; das ist klar; das weiß doch jeder -, für bare Münze nehmen und daraus einen Vorwurf gegen die Opfer - das sind nämlich die BaFin und das BMF - konstruieren. Das zu machen, ist entweder naiv, liebe Kollegin Scheel, oder ein bisschen böswillig. Ich kann nur sagen: Wir sollten abwarten, was die Staatsanwaltschaft herausfindet, die Umsetzung der Maßnahmen, die im Verwaltungsrat beschlossen worden sind, beobachten und anschließend den Vorgang seriös politisch bewerten. Wir sollten nicht versuchen, ihn politisch auszuschlachten, etwa weil man darüber sauer ist, dass man nicht mehr im Verwaltungsrat sitzt, oder weil man ein anderes Süppchen kochen will. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({1}) vom 20. Dezember 2001, 1413 ({2}) vom 23. Mai 2002, 1444 ({3}) vom 27. November 2002, 1510 ({4}) vom 13. Oktober 2003, 1563 ({5}) vom 17. September 2004, 1623 ({6}) vom 13. September 2005 und 1707 ({7}) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 16/2573, 16/2774 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Markus Meckel Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({8}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/2787 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Lothar Mark Jürgen Koppelin Michael Leutert Alexander Bonde c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Monika Knoche, Paul Schäfer ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN zu der ersten Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({12}) vom 20. Dezember 2001, 1413 ({13}) vom 23. Mai 2002, 1444 ({14}) vom 27. November 2002, 1510 ({15}) vom 13. Oktober 2003, 1563 ({16}) vom 17. September 2004, 1623 ({17}) vom 13. September 2005 und 1707 ({18}) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 16/2573, 16/2623, 16/2776 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Markus Meckel Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({19}) Zum Antrag der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. FrankWalter Steinmeier. ({20})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie einen Blick in die heutigen Tageszeitungen werfen, dann sehen Sie, dass es viele mal wieder ganz genau gewusst haben: Afghanistan ist verloren. Das ist ein Teil des Tenors in einem Teil der deutschen Tageszeitungen. Die einen sagen es, weil sie schon immer wussten, dass wir in der Region nichts verloren haben; die anderen sagen es, weil die internationale Staatengemeinschaft mal wieder von Anfang an alles falsch gemacht hat; die Dritten sagen es, weil wir zu viel Militär in Afghanistan haben, und die Vierten sagen es, weil wir zu wenig Militär in Afghanistan haben. Aus meiner Sicht ist das der entscheidende Satz: Afghanistan ist nur dann verloren, wenn wir es aufgeben. ({0}) Wahr ist, dass wir alle uns wünschten, nach fünf Jahren Aufbauarbeit weiter zu sein, als wir es sind. Wahr ist auch, dass es Rückschläge gegeben hat und weiterhin geben wird, in einzelnen Regionen sogar Rückwärtsentwicklungen; ich werde gleich darauf zurückkommen. Wahr ist aber auch, dass eine junge Generation, die bis vor fünf Jahren chancen- und bildungslos war, ihre ganze Hoffnung auf uns setzt, nicht allein auf die Deutschen, sondern auf die internationale Staatengemeinschaft. Die Zukunft dieser jungen Generation hängt davon ab, ob wir mit unserem begonnenen Engagement verantwortungsvoll umgehen. Wahr ist am Ende auch, dass es jenseits des Humanitären Gründe dafür gab, dass wir den gefahrvollen Weg nach Afghanistan Seite an Seite mit den anderen Europäern und den Amerikanern angetreten haben. Es scheint schon ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein, dass Afghanistan in den Jahren der Menschen verachtenden Talibanherrschaft zu einer Ausbildungszentrale für den weltweiten Terrorismus geworden war. Die Gefahren, die daraus entstanden sind, waren keineswegs nur virtuell. Wir haben erst vor 14 Tagen - Sie werden sich erinnern - der Opfer des 11. September gedacht. Sie wissen, dass die Blutspur, die aus den afghanischen Ausbildungslagern herausführte, nicht in New York endete, sondern Europa nicht unberührt gelassen hat. Die 22 Jahre Krieg, Bürgerkrieg und Talibanherrschaft haben aber nicht nur eine Trümmerwüste in den Dörfern und Städten hinterlassen; fast schlimmer, weil nur mit großer Ausdauer und viel Geduld wieder herstellbar, ist die Zerstörung, die diese 22 Jahre im Alltagsleben, in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet haben. ({1}) Wie sieht denn die gegenwärtige Situation aus? Viele von Ihnen werden inzwischen in Afghanistan gewesen sein. Zwei Generationen von jungen, qualifizierten Arbeitnehmern, die ausgebildet hätten werden können und müssen, fehlen; sie werden dringend gebraucht. Das Schlimmste an der Zerstörung in den Herzen und Köpfen, von der ich gesprochen habe, ist, dass es lange dauern wird, bis das Vertrauen in die Autorität von staatlichen, von politischen Institutionen - vor allen Dingen in die Polizei - wieder hergestellt sein wird. Auch deshalb werbe ich hier dafür, dass wir den Aufbau, den wir mit der Petersbergkonferenz in Bonn begonnen haben, mit Geduld, aber entschlossen fortsetzen. Das gilt nicht nur für uns, sondern für die ganze internationale Staatengemeinschaft. ({2}) Bei aller Sorge über die Entwicklung der Sicherheitslage, vor allen Dingen im Süden des Landes, die natürlich auch ich teile, dürfen wir die Erfolge nicht übersehen. Viele andere werden gleich noch etwas dazu sagen. Ich sage nur: 7 Millionen Mädchen und Jungen, die bis vor fünf Jahren nicht in die Schule gehen durften, haben heute die Möglichkeit, Unterricht zu genießen. Diese Entwicklung geht aber - das ist zuzugeben - sicherlich nicht weit genug. In vielen Teilen des Landes spüren die Menschen noch nichts von unserem Engagement der letzten fünf Jahre. Natürlich bin ich mit vielen von Ihnen darin einig, dass die wachsende Drogenwirtschaft, der zunehmende Drogenanbau und die damit einhergehende Korruption die Stabilisierungserfolge gefährden. Da, wo diese Stabilisierungserfolge ausbleiben, nutzen die Taliban die Chance, um sich wieder als angebliche Beschützer der Bevölkerung aufzuspielen. Sie setzen darauf, dass durch ihre gewaltsamen Aktionen die internationale Staatengemeinschaft in ihrem Engagement ermüdet wird. Wir dürfen uns nicht zurückziehen; das ist meine feste Überzeugung. Wir müssen unsere Anstrengungen fortsetzen und, wenn möglich, verstärken, und zwar auf der Grundlage des „Afghanistan Compact“ und entsprechend den Leitlinien des Afghanistanpapiers, über das gerade in den Gremien des Deutschen Bundestages diskutiert wird. Bezogen darauf sind mir vier Punkte wichtig, die ich ganz kurz nennen will: Erstens. Der weitere politische Aufbau muss unter Berücksichtigung der soziokulturellen Gegebenheiten des Landes stattfinden. Zweitens. Wir wollen und müssen unsere Anstrengungen beim Aufbau und bei der Ausbildung der Polizei - das ist das zentrale Handlungsfeld, für das wir Verantwortung tragen - aufrechterhalten und, wie ich meine, soweit es in unserer Macht steht, sogar verstärken. ({3}) Wir sollten uns, wenn wir über unsere erweiterten Möglichkeiten reden, dafür einsetzen - das werde ich tun -, innerhalb der Europäischen Union Partner zu gewinnen, die uns dabei unterstützen. Drittens bin ich fest davon überzeugt, dass wir einen weiteren Schwerpunkt im Bereich der Bildung setzen sollten. Ich habe es vorhin gesagt: Bürgerkrieg und Talibanherrschaft haben nicht nur die physische, sondern vor allen Dingen auch die intellektuelle Infrastruktur Afghanistans zerstört. Deshalb bin ich froh darüber, dass so viele Schulen wieder aufgebaut und eröffnet werden konnten. Aber das reicht nicht. Es müssen noch viel mehr werden. Auch in diesem Bereich müssen wir uns noch stärker engagieren. ({4}) Vierter und letzter Punkt. Es gibt keinen Königsweg zur Lösung des Drogenproblems; das wissen wir alle. Ich verspreche Ihnen aber, dass die Bundesregierung das ihr Mögliche tun wird, um gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft künftig gebündelter und damit auch effektiver zu handeln. Das gilt sowohl für die Bekämpfung des Drogenanbaus als auch für die Verbesserung der regionalen Zusammenarbeit und den Aufbau einer gut ausgestatteten afghanischen Grenzpolizei. Mit Blick auf das, was Deutschland vor allen Dingen im Norden Afghanistans geleistet hat, können wir trotz aller Veränderungen, die ich nicht zu beschönigen versuche, stolz sein. Gerade haben wir auf der NATO-Außenministerkonferenz in New York darüber diskutiert, wie wir das gute Beispiel der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Norden Afghanistans auf andere Bereiche übertragen können. Ich finde, das ist eine Auszeichnung für das Engagement, das unsere Soldatinnen und Soldaten wie auch die vielen zivilen Helfer dort leisten. ({5}) Ich hoffe auf eine breite Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandates um weitere zwölf Monate. Das wäre nicht nur ein starkes Zeichen für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die vielen zivilen Helfer in Afghanistan, die dort in einem immer noch sehr schwierigen Umfeld arbeiten. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Antrag der Bundesregierung zu. Wir hielten es angesichts der Tatarenmeldungen, die uns gegenwärtig ereilen, schlicht für unverantwortlich, einfach zum ungeordneten Rückzug zu blasen und die Menschen in Afghanistan, für die auch wir große Verantwortung übernommen haben, jetzt im Stich zu lassen und einfach wegzugehen. Gleichwohl muss ich sagen, dass wir dieses Ja mit großem Bauchgrimmen aussprechen, weil es unseres Erachtens sehr viele Dinge gibt, die uns außerordentlich besorgt machen. Ich finde übrigens, dass der Kollege Nachtwei seine Überlegungen in einen sehr klugen Entschließungsantrag zu diesem Thema gegossen hat. Ich kann ihm nicht in allen Details zustimmen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Ich glaube aber, dass in dem Antrag die richtigen Fragen benannt werden. Im Übrigen rate ich dringend dazu, diese Debatte im Bündnis zu führen und nicht auf nationaler Ebene. Hier darf es keine nationalen Alleingänge geben. ({0}) Die Diskussion, die wir im Bündnis führen, muss auf den Punkt gebracht werden. Mir gehen die NATO-Parlamentarier-Treffen, an denen ich häufig teilnehme, auf den Keks, da man sich nur wechselseitig versichert, was für eine tolle Arbeit in Afghanistan geleistet wird. Ich bestreite überhaupt nicht, dass die Angehörigen der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungsdienste hervorragende Arbeit leisten. Dennoch sollten wir einmal eine Bestandsaufnahme machen und uns fragen, wo wir eigentlich stehen sowohl im Kampf gegen den Terrorismus als auch in unserem Bemühen um den Aufbau Afghanistans. ({1}) Unser Grundansinnen war, einen substanziellen Beitrag zum Aufbau des Landes zu leisten und dafür einen hoffentlich nur vorübergehend erforderlichen militärischen Schutz anzubieten. Mittlerweile müssen wir leider konzedieren, dass das Bild des sympathisch, von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangenen deutschen Soldaten nicht mehr ganz zutreffend ist. Die Tatsache, dass wir ungeheuer viel in den Schutz unserer Soldaten investieren müssen, macht deutlich, dass sich die Situation erheblich verändert hat. Der ISAF-Einsatz hat sich auch im Norden des Landes zu einem veritablen Kampfeinsatz entwickelt. ({2}) - Lassen Sie uns einmal die Realität zur Kenntnis nehmen! Natürlich haben die Ereignisse im Norden des Landes eine andere Qualität als das, was im Rahmen von ISAF im Süden und im Rahmen von OEF, Operation Enduring Freedom, insgesamt geschieht. Aber wir dürfen den militärisch-kämpferischen Teil dieses Einsatzes unserer Soldaten nicht kleinreden; denn auch in dieser Hinsicht wird großartige Arbeit geleistet. ({3}) Man muss sich aber fragen, ob nicht viele der Anfangserfolge schon weggebröckelt sind bzw. wegzubröckeln drohen. Wir haben riesige Erfolge erzielt. Herr Minister, Sie haben auf die Schülerinnenzahlen hingewiesen; das ist, wie ich finde, in der Tat der größte Erfolg. Aber diese Zahlen sind schon wieder rückläufig. Ist es eigentlich die richtige Strategie, zunächst mit großem Aufwand - er ist übrigens größer, als ihn manche Fachleute für erforderlich halten - Schulen zu bauen, dann aber nicht dafür zu sorgen, dass auch Lehrer finanziert werden, die unterrichten? Hier gibt es in der Tat erhebliche Lücken. ({4}) Auch dürfen wir, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen. Wir müssen uns die Verbindungslinien, die es gegeben hat und die es nach wie vor gibt, vor Augen führen, die Verbindung zwischen den Taliban und der al-Qaida und die Verbindung zu Pakistan. Wenn Pakistan ein Doppelspiel betreibt und die Taliban vielleicht längst wieder als die zukünftigen Herrscher in Afghanistan betrachtet, dann wird der militärische Kampf gegen die Taliban meiner Auffassung nach kaum zu gewinnen sein. In diesem Zusammenhang ist mir eine Formulierung eines hohen Militärs unvergesslich, der neulich sagte: Wir werden nicht notwendigerweise verlieren. Das ist mir als Begründung eines militärischen Einsatzes, bei dem wir das Leben von Soldaten riskieren, zu wenig. ({5}) Wenn das, was ich zu Pakistan gesagt habe, auch nur ansatzweise zutrifft, dann wird das Nation-Building in Afghanistan sehr schwierig. An diesem Punkt sollten wir uns etwas mehr Demut auferlegen. Bisweilen habe ich das Gefühl, dass Nation-Building bei uns wie Blaupausen avantgardistischer Architekturbüros wahrgenommen wird. Ein bisschen mehr Rücksichtnahme auf kulturelle Gegebenheiten und Identitäten würde uns, wie ich glaube, gut tun. Deutschland leistet hier keine schlechte Arbeit. Aber auch diese Debatte müssen wir im Bündnis führen. ({6}) Nation-Building wird in Afghanistan nicht dauerhaft sein, wenn die staatlichen Strukturen nicht funktionieren. Das Überpfropfen von formalen Wahlprozessen als Etablierung der Demokratie zu definieren, ist falsch. Ohne ein Mindestmaß an demokratischer Kultur und demokratischer, insbesondere rechtsstaatlicher Absicherung funktioniert Demokratie nicht, ebenso wie keine Marktwirtschaft ohne eine Kartellbehörde und ein Katasteramt, das die Eigentumsrechte sichert, funktionieren kann. ({7}) Schließlich komme ich auf einen Schwachpunkt zu sprechen, den auch Sie, Herr Minister, erwähnt haben. Ich bekenne: Auch ich habe keine Blaupause für die Lösung des Drogenproblems. Aber wir können zumindest für uns reklamieren, dass wir das von vornherein gesagt haben. In der Debatte, die wir im Jahre 2003 zu diesem Thema geführt haben, habe ich hier gesagt: Durch die Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz und später auf Faizabad schicken wir unsere Soldaten in eine „Mission Impossible“, weil sie vor blühenden Mohnfeldern stehen müssen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Das Hauptproblem sind aber nicht die Drogenanbauer, die sich in einer ziemlich aussichtslosen Situation befinden. Deswegen ist die Fixierung auf sie nicht ganz richtig. Außerdem hilft man ihnen nicht, indem man ihnen als Nahrungshilfe die Produktionsüberschüsse der Industrieländer schickt, sodass jedes Incentive für eigene Agrarproduktion wegfällt. ({8}) Das Hauptproblem sind natürlich die Drogenhändler und diejenigen, die das Zeug weiterverarbeiten. Dort entstehen gigantische Gewinne. Wir wissen, dass mittlerweile mehr als ein Drittel des Sozialprodukts Afghanistans daher rührt. Mindestens 90 Prozent von diesem Drittel landen bei diesen Händlern des Todes. Sie sind mittlerweile in der Lage - nicht nur durch ihre Beziehungen zu Polizeibehörden, Verwaltungen und zu Regierungskreisen, sondern auch dadurch, dass sie die wirtschaftlichen Assets dieses Landes in den Griff bekommen -, die Geschicke dieses Landes weitgehend zu bestimmen. Ich anerkenne die Bemühungen des Bundesaußenministers in seinen Gesprächen mit Präsident Karzai auf diesem Gebiet. Wenn es diesem nicht gelingt, hier einigermaßen durchzugreifen, stehen wir eines Tages möglicherweise vor einem Desaster. Lassen Sie uns deshalb in den nächsten Monaten, unabhängig von einer konkreten Entscheidung über ein Mandat, in aller Ruhe und sehr kritisch, auch selbstkritisch, darüber diskutieren und dann im nächsten Jahr neu entscheiden. Noch ein letztes Wort zur Operation Enduring Freedom. Ich stelle fest, Herr Bundesminister: Die zuständigen Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses bzw. deren Obleute sind, seitdem Sie im Amt sind, noch kein einziges Mal über die deutsche Beteiligung an „Enduring Freedom“ vertraulich unterrichtet worden. Ich lege auf die Vertraulichkeit sehr viel Wert; ich glaube, wir müssen mit dem, was wir mitgeteilt bekommen, sehr vorsichtig umgehen. Aber wir müssen als Parlamentarier hier Verantwortung tragen. Dazu benötigen wir ein Mindestmaß an Information. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Was von den Vorrednern bereits ausgeführt worden ist, ist richtig. Es hat in den letzten Wochen und Monaten Besorgnis erregende Mitteilungen über die Entwicklung in Afghanistan, die Sicherheitslage, die Steigerung des Drogenanbaus und das Wiedererstarken der Taliban, gegeben. Aber gleichzeitig ist richtig, dass wir auf große Erfolge in der Entwicklung Afghanistans zurückschauen können. Eine Sache macht das besonders deutlich: Die übergroße Mehrheit der afghanischen, muslimischen Bevölkerung begrüßt den Einsatz der NATO, begrüßt das Engagement der internationalen Gemeinschaft, vor allem der Deutschen und unserer Bundeswehr. ({0}) Wir müssen uns die Frage stellen, welche Konsequenzen wir aus der Entwicklung der letzten Wochen und Monate ziehen. Ich meine, wir müssen alles tun, um ein Scheitern der Mission der internationalen Gemeinschaft, die auf der Grundlage des internationalen Rechts erfolgt, zu verhindern. Denn welche Konsequenzen hätte ein solches Scheitern? Die Folge wäre eine verheerende Kettenreaktion. Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, die auf unserer Seite steht, wäre von uns enttäuscht, wenn wir sie im Stich lassen würden, denn sie würde Opfer eines neuen Talibanregimes. Wir würden also zurückfallen in eine Situation, wie sie vor dem 11. September 2001 bestanden hat; möglicherweise wäre sie dann noch schlimmer. Wir müssten damit rechnen, dass sich die Region weiter destabilisierte, dass extremistische Islamisten auch in anderen Ländern Erfolg hätten. Wir müssten damit rechnen, dass so etwas nicht nur auf die Region begrenzt bliebe. Wir müssten weltweit mit einem Erstarken des islamistischen Extremismus rechnen. Das hätte letztlich auch für die Sicherheit in unserem eigenen Land Konsequenzen. Schließlich würde die Glaubwürdigkeit der NATO und der internationalen Organisationen in eine schwere Krise geraten. Ich will es ganz deutlich sagen: Diejenigen, die sich jetzt für den Abzug der Bundeswehr einsetzen, hätten ein solches Scheitern und die geschilderten Konsequenzen zu verantworten. ({1}) Jeder, der heute für den Abzug der Bundeswehr eintritt, muss sich die Frage stellen, ob er sein Verhalten auch zum Maßstab für das Verhalten des gesamten Hauses machen könnte. Ich will niemandem, der heute gegen die Mandatsverlängerung stimmt, unterstellen, dass er das nur deswegen tut, weil er mit der Mehrheit des Hauses für den Einsatz rechnet. Jeder, der dagegen stimmt, muss sich daher klar machen, dass er das herbeiführen würde, was er vorgibt, verhindern zu wollen. Sich heute aus Afghanistan zurückzuziehen, hätte die Qualität eines Selbstmordes aus Angst vor dem Tode. Deswegen ist die Fortsetzung unseres Engagements Voraussetzung für das Gelingen. Das ist aber nicht die einzige Voraussetzung, sondern wir müssen auch über die Konsequenzen der Besorgnis erregenden Entwicklung der letzten Wochen und Monate nachdenken. Dazu werde ich gleich noch etwas ausführen. Zunächst einmal müssen wir uns doch klar machen, warum wir überhaupt in Afghanistan sind und warum die Bundeswehr am Hindukusch steht. Der wesentliche Grund sind die Gefahren, die vom transnationalen Terrorismus ausgehen und die nach wie vor nicht gebannt sind. Vor zwei Wochen haben wir der Anschläge des 11. September auf das World Trade Center in New York und auch der Opfer, die es im Pentagon und in der Nähe von Pittsburgh gegeben hat, gedacht. „9/11“ ist zur Chiffre für den bisherigen Höhepunkt des internationalen Terrorismus geworden. Seitdem hat es eine Serie von Anschlägen auf Einrichtungen der Vereinigten Staaten, auf Einrichtungen anderer Staaten und vor allem auch auf unbeteiligte Zivilisten in Indien, Indonesien, Pakistan, Russland und an vielen Orten der arabischen Welt gegeben, zum Beispiel in Tunesien, wo auch deutsche Touristen den Anschlägen zum Opfer gefallen sind. Der Ausgangspunkt für diese Anschläge ist al-Qaida und der Ausgangspunkt von al-Qaida liegt wiederum in Afghanistan. Aus Afghanistan haben sich die Metastasen dieses Krebsgeschwürs auf andere Länder ausgebreitet. Das Talibanregime wollte den Schutz für al-Qaida nicht aufgeben und es will heute wieder ein Regime in Afghanistan errichten, das Rückzugs-, Schutz- und Übungsraum für al-Qaida werden kann. Erst die amerikanische Militärintervention hat das Talibanregime gestürzt und die Ausbildungslager von al-Qaida zerstört. Dieses Regime fiel zwar wie ein Kartenhaus zusammen, aber wir wissen, dass sich die Taliban und mit ihnen al-Qaida in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zurückgezogen haben. Sie haben einen Großteil ihrer Führungsstrukturen erhalten - mit Mullah Omar an der Spitze. Aus diesen Rückzugsgebieten haben die Taliban inzwischen ihre Kampagne gestartet, die zu den heftigen Gefechten der letzten Wochen und Monaten geführt hat. Ihre Ziele sind klar, nämlich die Vertreibung der westlichen Soldaten und der Soldaten der internationalen Gemeinschaft sowie der Entwicklungshelfer, die Rückkehr nach Kabul, der Sturz von Präsident Karzai und die Wiedererrichtung eines islamistischen Regimes. Es wäre die Rückkehr in das Jahr 2001 und in die Zeit davor. Fünf Jahre Aufbauarbeit und das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung stehen auf dem Spiel. Mit dem Sturz des Talibanregimes ging 2001 eine Periode von Krieg und Bürgerkrieg zu Ende, die 27 Jahre gedauert hat. Am Beginn dieser Tragödie stand ein kommunistischer Putsch, der später den Einmarsch der Roten Armee nach sich zog. 27 Jahre Krieg und Bürgerkrieg sowie das Talibanregime haben das zuvor schon arme Entwicklungsland in jeder Hinsicht ruiniert. Für einen Vergleich mit Deutschland ist die Zerstörung Deutschlands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht angemessen. Wir müssen den Vergleich mit dem Zustand Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1648 ziehen. Gemessen an dieser Ausgangslage waren der Optimismus und die Aufbruchstimmung der internationalen Gemeinschaft in den letzten fünf Jahren möglicherweise zu groß. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere Ziele jetzt der Realität anpassen und unsere Anstrengungen erheblich erhöhen, damit wir diese Ziele auch erreichen können. ({2}) Ich bin der Bundesregierung und auch - das will ich hier deutlich sagen - unserem Botschafter in Kabul für ihren Einsatz sowie für die realistische und nüchterne Einschätzung der Lage außerordentlich dankbar. ({3}) Das ist als eine Ehrenerklärung für unseren Botschafter Hans-Ulrich Seidt zu verstehen; ({4}) denn ich finde es in einem hohen Maße unfair, unkollegial und unehrlich, Zitate aus einer geheimen Sitzung aus dem Zusammenhang zu reißen, zu entstellen und damit in der Öffentlichkeit einen Eindruck entstehen zu lassen, der weder von dem Botschafter noch von der Bundesregierung noch von den sie tragenden Fraktionen noch von anderen in dem Ausschuss vermittelt worden ist. Man kann die sinnentstellten Zitate aus einer geheimen Sitzung nicht zurechtrücken - das liegt in der Natur einer geheimen Sitzung -, weil man sich sonst selber strafbar machen würde. Deswegen will ich das hier in dieser Deutlichkeit, aber bedauerlicherweise auch in dieser Allgemeinheit so sagen. ({5}) Auf unsere großen Erfolge - etwa sieben Millionen Kinder, davon 40 Prozent Mädchen, können heute wieder zur Schule gehen - ist schon hingewiesen worden. Es ist kein Zufall, dass die Taliban vor allem diesen Fortschritt bekämpfen, dass sie Anschläge auf Schulen verüben, dass sie Lehrer umbringen und dass in diesen Tagen die Frauenbeauftragte der südafghanischen Provinz Kandahar ermordet worden ist. Wir sollten auch an diese Menschen denken, die sich unter Einsatz ihres Lebens engagieren. Wir sollten uns klar machen, dass sie uns vertrauen und dass wir sie nicht im Stich lassen dürfen. Ich will hier ganz ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den vielen zivilen Helferinnen und Helfern danken, die den Namen unseres Landes nach Afghanistan tragen und unter Einsatz ihres Lebens großartige Arbeit leisten. ({6}) Es gibt eine lange und beeindruckende Verbindung Deutschlands zu Afghanistan. Es ist kein Zufall, dass fast die Hälfte der Mitglieder des afghanischen Kabinetts fließend deutsch spricht. Es wird von uns ein besonderer Einsatz erwartet und es wird uns ein besonderes Vertrauen entgegengebracht. Diesem besonderen Vertrauen sollten wir in Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten weiterhin gerecht werden. Was sind die Konsequenzen aus der Besorgnis erregenden Entwicklung? Erstens. Wir müssen in Zusammenarbeit mit unseren Bündnispartnern unser Konzept der Entwicklungshilfe überarbeiten. Ich glaube, dass man zu früh von der Nothilfe auf strukturelle Hilfe umgestiegen ist. Wir müssen uns Gedanken machen, wie das, was in den letzten Wochen und Monaten an Strukturen zerstört worden ist, wieder aufgebaut werden kann. Wir brauchen vor allem eine bessere Koordination der Entwicklungshilfe, die dort von unterschiedlichen Partnern geleistet wird. Zweitens. Wir brauchen größere Anstrengungen beim Aufbau der Institutionen in diesem Land. Bisher sieht das Konzept so aus, dass unterschiedliche Nationen unterschiedliche Verantwortung übernommen haben: die Briten für die Bekämpfung des Drogenanbaus, wir für den Aufbau der Polizei, die Amerikaner für den Aufbau der Armee, andere für den Aufbau der Infrastruktur und den Aufbau eines Rechtsstaates, für eine korruptionsfreie Administration und für die Entwaffnung der Milizen. Im Augenblick beginnen die einzelnen Nationen, sich gegenseitig die Verantwortung für die schwierige Entwicklung in den letzten Wochen und Monaten zuzuschieben. Es ist völlig richtig, dass man bei der Bekämpfung des Drogenanbaus nur dann Erfolg haben kann, wenn es gleichzeitig eine gut ausgebildete Polizei gibt. Eine gut ausgebildete Polizei ist auf eine vernünftige Bezahlung und auf eine korruptionsfreie Verwaltung oder eine Verwaltung, die die Korruption in ihren eigenen Reihen zumindest bekämpft, angewiesen. Diese Verwaltung wiederum ist auf ein Sicherheitsumfeld angewiesen, das voraussetzt, dass Milizen entwaffnet worden sind und dass der Aufbau der afghanischen Armee voranschreitet. Was will ich damit sagen? Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Jeder muss sich klar machen, dass der eigene Beitrag und die eigene Aufgabe für das Gelingen des Projekts Afghanistan essenziell sind, dass deswegen alle zusammenarbeiten und ihre Anstrengungen vermehren müssen, ohne mit dem Finger auf den anderen zu weisen. ({7}) Drittens. Wir müssen dazu übergehen, auch die Nachbarstaaten Afghanistans stärker einzubeziehen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir zu einem institutionalisierten Konsultationsprozess kommen können, für den das Nahostquartett oder andere Kontaktgruppen ein Beispiel sein können. Wir müssen dafür sorgen, dass zum Beispiel der Dialog zwischen Afghanistan und Pakistan nicht allein dem amerikanischen Präsidenten überlassen wird. ({8}) Wir müssen dafür sorgen, dass die zentralasiatischen Staaten, die ein enormes Interesse an dem Auftrag, den wir in Afghanistan erfüllen, haben und auch einen enormen Beitrag dazu leisten, stärker mit einbezogen werden. Wir müssen auch versuchen, Länder wie Indien und selbst China stärker in diesen Prozess mit einzubeziehen. Es geht auch darum, die Demokratisierung Afghanistans im Rahmen eines institutionellen Prozesses zu begleiten und dabei deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Stabilisierung Afghanistans, sondern der gesamten Region geht und dass wir an der ZusammenarEckart von Klaeden beit mit denjenigen interessiert sind, die bereit sind, in der Region Verantwortung zu übernehmen und eigene Beiträge zu leisten. ({9}) Es geht also um drei Aspekte: erstens die Verbesserung und Überprüfung der internationalen Entwicklungshilfe, zweitens die bessere Koordination der jeweiligen Schlüsselaufgaben, die die einzelnen Nationen übernommen haben, und drittens die Institutionalisierung eines Konsolidierungsprozesses. Niemand hat den Stein der Weisen gefunden, was die weitere Entwicklung in Afghanistan angeht. Aber heute schon durch eine Ablehnung unseres weiteren Engagements dafür zu sorgen, dass Afghanistan scheitert, wäre verantwortungslos und letztlich auch mit verheerenden Konsequenzen für die Sicherheit unseres eigenen Landes verbunden. Deswegen brauchen wir die Fortsetzung und Verbesserung unseres Engagements und vor allem auch eine sorgfältige und aufmerksame Begleitung der Arbeit der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norman Paech von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutigen Zeitungsmeldungen stützen Ihre Position überhaupt nicht, Herr Außenminister. Es gibt aber schon seit Wochen und Monaten täglich Meldungen über Anschläge, Selbstmordattentate, Überfälle und Kampfhandlungen. Es ist erstaunlich, dass Sie das zwar offensichtlich mit Sorge erfüllt, aber nicht in Ihrer Entscheidung irritiert, den Einsatz der Bundeswehr immer wieder zu verlängern. Wir hören von der Bundesregierung seit Monaten nur, dass die Situation in Afghanistan nicht ruhig und nicht stabil ist. Sie preist den Aufbau demokratischer Institutionen, gibt aber fairerweise zu, dass diese - kaum entstanden - schon von Korruption durchzogen sind. In Ihrer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion versuchen Sie, uns mit einem - ich zitiere - „verbesserten Klima der Sicherheit“ zu beruhigen. Das ist - mit Verlaub - eine besonders einfältige Form der Schönrednerei. ({0}) Denn aus den Medien erfahren wir täglich, dass sich die Verluste bei den britischen und amerikanischen Truppen drastisch erhöht haben und die Taliban die Kampfformen aus dem Irak übernommen haben und allmählich in den Norden tragen. Insofern ist es nur zu verständlich, dass der Verteidigungsminister immer mehr gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo anfordert und der Truppe die Weisung erteilt, diese Fahrzeuge und die Lager nicht mehr zu verlassen. So sieht keine Erfolgsstory eines fünfjährigen Militäreinsatzes aus, der zu einer Verlängerung drängt. ({1}) Die Bundeswehr klagt selbst über eine dramatisch sinkende Zustimmung der afghanischen Bevölkerung zu ihrem Einsatz. Herr von Klaeden, ich weiß nicht, woher Sie die anders lautende Information haben. Der Botschafter hat sie gestern in der geheimen Sitzung nicht bestätigt. Die anfängliche Sympathie für die ISAF ist in weit gehende Ablehnung und - insbesondere im Süden - in Hass umgeschlagen. Sie haben Ihr politisches Urteilsvermögen der militärischen Logik geopfert, dass die NATO das Feld nicht als Verlierer verlassen darf. Aber Sie erinnern sich sicherlich: Die USA hatte keinen Rückzugsplan aus Vietnam und ist von dort vertrieben worden. Die Sowjets hatten keinen Rückzugsplan für Afghanistan und sind von dort vertrieben worden. Die USA und ihre Koalition stehen nun im Irak erneut vor einem Desaster, aus dem sie mit militärischen Mitteln nie herauskommen werden. In Afghanistan droht ihnen dasselbe. Es ist lobenswert, wenn aus der CDU/CSU-Fraktion nun die Forderung kommt, Bundeswehreinsätze künftig nur unter der Bedingung, dass sie befristet sind und dass es eine Exitstrategie gibt, zu bewilligen. Aber beides liegt in diesem Fall nicht vor. ({2}) Sie müssten also die Verlängerung ablehnen; denn die Bundesregierung hat - wir haben ständig nachgefragt keine Vorstellung über die Dauer des Einsatzes. Stattdessen lässt sie im Norden, in der Nähe von Masar-i-Scharif, ein gigantisches militärisches Fort mit der Perspektive von zehn bis 15 Jahren bauen. Sie hat außerdem gemeinsam mit dem NATO-Rat die ISAF zu einer Kampftruppe umgewandelt, die nun in den Süden und den Osten Afghanistans geschickt wird. Während wir hier reden, tritt ein neuer Beschluss des NATO-Rates in Kraft, der den Einsatz der ISAF-Truppe auf den umkämpften Osten Afghanistans ausweitet. Dies bedeutet, dass künftig rund 13 000 US-amerikanische Soldaten, und zwar alte Antiterrortruppen, im Osten Afghanistans dem NATO-Kommando der ISAF unterstellt werden, während die übrig gebliebenen 8 000 US-amerikanischen Soldaten den Antiterrorkampf der von den USA geführten Operation Enduring Freedom fortsetzen. Natürlich kann auch die Bundeswehr dorthin geschickt werden; denn das ist seit einem Jahr Bestandteil des Mandats. Die NATO will also nun einen Krieg fortsetzen, den die US-amerikanischen Streitkräfte seit fünf Jahren im Rahmen der Operation Enduring Freedom erfolglos führen. Es ist vollkommen irreführend, zu behaupten, die Trennung von ISAF und der Antiterrortruppe OEF bestehe weiterhin. ({3}) Die Einsätze sind vielmehr eng verzahnt. Die Infrastruktur wird geteilt. Die Kommandeure sind teilweise identisch. Blicken Sie doch endlich realistisch auf die tiefe Kluft zwischen der fortschreitenden Verschlechterung der Sicherheitslage und Ihrem illusionären Afghanistankonzept! Der Grundfehler ist, dass die Stabilisierung und der Wiederaufbau Afghanistans als Nation-Building, als eine grundlegende Transformation von Gesellschaft und Institutionen begriffen werden. Daran waren die Sowjets schon vor 20 Jahren gescheitert. Erinnern Sie sich daran! ({4}) Die Carnegie-Stiftung hat unlängst 18 Regimewechsel untersucht, die mit amerikanischen Bodentruppen vorgenommen wurden. Sie kommt zu dem Ergebnis: 13-mal wurde das Ziel, eine Demokratie oder eine ähnliche Regierungsform zu etablieren, verfehlt. Diese Art des Nation-Building hat im Irak schon mehr als 250 Milliarden US-Dollar gekostet und sich selbst widerlegt. Zum Schluss: ({5}) Herr Minister, wir sind mit Ihren Forderungen nach einem politischen Aufbau, der Bildung einer Polizei und Alternativen zum Drogenanbau vollständig einverstanden. Aber was machen Sie bislang? Sie geben jährlich 80 Millionen Euro für die Entwicklungshilfe aus, aber fast das Sechsfache, rund 460 Millionen Euro, für das Militär. Tauschen Sie die Summen aus! Bereiten Sie mit den 80 Millionen Euro den Rückzug des Militärs vor und stecken Sie die 460 Millionen Euro in zivile Projekte! Dann werden Sie sich auch wieder ohne Panzerwagen in Afghanistan bewegen können. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Paech, ich wusste gar nicht, dass Sie etwas mit George W. Bush gemeinsam haben. Außer Ihnen glaubt nur noch er, dass die Taliban auf einer Ebene mit der Befreiungsbewegung des Vietcong stehen. Deswegen wäre ich an Ihrer Stelle mit Vergleichen von Afghanistan mit Vietnam sehr vorsichtig. ({0}) Ich glaube, dass wir Afghanistan heute weder mit Schönfärberei noch mit Schwarzmalerei begegnen dürfen. Vielleicht könnte man sich, auch mit Blick auf die Kollegen der Linken, einfach an Antonio Gramsci halten. Er hat einmal von der Haltung des Optimismus des Herzens und des Pessimismus des Geistes gesprochen. Wenn wir uns dieser Haltung befleißigen, dann muss man feststellen: Es gibt nicht das eine Afghanistan. Es gibt zwei Afghanistan. Es gibt das Afghanistan des Nordens. Hier wird gebaut, hier gehen Millionen, auch Mädchen, wieder zur Schule. Hier gibt es eine positive Entwicklung und hier wird Nation-Building betrieben. Hier gibt es eine wesentlich von Deutschen angeführte zivil-militärische Kooperation. Natürlich gibt es auch hier Korruption und es gibt auch Anschläge. Aber niemand wird ernsthaft bestreiten, dass sich die Situation in dieser Region seit dem Sturz der Taliban zum Besseren entwickelt hat. ({1}) Man kann es auch so sagen: Im Norden Afghanistans ist das Glas halb voll. Ich finde, wir müssen alles dafür tun, dass es voller wird. Ganz anders ist die Situation im Süden, in den Gebieten der Paschtunen an der Grenze zu Pakistan. Hier dominiert der Krieg. Bewaffnete Aufständische beherrschen weite Teile des Landes. Ein amerikanischer kommandierender General brachte die Situation mit dem Satz auf den Punkt: Wo die Straßen enden, herrschen die Taliban. - Im Süden ist Krieg. Hier ist das Glas nicht halb voll, hier ist es wahrscheinlich dreiviertel leer und es leert sich täglich weiter. Diese Entwicklung ist mit dem Begriff der Irakisierung des Südens beschrieben worden. Man muss zwischen den Ursachen der Konflikte unterscheiden. Sie sind nicht identisch. Aber die Parallele auf der Ebene der Phänomene ist doch unübersehbar. Selbstverständlich hat allein der Krieg gegen den Irak viele Kapazitäten beispielsweise der USA gebunden, die nun in Afghanistan nicht mehr vorhanden sind. Selbstverständlich ist auch da zu beobachten - viele Besucher berichten das -, dass dort private Sicherheitsfirmen dominieren, die teilweise Söldner beschäftigen, die auch für jeden anderen Warlord arbeiten würden. Selbstverständlich muss man die Frage stellen, ob es klug ist, Truppen, die vorher im Kampfeinsatz in einem sehr blutigen Krieg im Irak gewesen sind, anschließend in Afghanistan einzusetzen. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn sie dort ähnliche Methoden anwenden. Aber unübersehbar ist der Konflikt im Irak auch für die andere Seite ein Modell für Afghanistan geworden. Es hat vor dem Krieg im Irak keine Selbstmordattentate in Afghanistan gegeben, wie sie nun verstärkt vor allem im Süden stattfinden. Auch die bewaffneten Aufständischen lernen von ihrem Gegner nicht nur über CNN und al-Dschasira. Auch sie privatisieren mittlerweile den Krieg. Ihre Day-by-day-Kämpfer erhalten übrigens das Doppelte des Soldes der Soldaten der afghanischen Armee. Berücksichtigen wir schließlich, dass die Aufständischen mit den Paschtunengebieten in Pakistan ein offenes Hinterland haben und durch den gewachsenen Drogenanbau über beachtliche Geldressourcen verfügen, dann verstehen wir, warum beispielsweise „Newsweek“ diese Woche mit dem Titel „Losing Afghanistan“ aufmacht und die Frage aufwirft, ob sich der Sieg hier in eine Niederlage verwandelt. Wir müssen uns einer Tatsache stellen: Nur militärisch ist dieser Konflikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Deswegen macht es auch keinen Sinn, blind mehr Truppen in den Süden hineinzuschicken. Das ist übrigens keine Feststellung, die Pazifisten und Friedensfreunde für sich gepachtet haben. Der Oberkommandierende der NATO bis 2004, Wesley Clark, schreibt in der gleichen Ausgabe von „Newsweek“ über diesen Krieg: The real war isn’t military. It’s political and economic. - Er schreibt seiner Regierung ins Stammbuch, sie müsse endlich anerkennen, dass dort Nation-Building betrieben werden müsse. Das ist das, was Deutschland im Norden im Rahmen von ISAF macht. ({2}) Ich finde, Wesley Clark hat Recht. Wir müssen den zivilen Aufbau stärken. Wir dürfen nicht mehr kleckern, sondern wir müssen klotzen. Die Angabe, dass die internationale Gemeinschaft 85 Milliarden für das Militärische und 7 Milliarden für den Aufbau aufgewendet hat, ist richtig. Dieses Verhältnis muss man verschieben. Das ist richtig. Nur werden Sie diese Verschiebung nicht hinbekommen, wenn Sie darauf verzichten, den Aufbau militärisch abzusichern. Das ist die Unlogik an dieser Stelle. ({3}) Es geht dabei nicht nur um mehr Geld; vielmehr muss man auch darauf achten, dass dieses Geld dort ankommt, also nicht in dunklen Kanälen versickert, und dass die Traditionen, die kulturellen Gefühle der Menschen sowie die traditionellen Entscheidungsstrukturen berücksichtigt werden. Es gibt Projekte, die dies tun. Die internationale Gemeinschaft muss nicht nur im Norden, sondern in - ich betone - ganz Afghanistan endlich ein nicht nur von Deutschland oder Norwegen, sondern von allen Mitgliedern getragenes, flächendeckendes Konzept einer zivil-militärischen Kooperation umsetzen. ({4}) Dabei müssen wir auch aus den Fehlern und Erfahrungen lernen. Wenn die Opiumernte trotz Ersatzangeboten und trotz des massenhaften Niederbrennens von Feldern - das ist nur ein Beispiel - einen Rekordwert erreicht, dann kann man nicht einfach nur stumpf einen Krieg gegen die Droge weiterführen - ein solcher Krieg ist schon in Südamerika zum Scheitern verurteilt gewesen -, ({5}) dann muss man sich andere Gedanken machen und dann auch einmal so frei sein, etwa darüber nachzudenken, ob es nicht eine Alternative ist, den Bauern das Opium abzukaufen und es zu vernichten, wenn sie ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf anderer landwirtschaftlicher Produkte nicht bestreiten können. ({6}) Wenn es richtig ist, dass auch im Norden Afghanistans Korruption und staatliche Inkompetenz vorhanden sind, dann müssen wir sämtliche Anstrengungen unternehmen, damit mehr Polizei im Einsatz ist, und dann darf es keine weiteren Verzögerungen im Bereich des Justizaufbaus geben. Die Bedrohung dieses ganzen Prozesses hängt auch mit der Unfähigkeit und/oder - ich weiß es nicht - dem Unwillen der pakistanischen Regierung zusammen, das Grenzgebiet zu kontrollieren. Welche Konsequenzen ziehen eigentlich wir, die Bundesrepublik Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft aus dieser Tatsache für die Politik gegenüber Pakistan? Ohne einen verstärkten Polizei- und Justizaufbau, ohne eine andere Drogenpolitik, ohne eine dramatische Änderung der Pakistanpolitik wird die Afghanistanpolitik scheitern. Mit der Forderung nach einer notwendigen Änderung der Politik verbindet die Mehrheit meiner Fraktion ihre heutige Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandats. Wir wissen eines: Ein Abzug von ISAF würde jede Chance zur Änderung der Afghanistanpolitik zerschlagen. Ein Abzug von ISAF würde das Glas auch im Norden leeren. Es wäre die Irakisierung des gesamten Afghanistans. ({7}) Das kann niemand wollen. Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Bundesregierung Änderungsbedarf in der Politik gegenüber Afghanistan sieht. Wir erwarten, dass diese Bereitschaft die Fragen der Operation „Enduring Freedom“ einschließt. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass diese beiden Einsätze strikt getrennt werden. Die USA und Großbritannien trennen dies nicht. So richtig es ist, dass der zivile Aufbau ohne ISAF gefährdet ist, so richtig ist aber auch, dass es keine dauerhaft funktionierende Koexistenz geben kann zwischen einem bloß militärisch verstandenen Kampf gegen den Terrorismus und einem zivil-militärischen Ansatz, wie wir ihn - ich finde, erfolgreich - verfolgen. ({8}) Ein solches Nebeneinander kann wiederum zu der befürchteten Irakisierung beitragen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie diesem Haus, bevor sie uns im Oktober um die Verlängerung des Mandats „Enduring Freedom“ bittet, hier eine wirkliche Bilanz über Erfolge und Probleme, über die Notwendigkeit und auch über das Spannungsverhältnis gegenüber ISAF vorlegt. Wir wollen die Irakisierung ganz Afghanistans verhindern. Deswegen werden wir heute zustimmen. Deswegen werden wir aber auch Ihre Erfahrungen mit „Enduring Freedom“ sehr genau zu prüfen haben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Ulrich Klose von der SPD-Fraktion.