Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2006.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
- es gibt offensichtlich dringenden Fragebedarf, schon
bevor ich dem Staatssekretär das Wort erteilt habe; das
wird ihn sicherlich zusätzlich motivieren - hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Ulrich Kasparick. Bitte
schön.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst herzlichen Dank, dass Sie mir gestatten, diesen
Bericht vorzutragen. Üblicherweise macht das der Bundesminister selbst. Er ist aber bei der Trauerfeier für die
Opfer des Transrapidunglücks. Wir bitten dafür um Verständnis.
Das Kabinett hat heute den Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit zustimmend zur
Kenntnis genommen. Er bezieht sich auf das Jahr 2005.
Es handelt sich um den ersten Bericht der großen Koalition zu diesem wichtigen Thema. Wir haben uns darum
bemüht, in dem Bericht keine Schönfärberei zu betreiben, sondern die Dinge beim Namen zu nennen. Im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit finden Sie deshalb die beiden wichtigen Trends, die die Situation in
den neuen Bundesländern kennzeichnen. Auf der einen
Seite wurden in wichtigen Bereichen, zu denen ich
gleich nähere Ausführungen machen werde, deutliche
Fortschritte gemacht. Gleichzeitig gibt es auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor erhebliche Probleme, insbesondere infolge des stärker werdenden demografischen
Wandels.
Die Darstellung der Trends finden Sie im Einzelnen
in dem Bericht, der in drei Teile aufgegliedert ist. Wenn
Sie sich mit den konkreten Programmen und Maßnahmen beschäftigen wollen, finden Sie Informationen dazu
in der Mitte des Berichts. Die Statistik ist angehängt.
Wichtig ist, dass wir die Entwicklung in den neuen
Bundesländern realistisch betrachten. Es ist nämlich
überhaupt nicht zielführend, sich hinsichtlich der gegenwärtigen Situation etwas vorzumachen. Dennoch ist es
wichtig, sich die ermutigenden Trends anzuschauen.
Lassen Sie mich in Teil eins meines Berichts ein paar
Zahlen dazu anführen.
Im Jahr 2005 haben wir insbesondere im verarbeitenden Gewerbe einen deutlichen Produktivitätszuwachs erreicht. Das durchschnittliche Wachstum lag bei 5 bis
6 Prozent; das ist gut. Wenn man die Zahlen für das erste
Halbjahr 2006 betrachtet, stellt man fest, dass das
Wachstum im verarbeitenden Gewerbe in den ersten
sechs Monaten dieses Jahres sogar bei über 11 Prozent
lag. Das ist ein wichtiger Impuls. Wenn man sich die
Branchen im Einzelnen anschaut, ist festzustellen, dass
das Wachstum in den Bereichen chemische Industrie,
optische Industrie, Mikroelektronik und Ernährungsgüterwirtschaft deutlich gesteigert werden konnte. Auch im
Logistikbereich kommen wir deutlich nach vorne. Denken Sie in diesem Zusammenhang nur an den Standort
Halle/Leipzig, wo große Investitionen ins Haus stehen.
Damit bin ich beim zweiten Stichwort: Ostdeutschland
konnte mehr ausländische Investoren anwerben. Am
Standort Dresden beispielsweise investiert ein großes
amerikanisches Unternehmen, was den Standort weiter
nach vorne bringen wird.
Was die gesamtwirtschaftliche Produktivität anbetrifft, besteht immer noch ein großer Abstand zu den alten Bundesländern: Die Produktivität in Ostdeutschland
erreicht etwa 80 Prozent des westdeutschen Durchschnitts.
Wichtig ist mir der Hinweis auf die Exportquote. Wer
in den Unternehmen in Ostdeutschland unterwegs ist,
fragt die Unternehmer regelmäßig, wie sie im internationalen Geschäft aufgestellt sind. Die ostdeutschen
Redetext
Unternehmen haben ihre Exportquote verbessert; sie
liegt mittlerweile bei etwa 30 Prozent. Allerdings haben
auch die alten Länder deutlich aufgeholt. Ihre Exportquote liegt jetzt bei 44 Prozent. Das heißt, in diesem
wichtigen Bereich ist der Abstand zwischen Ost und
West stabil geblieben; er hat sich nicht verringert.
In Teil zwei meines Berichts möchte ich die Herausforderungen kurz anführen. Sie bestehen in Ostdeutschland insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben dort
knapp 1,6 Millionen Arbeitslose. Im Jahr 2005 war im
Vergleich zum Vorjahr eine leichte Steigerung der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Bei den Männern stieg die
Arbeitslosigkeit; bei den Frauen blieb die Quote nahezu
stabil. Ein besonderer Problembereich