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Entscheidung zur fortgesetzten Beteiligung der Bundeswehr an der International Security Assistance Force, ISAF, ist keine Routineentscheidung. Jeder und jede, ob dem Ja zuneigend oder dem Nein, muss den Antrag der Bundesregierung genau prüfen, einmal um eigenständig entscheiden zu können, zum anderen um der Bevölkerung, den Menschen in den Wahlkreisen, erklären zu können, warum wir uns mit Soldaten in Afghanistan engagieren. ({0}) „Die Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt“, das war die knappe Formel des früheren Verteidigungsministers Peter Struck. Sie ist richtig, überzeugt aber nur, wenn die Hindukuschmetapher richtig verstanden wird. Sie steht für eine sehr grundsätzliche, wenn man so will, globale Herausforderung des Westens, westlicher Lebensweise und westlicher Werte durch religiös motivierte Gotteskrieger, denen es letztlich um die Vorherrschaft einer bestimmten Lesart des Islam und der Scharia geht - in Afghanistan und weit darüber hinaus. Afghanistan - daran muss fünf Jahre nach den Anschlägen von New York und Washington erinnert werden - war das Gastland, das logistische Zentrum, das ideologische und kriegerische Trainingscamp von al-Qaida und ist es grenzüberschreitend nach Pakistan noch immer oder schon wieder. Das zeigen die jüngsten Kämpfe im Süden und Osten Afghanistans. Was dort stattfindet, ist die Fortsetzung eines Krieges, der nie zu Ende geführt wurde, weil Amerika sich auf einen anderen, den Krieg im Irak, konzentrierte. Die jüngsten Angriffe der wiedererstarkten Talibankämpfer richteten sich gegen ISAF-Soldaten, die im Süden und Osten Afghanistans eingesetzt sind, vor allem Briten und Kanadier. Es sind NATO-Soldaten. Der Unterstützungsauftrag von ISAF ist inzwischen auf ganz Afghanistan ausgedehnt worden und wird von der NATO geführt. Das deutsche ISAF-Kontingent hat seinen Schwerpunkt im Norden des Landes, ist aber zwischenzeitlich in die Lage versetzt worden, ISAF-Operationen zeitlich und im Umfang begrenzt auch in anderen Regionen zu unterstützen, sofern dies - ich zitiere - „zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar ist“. Diese Ausdehnung des Mandats ist mit der Mandatsverlängerung im September 2005 beschlossen worden. Sie wird im vorliegenden Antrag der Bundesregierung ausdrücklich wiederholt. Ich mache auf diesen Punkt aufmerksam, weil sich nicht nur im Süden und Osten Afghanistans, aber doch vor allem dort die Sicherheitslage deutlich verschlechtert hat. Es ist deshalb nicht völlig auszuschließen, dass ganz im Sinne des erweiterten Mandats neue Anforderungen auch an das deutsche ISAF-Kontingent herangetragen werden. Hierzulande wünscht das niemand. Auszuschließen ist es aber nicht, was mich jedenfalls veranlasst, anknüpfend an eine Aussage von Herrn Dr. Hoyer, an die Zusage der Bundesregierung zu erinnern, im Rahmen der regelmäßigen Unterrichtung über die Auslandseinsätze der Bundeswehr das Parlament unverzüglich über Unterstützungsleistungen außerhalb der Nordregion zu informieren. ({1}) Dies ist umso wichtiger, je unschärfer die Abgrenzung zwischen Terrorismusbekämpfung einerseits und ISAFUnterstützungsoperationen andererseits wird. ({2}) Die Bundesregierung betont in ihrem Antrag, dass es bei der klaren Abgrenzung und deshalb auch bei der Trennung der beiden Mandate, Enduring Freedom und ISAF, bleibt. Ich unterschreibe das ausdrücklich, habe aber, wie ich zugebe, wachsende Zweifel, ob diese klare Abgrenzung noch lange möglich und kommunizierbar ist. ({3}) Je grimmiger sich der neuerlich aufgeflammte Widerstand im Süden Afghanistans entwickelt, umso ähnlicher werden sich die beiden Mandate und umso vernehmlicher melden sich in der deutschen Öffentlichkeit die Zweifler zu Wort, die zum Rückzug blasen. Ich will nicht schwarzmalen, obwohl oder weil ich seit einiger Zeit den Eindruck habe, dass die Zahl der Skeptiker zunimmt. Aber auch das neue Afghanistankonzept der Bundesregierung, Herr Außenminister, ist alles andere als optimistisch. Man kann es realistisch nennen; optimistisch nicht. Es werden zu Recht Fortschritte bei der Wiederbegründung afghanischer Staatlichkeit beschrieben, aber immer noch ist das Land weit entfernt von Stabilität und Good Governance. Eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse ist nicht erreicht worden. Die nicht unbeträchtlichen Hilfsmittel, die die internationale Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hat, sind, vorsichtig formuliert, nicht immer bei den Menschen angekommen. Es hat Geschäftemacherei und Korruption gegeben und die Sicherheitslage ist nicht nur durch den Terror gefährdet, sondern auch durch Kriminelle, Warlords und Drogenbarone. Die Taliban profitieren von Enttäuschung und Unsicherheit. Sie sind in Afghanistan nicht beliebt, aber sie gewinnen an Boden, weil andere an Sympathie verlieren. Darauf, meine Damen und Herren, haben auch die weiblichen Abgeordneten des afghanischen Parlaments hingewiesen, die uns kürzlich in Berlin besucht haben. Sie waren allesamt für die Fortsetzung des ISAF-Mandats, ({4}) weil dessen Beendigung die sofortige Rückkehr der Warlords und Taliban zur Folge hätte, worunter vor allem die Frauen leiden müssten. Dennoch war auch bei diesen Abgeordneten eine zunehmende Skepsis vor allem gegenüber Amerika zu spüren. ({5}) Ich will die Schar der Schwarzmaler nicht vergrößern, im Gegenteil: Ich will, dass die NATO-Länder in Afghanistan erfolgreich sind, damit Afghanistan an Zukunft gewinnt und die NATO ihre Glaubwürdigkeit behält. Die NATO darf nicht scheitern. Im Interesse unserer Sicherheit darf die NATO nicht scheitern. ({6}) Sie braucht aber dringlich eine abgestimmte und in den Prioritäten leicht veränderte Strategie: eine militärische und eine politische Strategie. Mit militärischen Mitteln allein ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht zu gewinnen, weder im Irak noch in Afghanistan. ({7}) Darf man diese beiden Länder in einem Atemzug nennen? Ich denke schon; denn in beiden Ländern zeigt sich, dass man trotz überlegener militärischer Stärke und besten Absichten scheitern kann, wenn man die Unterstützung der Bevölkerung verliert. Das scheint jedenfalls im Süden Afghanistans der Fall zu sein. Wer daran schuld ist - die Regierung in Kabul, der Nachbar Pakistan, die westliche Führungsmacht -, das ist schwer zu sagen. Verbale Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Entscheidend ist, dass der Westen aus den bisherigen Erfahrungen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Es handelt sich in erster Linie um einen politischen Kampf. Nicht die Zahl der getöteten Feinde, sondern die Zahl der für die eigene Sache gewonnenen Freunde und Partner entscheidet über Erfolg und Misserfolg. ({8}) Nein, meine Damen und Herren, es handelt sich nicht um eine Routineentscheidung, die wir heute zu treffen haben. Jeder entscheidet für sich mit Ernst und der nötigen Portion Skepsis, die sich immer einstellen muss, wenn wir über militärische Auslandseinsätze zu entscheiden haben. ({9}) Wir denken dabei in erster Linie an das Wohl unserer Soldaten. Wir danken ihnen und den vielen zivilen Helfern für ihren Einsatz in Afghanistan. Sie helfen dem Land am Hindukusch und sie helfen uns. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP wird heute der Verlängerung des ISAF-Mandats zustimmen; denn wir sind der Meinung, es wäre falsch, in der jetzigen Situation die Truppen abzuziehen. Das würde das Land in ein Chaos stürzen und alle bisherigen Bemühungen und Fortschritte zunichte machen. Die Bundesregierung muss aber wissen, dass das keinen Freibrief für die Zukunft darstellt. Diese Zustimmung gilt nicht unbegrenzt und eine routinemäßige Verlängerung von Bundeswehreinsätzen wird es jedenfalls mit der FDP nicht geben. ({0}) Der Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten ist nur dann sinnvoll, wenn er der Durchsetzung eines realistischen politischen Konzepts dient. Daran mangelt es im Augenblick. Da muss die Bundesregierung aus unserer Sicht auch nacharbeiten. Sie muss alle Anstrengungen unternehmen, um sichtbare Fortschritte bei der Verbesserung der Sicherheitslage und beim Wiederaufbau des Landes zu erreichen. Die Menschen in Afghanistan müssen das Gefühl haben, dass sich ihre persönliche Situation verbessert. Aber auch die Bürger in Deutschland müssen das Gefühl haben, dass es vorangeht und dass der Einsatz etwas bringt, wenn wir wollen, dass unser Engagement für die Stabilisierung und Demokratisierung Afghanistans auch in der deutschen Öffentlichkeit Unterstützung findet. ({1}) Deshalb erfordert die aktuelle Lage eine kritische Bestandsaufnahme. Nach wie vor bestehen Defizite im Hinblick auf den Aufbau einer funktionierenden Polizei und eines funktionsfähigen Justiz- und Strafvollzugsystems. Die Problematik beim Drogenanbau, aber auch die Probleme in den Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan hat mein Kollege Werner Hoyer bereits beschrieben. Dazu kommen Berichte über zunehmende Bedrohungen durch gewaltbereite Kräfte und vermehrte Anschläge auf ISAF-Soldaten, auch auf deutsche Soldaten im Norden. Anfang September hat die Bundesregierung dann ihr Afghanistankonzept vorgelegt. Immerhin hat die Bundesregierung jetzt ihre Bewertung geändert. Während sie im April noch davon gesprochen hat, dass im letzten Berichtszeitraum latente Spannungen unter Kontrolle gehalten werden konnten, sagt sie jetzt, dass sich in vielen Regionen Afghanistans die Sicherheitslage deutlich verschlechtert hat. Damit stellt sich die Bundesregierung endlich der Realität, die wir vorfinden. Das Konzept, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt darauf ausgerichtet sein, daraus militärische und politische Konsequenzen zu ziehen. Die Bundesregierung muss mit den NATO-Partnern sprechen. Die NATO kann nicht einfach weitermachen wie bisher. Das fängt mit der Frage an, wie die Soldaten auftreten, ob sie den Menschen in Afghanistan mit Respekt begegnen oder ob sie als Besatzer wahrgenommen werden. Da gilt es, alles zu tun, damit der gute Ruf und die bisherigen Kontakte, die die Bundeswehr zu den Menschen in Afghanistan hat, aufrechterhalten bleiben. Herr Minister Jung, deshalb ist auch die Korrektur Ihrer Haltung, die Anpassung Ihrer Strategie mit der Folge, dass man angepasst an die jeweilige Gefährdungslage weiter Fußpatrouillen durchführt, richtig gewesen. Wir brauchen den Kontakt zu den Menschen und wir müssen die NATO-Partner dazu bringen, ihr Verhalten ebenfalls zu ändern. ({2}) Deutschland ist natürlich auch besonders beim Aufbau der Polizei gefordert. Wir haben hier die Verantwortung übernommen. Herr Minister Steinmeier, Sie haben das auch vorgetragen. Eine funktionierende Polizei ist eine zentrale Voraussetzung, damit die afghanische Regierung irgendwann selbst in der Lage ist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Anstrengungen in diesem Punkt dürfen nicht etwa eingeschränkt, sondern müssen eher verstärkt werden, Herr Minister. Dazu gibt es offensichtlich nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der Bundesregierung. Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion auch eine Kleine Anfrage gestellt, mit der wir genau diese Frage klären wollen. Wir sind nämlich der Meinung, dass das ein ganz wesentliches Element für den weiteren Aufbau Afghanistans ist. Wir wollen Ihnen hier gern die Gelegenheit geben, die Position der Bundesregierung zu koordinieren. Die Bundeswehr hat die Verantwortung für die gesamte Nordregion übernommen und leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zum ISAF-Gesamtauftrag. Es wurde gerade schon von meinem Vorredner zitiert, dass die Möglichkeit besteht, zeitlich und im Umfang begrenzt auch ISAF-Operationen in anderen Teilen des Landes zu unterstützen. Dies geht aber nur insofern, als dies zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar ist. Ich sage klar und deutlich, die FDP-Fraktion trägt diese Notfallklausel mit. Das ist aber keine Generalermächtigung. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung zunächst einmal eine klare Information des Parlamentes. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und deshalb müssen wir Bescheid wissen, wenn Soldaten außerhalb des Kerngebietes eingesetzt werden. ({3}) Wir erwarten auch, dass das die absolute Ausnahme bleibt; denn der Norden hat ein latentes Eskalationspotenzial. Die Bundeswehr ist voll und ganz gefordert, die Situation im Norden stabil zu halten. Dass es schon heute an der Ausstattung mangelt, dass es einen Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und auch an Lufttransportkapazitäten gibt, zeigt, dass wir uns in der Tat auf den Norden konzentrieren müssen. Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung, wenn sie keine weitere Ausweitung der Obergrenze der Zahl der Soldaten vornimmt und auch keine Ausweitung des Einsatzgebietes nach Osten und Süden. Die Bundeswehr ist vor dem Hintergrund einer Vielzahl weiterer Auslandseinsätze - inzwischen in fünf Regionen der Erde wirklich an der Grenze der Belastbarkeit angelangt. Sie ist materiell, personell und finanziell nicht in der Lage, weitere Auslandseinsätze zu übernehmen oder bestehende Auslandseinsätze drastisch auszuweiten. Wir Parlamentarier müssen wissen, dass unter den derzeit bestehenden Umständen das Ende der Fahnenstange, was weitere Einsätze angeht, erreicht ist. Die Bundesregierung will den Bundeswehreinsatz erst nach Schaffung eines sicheren Umfeldes beenden. Das ist zwar sicherlich richtig, aber wir brauchen eine Exit-Strategie. Wir müssen mit unseren Partnern reden, wie man erreichen kann, dass die Truppen wieder abziehen können. Es müssen politische Zwischenschritte vereinbart werden, die in einem klaren Zeitplan münden. Wir brauchen ein abgestimmtes politisches Konzept. Ein solches vorzulegen, ist Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren von der Regierung. Es ist unvorstellbar, dass die Bundeswehr noch weitere 15 oder 20 Jahre in Afghanistan bleibt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. Würden Sie bitte zum Ende kommen?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. Nach der Mandatsverlängerung darf es kein Business as usual geben. Jetzt werden die Weichen neu gestellt. Das nächste Jahr des Mandats ist entscheidend für die Zukunft. Es handelt sich um keine Routineoperation; es gibt schon gar keinen Automatismus für die Zustimmung zu diesem Einsatz. Deutschland und auch die NATO müssen aus den veränderten Bedingungen, die wir derzeit in Afghanistan vorfinden, die Konsequenzen ziehen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afghanistan ist nicht nur der Ort des größten Bundeswehreinsatzes, sondern auch der Ort der größten Baustelle deutscher Entwicklungspolitik. Nirgendwo anders als in Afghanistan zeigt sich so dramatisch: Es gibt keine Sicherheit ohne Entwicklung und keine Entwicklung ohne Sicherheit. Mit dem Einsatz unserer Soldaten schaffen wir ein Zeitfenster für Stabilisierung und Wiederaufbau. Vom Erfolg des Wiederaufbaus hängt wiederum die Sicherheit unserer Soldaten ab. Es gibt bereits - das wurde schon gesagt - große Erfolge beim Wiederaufbau. Beispielsweise ist das ProKopf-Einkommen um 77 Prozent gestiegen. Die vielen Schülerinnen und Schüler, die jetzt wieder eine Schule besuchen können, wurden ebenfalls schon erwähnt. Das alles ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu dem Zustand vor fünf oder sechs Jahren - Sie erinnern sich sicher -, als wir bei Null angefangen haben. Es ist auch richtig: Unsere Soldaten und unsere Entwicklungsexperten genießen einen hervorragenden Ruf. Das PRT-Konzept, das auch bei uns heftig diskutiert wurde, war angesichts des riskanten Umfeldes in Afghanistan genau richtig. Diese Position können wir auch nach außen vertreten. ({0}) Es ist schon völlig richtig dargestellt worden, dass wir zum ersten Mal nach fünf Jahren eine Situation erleben, in der es keinen Fortschritt gibt, sondern - im Gegenteil einen dramatischen Rückschritt. Es gibt krisenhafte Erscheinungen, was die Sicherheitslage in weiten Teilen des Landes angeht. Entwicklungen sind zum Stillstand gekommen, die Korruption ist auf dem Vormarsch und die Drogenproduktion erreicht immer neue Rekordstände. Dies alles gefährdet die Gesamtmission Afghanistan. Deswegen ist es richtig, Frau Homburger, dass wir aus den Analysen und aus den Nachrichten die richtigen Schlüsse ziehen, und zwar ohne Tabus. Das sind wir unseren Soldaten und unseren Entwicklungshelfern schuldig. ({1}) Ebenfalls richtig ist, dass die Bundesregierung ihr Afghanistankonzept überarbeitet. Wir wollen dabei mitdiskutieren. Ich möchte einige Schlüsse nennen, die wir ziehen sollten. Da geht es zunächst einmal um unseren eigenen Beritt, nämlich um die Bereiche, in denen wir Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten übernommen haben. Hier halte ich zwei Punkte für besonders wichtig: Erstens. Wir müssen überall dort, wo es möglich ist, den Übergang von Soforthilfemaßnahmen zu einer langfristigen Aufbauarbeit konsequenter vorantreiben, vor allem wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass die Afghanen im Verwaltungssystem, im Ausbildungssystem und im Sicherheitssystem ihre Verantwortung mit hoher Kompetenz eines Tages selbst übernehmen können. Zweitens ist der Ausbau unserer Polizeiausbildung wichtig; darauf wurde schon hingewiesen. Hierbei geht es nicht nur um eine quantitative Steigerung einer wirklich qualitativ hochwertigen Arbeit, sondern auch um die Komponente der Bezahlung. Denn auch der am besten ausgebildete und am höchsten motivierte Polizist wird schwach, wenn ihm die Warlords das Doppelte des Gehalts von dem anbieten, was ihm die offizielle Regierung zahlen kann. Diese Komponente ist, glaube ich, genauso wichtig. Eine wichtige Erkenntnis aus unseren Schwierigkeiten ist, dass der Aufbau und die Stabilität in Afghanistan ein Mosaik bilden. Wenn einzelne Teile nicht fertig werden oder herausbrechen, ist das Ganze gefährdet und bricht das Ganze auseinander. Oder umgekehrt: Wenn andere mit der Erfüllung ihrer Hausaufgaben, zum Beispiel im Drogenbereich, beim Aufbau der Justiz oder bei der Entwicklung im Süden, Schwierigkeiten haben, dann ist der Gesamterfolg und damit auch unser Erfolg, den wir zweifellos im Norden haben, gefährdet. Das hat für mich zwei Konsequenzen: Es muss erstens eine bessere Koordination insgesamt und zweitens eine stärkere Nachbarschaftshilfe geben. Zum Stichwort Koordination. Hier ist die dringende Forderung nach mehr Kontinuität, nach mehr Effizienz und auch nach mehr Seriosität bei der Tätigkeit mancher internationaler Organisationen inklusive mancher UNOrganisationen in Betracht zu ziehen. ({2}) Da bauen wir auf Tom Koenigs, unseren Kompatrioten, der neuer UN-Beauftragter in Afghanistan ist und den wir bei der Arbeit für mehr Effizienz unterstützen sollten. ({3}) Koordinationsbedürftig ist auch der so wichtige Aufbau der Sicherheitsorgane; das wurde schon gesagt. Wir bilden die Polizisten - um es einmal etwas überspitzt zu formulieren - mit deutscher Gründlichkeit zu Bürgern in Uniform aus, während andere das Ganze im Sheriffcrashkurs in sechs Wochen machen. Das passt natürlich nicht zusammen. ({4}) Das Ganze gilt auch - das wurde schon angesprochen für ein heikles Thema, nämlich für die unterschiedlichen Philosophien der verschiedenen Streitkräfte gegenüber der Zivilbevölkerung in Afghanistan. Auch hier muss eine stärkere Koordinierung stattfinden. Das ist ein ganz heikler Punkt, vor dem wir nicht die Augen verschließen sollten. Auch sollten wir die Augen nicht vor dem Thema Nachbarschaftshilfe verschließen, und zwar auch in Sektoren und Gebieten außerhalb unseres Wirkungsbereiches. Auch ich bin - das sage ich ganz ehrlich - gegen eine Ausdehnung des Bundeswehreinsatzes in den Süden. Aber es gibt zum Beispiel konkrete Hilfsersuchen der Kanadier nach unserer Expertise, nach unserem Rat zu rasch wirksamen und rasch sichtbaren Soforthilfemaßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, zum Polizeiaufbau, zur ländlichen Entwicklung und zur Verbesserung der Arbeit ihrer PRTs. Dazu sollten wir Ja sagen. Wir sollten die Kanadier in Kandahar nicht im Stich lassen, wenn es um solche zivilen Ratschläge und zivilen Expertisen geht. Auch ich halte Überlegungen für positiv, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wieder dort aufzunehmen, wo wir noch vor kurzem sehr erfolgreich tätig waren, nämlich in Khost und Baktiar, wo wir hoch angesehen sind und wo uns unter anderem auch die lokalen Stammesfürsten zurückersehnen. Wir sollten uns überlegen, ob wir hier einen zusätzlichen Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans leisten könnten. Zum Schluss möchte ich auf das heikle Thema der Drogenbekämpfung eingehen. Das ist eigentlich Sache der Briten. Aber es nützt nichts: Wenn die Situation aus dem Ruder läuft, sind wir alle betroffen und ist unser Gesamteinsatz gefährdet. Nach einem Hearing unserer Fraktion, bei dem übrigens auch Spezialisten aus Kolumbien und Thailand anwesend waren, um den Afghanen eventuell Hilfestellung zu geben, sage ich: Dies ist schwierig, aber nicht unmöglich, wenn man auch auf neue Ideen kommt und sich vor neuen Ideen nicht scheut. In Afghanistan ist eine Kombination von drei Dingen wichtig: Erstens. Auch die politische Spitze in Afghanistan muss hinter der Drogenbekämpfung stehen. ({5}) Das gilt auch für die Personalpolitik, bis hin zum Präsidenten Karzai. Seine Personalentscheidungen in letzter Zeit, sowohl was die Drogenbekämpfung als auch was die Besetzung der höchsten Stellen der Polizei anlangt, haben nicht für Vertrauen gesorgt, auch nicht in der Bevölkerung. ({6}) Zweitens. Die Polizei, auch wenn sie noch so gut ausgebildet ist, kommt nicht in das letzte Bergdorf Afghanistans. Aber die Marktwirtschaft kommt dorthin. Wenn wir den afghanischen Bauern, die ja nur 1 Prozent des Erlöses aus dem Drogengeschäft abbekommen, eine marktwirtschaftliche Lösung inklusive Marktzugang und einen vernünftigen Preis für ein vernünftiges Produkt garantieren können, dann kann es gelingen, dass sie keinen Mohn mehr anbauen. Auch darauf zielt ein deutsches Entwicklungsprojekt - es ist ein Versuchsballon

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Redezeit erinnern.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- jawohl -; das ist unsere Zuckerfabrik. ({0}) - Man muss einfach auf neue Ideen kommen. Drittens. Wir brauchen die Unterstützung der vernünftigen Mullahs und der vernünftigen Stammesfürsten, die auch zu Talibanzeiten gegen die Drogenproduktion vorgegangen sind, und zwar aus religiösen Gründen. ({1}) Es ist machbar. Wir müssen nur mehr Anstrengungen als bisher unternehmen. Wir sollten auch - da gebe ich Ihnen Recht - etwas mehr Demut an den Tag legen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie reden auf Kosten Ihres nachfolgenden Kollegen.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verzeihung. ({0}) Mein Schlusssatz. Wir haben in Afghanistan Verantwortung übernommen und wir dürfen uns, auch im eigenen Interesse, aus dieser Verantwortung nicht davonstehlen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Herren und Damen! Herr Klose, Sie haben sehr eindringlich gesagt, die NATO dürfe nicht scheitern. Ich empfinde das nicht als ein Statement eines gestandenen Realpolitikers, eben weil uns die Wirklichkeit immer deutlicher vor Augen führt: Der Kampf gegen Terror kann mit Krieg nicht gewonnen werden. ({0}) Wenn Sie immer noch mehr Militär ins Land bringen, bringt das nicht mehr Freiheit und auch nicht Frieden in das Land. Ich erinnere daran: Zu den kriegslegitimierenMonika Knoche den Gründen zählte nicht nur die Zerschlagung der alQaida, sondern auch die Befreiung der Frau von der Burka und die Beendigung systematischer Menschenrechtsverletzungen an ihnen. Diese Woche wurde in einem schrecklichen Anschlag die Frauenbeauftragte Safiya Omar Jan getötet. Mädchenschulen sind Anschlagsziele. Gerade deshalb sage ich: Es darf nie das Menschenrecht der afghanischen Frau zur Disposition gestellt werden. ({1}) Die Frage aber ist, ob es dazu des Militärs oder nicht doch mehr Polizei bedarf. Das Menschenrecht der Frau muss von der afghanischen Gesellschaft und ihren staatlichen Institutionen geschützt werden. Die aber sind schwächer geworden, je länger der Krieg dauert. ({2}) Präsident Karzai verliert seine Unterstützung. Die afghanische Regierung ist ineffizient; Frauen sind in ihr nicht vertreten, wohl aber die Warlords. Diese haben erkennbar kein Interesse an Frauenrechten, an einer Stabilisierung und am Aufbau einer Zivilgesellschaft. Mir geht es heute darum, eines der Grundübel der innerafghanischen politischen Verhältnisse zu benennen, ein Übel, das mit Krieg gegen Terror genauso wenig zu vertreiben ist wie mit Krieg gegen Drogen: Das ist der Mohnanbau. Er ist Quelle der Finanzierung von Korruption, Quelle der Finanzierung der Warlords und der archaischen Macht. Dass das so ist, daran hat leider auch Deutschland Anteil. In Ermangelung anderer Staatsmänner wurden in der Ära nach den Taliban die Warlords in die Regierung gebracht und das Ganze wurde als Demokratie bezeichnet. Bis heute ist der Drogenanbau rasant gestiegen; die Gewinne explodieren. Da hilft auch das Abbrennen der Mohnfelder nichts, im Gegenteil: Es treibt die bäuerliche Bevölkerung noch tiefer in den Sumpf der Abhängigkeit. Die Ursubstanz für Heroin gedeiht; die agrarische Produktion ist dadurch nahezu vollständig ersetzt worden. Was also ist zu tun? Es ist an der Zeit, das Unorthodoxe zu denken. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau in kontrolliertem Umfang zu legalisieren. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau zu ersetzen. Angesichts der Preise, die die Bauern dadurch erzielen, scheitert die prinzipielle Illegalisierung sowieso. Ein Ausweg ist die massive Subventionierung des Anbaus agrarischer Produkte. In Europa haben wir uns längst daran gewöhnt, die Landwirtschaft finanziell zu unterstützen. Ein weiterer Weg sind ein lizenzierter, legaler, kontrollierter Mohnanbau und der Aufbau eines staatlichen Monopols zur Aufbereitung für medizinische Zwecke. Die Welt braucht kostengünstige Schmerzmittel. Das gilt insbesondere für die so genannten Entwicklungsländer. Man muss mutige, neue Wege gehen und nicht noch mehr vom Falschen verordnen. ({3}) Stellen wir uns doch einfach einmal vor, den Warlords, den Drogenkönigen, würde der Geldhahn abgedreht, indem ihnen das Schmiermittel für die Korruption und die Finanzierungsquelle für ihre Milizen abhanden kommen! Ich höre Ihre ernsten Klagen über die Dimension, die der Drogenanbau erreicht hat: Afghanistan beliefert die Welt mit verbotenem Heroin. Das gedeiht unter der massiven internationalen Militärpräsenz. Haben Sie eine praxistaugliche Antwort? Ich habe heute keine gehört. Wenden Sie sich einer pragmatischen Position zu, wie ich sie skizziere. ({4}) Ich bin mir bewusst, dass Sie das jetzt nicht hören mögen. Aber was ist Ihre Alternative? Sie haben keine. ({5}) Eines ist gewiss: Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit können nur gelingen, wenn die Korruptionsbekämpfung wirksam ist. Korruptionsbekämpfung kann nur durch eine sinnvolle Drogenpolitik gelingen. Das ist eine klare, einfache Wahrheit. Das Geld für internationales Militär ist besser investiert in Wirtschaftshilfe, Rechtsstaatsbildung, Armutsbekämpfung sowie den Aufbau von Polizei und sicheren Grenzen. Afghanistan braucht unsere nachhaltige Unterstützung. Zu einer Exitstrategie gehört nicht nur, den Abzug des Militärs zu planen, sondern dazu gehört auch, eine ökonomische Perspektive für eine volkswirtschaftliche Gesundung des Landes zu entwickeln. Ein starker Einsatz von deutschen Soldaten für zivile Aufgaben wird obsolet, wenn starke zivile Kräfte die Zivilgesellschaft stärken. ({6}) Ob das allein die Taliban zurückdrängen wird, weiß ich nicht sicher. Aber es besteht hinreichend Anlass, davon auszugehen, dass ISAF und Operation Enduring Freedom sie nicht wirklich schwächen, im Gegenteil. Haben Sie Mut zu neuen Wegen, denn das Militär befindet sich bereits in einer Sackgasse. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christel RiemannHanewinckel, SPD-Fraktion.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen die reale Geschichte einer afghanischen Frau erzählen. Diese Frau hat sich in ihrem Land, in Afghanistan, im Rahmen einer Ausbildungsmaßnahme, die mit Mitteln der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gefördert wurde, zur Polizistin ausbilden lassen. Diese Frau fährt jeden Tag mit dem Bus zu ihrem Arbeitsplatz; das ist der Flughafen in Kabul. Ihr Arbeitsplatz dort ist die Sicherheitskontrolle. Sie ist bekleidet mit einer Polizeiuniform. Darüber trägt sie eine Burka. Die Burka legt sie erst ab, wenn sie ihren Arbeitsplatz erreicht hat. Für diese Frau hat sich das Leben nach dem Sturz des Talibanregimes grundlegend verändert. Sie hat nach 36 Jahren erstmals das Parlament mitwählen können. Sie kann endlich öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Sie hat die Möglichkeit bekommen, eine Ausbildung zu machen. Sie hat einen Arbeitsplatz. Sie verdient Geld, um ihre Familie zu ernähren. Sie erlebt, dass ihre Kenntnisse, ihre Erfahrungen notwendig sind und ihr Tun als Frau genauso wichtig wie das der Männer ist. Sie nimmt am öffentlichen Leben teil. Sie ist gefragt. Sie baut die Gesellschaft mit auf. Diese wichtigen Erfahrungen kann sie an ihre Familie, an ihre Kinder, an ihre Töchter und in ihrer Nachbarschaft weitergeben. Sie erlebt aber auch Einschüchterung und Bedrohung. Sie trägt die Burka heute nicht mehr, weil sie sie tragen muss, sondern - so absurd das für uns klingen mag weil sie ihr Schutz gibt. Sie will als Polizistin in der Öffentlichkeit nicht erkannt werden, weil sie sich damit einer tödlichen Gefahr aussetzt. Dieses Beispiel zeigt: Frauen in Afghanistan gehen ein hohes persönliches Risiko ein, um sich am Aufbau ihres Landes zu beteiligen. Sie haben den Mut, sich als Polizistinnen, als Richterinnen, als Anwältinnen und als Lehrerinnen ausbilden zu lassen und als solche zu arbeiten. Sie wollen die Rechte, die ihnen die neue afghanische Verfassung gibt, ergreifen und sie mit Leben füllen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass Entwicklung ohne Sicherheit nicht möglich ist. ({0}) Dauerhafte Sicherheit kann nur dort entstehen, wo Bildung und Entwicklung gemeinsam wachsen. ({1}) Bildung und Ausbildung von Frauen sind ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan. Pro Jahr werden in Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit 80 Millionen Euro investiert, um den Aufbau von Staat und Gesellschaft voranzubringen. Deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat dazu beigetragen, dass Mädchen wieder in die Schule gehen können. Denn es darf nicht so bleiben, dass 90 Prozent der Frauen in Afghanistan Analphabetinnen sind. Das muss und kann sich durch deutsche Entwicklungszusammenarbeit ändern. ({2}) Die Entwicklungszusammenarbeit hat dazu beigetragen, dass Frauen Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen haben und Rechtsberatung erhalten. Die Entwicklungszusammenarbeit hat auch dazu beigetragen, dass Frauen Arbeitsplätze, zum Teil mit paralleler Kinderbetreuung, bekommen. Außerdem hat die Entwicklungszusammenarbeit dazu beigetragen, dass sauberes Wasser, Energie, neue Straßen und Infrastruktur wirtschaftliches Leben ermöglichen. Dieses Engagement müssen wir fortsetzen. Wir wollen mit unserem Engagement die Mehrheit in Afghanistan stützen. Die Mehrheit in Afghanistan sind die Frauen und Mädchen, die nämlich wie in nahezu allen Ländern dieser Welt fast 53 Prozent ausmachen. Sie müssen zum Entwicklungsmotor in Afghanistan werden. Wir wollen, dass die Durchführungsorganisationen vor Ort ein Mindestmaß an Sicherheit haben, gerade jetzt, da Mord und Gewalt das bisher Erreichte erheblich gefährden. Die Nichtregierungsorganisation medica mondiale - viele von Ihnen kennen sie - hat mir geschrieben: Unsere Projekte zur Stärkung, Heilung und Partizipation von Frauen wären ohne die Präsenz von ISAF gar nicht möglich. ({3}) Deshalb sind in Afghanistan noch immer deutsche Fachfrauen und Fachmänner sowie deutsche Soldatinnen und Soldaten in der Entwicklungszusammenarbeit nötig. Deshalb - nicht weil wir Krieg führen wollen, sondern weil wir mit den Fachfrauen und Fachmännern, mit den Menschen in Afghanistan und mit deutschen Soldatinnen und Soldaten vieles erreichen - bitte ich Sie, der Verlängerung des ISAF-Mandates zuzustimmen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zur Normalität geworden. Aber gerade deshalb dürfen weder wir als Parlamentarier noch die Öffentlichkeit diese Einsätze als Alltagsgeschäft behandeln. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, dass wir leichtfertig, fast schon routiniert Männer und Frauen in die Krisengebiete dieser Welt schicken. Ich bin mir sicher: Wir sind uns der Verantwortung voll bewusst und wägen, wie die Debatte zeigt, bei jeder Mandatsverlängerung Chancen und Risiken, Auftrag und Mittel sorgfältig ab. Demnächst stehen nahezu 10 000 deutsche Soldaten, darunter knapp 10 Prozent Reservisten, weitgehend gut ausgerüstet und gut ausgebildet, im Einsatz. Dabei sind Gefahren für Leben und Gesundheit unserer Soldatinnen Ernst-Reinhard Beck ({0}) und Soldaten immanent. Vor diesem Hintergrund entscheiden wir heute über die Verlängerung des ISAFMandats. Als der Bundestag vor fünf Jahren zum ersten Mal einen Afghanistaneinsatz beschlossen hat, muss jedem klar gewesen sein, dass dies keine gefahrlose, kurze Episode sein würde, sondern dass dabei Geduld, Fingerspitzengefühl und ein langer Atem notwendig sein würden - politisch, militärisch und finanziell. Nach fünf Jahren des ISAF-Einsatzes und des Wiederaufbaus in Afghanistan ist die Bilanz durchwachsen - meine Vorredner haben schon darauf aufmerksam gemacht -: Einerseits gibt es, nicht zuletzt dank deutscher Hilfe, Fortschritte im Gesundheits- und Schulwesen, ein gewähltes Parlament, eine legitime Regierung und Fortschritte beim Aufbau der Polizei. Andererseits nimmt die Zahl der Anschläge im ganzen Land zu, der Drogenanbau floriert und es werden Rekordernten gemeldet, die Korruption ist ungebrochen und im Süden herrscht regelrecht Krieg. Auch im Norden des Landes hat sich die Lage in kurzer Zeit dramatisch zugespitzt. Die deutschen Feldlager in Masar-i-Scharif, Kunduz und Faizabad sind regelmäßig unter Raketen- und Gewehrbeschuss. Hinzu kommen die IEDs, versteckte, ferngezündete Bomben, als ständige Bedrohung unserer Patrouillen sowie Selbstmordattacken und Autobombenanschläge. Machen wir uns nichts vor: Auch im Norden, im Aufgabenbereich der Bundeswehr, wächst die Frustration und Enttäuschung der Menschen, die Ablehnung der Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft. Auch dort werden unsere Soldaten, so Leid uns das tut und so sehr uns das schmerzt, mehr und mehr als Besatzer und nicht als Helfer angesehen. Wir sind derzeit nach Großbritannien der zweitgrößte Truppensteller. Im Norden des Landes stellen wir 2 200 und in Kabul 580 Soldatinnen und Soldaten; damit sind wir sowohl in der Fläche als auch in der Hauptstadt vertreten. Sie leisten unter gefährlichen Bedingungen hervorragende Arbeit. ({1}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unseren Soldaten in allen Einsatzgebieten, insbesondere aber denen in Afghanistan, unseren herzlichen Dank sagen. ({2}) Sie verdienen, wie ich meine, nicht nur unseren Dank, sondern auch unsere volle Unterstützung, wenn es darum geht, ihre materielle Ausstattung zu verbessern, im Hinblick auf geschützte Fahrzeuge, Hubschrauber, eine gepanzerte Reserve oder auch beim Schutz der Feldlager. Mit dem Einsatzversorgungsgesetz haben wir zudem die Absicherung unserer Soldatinnen und Soldaten entscheidend verbessern können. An dieser Stelle begrüße ich ausdrücklich die Gesetzesinitiative von Minister Dr. Jung zur Weiterbeschäftigung von im Einsatz dauerhaft schwer beschädigten Soldatinnen und Soldaten. ({3}) Natürlich dürfen sich unsere Soldaten nicht einigeln. Um ihren Auftrag zu erfüllen, müssen sie den Kontakt mit den Menschen halten, auch wenn dies mit Gefahren verbunden ist. Der Kollege Klose hat darauf hingewiesen: Die Formulierung des Mandats, dass das deutsche Kontingent die ISAF-Operation zeitlich und im Umfang begrenzt in anderen Regionen unterstützt, sofern dies zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabwendbar ist, lässt genügend Spielraum für verantwortungsbewusste Entscheidungen. Ich befürworte eine realistische Analyse der Lage. Ich warne jedoch dringend vor pessimistischen Schlussfolgerungen und davor, bereits jetzt von einem Scheitern der internationalen Gemeinschaft oder der NATO in Afghanistan zu sprechen. ({4}) Das Afghanistankonzept der Bundesregierung heißt kurz gefasst: Sicherheit und Wiederaufbau. Dieses Konzept ist richtig und zukunftsweisend. Für Sicherheit und Stabilität als Grundlage des Wiederaufbaus steht die PRT-Konzeption von ISAF, für die die Bundeswehr in der Nordregion die Verantwortung trägt. Aber auch die Operation Enduring Freedom leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Schaffung von Sicherheit und zur Herstellung stabiler Verhältnisse. Entscheidend wird jedoch sein, beim Wiederaufbau der Infrastruktur rascher sichtbare Erfolge zu erzielen. Trotz der verschlechterten Sicherheitslage ist eines klar: Wir können nicht weglaufen, wenn es kritisch wird. Wer jetzt für den Abzug unserer Soldaten plädiert, lässt die Menschen in Afghanistan im Stich, übrigens mit unabsehbaren Folgen für unsere eigene Sicherheit, von den Folgen eines Scheiterns für die NATO ganz zu schweigen. ({5}) Der Kampf um die Herzen und Köpfe der Afghanen steht auf Messers Schneide, aber er ist nicht verloren. Wir müssen ihn gewinnen. Wir stimmen deshalb der Verlängerung des ISAF-Mandats zu. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rainer Arnold, SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch die fünfte Verlängerung des Mandates der Vereinten Nationen zum Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan ist alles andere als parlamentarische Routine. Unsere Parlamentsarmee verlangt von uns mehr: weitere Diskussion über die schwierige, ernste Situation und einen größeren Beitrag aller Parlamentariergruppen in allen tangierten Ausschüssen, den wir zur Begleitung der Anstrengungen der Bundesregierung stärker vernetzen sollten. Insofern finde ich es schade, dass die Grünen ihren Antrag so kurzfristig eingebracht haben. Wir hätten uns bestimmt auf eine gemeinsame Initiative verständigen können. Das hätte das Thema verdient gehabt. ({0}) Zur parlamentarischen Verantwortung, Frau Kollegin Homburger, gehört auch, dass die Regierung uns korrekt informiert. Nur, mit Ihrer Formulierung haben Sie versucht, den Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung tue dies möglicherweise nicht. Deshalb stelle ich hier fest: Die Bundesregierung hat das Parlament über die Obleute - auch über Einsätze und Unterstützungsleistungen der Soldaten im Süden Afghanistans - stets korrekt informiert. ({1}) Wir wissen, die Sicherheitslage hat sich massiv verschlechtert. Im Süden des Landes herrscht eigentlich Krieg zwischen ISAF und militärisch organisierten Aufständischen. Dort sind auch die internationalen Hilfsorganisationen kaum mehr einsatzfähig. Das alles hat auch auf den Norden, das Einsatzgebiet der deutschen Soldaten, Auswirkungen. Jetzt in Panik zu verfallen, wäre die falsche Reaktion. Aber wir müssen in der öffentlichen Debatte das Risiko für die Bundeswehr, für die Menschen in der Truppe, realistisch darstellen und bewerten, ohne es allerdings zu verdrängen. Wir haben es mit einer komplizierten Situation zu tun, bei der es auf die auftauchenden Fragen keine einfachen Antworten gibt. Der Minister und wir Parlamentarier tun alles, um den Soldaten den notwendigen Schutz zu gewähren. Doch im Zielkonflikt dazu steht die Erfüllung des Auftrages. Deshalb kann man sich nicht darauf beschränken, mit sicheren Fahrzeugen durch den Norden Afghanistans zu fahren; die Soldatinnen und Soldaten müssen aussteigen, mit den Afghanen kommunizieren, Vertrauen bilden und Informationen weiterleiten. Angesichts dieses Zielkonfliktes müssen wir die Risiken korrekt analysieren: Afghanistan steht sicherlich auf der Kippe und es bleibt nicht mehr allzu viel Zeit, um die Wende zu Sicherheit und sozialer Stabilität zu schaffen. Ich habe den Eindruck, dass wir uns gelegentlich durch die sichtbaren, aber vielleicht nur oberflächlichen Erfolge beim Aufbau der staatlichen Institutionen haben blenden lassen. Diese Institutionen sind geschaffen, ja, aber sind sie wirklich in den Köpfen der Bevölkerung angekommen? Es darf uns nicht wundern, dass das schwierig ist in einem Land, das nie ein gefestigtes Staatswesen gekannt hat. Wir reden im Hinblick auf Afghanistan nicht von einem Wiederaufbau, wir reden von einem Neuaufbau des Landes. Es mehren sich die kritischen Stimmen, die immer wieder darauf hinweisen, dass Teile der politischen Führung des Landes möglicherweise ein Teil des Problems darstellen. Wir haben heute vom Polizeiaufbau gehört, wo sich die Bundesregierung engagiert und gute Ausbildung leistet. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass wichtige Führungspositionen bei der Polizei nach einem Klientelsystem besetzt werden. Ich denke, wir Deutschen haben wegen unserer guten Beziehungen zu Afghanistan eine ganz besondere Verantwortung. Wir tun das aber in dem Bewusstsein, dass das nur mit einer gemeinsamen Verantwortung der NATO-Partner für den Norden, den Zentralteil, den Süden und den Osten gelingen kann. Ich fürchte aber, dass wir noch eine Debatte mit dem Ziel führen müssen, einen wirklich kohärenten Stabilisierungsprozess aller NATO-Partner zu erreichen. Dabei müssen wir auch bedenken: Wenn durch die militärischen Operationen zwar der Terrorismus bekämpft wird, gleichzeitig aber keine Rücksichten auf die Gefühle und Traditionen der Menschen genommen wird, dann dürfen wir uns am Ende nicht wundern, wenn die Gegner des Stabilisierungsprozesses mehr und mehr Unterstützung finden. Wenn es uns in einem Land, in dem 58 Prozent der Menschen unter 18 Jahre alt sind, nicht gelingt, die Lebensbedingungen gerade der jungen Menschen schnell zu verbessern, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die jungen Männer, die keine Zukunftsperspektive haben, aufgrund der islamistischen Propaganda nach Pakistan gehen, um dort für ein paar Dollar am Tag das Terroristenhandwerk zu erlernen. ({2}) Wir brauchen diese strategische Debatte in der NATO also, um die Bevölkerung, die uns entfremdet ist, wieder ein Stück weit zurückzugewinnen. Wir brauchen nicht nur Härte, sondern wir brauchen den Dialog und vor allen Dingen schnell sichtbare und große Kraftanstrengungen: Projekte für Wasser, Straßen, Bildung, Elektrizität und Gesundheit. Wir müssen die unterschiedlichen PRTKonzepte wirklich evaluieren. Bei keinem Wiederaufbau eines Landes hatte die internationale Truppe in Relation zur Gesamtbevölkerung einen so geringen Umfang wie jetzt in Afghanistan. Trotzdem ist dieses PRT-Konzept der richtige Weg, weil wir wissen: Allein durch eine Masse von Soldaten kann dieses Land am Ende nicht stabilisiert werden. An die Linke gerichtet: Freundliche Worte und billige Ratschläge allein werden aber natürlich auch nicht langen, um in Afghanistan Vertrauen und Stabilität wiederherzustellen. ({3}) Ich komme zum Ende. Nur mit diesem abgestimmten Prozess werden wir die derzeitige Entwicklung noch umdrehen können, damit Afghanistan nicht in Bürgerkrieg und Chaos zurückfällt. Scheitert Afghanistan, dann scheitert im Übrigen nicht nur die NATO, sondern dann scheitert auch die Idee der gesamten Staatengemeinschaft, für den Neuaufbau eines Landes eine gemeinsame Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, die Taliban und alle Terroristen dort sollen wissen: Wir werden diese Herausforderung beharrlich, entschlossen und auch mit dem notwendigen Gespür für die Kultur der Menschen in Afghanistan annehmen. Wir tun dies mit besonders großem Respekt und mit besonders großer Anerkennung all der Menschen bei der Truppe und bei den zivilen Organisationen, die stellvertretend für unser ganzes Land dort diese gefährliche Arbeit leisten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- sache 16/2774 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO. Mir liegen Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor, und zwar von den Kolle- ginnen und Kollegen Bärbel Höhn, Ute Koczy, Ingrid Arndt-Brauer, Frank Schwabe, Otto Fricke, Jürgen Koppelin, Gisela Piltz, Winfried Hermann, Hans- Christian Ströbele und weiteren Kolleginnen und Kolle- gen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung, den Antrag auf Drucksache 16/2573 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwenden, auch ihren Namen tragen. Ich bitte die Schriftführerin- nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- nehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, dass seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder ihre Plätze einzunehmen, damit wir die weiteren Abstim- mungen vornehmen können. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2778. Wer stimmt für diesen Ent- schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der Fraktion der Linken bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- tung der FDP abgelehnt. 1) Ergebnis Seite 5226 D Tagesordnungspunkt 6 c. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/2776 zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afgha- nistan. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsan- trag auf Drucksache 16/2623 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ange- nommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan ({1}) auf Grundlage der Resolution 1709 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 22. September 2006 - Drucksachen 16/2700, 16/2777 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Dr. Werner Hoyer Kerstin Müller ({3}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/2786 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Lothar Mark Jürgen Koppelin Michael Leutert Alexander Bonde Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion. ({5})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 9. Januar 2005 unterzeichneten die sudanesische Regierung und die südsudanesische Rebellenbewegung SPLM das so genannte Comprehensive Peace Agreement. Mit diesem Friedensabkommen war und ist die Hoffnung verbunden, einen der längsten Bürgerkriege Afrikas zu beenden. Seit der Mandatierung der VN-Friedensmission UNMIS mit der Resolution 1590 vom 24. März 2005 und dem vom Bundestag daraufhin am 22. April 2005 beschlossenen Einsatz von Bundeswehrsoldaten wurden viele Anstrengungen unternommen. Beispiele dafür sind die Bildung der Regierung der nationalen Einheit, die Übergangsverfassung für den Südsudan, die Bildung einer Regierung im Südsudan, die Bemühungen zur Entwaffnung und Eingliederung von Milizen, die Hilfe für zahllose Flüchtlinge und der Darfur-Friedensvertrag im Mai dieses Jahres. Nun steht erneut die Verlängerung des Mandats für die Bundeswehrsoldaten an. Gemäß der am vergangenen Freitag verabschiedeten VN-Resolution 1709 soll dies für zunächst weitere 14 Tage geschehen. Warum nur 14 Tage? Hintergrund ist das Bestreben der Amerikaner, mit der ständigen Neubefassung des Sicherheitsrats die sudanesische Regierung zu einer Zustimmung zur Resolution 1706 zu bewegen. Sie soll den Übergang der von der Afrikanischen Union geführten und gestellten Friedensmission in Darfur, AMIS, in die bestehende Mission der Vereinten Nationen, UNMIS, herbeiführen. Wir haben es also derzeit mit zwei Missionen zu tun. Auch dann, wenn Präsident al-Bashir grünes Licht für den Übergang von AMIS zu UNMIS geben würde, bliebe es faktisch bei zwei Missionen. Ohne Zweifel hätten sich die Dinge positiver entwickelt, wenn der Friedensprozess von einer größeren Anzahl der Akteure und Interessengruppen getragen wäre und wenn die sudanesische Regierung den Prozess tatkräftiger unterstützen würde. Weil dies derzeit nicht der Fall ist, häufen sich Meldungen über direkte Gefechte zwischen Rebelleneinheiten und Regierungstruppen. Es geschieht, was in solchen Situationen immer geschieht: Es trifft vor allem die Zivilbevölkerung. Kofi Annan hat am 11. September in seiner Rede vor dem Sicherheitsrat zu Recht gesagt: „Die Tragödie in Darfur hat einen kritischen Punkt erreicht.“ Mit Blick auf das Versagen der Vereinten Nationen in Ruanda fügte er hinzu: „Es ist keine Zeit für den Mittelweg halbherziger Maßnahmen.“ Deshalb müssen die diplomatischen Bemühungen noch einmal enorm gesteigert werden, um die Konfliktparteien zur Vernunft zu bringen. Gefordert ist hierbei neben der UN und der Afrikanischen Union vor allem auch China. Der Friedensprozess muss fortgesetzt werden. Alles andere wäre eine Katastrophe, ({0}) und zwar für alle: für den Sudan, Afrika, Europa und die internationale Staatengemeinschaft. Die UNMIS-Mission im Süden des Sudan - nur darum geht es bei der heutigen Entscheidung - ist ein wichtiger Bestandteil des Friedensprozesses für den gesamten Sudan und damit auch ein wichtiges Element im Hinblick auf den Weg zu einer politischen Lösung des Konflikts im westsudanesischen Darfur. Die Entscheidung vom 22. April 2005, deutsche Soldaten an UNMIS zu beteiligen, ist uns nicht leicht gefallen. Auch dies war keine Routineentscheidung. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Rolle der deutschen Bundeswehr in den letzten Jahren geändert hat. Darüber sollte auf jeden Fall öffentlich stärker diskutiert werden. Die Bundeswehr genießt hohes Ansehen in Deutschland. Es wäre zu wünschen, dass diese breite Akzeptanz auch die Auslandseinsätze einschließt. ({1}) Die deutschen Soldaten sollen nach dem heutigen Beschluss ihre Aufgabe zur Unterstützung des Nord-SüdFriedensprozesses weiterhin wahrnehmen. Mit bis zu 75 Militärbeobachtern ist dies in Anbetracht der Problemlage sicherlich ein bescheidener Beitrag. Aber ein wichtiger ist es allemal. Unser Dank gilt den deutschen Soldaten in diesem Einsatz. ({2}) Im kommenden Jahr wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft übernehmen. Die so genannte Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas, der NEPAD-Prozess, wird ein Thema sein. Die Initiative könnte die Bundesregierung auch für einen Allparteiendialog außerhalb des Sudan ergreifen. Wir sind gut beraten, wenn wir mit dem gleichen Engagement, mit dem unsere Soldaten Dienst in der sudanesischen Krisenregion leisten, die soziale und die wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischen Staaten unterstützen. Beides gehört zusammen. Militärische Optionen der internationalen Staatengemeinschaft zur Sicherung des Weltfriedens müssen von infrastrukturellen Konzepten und Hilfen für den Staatenaufbau begleitet werden. Solange die Hoffnung besteht, dass mit einer erweiterten UNMIS-Mission das Leiden Hunderttausender gemildert wird, alle bisherigen Bemühungen nicht umsonst waren und der Friedensprozess weitergeht, so lange ist der Einsatz deutscher Soldaten im Süden des Sudan wertvoll. ({3}) Wir sollten deshalb dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandats mit großer Mehrheit zustimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich komme zu Tagesordnungspunkt 6 a zurück und gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz in Afghanistan unter Führung der NATO, Drucksachen 16/2573 und 16/2774, bekannt: Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 492, mit Nein haben gestimmt 71, Enthaltungen neun. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 572; davon ja: 492 nein: 71 enthalten: 9 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann ({0}) Dr. Christoph Bergner Clemens Binninger Carl-Eduard von Bismarck Peter Bleser Antje Blumenthal Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Anke Eymer ({1}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({9}) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Dr. Maximilian Lehmer Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({11}) Maria Michalk Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({12}) Stefan Müller ({13}) Bernward Müller ({14}) Hildegard Müller Bernd Neumann ({15}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Daniela Raab Hans Raidel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({16}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht ({17}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({18}) Hermann-Josef Scharf Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Andreas Schmidt ({19}) Ingo Schmitt ({20}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({21}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({22}) Gerald Weiß ({23}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Gerd Andres Nils Annen Ingrid Arndt-Brauer Ernst Bahr ({24}) Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Volker Blumentritt Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({25}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf ({26}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({27}) Hubertus Heil Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Gerd Höfer Iris Hoffmann ({28}) Frank Hofmann ({29}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Johannes Jung ({30}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Karin Kortmann Rolf Kramer Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({31}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Dirk Manzewski Caren Marks Katja Mast Markus Meckel Petra Merkel ({32}) Ulrike Merten Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({33}) Michael Müller ({34}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Johannes Pflug Joachim Poß Christoph Pries Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche ({35}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({36}) Michael Roth ({37}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({38}) Axel Schäfer ({39}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Ulla Schmidt ({40}) Silvia Schmidt ({41}) Renate Schmidt ({42}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({43}) Carsten Schneider ({44}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({45}) Swen Schulz ({46}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gert Weisskirchen ({47}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({48}) Heidi Wright Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Daniel Bahr ({49}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({50}) Hans-Michael Goldmann Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Dr. Werner Hoyer Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link ({51}) Markus Löning Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Joachim Otto ({52}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({53}) Martin Zeil BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({54}) Volker Beck ({55}) Cornelia Behm Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Kai Gehring Anja Hajduk Britta Haßelmann Priska Hinz ({56}) Ulrike Höfken Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Fritz Kuhn Undine Kurth ({57}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Kerstin Müller ({58}) Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Claudia Roth ({59}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({60}) Nein CDU/CSU Wolfgang Börnsen ({61}) Dr. Peter Gauweiler Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Henry Nitzsche Willy Wimmer ({62}) SPD Gregor Amann Dr. Peter Danckert Renate Gradistanac Reinhold Hemker Petra Hinz ({63}) Lothar Mark Hilde Mattheis FDP Joachim Günther ({64}) Jürgen Koppelin DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger-Neuling Dr. Barbara Höll Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothee Menzner Kersten Naumann Petra Pau Elke Reinke Paul Schäfer ({65}) Volker Schneider ({66}) Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann Alexander Ulrich Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Peter Hettlich Dr. Anton Hofreiter Sylvia Kotting-Uhl Monika Lazar Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe fraktionslos Gert Winkelmeier Enthalten CDU/CSU Renate Blank SPD Ernst Kranz Dr. Wilhelm Priesmeier Frank Schwabe FDP Uwe Barth Dr. Edmund Peter Geisen Miriam Gruß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Irmingard Schewe-Gerigk Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Marina Schuster, FDP-Fraktion. ({67})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die aktuellen Meldungen aus dem Sudan sind - wir haben darüber bereits an verschiedenen Stellen gesprochen - äußerst dramatisch und besorgniserregend. Dennoch leistet der UNMIS-Einsatz einen wertvollen Beitrag zur Sicherung des Friedens im Südsudan. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und schätzungsweise über 2 Millionen Toten ist das ComprehensivePeace-Agreement, ist dieser Friedensvertrag ein Meilenstein auf dem Weg zu dauerhaftem Frieden. Die Bundeswehr leistet bei diesem Einsatz vor Ort trotz der schwierigen Bedingungen sehr gute Arbeit. Ich war vor zwei Monaten im Sudan, auch in Juba im Südsudan. Ich konnte sehen, welche Bedingungen dort herrschen: Malariagefahr, sintflutartige Regenfälle, extreme Hitze, Unmengen an Landminen und Überfälle. Aber ich habe auch die Herzlichkeit der Menschen erlebt, bei denen die Bundeswehr hohes Ansehen genießt. Ich glaube, dass ich für alle hier spreche, wenn ich sage: Den Soldaten gilt unser großer Dank und unser ganzer Respekt. ({0}) Ich konnte in Juba sehen, dass die Umsetzung des Friedensvertrags vorankommt, wenn auch deutlich verzögert. Die sudanesische Zentralregierung ist dafür maßgeblich verantwortlich. Die Erdölkommission hat ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Zudem ist der Grenzkonflikt um Abyei noch nicht entschieden. Ich könnte weitere Verzögerungen, aber auch wirkliche Erfolge nennen. Entscheidend ist jedoch: Ein Abzug der UNMIS-Mission aus dem Südsudan wäre zum jetzigen Zeitpunkt fatal; denn das hätte schwere Auswirkungen auf den ganzen Sudan und das Darfur-Peace-Agreement. Wir können beides nicht isoliert voneinander betrachten. Deswegen möchte ich kurz auf Darfur eingehen, auch weil es im Antrag der Bundesregierung erwähnt wird. Ich meine, wir tun immer gut daran, wenn die Debatte über eine mögliche Lösung auch aus der Perspektive unserer Bündnispartner betrachtet wird. Wir sollten bei aller Zurückhaltung, die wir uns verständlicherweise bei der Umsetzung der Resolution 1706 selbst auferlegen, nicht verkennen, dass dieses Thema bei entscheidenden Bündnispartnern schon eine ganz andere Dynamik hat. In den USA und in Großbritannien hat der Darfurkonflikt eine öffentliche Aufmerksamkeit erreicht, von der wir hier in Deutschland leider meilenweit entfernt sind. Wir sollten uns klar darüber sein, dass hier bald Entscheidungen auf uns zukommen können. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir hierzu im Vorfeld eine fundierte und eine tiefgehende Diskussion über den politischen Ansatz führen würden. ({1}) Wir nehmen hier und heute keine Entscheidung über einen Darfureinsatz oder das so genannte Rehatting vorweg. Aber eines muss gesagt sein: Ohne einen DarfurDarfur-Dialog, der alle Konfliktparteien und die Zivilge5230 sellschaft einschließt, werden wir nie einen dauerhaften Frieden erreichen. Die Menschen - wir reden von mehr als zwei Millionen Flüchtlingen - brauchen nichts mehr als Sicherheit. Für die Sicherheit brauchen wir einen breiten und stabilen Friedensvertrag, einen Vertrag, der von allen getragen wird, nicht nur von der Rebellengruppe um Minni Minawi. Wir müssen uns auch die Rolle Chinas im Sudan vor Augen führen. Diese beunruhigt. China hat dort massive Interessen. Die Volksrepublik baut Staudämme, Straßen, sogar Fertighäuser. China schweigt zu Massenvertreibung und zu Menschenrechtsverletzungen in Darfur und investiert gleichzeitig 2 Milliarden US-Dollar in die Ölindustrie des Landes. Gleichzeitig kommt China als entscheidendem Akteur im Weltsicherheitsrat eine Schlüsselrolle zu. Bislang stellen sich die Chinesen schützend vor das Regime in Khartum. Ich frage daher die Bundesregierung - Herr Minister Jung kann danach antworten -: Inwiefern hat sie ihre guten Arbeitsbeziehungen beim jüngsten Treffen mit Ministerpräsident Wen Jiabao genutzt, um in dieser Frage etwas zu erreichen? ({2}) Es reicht nicht, zu erfahren, dass das Thema dort angesprochen wurde. Was wurde denn konkret vereinbart? ({3}) Wie und mit welchen Mitteln soll das weitere deutsche Vorgehen gegenüber dem Regime dort im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft sein? Welche Rolle wird China dabei spielen? Wir müssen die Chinesen als einen entscheidenden Akteur im Weltsicherheitsrat in die Pflicht nehmen, wenn es darum geht, den Worten und Sicherheitsratsbeschlüssen Taten folgen zu lassen. ({4}) Die Bundeskanzlerin, die leider der Debatte jetzt nicht beiwohnt, hat in ihrer Rede bei der Generaldebatte am 6. September - das ist noch gar nicht so lange her an die Verantwortung für Afrika als unseren Nachbarkontinent erinnert. Ich teile ihre Meinung. Nur eines muss ich hier klarstellen: Ihre Verantwortung ist nicht damit erledigt, dass wir deutsche Soldaten im Sudan, im Kongo oder in anderen Ländern haben. Wie wird denn Afrika und insbesondere der Sudan bei den Präsidentschaftsplanungen berücksichtigt? Deutschland hat eine Chance, eine aktivere Afrikapolitik bei der EU und der G 8 zu forcieren. Ich bin der Meinung, wir sollten diese Chance nutzen. Ich komme zum Schluss. Die FDP-Fraktion wird diesem Antrag, der ohne inhaltliche Änderung ist, und diesem Mandat zustimmen, weil wir meinen, dass der Friedensprozess unterstützt werden muss. Die entscheidende Frage aber bleibt für uns offen: Wann definiert die Bundesregierung endlich klar ihre Ziele und Interessen in Afrika? Denn eine deutsche Afrikapolitik, die nur auf Zuruf reagiert, ist keine Strategie. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesverteidigungsminister, Dr. Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung bittet Sie um Zustimmung zur Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an der Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan. An dieser Friedensmission nehmen derzeit 36 Soldatinnen und Soldaten teil. Das Bundestagsmandat erlaubt aber den Einsatz von 75 Soldatinnen und Soldaten zur Militärbeobachtung sowie als Einzelpersonal in den UNMISStäben im Südsudan. Dieser Einsatz beruht auf einem Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wie sie wissen, war ursprünglich geplant, das Mandat für diesen Einsatz auf sechs Monate zu beschränken. Die Vereinten Nationen haben vor kurzem eine Entscheidung für einen Zeitraum von zwei Wochen getroffen. Das heißt, die Mission der Vereinten Nationen im Sudan dauert bis zum 8. Oktober an. Bevor ich auf die Begründung zu sprechen komme, will ich darauf hinweisen, dass sich unser Antrag nur auf diese zwei Wochen bezieht. Ich denke, es ist auch im Interesse des Parlaments, die Dinge nicht in einem Rhythmus von zwei Wochen zu erörtern. In Zukunft sollten wir einen längeren Zeitraum vereinbaren, um die Beratung effektiv zu betreiben. Wegen der militärischen Schutzkomponente ist es wichtig, dass es sich hier letztlich um einen bewaffneten militärischen Einsatz handelt. Deshalb ist auch die Zustimmung des Deutschen Bundestages zu diesem Mandat notwendig. Was ist der Grund für die Verlängerung der Mission der Vereinten Nationen um nur zwei Wochen? Tatsache ist, dass die Vereinten Nationen beabsichtigen, das Mandat UNMIS mit der von der Afrikanischen Union geführten Mission, AMIS, zu einer VN-geführten Gesamtmission im Sudan zusammenzulegen. Dies entspricht auch der Bitte der Afrikanischen Union. Wie Sie wissen, lehnt die sudanesische Regierung diese Absicht der Vereinten Nationen bisher ab. Es ist notwendig, hier eine Übereinstimmung zu erzielen. Auch ich bin der Meinung, dass ein Dialog stattfinden muss, wenn es zu einer solchen Übereinstimmung kommen soll. Wahr ist auch: Ungeachtet des Friedensabkommens vom 5. Mai haben die Zusammenstöße zwischen sudanesischen Regierungskräften und Rebellengruppen sowie Übergriffe auf NGOs oder auf die Zivilbevölkerung zugenommen. Aufgrund dieser Entwicklung ist es auch im Interesse der Friedensbemühungen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seiner tiefen Sorge Ausdruck verleiht, um so die humanitäre Situation in Darfur positiv zu beeinflussen und die Beendigung der Gewalt zu ermöglichen. Diese kurzen Zeitabstände sind letztlich auch gewählt, um politischen Druck auszuüben, damit eine friedliche Entwicklung im Sudan insgesamt eingeleitet werden kann. Wir sollten diese Bemühungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen tatkräftig unterstützen. ({0}) Unsere Auslandseinsätze - das gilt auch für ein solches Mandat - sind von drei Grundprinzipien geprägt: von den Überlegungen, die im Einklang mit unseren Werten stehen, von unseren internationalen Verpflichtungen - gegenüber den Vereinten Nationen, gegenüber der NATO und gegenüber der Europäischen Union - und davon, dass diese Einsätze auch in unserem Interesse liegen müssen. Gerade bei einem Einsatz wie diesem müssen Krisenbewältigung, Stabilisierung und Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für den Wiederaufbau - Sie haben von konkreten Projekten gesprochen - einer friedlichen Entwicklung dienen. Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten sollte sich daran orientieren. Wir können Krisen und Konflikten nur dort begegnen, wo sie auch entstehen. Die zahlreichen negativen Geschehnisse haben notwendigerweise Rückwirkungen auf unser Land. Wenn wir die Krisen und Konflikte vor Ort bewältigen, dann dient das auch dem Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger und einer friedlichen und stabilen Entwicklung bei uns. Der eingeschlagene Weg ist - auch im Hinblick auf das UNMIS-Mandat - richtig. Unseren Einsatz werden wir dementsprechend fortsetzen. Ich bitte den Deutschen Bundestag um die entsprechende Unterstützung für dieses Mandat. Ich bitte aber auch darum, damit einverstanden zu sein, dass wir in Zukunft längerfristige Regelungen - dieses Mandat wird nur bis zum 8. Oktober gültig sein - treffen. Sie wissen, dass an dem bisherigen Mandat inhaltlich nichts verändert wird und dass wir dann, wenn im Rahmen des Mandats gegebenenfalls zusätzliche Komponenten in Darfur berücksichtigt werden müssen, eine zusätzliche Information geben und auch eine Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag herbeiführen. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass in Zusammenarbeit der Vereinten Nationen und der sudanesischen Regierung das Ziel erreicht wird, zu einer gesamtverantwortlichen Mission zu kommen, um in diesem teilweise geschundenen Land zu einer stabilen und friedlichen Entwicklung beizutragen. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die Verlängerung dieses UNMIS-Mandats. Besten Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss uns doch auffallen, dass wir über Außenpolitik hier im Hause fast nur noch im Zusammenhang mit Militäreinsätzen debattieren. ({0}) Ich habe in den letzten Monaten keine außenpolitische Debatte ohne diese Komponente erlebt. Das kennzeichnet eigentlich die ganze Dramatik in unserer Politik. Außenpolitik kann nicht auf Militärpolitik reduziert werden. ({1}) Es ist schon ein bisschen Absurdistan, finde ich, dass der Außenminister über Militäreinsätze redet und der Verteidigungsminister über Außenpolitik redet. Das heißt, man macht Militär zum Mittel der Außenpolitik und verschiebt hier die Achsen. Dies zeigt auch der Antrag. Ich habe in diesem Hause viel erlebt, aber ein Antrag, der sich auf 14 Tage bezieht, das ist neu; das hatten wir noch nicht, Herr Minister. Wenn sich ein Antrag auf 14 Tage bezieht, dann hat das einen Hintergrund. Den Hintergrund muss man hier klar machen. Der Hintergrund ist, dass die Vereinten Nationen beschlossen haben, die Missionen zusammenzulegen und das Militär in Darfur um - nicht auf, sondern um - 22 500 Soldaten zu erhöhen. Dafür gibt es keine Zustimmung, bislang jedenfalls nicht, der sudanesischen Regierung. Rechtlich ist das, was die UNO beantragt hat, in Ordnung, aber politisch - das sage ich Ihnen - ist ein solches Vorhaben gegen die sudanesische Regierung und ihre Machtausübung nicht durchzusetzen. Hier gehen Recht und Politik auseinander. ({2}) Wer heute dem zustimmt - wir stimmen über einen konkreten Antrag ab; das weiß ich auch -, der öffnet einen Weg, bei dem man nicht weiß, wo man am Ende ankommt. ({3}) Bei Militäreinsätzen muss man aber sehr genau wissen, wo man ankommt. Über Ihren mündlichen Antrag, Herr Jung, dass wir das jetzt gleich für sechs Monate absegnen, können wir in den Ausschüssen reden; das steht hier überhaupt nicht zur Debatte, weil Sie das gar nicht beantragt haben. So können wir nicht vorgehen. Aber zur Sache selbst: Man weiß auch nicht, wie sich Deutschland verhalten wird, was die Stellung von Soldaten angeht, wenn es zu diesem Einsatz kommt. Ich möchte einmal die Bundeskanzlerin zitieren. Am 6. September hat Frau Merkel hier im Hause ausgeführt: Ich sehe aber im Augenblick keine Möglichkeit, dass wir neben unserem Engagement im Kongo ein zusätzliches Engagement in Darfur übernehmen. Heißt denn das - das könnten die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU einmal erklären -, dass man dann, wenn der Kongoeinsatz - er soll im Oktober zu Ende gehen - erledigt ist, Möglichkeiten sieht, auch deutsche Soldaten nach Darfur zu schicken? Ich sage Ihnen: Sie werden die Unzahl von Militäreinsätzen der Bevölkerung nicht weiter erklären können. Wenn wir irgendjemanden hier im Haus aufrufen würden - ich schaue einmal wild in die Reihen - und ihn bitten würden, aufzuzählen, wo überall wir im Moment Mandate haben, würden wir merken: Man bekommt diese elf Mandate kaum zusammen. - Da muss man also genau überlegen, wo man zustimmt oder nicht. Meine erste Schlussfolgerung ist: Wenn nicht klar ist, wohin die Reise geht, sollte man besser nicht zustimmen. ({4}) Meine Fraktion wird ablehnen oder sich der Stimme enthalten. Wir diskutieren sehr intensiv über die Inhalte. Das Zweite - das liegt mir eigentlich noch mehr am Herzen -: Man muss mehr darüber nachdenken, wie man diesen unhaltbaren und unmenschlichen Bürgerkriegszustand in Darfur beendet, welche politische Lösung es dafür gibt. Das muss die Zielsetzung sein. ({5}) Die Regierung des Sudans und die Rebellenorganisationen müssen dazu gebracht werden, die Kämpfe einzustellen. Widersprüche, die reale Widersprüche sind, bei denen es um Wasser, Boden oder Naturschätze geht, dürfen nicht gewaltsam, sondern müssen friedlich ausgetragen werden. Deswegen muss der politische Druck auf die Regierung des Sudans wachsen. Wenn Präsident Bush vor den Vereinten Nationen den Militäreinsatz in Darfur damit begründet, dass das Teil des Krieges gegen den Terror ist, dann ist das kontraproduktiv. ({6}) Ich habe immer wieder vorgeschlagen - darauf reagiert aber keiner, weil der Verteidigungsminister keine Außenpolitik machen darf -, sich an die Blockfreien zu wenden. Sudan ist Teil der Blockfreien. Diese hatten eine Konferenz mit 128 Staaten. Man weiß, wie eng die Zusammenarbeit Südafrikas und übrigens auch Kubas mit dem Sudan ist. Warum setzt man die Regierung Sudans nicht stärker über die Blockfreien unter Druck? Das wäre eine Aufgabe der Politik. ({7}) Warum blenden wir einfach aus, dass China 70 Prozent der Erdölförderung im Sudan in den Händen hält? China hat mindestens 1 000 Soldaten im Sudan, die die Pipelines absichern. Warum blendet man die drohende Gefahr aus, dass die Staatlichkeit des Sudans auseinander fällt? Der Süden des Sudans steuert doch auf einen eigenen Staat zu; bei Darfur ist es nicht anders. Wenn man aber nicht garantieren kann, dass die Staatlichkeit des Sudans erhalten bleibt, muss man sich bewusst sein, dass ein neuer Konfliktherd von ungeheurer Dimension entstehen könnte, in dem sich dann viele Soldaten aufhalten. Das kann doch nicht Absicht vernünftiger Politik sein. ({8}) Deshalb mein Rat: Wenn man sich nicht sicher ist, lieber Nein sagen. Dann kann man nämlich weiter diskutieren. Danke sehr. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mich noch sehr gut an die langen und sehr komplizierten Verhandlungen über das Naviasha-Friedensabkommen erinnern, an denen ich als Staatsministerin teilgenommen habe. Ich weiß, dass, als dieses Abkommen nach mehr als 21 Jahren Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden, einem der blutigsten und längsten Bürgerkriege Afrikas, endlich unter Dach und Fach war, das als sehr großer Erfolg für die Menschen vor Ort wahrgenommen wurde. Lieber Herr Gehrcke, meine Damen und Herren von der PDS, ({0}) ich kenne auf der internationalen Ebene wirklich niemanden, der ernsthaft die Notwendigkeit von UNMIS infrage stellt. ({1}) Bei diesem Mandat von einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu reden, ist einfach völlig absurd. ({2}) Ich will einmal den Versuch machen, Ihnen das zu erklären. ({3}) Zunächst einmal ist Militäreinsatz nicht gleich Militäreinsatz, sehr geehrter Herr Gehrcke. Anders als bei Darfur ist es hier zum Beispiel so, dass beide Konfliktparteien - ich habe diese Gespräche geführt, bevor man Kerstin Müller ({4}) überhaupt international darüber gesprochen hat - ausdrücklich eine UNO-Mission gewünscht haben. Wenn man sich den Fahrplan des Abkommens und die UN-Resolution ansieht, stellt man fest, dass es hier vor allen Dingen um die politische Absicherung eines komplizierten Prozesses durch die internationale Gemeinschaft geht. Es geht um den Aufbau von Zivilpolizei, Menschenrechtsförderung, Demobilisierung der Milizen und Flüchtlingsrückkehr. All das ist in der Resolution enthalten. Vor diesem Hintergrund gehört, wie ich finde, viel politische Ignoranz dazu, aus einem friedensunterstützenden Mandat ein Kriegsmandat zu konstruieren. Das ist einfach völlig realitätsfern. ({5}) Sie begründen es damit, dass es nach Kapitel VII mandatiert ist, obwohl es im Kern um ein Überwachungs- und Beobachtungsmandat geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, da sind an Ihnen einfach zehn Jahre Debatte um UNO-Peacekeeping vorbeigegangen. Darüber hat man innerhalb der UNO diskutiert. Es gibt einen Brahimi-Report. Nach Ruanda und Srebrenica werden alle Einsätze nach Kapitel VII mandatiert. Weil es eben zu schwierigen Situationen in Postkonfliktgesellschaften kommen kann, ist es unverantwortlich, Soldaten in einen Einsatz zu schicken, ohne diesen nach Kapitel VII zu mandatieren, auch wenn er im Kern nur der Überwachung dient. ({6}) Meine Fraktion wird jedenfalls der Entsendung von unbewaffneten Militärbeobachtern - das ist nämlich der deutsche Beitrag; das haben Sie eben auch unterschlagen, Herr Gehrcke - in diese Mission zustimmen. Auch ich bin unmittelbar nach dem Krieg im Süden gewesen. Ich muss sagen, ich habe selten eine so zerstörte Region gesehen. Nach 21 Jahren Bürgerkrieg fangen die Menschen dort bei null an; Sie haben es eben geschildert. Es wurde aber schon jetzt einiges erreicht; insgesamt wird man aber noch lange für den Aufbau brauchen. Immerhin ist der Waffenstillstand stabil; die Demobilisierungsprogramme laufen; es gibt inzwischen eine Regierung der nationalen Einheit; Schulen sind wieder in Betrieb; Minen werden geräumt und Flüchtlinge kehren zurück. Kofi Annan hat aber in seinem Bericht vom September auch Probleme benannt: Bei der Wahlvorbereitung und bei der Macht- und Ressourcenaufteilung gibt es leider kaum Fortschritte. Ich möchte mich ganz klar den Forderungen Annans anschließen, damit dieses Friedensabkommen letztlich zum Erfolg wird: Erstens. Beide Parteien müssen sich wirklich strikt an die Umsetzung des Friedensabkommens halten. Zweitens. Die internationale Unterstützung des Friedensprozesses muss dringend ausgebaut werden. Da möchte ich mich an die Bundesregierung wenden: Eine reine Mandatsverlängerung für die deutschen Militärbeobachter reicht nicht - obwohl man sie braucht -, sondern wir brauchen einen massiven Ausbau ziviler Hilfsprogramme im Süden Sudans, zum Beispiel für die Flüchtlingsrückkehr. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen musste jetzt am 15. September den Abbruch seiner Programme für den Fall ankündigen, dass es nicht mehr Mittel erhält. Ich meine, hier wie in anderen Bereichen muss Deutschland der UNO aktiv Hilfe anbieten. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, zumindest teilweise die 2005 in Oslo in Aussicht gestellten Mittel für die Entwicklung des Südens endlich freizugeben - nicht für den Norden, aber für den Süden -, denn der Süden muss die Chance auf Entwicklung haben. ({7}) Der Frieden im Süden steht aber auch auf dem Spiel - da ist der Zusammenhang -, wenn es nicht gelingt, die Gewalt in Darfur und übrigens auch in anderen Teilen des Sudans zu beenden. Wir brauchen deshalb endlich diplomatische Initiativen der Bundesregierung im Hinblick auf Darfur, ({8}) zum Beispiel mehr Druck auf die Schutzmächte Khartoums, Russland und China. Das ist der Hintergrund, warum wir nur um 14 Tage verlängern. Die UNO hat Khartoum eine Frist gesetzt, der Erweiterung von UNMIS zuzustimmen. Ich muss sagen: Es ist völlig kontraproduktiv, wenn die Bundeskanzlerin, wie in der Haushaltsdebatte geschehen, offenkundiges Desinteresse an Darfur zeigt. Wir brauchen jetzt diplomatische Initiativen der Regierung, wir dürfen nicht den Druck von der sudanesischen Regierung nehmen. Ich erwarte von der deutschen Bundesregierung, dass sie sich im Fall Darfur endlich an die Spitze der Bewegung in Europa setzt - da muss man erst einmal diplomatisch aktiv werden - und alles tut, um das Drama zu beenden. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem schon mehrfach angesprochenen Comprehensive Peace Agreement von Nairobi wurde ein 20 Jahre währender Bürgerkrieg formell beendet. Angesichts der Dauer des Krieges, der zu einer kaum beschreibbaren humanitären Katastrophe mit zwei Millionen Toten und vier Millionen Binnenvertriebenen geführt hat, stellt das Friedensabkommen zweifelsfrei einen Erfolg dar. Ich glaube, jedem, der sich mit der Sache befasst hat, ist bewusst, dass dieses Friedensabkommen nur zustande gekommen ist, weil die Vereinten Nationen mit dem UNMIS-Mandat klare Unterstützung auch mit militärischer Komponente zugesagt haben. Ansonsten könnten wir davon ausgehen, weiter jeden Tag Tod, Mord und Plünderungen im Südsudan zu erleben. Ich glaube, das kann niemand in diesem Hohen Hause wollen. ({0}) Wir wissen auch, dass das Friedensabkommen allein noch nicht bedeutet, dass im Südsudan materiell Frieden eingetreten ist. Deshalb fordern wir - das ist ein Kern der Auseinandersetzung, mit der wir es zu tun haben -, dass im Vordergrund steht, zivile Aufbauhilfe für den Südsudan zu leisten. Dies geschieht auch; das haben wir mit eigenen Augen erlebt. Aber sie wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie in einem Klima der Sicherheit stattfindet. Für diese Sicherheit ist das UNMIS-Mandat aus meiner Sicht nach wie vor erforderlich. Ansonsten würde UNMIS dort versagen. Das wäre ein Versagen der Völkergemeinschaft, eine Kapitulation vor Völkermord und anderem. Ich glaube, wir haben lange genug weggeschaut; das dürfen wir nicht weiter hinnehmen. ({1}) Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat vor drei Monaten den Südsudan besucht. Wir haben feststellen können, dass es dort zwar vorangeht, dass wir aber in der Tat von stabilen Verhältnissen noch sehr weit entfernt sind. In der Zeit, in der wir dort gewesen sind, sind in einem Nachbarort von Dschuba durch Überfälle von Rebellen neun russische Aufbauhelfer getötet worden. Ich glaube, in dieser Situation davon zu sprechen, man könne dort nur und ausschließlich Aufbauhilfe leisten, ohne gleichzeitig für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, ist einer der größten Fehler, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dann gehen die Menschen nämlich nicht mehr dorthin. ({2}) Wir sind auch mit Vertretern der südsudanesischen Regierung, mit Parlamentariern und mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengetroffen. Wenn man mit diesen Menschen redet, dann bekommt man einen anderen Eindruck als den, der hier zum Teil vermittelt werden soll. Eines ist völlig klar: Uns wurden viel Lob und Dank für das deutsche Engagement entgegengebracht, verbunden mit der Bitte, dort zu bleiben, weiterzumachen und mit der internationalen Völkergemeinschaft für dauerhaften Frieden zu sorgen. Mein Eindruck ist - das ist der Eindruck aller Ausschussmitglieder; ich glaube, auch des Kollegen der Linksfraktion -, dass im Südsudan in bestimmten Bereichen durchaus eine Aufbruchstimmung vorhanden ist. Der Südsudan hat sich eine fortschrittliche Agenda zum Ziel gesetzt. Das Friedensabkommen von Nairobi sieht einen Quasistaat Südsudan mit einer weit reichenden Autonomie vor. Entscheidende Teile des Friedensabkommens wurden auch umgesetzt, zum Beispiel die Verabschiedung der Verfassung. Diese Verfassung enthält Elemente aus einem modernen Grundrechtekatalog, von denen viele westliche Demokratien nur träumen können. Wir sollten entsprechende Anstrengungen, diese Verfassung zu implementieren, massiv unterstützen. ({3}) Die Menschenrechtssituation hat sich gerade im Vergleich zum immer wieder angesprochenen Konflikt in Darfur deutlich verbessert, wenn auch das Niveau, was die Menschenrechte betrifft, noch nicht ausreichend ist. Wir konnten aber zu der Feststellung gelangen, dass zumindest der Südsudan auf einem guten und richtigen Weg ist. Unterstützung ist notwendig, damit die jahrzehntelang marginalisierte Bevölkerung in dieser Region endlich Zugang zu dem bekommt, was sie am dringendsten braucht, nämlich Zugang zu einem funktionierenden Gesundheits- und Bildungssystem. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Einige Vorstellungen ließen sich leider nicht umsetzen. Es ist schon angesprochen worden, dass sich der Aufbau jeglicher Infrastruktur noch nahezu am Nullpunkt befindet. Das Land ist nach wie vor zerstört. Die Entwaffnung und die Wiedereingliederung der Milizen müssen entschiedener vorangetrieben werden. Viele junge Menschen in diesem Land - das muss man sich einmal vorstellen - haben in ihrem Leben bislang nichts anderes als den Dienst an der Waffe erlebt. Die Waffe war für sie das, was für andere die Familie ist. Man muss daher dafür sorgen, dass es eine Kompensation gibt, damit die Menschen in Frieden leben können. Die Entwaffnung kann eben nicht nur mit zivilen Organisationen und mit zivilen Mitteln durchgeführt werden. Auch dafür brauchen wir weiterhin die UNMIS-Mission, an der die Bundeswehr beteiligt ist. ({4}) Wir müssen des Weiteren die Feststellung treffen, dass der Aufbau im Südsudan mit einer zarten Pflanze zu vergleichen ist. In diesem krisengeschüttelten Umfeld ist nach wie vor nichts sicher. Die Bundeswehr leistet - das ist meine fest Überzeugung; sie steht im Gegensatz zu dem, was Sie verbreiten - dort keinen Beitrag zu einem Krieg. Wer die Meinung vertritt, dass sich deutsche Außenpolitik in der letzten Zeit ausschließlich an Bundeswehreinsätzen orientiert, der verbreitet Propaganda, die hier nicht hingehört. Die Bundeswehr unterstützt den Aufbau einer zivilen Gesellschaft. Eine solche Politik brauchen wir und sie ist - davon bin ich fest überzeugt ohne die Bundeswehr nicht möglich. ({5}) Es ist richtig: Es gibt die Verknüpfungen zum Darfurkonflikt. Wer in den letzten Jahren vor Ort gewesen ist, der kann nicht begreifen, wie man nicht der Auffassung sein kann, dass die internationale Staatengemeinschaft mit massiven Kräften einen Völkermord verhindern muss. Auch hier haben wir zivile Komponenten in die Diskussion gebracht. Es ist wichtig, unter Menschenrechtsaspekten noch folgenden Punkt anzusprechen. Es gibt nach wie vor - auch Deutschland ist daran sehr aktiv beteiligt - die angekündigten Maßnahmen des Internationalen Strafgerichtshofs. Wer sagt, wir dürfen ausschließlich mit Gesprächen Herrn al-Baschir dazu zwingen, sich anders zu verhalten, der kennt Herrn al-Baschir nicht richtig. Die Verhandlungen mit sudanesischen Regierungstruppen, die wir geführt haben, zeigen, dass es nur mit Druck geht. Deswegen muss auch mit deutscher Hilfe die Strafandrohung durch den ICC aufrechterhalten werden. Das ist eine klare Bewährungsprobe für den Internationalen Strafgerichtshof. Wenn er an dieser Stelle versagt, dann wird das internationale Gewaltmonopol der Vereinten Nationen in noch weitere Ferne rücken, als es ohnehin schon der Fall ist. Ich bin unter Menschenrechtsaspekten voller Überzeugung der Meinung, dass das UNMIS-Mandat in der vorgesehenen Form verlängert werden muss. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über den UNMIS-Einsatz der Vereinten Nationen ist in der Vergangenheit mehrfach in diesem Hause dabattiert worden. Heute geht es wieder um den deutschen Beitrag an UNMIS, das heißt um den Einsatz von maximal 75 deutschen Soldaten im Sudan. UNMIS ist ein wesentlicher Beitrag der internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung eines vielschichtigen Friedensprozesses. Zum Frieden haben sich die Konfliktparteien im Sudan verpflichtet. Es geht im Wesentlichen - das ist in dieser Debatte schon angeklungen um die Umsetzung des Friedensvertrages von Nairobi, der am 9. Januar 2005 vereinbart worden ist. Im Frühjahr 2005 hat sich die internationale Gemeinschaft auf der Grundlage der UN-Resolution 1590 für diese friedensbildende Mission entschieden. Der Einsatzschwerpunkt ist der Südsudan. Am 22. April 2005 haben wir im Deutschen Bundestag auf Antrag der Bundesregierung einer deutschen Beteiligung zugestimmt. Wir haben den deutschen Beitrag zu UNMIS in sechsmonatigen Intervallen verlängert, zunächst im September 2005 und dann im April 2006. Seit dem Beginn von UNMIS ist Deutschland nicht nur humanitär, sondern auch durch eine militärische Komponente beteiligt, aktuell mit 36 Soldaten. Das zeigt: Deutschland nimmt in der Welt Verantwortung wahr. Das entspricht unserer Position in Europa ebenso wie unserer Position in der internationalen Gemeinschaft. Wir handeln auf der Grundlage einer gemeinsamen Werte- und Interessenlage. ({0}) Wir handeln im Rahmen der internationalen Verpflichtungen, die Deutschland hat. Der Sudan ist der flächengrößte Staat auf dem afrikanischen Kontinent, siebenmal so groß wie Deutschland. Im Sudan leben unterschiedlichste Ethnien und treffen verschiedene Religionen aufeinander. Wie die Konflikte dort gelöst werden und wie Frieden erreicht werden kann, hat Auswirkung auf die gesamte Region. Die Krise im Sudan kostete Millionen von Menschen das Leben und hat Millionen von Menschen zur Flucht genötigt. Destabilisierte Staaten bieten Potenziale für den internationalen Terrorismus, eine Frage, die uns dann im gleichen Maße betrifft. Wir sind daher weit über die humanitäre Verantwortung hinaus gefordert. Es gibt die Grundüberzeugung, dass allein eine militärische Mission nicht dazu geeignet ist, einen verlässlichen Frieden zu erzielen. Dennoch wird unsere Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, in Zukunft auch die Bereitschaft zu militärischen Komponenten beinhalten. Das Programm von UNMIS ist umfassend ausgerichtet. Es geht um die Umsetzung des Vertrages von Nairobi. Es geht um die Aufklärung der Bevölkerung in diesem Friedensprozess. Es geht aber ebenso um die Entwaffnung und die Eingliederung der Milizen in nationale Strukturen. Es geht um den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen mit einer unabhängigen Rechtsprechung und einer zivilen Polizei. ({1}) Es geht um Hilfe bei der Gewährleistung der beschlossenen sechsjährigen Übergangsphase. Es geht aber auch um den Schutz der humanitären Hilfe und der Helfer und um den Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung. Unsere Zustimmung zur deutschen Beteiligung an UNMIS haben wir im Frühjahr 2005 getroffen. Mit den UN-Resolutionen 1706 und 1709 hat sich die Situation geändert. Darauf in einer Debatte hier im Bundestag zu reagieren und den deutschen Beitrag nicht im vereinfachten Verfahren zu verlängern, ist meines Erachtens angemessen. Wir zeigen damit unser ungebrochenes Interesse an der Umsetzung des Friedensabkommens von Nairobi. Wir zeigen aber auch, dass wir mit gleich brennender Sorge auf die Eskalation besonders im Westsudan, in Darfur, blicken, auch wenn es in diesem Gebiet nicht um einen deutschen Einsatz im Rahmen von UNMIS geht. Wir legen mehr als nur ein Bekenntnis der Solidarität mit den Millionen Opfern und den Millionen Flüchtlingen im Sudan ab. Wir erneuern unsere Zusage, aktiv zu helfen. Anke Eymer ({2}) ({3}) De facto wird es zukünftig zwei UNMIS-Teilmissionen geben. Der zukünftige deutsche Beitrag im Rahmen von UNMIS wird voraussichtlich keine Aktionen in der Region Darfur, also im Westsudan, umfassen; unsere Beteiligung, über die wir hier heute befinden, wird unverändert den Schwerpunkt im Südsudan haben. Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- sache 16/2777 zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2700 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung - Drucksache 16/2504 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren - Drucksache 16/2652 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die 1) Seite 5237 D Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kornelia Möller, Fraktion Die Linke. ({2})

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland ist eines der Schlusslichter in Europa bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit. Für einen großen Teil der 2,9 Millionen Langzeitarbeitslosen fehlen Arbeitsplätze, und das augenscheinlich noch für eine lange Zeit. Hinzu kommen verschiedene Vermittlungshemmnisse. Fazit: Unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingungen haben diese Frauen und Männer auch längerfristig kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz. Sie wurden ausrangiert. Ältere sind besonders hart dran. Entgegen allen Beteuerungen stellen Betriebe nur selten jemanden aus dem Personenkreis 50 plus ein. Mit den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist es Rot-Grün nicht gelungen, die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen. Stattdessen trugen diese Gesetze und die in diesem Zusammenhang von Schwarz-Rot auf den Weg gebrachten Gesetze erheblich zur Verschärfung der sozialen Lage arbeitsloser Menschen bei. Nach dem Bericht des Bundesrechnungshofes kritisierte „Report Mainz“ am vergangenen Montag, dem 25. September, dass die Arbeitsagenturen Millionen von Betroffenen rechtswidrig aussortieren. ({0}) - Ja, ein Skandal erster Güte. So ist es. Der von uns auf die Tagesordnung gesetzte Antrag zur Ausweitung und für eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung ist sozial gerecht und entspricht einem breiten öffentlichen Bedürfnis. ({1}) Der DGB sowie einige seiner Einzelgewerkschaften, das Diakonische Werk, die Arbeiterwohlfahrt, aber auch kleinere Organisationen, zum Beispiel der Kirchenkreis Bielefeld oder die Berliner Initiative „Kampagne gegen Hartz IV“, haben in den letzten Wochen und Monaten Vorschläge und Initiativen zu öffentlich finanzierter Beschäftigung in die Debatte gebracht. Dass es geht, hat unser Arbeitsminister Helmut Holter in MecklenburgVorpommern gezeigt. 665 Schulsozialarbeiterstellen wurden dort geschaffen. Gesellschaftlich wichtige Arbeit wird geleistet. ({2}) Weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen uns und den anderen Akteuren auch im wichtigen Bereich der Finanzierung. Statt Arbeitslosigkeit soll sozialversicherungspflichtige Arbeit auf freiwilliger Basis finanziert werden. ({3}) Möglich wird dies durch eine Bündelung von Finanzmitteln, die gegenwärtig sowieso aufgebracht werden: für das Arbeitslosengeld II, die Kosten der Unterkunft, die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die Mehraufwandsentschädigungen für 1-Euro-Jobs sowie die Mittel, die die Trägereinrichtungen von 1-Euro-Jobs pauschal erhalten. Nach Auffassung der Linksfraktion sollen auch im Bereich der öffentlich finanzierten Beschäftigung Mindestlöhne von 8 Euro plus gezahlt werden. ({4}) Um eine solide Startfinanzierung zu sichern, ist es notwendig, dass ein Teil der bei der Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr erzielten Überschüsse in das Jahr 2007 übertragen wird. Weitere Finanzierungsmöglichkeiten resultieren aus Länderprogrammen, aus ESF-Mitteln sowie aus finanziellen Mitteln von Unternehmen, die sich als Träger an öffentlich geförderter Beschäftigung beteiligen. Sie sehen, meine Damen und Herren der Koalition: Geld ist da. Ihnen fehlte bislang allein der Wille zu handeln. Selbst die Vorstellungen der Bundesagentur für Arbeit zu alternativen Beschäftigungsformen im Bereich des SGB II müssen seit Monaten in den Schubladen schmoren, weil die Politik kein Zeichen gibt. Ich erinnere Sie an Ihre Aussage im Koalitionsvertrag: Personen, deren Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist und die keine Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt finden können, müssen eine Perspektive bekommen. Was sagen Sie den Langzeitarbeitslosen in Ihrem Wahlkreis in Vorpommern, Frau Merkel, oder Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihren Wahlkreisen? Was sagen Sie denen, die sich nicht mehr von Ihnen vertreten, sondern allein gelassen und preisgegeben fühlen - und dies vielleicht auch wissen -, denen, die sich entmutigt durch Ihre Politik von der Demokratie abwenden? ({5}) Die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit sind für die Menschen erheblich. „Arbeitslose sterben früher als Erwerbstätige“ titelte „Die Welt“ am 14. August dieses Jahres und nahm Bezug auf die Studie der Universität Leipzig, die darauf aufmerksam macht, dass sich der Gesundheitszustand arbeitsloser Menschen drastisch verschlechtere und sich ihre Lebenserwartung verkürze. Langzeitarbeitslosigkeit zerstört Familien und entzieht Menschen eine würdevolle Gegenwart und Zukunft. Noch einmal: Geld ist da. Handeln Sie endlich! ({6}) Wenn Sie unserem heute vorgelegten Antrag zustimmen, erhalten 500 000 Menschen, die entsprechend unserem Antrag in einem öffentlich finanzierten Sektor existenzsichernde und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden würden, eine Zukunft, die sie mit Hartz IV nicht haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Denn auch heute gilt: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Hartz IV muss weg. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich komme zu Tagesordnungspunkt 7 zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan, Drucksachen 16/2700 und 16/2777, bekannt: abgegebene Stimmen 564. Mit Ja haben gestimmt 504, mit Nein haben gestimmt 48, Enthaltungen 12. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 563; davon ja: 503 nein: 48 enthalten: 12 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann ({0}) Dr. Christoph Bergner Clemens Binninger Carl-Eduard von Bismarck Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Anke Eymer ({1}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Holger Haibach Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({9}) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({11}) Maria Michalk Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({12}) Stefan Müller ({13}) Bernward Müller ({14}) Hildegard Müller Bernd Neumann ({15}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Daniela Raab Hans Raidel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({16}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht ({17}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({18}) Hermann-Josef Scharf Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Andreas Schmidt ({19}) Ingo Schmitt ({20}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Thomas Strobl ({21}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({22}) Gerald Weiß ({23}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Ernst Bahr ({24}) Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Volker Blumentritt Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({25}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Angelika Graf ({26}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({27}) Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Gerd Höfer Iris Hoffmann ({28}) Frank Hofmann ({29}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Johannes Jung ({30}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({31}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Markus Meckel Petra Merkel ({32}) Ulrike Merten Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({33}) Michael Müller ({34}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Johannes Pflug Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche ({35}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({36}) Michael Roth ({37}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({38}) Axel Schäfer ({39}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Ulla Schmidt ({40}) Silvia Schmidt ({41}) Renate Schmidt ({42}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({43}) Carsten Schneider ({44}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({45}) Swen Schulz ({46}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Christoph Strässer Dr. Peter Struck Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Simone Violka Jörg Vogelsänger Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gert Weisskirchen ({47}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({48}) Heidi Wright Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Daniel Bahr ({49}) Uwe Barth Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Patrick Döring Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({50}) Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({51}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Dr. Werner Hoyer Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link ({52}) Markus Löning Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Joachim Otto ({53}) Detlef Parr Cornelia Pieper Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({54}) Martin Zeil BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Volker Beck ({55}) Cornelia Behm Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Kai Gehring Anja Hajduk Britta Haßelmann Peter Hettlich Priska Hinz ({56}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Undine Kurth ({57}) Monika Lazar Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Kerstin Müller ({58}) Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Claudia Roth ({59}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Irmingard Schewe-Gerigk Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({60}) Nein CDU/CSU Wolfgang Börnsen ({61}) Dr. Peter Gauweiler Henry Nitzsche Willy Wimmer ({62}) SPD Gregor Amann Petra Hinz ({63}) DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Karin Binder Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Diana Golze Heike Hänsel Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger-Neuling Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Ulla Lötzer Ulrich Maurer Dorothee Menzner Kersten Naumann Elke Reinke Paul Schäfer ({64}) Volker Schneider ({65}) Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Dr. Kirsten Tackmann Alexander Ulrich Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann fraktionslos Gert Winkelmeier Enthalten FDP Miriam Gruß Jürgen Koppelin Gisela Piltz DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Roland Claus Dr. Gregor Gysi Dr. Barbara Höll Michael Leutert Dr. Gesine Lötzsch Petra Pau Dr. Petra Sitte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die Beschlussempfehlung ist angenommen. ({66}) Wir setzen unsere Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion. ({67})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Antrag will die Fraktion Die Linke die Arbeitslosigkeit durch öffentlich finanzierte Beschäftigung bekämpfen, während der Antrag der Grünen darauf zielt, Beschäftigung für die circa 400 000 Menschen zu organisieren, die heute Arbeitslosengeld II beziehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt aber vermutlich keine Chance haben. ({0}) Ich komme auf diese Anträge zurück. Zunächst will ich aber einige Vorbemerkungen machen. Die neue Regierung ist mit zwei großen Zielen angetreten: erstens die staatlichen Finanzen in Ordnung zu bringen und zweitens die Arbeitslosigkeit abzubauen bzw. die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse zu erhöhen. Diese Vorgehensweise wurde mit den Begriffen Investieren, Konsolidieren und Reformieren formuliert. Trotz aller Schwierigkeiten auf diesem Wege, die ich gar nicht bestreiten will, gibt es zwei harte Fakten, die belegen, dass die Regierung auf diesem Wege erfolgreich ist: ({1}) Erstens. Im Mai dieses Jahres waren die tatsächlichen Steuereinnahmen zum ersten Mal höher als die erwarteten. Das hat es seit fünf Jahren nicht mehr gegeben. ({2}) Ich gehe davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt und dass die Maastrichter Stabilitätskriterien entgegen der zuvor formulierten Erwartung der Regierung am Ende dieses Jahres möglicherweise doch eingehalten werden können. Dies ist deshalb so wichtig, weil nur ein Staat mit gesunden Finanzen auf Dauer in der Lage ist, in die Zukunft zu investieren: in Infrastruktur, Forschung und Bildung. Wir wollen in die Verbesserung der Infrastruktur und in die Erhaltung der vorhandenen Infrastruktur investieren. Das sichert sofort Arbeitsplätze und ist allemal besser als irgendein öffentlich finanziertes Beschäftigungsprogramm. ({3}) Zweitens. Die Bundesagentur für Arbeit hat heute vermeldet, dass die Arbeitslosigkeit im September dieses Jahres gegenüber dem Vorjahresmonat um 409 000 Personen zurückgegangen ist. Das ist höchst ermutigend. Ferner teilte die Bundesagentur mit, dass auf dem ersten Arbeitsmarkt 824 000 offene Stellen gemeldet sind; das sind 180 000 mehr als vor einem Jahr. Besonders erfreulich aber und ein Beweis dafür, dass die Regierung auf dem richtigen Wege ist, ist die Mitteilung der Bundesagentur, dass mittlerweile der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zum Rückgang der Arbeitslosigkeit beiträgt. Darauf mache ich besonders aufmerksam, weil damit ein sechsjähriger Negativtrend endlich gebrochen ist. ({4}) Von September 2000 bis einschließlich April 2006 ist die Zahl der ordentlich Beschäftigten in jedem nur denkbaren Vergleich mit den Vorjahresmonaten zurückgegangen. Insgesamt sind in diesem Zeitraum auf dem ersten Arbeitsmarkt 1,8 Millionen ordentliche Beschäftigungsverhältnisse verloren gegangen. Im Mai 2006 waren erstmals 103 664 mehr Beschäftigte als im Mai des Vorjahres zu verzeichnen. Im Juni waren es bereits 128 634 mehr. Heute vermeldet die Bundesagentur, dass die Zahl der ordentlich Beschäftigten im Juli 2006 um 194 000 höher war als im Juli 2005. Die Bundesagentur vermeldet ferner - das halte ich für besonders wichtig -, dass die Zunahme in allen Bundesländern außer dem Saarland stattgefunden hat. Ich gehe davon aus, dass sich diese Trendumkehr im August und September fortgesetzt hat, obwohl die Zahlen dazu noch nicht vorliegen. ({5}) - Ich komme dazu. - Von 28 285 045 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im September 2002 waren wir auf 25 815 795 im Februar 2006 zurückgefallen. Dieser Rückgang hatte verheerende Folgen für die Steuereinnahmen und vor allem für die sozialen Sicherungssysteme: Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zahlen ja nicht nur Lohnsteuer, sie finanzieren auch - gemeinsam mit den Arbeitgebern - unsere Sozialkassen. Die nun festzustellende Trendumkehr ist für unsere gesamte Volkswirtschaft, für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme und für den Arbeitsmarkt von allergrößter Bedeutung. Über die grundsätzliche Weichenstellung zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt ist die Bundesregierung vor allem bemüht, die Langzeit- und Altersarbeitslosigkeit zu reduzieren. ({6}) Deshalb wird die Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik weitere Weichen stellen. Zwei Ansätze stehen im Mittelpunkt der Bestrebungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: erstens eine sinnvollere Ordnung im Niedriglohnbereich und zweitens eine effizientere Organisation im SGB II. ({7}) Die Bundesregierung hat daher mit Kabinettsbeschluss vom 23. August 2006 die Arbeitsgruppe „Arbeitsmarkt“ eingesetzt, die heute in Form einer Anhörung ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie wird neben der effizienteren Umsetzung des SGB II die Themen Kombilohn, Mindestlohn und dritter Arbeitsmarkt ausleuchten und Lösungen vorlegen. Des Weiteren hat die Bundesregierung mit den Eckpunkten der Initiative „50 plus“ ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Fokus gerückt. Ein Instrument ist der Kombilohn für Menschen über 50 Jahre. Sie sollen möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden und, wenn sie weniger Lohn bekommen als auf ihrer letzten Stelle, einen Zuschuss bekommen. Zum Antrag der Fraktion Die Linke. Diesen Antrag lehnen wir ab. Wer ihn liest, stellt fest, dass sich Die Linke von Planwirtschaft und Staatsdirigismus noch immer nicht verabschiedet hat. ({8}) Sie hängen nach wie vor dem Motto an: Der Staat sammelt Geld ein, der Staat verteilt das Geld und alle haben Arbeit, und sei es staatlich finanzierte. Woher allerdings das Geld kommen soll, wenn nicht durch Wertschöpfung, sagt von der Linken niemand. Diese Antwort bleiben Sie uns schuldig. ({9}) - Zu der Finanzierung, die Sie vorgeschlagen haben, komme ich noch. Zum Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen. ({10}) Der Antrag der Grünen ist da schon ganz anders. ({11}) In der Analyse der tatsächlichen Situation liegen wir gar nicht weit auseinander: ({12}) Eine nicht kleine Gruppe der ALG-II-Bezieher, circa 400 000, hat auf dem ersten Arbeitsmarkt, wie man realistischerweise sagen muss, keine Chance. Sie können aller Voraussicht nach auf dem regulären Arbeitsmarkt kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielen. Die Gründe hierfür sind sehr verschieden: mangelnde Qualifikation, lange Arbeitslosigkeit oder andere Vermittlungshemmnisse wie soziale oder seelische Probleme. Wir wollen die Betroffenen keinesfalls als erwerbsunfähig abschreiben und in die Sozialhilfe abdrängen. Insofern wäre eine dauerhafte Förderung der Betroffenen in einem dritten Arbeitsmarkt zumindest eine Option, die geprüft werden muss. ({13}) Doch es darf nicht sein, dass auf der einen Seite strikte Sanktionen gefordert werden und auf der anderen Seite derjenige mit einer dauerhaften Beschäftigung „belohnt“ wird, der sich - möglicherweise nachhaltig - der Jobvermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt entzieht. ({14}) Zudem stellt sich mir die Frage, ob der Zeitpunkt für solche Überlegungen nicht zu früh ist, da die Arbeit in den Argen und den Optionskommunen derzeit noch nicht richtig funktioniert. Ich verweise hier auf den Bericht des Bundesrechnungshofes. Im Moment sind noch zu viele Empfänger von ALG II im System, die arbeiten könnten, bisher aber nicht die entsprechenden Angebote oder Anreize erhalten haben. Es kommt ganz wesentlich auf die korrekte Umsetzung dieser Idee an: ob sie als richtige Ergänzung zu den arbeitsmarktorientierten Instrumenten des SGB II funktioniert oder ob sie diese möglicherweise konterkariert. Diesbezüglich sind zum jetzigen Zeitpunkt zu viele Fragen offen, die noch beantwortet werden müssen. Deshalb lehnen wir den Antrag der Grünen ebenfalls ab. ({15}) Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes feststellen: Durch alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Sinne von Arbeitsbewirtschaftung konnte letztendlich nicht verhindert werden, dass wir heute eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland haben. Das gilt auch für die letzten 40 Jahre, egal unter welcher Regierung. Deshalb hat diese Regierung zu Recht den Schwerpunkt darauf gelegt, auf dem ersten Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. Mit der Mehrwertsteuererhöhung werden die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um mindestens 2 Prozentpunkte gesenkt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das führt dazu, dass die Menschen, die arbeiten und Beiträge zahlen, netto mehr in der Tasche behalten und gleichzeitig die Arbeitskosten sinken. Das ist das beste Programm für mehr Beschäftigung in Deutschland. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Rauen, kommen Sie bitte zum Ende.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Schluss. Wenn es die Finanzen der Bundesagentur für Arbeit dauerhaft hergeben, dann muss die Senkung auch höher als die genannten 2 Prozentpunkte ausfallen. Die Überschüsse der Bundesagentur müssen an die zurückgegeben werden, denen das Geld gehört. Das sind diejenigen, die ordentlich arbeiten, und die Unternehmen, für die sie arbeiten. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Rauen!

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies ist allemal zielführender als der Vorschlag der Linken, dieses Geld in Beschäftigungsprogramme zu stecken. Schönen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Brigitte Pothmer. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Gegensatz zu anderen Kollegen hier im Haus habe ich eben immer noch etwas zu sagen. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Raunen, ({1}) schade eigentlich: Sie hatten so gut angesetzt, als es um den Antrag der Grünen ging.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Entschuldigung, Frau Pothmer, der Kollege heißt Rauen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sagte ich das nicht?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein. Ich wollte das nur kurz klarstellen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ging ein Raunen durch das Haus. War es so? Herr Rauen, ich finde, Sie haben gut angefangen, als es um den Antrag der Grünen ging. Deswegen war die Konsequenz, die Sie daraus gezogen haben, aus meiner Sicht überhaupt nicht logisch. Natürlich sind wir alle froh, wenn sich der Arbeitsmarkt entspannt. Wenn Sie aber einmal ein bisschen genauer hinschauen würden, dann würden Sie sehen, dass wir es mit einem sehr gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun haben. Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, dann betrifft das leider nicht die Langzeitarbeitslosen. Deren Zahl steigt immer weiter an. ({0}) Herr Rauen, diesem Teil der Betroffenen müssen Sie ein Angebot machen. Hier reicht es bei weitem nicht aus, zu sagen, die Argen und die Optionskommunen würden noch nicht richtig arbeiten, vielleicht aber später einmal. Ich sage Ihnen: Später kann für viele viel zu spät sein. Ich glaube, das zeichnet leider auch die Arbeit der großen Koalition aus. Wenn ein Problem auftaucht, dann vertagen Sie die Lösung und setzen sich in eine Arbeitsgruppe. Es geht dann nicht weiter. Deswegen haben wir Ihnen ein Konzept speziell für diese Gruppe vorgelegt, von der wir ganz sicher sind, dass sie unter den gegebenen Bedingungen - das will ich hier betonen - bis auf weiteres keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben wird, weil die persönlichen beruflichen Profile dieser Menschen zu stark von den Anforderungen abweichen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt derzeitig gestellt werden. Herr Rauen, Sie wissen im Übrigen seit langem, dass diese Menschen leider auch nicht von Konjunkturaufschwüngen profitieren. Diese Gruppe bleibt leider auch bei Konjunkturaufschwüngen arbeitslos. Deshalb müssen Sie dort mit anderen Instrumenten herangehen. ({1}) Es nützt dabei überhaupt nichts, sie von einem 1-EuroJob in den nächsten und danach in die nächste Qualifizierung zu stecken. Das ist rausgeschmissenes und nicht sinnvoll eingesetztes Geld, Herr Rauen. Das frustriert die Menschen. Es geht darum, diesen Menschen auch eine langfristige Perspektive zu geben; ({2}) denn auch für sie trifft das zu, was für andere zutrifft: dass Arbeit sehr viel mehr ist, als Geld zu verdienen. Es geht auch darum, wieder Anschluss zu finden, eine sinnstiftende Tätigkeit auszuüben und Mitglied in der Gesellschaft zu sein. ({3}) Das dürfen Sie auch diesen Menschen nicht verwehren. Wir machen hier ein Angebot, das kostenneutral ist. Wir sagen Ihnen: Es geht auch, ohne dass Sie mehr Geld in die Hand nehmen. Sie müssen das Geld einfach nur sinnvoll einsetzen, indem Sie die aktiven und die passiven Leistungen zusammenlegen. Warum schmeißen Sie das Geld für 1-Euro-Jobs heraus? Warum legen Sie dieses Geld nicht mit dem Geld für die passiven Leistungen und dem Wohngeld zusammen? Dadurch können Sie für die Menschen, denen diese Leistungen zugute kommen, dauerhafte Perspektiven schaffen. Das ist gut für die Betroffenen, das ist aber auch gut für die Träger, bei denen diese Menschen arbeiten. So können Sie etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun. ({4}) Wir würden gerne noch ein weiteres Instrument einsetzen - Sie kennen das vielleicht nicht, daher sage ich es Ihnen einmal -, und zwar die Integrationsbetriebe. Die Integrationsbetriebe sind derzeit ein Instrument für behinderte Menschen. Warum muss das so bleiben? Da, wo es Sinn hat, kann man in diesen Betrieben auch Langzeitarbeitslose, die multiple Vermittlungshemmnisse haben, einsetzen. Geben Sie sich einmal einen Ruck! Sie haben doch längst eingesehen, dass unsere Vorschläge gut sind. Wir beraten darüber noch einmal im Ausschuss. Bis dahin werden wir bei der Begründung noch etwas nachlegen. Dann können Sie eigentlich nicht mehr Nein sagen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen über zwei Anträge. Wer diese Anträge gelesen hat, hat schnell feststellen können: Sie sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Die Zustandsbeschreibung in der Einführung beider Anträge kritisiere ich nicht; beide schildern die Situation zutreffend. Dazu wird es hier im Haus auch Zustimmung geben, zumal sie sich beide auf äußerst seriöse Quellen beziehen. Sie beschreiben allerdings auch ein Problem, das die große Koalition sehr ernst nimmt. Daran will ich gar keinen Zweifel lassen. Ehrlich gesagt bedurfte es beider Anträge nicht, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir als Politiker - insbesondere in der großen Koalition - genau für den Personenkreis, über den wir hier reden, derzeit Antworten entwickeln und Lösungen erarbeiten. Bei diesem Personenkreis handelt es sich um Menschen, die erwerbsfähig, aber arbeitsmarktfern sind, und die es aufgrund multipler Vermittlungshindernisse schwer haben, auf dem Arbeitsmarkt integriert zu werden. Genau deshalb braucht dieser Personenkreis unsere Aufmerksamkeit; genau deshalb braucht er auch unsere besondere Beachtung. Allerdings kann ich da nur sagen: Im Koalitionsvertrag ist das eindeutig als ein Thema festgelegt. Ich finde, daraus erwächst genau die politische Verpflichtung, der wir nachkommen. Aus der Zustandsbeschreibung schließe ich allerdings anderes als zum Beispiel Sie, Kollegin Möller, oder die Fraktion der Linken. Ihr Antrag liest sich so, als ob die Bundesregierung in den letzten Jahren keinerlei Arbeitsmarktpolitik betrieben hätte. ({0}) Da kann ich nur sagen: Offenbar haben Sie gar nicht zugehört, nicht hingeschaut und das nicht erlebt. ({1}) Sie gehen darauf gar nicht ein, Frau Möller. Ihr Refrain „Hartz muss weg!“ langweilt langsam. Denken Sie sich einmal etwas Neues aus. Das wissen wir alles schon. ({2}) Insofern wäre jetzt eine gute Gelegenheit, intensiver nach Lösungen zu suchen. ({3}) - Ja, darauf gehe ich gerne ein. Wenn ich mir anschaue, was Sie als Lösung vorstellen - da kann ich meinem Kollegen Rauen nur zustimmen -, dann stelle ich fest, dass Sie im Grunde Ihrem alten Modell von Staat und Politik verhaftet bleiben. Ihre Antwort ist eigentlich nur: mehr Staat, mehr Politik und wir in Berlin sollen das richten. Das halte ich für einen absolut unrealistischen Vorschlag. Ich finde ihn wirklich mager. Umso bombastischer sind aber die Effekte, die Sie sich ausrechnen. Sie sagen locker: ab Januar nächsten Jahres 150 000 Arbeitsplätze, bis 2009 weitere 350 000 Arbeitsplätze, also mal eben eine halbe Million Arbeitsplätze. 500 000 Menschen Arbeit zu versprechen und ihnen noch zu versichern, es sei locker möglich, mit 1 400 Euro im Monat nach Hause zu gehen, finde ich leichtfertig. Ich denke, das ist eine Politik, die überhaupt nicht realisierbar ist. Das kritisiere ich nachdrücklich an Ihrem Vorschlag. Aber so einfach ist das eben in der Opposition. ({4}) Deshalb denke ich auch, dass es vollkommen reicht, wenn man sich so weit mit Ihrem Antrag auseinander setzt. Vollkommen anders sehe ich es allerdings, verehrte Frau Pothmer, beim Antrag der Grünen. Darauf möchte ich jetzt eingehen. Ich denke, dass Sie sich in der Tat dem Thema wesentlich substanzieller nähern. ({5}) Das geht aus dem Antrag und auch aus dem zugrunde liegenden Positionspapier hervor. Es war mir eine Freude, das zu lesen. Ich musste allerdings bald erkennen, dass auch das nicht ganz ausreicht. Ich möchte das gerne - das lässt meine Redezeit noch zu - im Einzelnen ausführen. Sie haben zwei gute Lösungswege aufgezeigt. Ein Weg sieht vor, in Zukunft Integrationsfirmen besser zu nutzen, um auch dem Personenkreis der Langzeitarbeitslosen Lösungen anzubieten. Ich halte das für sinnvoll, um zu erkennen, inwieweit man passive und aktive Leistungen zusammenführen kann. Ich habe aber festgestellt, dass in Ihrem Antrag mehr Fragen verborgen sind, als er in den Antworten und Lösungsvorschlägen suggeriert. ({6}) Insofern ist er zwar ein guter Start, aber Sie nehmen einen Riesenanlauf und hören dann nach dem ersten Sprung auf. Ich lade Sie ein: Machen Sie es wie beim Dreisprung! Lassen Sie uns die zwei weiteren Sprünge zusammen angehen. Dann kommen wir zu guten Ergebnissen. Was Ihre Einladung angeht, Frau Pothmer, im Rahmen der Diskussionen im Ausschuss weitere gute Vorschläge zu machen, sehe ich der Zusammenarbeit ausgesprochen gerne entgegen. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dirk Niebel hat das Wort für die FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Forderung der Ausweitung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors - vor allem von der linken Seite des Hauses - ist nicht neu. Sie legt den Schluss nahe, wenn alle Arbeitslosen beim Staat angestellt würden, dann hätten wir Vollbeschäftigung. Aber spätestens aus dem Evaluierungsbericht zu den HartzReformen, den die alte Bundesregierung in Auftrag gegeben und die neue Bundesregierung vorgestellt hat, wird deutlich, dass die Instrumente der letzten Jahrzehnte nicht geeignet sind, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. In dem Bericht wird im Gegenteil festgestellt, dass sie nicht nur nicht helfen, sondern dass sie sogar häufig denjenigen Schaden zufügen, die mit diesen Instrumenten „beglückt“ werden. Insofern ist dieser Weg der Arbeitsmarktpolitik - im Auftrag der alten Bundesregierung erdacht und von der neuen Bundesregierung verkündet - nachweislich falsch. Deswegen sollten wir diesen Weg nicht wieder beschreiten. ({0}) Die Bundesagentur für Arbeit hat heute die Arbeitsmarktzahlen vorgestellt. Viele - zumindest von politischer Seite - zeigen sich in der Kommentierung glücklich darüber. Auch ich freue mich über jeden Menschen, der aus der Arbeitslosigkeit herauskommt. Aber nicht nur im Zweiten Deutschen Fernsehen gilt „Mit dem Zweiten sieht man besser“, sondern manchmal auch bei Arbeitslosenstatistiken: Mit dem zweiten Blick sieht man manches besser. ({1}) Saisonbereinigt ist die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vormonat um 17 000 zurückgegangen. Das ist gut. Allerdings ist im Vergleich zum letzten Monat die Zahl der aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen um 29 000 - darunter allein 22 000 zusätzliche 1-EuroJobs - gestiegen. Das heißt, es bleibt eine Differenz von 12 000 Menschen, die nicht mehr in der Statistik geführt werden. Faktisch ist leider im Vergleich zum Vormonat die Zahl der Arbeitslosen um 12 000 gestiegen, und zwar mit dem Instrument der 1-Euro-Jobs, einem öffentlich geförderten Beschäftigungsbereich, der sowohl hinsichtlich der Teilnehmerzahl als auch des Finanzvolumens im letzten Jahr das umfangreichste arbeitsmarktpolitische Instrument war. Die Bundesregierung hat 1,1 Milliarden Euro in die so genannte Mehrbeschäftigung investiert, und zwar für 604 000 Teilnehmer. Der leichtfertige Umgang mit dem Geld anderer Leute ist bemerkenswert. Denn wie der Bundesrechnungshof festgestellt hat, fehlten bei einem Viertel der Maßnahmen die Fördervoraussetzungen. ({2}) Es gab keine Zusätzlichkeit, es gab kein öffentliches Interesse und keine Wettbewerbsneutralität. Bei 50 Prozent dieser Maßnahmen wussten die Grundsicherungsstellen nichts über den Inhalt der Maßnahmen. Sie haben die Maßnahmenträger einfach gewähren lassen - mit dem Geld, das die Bürgerinnen und Bürger durch ihrer Hände Arbeit erwirtschaftet haben. Ich meine, es ist der falsche Weg, diese Instrumente weiter stärken zu wollen, sei es auf dem völlig abstrusen Weg der PDS oder auf dem etwas weniger praktikablen Weg, den die Grünen vorschlagen. Wir sind der festen Überzeugung, dass man entgegen den Feststellungen des Bundesrechnungshofs den Menschen, die Probleme haben, Hilfestellung geben sollte. Sie waren damals noch nicht im Parlament. Wir anderen aber waren alle zusammen am Vermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Hartz-Gesetzen beteiligt. Florian Gerster hat sich damals für die Klassifizierung der Erwerbsfähigkeit eingesetzt, die sich in Arbeitsmarktnähe und Arbeitsmarktferne unterteilt. Wir waren uns alle aus guten politischen Gründen einig, nur die rentenrechtliche Regelung zu übernehmen und von der arbeitsmarktpolitischen Regelung abzusehen. Diese Regelung ist zwar eventuell arbeitsmarktpolitisch sinnvoll, weil man damit die Statistik schnell verändern kann. Sie hilft aber nicht den Menschen. Hier gibt es einen sozialpolitischen Auftrag der Bundesagentur für Arbeit. Deswegen ist es verwerflich, dass durch die Hintertür, auf dem Verordnungsweg der politische Willen des gesamten Hauses umgangen wird und dass die Bundesagentur für Arbeit Menschen aus dem Arbeitsmarkt bewusst herausdrängen will. ({3}) Die Menschen brauchen Möglichkeiten, wieder in Beschäftigung zu kommen. Das heißt, wir müssen Rahmenbedingungen für mehr reguläre Beschäftigung schaffen. Ich habe verwundert gelesen, dass mancher meint, die Bundesagentur für Arbeit erwirtschafte Überschüsse. Dazu möchte ich deutlich sagen: Wenn jemand in Deutschland nichts erwirtschaftet, dann ist es die Bundesagentur für Arbeit. Das Geld, das dort übrig ist, ist den Bürgerinnen und Bürgern, den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern, zu viel weggenommen worden. Das heißt, man muss es ihnen zurückgeben und den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung deutlich mehr senken, als bislang geplant. Das macht Arbeit billiger. Wenn Arbeit billiger wird, wird auch mehr eingestellt. Wer eingestellt wird, kann Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. ({4}) Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Die vermeintlichen Überschüsse, also das dem Bürger zu viel weggenommene Geld, das bei der Bundesagentur für Arbeit gesammelt wird, könnten wir zur Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge nutzen. Wir bräuchten dann nicht die von Ihnen geplante arbeitsplatzfeindliche Mehrwertsteuererhöhung, die Sie, meine Damen und Herren von der SPD, noch im Wahlkampf völlig zu Recht angegriffen haben. Die Beitragssenkungsspielräume in der Arbeitslosenversicherung sind im System vorhanden, wenn man nur noch das fördert, was zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt führt, und wenn man das zu viel weggenommene Geld den Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder zurückgibt. Wir dürfen nicht die Konzepte aus den vergangenen Jahrzehnten wieder aufgreifen, sondern müssen neue Wege für neue Beschäftigung in diesem Land gehen. Wir wollen als Partei der sozialen Verantwortung den Menschen die Chance geben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Dafür brauchen wir entsprechende Rahmenbedingungen. Wir brauchen eine Senkung der Arbeitskosten, und zwar im Bereich der Sozialversicherung, eine Senkung der Steuerlast der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmer, damit mehr konsumiert und investiert wird, sowie ein flexibles Arbeitsrecht, das Einstellungen erleichtert, damit die Menschen die Chance haben, bei einem kleinen konjunkturellen Aufschwung wie dem momentanen wieder in Beschäftigung zu kommen. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD spricht der Kollege Rolf Stöckel.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Niebel, abgesehen davon, dass Sie hier ständig dieselbe Blaupause vorlegen, gebe ich Ihnen in einem Punkt Recht: In der Tat ist die Definition der Erwerbsfähigkeit in Deutschland, was die Integration von benachteiligten und leistungsgeminderten Menschen in den Arbeitsmarkt angeht, richtig gewählt. Aber wir müssen daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass es im Bereich der weniger qualifizierten Tätigkeiten kaum offizielle Beschäftigungsverhältnisse gibt, weil sich diese aufgrund mangelnder Produktivität nicht rechnen, und dass wir in der aktiven Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Maßnahmen gerade zugunsten ehemaliger Sozialhilfeempfänger und der Menschen treffen müssen, die schulisch und beruflich schlecht qualifiziert sind. Eine andere Frage ist, welche Maßnahmen wir ergreifen. Bei allem Streit und angesichts der beiden vorliegenden Anträge können wir festhalten, dass es für die betreffenden Menschen noch immer besser ist, im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit zu arbeiten, als arbeitslos zu sein und Sozialleistungen ohne Gegenleistung zu beziehen. Aber das liegt in der Verantwortung nicht nur des Steuerzahlers und des Staates, sondern auch der gesamten Wirtschaft. Über den Sinn der alten arbeitsmarktpolitischen Instrumente kann man wahrlich streiten. MegaABM, öffentliche Beschäftigung, SAM und das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“ waren sicherlich notwendige Instrumente. Wenn man aber ehrlich ist, muss man zugeben, dass sie unter dem Strich die Langzeitarbeitslosigkeit nicht abgebaut, sondern eher verfestigt haben, sodass wir nun eine Bugwelle von Unqualifizierten vor uns herschieben. Über Begründung und Schlussfolgerung sind wir uns - auch in der großen Koalition - einig. Wir müssen weiterhin an diesem Thema arbeiten, aber in einem vermutlich viel größeren Zusammenhang - dazu haben wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt -, als Sie das in Ihren Anträgen darlegen. In der Tat ist entscheidend, welche Anreize für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im SGB II gegeben sind. Sind die Hinzuverdienstregelungen sinnvoll? Wir stellen jedenfalls fest, dass dort zunehmend weniger Anreize für die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung, etwa über 400 Euro, gegeben sind und dass sich die Menschen an der Hinzuverdienstgrenze in Höhe von 160 Euro orientieren und offiziell so viele Stunden arbeiten, bis diese Grenze erreicht ist. Das sind Fragen, die wir im Zusammenhang mit Kombilöhnen, Mindestlöhnen und einem ergänzenden dritten Arbeitsmarkt zu diskutieren haben. Sie schreiben, dass es keinen Mechanismus der Verdrängung regulärer Beschäftigung geben darf, aber Sie sagen nicht, welche Mechanismen greifen sollen. Das ist eine Frage, die die gesamte Gesellschaft, vor allen Dingen die Wirtschaft, bewegt. Ich finde den Ansatz der Grünen richtig, wonach wir keine Kriterien für flächendeckende Beschäftigungsprogramme festlegen können und darüber die Akteure vor Ort, etwa in den Beiräten der Arge unter Beteiligung der Wirtschaft, insbesondere des Handwerks und des Mittelstandes, entscheiden sollen. Ich glaube, das ist richtig. Sie müssen aber gleichzeitig klären - die Frage beantworten Sie nicht -, wie wir eine Kontrolle darüber haben, ob die Bundesmittel, die wir zahlen sollen, zielgerichtet und im Sinne Ihres Antrags verwendet werden. Ob es richtig ist, die Mittel den Kommunen zu geben, daran haben wir nach den anderthalb Jahren Erfahrung, die wir in den Argen und den Optionskommunen gemacht haben, große Zweifel. Wir werden uns im Detail darum kümmern, welche Mechanismen dort eingeführt werden müssen. Es ist für mich als Sozialpolitiker ein wichtiger Aspekt, dass wir mit Mega-AB-Maßnahmen, die für Menschen eingerichtet werden, die das Kriterium des Alters und womöglich der Benachteiligung erfüllen, eine Stigmatisierung herbeiführen können. Diese Maßnahmen müssen durchlässig gemacht werden. Außerdem muss der Qualifizierungsaspekt, der neben der psychosozialen Hilfe, die ebenfalls berücksichtigt werden muss, ein weiterer wichtiger Aspekt ist, klar definiert werden. Wir erleben, dass von Landesregierungen Stellen für Sozialberatung wie Schuldnerberatung und Drogenberatung abgebaut werden und dass sich die Argen und Optionskommunen schwer tun, solche Beratungen wieder bedarfsgerecht anzubieten. Angesichts dieser Tatsache habe ich Zweifel daran, dass Ihre Anträge, aus denen vielleicht der Wunsch spricht, in die richtige Richtung zu gehen, die aber die falschen Instrumente anbieten, das Ziel erreichen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muss, da ich nur vier Minuten Redezeit hatte, jetzt schließen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt schon fünf.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, dass wir uns im Interesse der Betroffenen gemeinsam bemühen sollten, an der einen oder anderen Stelle zusammenzuarbeiten und die Fragen, die heute aufgeworfen worden sind, zu beantworten. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2504 und 16/2652 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen worden. - Damit sind Sie offensichtlich alle einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes - Drucksache 16/2455 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 16/2760 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Michael Kauch Hans-Josef Fell Es ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über einen Gesetzentwurf, mit dem versucht werden soll, einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Vorteilen des Gesetzes über erneuerbare Energien und den volkswirtschaftlichen Lasten, die wir zum Teil im Zusammenhang mit der Energiepolitik auferlegen, zu erreichen. Zunächst zur Erfolgsgeschichte des Gesetzes. Wir haben mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz einen unglaublichen Erfolg bei Schritten zu einer stärkeren Unabhängigkeit von Energieimporten, also Importen von Rohstoffen zur Energiegewinnung wie Uran, Öl oder Gas, erzielt. Erneuerbare Energien finden wir im eigenen Land. Wir haben die Möglichkeit, Wind, Sonne, Geothermie und Biomasse zu nutzen. Wir haben vor allem eine Technologieentwicklung in Gang gesetzt, die nicht nur energiepolitisch und klimapolitisch von Erfolg gekrönt ist, weil wir CO2 einsparen und die negativen Auswirkungen des Verbrennens von Kohle, Gas oder Öl begrenzen; vielmehr hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz gleichzeitig dazu geführt, dass Deutschland bei dieser Technologie heute weltweit führend ist. ({0}) Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden 170 000 Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Diese Arbeitsplätze sind übrigens größtenteils in Regionen mit ansonsten großen Strukturschwächen entstanden. Eben gab es eine Debatte über Arbeitslosigkeit. Dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sind zum Beispiel in Ostfriesland ein paar Tausend Arbeitsplätze in der Windenergie entstanden. In Thalheim in Sachsen gibt es weit über 1 000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie. ({1}) - Sorry, in Sachsen-Anhalt. Habe ich „Sachsen“ gesagt? ({2}) - Ich meine Thalheim bei Bitterfeld und das liegt in Sachsen-Anhalt, gelle? Auch in Sachsen gibt es eine Menge neuer Arbeitsplätze. Thalheim ist eine Region, die bisher weit weniger als zum Beispiel der Großraum Dresden von der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert hat. Die Photovoltaikindustrie dort ist ein wichtiger Träger der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Wir exportieren Produkte aus dem Bereich erneuerbare Energien inzwischen weltweit; es gibt eine unBundesminister Sigmar Gabriel geheure Nachfrage. Das führende Land auf diesem technologischen Gebiet ist Deutschland geworden, das eine Hightechstrategie verfolgt hat. Ingenieurwissen, Forschung, Wissenschaft führen zu Arbeitsplätzen. Damit verbunden sind echte Chancen auch für diejenigen, die sonst keine Arbeit mehr finden. Ich denke an Menschen, die klassische Facharbeiterberufe ausüben. Es sind richtig zukunftsfeste Jobs entstanden. Es gibt also eine Winwin-Situation: Umwelt- und Klimaschutz auf der einen Seite und Arbeitsplätze auf der anderen Seite. ({3}) Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD geschlossen haben, die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte vereinbart. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung liegt heute bei etwa 11 Prozent. Wir wollen, dass dieser Anteil auf mindestens 20 Prozent im Jahre 2020 steigt. Der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Primärenergiebereich liegt bei knapp 5 Prozent. Wir wollen, dass dieser Anteil im Jahr 2020 auf 10 Prozent angestiegen ist. Diese Ziele sind vereinbart. Es ist gut, dass über erneuerbare Energien kein großer politischer Streit mehr geführt wird. Aber wir müssen natürlich sehen, dass es sich auch bei den erneuerbaren Energien um eine neue Technologie handelt, die wir in den Markt einführen mussten. Es wird gelegentlich darüber diskutiert, wie viel das kostet: Es macht etwa 3 Prozent des Strompreises aus; die Netznutzungsentgelte, von denen die Regulierungsbehörde gerade festgestellt hat, dass sie überhöht sind, machen 30 bis 40 Prozent des Strompreises aus. Wir reden also über einen relativ kleinen Betrag: Erneuerbare Energien kosten einen Drei-Personen-Haushalt pro Monat 1,60 Euro. Man kann sagen: Das ist immer noch zu viel. Ich sage: Für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder ist das wirklich ein niedriger Preis. ({4}) Wir müssen natürlich darüber reden, was eigentlich in den stromintensiven Bereichen der deutschen Industrie passiert, die einem harten internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind und bei denen relativ hohe Lohnkosten - wir wollen, dass es bei relativ hohen Löhnen bleibt, weil in Deutschland auch die Lebenshaltungskosten hoch sind - anfallen. Neben den hohen Sozialkosten kommt auf diese Bereiche mit den Energiekosten ein dritter Faktor hinzu, der Einfluss auf den internationalen Wettbewerb hat. Wir müssen aufpassen, dass wir zwar im Bereich der erneuerbaren Energien etwas Gutes machen, was aber dazu beitragen kann, dass die rund 330 im internationalen Wettbewerb stehenden stromintensiven Betriebe in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sorgen wir dafür, dass über die Aufhebung des 10-Prozent-Deckels bei besonders stromintensiven Betrieben die Entlastung - es gibt sie schon jetzt - von 100 Millionen Euro pro Jahr auf 400 Millionen Euro pro Jahr gesteigert wird. Das ist eine gewaltige Entlastung der stromintensiven Betriebe und des stromintensiven Gewerbes. Das hat natürlich zur Folge, dass der Strompreis für diejenigen, die davon nicht profitieren können, etwas steigt, allerdings nur um 0,02 bis 0,03 Cent pro Kilowattstunde. Es handelt sich also um einen verschwindend geringen Betrag. Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf damit einen guten Kompromiss darstellt. Die Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle für die Überprüfung, wer diese Entlastung wirklich in Anspruch nehmen darf - es gilt, Trittbrettfahrer zu verhindern -, bedeutet, dass wir einen starken Kontrolleur haben, sodass wirklich diejenigen entlastet werden, die es nötig haben, und nicht Unternehmen, die darauf eigentlich keinen Anspruch haben. Ich glaube, dies ist ein guter Gesetzentwurf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf zur Änderung des EEG ist das Eingeständnis der Bundesregierung, dass das Gesetz über die erneuerbaren Energien eben doch unnötig hohe Kosten nach sich gezogen hat. Der Weg, den die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf beschreitet, ist untauglich, die Kosten zu senken. Die Bundesregierung verringert zwar die finanziellen Lasten für die energieintensiven Unternehmen, doch bedeutet das, dass die Belastungen für alle anderen, die nämlich nicht privilegiert sind - das sind die Verbraucherinnen und Verbraucher und mittelständische Unternehmen -, steigen werden. Wenn Sie die Kosten für die einen senken, dann greifen Sie den anderen in die Tasche. Die Frage ist, ob das gerecht ist. ({0}) Die FDP ist der Meinung, dass es nicht gerecht ist. Wir lehnen Ihre Kostenverschiebungspolitik deshalb ab. Wenn der Minister darlegt, wie gering die Erhöhung für die Haushalte ist, dann ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ein anderer Teil der Wahrheit heißt: Mehrwertsteuererhöhung und Abbau von Steuervergünstigungen ohne gleichzeitige Senkung der Steuersätze. Ein weiterer Teil der Wahrheit ist, dass zusätzlich die Benzinpreise steigen werden, weil Sie Steuern auf Biokraftstoffe erheben und gleichzeitig einen Beimischungszwang einführen. Das alles zusammen ergibt die Belastung, die auf die Geringverdiener zukommt, die schon heute unter den staatlich verteuerten Energiepreisen leiden. Für die FDP ist Umweltpolitik ein Gerechtigkeitsthema. Ich hätte gedacht, dass das auch für die Sozialdemokratische Partei gilt. ({1}) Mit der Änderung des EEG zeigt sich, in welchem ordnungspolitischen Dilemma sich die Förderung der erneuerbaren Energien derzeit befindet. Die Konflikte zu den Grundsätzen von Markt und Wettbewerb sind offensichtlich. Der Staat maßt sich nicht nur die Bestimmung des Einspeisepreises für jede Technologie an; auch der Wettbewerb zwischen den erneuerbaren Energien wird durch dieses Fördermodell ausgeschaltet. Aus ökologischer Sicht wären Alternativen zum heutigen EEG wünschenswert. Solange die gesetzliche Förderung unkoordiniert neben dem Emissionshandel eingesetzt wird, erbringt das keine zusätzlichen CO2-Einsparungen; denn die Einsparungen durch die erneuerbaren Energien machen lediglich Zertifikate für andere Emittenten frei, etwa fossile Kraftwerke. Der Klimaschutz unter dem Emissionshandelsregime ist im Zusammenhang mit dem EEG nicht besonders überzeugend. Die FDP spricht sich deshalb für ein Modell der differenzierten Mengensteuerung aus. Das ist ordnungspolitisch der klarste Weg. Das ist ein Instrument, das im Einklang mit Markt und Wettbewerb steht. Die Förderung - das sage ich ganz deutlich - ist zusätzlich zum Emissionshandel notwendig. Ziel ist, die Verknüpfung von Klimaschutz und Versorgungssicherheit durch heimische erneuerbare Energien zu erreichen. ({2}) Meine Damen und Herren, ich mache Sie noch darauf aufmerksam, dass wir nicht für eine reine Mengensteuerung eintreten. Wir sehen sehr wohl, dass es zukunftsfähige, aber noch nicht wettbewerbsfähige Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien gibt, die eine zusätzliche Förderung brauchen. Hier ist ganz klar auch unser Ziel, Technologieförderung zu betreiben. Aber solche Technologieförderung muss aus dem Haushalt bezahlt werden. Zuschüsse aus Steuermitteln zu den Markterlösen halten wir für richtig. Das wäre dann offen im Haushalt ausgewiesen und transparent. Es ist eben nicht transparent, wie das EEG heute gestaltet ist, indem nämlich versteckt über die Strompreise die Verbraucherinnen und Verbraucher die Dinge bezahlen, die aus gesamtwirtschaftlicher Sicht mit dem Ziel der Technologieförderung unterstützt werden sollen. ({3}) Zusammengefasst: Sie reparieren mit Ihrem Gesetzentwurf ein problematisches Fördermodell in einer untauglichen Weise - und das auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist eine hoch technisierte Industrienation, deren Wohlstand, soziale Sicherheit und sozialer Frieden unmittelbar von einer sicheren, kostengünstigen und umweltgerechten Energieversorgung abhängig sind. Daher hat die schwarz-rote Bundesregierung die Erarbeitung eines nationalen Energiekonzeptes als wichtigen Punkt auf ihre Agenda geschrieben. Es muss insbesondere festgelegt werden, wie der Energiemix der Zukunft aussehen soll, welchen Anteil die Primärenergieträger erneuerbare Energien, Stein- und Braunkohle, Mineralöl, Erdgas und Kernenergie haben sollen. Unbestritten gibt es bezüglich des Energiekonzeptes noch einigen Diskussionsbedarf. Doch in einem Punkt ist sich die große Koalition einig - ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag -: Ein wichtiges Element unserer Klimaschutz- und Energiepolitik ist der ökologisch und ökonomisch vernünftige Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir werden daher: - ambitionierte Ziele für den weiteren Ausbau in Deutschland verfolgen, unter anderem - den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung bis 2010 auf mindestens 12,5 % und bis 2020 auf mindestens 20 % steigern … ({0}) Dabei müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung der erneuerbaren Energien so gesetzt werden, dass mit ihrer Nutzung die Ziele der Energiepolitik der Bundesregierung, nämlich Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Preiswürdigkeit, erreicht werden. Zur Umweltverträglichkeit. Die Notwendigkeit zu aktivem Klimaschutz und zu verminderter Freisetzung von Treibhausgasen gehört inzwischen zum Grundkonsens in diesem Land. Geschlossene CO2-Kreisläufe bei der Nutzung von Biomasse sowie CO2-freie Energien aus Sonne, Wind, Wasser und Erdwärme liefern unumstritten wichtige Beiträge zur Bekämpfung des Treibhauseffektes und damit zum Schutz unserer Umwelt. Zur Versorgungssicherheit. Trotz der derzeit rückläufigen Preise an den Energie-, insbesondere den Mineralölmärkten ist langfristig mit steigenden Kosten zu rechnen. Aufstrebende Wirtschaftsmärkte wie in Indien, China oder Brasilien haben steigenden Energiebedarf. Eine verschärfte Nachfragekonkurrenz aufgrund begrenzter fossiler Energieressourcen auf den internationalen Energiemärkten ist die Folge. Erschwerend kommt hinzu, dass insbesondere Öl und Gas aus politisch eher labilen Regionen dieser Welt importiert werden. Erneuerbare Energien als heimische Ressource haben daher ihren unbestrittenen Anteil an einer größeren Sicherheit der Energieversorgung in Deutschland. ({1}) Ohne Zweifel haben diese Vorteile, die ich in Bezug auf Umweltfreundlichkeit und Versorgungssicherheit genannt habe, ihren Preis. Wie Sie wissen, legt das EEG den Preis und die bevorzugte Netzeinspeisung des aus erneuerbaren Energien erzeugten Stroms fest. Wie Sie ebenfalls wissen, wird die Einspeisevergütung für EEGStrom durch eine Umlage auf den Strompreis finanziert, die alle Stromkunden gemeinsam zu tragen haben. So lag die Umlage für Unternehmen und Privathaushalte im Jahr 2005 grundsätzlich bei 0,56 Cent pro Kilowattstunde. Um besonders stromintensive Betriebe wie zum Beispiel die Aluminium-, Zement- oder Stahlindustrie, deren hoher Stromverbrauch aus produktionstechnischen Gründen nicht reduziert werden kann, nicht unverhältnismäßig zu belasten, was eben schlimmstenfalls auch zum Verlust von Arbeitsplätzen führen würde, kennt das EEG bereits seit 2004 in § 16 eine Härtefallregelung, die die Höhe der Stromkosten bei besonders hohen Verbräuchen kappt. Für Unternehmen, die besonders viel Energie für ihren Fertigungsprozess benötigen, betrug die EEG-Umlage deshalb im Jahr 2005 0,1 Cent pro Kilowattstunde. Sie würde allerdings ohne eine Änderung in diesem Jahr auf 0,2 Cent pro Kilowattstunde ansteigen, sich also verdoppeln. Um den Industriestandort Deutschland als Produktionsstandort auch für energieintensive Branchen weiter wettbewerbsfähig zu erhalten, werden CDU/CSU und SPD deshalb des Weiteren, wie im Koalitionsvertrag vereinbart - ich zitiere -, die EEG-Härtefallregelung unverzüglich so umgestalten, dass die stromintensive Industrie eine verlässlich kalkulierbare Grundlage ({2}) erhält und ihre wirtschaftliche Belastung auf 0,05 Cent pro kWh begrenzt wird … ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir diese Vereinbarung des Koalitionsvertrages um. Wir stärken die besonders stark von den Stromkosten betroffenen Betriebe, indem wir bei ihnen die durch das EEG verursachten Stromkostenanteile auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde begrenzen. Daneben geben wir diesen Betrieben Planungssicherheit für die Zukunft. Die 10-Prozent-Deckel-Regelung hat bislang erschwert, dass Unternehmen sich der auf sie zukommenden Stromkosten sicher sein konnten. Der 10-Prozent-Deckel begrenzte den Härtefallausgleich stark, da die EEG-Kosten durch die Anwendung der Ausgleichsregelung für alle nicht der Härtefallregelung unterliegenden Verbraucher um maximal 10 Prozent steigen durften. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und seiner modifizierten Härtefallregelung schaffen wir den 10-Prozent-Deckel und damit die Kalkulationsunsicherheit ab. Durch die Härtefallregelung werden etwa 330 besonders stromintensive Betriebe entlastet; sie erhalten zudem höhere Planungssicherheit. Dies schafft Vertrauen und eine verlässliche Grundlage für Investitionsentscheidungen in der Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben diesem Fortschritt für energieintensive Unternehmen sagen wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes auf der anderen Seite ganz klar - Herr Kauch, Sie haben es angesprochen -, dass sich die Kosten für die übrigen Stromverbraucher, die nicht unter die besondere Ausgleichsregelung fallen, erhöhen werden, wenn auch nur geringfügig. Bei Abwägung aller Vor- und Nachteile sind wir allerdings zu der Überzeugung gelangt, dass diese Belastung von 0,02 bis 0,03 Cent pro Kilowattstunde - das hat der Minister eben auch gesagt - sehr moderat ausfällt und deshalb vertretbar ist. Ich darf Ihnen das an einem Beispiel vorrechnen: Für einen Durchschnittshaushalt mit einem Jahresverbrauch von 3 500 Kilowattstunden ergibt das eine Mehrbelastung von lediglich etwa 1 Euro pro Jahr. ({4}) - Nicht alles, was Herr Trittin gesagt hat, ist falsch. Manches ist allerdings sehr differenziert zu sehen. ({5}) Wir wissen allerdings um die vielen kleinen Griffe in die Taschen des Verbrauchers, die sich insgesamt zu einer spürbaren Belastung summieren. Deshalb ist das zweite große Anliegen dieses Gesetzes eine Stärkung des Verbraucherschutzes durch mehr Transparenz bei der Abrechnung der EEG-Kosten im Rahmen der Stromrechnung. Leider ist es bisher tatsächlich nicht auszuschließen, dass es im Zusammenhang mit der Weitergabe der entstehenden Kosten des ErneuerbareEnergien-Gesetzes an die Letztverbraucher zu Rechtsverstößen kommt, denen wir nicht ausreichend mit zivilgerichtlichen Möglichkeiten begegnen können. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart - ich darf erneut zitieren -, die Berechnungsmethode zur EEG-Umlage transparent und verbindlich so ({6}) gestalten, dass die Energieverbraucher nur mit den tatsächlichen Kosten der EEG-Stromeinspeisungen belastet werden … ({7}) Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sieht das neue Gesetz vor, dass die Bundesnetzagentur in Zukunft als unabhängige Behörde die gesetzlichen Vorgaben zum Schutz der Verbraucher effektiv überwachen wird. Deshalb sind Betreiber von Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, Netzbetreiber und die Elektrizitätsversorgungsunternehmen zukünftig verpflichtet, der Bundesnetzagentur die für den bundesweiten Ausgleich der EEG-Kosten erforderlichen Angaben mitzuteilen. Damit stellen wir sicher, dass den Stromverbrauchern keine überhöhten Kosten für den EEG-Strom berechnet werden. Ich darf zusammenfassen. Mit der Neuregelung des EEG werden wir somit die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowohl für die energieintensiven Betriebe als auch für alle Stromkunden verbessern. Wir erreichen eine ökologisch und ökonomisch vorausschauende, sinnvolle Förderung der erneuerbaren Energien, mehr Entlastung und mehr Kalkulationssicherheit für energieintensive Betriebe und schließlich mehr Transparenz für die Verbraucher und damit für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Die Unionsfraktion wird daher dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile dem Kollegen Hans-Kurt Hill das Wort für die Linke. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Was ist eigentlich der Zweck des Erneuerbare-Energien-Gesetzes? Erstens im Interesse des Klimaschutzes eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung zu ermöglichen, zweitens die volkswirtschaftlichen Kosten der Energieversorgung zu verringern, drittens einen Beitrag zur Vermeidung von Konflikten um fossile Energieressourcen zu leisten und viertens die Weiterentwicklung von Technologien zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu fördern. ({0}) Zweck des Gesetzes ist es aber auch, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bis zum Jahr 2020 auf mindestens 20 Prozent zu erhöhen. ({1}) Das haben wir eben gehört; das ist alles korrekt und so steht es in § 1 des EEG. Aber ich bin der Meinung, dass die große Koalition offenbar Schwierigkeiten hat, den Sinn des EEG zu erfassen. ({2}) Deshalb war es notwendig, das einmal zu betonen, Herr Kelber, auch wenn Sie jetzt gähnen. Oder wie sonst ist es zu verstehen, dass der Gesetzentwurf zur Änderung des EEG dazu missbraucht wird, Geschenke an die stromintensive Industrie zu verteilen? Das ist völlig unnötig. ({3}) So wird das Gerücht geschürt, erneuerbare Energien würden Strom teuerer machen. Das ist einfach die falsche Botschaft. Im Gegenteil wirkt sich der Preis bei Windstrom dämpfend aus und senkt zudem den Importbedarf bei Erdgas. Ein positiver Effekt ist: Die teuren Gasimporte werden zunehmend durch regenerative Energien mit stabil sinkenden Preisen ersetzt. Wenn die Bundesregierung etwas für die großen Stromkunden tun will, muss sie am Anfang der Preiskette bei den Erzeugern zu Regelungen kommen. So schafft man Kalkulationssicherheit und Transparenz. ({4}) Ich sage Ihnen: In das EEG einzugreifen, ist der falsche Weg. Die Preistreiber auf dem Energiemarkt sind die Vattenfalls, die RWEs und Co. Das sind diejenigen, die für die hohen Kosten bei den energieintensiven Industrien verantwortlich sind. ({5}) So verhalten sich keine seriösen Energieversorger. Niemand kann verantworten, Atomreaktoren mit völlig unzureichenden Sicherheitssystemen auch nur einen Tag länger am Netz zu lassen. Niemand kann ernsthaft wollen, dass sich ein Stromausfall wie im Münsterland wiederholt. Niemand kann wollen, dass 5,2 Millionen arme Haushalte in Deutschland ihre Energierechnung nicht mehr bezahlen können. Ich frage mich, wie lange die Bundesregierung dem Treiben noch zusehen will. Sie lassen sich doch von den Energiekonzernen an der Nase herumführen! Wir unterstützen auf jeden Fall die Aktion der Umweltverbände. Unter www.atomausstieg-selber-machen.de kann jeder der Atomlobby die rote Karte zeigen und zu Ökostrom wechseln. Statt den großen vier die Flügel zu stutzen, schieben Sie den schwarzen Peter lieber dem EEG zu. Die Dummen sind wieder einmal die kleinen Betriebe und die privaten Haushalte. Sie zahlen die gesamte Ökosteuer und tragen allein das EEG. Mit Ihren Änderungen im EEG schwächen Sie vor allem die erneuerbaren Energien. Wenn Sie so weitermachen, dann schaffen Sie mit der nächsten Novelle des Gesetzes sehr wahrscheinlich das, was die FDP will, nämlich die Abschaffung des EEG. Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie es einfach. Wenn Sie aber einen Anteil der erneuerbaren Energien von 20 Prozent bis 2020 erreichen wollen, sollten Sie beizeiten dem Energiekartell Paroli bieten. Ich fordere die Bundesregierung auf, übernächste Woche auf dem zweiten Energiegipfel für Wind und Sonne klar Position zu beziehen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben einen Anspruch auf eine zukunftsfähige Energiepolitik, die zu günstigen Energiepreisen führt. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich wollte meine Rede mit der Erfolgsgeschichte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beginnen. Der Bundesumweltminister ist mir zuvorgekommen. Ich kann nur feststellen, dass Sie hervorragend beschrieben haben, wie erfolgreich die Ziele, die wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz angestrebt haben, erreicht wurden. Wir befinden uns auf Erfolgskurs. Wir stimmen an dieser Stellte jeder Ihrer Aussagen zu und freuen uns, dass diese gemeinsame rot-grüne Initiative sich so erfolgreich entwickelt hat. Ich denke, dies war einer der größten Erfolge der rotgrünen Koalition. ({0}) Denn neue Arbeitsplätze sind geschaffen worden. Wir haben einen neuen Exportartikel geschaffen. Wir haben neue Technologien auf den Weg gebracht. Wir haben Investitionen auch aus dem Ausland insbesondere in den Osten Deutschlands, wo sie dringend erforderlich waren, geholt. Schließlich haben wir damit einen großen Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Was wollen wir eigentlich noch mehr, außer dass es auf diesem Gebiet schnell und effektiv vorangeht? In diesem Ziel weiß ich uns mit der SPD und mit Bundesminister Gabriel sehr einig. Auch das freut uns. Einzig und allein die FDP hat noch nicht verstanden, warum mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz so viele Ziele, die Sie selbst in den Mittelpunkt rücken, tatsächlich erreicht werden. Sie hätten wenigstens einmal den Bericht der EU-Kommission lesen können, in dem Ihre Argumente widerlegt werden. Das EEG ist besonders wettbewerbskonform. Wir stimmen darin überein, dass mehr Wettbewerb ein Ziel ist. Aber wenn Sie, Herr Kauch, sagen, das EEG sei ein Wettbewerbshemmnis und es würde den Wettbewerb der erneuerbaren Energien untereinander verhindern, dann müssen Sie klar sagen, was Sie wollen. Sie wollen bisher nur eine einzige, nämlich die billigste, Technologie auf Basis der erneuerbaren Energien am Markt, aber beispielsweise nicht eine Technologie wie die Photovoltaik. Wie soll denn heute die Photovoltaik in einem offenen Wettbewerbsmarkt mit der Windenergie ökonomisch konkurrieren? Sagen Sie doch, wenn Sie keine Entwicklung auf dem Gebiet der Photovoltaik unterstützen wollen. Dann wissen wir wenigstens Bescheid. Das Gleiche gilt auch für die Geothermie. Sie sagen, Sie wollen das Instrument der Mengensteuerung. Schauen Sie doch einmal in die Berichte der EUKommission! Dann können Sie erkennen, dass Instrumente wie Zertifikate und Mengensteuerung - ich kann nicht alle nennen -, die in diese Richtung gehen, in vielen Ländern der Welt ausprobiert wurden und sich als untauglich erwiesen haben. Schauen Sie nach Großbritannien. Dort gibt es viel mehr Wind als in Deutschland, fast keine Windräder, kaum Windenergieindustrie, wenige Arbeitsplätze in diesem Bereich und kaum Klimaschutz über Windräder, obwohl in Großbritannien höhere Preise bei der Windenergie zu erzielen sind. Wenn das Ihr Modell ist, dann verbreiten Sie es bitte weiter. Ich bin froh, dass diese Gedanken selbst bei der Union angekommen sind und sie dies inzwischen unterstützt. ({1}) - Das ist keine Polemik. Ich freue mich vielmehr darüber, Frau Flachsbarth, dass Sie das so dargestellt haben. Nun zum Gesetzentwurf. Wir halten es für sehr positiv, dass hier ein Paragraf vorgesehen ist, der Transparenz ermöglicht, nämlich dass die Netzbehörde in die Lage versetzt wird, den Umlagemechanismus zu kontrollieren, damit die großen Netzbetreiber, die immer noch heftig gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz opponieren, nicht auch noch über verschiedenste Methoden Gewinnmitnahmen erzielen. Es ist gut, dass die Netzbehörde einen Blick darauf werfen kann. Das begrüßen wir in der vorliegenden Gesetzesnovelle sehr. Wir denken aber, dass eine weitere Entlastung der stromintensiven Industrie aus verschiedenen Gründen nicht mehr gerechtfertigt ist. Deswegen stimmen wir dem Gesetzentwurf nicht zu. Dies ist nicht im Sinne des Verbraucherschutzes. Wer die Lasten sehr viel stärker auf die allgemeinen Verbraucher überträgt, handelt nicht im Sinne des Verbraucherschutzes. Dabei ist die energieintensive Industrie doch sogar ein Nutznießer. Die Stahlindustrie hat heute ihren zweitgrößten Absatzmarkt in der Windindustrie. Warum sie dann das ErneuerbareEnergien-Gesetz immer wieder attackiert, geht mir nicht in den Kopf. Wir haben doch gehört, wie sehr die jetzigen Stromerzeugungskosten durch das ErneuerbareEnergien-Gesetz gesenkt werden. Das HWWA hat uns das doch wunderbar vorgerechnet. Der Vorteil aus der Senkung der Kosten ist höher als die im ErneuerbareEnergien-Gesetz festgelegte Umlage. Also schon heute tragen die erneuerbaren Energien zur Senkung der Strompreise bei. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten, damit wir ein Ziel übererfüllen können, das auch im Gesetzentwurf steht. Wir werden nämlich wahrscheinlich schon in diesem oder im nächsten Jahr einen Anteil der erneuerbaren Energien von 12 Prozent an der Stromerzeugung erreicht haben. Deswegen werden wir ein ambitionierteres Ziel ins Auge fassen und bis 2010 nicht nur einen Anteil von 12,5 Prozent erreichen können. Die Erneuerbare-Energien-Branche kann viel mehr leisten. Lassen wir dies mit der EEG-Novelle im nächsten Jahr auch zu! ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Marco Bülow für die SPD-Fraktion. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die erneuerbaren Energien sind auf dem Vormarsch. Ein Garant für diesen Vormarsch ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Der Bundesminister hat zu Recht auf einige Eckpunkte hingewiesen, zum Beispiel darauf, wie viele Arbeitsplätze in diesem Bereich geschaffen worden sind oder wie viele Investitionen dort getätigt werden. Ich will eine Zahl hinzufügen, die sehr wichtig ist - denn in erster Linie ist dies ein Klimaschutzinstrument, meines Erachtens sogar das wichtigste -: Wir sparen jährlich 84 Millionen Tonnen CO2 ein, Tendenz steigend. Vielleicht schaffen wir sogar bald die 100 Millionen. Ich denke, es ist sehr wichtig, das zu erwähnen. Denn ohne das Erneuerbare-Energien-Gesetz - das müssen wir feststellen - würden wir unser ambitioniertes Klimaschutzziel auf nationaler Ebene nicht erfüllen können. Deswegen ist es wichtig, dass wir das Erneuerbare-EnergienGesetz geschaffen haben und es auch in der großen Koalition weiterlebt. ({0}) Eines ist klar: Der Klimaschutz ist die wichtigste Herausforderung unserer Gesellschaft in diesem Jahrhundert. Wir werden sie nur bewältigen können, wenn wir die erneuerbaren Energien fördern und in verschiedenen Bereichen mehr Energieeffizienz herstellen. Ich will einen weiteren Punkt nennen: Wir müssen insgesamt darauf achten - ich weiß, dass das in Deutschland manchmal ein wenig schwierig ist -, dass die Wälder nicht weiter abgeholzt werden und dass wir weiter versuchen, Aufforstungsprogramme zu fördern. Ich will einen kleinen Schlenker machen; denn beim Klimaschutz muss man in längeren Zeitdimensionen denken. Ich glaube nicht, dass es förderlich ist, dass wir den deutschen Wald - ich weiß, das liegt in der Verantwortung der Länder - verkaufen bzw. privatisieren. Denn ich bin mir nicht sicher, ob dieser Wald dann auch über Jahrhunderte geschützt wird. Ich glaube, dass das ein falscher Weg ist. ({1}) Ich möchte vor allen Dingen etwas zu den Kosten sagen, die ein paarmal erwähnt wurden. Der Bundesminister hat richtig vorgerechnet: 1,60 Euro pro Monat kosten die erneuerbaren Energien jeden Dreipersonenhaushalt. Diese Kosten sind immer in den Berechnungen enthalten. Andererseits sollte aber auch berechnet werden, wie viel wir durch die erneuerbaren Energien sparen. Das UBA hat vorgerechnet, dass ein normaler Haushalt durch die erneuerbaren Energien einen Gewinn von 4 Euro erzielt. Es werden nämlich volkswirtschaftliche Kosten eingespart, weil wir weniger CO2-Energien nutzen müssen. Wir müssen also immer beides gegenüberstellen. Noch etwas zum Klima: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass eine Klimaerwärmung um nur 1 Grad - mittlerweile hat es schon eine Klimaerwärmung um 0,7 Grad gegeben; in Deutschland wird sie wahrscheinlich schon bald um 1 Grad liegen - die Volkswirtschaft 137 Milliarden Euro kostet. Das ist eine Zahl, die nicht auf der Rechnung steht, die wir aber immer im Hinterkopf behalten müssen. ({2}) Die FDP postuliert immer wieder - auch das hat mit Kosten zu tun - das Mengengerüst. Auch Herr Fell hat es eben angesprochen. Ich möchte Ihnen einmal eine Zahl nennen: Die Kosten für Windenergie betragen in Deutschland zwischen 6,2 und 8,5 Cent pro Kilowattstunde. Damit kommen wir der Wettbewerbsfähigkeit schon nahe; es lässt sich absehen, ab wann die Windenergie wettbewerbsfähig sein wird. Ähnlich ist es in Spanien, sogar noch ein bisschen günstiger. Sie wenden das gleiche Prinzip wie in Deutschland an. Die Engländer und die Italiener haben das Mengengerüst, das Sie immer postulieren, eingeführt. In Großbritannien kostet Strom aus Windenergie über 10 Cent, in Italien sogar über 15 Cent. Ich weiß nicht, ob das einen marktwirtschaftlichen Vorsprung darstellen soll. Ich glaube, Sie sollten überlegen, ob Sie das Gerüst nicht endlich dahin packen, wo es hingehört, nämlich in den Altpapiercontainer. ({3}) Wir müssen die Erfolgsgeschichte im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien fortsetzen. Natürlich müssen wir auch nachjustieren. Das tun wir heute. Wir drehen an zwei Schrauben - das wurde teilweise von Frau Flachsbarth und vom Bundesminister angesprochen -, und zwar im Bereich der Transparenz und im Bereich der Härtefallregelung. Wir stehen zu den Änderungen bei der Härtefallregelung. Wir wissen, dass sie zu zusätzlichen Belastungen für die Verbraucher führen, und sprechen das auch offen aus. Wir glauben aber, dass die Belastungen vertretbar sind. Auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass es bei einer Härtefallregelung bleibt. Ich rufe alle, die sich entschieden für die Härtefallregelung eingesetzt haben, auf, nicht auf das EEG zu schießen mit dem Argument, es verursache insgesamt zu hohe Kosten für die Verbraucher. Man muss sich schon entscheiden. Ich glaube, man muss dazu stehen, dass diese Härtefallregelung neue Kosten verursacht. Mit der Transparenzregelung wollen wir erreichen, dass die Bundesnetzagentur unklare Berechnungsdaten und Umwälzungsmethoden der Netzbetreiber überprüft. Auf Deutsch: Es darf nicht mehr abgerechnet werden als die Kosten, die die erneuerbaren Energien tatsächlich verursachen. Ich glaube, diese Transparenzregelung ist ein echter Fortschritt. Abschließend möchte ich dem Minister dafür danken, dass wir diese Regelung gefunden haben. Ich versehe den Dank zugleich mit der Bitte, ergänzend zu diesen Änderungen am Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Anlagenregister einzuführen. Wir brauchen es, um festzustellen, wo die erneuerbaren Energien erzeugt wurden, und damit wir wissen, wohin sie fließen. Ich glaube, wir brauchen in Zukunft solch ein Register. Vor allen Dingen ist wichtig - ich bin sehr zufrieden, dass es die meisten gesagt haben -, dass wir die erneuerbaren Energien brauchen und das Erneuerbare-EnergienGesetz das richtige Instrument ist, um sie zu fördern. Ich denke, dieser große Konsens, den es bis auf eine Fraktion gibt, ist einen Applaus wert. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache 16/2455. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2760, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit demselben Stimmergebnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Matthias Berninger, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken aufheben - Drucksache 16/2506 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Es wurde verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Biggi Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das deutsche Apothekenrecht ist bizarr. Da verhindert ein Selbstbedienungsverbot, dass die Kundinnen und Kunden selber an das Regal mit verschreibungsfreien Arzneimitteln herantreten, um sich das preiswerteste Präparat herauszusuchen. Da ist der Besitz von Apotheken nur Apothekern gestattet. Das ist eine Regelung, die es in anderen Bereichen, wo der Verbraucherschutz ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, etwa in Bäckereien oder Supermärkten, nicht gibt und die dort wohl auch jeder für absurd halten würde. ({0}) Da darf ein Apotheker neben seiner Hauptapotheke höchstens drei Filialapotheken betreiben, die auch noch nahe beieinander liegen müssen. Um solche wettbewerbsbeschränkenden Regelungen aufrechterhalten zu können, muss man in einer marktwirtschaftlichen Ordnung schon gute Gründe haben. Hier findet man aber keine. Gerne wird das Fremdbesitzverbot damit begründet, dass die Qualität der Beratung gewährleistet sein müsse, was als Anforderung zutrifft. Dafür würde es allerdings reichen, wenn in jeder Apotheke ein Apotheker oder eine Apothekerin beschäftigt wäre. Für die Qualität der Beratung haben die Besitzverhältnisse doch keinerlei Bedeutung. Auch für das Mehrbesitzverbot werden höhere Gründe angeführt. Seine Befürworter behaupten, dass Kartelle und Monopolisten andernfalls überhöhte Preise verlangen könnten. Wir haben doch aber Erfahrungen mit Institutionen, die helfen, die Ausnutzung einer Marktmacht zu verhindern. Wir haben die Monopolkommission und das Bundeskartellamt. Warum sollten sie nicht auch auf diesem Markt tätig werden und einen Machtmissbrauch verhindern können? Die Aufhebung des Mehrbesitzverbotes wird nicht zuletzt mit der Begründung abgelehnt, dass dann die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln gefährdet sei. Die entstehenden Apothekenketten, so heißt es, würden sich nur die Rosinen heraussuchen. In strukturschwachen und ländlichen Regionen, so wird beschworen, gäbe es dann gar keine Apotheke mehr. Das ist kein gutes Argument; denn schließlich ist die Gründung einer Apotheke auch heute kein Akt der Nächstenliebe. Ein Apotheker, der eine Apotheke gründen will, oder eine Apothekerin, die eine Apotheke übernehmen möchte, überlegt sich doch sehr genau, ob an diesem Standort gute Umsätze zu erwarten sind. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Apothekendichte in Deutschland zwischen Stadt und Land sowie zwischen wohlhabenden und ärmeren Regionen so unterschiedlich ist. Wir alle wissen doch, dass es in den Städten inzwischen mehr Apotheken als Briefkästen gibt. Im ländlichen Raum ist das nicht so. ({1}) An diesem wirtschaftlichen Kalkül würde sich auf einem freieren Apothekenmarkt nichts ändern. Apotheker würden sich auch weiterhin außerhalb der Ballungsräume niederlassen; schließlich ist dort die Wettbewerbsintensität geringer. Verändern würden sich aber - das müssen wir uns angesichts der Diskussion im Rahmen der Gesundheitspolitik überlegen - die Kosten des Arzneimittelhandels. Aufgrund der Erfahrungen in anderen Ländern rechnen uns Fachleute vor, dass mit Einsparungen zwischen 1 und 2 Milliarden Euro zu rechnen sei. Angesichts der Anforderungen an die gesetzliche Krankenversicherung sind das nun wahrlich keine Peanuts. Wir können es uns nicht leisten, solche Wirtschaftlichkeitsreserven nicht zu nutzen. Im Übrigen wird der deutsche Weg auch im Hinblick auf das europäische Recht nicht aufrechtzuerhalten sein. Die Europäische Kommission wendet sich gegen Wettbewerbshindernisse auf den Apothekenmärkten. Sie sagt, das Fremdbesitzverbot sei zur Wahrung der Volksgesundheit nicht notwendig, stelle deswegen einen Verstoß gegen die europäische Niederlassungsfreiheit dar. Deswegen hat die Kommission bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich, Italien und Spanien eingeleitet. ({2}) Kurzum: Die Aufhebung von Mehr- und Fremdbesitzverbot ist erstens wirtschaftlich geboten, zweitens ordnungspolitisch richtig und hat drittens keine gesundheitspolitischen Auswirkungen, die ihr entgegenstünden. Angesichts dieser Ausgangslage ist es schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung auf diesem Felde so gar nicht tätig sein will. Das gilt übrigens auch für die FDP, Herr Bahr. Immerhin führen Sie sich ja gerne als Schild und Schwert des Liberalismus auf. Aber im Apothekenwesen halten Sie Wettbewerb für Teufelszeug. Das ist bizarr. ({3}) Das Regelungsdickicht im Apothekenwesen ist doch nur aufgrund guter Lobbyarbeit und enger Klientelbeziehungen entstanden und keinen sachlichen Erwägungen geschuldet. Die Bundeskanzlerin hat die Losung ausgegeben, dass in der Gesundheitspolitik das Gemeinwohl Vorrang vor Gruppeninteressen haben müsse. Wenn das so ist, dann lassen Sie uns dem folgen und eine Liberalisierung des Apothekenmarktes angehen. Danke schön. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer, CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns heute mit einer sehr interessanten Frage zu beschäftigen, nämlich: Welchen Stellenwert hat die öffentliche Apotheke in unserer Gesellschaft im Allgemeinen und in unserem Gesundheitswesen im Besonderen? Ich glaube, wir sind uns alle darin einig: Zweifellos hat die Apotheke einen sehr hohen Stellenwert, da sie Garant für die ordnungsgemäße und sichere Arzneimittelversorgung unserer Bevölkerung ist. ({0}) Dabei haben sich insbesondere die mittelständischen Strukturen und die Freiberuflichkeit bewährt, und das über viele Jahrhunderte. Über die freien Berufe findet sich im Partnerschaftsgesellschaftsgesetz eine sehr interessante Aussage. Ich zitiere: Die Freien Berufe haben im allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt. Nicht umsonst hat der Gesetzgeber die Aufgabe der Arzneimittelversorgung in die Hände der eigenständigen Apotheken gegeben. Ich meine, wir sollten es dabei belassen. Mit den Gründen, die Sie, Frau Bender, genannt haben, können wir uns gerne einzeln auseinander setzen. ({1}) Ich lade Sie heute ein, einmal mit mir gemeinsam in eine Apotheke in Berlin zu gehen. ({2}) Danach können Sie nicht mehr behaupten, man gehe dort ans Regal und nehme sich einfach etwas heraus. Ich glaube, Sie müssen einmal sehen, dass das gar nicht so einfach geht. Etwas ganz anderes ist es, wenn Kapitalgesellschaften die Erlaubnis erteilt wird, öffentliche Apotheken zu betreiben. Wir beklagen doch auch in diesem Haus permanent, wie sich Kapitalgesellschaften in unserer Gesellschaft verhalten, wie sie mit ihren Mitarbeitern umgehen. ({3}) Dann sollen wir den Kapitalgesellschaften in diesem sensiblen Bereich Tür und Tor öffnen? Dieser Vorschlag kommt ausgerechnet von Ihnen, den Grünen. Aber lassen wir das. Zum wiederholten Male wurde die Diskussion über die Entscheidung des Saarlandes angestoßen - das haben Sie angesprochen -, einer niederländischen Aktiengesellschaft eine Betriebserlaubnis für eine Apotheke in Saarbrücken zu erteilen. ({4}) Auch wenn es sich vorrangig um eine von Europarecht geprägte Entscheidung handelt, sollten wir bei der Beurteilung dieses Vorgangs nicht vergessen, dass die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft und erst recht nicht nur eine Wettbewerbsgesellschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang mehrmals festgestellt, dass Leben und Gesundheit in der EU Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen genießen. Die Wirtschaft dient den Verbrauchern und nicht umgekehrt. Dies hat zur Folge, dass die Wirtschaftsordnung auch im Gemeinschaftsrecht flexibel an die sachlichen und fachlichen Erfordernisse einzelner Sektoren anzupassen ist. Daher belässt Art. 152 des EG-Vertrages die primäre Zuständigkeit für die Regelung und Organisation der Gesundheitsfürsorge bei den Mitgliedstaaten. ({5}) Die Europäische Gemeinschaft beschränkt sich lediglich auf die Ergänzung von Maßnahmen, die Förderung der Gesundheit und die Koordinierung der Mitgliedstaaten. In diesem Artikel steht auch, dass bei der Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt wird. Das ist letztendlich auch Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, auf das wir so stolz sind und das im EG-Vertrag verankert ist. Die Gegner des deutschen Fremdbesitzverbotes stützen sich auf die unterschiedlichsten Gründe, warum man es endlich beseitigen muss. Aber ich glaube, das bringt uns nicht weiter. Zwingende Gründe wie das Gemeinwohl werden angeführt. Ich glaube aber, dass all das Gründe für die Beibehaltung des Verbots sind. Laut Europäischem Gerichtshof nimmt die Gesundheit - das muss ich noch einmal betonen ({6}) unter allen Rechtsgütern, die zur Einschränkung der Grundfreiheiten berechtigen, den ersten Rang ein. Das Verbot des Fremd- und uneingeschränkten Mehrbesitzes dient dem Zweck, eine geordnete, verlässliche und kontrollierte Arzneimittelversorgung zu gewährleisten. ({7}) Dazu gehört, dass den besonderen Gefahren des Arzneimittelgebrauchs Rechnung getragen und ein ungehinderter Arzneimittelkonsum verhindert wird. Gleichwohl wird diese Entscheidung letztlich in der Hand des Europäischen Gerichtshofes liegen. Wir sollten abwarten, was dabei herauskommt. Es ist allerdings schade, dass man sich im Saarland auf nur ein Gutachten gestützt hat. ({8}) Ich kenne auch Gutachten, die das genaue Gegenteil besagen. Sie wissen ja: zwei Juristen, drei Meinungen. Hier hätte man etwas sorgfältiger vorgehen sollen. Die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes wird mit der Zulassung von mehr Wettbewerb begründet; das haben wir gerade wieder gehört. Im Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist von einer Einsparung von bis zu 2 Milliarden Euro die Rede. Außerdem heißt es, es fehle an empirischen Belegen dafür, dass eine Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes zu einer Einschränkung der Sicherheit und der Qualität der Arzneimittelversorgung führt. Frau Bender, wenn es schon um empirische Belege geht, würde es mich natürlich unheimlich freuen, wenn auch eine betriebs- und volkswirtschaftlich nachvollziehbare Berechnung vorgelegt würde, aus der ein Einsparvolumen von 2 Milliarden Euro hervorgeht. ({9}) Der Kollege Lauterbach zum Beispiel spricht von Einsparungen in Höhe von lediglich 1 Milliarde Euro. Hier ist also eine gewaltige Differenz festzustellen. Zudem bitte ich die Verfasser des Antrags, darzulegen - möglichst auch empirisch; das ist ja ein schönes Wort -, in welchen Ländern sich die Sicherheit und die Qualität der Arzneimittelversorgung durch die Freigabe verbessert hat. Auch das lässt sich nicht nachweisen. ({10}) Da wir gerade bei der Empirie sind: Mich würde brennend interessieren, in welchen Ländern die Arzneimittelabgabepreise aufgrund der Existenz von Kettenapotheken günstiger wurden. Dass das der Fall ist, stimmt nämlich auch nicht. Das können Sie in jedem Gutachten und in vielen anderen Schriftstücken nachlesen. Ich frage Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen: Wollen Sie eigentlich einen Wettbewerb wie in Norwegen? Dort waren 80 Prozent aller Apotheken innerhalb von zwei Jahren nach Aufhebung des Mehr- und Fremdbesitzverbotes in der Hand von vier Ketten. Nur 15 Apotheken stehen nicht unter direktem Ketten- oder Großhandelseinfluss. ({11}) In Norwegen ist es so weit gekommen, dass bei einer Apothekenkette mittlerweile 45 Prozent der abgegebenen Generika vom zum selben Unternehmen gehörenden Hersteller stammen. Ist das Wettbewerb? Interessant ist auch, dass das norwegische Gesundheitsministerium im Jahre 2004 feststellen musste, dass die Handelskonzerne zwar bei ihren Zulieferern, vor allem bei Generikaherstellern, Rabatte einforderten und auch erhielten, diese jedoch nicht an die Verbraucher oder Krankenkassen weitergaben. Ist es das, was Sie wollen? Das kann es doch auch nicht sein. Wie kann man - siehe den Antrag vom Bündnis 90/ Die Grünen - einen Wettbewerb zwischen großen Apothekenketten und kleinen, herkömmlichen Apotheken als segensreich fordern? Nichts anderes besagt folgendes Zitat aus Ihrem Antrag: Die kleinteilige Struktur des Apothekenmarkts lässt einen effizienz- und effektivitätssteigernden Wettbewerb zwischen den Apotheken nicht zu. Angesichts der Entwicklung in Norwegen, die ich vorhin angesprochen habe, frage ich Sie: Wollen Sie das wirklich? Sie sagten, es sei kein Problem, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Aber sie ist in Gefahr. In Norwegen musste die Regierung den drei marktbeherrschenden Unternehmen Übernahmegarantien für aufgegebene Landapotheken geben. In Großbritannien subventioniert der Staat mittlerweile jede vierzigste Apotheke, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Ist es wirklich das, was Sie wollen? Anstatt unsere qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung zu zerschlagen, sollten wir zunächst einmal die Auswirkungen des AVWG und des sich gegenwärtig in der Diskussion befindlichen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes abwarten. ({12}) Außerdem bin ich sicher, dass sich auch der Europäische Gerichtshof noch ausführlich mit dieser Materie auseinander setzen wird. Sie haben es bereits angesprochen: Gegen Österreich, Italien und Spanien sind bereits Verfahren, die eine ähnliche Thematik betreffen, beim Europäischen Gerichtshof anhängig. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gegen Deutschland bisher noch kein Verfahren vonseiten der EU-Kommission in die Wege geleitet worden ist. ({13}) Daraus lässt sich schließen, dass unsere Gesetzgebung durchaus EU-rechtskonform ist. ({14}) Ich appelliere an das Hohe Haus, nicht in vorauseilendem Gehorsam gute, gewachsene Strukturen zu zerstören. Wir werden den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ablehnen. Ich wiederhole meine Einladung: Lassen Sie uns einmal zusammen in eine Apotheke gehen, damit Sie sich ein Bild von dem umfangreichen Leistungskatalog machen können! Danke schön. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP hat Daniel Bahr das Wort. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken ist ein klassisches Beispiel für einen Interessenkonflikt zwischen verschiedenen Politikfeldern, zwischen Wirtschaftspolitik auf der einen und Gesundheitspolitik auf der anderen Seite. Die FDP will einen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Gesundheits- und der Wirtschaftspolitik. Aus wirtschaftspolitischer Sicht sind Apotheker gewerbetreibende Kaufleute, die sich am Umsatz orientieren und Gewinne anstreben. Die Apothekenpreise von Medikamenten kommen allerdings nicht durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage zustande, sondern durch einen gesetzlich festgelegten, prozentualen Aufschlag auf die Preise des Großhandels. In der Gesundheitspolitik muss so viel Wettbewerb wie nötig und möglich für Effizienzsteigerungen sorgen; dafür stehen wir als FDP. Der Gesundheitsmarkt ist aber nach wie vor ein ganz besonderer Markt, wie hier im Hause wohl keiner bestreiten wird. Mehr als in anderen Bereichen spiegeln sich die Präferenzen der Kunden eben nicht im freien Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage wider. Dieser Bereich unterliegt ganz eigenen Gesetzen. Die Gesundheitspolitik muss die Arzneimittelversorgung in Deutschland so organisieren, dass sie den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Kaum ein anderes Land hat eine so gute Arzneimittelversorgung wie Deutschland. ({0}) Was ist gut an der derzeitigen Arzneimittelversorgung? Erstens. Jeder Bürger hat jederzeit Zugang zu Medikamenten, egal ob er in der Stadt oder auf dem Land wohnt, egal ob er sie vormittags oder nachts oder am Wochenende benötigt. Zweitens. Die Arzneimittelversorgung weist einen hohen Grad an Sicherheit auf. Das Problem, dass Fälschungen aufkommen, hat deshalb nicht auf die Verbraucher durchschlagen können. Drittens. Der einzelne Apotheker fühlt sich für seine Apotheke und seine Kunden verantwortlich. Teilweise übernimmt er eine Mittlerfunktion zwischen Arzt und Patient. Wenn die Zeit beim Arzt nicht gereicht hat, wenn Zusatzinformationen notwendig sind, nimmt sich der Apotheker die Zeit, entsprechend zu informieren. Was haben wir davon, wenn die Versorgung qualitativ schlechter würde? Wer immer etwas an dem bestehenden System ändern will, muss nachweisen, dass das Angestrebte qualitativ besser ist als der Istzustand: Erstens. Wird die räumliche Versorgung wirklich besser? Zweitens. Wird die Auswahl an Medikamenten wirklich größer? Drittens. Wird die Beratung besser? Viertens. Werden die Arzneimittelpreise niedriger? - Frau Bender, Sie fordern mit Ihrem Antrag, die rechtlichen Voraussetzungen zu ändern, wer eine Apotheke besitzen darf, mehr nicht. Dadurch würden die Arzneimittelpreise nicht niedriger. Doch das steht nicht in Ihrem Antrag. Er ist deshalb eine Verkürzung dieses Bereiches. ({1}) Nur wenn die Arzneimittelpreisverordnung komplett aufgehoben wird, die Pharmahersteller bei den Preisen trotz Festbeträgen und Arzneimittelhöchstbeträgen noch nennenswerte Spielräume haben, die nicht durch die Krankenkassen mit Rabattverträgen ausgeschöpft werden, und - ein ganz wesentlicher Aspekt das Zusammenspiel aus vertikaler und horizontaler Konzentration den Preissetzungsspielraum für die Apothekenketten nicht sogar zulasten der Verbraucher erhöht, würden Arzneimittel billiger. Sonst würden Apothekenketten nur eines bewirken, nämlich eine Produzentenrente beim Apothekenkettenkonzern, also eine Erhöhung des Gewinns beim Konzern. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot erklärt sich aus der heilberuflichen Komponente des Apothekerberufs. Der Daniel Bahr ({2}) Apotheker galt bisher traditionell als Heilberufler. Das rechtfertigt die flächendeckende Versorgung mit Apotheken, die wir in Deutschland haben. Diese heilberufliche Komponente des Apothekers wurde mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz von Anfang dieses Jahres - Herr Bauer hat es angesprochen - durch das Verbot von Naturalrabatten noch betont. ({3}) Man muss sich einmal Gedanken machen, was man eigentlich will. Natürlich ist der Apotheker sowohl Heilberufler als auch Kaufmann. Man kann aber nicht, wie es einem gerade gefällt, das eine Mal betonen, dass der Apotheker ein Heilberufler ist, und Naturalrabatte verbieten, und dann wieder einfordern, dass er als Kaufmann direkt mit den Kassen oder der Pharmaindustrie verhandelt. In diesem Zwiespalt befinden wir uns. Deshalb müssen wir uns diese Frage immer wieder stellen. Nicht Kommerzialismus, sondern die Gesundheitsversorgung soll im Vordergrund stehen. Eine Apothekenkette im Besitz einer Kapitalgesellschaft würde zumindest dies anders gewichten. Die Grünen betonen in ihrem Antrag allein die wirtschaftspolitische Sicht. Ich vermisse dabei die gesundheitspolitische Komponente. Auch die wirtschaftspolitische Komponente ist nicht konsequent durchdacht. Wer wirtschaftspolitisch konsequent handeln will, der muss den gesamten Arzneimittelmarkt marktwirtschaftlich ausrichten. ({4}) Das steht nicht in Ihrem Antrag. Er müsste auch die Abschaffung von Festbeträgen und Festpreisen sowie die Aufhebung der Importquoten, der gesetzlichen Zwangsrabatte, der Bonus-Malus-Regelung, der Aut-idem-Regelung, des Verbots von Naturalrabatten usw. fordern. Mit diesen ganzen Fragen beschäftigen Sie sich in Ihrem Antrag nicht. Sie beschäftigen sich allein mit dem Fremd- und Mehrbesitzverbot. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, diesem Antrag zuzustimmen. ({5}) All das müsste dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden und sich als Ergebnis des Handelns von Ärzten, Patienten, Pharmaherstellern, Großhändlern und Apothekern ergeben. Tun wir also nicht so, als ob allein die Wirtschaftspolitik hier eine Rolle spielt, und führen wir ernsthaft eine Auseinandersetzung darüber, in welchen Bereichen der Apotheker in seiner heilberuflichen Verantwortung gestärkt werden muss und in welchen Bereichen rein marktwirtschaftliche Lösungen ohne Verlust wichtiger gesundheitspolitischer Anliegen möglich und sinnvoll sind. Natürlich muss sich der Gesundheitssektor und müssen sich auch die Gesundheitsberufe - Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte - den wandelnden Bedingungen anpassen. Ziel muss es aber doch sein, die Versorgungsqualität zu verbessern oder zumindest auf dem heutigen Niveau zu sichern. Deswegen werden wir als FDP diesen Antrag der Grünen ablehnen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPDFraktion.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Ausgaben für Medikamente sind ein wichtiger Kostenfaktor in der gesetzlichen Krankenversicherung. Frau Bender, sie stehen von daher sehr im Mittelpunkt des Interesses und sind häufig Ziel gesetzgeberischer Maßnahmen. Eine solche Maßnahme haben wir Anfang dieses Jahres mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz - AVWG - durchgeführt. Mit diesem Gesetz waren wir durchaus erfolgreich. Wir haben die Arzneimittelpreise mit diesem Gesetz gesenkt. Die Arzneimittelausgaben im Juli sind gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent zurückgegangen. ({0}) Heute beschäftigen wir uns mit einem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und es geht um die Abschaffung des Mehrbesitz- und Fremdbesitzverbots für Apotheken. Sie wollen also, dass ein Nichtapotheker eine unbeschränkte Zahl von Apotheken besitzen kann - vorausgesetzt, er kann das bezahlen. Sie versprechen sich davon - ich zitiere - „einen effizienz- und effektivitätssteigernden Wettbewerb“ sowie die Erschließung erheblicher Wirtschaftlichkeitsreserven. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, woher nehmen Sie denn die Gewissheit, dass die Zulassung des unbeschränkten Apothekenbesitzes und die damit einhergehende Bildung von Apothekenketten wirklich zu einer höheren Wirtschaftlichkeit und Effizienz und vor allen Dingen auch zu niedrigeren Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung führt? Es ist vorhin schon gesagt worden: In Norwegen ist der Markt inzwischen unter drei Apothekenketten aufgeteilt. Die Einzelapotheke ist fast verschwunden. Das hat zur Störung der flächendeckenden Versorgung geführt. Durch das Beispiel Norwegen wird auch deutlich, dass durch eine Marktfreigabe des Apothekenbesitzes nicht automatisch für dauerhaft billigere Arzneimittel gesorgt wird. Natürlich könnte man sich vorstellen, dass zukünftig auch in Deutschland zahlungskräftige Nichtapotheker oder kapitalstarke Unternehmen Apothekenketten besitzen und Apotheker bei sich einstellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Birgitt Bender zulassen?

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Zu fragen ist aber, ob das den Kunden oder nur denjenigen nutzen wird, die heute gern in den lukrativen Markt möchten, aber noch nicht dürfen. Es gibt im Arzneimittelgroßhandel schon jetzt eine erhebliche Konzentration. Teilweise bestehen enge Verflechtungen zu Generikaherstellern. Wenn diese Unternehmen nun Apotheken aufkaufen würden, dann führte das zu einer perfekten vertikalen Konzentration von den Pharmaherstellern über den Arzneimittelgroßhandel bis hin zur Apotheke. Das würde die Gefahr mit sich bringen, dass die Apotheke nur noch ein eingeschränktes und nicht unbedingt das preiswerteste Arzneimittelsortiment vorhalten würde. Zudem wäre es fahrlässig, wenn die Pharmaindustrie über den Weg der Apothekenkette einen direkten Zugang zu Patientendaten erhalten würde. Ich war immer der Ansicht, da seien wir einer Meinung. Wozu die Konzentration eines Marktes auf wenige Anbieter, also ein so genanntes Oligopol, führen kann, zeigen doch eindeutig der Mineralölmarkt und der Energiemarkt. Aus meiner Sicht wäre es jedoch ein großer Fehler, bei diesem Thema nur über Markt, Wirtschaftlichkeit und Preise zu sprechen. Der Verkauf von Medikamenten ist eben nicht dasselbe wie der Verkauf von Waschmitteln oder Brot und Brötchen. ({0}) Ein Medikament ist ein Produkt, das neben seiner erwünschten Wirkung auch Risiken und Nebenwirkungen hat. Jeder kennt den Hinweis aus der Werbung: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Die Nebenwirkungen können lebensbedrohlich sein, vor allen Dingen bei der gleichzeitigen Einnahme von vielen Medikamenten, bei chronischen Erkrankungen und bei Allergien. Es kommt beim Arzneimittel eben nicht nur auf den günstigen Preis an, sondern auch auf die Qualität der Beratung. Die Hausapotheke mit dem direkten Kontakt zu den Patienten ist deswegen aus unserer Sicht kein Auslaufmodell, sondern ein Zukunftsmodell. ({1}) Ich sage ganz klar: Die SPD steht zum Apotheker als Heilberuf und sieht in ihm eben nicht nur den einfachen Arzneimittelkaufmann. Noch einige Worte zur Vereinbarkeit der deutschen Regelungen mit dem europäischen Recht. Es ist schon gesagt worden: Vertragsverletzungsverfahren laufen gegen Österreich, Italien und Spanien, und zwar vor allen Dingen deswegen, weil die Niederlassungsfreiheit in diesen Ländern nicht gewährleistet ist. In Deutschland ist sie gewährleistet. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die Linksfraktion hat Frank Spieth. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es gehört: Kein Bereich im deutschen Gesundheitswesen hat höhere Zuwachsraten als der Pharmabereich. Wir zahlen hier mittlerweile mehr als für die ambulante ärztliche Versorgung. Darüber sollte man in der Tat einmal nachdenken. Trotz aller Kostendämpfungsbemühungen sind die Kosten für die Arzneimittel in den zurückliegenden Jahren gestiegen. Die Milliarden, die hier ausgegeben werden, fehlen an anderer Stelle im Gesundheitswesen. ({0}) Gleichzeitig mussten sich die Patientinnen und Patienten daran gewöhnen, immer höhere Eigenanteile zu zahlen. Nun kommen die Grünen mit der Idee, durch die Abschaffung des Fremd- oder Mehrbesitzverbotes für Apotheken einen besseren Wettbewerb und mehr Wirtschaftlichkeit herstellen zu können und damit unter Umständen round about 2 Milliarden Euro einsparen zu können. Abgesehen davon, dass ich die Grünen, die einmal für Nachhaltigkeit und lokalen Zusammenhalt eingetreten sind, nicht mehr verstehe, halte ich diesen Ansatz in der Tat für einen schweren Denkfehler. ({1}) Schon heute können Apotheker bis zu drei Filialen betreiben, Frau Bender; denn Rot-Grün hat damals dafür gesorgt, dass es die Möglichkeit dieses Mehrbesitzes gibt. Der Vorschlag der Grünen, das Mehrbesitzverbot für Apotheken gänzlich aufzuheben, geht aber nach meiner Einschätzung an dem tatsächlichen Problem vorbei: Die Ausgaben für Arzneimittel haben sich von 1995 bis 2005 von 8,94 Milliarden Euro auf 15,44 Milliarden Euro erhöht. Im gleichen Zeitraum, Frau Bender, haben sich die Rohgewinne der Apotheken und des Großhandels in Höhe von 5 Milliarden in 1995 und 4,94 Milliarden in 2005 sogar geringfügig reduziert. Das heißt, nicht die Apotheken sind die Kostentreiber; ({2}) vielmehr haben die Pharmakonzerne 72 Prozent der Kostensteigerungen im Bereich der Arzneien zu verantworten. Die Auseinandersetzung über diesen Fakt wird von Ihnen gescheut. An dieser mächtigen Lobby ist bisher im Kern noch jede Reform gescheitert. Ich befürchte, dass mit der Einführung von Apothekenketten zwangsläufig die Qualität der unabhängigen Beratung leidet. Wenn Apothekenketten von Pharmaunternehmen geführt werden, dann ist an eine unabhängige Medikamentenberatung nicht mehr zu denken. ({3}) Aber gerade das sollte unser Ziel sein: die qualifizierte und hochwertige Arbeit der Pharmazeuten. Es bleibt nach meiner Erkenntnis - das haben Gespräche mit vieFrank Spieth len Apothekern bestätigt - die Notwendigkeit, den Apotheker als letztes Korrektiv bei falschen Verschreibungen einzusetzen. Es stimmt, dass die meisten Apothekenbesitzer in Deutschland ein durchaus auskömmliches Nischendasein führen. Daran haben auch die Internetapotheken und der Versandhandel mit Arzneimitteln nichts geändert. Richtig ist auch, dass die Qualität der Beratung und der Service mancherorts verbesserungswürdig sind. Darüber können wir reden. Die Grünen gehen aber von Einsparmöglichkeiten aus, die ich für irreal halte. Wie soll das funktionieren? Die Apotheken erhalten unabhängig vom Abgabepreis des jeweiligen Medikaments eine Pauschale in Höhe von 6,10 Euro. Naturalrabatte, wie sie bis zur Einführung des Arneimittelverordnungs-Wirtschaftlichkeitsgesetzes gegeben waren, sind mittlerweile verboten. Kurzum: Apothekerinnen und Apotheker haben kein eigenes wirtschaftliches Interesse mehr an den Arzneimittelpreisen. Deshalb ist dieser Ansatz falsch. Wie sollen Apothekenketten 2 Milliarden Euro einsparen können, wenn es durch die Politik der letzten Jahre nicht möglich war? Aus welchem Grund sollen all die Apothekenketten bereit sein, die Vorteile aus ihren ausgehandelten Rabatten an die Versichertengemeinschaft weiterzugeben? Ich sehe an dieser Stelle keine Chance. Die Erfahrungen in den USA - das wurde bereits ausgeführt - und in Norwegen zeigen, dass dieser Weg in die falsche Richtung führt. Monopole, wie sie dort entstehen, würden uns das Fürchten lehren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssen zum Ende kommen.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Ich meine, wir sollten einen anderen Weg gehen. Unsere Fraktion wird sich dem Antrag der Grünen nicht anschließen. Wir lehnen - wie hoffentlich die Mehrheit des Parlaments - diesen blinden Neoliberalismus ab. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Margrit Spielmann, SPDFraktion.

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Lobbyistin zu sein, ({0}) habe ich mir erlaubt, den Antrag der Grünen bei Apothekerinnen und Apothekern in meinem Wahlkreis vorzustellen. Ich möchte Ihnen das Ergebnis mitteilen. Alle Apothekerinnen und Apotheker haben festgestellt, dass sie in erster Linie Apotheker sind, dass sie persönliche Verantwortung tragen und in der Haftung stehen und dass sie Beratung und Betreuung übernehmen wollen, um damit ihrem Selbstverständnis als Heilberufler nachzukommen. Sie wollen aber nicht in Zukunft Kaufleute oder Kettenbesitzer sein. Denn sie meinen, dass nur die unabhängige inhabergeführte Apotheke ihrer Verpflichtung nachkommen kann. ({1}) - Dazu komme ich noch, Frau Kollegin Bender. - Deshalb muss verhindert werden, dass in Deutschland Kettenstrukturen ähnlich wie bei den Lebensmittelketten oder den von Ihnen angeführten Bäckern etabliert werden. Ich meine, Frau Bender, dass solche Systeme profitorientiert sind. Der Verbraucherschutz und die Heilberuflichkeit treten in den Hintergrund. Zu Ihrer Frage, Frau Bender: In einer von rein kaufmännischen Interessen geleiteten Kette würden unter anderem die Versorgungssicherheit und die Qualität leiden, weil sie zugunsten rein wirtschaftlicher Überlegungen in den Hintergrund treten würden. Ketten würden sich zudem auf bestimmte lukrative Standorte konzentrieren, sodass die flächendeckende Versorgung und vor allem die Arzneimittelsicherheit nicht mehr gewährleistet werden könnten. ({2}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wollen mit Ihrem Antrag die Arzneimittelversorgung von 82 Millionen Menschen mir nichts, dir nichts auf den Kopf stellen. Ich frage mich, wo dabei die sachliche Rechtfertigung bleibt, die Sie der bisherigen Versorgungsstruktur absprechen. Sie erwähnen mit keinem Wort die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Apotheken und machen nicht deutlich, was sie erwartet, wenn die im Antrag enthaltenen Forderungen umgesetzt würden. Sie sagen auch nichts zu den Leistungen, die täglich vom Heilberuf des Apothekers erbracht werden. In Ihrem Antrag gehen Sie auch nicht auf die Konsequenzen ein, die Kettenstrukturen auf die Arbeitsplätze und die qualitativ hochwertigen Ausbildungsplätze in Apotheken hätten. Mit Ihrem Antrag wollen Sie die Axt an ein System legen, das den Menschen eine flächendeckende und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sichert. Wer heute als Patient oder Patientin mit einem Rezept aus der Arztpraxis kommt, erhält in den meisten Fällen das verordnete Medikament noch am selben Tag, und dies unabhängig davon, wo er lebt. Außerhalb der üblichen Ladenöffnungszeiten stehen die Apothekerinnen und Apotheker im Not- und Nachtdienst der Arzneimittelversorgung der Menschen zur Verfügung, und dies in Stadt und Land, Frau Bender. Ich weiß nicht, wie Sie sich die Not- und vor allem die Nachtversorgung vorstellen. In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass wir erst dann rechtliche Änderungen vornähmen, wenn wir dazu gezwungen würden, dass wir erst dann tätig würden, wenn uns der Europäische Gerichtshof dazu zwinge. Ich sage Ihnen: Wir haben im Apothekenbereich - ich will gar nicht verschweigen: auch mit Ihrer Unterstützung 5260 wichtige Veränderungen auf den Weg gebracht. Die Vergütung der Apotheker wurde von einem prozentualen, am Arzneimittelpreis orientierten Zuschlag auf einen festen Zuschlag umgestellt. Der Mehrbesitz ist erlaubt, sodass man neben der Hauptapotheke drei Filialen betreiben kann. Der Versandhandel ist zugelassen. Dieses System funktioniert und muss erhalten bleiben. ({3}) Wir wollen den Apotheker als Heilberufler, der alle Anstrengungen unternimmt, um die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung sicherzustellen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es ist vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 16/2506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister ({0}) - Drucksache 16/960 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 16/2781 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Hierfür ist ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Guten Abend, Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Januar 2007 werden im Justizbereich die Register in Deutschland auf die elektronische Führung umgestellt. Unternehmen und Notare können dann per Mausklick den Registergerichten Anmeldungen und Dokumente in elektronischer Form übermitteln. Damit vereinfachen und beschleunigen wir die Arbeit der Register. Wir sparen Postlaufzeiten und reduzieren die Zahl der Arbeitsschritte. Nutznießer sind aber nicht nur die Registergerichte, sondern vor allem auch Existenzgründer und Unternehmen, die schneller und kostengünstiger zu ihrer Eintragung kommen. Nutznießer ist aber auch, wer Informationen aus dem Handelsregister abrufen möchte. Anders als beim ortsgebundenen Papierregister kann in das elektronische Register jederzeit und von jedem Ort aus über das Internet Einsicht genommen werden. Die Recherche im elektronischen Register ist bequemer, schneller und kostet weniger. Der elektronische Abruf von Handelsregisterbekanntmachungen wird unentgeltlich und ohne vorherige Anmeldung möglich sein. Der elektronische Registerauszug kostet künftig 4,50 Euro, während man früher für einen nicht beglaubigten Registerauszug 10 Euro zahlen musste. So gut und so richtig der Gesetzentwurf ist, so sehr bedauere ich einige der Änderungen, die an unserem Regierungsentwurf vorgenommen wurden. Es ist schade, dass Unternehmen in Deutschland noch zwei Jahre länger als eigentlich notwendig mit den Kosten für Tageszeitungsbekanntmachungen belastet werden. Was antworte ich nun einem jungen Existenzgründer aus meinem Wahlkreis, wenn er mich fragt, warum er bis zu mehreren Hundert Euro an eine Tageszeitung zahlen muss, obwohl die Registerbekanntmachung im Internet steht und dort problemlos eingesehen und abgerufen werden kann? Vielleicht sage ich ihm: Hol dir dein Geld bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages! Diese Übergangsfrist - meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das wissen Sie alle selbst genau - ist wirtschaftsfeindlich und schadet gerade kleinen und mittleren Unternehmen. Sie kostet Geld und nutzt eigentlich nur den Zeitungsverlegern, die weiterhin von einer staatlich angeordneten Quersubventionierung profitieren. Mir ist natürlich klar, dass Sie alle unter dem Druck der massiven Kampagne der Zeitungsverleger standen. ({0}) Ich denke, man hätte darauf hinweisen müssen, was die Redakteure schreiben. Sie schreiben, man müsse die Wirtschaft von Bürokratiekosten entlasten, man müsse die öffentliche Verwaltung modernisieren, Informationstechnologien nutzbar machen und Richtlinien strikt eins zu eins umsetzen. All das haben wir gemacht. Für ebenfalls wenig geglückt halte ich die Änderung bei den Sanktionen für unterlassene Einreichungen der Jahresabschlüsse. Wir sind europarechtlich dazu gehalten, diese Bekanntmachungspflichten wirksam durchzusetzen. Die Unternehmen kennen ihre Pflichten und wissen, was sie tun müssen. Wenn sie trotzdem nichts veröffentlichen, dann - so war unsere Meinung ist ein Bußgeldverfahren die richtige und angemessene Sanktion. Mit dem Ordnungsgeldverfahren, das jetzt vorgeschlagen wird, schaffen wir demgegenüber neue Bürokratie und neue Kosten, die letztlich der Steuerzahler zu tragen hat. Als wir gestern abschließend im Rechtsausschuss beraten haben, da habe ich einen Stoßseufzer losgelassen und gesagt: Gott sei Dank, dass es zu Ende ist, aber musste es so schlimm kommen? - Dann kam eine Stimme aus dem Off und sagte: Sei demütig, Hartenbach, es hätte viel schlimmer kommen können! In der Tat, wenn wir mit den Grünen, unseren ehemaligen Freunden, regieren würden, ({1}) - natürlich - unserem vorherigen Regierungspartner, dann wäre jetzt die Veröffentlichungspflicht in den Zeitungen bis 2011 vorgeschrieben. Dann müsste ich dem jungen Unternehmer aus meinem Wahlkreis sagen: Hol dir dein Geld bei Jerzy Montag! Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister - EHUG - ist ein begrüßenswerter Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz und mehr Bürgerfreundlichkeit. Durch die Umstellung auf die elektronische Registerführung wird die derzeit auf verschiedene Datenbanken aufgeteilte Unternehmenspublizität in ein zeitgemäßes und benutzerfreundliches System überführt. Dadurch wird es künftig - der Herr Staatssekretär hat es schon gesagt - sehr viel leichter möglich sein, über das Internet Informationen über Gesellschaften aus dem Handelsregister zu erhalten, was zu erheblichen Erleichterungen in der Wirtschaft führen wird. In vielen europäischen Ländern ist ein elektronisches Handelsregister bereits Standard, zum Beispiel in England, Österreich, Finnland, Belgien und Italien. Wir sind insofern also wieder nicht bei den Ersten. In Deutschland war es bisher gesetzlich vorgeschrieben, die einzutragenden Unternehmensdaten in der öffentlichen Tagespresse und im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Diese Veröffentlichung soll nun durch elektronische Bekanntmachung abgelöst werden. Dies führt - darüber waren wir uns alle einig - zu gewissen Übergangsschwierigkeiten und ruft nach Übergangsfristen. ({0}) Für die FDP kann ich sagen: Ich bin froh, dass sich im Berichterstattergespräch die Auffassung durchgesetzt hat, eine für alle Bundesländer gleichermaßen geltende Übergangsvorschrift festzulegen. Eine Länderöffnungsklausel, wie von der Regierung vorgeschlagen, hätte zu einer Rechtszersplitterung innerhalb Deutschlands geführt und wäre daher für die Wirtschaft schädlich gewesen. ({1}) Leider scheint es aber zwischen dem Bundesjustizministerium und dem Bundesfinanzministerium keine ausreichende Abstimmung zu geben. ({2}) Anders ist es nämlich nicht zu erklären, dass wir heute mit dem EHUG in § 72 a der Börsenzulassungs-Verordnung einen neuen Absatz 2 einfügen, der für bestimmte Veröffentlichungen, nämlich unter anderem für solche nach § 63 der Verordnung, eine Übergangsfrist vorsieht. Durch den Entwurf des Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes aus dem Bundesfinanzministerium wird dies jedoch wieder aufgehoben, da die entsprechende Vorschrift gestrichen werden soll. Auch wenn der Inhalt der Vorschrift an anderer Stelle, nämlich im Wertpapierhandelsgesetz, geregelt werden soll, wie der Kollege Hartenbach in seiner Antwort auf meine Frage ausgeführt hat, so fehlt es in dem Entwurf des Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes jedenfalls an einer Änderung oder Ergänzung des heute hier zu verabschiedenden § 72 a Abs. 2 EHUG, damit die Übergangsvorschrift wieder zum Tragen kommt. ({3}) Hier muss zweifellos nachgebessert werden, da sonst der Wille des Gesetzgebers konterkariert wird. Herr Hartenbach, ich muss Ihnen hier sagen: Sie sind noch nicht am Ende. Sie müssen zusammen mit dem Bundesfinanzministerium noch nachbessern. ({4}) Ich möchte noch ganz kurz auf die von Ihnen angesprochene Übergangsfrist zu sprechen kommen. Sie haben gesagt, dass die Zeitungsverlage die Hauptnutznießer sind. Nein, es sind nicht nur Zeitungsverlage. Auch kleine und mittlere Unternehmen bedürfen nämlich dieser längeren Übergangsfrist. Wir halten eine Übergangsfrist von drei Jahren für angemessen; dementsprechend ist die Regelung in unserem Änderungsantrag. So weist zum Beispiel der Zentralverband des Deutschen Handwerks in seiner Stellungnahme darauf hin, dass noch nicht alle Unternehmen mit den gleichen elektronischen und kommunikativen Mitteln ausgestattet sind, und fordert etwa eine fünfjährige Übergangsfrist. Gerade Handwerksbetriebe in ländlichen Gebieten verfügen noch nicht über den für die Teilnahme an der elektronischen Registerführung erforderlichen Internetanschluss. Zu bedenken ist auch: Sie haben auch die Verbraucher als Nutznießer dargestellt; sie könnten die Daten durch einen Blick ins Internet leicht einsehen. Eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit dem Internet ist noch längst nicht gewährleistet. In vielen Bundesländern verfügen erst 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung über einen Internetanschluss. Ich komme zum Schluss. Auch wenn wir von der FDP uns eine längere Übergangsfrist, nämlich bis 2009, gewünscht hätten - wir haben einen entsprechenden Änderungsantrag gestellt, der von der CDU/CSU übrigens nicht befürwortet wurde, obwohl auch die Kollegen im Bundesrat diese Übergangsfrist vorgeschlagen hatten -, möchte ich hervorheben, dass es sich - wenn die Ergänzungen vorgenommen worden sein werden - insgesamt um ein gelungenes Werk handelt und für die Wirtschaft durchaus wichtig ist. ({5}) Ich danke Ihnen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Eine Anmerkung, verehrter Herr Staatssekretär Hartenbach: Meinem Verständnis von Parlamentarismus entspricht es, dass es durchaus vorkommen kann, dass das Parlament, der Gesetzgeber, in Teilen anderer Auffassung ist als die Regierung. ({0}) Wir beschließen heute - das ist schon gesagt worden; ich meine, man kann es zusammenfassen - einen weiteren Meilenstein im elektronischen Rechtsverkehr. Mit der Schaffung weiterer Rechtsgrundlagen für die flächendeckende elektronische Führung der Handels-, Genossenschafts- und Partnerschaftsregister und mit der Schaffung eines künftigen Unternehmensregisters mit einem zentralen digitalen Portal für Wirtschaftsinformationen setzen wir nicht nur EU-Vorgaben um; die große Koalition modernisiert vielmehr auch weitere Bereiche der Justizverwaltung im Sinne einer schnelleren und effizienteren Dienstleistung für die am Wirtschaftsleben Beteiligten. Ich begrüße es, dass dieses Gesetzgebungsvorhaben letztlich im Einvernehmen mit fast allen Fraktionen dieses Hauses erfolgen konnte, so wie dies bereits im vergangenen Jahr beim Justizkommunikationsgesetz der Fall war, mit dem die rechtlichen Grundlagen für die elektronische Aktenführung geschaffen wurden. Justiz, so heißt es, ist immer auch ein Standortfaktor. Mit dem EHUG können künftig Registereintragungen und alle wesentlichen Unternehmensinformationen im Wege eines One-Stop-Shops, also über ein zentrales Internetportal, abgerufen werden. Die von vielen Unternehmen oftmals kritisierten langwierigen Verfahren zur Eintragung in die Register werden durch eine flächendeckende elektronische Führung und weitere Erleichterungen deutlich verkürzt. ({1}) So wird der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf erheblich und nachhaltig dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. ({2}) Mit dem Einsatz moderner Techniken vollzieht sich naturgemäß ein nicht immer unumstrittener Anpassungsprozess. Eine Frage - das ist hier schon angesprochen worden - betraf die Wirkungsweise der digitalen Publikation von Wirtschaftsinformationen. Es geht dabei konkret um die Frage, wie mit den bisher im HGB und in der Börsenzulassungs-Verordnung geregelten Pflichtveröffentlichungen von Unternehmensinformationen in regionalen Tageszeitungen und Börsenblättern umzugehen ist. Die künftige Internetveröffentlichung erfüllt sicherlich die rechtlichen Anforderungen an die Publizität von Registereintragungen und macht die mit zusätzlichen Kosten verbundene bisherige Veröffentlichung in den gedruckten Tageszeitungen dauerhaft entbehrlich. Bei der Frage „Laptop oder Zeitung?“ geht es aber nicht nur darum, wer welches Medium bevorzugt, wer mit welchem Medium lieber arbeitet; es geht schon auch darum, sich von einem langjährig bewährten umfassenden Publizitätssystem zu verabschieden und es durch eine neue, zentral abrufbare digitale Publikation - das sind ganz neue Dimensionen - zu ersetzen. Es darf aber nicht verkannt werden, dass für viele bei der täglichen Lektüre der regionalen Wirtschaftsnachrichten die Tageszeitung das zentrale Medium ist, um sich über die geschäftlichen Aktivitäten von Kunden und Konkurrenten zu informieren. Die Informationen werden buchstäblich ins Haus gebracht. Gerade im Bereich der Börsenpflichtinformationen sorgen begleitende Bewertungen und Informationen der Printpresse für eine kompakte, umfassende Unterrichtung. Die Internetveröffentlichung dagegen erfordert die gezielte Suche, bei der vor Erlangung der gewünschten Informationen erst recherchiert werden muss. Es stellt sich aber auch die Frage, welche Chancen und Risiken mit der gebündelten digitalen Publizierung veröffentlichungspflichtiger Informationen verbunden sein werden. Deshalb empfehle ich uns eine sorgsame Beobachtung. Ich bin der Auffassung, dass dieses neue Publizitätssystem letztlich von der Wirtschaft gebraucht wird, für einen modernen Standort unerlässlich ist, schnell von der Wirtschaft angenommen wird und sich auch bewähren wird. Dann aber ist eine dauerhafte oder langfristige Dualität, also Doppelveröffentlichung, digital und in der Printpresse, nicht haltbar ({3}) und gegenüber den Unternehmen, die die Kosten für die zusätzliche Printveröffentlichung zu tragen haben, auch nicht zu verantworten. ({4}) Unter Abwägung der genannten Bedenken sagen die Koalitionsfraktionen Ja zur zentralen digitalen Publikation. Um sich aber auf diese einzustellen, bedarf es eines Anpassungsprozesses. Herr Hartenbach, ich hätte mir gewünscht, dass Sie auch darauf eingegangen wären. Es geht nicht nur um den Druck, der vielleicht durch Zeitungsverlage entstanden ist. Ich sagte es vorhin: Wir verabschieden uns von einem bewährten Publikationssystem. ({5}) Wir wissen auch noch nicht, ob es technisch einwandfrei laufen wird. Wir haben aber die Verantwortung und die Verpflichtung - das darf man nicht vergessen -, für eine ordnungsgemäße Publizität zu sorgen. ({6}) Auf Initiative der CDU/CSU haben sich die Koalitionsfraktionen zur Begleitung und Erleichterung justament dieses Anpassungsprozesses auf eine zweijährige bundeseinheitliche Beibehaltung der parallelen Veröffentlichung von Registereintragungen und Börsenpflichtinformationen in den Printmedien verständigt. ({7}) Außerdem wollen wir vor Ablauf der Übergangszeit einen Bericht darüber, ob die technischen Voraussetzungen für die digitale Publizität reibungslos funktionieren und daher dem gesetzten Anspruch gerecht werden. ({8}) Durch diese bundeseinheitliche zweijährige Übergangsregelung wird verhindert, dass Investoren sich unter Umständen von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk mit unterschiedlichen Bekanntmachungsvorschriften auseinander setzen müssen. Ich sagte es schon: Wir kommen damit auch den Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen entgegen, denen die Möglichkeit eingeräumt wird, sich in dieser Übergangszeit an die online gesteuerte Informationsbeschaffung zu gewöhnen. Eine zweite wichtige Frage während der Beratungen zum EHUG war, mit welchen Sanktionen Verstöße von Unternehmen gegen die Publizitätspflicht zu ahnden sind. Es ist zutreffend: Wir können immer wieder feststellen, dass nur eine geringe Anzahl von Unternehmen dieser Offenlegung unaufgefordert nachkommt. Auffallend ist in dem Zusammenhang übrigens auch, dass von dem Recht, Anträge auf Offenlegung zu stellen, das derzeit jedem Dritten zusteht, nur geringfügig Gebrauch gemacht wird. Unstreitig ist aber, dass die Offenlegungspflicht seit Jahren geltendes Recht ist. Publizitätspflichten von Kapitalgesellschaften sind auch der Preis für die Vorteile aus der Haftungsbeschränkung. Wer sich einer Rechtsform bedient, die nach geltender Rechtslage Publizitätspflichten fordert, muss ihnen auch nachkommen. Die Nichtbefolgung des Rechts ist der Autorität des Rechts nicht förderlich. Wir standen daher auch vor der Frage, ob die bestehenden Sanktionen nachhaltiger und wirkungsvoller zu gestalten sind. Es gibt einerseits in der Wirtschaft, insbesondere im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen, so sie denn unter die Veröffentlichungspflichten fallen, immer wieder die Besorgnis, ob und, wenn ja, inwieweit die Publizierung mit wirtschaftlich nachteiligen Folgen verbunden ist. Deshalb halte ich es für nicht angebracht, in jedem Verstoß gegen die Offenlegungspflicht eine böswillige oder absichtliche Auflehnung gegen die Rechtsordnung zu sehen. Andererseits ist es aber Aufgabe der Rechtspolitik, die Sicherung und Förderung des Rechtsverkehrs an die größtmögliche Publizität der Registerinformationen zu binden und für deren Einhaltung zu sorgen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Hinzu kommt die neue Dimension der Publizität, die künftig zentral und digital abrufbar hergestellt werden soll. Im Lichte dieser Diskussion erschien uns ein Bußgeldverfahren so, wie es der Gesetzentwurf zum EHUG ursprünglich mit einer Bußgeldandrohung von bis zu 50 000 Euro als Sanktion für den Fall der unterlassenen Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen vorsah, zum jetzigen Zeitpunkt unverhältnismäßig. Warum gleich das scharfe Schwert des Ordnungswidrigkeitenverfahrens hervorholen, wenn das Ziel auch mit einem Ordnungsgeldverfahren in modifizierter Form erreicht werden kann? Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich dem Koalitionspartner SPD, der sich unserer Argumentation nicht verschlossen hat, dass man die Unternehmen nicht gleichzeitig mit der Einführung des EHUG noch mit neuen Bußgeldtatbeständen belasten dürfe. ({9}) Ich verhehle nicht, dass es bei der Frage der Sanktionierung in den Beratungen der Koalitionspartner unterschiedliche Positionen gab ({10}) - ich weiß -: von der Beibehaltung des bisherigen Sanktionsverfahrens bis hin zum scharfen Schwert des Bußgeldverfahrens. Wir konnten uns auf einen, wie ich meine, tragfähigen Kompromiss verständigen. Als Sanktion bleibt ein Ordnungsgeldverfahren mit einer Ordnungsgeldandrohung bis maximal 25 000 Euro, das aber von Amts wegen eingeleitet werden kann. Im Rahmen einer Evaluierung wollen wir zudem die Entwicklung in den nächsten zwei Jahren beobachten. Ich erlaube mir an dieser Stelle aber auch die Anregung, meine Damen und Herren Kollegen, dass ich es für notwendig erachte, die uns insbesondere auch durch die Europäische Union vorgegebenen Publizitätspflichten und die damit verbundenen Offenlegungspflichten für Unternehmen, die nicht den organisierten Kapitalmarkt in Anspruch nehmen, hinsichtlich Umfang, Notwendigkeit und ökonomische Risiken gerade für die davon betroffenen mittelständischen Betriebe, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene, zu thematisieren und zu diskutieren. Ich sagte eingangs, Justiz ist ein Standortfaktor. Ich denke, das EHUG in der jetzt zu beschließenden Form leistet einen wichtigen Beitrag zur Stärkung einer modernen, dienstleistungsfreundlichen Justizverwaltung. Vielen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Kollegin Sevim Dagdelen von der Fraktion Die Linke hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat der Kollege Jerzy Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hartenbach, Sie haben uns heute gezeigt, dass es manchmal sehr schwer ist, gleichzeitig Parlamentarier und Regierungsmitglied zu sein. Deswegen empfehle ich Ihnen: Bleiben Sie bei Ihrem Vorsatz der Demut. Gesetze werden in diesem Land immer noch vom Parlament und nicht von der Bundesregierung gemacht. ({0}) - Seien Sie also stolz darauf, Parlamentarier zu sein. - Sie wissen ganz genau, wir übernehmen für die Gesetze, die wir hier machen, die politische Verantwortung und Haftung. Aber die Zeiten, da wir persönlich dafür zur Kasse gebeten wurden, sind vorbei. Insofern war Ihr an mich gerichteter Vorschlag vielleicht ein bisschen veral- tet. Ihnen, Herr Kollege Dr. Gehb, will ich sagen: Sie brauchen keine Minute zu warten. Wir Grünen sind für dieses Gesetz. Wir finden es richtig und werden dafür stimmen. Endlich bekommt dieses Land ein elektronisches Handelsregister, ein elektronisches Genossenschaftsre- gister und ein elektronisches Unternehmensregister. Es wird möglich sein, online in diese Register Daten einzu- stellen, online Einsicht zu nehmen und sie online abzu- rufen, und zwar nicht nur zu Dienstzeiten, sondern jeder- zeit, und nicht nur von bestimmten Orten, sondern weltweit. Wir erfüllen damit die Anforderungen der Pu- blizitätsrichtlinie und der Transparenzrichtlinie. Die Umsetzungsfrist läuft Ende des Jahres aus. Deswegen sei an dieser Stelle auch vermerkt: Fast hätten wir die Frist nicht eingehalten. In der Praxis wird es bei der Um- stellung noch Schwierigkeiten geben, weil Sie den Ent- wurf in den Sommerferien zwischenzeitlich einmal in der Versenkung haben verschwinden lassen. 1) Anlage 6 Besonders das neue Unternehmensregister, das die Informationen des elektronischen Handelsregisters und die des elektronischen Bundesanzeigers zusammenführt, beendet die Zersplitterung der Unternehmensinformationen in Deutschland und erfüllt insofern auch die Forderung der Regierungskommission von 2001 über Corporate Governance. Auch die Kosten für Eintragungen und für Abrufe werden sinken, wenn wir, was ich nicht hoffe, die Gebühren, die jetzt vereinbart wurden, nicht bald drastisch erhöhen werden. Die Senkung der Gebühren ist damit ein weiterer mit diesem Gesetz verbundener Vorteil. Trotzdem handelt es sich nicht um ein völlig problemloses Gesetz. Nicht jeder in Deutschland hat einen Internetanschluss, nicht jeder verfügt über die Kenntnisse und Fähigkeiten, dieses Medium zu bedienen. Deshalb hat auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks - darauf ist schon hingewiesen worden -, der genau die Menschen vertritt, die mit diesem Medium vielleicht nicht so vertraut sind, um eine Übergangsfrist gebeten. Sich mit dieser Forderung zu beschäftigen, ist kein billiger Klientelismus, kein Nachgeben gegenüber einer Lobby, sondern ein Eingehen auf eine berechtigte Forderung. Wir sind nach vielen Überlegungen auf die Forderung des Zentralverbandes nach einer Übergangszeit von fünf Jahren nicht eingegangen. Natürlich müssen auch die Interessen der Zeitungsverleger berücksichtigt werden. In der kurzen Zeit, die mir noch bleibt, möchte ich sagen: Herr Kollege Hartenbach, sollten Sie in Ihrem Wahlkreis wirklich einen jungen Unternehmer haben, der sich bei Ihnen über die 100 Euro beschwert, die er weiterhin an die Zeitungen zahlen muss, dann schicken Sie ihn zu mir. Ich werde versuchen, ihm das zu erklären. Sie aber scheinen in Ihrem Wahlkreis keinen Mittelständler mehr zu haben, der eine Zeitung verlegt. Deshalb sind Ihnen offensichtlich die Probleme, die sich für diese ergeben, fremd. Ich kann Ihnen sagen: In dem Wahlkreis, in dem ich Wahlkampf gemacht habe und in dem ich lebe und wohne, gibt es - glaube ich - mehr Jungunternehmer als bei Ihnen und bei mir hat sich kein einziger beschwert. ({1}) Aber der Verband Bayerischer Zeitungsverleger, der viele mittelständische Zeitungen vertritt - in Bayern haben wir immer noch eine aufgefächerte Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft -, hat uns darüber berichtet, zu welchen Friktionen der Übergang führt. Wir als Grüne haben uns eine längere Übergangszeit gewünscht und dafür auch gefochten. Die zwei Jahre, die wir bekommen haben, sind ein Kompromiss, mit dem wir leben können. Deshalb erklären wir auch, dass wir dem Gesetz, weil es ein gutes Gesetz ist, zustimmen werden. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion.

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Guten Gewissens können wir - auch nach der Erleichterung des Kollegen Staatssekretär Hartenbach - sagen: Das Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, das wir heute verabschieden werden, ist ein Jahrhundertwerk. Warum ein Jahrhundertwerk? Weil dieses Gesetz das Handelsregister vom Stand des Jahres 1897, als es mit Verabschiedung des Handelsgesetzbuches eingeführt worden ist, auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringt. Das ist gut so. Denn in den letzten 109 Jahren haben sich ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen einschneidend verändert. Das beginnt bei der Kommunikation über das Internet, geht über die Globalisierung der Ökonomie bis hin zur heute im Vergleich zur damaligen Zeit viel engeren Taktung des Tagesgeschehens. Man muss sich mit dem 19. Jahrhundert auseinander setzen. Ich sage: Im 19. Jahrhundert war das Medium Tageszeitung nicht jedem in dem Maße zugänglich, in dem es das heute ist. Ebenso ist das Medium Internet heute - ohne zu übertreiben - in einem Maße verbreitet, wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert die Tageszeitung war, sodass wir mit der angemessenen Übergangsfrist von zwei Jahren eine vernünftige und zeitgemäße Methode schaffen, Transparenz im Handels- und Unternehmensregister zu ermöglichen. Ich denke, Transparenz muss im Mittelpunkt des Registers stehen. Um Transparenz zu ermöglichen, brauchen wir natürlich jemanden, der Daten liefert. Die entscheidende Frage, die die Kollegin Voßhoff - bei der ich mich für die gute Zusammenarbeit in der Berichterstatterrunde ebenfalls sehr herzlich bedanke bereits angesprochen hat, ist die: Wie bringe ich jemanden, der nicht will, dazu, die Daten auf diese Weise einzustellen? Die Koalition hat sich anstelle eines Bußgeldverfahrens für ein Zwangsverfahren entschieden, das von Amts wegen durchzuführen ist. Es bringt im Gegensatz zu dem Bußgeldverfahren in weiten Teilen eine Entlastung für die Gerichte, die ansonsten in Einspruchsfällen Entscheidungen über Bußgeldbescheide zu treffen hätten. Mit dem Zwangsverfahren ist ein gewisser, wenn auch kleiner Verwaltungsaufwand verbunden. Dieser Aufwand für die Androhung eines Zwangsgeldes wird mit der Erhebung einer Gebühr in Höhe von 50 Euro in Rechnung gestellt. Um es offen zu sagen: 50 Euro sind nur ein geringer Betrag dafür, dass jemand seiner Verpflichtung nicht nachkommt und dadurch ein Verwaltungsverfahren auslöst. In der von der Kollegin Voßhoff angesprochenen Evaluation müssen wir uns auch über die Gebührenhöhe unterhalten. Insgesamt ist das Gesetz ein tragfähiger Kompromiss zwischen vielen Interessen, der nach einer zweijährigen Übergangszeit ein modernes Handelsregister mit viel Transparenz ermöglicht. Es war ein langes Gesetzgebungsverfahren, dem wir uns unterworfen haben. Dabei ist ein gutes Gesetz herausgekommen. Ich bitte Sie um eine möglichst breite Zustimmung. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über elek- tronische Handelsregister und Genossenschaftsregister so- wie das Unternehmensregister auf Drucksache 16/960. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/2781, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 12 a und 12 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Friedrich ({0}), Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Lärmschutz im Schienenverkehr verbessern Marktwirtschaftliche Anreize nutzen, Schienenbonus überprüfen - Drucksache 16/675 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf den Weg bringen - Drucksache 16/2074 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({3})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dauerhafter Lärm belastet die Umwelt und gefährdet die Gesundheit. Auch im Güter- und Personenverkehr auf der Schiene besteht hier noch Nachholbedarf. Etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlen sich durch den Schienenverkehrslärm belästigt; etwa ein Viertel davon schwer. Insbesondere nachts wird der Schlaf durch Gütertransporte gestört und die Regenerationsphase des Körpers beeinträchtigt. In puncto Lärmschutz muss auch auf der Schiene mehr passieren. ({0}) Das Gesetz schützt derzeit nur Anwohner von Neubaustrecken durch Erstattung der Aufwendungen für passiven Schallschutz. Doch selbst hier besteht Handlungsbedarf, da im Vergleich zu anderen Lärmquellen mit zweierlei Maß gemessen wird. Der Grund liegt im so genannten Schienenbonus, wonach - anders als bei anderen Verkehrsträgern - pauschal 5 dB vom gemessenen Schallpegel abgezogen werden, und das sogar in der Nacht. Diese Regelung folgt dem Ergebnis sozialwissenschaftlicher Studien, wonach Anlieger an Schienenwegen durch Lärm weniger belastet würden als Anlieger an Straßen. Nicht nur weil diese Studien aus den 70er- und 80er-Jahren stammen, ist die Begründung heute mehr als fraglich. ({1}) Die Entwicklung im Schienenverkehr und neue Betriebsformen wie Hochgeschwindigkeitsverkehr und dichtere Zugfolgen stellen in Zweifel, ob dies noch zeitgemäß ist. Deshalb fordern wir als FDP die Überprüfung des Schienenbonus. ({2}) Generell brauchen wir mehr Sensibilität für den vorbeugenden Lärmschutz an Neubaustrecken. Wenn die Bahn zum Beispiel eine neue transeuropäische Güterbahnstrecke am Rhein quer durch die Stadt Offenburg plant, statt sie um die Stadt herum oder durch einen Tunnel zu führen, dann provozieren Bahn und Planungsbehörden sehenden Auges massive Lärmbelästigungen, die vermeidbar wären. ({3}) An bestehenden Schienenwegen besteht ein besonders hoher Bedarf an Lärmsanierung. Dabei könnten wir heute mit dem Einsatz moderner Technik einen erheblichen Beitrag zur Lärmminderung leisten. Beispielsweise kann durch den Einsatz moderner Kunststoffbremsen eine Lärmreduzierung von 15 dB erreicht werden. Weitere Maßnahmen wie Radschallabsorber, dämpfende Federungen oder auch leisere Loks und Drehgestelle könnten helfen, den Lärm zu mindern. Andere Länder wie Österreich und die Schweiz zeigen, dass das möglich ist. ({4}) Fest steht: Die Haushaltsmittel zur Lärmsanierung sind begrenzt. Das freiwillige Lärmsanierungsprogramm für den Bau von Schallschutzwänden, den Einbau von Schallschutzfenstern und die Gleispflege reicht bei weitem nicht aus, um den bestehenden Lärmsanierungsbedarf zu decken. Bei den heutigen Haushaltsansätzen dauert die Sanierung etwa drei Jahrzehnte. Deshalb müssen wir uns stärker dem aktiven, vorbeugenden Schallschutz an der Quelle zuwenden. ({5}) Die FDP fordert, dass das Schienenlärmsanierungsprogramm für die Umrüstung von Schienenfahrzeugen geöffnet wird. ({6}) Auch technische Maßnahmen zur Lärmreduzierung an der Quelle, wie zum Beispiel der Einbau einer Kunststoffbremse, sollten künftig aus den Mitteln dieses Programmes finanziert werden können. Das wäre ein wirksamerer flächendeckender Lärmschutz für die Betroffenen, als ausschließlich in Lärmschutzwände zu investieren. ({7}) Damit es keine Missverständnisse gibt: Schallschutzwände und Schallschutzfenster sind notwendig, aber nur an den Brennpunkten. Bei der ganzen Diskussion sollten wir nicht vergessen, dass wir es im Güterverkehr nicht nur mit der Deutschen Bahn, sondern auch mit vielen privaten Betreibern und ausländischen Bahnen zu tun haben. Deshalb reicht etwa ein Förderprogramm für die Deutsche Bahn nicht aus. Vielmehr brauchen wir marktwirtschaftliche Anreize dafür, dass alle Bahngesellschaften, alle diejenigen, die auf dem deutschen Schienennetz Waggons betreiben, einen Anreiz haben, Lärmschutzmaßnahmen durchzuführen. Hier sind unsere Nachbarländer weiter als Deutschland; denn in der Schweiz gibt es marktwirtschaftliche Anreize zur Durchführung von Lärmschutzmaßnahmen durch ein lärmabhängiges Trassenpreissystem. Auch die Niederlande und Österreich arbeiten an der Vorbereitung eines solchen Systems. Nur in Deutschland, wo wir das theoretisch bzw. eisenbahnrechtlich schon könnten, blockiert die Deutsche Bahn Netz AG jede Einführung lärmabhängiger Trassenpreise oder anderer umweltbezogener Differenzierungen. ({8}) Die Bundesregierung als Eigentümer schaut zu. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, nicht weiter untätig zuzusehen, sondern marktwirtschaftliche Anreize im Trassenpreissystem dadurch verpflichtend zu machen, dass sie die entsprechende Verordnung ändert. Frei nach dem Werbespruch der Bahn: „Die Bahn kommt“ - aber zu laut - muss sich auf der Schiene noch einiges bewegen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben mit unserem Antrag konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt: die Öffnung des Lärmschutzprogramms für den aktiven Schallschutz und lärmdifferenzierte Trassenpreise als marktwirtschaftlichen Anreiz. Wir laden Sie als Koalition ein, sich mit diesen Vorschlägen auseinander zu setzen und sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wie der Lärm auf den Schienen Deutschlands verringert werden kann. Denn so weiterzumachen wie bisher, bedeutet, dass ein umweltfreundlicher Verkehrsträger, zumindest was den Klimaschutz angeht, dadurch diskreditiert wird, dass er in einem anderen Bereich, nämlich bei den Lärmemissionen, anderen Verkehrsträgern hinterherhinkt. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Enak Ferlemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lärmsanierung an Schienenwegen des Bundes ist ein wichtiges Thema. Ähnlich wie im Straßenbau stellt sich dieses Problem bei den Schienenverkehrswegen. Es gibt wohl kein Mitglied im Verkehrsausschuss, das Folgendes nicht bejahen würde: Erstens. Verkehrslärm ist ein zentrales Problem mit vielen Folgewirkungen für die Betroffenen. Zweitens. Wir würden uns ein schnelleres Vorankommen bei der Lärmsanierung an Schienenwegen wünschen. Drittens. Die vorhandenen technischen Möglichkeiten sollten besser genutzt werden. Viertens. Die EU sollte - bei allem Respekt für die europäische Richtlinienpolitik - ihre beihilferechtlichen Vorgaben überdenken. Ich denke, wir sind uns da sehr einig. Ich begrüße es, dass zwei Oppositionsfraktionen unterschiedliche Anträge zum gleichen Thema gestellt haben. Meine Fraktion ist sich mit Ihnen einig, dass wir uns um dieses Thema kümmern müssen. Ich glaube, es gibt gute Chancen, dass wir bei diesem Thema zu einer Lösung kommen. ({0}) Die große Koalition hat deutlich gemacht, wie wichtig ihr dieses Thema ist: Wir haben beschlossen, dass die Mittel dafür im Haushalt für dieses Jahr erheblich - immerhin von 50 Millionen Euro auf 75 Millionen Euro aufgestockt werden. Damit wollen wir ein deutliches Zeichen setzen, dass wir in diesem Felde mehr tun wollen. Bei der vorliegenden Haushaltssituation ist das kein schlechtes Zeichen im Hinblick auf die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen. Es geht hier nicht um die neuen Schienenwege; denn beim Bau neuer Schienenwege wird der Lärmschutz heute stets berücksichtigt. Es geht also um die bestehenden Strecken. Ich halte nichts davon, dass wir ewig viel Geld in Lärmschutzwände, Doppelglasfenster und viele andere Dinge investieren. Eine Lärmsanierung ist nämlich wesentlich einfacher zu erreichen - das weiß jeder Fachmann -, indem man durch den Einsatz leiserer Fahrzeuge und Wagen den Lärm an der Quelle bekämpft. ({1}) Die Erkenntnis, dass wir den Lärm an der Quelle bekämpfen müssen, steht im klaren Widerspruch zu der bisher vorgegebenen Politik. Damit sind wir beim Thema der so genannten K-Sohle. Natürlich ist es sinnvoll, in alle bestehenden Güterwaggons K-Sohlen einzubauen. Man muss jedoch wissen, dass eine entsprechende Umrüstung eines Güterwaggons etwa 4 000 Euro kostet. Da der Umbau nach den Beihilferichtlinien der EU nur zu 30 Prozent gefördert werden darf, muss ein Eisenbahnunternehmen 70 Prozent selbst aufwenden. Denken wir nur einmal an die Deutsche Bahn AG. Derzeit befinden wir uns in den Verhandlungen über die Frage der Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG. Die Kapitalausstattung ist nicht so umfangreich, als dass der Deutschen Bahn eine solche Investition leicht fallen würde. Das gilt erst recht für andere Eisenbahnunternehmen. Es muss also auf europäischer Ebene eine Regelung zu der Frage gefunden werden, wie man mit diesem Problem umgehen will. Es gibt Signale, dass sich die Europäische Union hier öffnen will. Vorhin wurde gefragt, wie man das finanzieren könne. Aus meiner Sicht ist das relativ leicht zu machen. Wir haben ermittelt, dass innerhalb von zehn Jahren Kosten in Höhe von etwa 600 Millionen Euro entstehen, wenn wir alle bestehenden Fahrzeuge umrüsteten. Es gibt Berechnungen, dass sich die Kosten für eine passive Lärmsanierung auf 800 Millionen Euro belaufen würden, die wir dann einsparen würden. Es ist also wirtschaftlich sogar von Vorteil, wenn wir den Lärm an der Quelle bekämpften. Das Problem ist nur, dass wir nicht ausreichend Mittel haben. Wenn wir die Lärmsanierung für so wichtig halten, dass gehandelt werden muss, müssen wir eine Umfinanzierung im allgemeinen Eisenbahntopf vornehmen. Das kann man machen. Ich denke, wir sollten uns im Ausschuss in Ruhe darüber unterhalten. Die Überweisung an den Fachausschuss dient auch dazu, dass wir uns darüber Gedanken machen können. Ich finde es gut, dass die Grünen der Meinung sind, das Ganze dürfe nicht nur auf die DB AG begrenzt werden, sondern müsse - das ist ein Unterschied zum FDPAntrag - für alle Eisenbahnunternehmen gelten. Das ist übrigens ein wichtiges Kriterium für die Europäische Union: Wir dürfen nicht selektieren; für alle muss die gleiche Lösung gefunden werden. Insofern begrüße ich sehr, dass der Antrag der Grünen alle Wettbewerber im Schienennetz erfasst. Die Problematik der beihilferechtlichen Beschränkungen betrifft natürlich alle Mitgliedstaaten. Wir können nur eine europaweite Lösung anstreben. Das geht eben nur, wenn wir auf EU-Ebene eine Änderung der beihilferechtlichen Vorschriften erreichen. So ergäbe sich die Möglichkeit, in zehn Jahren mit diesem Thema abzuschließen. Es macht wesentlich mehr Sinn, in ganz Deutschland die Lärmbelästigung zu senken, als dies nur an einzelnen bestehenden Strecken zu tun. Verehrte Kollegen von den Grünen, weitere Studien halte ich in diesem Zusammenhang allerdings für überflüssig. Das wäre hinausgeworfenes Geld; denn wir alle kennen doch das Problem. Ich weiß nicht, warum in Ihrem Antrag weitere Studien gefordert werden. Ich glaube, Studien führen uns nicht weiter. Wir müssen vielmehr aus dem Haushalt heraus zu einer Finanzierung kommen, und zwar ohne den Gesamtansatz zu erhöhen, und das beihilferechtliche Problem mit der EU lösen. Das Schweizer Modell - es wurde bereits erwähnt ist ein interessanter Ansatz: lärmbezogene Trassenpreise. Dieses Modell gibt es in Deutschland derzeit noch nicht. Man muss sich gut überlegen, ob man in dieses Modell einsteigen will. Das kann man natürlich tun; das hätte aber viele wettbewerbsrechtliche Konsequenzen. Wenn wir Wettbewerb auf der Schiene wollen - ab dem 1. Januar 2007 gilt in Europa der freie Güterverkehr -, dann müssen wir aufpassen, dass wir diesen Wettbewerb nicht durch zu viele Regulierungen einschränken, zum Beispiel indem wir nur wenigen Unternehmen die Möglichkeit geben, Güterfernverkehr wirtschaftlich zu betreiben, weil die Preise auf den einzelnen Trassen unterschiedlich sind. Die Idee ist vom Grundsatz her sicherlich richtig. Es gilt aber abzuwägen, da es auf der anderen Seite auch Probleme gibt. Insofern freue ich mich auf eine fruchtbare Diskussion über dieses Thema im Ausschuss. Ich glaube, dass wir noch darüber nachdenken müssen, wie wir der Europäischen Union deutlich machen können, dass der von ihr bevorzugte Ansatz falsch ist. Deutschland kann sich dieser europäischen Vorgabe aber nicht entziehen. Wir brauchen eine gute Lösung, damit wir im Interesse der Menschen in unserem Land zu einer Verbesserung kommen. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lutz Heilmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lärm ist für eine Vielzahl von physischen und psychischen Beeinträchtigungen verantwortlich. Lärm entwickelt sich mehr und mehr zu einer Geißel der Zivilisation. Der Kollege Kauch hat bereits darauf hingewiesen, dass 20 Prozent der Bevölkerung von Schienenlärm betroffen sind. Ganz einfach gesagt: Schienenlärm beeinträchtigt die Lebensqualität der Menschen. Sie können, um nur einiges zu nennen, nicht ruhig schlafen oder sich nach getaner Arbeit nicht entsprechend erholen; die Kinder sind mangels gesunden Schlafes in ihrer Entwicklung gehemmt. 60 Prozent der Bevölkerung leiden heute unter Straßenlärm. Dieses Thema aber kehren Sie alle seit Jahren leider unter den Teppich. ({0}) Und noch eines: Ein Drittel der Bevölkerung leidet unter Fluglärm. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an die FDP - die CDU/CSU muss ich mittlerweile gleichfalls ansprechen -: Können Sie mir sagen, warum Sie beim Schienenlärm für aktiven Lärmschutz sind und beim Fluglärm nicht? Sind die von Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger für Sie Bürger zweiter Klasse? Ich sage Ihnen: Der beste und gleichzeitig billigste Lärmschutz bei jeder Form von Lärm ist, diesen an der Quelle zu bekämpfen, anstatt nur an den Symptomen herumzudoktern. ({1}) Bleiben wir beim Schienenlärm. Für mich hat die Umrüstung von Güterwagen auf die K-Sohle Vorrang vor dem Bau von Schallschutzmauern. Dies hilft allen Betroffenen, unabhängig davon, ob ihre Trasse in das Lärmsanierungsprogramm aufgenommen wurde oder nicht. So lässt sich mit vergleichsweise wenig Geld viel erreichen. Die Bahn spricht von Kosten in Höhe von etwa 550 Millionen Euro für alle Güterwagen, auch für die der Konkurrenz. Das heißt, dass wir mit nur 50 Millionen Euro im Jahr in elf Jahren mehr für die Betroffenen erreichen würden als mit dem bestehenden Lärmsanierungsprogramm in 30 Jahren. So lange dauert nämlich - das wurde ebenfalls schon erwähnt - die Sanierung der Schienentrassen, wenn, wie derzeit, jährlich 75 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Ich bin für eine Erhöhung der Summe um 25 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro, damit die Sanierung schneller vorangeht. Ich fordere, dass das Lärmsanierungsprogramm - diesbezüglich stimme ich den KolleLutz Heilmann gen von der FDP zu - auch für die Umrüstung von Güterwagen geöffnet wird. Der Schienenbonus ist für mich übrigens nicht die entscheidende Frage. Weitere Untersuchungen sind zeitlich sehr aufwendig. Darauf können und dürfen wir im Interesse der Betroffenen nicht warten. ({2}) Auch die Forderung nach einer verbindlichen Einführung lärmabhängiger Trassenpreise bringt den Betroffenen recht wenig. Lieber Kollege Kauch, Sie beantworten nicht die Frage, wie Sie das praktisch umsetzen wollen. Sollen an allen Trassen Mautbrücken wie an den Autobahnen installiert werden? Sollen alle Güterwagen, auch die ausländischen, mit On Board Units ausgestattet werden? Fragen über Fragen, die mich im Zusammenhang mit Ihrem Vorschlag beschäftigen! ({3}) Zum anderen hat die Diskussion über emissionsabhängige Trassenpreise in den letzten Jahren mehr Schaden als Nutzen angerichtet, weil die Lärmsanierung damit politisch ausgebremst wurde. Außerdem sollen damit die Kosten für die Umrüstung der Wagen auf die Unternehmen abgewälzt werden. Eine zusätzliche Belastung des Systems Schiene ist mit uns allerdings nicht zu machen. Wir dürfen die Schiene im Wettbewerb mit LKW und Luftverkehr nicht noch weiter benachteiligen. Nur wenn wir in den Haushaltsberatungen eine Erhöhung der Mittel für das Lärmsanierungsprogramm beschließen und daraus den Einbau der K-Sohle fördern, sind wir und Sie den Betroffenen gegenüber glaubwürdig. Nur dann können wir weiter über den Schienenbonus und emissionsabhängige Trassenpreise debattieren. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Heinz Paula für die SPD-Fraktion. ({0})

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie schon wiederholt angesprochen wurde, ist Lärm zweifelsohne eines der größten unserer Umweltprobleme. Verkehrslärm hat daran einen ganz wesentlichen Anteil. Die Auswirkungen sind hierbei - im Gegensatz zu vielen anderen Umweltproblemen - direkt spürbar, da zum Beispiel der Schlaf in der Nacht gestört wird. Wir alle wissen: Lärm stresst, Lärm macht krankt. Deswegen messen wir dem Lärmschutz eine ganz besondere Bedeutung bei. Das gilt gerade für den Schienenverkehr. Wir kennen die rechtliche Situation: Beim Neubau und beim Ausbau bestehender Strecken gibt es entsprechende Vorgaben für die Lärmvorsorge. Während allerdings beim Bau von neuen und bei wesentlichen Änderungen bestehender Schienenwege Anspruch auf Schallschutz besteht, gibt es für Maßnahmen an vorhandenen Strecken keine rechtliche Grundlage, um die von Lärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Trotzdem wurden von unserer Seite aus wichtige und richtige Weichen gestellt. Das Sonderprogramm Lärmschutz - es wurde bereits genannt -, welches unter Gerhard Schröder aufgelegt wurde, hat wesentliche Erfolge gezeigt. Für dieses Programm wurden erstmals 1999 Bundesmittel in Höhe von 51 Millionen Euro jährlich eingestellt. ({0}) Nebenbei bemerkt war es schon immer die SPD-Bundestagsfraktion, die - gerade in den 90er-Jahren - in diesem Bereich erhebliche Verbesserungen eingefordert hat. Hier werden keine Probleme unter den Teppich gekehrt, sondern sie werden mit Augenmaß angepackt. Wir wissen: Der Sanierungsbedarf ist sehr hoch. Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich nicht innerhalb weniger Tage nachholen. Deswegen hat die Bundesregierung, hat die Koalition die Mittel deutlich aufgestockt. ({1}) Wir können uns sicher vorstellen, dass weitere Mittel erforderlich werden. Aber diese Aufstockung kann bereits in vielen Bereichen zu deutlichen Verbesserungen führen. Wir wissen: Der Gesamtinvestitionsbedarf liegt bei über 2 Milliarden Euro. Mit dieser Aufstockung erreichen wir zumindest, dass der Zeitrahmen von über 42 Jahren, der ursprünglich angedacht war, deutlich, auf 28 Jahre, reduziert werden kann. Ich wünsche mir für die zukünftigen Haushaltsberatungen, dass wir die Mittel weiter aufstocken, sodass wir mehr investieren können und mit diesem Programm schneller vorankommen. ({2}) Mit diesem Geld wurde von der Bahn in den letzten sieben Jahren sehr viel Positives bewegt. Ich darf nur ein paar Stichworte nennen - zu denen mir sicherlich der eine oder andere gleich vorhalten wird, dass das bei weitem noch nicht ausreiche. Das wissen wir. Deswegen arbeiten wir intensiv weiter daran -: 243 Ortsdurchfahrten wurden komplett saniert. 115 Kilometer Schallschutzwände entstanden. Über 27 000 Wohnungen erhielten zusätzlichen Lärmschutz in Form von Schallschutzfenstern. Mehr als 1 000 Kilometer Schiene werden unter Berücksichtigung des Prinzips „Besonders überwachtes Gleis“ gepflegt, was ebenfalls zu einer deutlichen Reduzierung des Lärms beitragen kann. Bei diesen Berechnungen spielt der so genannte Schienenbonus eine Rolle - vorhin war schon einmal kurz die Rede davon -, wonach gegenüber dem Straßenlärm ein Abschlag in Höhe von 5 Prozent vorgenommen wird. Die Abschaffung des Schienenbonus wird in bei5270 den Anträgen gefordert. Wie Sie wissen, ist diese Bonusregelung auf Ergebnisse von Studien aus den 70er- und 80er-Jahren zurückzuführen. Sie wissen auch ({3}) - Kollege Friedrich, ich gebe Ihnen absolut Recht -, dass momentan neue Studien angefertigt werden, auf deren Ergebnisse wir sehr gespannt sind. Ob bzw. inwiefern diese Ergebnisse zu einer neuen Beurteilung führen, müssen wir abwarten. Dann wird mit Sicherheit entsprechend entschieden und gehandelt. Die Lärmsanierung an bestehenden Schienen ist allerdings nur ein Teil der Lärmbekämpfung im Bereich des Schienenverkehrs. Natürlich ist uns bekannt, dass ein erhebliches Potenzial zur Verminderung von Lärm im rollenden Material zu sehen ist. Sie haben beantragt, das Lärmsanierungsprogramm zur Finanzierung technischer Verbesserungen wie der Umrüstung von Bremsen etc. zu öffnen. Allerdings - das wissen wir alle nur zu genau - betrifft dieses Thema nicht nur unser Land. Hier handelt es sich um Probleme, die auf europäischer Ebene in Angriff genommen werden müssen. Sie alle wissen, dass es aufgrund von EU-Richtlinien inzwischen auch auf europäischer Ebene Emissionsgrenzwerte gibt. Diese Grenzwerte werden mit Sicherheit zur Folge haben, dass kein neuer Wagen mehr gekauft wird, der nicht über die berühmte K-Sohle verfügt. Ansonsten würden die Grenzwerte nämlich schlicht und ergreifend nicht eingehalten. Der Einsatz neuer Wagen auf neuen Strecken kann eine Lärmreduzierung um mehr als 15 Dezibel, das zeitnahe Schleifen der Schienen um 3 Dezibel bringen. Im Netzzustandsbericht wird in Zukunft übrigens auch die Riffelbildung von Bedeutung sein. ({4}) All diese Maßnahmen gehen auf Initiativen zurück, die entweder von der Bundesregierung oder auf europäischer Ebene ergriffen wurden. Sie lassen zweifelsohne positive Auswirkungen auf die Lärmminderung im Bereich des Eisenbahnsystems erwarten. Obwohl weitere Maßnahmen zur Reduzierung des Schienenlärms auf den Weg gebracht wurden, kann hier noch das eine oder andere mehr getan werden. Auch auf europäischer Ebene wurde eine Reihe von Initiativen ergriffen. All diese Maßnahmen gilt es nun auszugestalten, übrigens auch die Forderung nach lärmbezogenen Trassenpreisen. Es wurde schon angesprochen, dass die lärmabhängigen Trassenpreise sicherlich einen möglichen Weg darstellen, um für die Betreiber marktwirtschaftliche Anreize zu schaffen - darauf kommt es uns ganz wesentlich an -, die Waggons mit der K-Sohle nachzurüsten oder andere Lärmminderungsmaßnahmen, zum Beispiel den Einbau von Scheibenbremsen oder Radschallabsorbern, durchzuführen. Die Gestaltung der Trassenpreise - auch das ist uns bekannt - obliegt nicht dem Bund und nicht diesem Hohen Hause, sondern dem Betreiber der Eisenbahninfrastruktur. Nach § 21 Abs. 2 der EisenbahninfrastrukturBenutzungsverordnung kann das Wegeentgelt einen Entgeltbestandteil umfassen, der den Kosten der umweltbezogenen Auswirkungen des Zugbetriebs Rechnung trägt. Vor diesem Hintergrund wird derzeit ein Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorangetrieben, um die Möglichkeiten der Einführung eines emissionsabhängigen Trassenpreissystems zu untersuchen. Sie sehen: Auch an dieser Stelle wird gehandelt. Im Gegensatz zu dem, was mein Vorredner gefordert hat, warten wir allerdings zunächst die Untersuchungsergebnisse ab, um dann konsequent und zielgerichtet zu handeln. ({5}) Wir sind uns einig, dass Lärm vermieden bzw. reduziert werden muss. Viele Maßnahmen werden bereits umgesetzt. Neue Erkenntnisse können und werden zu neuen Maßnahmen führen. Ich bedanke mich. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte kann ich gewissermaßen für alle zusammenfassen: Es liegen zwei gute Anträge - von der FDP und von den Grünen - vor, die in den Reden fast aller außerordentlich viel Zustimmung gefunden haben. Darüber freuen wir uns. Das war also ein guter Anstoß aus der Opposition heraus. ({0}) Alle Redner und Rednerinnen haben betont, dass wir - ich sage bewusst: wir, die Politik - das Problem des Schienenlärms im Vergleich zu anderen Lärmarten lange Zeit vernachlässigt haben, vermutlich auch deswegen, weil die Bahn ein Staatsbetrieb war. Das gilt übrigens europaweit: Die Staaten tun sich schwer, bei sich selber zu reduzieren. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass wir da mehr tun müssen, gerade wenn wir wollen, dass es mehr Schienenverkehr gibt. ({1}) Die Probleme nehmen zu - Kollege Kauch hat es gesagt -: Überall dort, wo Neubaustrecken geplant sind, bilden sich Anwohnerinitiativen gegen Schienenverkehr. Das kann nicht in unserem Interesse liegen. Wenn wir mehr Schienenverkehr wollen, müssen wir dafür sorgen, dass dieser umwelt- und sozialverträglich ist. ({2}) Alle Rednerinnen und Redner haben betont, dass das Lärmsanierungsprogramm ein guter Einstieg war. Alle haben aber auch gesagt, dass es damit nicht getan sein kann. Wir können nicht immer mehr Lärmschutzmauern in Deutschland bauen, wir können nicht immer mehr Schallschutzfenster in die Häuser einbauen. Das ist verdammt teuer und nicht besonders sinnvoll. Klüger ist es, an die Quelle zu gehen, dort zu sanieren. Die Technologien dafür sind entwickelt. Alle haben sie beschrieben: die K-Sohle. Ferner gibt es inzwischen Gestelle, die leise und leicht sind und deswegen erheblich weniger Lärm machen. Wenn wir alle technischen Möglichkeiten nutzen, können wir den Schienenverkehrslärm um bis zu 20 Dezibel reduzieren. Das ist sehr viel und würde den Menschen weit mehr helfen als passive Lärmschutzmaßnahmen; diese bringen nämlich höchstens 10 Dezibel. Wir haben hier also ein hohes Potenzial, das wir nutzen sollten. Ein Skandal ist allerdings, dass die Produzenten und diejenigen, die Wagen kaufen, immer noch alte Technik kaufen. Ich war auf der Innotrans. ({3}) - Ihr wart auch da. Dann ist euch vielleicht wie mir gesagt worden, dass immer noch zwei Drittel der neuen Güterwaggons mit alter Technik verkauft werden. Zwei Drittel! Das liegt daran, dass die einschlägige europäische Verordnung nichts taugt, oder sagen wir: zu wenig taugt. Sie ist ausgerichtet auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr. Den Lärm machen aber Güterwaggons, die nur 100 oder 80 fahren. Sie sind von dieser Verordnung überhaupt nicht erfasst. Deswegen tut sich da nichts. So nimmt man beim Kauf neuen Wagenmaterials für die nächsten 20, 30, 40 Jahre Schienenverkehrslärm in Kauf, der nicht sein müsste. Das ist schlecht, da müssen wir ran, da müssen wir was tun. ({4}) Unsere beiden Fraktionen schlagen vor, materielle Anreize zu schaffen. Kollege Heilmann, ich war, was die geistige Flexibilität und die Nachvollziehbarkeit Ihrer Ausführungen angeht, enttäuscht von Ihrer Rede: Sie sagten, dass man für die Trassen keine lärmbezogene Maut erheben könne. Es ist doch ein Leichtes, so etwas zu tun! Die wenige Meter vom Verkehrsministerium entfernte Technische Universität Berlin hat ein lärmbezogenes Trassenpreissystem für die Niederlande entwickelt, das dort eingeführt wird. Der deutsche Verkehrsminister hat davon nichts gemerkt und auch die PDS/Linkspartei glaubt nicht, dass so etwas machbar ist. Dabei ist es ein schneller und guter Weg für alle: für die europäischen Konkurrenten der DB, für die DB und für die vielen Privatbahnen in Deutschland. Ein solches System gäbe den Anreiz: Wer lärmarme Waggons fährt, zahlt zukünftig weniger - die anderen legen drauf. Wenn wir ein solches System geschickt ausgestalten, können wir damit sogar ein Umrüstungsprogramm finanzieren; über das, was reinkommt, können wir Gelder zur Verfügung stellen für diejenigen, die nachrüsten und umrüsten wollen. ({5}) Fazit: Wir müssen an die Quellen ran. Wir müssen ein Umrüstprogramm auflegen und wir brauchen lärmabhängige Benutzungsgebühren. Das wird uns weiterbringen und dann kommen wir voran. Wenn ich das richtig wahrgenommen habe, dann gibt es in dieser Frage einen großen Konsens. Ich sehe vier Fraktionen, die dabei mitmachen. Dann muss ja etwas dabei herauskommen. Danke. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/675 und 16/2074 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer ({1}), Thomas Bareiß, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ludwig Stiegler, Dr. Rainer Wend, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD Das Nationale Reformprogramm Deutsch- land und die Lissabon-Strategie weiterfüh- ren - Wirtschaftswachstum und Beschäfti- gungspolitik zum Erfolg führen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Matthias Berninger, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissa- bon-Ziele - Drucksachen 16/2629, 16/2622, 16/2782 - Berichterstattung: Abgeordneter Martin Zeil Die Kolleginnen und Kollegen Alexander Dobrindt, Doris Barnett, Martin Zeil, Alexander Ulrich und Dr. Thea Dückert haben ihre Reden zu diesem Tagesord- nungspunkt zu Protokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich eine Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/2782. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- 1) Anlage 7 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt sache 16/2629 mit dem Titel „Das Nationale Reformprogramm Deutschland und die Lissabon-Strategie weiterführen - Wirtschaftswachstum und Beschäftigungspolitik zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2622 mit dem Titel „Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der LissabonZiele“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 14: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Werner Dreibus, Petra Pau und der Fraktion der LINKEN Gegen die Schließung von 45 Standorten bei der Deutschen Telekom AG - Drucksachen 16/845, 16/1797 - Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Lehn Hans-Joachim Fuchtel Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk Auch hier haben die vorgesehenen Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Dr. Martina Krogmann, Waltraud Lehn, Martin Zeil, Werner Dreibus und Margareta Wolf.1) Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 16/1797 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gegen die Schließung von 45 Standorten bei der Deutschen Telekom AG“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/845 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b sowie Zusatzpunkt 5 auf: 17 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Gefährliche Streumunition verbieten - Das humanitäre Völkerrecht weiterentwickeln - Drucksache 16/1995 - 1) Anlage 8 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zivilbevölkerung wirksamer schützen - Streumunition ächten - Drucksache 16/2749 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Ächtung von Landminen und Streumunition - Drucksache 16/2780 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Auch hier haben die Kollegen ihre Reden zu Proto- koll gegeben. Es handelt sich um die Kollegen Hans Raidel, Andreas Weigel, Florian Toncar, Paul Schäfer und Winfried Nachtwei.2) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/1995 mit dem Titel „Gefährliche Streu- munition verbieten - Das humanitäre Völkerrecht wei- terentwickeln“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/ Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenom- men. Tagesordnungspunkt 17 b. Interfraktionell wird vor- geschlagen, den Antrag auf Drucksache 16/2749 zu überweisen, zur federführenden Beratung an den Aus- wärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Rechts- ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo- gie, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an den Haushaltsausschuss. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. 2) Anlage 9 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Zusatzpunkt 5. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2780 mit dem Titel „Für die Ächtung von Landminen und Streu- munition“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag ab- gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verbraucherinformationsgesetz nachbessern und das Lebensmittel-Kontrollsystem neu ordnen - Drucksache 16/2656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Bund-Länder-Staatsvertrag - Qualitätsmanagement Lebensmittelqualität - Drucksache 16/2744 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Julia Klöckner, Elvira Drobinski-Weiß, Michael Goldmann, Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2656 und 16/2744 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr 2004 und 2005 ({8}) - Drucksache 16/2100 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit 1) Anlage 10 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsprogramm für Straßenverkehrssicherheit: Halbierung der Zahl der Unfallopfer bis Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Europäischen Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit: Halbierung der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in der Europäischen Union bis 2010: eine gemeinsame Aufgabe ({11}) ({12}) - Drucksachen 16/150 Nr. 1.69, 16/578 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Gero Storjohann, Heidi Wright, Patrick Döring, Dorothée Menzner und Dr. Anton Hofreiter ihre Reden zu Proto- koll gegeben.2) Tagesordnungspunkt 19 a. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 19 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/578 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Europäischen Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Martina Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern - Drucksache 16/2746 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) Rechtsausschuss Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Maria Michalk, Silvia Schmidt, Heinz-Peter Haustein, Kersten Naumann und Markus Kurth ihre Reden zu Protokoll ge- geben.3) 2) Anlage 11 3) Anlage 12 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2007 ({14}) - Drucksache 16/2712 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({15}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Die Kolleginnen und Kollegen Klaus-Peter Flosbach, Gabriele Frechen, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Barbara Höll, Christine Scheel und die Parlamentarische Staats- sekretärin Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. 1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2712 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Hans-Kurt Hill, Monika Knoche, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie - zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft - Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Energien, Nein zur Atomkraft - Drucksachen 16/1961, 16/1978, 16/2762 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Gabriele Groneberg Dr. Karl Addicks Heike Hänsel Ute Koczy Auch hierzu haben die Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben. Es sind die Kollegen Dr. Georg Nüßlein, Gabriele Groneberg, Dr. Karl Addicks, Heike Hänsel und Ute Koczy.2) 1) Anlage 13 2) Anlage 14 Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2762. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1961 mit dem Titel „Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1978 mit dem Titel „Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft - Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Energien, Nein zur Atomkraft“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften ({17}) - Drucksache 16/2710 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({18}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die Kolleginnen und Kollegen Peter Rzepka, Lothar Binding, Dr. Volker Wissing, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.3) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Informationspflicht für Unternehmen bei Datenschutzpannen einführen - Drucksache 16/1887 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien 3) Anlage 15 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Auch hierzu haben die Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Kollegen Beatrix Philipp, Dr. Michael Bürsch, Gisela Piltz, Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und zur Änderung energie- und stromsteuerrechtlicher Vorschriften ({20}) - Drucksache 16/2709 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({21}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Die Kolleginnen und Kollegen Norbert Schindler, Reinhard Schultz, Marko Mühlstein, Dr. Hermann Otto Solms, Hans-Kurt Hill und Dr. Reinhard Loske haben die Reden zu Protokoll gegeben.2) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 27 sowie zu den Zusatzpunkten 6 bis 8: 27 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksachen 16/2711, 16/2753 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Das Brut- toprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und 1) Anlage 16 2) Anlage 17 Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen - Drucksache 16/2751 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({23}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten - Drucksache 16/2750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({25}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für ein menschenwürdiges Existenzminimum - Drucksache 16/2743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({26}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir haben jetzt das Vergnügen, eine halbe Stunde Aussprache zu genießen. Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialhilfe ist eine unverzichtbare Säule des Sozialstaates in Deutschland. Um diesem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, werden im Rahmen der Sozialhilfe den Hilfebedürftigen die erforderlichen Mittel zur Abdeckung eines soziokulturellen Existenzminimums zur Verfügung gestellt. Die Basis dafür ist verlässlich, einheitlich und auch gerecht zu gestalten. Nach diesen Prinzipien sind wir bei der Behandlung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Jahres 2003 vorgegangen. Dabei handelt es sich um eine amtliche Statistik, die im Wesentlichen die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie das Verbrauchsverhalten privater Haushalte in Deutschland feststellt. Das ist die Basis, auf der wir die Regelsätze neu bemessen haben. Es ist gut, dass 16 Jahre nach der deutschen Einheit entschieden wurde, eine Grundlage für einheitliche Regelsätze in Ost- und Westdeutschland zu schaffen, sodass sich in Zukunft ein einheitlicher Sozialhilfesatz in der Größenordnung von 345 Euro ergibt. Wir haben damit das nachvollzogen, was wir im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch praktiziert haben. Wir sind damit im Kern einer Empfehlung des Ombudsrates für das SGB II gefolgt und haben vor dem Hintergrund der Lebensverhältnisse in Deutschland die Grundlage für eine gleiche Praxis geschaffen. Die Bundesländer legen natürlich weiterhin die Regelsätze fest. Sie sind wie in der Vergangenheit frei, regionale Unterschiede zu berücksichtigen und so Spielräume zu nutzen, wenn es um die Festsetzung der Regelsätze geht. Nochmals: Es ist gut, 16 Jahre nach der deutschen Einheit eine gesamtdeutsche Verbrauchsstruktur und einen einheitlichen Regelsatz festzulegen. Wir vollziehen die deutsche Einheit nun auch in der Sozialhilfe nach, und das ist gut so. ({0}) Seit der letzten Sozialhilfereform am 1. Januar 2005 hat sich einiger Änderungsbedarf ergeben. Ich will auf zwei, drei Punkte eingehen, die dabei eine Rolle spielen. Im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt beläuft sich der Absetzbetrag bei Erwerbstätigkeit derzeit auf 30 Prozent des erzielten Einkommens, ohne Obergrenze. Dies führt bei hohen Hinzuverdiensten zu nicht zu rechtfertigenden hohen Absetzbeträgen. Um diesem Missstand zu begegnen, wird eine Kappungsgrenze in Höhe des halben Regelsatzes eingeführt. Ich denke, das ist vertretbar; denn die Sozialhilfe ist eine solidarische Leistung aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Im Rahmen der Eingliederungshilfe entsprechen wir nun dem Grundsatz des Nachrangs und der Eigenverantwortlichkeit in der Sozialhilfe. Hiermit folgen wir einem Votum der Länder, indem wir das Nettoprinzip einführen, wie es bereits im Pflegebereich geschehen ist. Dies bedeutet, dass künftig die Leistungen, die der Berechtigte von Dritten erhält, bei den Kosten bzw. Aufwendungen, die zum Beispiel bei der Unterbringung in einem Heim anfallen, zu berücksichtigen sind. Der verbleibende Teil wird dann vom Sozialhilfeträger im Wege der Eingliederungshilfe erbracht. Damit bleibt es im Kern dabei, dass der Betroffene wie bisher seine bedarfsdeckenden Leistungen erhält. Wir stellen zudem sicher, dass im Einzelfall wie bisher die erweiterte Hilfe gewährt werden kann. In der einen oder anderen Einrichtung kann es zu Herausforderungen bei der Umstellung kommen. Deswegen soll diese gesetzliche Regelung erst zum 1. Januar 2008 Praxis werden. Eine weitere Neuregelung ist für Ehepaare vorgesehen, bei denen ein Partner aufgrund von Behinderung oder Pflegebedürftigkeit stationär betreut werden muss. Bislang waren aufgrund einer komplexen und veralteten Heranziehungsvorschrift beispielsweise diejenigen Ehepaare ganz besonders schlecht gestellt, bei denen das Einkommen überwiegend von dem weiterhin zu Hause lebenden Ehepartner erzielt wurde. Das wird nun geändert. Wir favorisieren nun eine Regelung, die alle Erwerbsbiografien von Ehepaaren gleichbehandelt und die dem zu Hause gebliebenen Ehepartner genügend finanzielle Mittel lässt, damit er seinen Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe bestreiten kann. Es ist ehrenwert, diese Ziele mit dem Änderungsgesetz zu erreichen. ({1}) Uns ist ebenfalls wichtig, dass klargestellt wird, dass auch die Empfänger von Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung in diese Regelung einbezogen sind. Über die Eckpunkte dieser Neuregelung gibt es erfreulicherweise Konsens zwischen dem Bund, allen Bundesländern und den kommunalen Spitzenverbänden. Ich hoffe, dass dies auch bei der Umsetzung des einheitlichen Sozialhilfesatzes in Deutschland der Fall sein wird. In diesem Sinne, glaube ich, wird die Sozialhilfe für die Menschen zielorientiert weiterentwickelt und in Gesamtdeutschland einheitlich gestaltet. Sie wird damit einen Beitrag zu einer gerechten Verteilung der Sozialleistungen in diesem Land leisten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Jörg Rohde für die FDP-Fraktion.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP unterstützt, wo immer möglich und sinnvoll, die Maßnahmen zur Reduzierung öffentlicher Bürokratie. Dies gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Sozialgesetzgebung. Deshalb verweigern wir uns auch nicht, wie die Kolleginnen und Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen, von vornherein kategorisch einer Umgestaltung des bislang praktizierten Bruttoprinzips in der Eingliederungshilfe. Vielmehr werden wir uns demnächst mit allen Verantwortlichen an einen Tisch setzen ({0}) und nach dem besten Weg suchen, der den Interessen der Menschen mit Behinderung, der Einrichtungen und der Sozialhilfeträger am besten Rechnung trägt. Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung dürfen nicht ohne umfängliche Prüfung möglicher Konsequenzen zulasten Dritter durchgesetzt werden. Dies gilt insbesondere für die Einführung des Nettoprinzips in der Eingliederungshilfe. Nicht ohne guten Grund treten bislang die Träger der Leistungen in Vorleistung. Dieses Verfahren stellt sicher, dass notwendige Leistungen auch bei offenen Fragen einer eventuellen Kostenbeteiligung des Leistungsempfängers auf jeden Fall erbracht werden. Das Bruttoprinzip verhindert, dass noch ungeklärte Kostenbeteiligungsfragen auf dem Rücken des Leistungsnehmers ausgetragen werden. Die Ausführung notwendiger Pflege-, Betreuungs- und Rehabilitationsmaßnahmen ist sichergestellt. Selbstverständlich ist es zutreffend, dass die nachträgliche Einforderung von Kostenbeteiligung einen nicht zu unterschätzenden bürokratischen Aufwand für die Träger der Sozialhilfe darstellen kann. Auch rechtssystematisch kann man eine Abschaffung des Bruttoprinzips in Erwägung ziehen, wenngleich der Vorwurf verloren gehender Rechtssicherheit, den das Bündnis 90/Die Grünen erhebt, sicher über das Ziel hinausschießt. Aber eine Übertragung der Bürokratie auf die die Leistung erbringende Einrichtung und den Leistungsempfänger muss immer vor dem Hintergrund der Leistungsfähigkeit der Empfänger und Erbringer der Leistung gesehen werden. Viele Menschen mit einer Behinderung sind nicht in der Lage, diese Angelegenheiten alleine für sich selbst zu regeln. Wenn Angehörige fehlen, die einspringen können, kann es für den Leistungsempfänger schwierig werden. Ich denke hier vor allem an Menschen mit einer geistigen Behinderung oder an ältere Menschen mit einem Handicap. Viele von ihnen sind schon jetzt mit der Durchsetzung ihrer Ansprüche überfordert. ({1}) Der Gesetzentwurf will diesem Problem mit der Möglichkeit begegnen, dass in begründeten Fällen weiterhin die Vorleistungspflicht des Sozialhilfeträgers bestehen bleibt. Diese Formulierung wird aber innerhalb des Gesetzestextes nicht weiter spezifiziert. Erst in der Gesetzesbegründung wird näher erläutert, wann dies der Fall sein soll. Es sollte deshalb im Beratungsprozess der Vorschlag der Lebenshilfe aufgegriffen werden, ob nicht eine Einfügung des entsprechenden Begründungsteils in den Gesetzestext eine wünschenswerte Klarstellung leisten kann. ({2}) Am Ende einer Änderung des Bruttoprinzips darf kein Ergebnis stehen, bei dem die Einrichtungen zur Kompensation neuer Bürokratiekosten den Leistungsumfang gegenüber Menschen mit Behinderung kürzen oder notwendige Leistungen von den Betroffenen wegen eines zu hohen bürokratischen Aufwands nicht oder nicht mehr in vollem Umfang in Anspruch genommen werden. Hier macht die FDP nicht mit. ({3}) Ich komme zu den geplanten Änderungen bei den Regelsätzen. Die Regelsatzbemessung ist seit Jahren ein hoch umstrittener und ideologisch aufgeladener Punkt. Einige Verbände und Parteien fordern eine deutliche Erhöhung, andere eine Absenkung oder ein Festhalten am bisherigen Satz. Die FDP will bei der Regelsatzbemessung vor allem für die Zukunft eine ehrliche und transparente Bemessung erreichen ({4}) und die Realitäten im Blick behalten. Mit der Anwendung der bisherigen Methodik der Regelsatzbemessung wären die Regelsätze nach Angabe der Bundesregierung ab 2007 abzusenken. Mit der neuen Regelsatzverordnung verändert man die Berechnungsmethodik aber so, dass im Westen genau die gleiche Regelsatzhöhe wie bisher herauskommt und in den neuen Bundesländern die Regelsätze um 14 Euro erhöht werden können. Hier wird offensichtlich mit einer politisch motivierten Regelsatzbemessung gearbeitet. So weit ist es schon gekommen. ({5}) An diesem Punkt sollte man das Votum der Bundesratsausschüsse ernst nehmen, die darauf verweisen, dass es deutliche Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten in Deutschland gibt. Eine Abkoppelung von diesen Realitäten darf nicht stattfinden, ({6}) so sehr sie aus Gründen der politischen Korrektheit auch erwünscht sein mag. Jedenfalls ist unter diesen Voraussetzungen die Forderung verfehlt, die Regelsätze auch noch über die bisherigen 345 Euro hinweg anzuheben. Das Einkommen der Vergleichsgruppe der Regelsatzbezieher ist in den letzten Jahren gesunken. Richtiger ist es daher, den Ländern wie bisher die Möglichkeit zu geben, die Regelsatzhöhe den regionalen Gegebenheiten anzupassen. Ein gleicher Regelsatz bei höchst unterschiedlichen Verbrauchskosten je Region stellt eine ungerechte Gleichbehandlung dar. Viele Menschen werden damit schlechter gestellt, als sie es verdienen. ({7}) Um solch eine politische Willkür in Zukunft zu vermeiden, sollte das Regelsatzfestlegungsverfahren mehr an tatsächlichen Zahlen wie der Lohnentwicklung ausgerichtet werden und weniger an zufälligen Prozentwerten bestimmter Verbrauchsstrukturen. Ansonsten wird die Regelsatzfestlegung doch - wie nun in diesem Verfahren der Regelsatzverordnungsänderung - zu etwas Willkürlichem, zu einer politischen Farce. Die Festlegung der Regelsatzhöhe im Parlament würde zu einer Politisierung der Regelsatzfestlegung führen. Besser ist aber eine Depolitisierung der Regelsatzfestlegung. ({8}) Die Koppelung der Regelsatzanpassung an die Veränderung des Rentenwertes kann beibehalten werden, da sie sinnvoll ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß von der CDU/CSU-Fraktion?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auch zu dieser späten Stunde, ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Weiß, bitte.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich wollte ich keine Zwischenfrage stellen, um die Sitzung nicht unnötig zu verlängern. Herr Kollege Rohde, wenn man sich zu den Regelsätzen aber so Peter Weiß ({0}) äußert, wie Sie es in Ihrer Rede getan haben, dann muss ich Sie einfach Folgendes fragen: Ist Ihnen bekannt, dass man damals das Warenkorbprinzip abgeschafft hat? Ist Ihnen bekannt, dass sich die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - sie ist keine politische Größe schlichtweg am Verbrauchsverhalten derjenigen orientiert, die, was das Einkommen angeht, zu den unteren 20 Prozent in Deutschland gehören? Man wollte nämlich eine unpolitische und nicht manipulierbare Größe zur Festsetzung des Regelsatzes finden. Wollen Sie diese, wie ich finde, sachlich-fachlich gute Regelung wirklich infrage stellen und durch etwas anderes ersetzen?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass es einen Warenkorb gibt, dessen Zusammensetzung außerhalb des Parlaments festgelegt wird. Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass es sich dabei um eine gute Größe handelt. Nur verwundert es mich zutiefst, dass die Berechnungsgrundlage im Vergleich zu 1998 und zu 2003 geändert wurde und dass im Westen am Ende exakt derjenige Wert herauskam, der bis dahin gegolten hatte. ({0}) Bei der letzten Festlegung, 1998 - damals begann die politische Debatte darüber -, wurde politisch ein Regelsatz festgelegt, der über den ermittelten Sätzen lag. Ich wiederhole: Dieses Mal ist es exakt derjenige Betrag, der bis dahin gegolten hatte, nämlich 345 Euro. Das verwundert mich und deswegen unterstelle ich ein wenig, dass man an den Stellschrauben gedreht hat. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Wir haben morgen um 8 Uhr eine Ausschusssitzung. Dann können wir darüber gemeinsam weiterdiskutieren. Die Koppelung der Regelsatzanpassung an die -

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Entschuldigung, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, nämlich der Kollegin Kipping.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Na gut, ich kann mich ja gleich revanchieren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kipping, bitte.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege, können Sie sich vorstellen, den Kollegen Weiß darauf hinzuweisen, dass wir bei allen Erörterungen über Vorzüge und Nachteile von Warenkorb und Statistikmodell jetzt in der schlimmen Situation sind, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht und dass deswegen die alleinige Orientierung am ärmsten Fünftel der Bevölkerung automatisch dazu führt, dass es eine Spirale nach unten gibt und dass die Verarmung vorangetrieben wird?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann mich Ihrer Vorstellung nicht anschließen, den Kollegen Weiß in dieser Richtung zu beraten. ({0}) Trotzdem bin ich über die Ergebnisse der Regelsatzbemessung verwundert. Ich bin auf die morgigen Beratungen im Ausschuss gespannt. Da wohl kein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage besteht, versuche ich jetzt, mit meinem Redetext zum Ende zu kommen. Im SGB XII werden Zuverdienst und Vermögen stärker angerechnet als beim ALG II. Beispielsweise bleiben beim Zuverdienst nur 30 Prozent anrechnungsfrei. Grund dafür ist nach Angabe der Bundesregierung, dass Menschen mit SGB-XII-Bezug grundsätzlich stärker und dauerhafter auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen sind als erwerbsfähige Bezieher von ALG II. Allerdings übersieht eine solche Argumentation, dass unter das SGB XII auch Menschen fallen, die nur zeitweise völlig erwerbsgemindert sind. Zudem übersieht eine solche Bestimmung, dass Menschen im dauerhaften SGB-XII-Bezug in bestimmten Werkstätten unter bestimmten Bedingungen Arbeiten verrichten können und dafür etwas Geld erhalten. Diese Motivation sollte ihnen nicht genommen werden. Das SGB-XII-Änderungsgesetz sollte hier verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten schaffen. Zudem sollte für den Fall nur zeitweiser vollständiger Erwerbsminderung darüber nachgedacht werden, die Vermögensanrechnung den Regeln des SGB XII anzugleichen. Ich komme zum Schluss. Positiv wäre ebenfalls, die von den Bundesratsausschüssen vorgeschlagene Pauschalierung von einmaligen Leistungen auch für Bezieher stationärer Leistungen umzusetzen. Dafür könnte die Bemessungsgrundlage für den Barbetrag um 2 Prozentpunkte angehoben werden. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag für die Entlastung von Verwaltungsaufwand und würde zugleich den Betroffenen helfen, mit den finanziellen Belastungen besser zurechtzukommen, die für sie durch die Gesetzesänderungen, etwa im Gesundheitswesen, in den letzten Jahren entstanden sind. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze in erster Lesung. Das ist Ausdruck dessen, dass die große Koalition nach 16 Jahren - der Parlamentarische Staatssekretär hat bereits darauf hingewiesen - in diesem Bereich endlich eine Angleichung vornimmt und keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West macht. Es ist auch richtig, dass wir zukünftig einen einheitlichen Sozialhilfesatz von 345 Euro haben. ({0}) Wir werden damit unserer sozialpolitischen Verantwortung gerecht. Es ist ohne Zweifel richtig: Wir stehen bei den Menschen, die in Not geraten sind und sich nicht selbst helfen können, in der Pflicht, ihnen soziale Sicherheit und Unterstützung zu geben. Dem wird hier in richtiger Weise Rechnung getragen. ({1}) Wir nehmen eine großzügige Anpassung vor. Vorher war bereits von der Einkommens- und Verbrauchsstatistik die Rede. Wir passen die Regelungen den neuen Gegebenheiten an und bestimmen die Parameter neu. Wenn wir die alten zugrunde gelegt hätten, wäre es gegenüber den geltenden Sätzen zu einer Absenkung gekommen. Auch dies zeigt, dass CDU/CSU und SPD sowie die Bundesregierung ihre sozialpolitische Verantwortung wahrnehmen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich hier um eine staatliche Leistung handelt, die von den Steuerbürgern erwirtschaftet wird und auf die Menschen begrenzt werden muss, die tatsächlich in Not geraten sind und sich nicht selbst helfen können. Da es natürlich sehr viele Wünsche gibt, müssen wir abwägen. Ich halte nichts davon, dass wir den Menschen in Deutschland weit höhere Sätze versprechen, wie das im Antrag der Linken vorgesehen ist. Mit 420 Euro fast eine Rundumversorgung zu gewähren, ist meines Erachtens illusorisch; ({2}) die Heizkosten und die Unterkunftskosten kommen ja noch hinzu. Das ist auch unter haushalterischen Gesichtspunkten nicht zu leisten. ({3}) - Wir machen auch keine niedrigeren Sätze; das ist überhaupt keine Frage. - Aber 420 Euro im Monat zu gewähren, ist eine utopische Vorstellung, die möglicherweise nur in manchen Wahlkämpfen begründet ist. Es ist sicherlich sachgerecht, bei der Anwendung der Sätze die regionalen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Bayern macht bisher als einziges Bundesland von dieser Möglichkeit Gebrauch. Es ist eben ein Unterschied, ob ich in München, Stuttgart oder Düsseldorf wohne ({4}) oder ob ich in Niederbayern oder an der polnischen Grenze wohne; denn dort sind die Lebenshaltungskosten etwas anders. Deshalb ist es meines Erachtens richtig, dass Anpassungsmöglichkeiten gegeben sind.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Straubinger, Sie sprachen davon, dass die Lebenshaltungskosten in München höher sind als anderswo. Das ist zweifellos richtig. Ist es denn auch so, dass in München ein höherer Regelsatz als 345 Euro gezahlt wird und von der Möglichkeit der regionalen Anpassung der Regelsätze nach oben Gebrauch gemacht wird, oder ist es nicht vielmehr so, dass in der Regel nur abgesenkt wird?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist richtig, dass in Bayern der Regelsatz von 345 Euro in zehn Städten, in München, in Nürnberg und weiteren Städten, eingehalten wird und dass in den Landkreisen, also in den ländlichen Regionen, ein um 10 Euro geringerer Sozialhilfesatz zugrunde gelegt wird. Das ist meines Erachtens durchaus sachgerecht und vertretbar. Ich kann nur feststellen, dass in Bayern die soziale Situation der Menschen, die dieser Hilfe bedürfen, genauso gewährleistet ist wie in anderen Bundesländern. ({0}) Verehrte Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf wird auch die EU-Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt und nun entsprechend der Regelung des SGB II nun auch im SGB XII ein Ausschluss von Leistungen für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie für deren Familienangehörige vorgesehen. Das ist sachgerecht, weil angesichts der begrenzten Finanzmittel auch darauf zu achten ist, dass Sozialtourismus kein Vorschub geleistet wird. Ich würde mir wünschen, dass auch die Vorschläge des Bundesrates noch in den Gesetzentwurf einfließen. Im Gesetzgebungsverfahren werden wir diese sicherlich noch diskutieren. Meines Erachtens wäre es gerechtfertigt, diese mitaufzunehmen. Lassen Sie mich zum Schluss auf einen der Hauptdiskussionspunkte der letzten Zeit eingehen, nämlich auf das auch im Gesetzentwurf enthaltene Vorhaben, vom bisher geltenden Bruttoprinzip auf das Nettoprinzip umzustellen. Das Bruttoprinzip sorgt bisher dafür, dass die Sozialhilfeträger die Hilfe zunächst auch insoweit gewähren, als dem Leistungsberechtigten das Aufbringen der Mittel aus Einkommen und Vermögen zuzumuten ist. Beim Nettoprinzip erfolgt, vereinfacht gesagt, vonseiten des Sozialhilfeträgers nur noch die Zahlung des entsprechenden, von ihm nach Prüfung zu zahlenden Anteils. Das hätte zur Folge, dass die Einrichtungsträger künftig nicht mehr ausschließlich mit dem Sozialhilfeträger abrechnen müssten, sondern beispielsweise auch direkt mit dem Heimbewohner. Was spricht für die Einführung eines so genannten Nettoprinzips? Zunächst sicherlich, dass es dieses bereits im Bereich der Pflege gibt. Der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen. Auch ordnungspolitische Erwägungen sind nicht von der Hand zu weisen: Jeder Beteiligte soll sich um die eigenen Zahlungsströme kümmern und die mit einseitigen staatlichen Vorleistungen verbundenen Rückholrisiken werden vermieden. Das scheint im Hinblick auf das im Sozialhilferecht verankerte Nachrangprinzip gerechtfertigt. Des Weiteren wird von den Befürwortern des Nettoprinzips vorgebracht, dass mit einer größeren Transparenz der Zahlungsströme auch eine Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung - unter Zugrundelegung des Gedankens des persönlichen Budgets - des behinderten Menschen bzw. seiner Betreuungsperson einhergehe. ({1}) Auch verwaltungstechnische Erleichterungen auf staatlicher Seite sind nicht von der Hand zu weisen. Andererseits, werte Kolleginnen und Kollegen, führt die Einführung des Nettoprinzips zu mehr Verwaltungsund Kostenaufwand aufseiten der Einrichtungsträger. ({2}) Diese Frage muss natürlich auch ins Kalkül gezogen werden. Die doppelte Abrechnung mit Heimbewohnern und Sozialhilfeträgern wird womöglich zu einer längeren Bearbeitungsdauer führen, da ja vorgeschaltete Einkommens- bzw. Vermögensprüfungen durchzuführen sind. Ob dagegen auf staatlicher Seite entsprechende Kostenersparnis und weniger Bürokratieaufwand verzeichnet werden können, wird von den Kritikern bezweifelt. Diesen Punkt müssen wir noch sehr nachhaltig hinterfragen. ({3}) Es sind ja möglicherweise sehr viele Sozialhilfefälle betroffen. Bei diesen müsste dann eine Doppelprüfung stattfinden, zum einen durch den Heimträger und zum anderen durch die staatlichen Stellen. Die Frage, ob damit dann überhaupt etwas gewonnen wäre, muss in die Überlegungen einbezogen werden. Deshalb hat sich auch der Freistaat Bayern dieser Problematik angenommen und im Bundesrat einen entsprechenden Antrag zur Beibehaltung des Bruttoprinzips eingebracht, der von vom Land Rheinland-Pfalz unterstützt wurde. Hier hatte man ebenfalls die Überlegung angestellt, ob die geplante Umstellung praktikabel ist. Ich glaube, dass wir aufgerufen sind, diese Frage in den Beratungen sehr intensiv zu beleuchten und dann entsprechend zu entscheiden. Ich bin davon überzeugt, dass wir in den kommenden Wochen die Gelegenheit nutzen werden, nicht nur mit den Einrichtungen zu sprechen, sondern uns darüber hinaus sehr intensiv auch mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich denke, in diesem Sinne können wir die Beratungen aufnehmen. ({4}) Für mich ist das Entscheidende, dass die Menschen mit Behinderung in Zukunft sicher sein können, die entsprechenden Leistungen zu bekommen, die es ihnen erlauben, ein möglichst gutes Leben zu führen. Wichtig ist, dass ihnen hierzu von staatlicher Seite die entsprechende Unterstützung gegeben wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Katja Kipping von der Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Straubinger, wenn Sie ernsthaft 420 Euro im Monat als Rundumversorgung bezeichnen, kann ich nur sagen: Sie haben wohl noch nicht von 420 Euro im Monat leben und damit auskommen müssen. ({0}) Die Höhe ist natürlich viel zu niedrig bemessen. Sie wissen genau, dass wir uns, wenn wir von 420 Euro reden, auf solide Berechnungen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband stützen. Bei 420 Euro geht es noch nicht um ein Leben in Wohlstand, da geht es lediglich darum, dass das Existenzminimum abgesichert ist. ({1}) Das zweite Problem ist - das wissen Sie genauso gut wie wir -, dass der Regelsatz in seiner weiteren Entwicklung an den Rentenwert gekoppelt ist. Der Rentenwert aber ist an die Lohnentwicklung gekoppelt. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren von SPD und CDU/CSU, wer von Ihnen bereit wäre, 420 Euro darauf zu verwetten, dass der Rentenwert in den nächsten Jahren steigen wird. Findet sich hier jemand im Raum, der dazu bereit wäre? Nein, und ich glaube, Sie sind gut beraten, diese Wette nicht einzugehen. Ein weiteres Problem ist, dass die Verbrauchsermittlung auf Daten aus dem Jahr 2003 basiert. 2003 gab es aber noch keine Mehrwertsteuererhöhung; 2003 gab es noch keine hohen Zuzahlungen und die Praxisgebühr. Das heißt, der Regelsatz basiert auf alten Zahlen. Der Regelsatz bleibt die ganze Zeit über gleich niedrig, die Kosten aber, die die Leute zu decken haben, wandern munter nach oben. Im Volksmund gibt es eine Skepsis gegenüber Statistiken. Bei der EVS, der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, zumindest bei der alten, ist diese Skepsis mehr als berechtigt. So hatte man bei der Berechnung der Bedarfe einfach einmal mit dem Hinweis darauf einen Abschlag vorgenommen, es könnten sich ja unter den Verbrauchen des ärmsten Fünftels der Bevölkerung Pelze und Segelboote befinden. In was für einer Traumwelt muss man leben, wenn man ernsthaft annimmt, dass das ärmste Fünftel der Gesellschaft Pelze trägt und Segelyachten besitzt! ({2}) - Dieser eklatante Fehler ist jetzt behoben worden, das stimmt. ({3}) - Natürlich muss man Ihre Fehler erwähnen, weil nur das Hinweisen auf Fehler überhaupt dazu führt, dass Sachen nachgebessert werden. Wenn wir und die Wohlfahrtsverbände nicht immer darauf hingewiesen hätten, wäre dieser Fehler von Ihnen bestimmt noch nicht behoben worden. ({4}) Ein weiteres Problem ist, dass beim Regelsatz immer noch Abschläge angebracht werden und dann vor allem in den Bereichen Bildungsmaterialien, Nachrichtenübermittlung und Verkehr. Dabei müssen gerade Erwerbslose heutzutage agil, mobil und bestens informiert sein, um sich auf die schwere Suche nach einem Arbeitsplatz machen zu können. Mit Ihren Abschlägen beeinträchtigen Sie das enorm. ({5}) Lassen sie mich auf ein weiteres Problem hinweisen, die Umstellung auf das Nettoprinzip bei Eingliederungshilfen. Das klingt erst einmal ganz technokratisch und harmlos. Aber viele Wohlfahrtsverbände weisen darauf hin, dass das zu einem enormen Problem werden wird und dieses Vorhaben das Ziel, Menschen mit Behinderung bei der Suche nach Arbeit, bei der Eingliederung, schnellstmöglich Hilfe zukommen zu lassen, konterkariert. Was sich hinter diesem technokratischen Begriff verbirgt, ist im Grunde nichts weiter, als dass Verwaltungsarbeit, die vorher von sachkundigen Sachbearbeitern geleistet wurde, jetzt outgesourct wird, wodurch Menschen mit Beeinträchtigungen, also Menschen, die eh schon in ihren Kapazitäten eingeschränkt sind, besonders betroffen werden. Weitere Verschlechterungen gibt es bei Ausländerinnen und Ausländern. Die Einschränkung, die Sie hier vornehmen, zeigt einmal mehr, wie doppelbödig Ihre Europapolitik ist. Wenn es um die Liberalisierung der Märkte geht, dann kennt die Freizügigkeit keine Grenzen. Aber wenn es um Menschen geht, dann wollen Sie von Freizügigkeit nichts mehr wissen. 345 Euro soll der Regelsatz nun betragen. Damit wird Armut nicht bekämpft; damit wird Armut zementiert. ({6}) Wäre es nach so manchem CDUler oder so manchem Sachverständigen gegangen, würde der Regelsatz noch niedriger ausfallen. Dass er bei 345 Euro bleibt, dazu haben auch die immer wieder kritischen Nachfragen vonseiten meiner Fraktion und der Druck von der Straße beigetragen. Wir werden den hier vorliegenden Gesetzentwurf kritisch begleiten. Wir haben einen eigenen Antrag dazu eingebracht. Denn uns ist bekannt: 7,5 Millionen Menschen in diesem Land sind angewiesen auf die Leistungen im Rahmen des SGB XII und des SGB II.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Herr Straubinger und Herr Weiß, bei allen Erörterungen über statistische Effekte dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Der Regelsatz, den wir hier festlegen, wirkt sich ganz konkret auf die Lebenssituation von 7,5 Millionen Menschen in diesem Lande aus. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Markus Kurth das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf schlägt die Bundesregierung eine Vielzahl von Änderungen im Sozialhilferecht vor. Nicht alle Änderungen sind schlecht. Aber ich werde die Bundesregierung erst loben, wenn wir über diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Beratung zu einer hoffentlich christlicheren Zeit beraten. ({0}) Dann werden auch mehr Menschen zuhören können. Ich möchte mich jetzt auf zwei Kritikpunkte konzentrieren. In einem von uns eingebrachten Antrag haben wir die Kritik am Regelsatz wiederholt. Dieser Regelsatz wird nicht hier im Hause beschlossen, sondern per Rechtsverordnung zwischen Bund und Ländern. Wir stellen gleichwohl nach wie vor Schwächen bei der Systematik des Regelsatzes fest. Wir bestehen darauf, dass darüber hier diskutiert wird und dass diese Schwächen beseitigt werden. Man sollte allerdings nicht vollmundig versprechen, dass am Ende ein Betrag in Höhe von 420 Euro herauskommt. Man sollte aber auf die Schwächen hinweisen, die in der Bemessung des Regelsatzes liegen. Denn es ist keineswegs so, dass es sich hier um ein rein objektives Verfahren handelt. Der Kollege Weiß versuchte vorhin in seiner Zwischenfrage an Herrn Rohde zu suggerieren, dass mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein objektiver wissenschaftlicher Maßstab gegeben sei. Man muss sehen, dass danach im Wesentlichen politisch begründete Abschläge bei den einzelnen Verbrauchspositionen vorgenommen werden. Einige hat Frau Kipping genannt. Frau Kipping, man kann Ihren Antrag in vielen Punkten kritisieren; aber an dieser Stelle haben Sie Recht. Ich möchte den Stromverbrauch als ein Beispiel nennen. Auf die Bezugsgröße, für die die 20 Prozent mit dem geringsten Einkommen die Grundlage bilden, wird ein Abschlag von 15 Prozent vorgenommen. Man kann nicht nachvollziehen, wieso jemand, der langzeitarbeitslos ist - für diese Menschen ist der Regelsatz ebenfalls relevant -, oder ein Sozialhilfeempfänger 15 Prozent weniger Strom verbraucht. Weil sich diese Personen länger zu Hause aufhalten, könnte man annehmen, dass sie mehr Strom verbrauchen. Hier muss politisch nachgesteuert werden. Wir müssen die Regelsatzberechnung, die auch für steuerliche Freibeträge wichtig ist, auf eine solide Grundlage stellen. ({1}) Meiner Auffassung nach brauchen wir dringend Öffnungsklauseln, wenn wir sehen, dass es in Härtefallbereichen Defizite gibt. Diese Fälle tauchen weniger im Bereich der Sozialhilfe auf als im Bereich des Arbeitslosengeldes II, und dort insbesondere im Bereich der Kinder und Jugendlichen. Da gibt es Schwächen bei der Versorgung mit Lernmitteln. Das ist ein Versäumnis der Länder, wobei die Sozialhilfeträger und die SGB-IITräger keine Möglichkeit haben, korrigierend einzugreifen. Es soll zwar keine rechtlichen Verpflichtungen geben; aber zumindest die Möglichkeit sollte eröffnet werden, Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mit Schulbüchern zu versorgen. Darauf sollten wir achten. Eine Reihe von Wohlfahrtsverbänden haben im Hinblick auf die Teilnahme an Schulspeisungen vorgeschlagen, den Betrag der häuslichen Ersparnis für die Schulspeisung einzusetzen, es aber dem Sozialhilfeträger zumindest zu ermöglichen, den darüber hinaus gehenden Betrag zu erstatten, damit Kinder und Jugendliche in den Genuss des Essens in der Schule oder in der Kindertagesstätte kommen. ({2}) Das Robert-Koch-Institut hat in einer viel beachteten ersten großen Langzeitstudie zur Gesundheit von Kindern, die erst vor drei Tagen von der Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium vorgestellt wurde, festgestellt, dass bei 27 Prozent der Kinder aus sozial schwachen Familien Fehlernährung vorliegt. Hierauf muss mithilfe des Sozialhilferechtes reagiert werden. ({3}) Über das Bruttoprinzip werden wir sicherlich im Rahmen des Ausschusses noch einmal diskutieren. Auch dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt, den ich nicht mehr in Gänze darstellen kann. Ich sage allerdings abschließend eines: Wir müssen sehr darauf achten, dass wir nicht mithilfe des Sozialhilferechts genau das, was wir im Sozialgesetzbuch IX, im Behindertenrecht, wollten, nämlich Hilfe aus einer Hand, konterkarieren. Hier muss man sehr aufpassen. Herr Straubinger hat auf ein paar Schwachpunkte hingewiesen. ({4}) Ich hoffe, dass wir hier zu guten Korrekturen kommen. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die Fraktion der SPD. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialhilfe nach dem SGB XII ist das unterste soziale Netz. Natürlich sind 345 Euro im Monat - das ist ganz klar, Frau Kollegin Kipping - nicht viel Geld, wenn man damit haushalten muss. Das ist überhaupt keine Frage. Sie haben aber vergessen, in Ihrer Rede darauf hinzuweisen, dass die Menschen nicht allein von diesen 345 Euro im Monat leben müssen. ({0}) Zusätzlich werden natürlich von den Sozialhilfeträgern die Heizkosten, die Miete und zusätzliche Bedarfe übernommen. ({1}) Es ist gut, dass wir die Sozialhilfe haben. Sie dient der Sicherung der Existenz der Menschen in Deutschland. Ich bin froh, dass es sie in Deutschland gibt. Wir werden alles dafür tun, sie zu erhalten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und der parallel laufenden Regelsatzanpassung passen wir den Regelsatz der Sozialhilfe, also die Basisleistung zur Existenzsicherung, an die Ergebnisse der letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe an. Die EVS hat ergeben: Ost und West wachsen weiter zusammen. Das ist gut so. Deshalb wird der Sozialhilferegelsatz künftig bundesweit einheitlich 345 Euro betragen. Das Gesetz beschränkt sich - wir haben es schon vom Staatssekretär gehört - nicht nur auf diese Regelsatzanpassung, sondern beinhaltet weitere wichtige Änderungen. Ich greife eine heraus: die Anrechnung des befristeten Zuschlags beim Arbeitslosengeld II. Sie wird neu geregelt. Wenn also ein Partner Arbeitslosengeld II und der andere Partner Leistungen nach dem SGB XII erhält, wird der Zuschlag künftig nicht mehr gegengerechnet. Für viele Sozialhilfe empfangende Menschen bedeutet dies eine deutliche Besserstellung. Die meisten Änderungen im Gesetz sind bei Betroffenen und Verbänden relativ unumstritten. Wir haben es aber schon erlebt: Anders sieht es bei der beabsichtigten Umstellung vom Brutto- auf das Nettoprinzip bei der Eingliederungshilfe aus. Hierzu liegt uns ein Antrag der Grünen vor, die einen Verzicht auf diese Umstellung fordern. Auch ich sehe hier noch Diskussionsbedarf. Wir haben das in unserer Fraktion noch nicht ausdiskutiert. Dazu wird eine Anhörung stattfinden. In dieser Anhörung wird es die Gelegenheit geben, zu prüfen, ob diese Umstellung zumutbar ist oder ob sie möglicherweise negative Auswirkungen auf betroffene Menschen in den Heimen haben wird. Uns liegen auch zwei Anträge zu Einkommens- und Verbrauchsstichproben von den Grünen und von der Linksfraktion vor. Ich finde das schon spannend: Sie fordern eine deutliche Anhebung des Regelsatzes. Natürlich würde auch ich mich freuen, wenn wir das erreichen würden. Die Antragsteller bleiben aber die Antwort schuldig, wie das angesichts der finanziellen Lage der Länder und Kommunen bezahlt werden soll und vor allen Dingen, wie wir hierfür eine Mehrheit im Bundesrat erreichen können. So einfach kann Opposition sein. ({2}) Auch der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung am letzten Freitag mit dem Gesetzentwurf befasst. Ich finde es ausgesprochen gut, dass die Angleichung der Sozialhilfe in Ost und West nicht mehr infrage gestellt wurde. Das sah anfangs etwas anders aus: Einige Bundesländer wollten offensichtlich hier im Vorwege das Rad zurückdrehen. Das ist jetzt aus der Welt. Das zweite wichtige Signal, das der Bundesrat gegeben hat: Sozialhilfe empfangende Menschen in Heimen sollen endlich eine Entschädigung für den Wegfall der Weihnachtsbeihilfe erhalten. Der Bundesrat schlägt dazu eine Anhebung des Barbetrages für Sozialhilfe empfangende Heimbewohner von 26 auf 28 Prozent des Eckregelsatzes vor. Es wäre schön, wenn es dazu käme. Allerdings werden von den Ländern Kompensationsforderungen gestellt, die derart hoch sind, dass sie in keinem Verhältnis zu der angebotenen Anhebung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte stehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Sie sind zwar am Ende Ihrer Redezeit; aber Kollegin Kipping möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie sie noch? ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte jetzt gern zum Schluss kommen. Die angebotene Heraufsetzung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte würde die Länder etwa 30 Millionen Euro kosten. Die als Gegenleistung verlangten Streichungs- und Kürzungsforderungen würden den Ländern und Kommunen hingegen eine Entlastung von rund 200 Millionen Euro bringen. Hier gibt es also eine deutliche Schieflage zulasten der Sozialhilfebezieher. Dies werden wir auf keinen Fall so mittragen. Die Länder betreiben hier ein falsches Spiel. Sie tun so, als wollten sie die Lage der Sozialhilfebezieher in Heimen verbessern; in Wirklichkeit wollen sie bei ihnen sparen. Das werden wir nicht mitmachen. Dies ist heute die erste Lesung. Es wird eine Anhörung geben. Wir werden Zeit haben, uns auszutauschen. Ich freue mich darauf. Als letzte Rednerin wünsche ich Ihnen einen schönen Abend. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ganz so weit sind wir noch nicht. Die Kollegin Kipping hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte Ihnen hiermit nicht das Recht auf das letzte Wort streitig machen. Sie haben zu Recht eingefordert, dass gesagt wird, wie die Umsetzung entsprechender Vorschläge finanziert werden soll. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir ein eigenes Steuerkonzept erarbeitet haben, das darauf abzielt, die Finanzierung unserer Vorhaben, etwa die Anhebung des Regelsatzes auf 420 Euro, zu gewährleisten. Das Konzept sieht verschiedene Einnahmen durch eine andere Einkommensteuer, eine andere Vermögensteuer und eine Börsenumsatzsteuer vor, die für die Finanzierung so wichtiger Maßnahmen wie der Erhöhung der Regelsätze notwendig sind. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, wollen Sie antworten? ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kipping, wir werden über die Steuerpolitik sprechen. Die Unternehmensteuerreform liegt vor uns. In diesem Zusammenhang werden wir über neue Formen der Umverteilung sprechen. Hinsichtlich der Erbschaftund der Vermögensteuer sind wir im Moment nicht handlungsfähig, da noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aussteht. Wenn das Urteil gefallen ist, werden wir darüber sprechen. Frau Kipping, ich bin schon sehr erstaunt, für was alles Sie die Einnahmen aus einer Erbschaft- und Vermögensteuer verbrauchen wollen. ({0}) Das ist wirklich enorm! So hoch können die Steuersätze gar nicht sein, als dass das Geld für alles, wofür Sie es einsetzen wollen, reichen könnte. Die Rechnung können Sie uns an anderer Stelle einmal aufmachen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2711, 16/2751, 16/2750 und 16/2743 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Zu dem Gesetzentwurf der Bun- desregierung auf Drucksache 16/2711 liegt inzwischen die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellung- nahme des Bundesrates auf Drucksache 16/2753 vor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf über- wiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({0}), Clemens Bollen, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Öffentliche Verantwortung wahrnehmen Mit fairen Chancen Kinder stark machen - Drucksache 16/2754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten - Kinderarmut wirksam bekämpfen - Drucksache 16/2077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Marlene Rupprecht, Diana Golze, Ina Lenke und Ekin Deligöz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/2754 zu Tagesordnungspunkt 28 a zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/2077 zu Tagesordnungspunkt 28 b soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. September 2006, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.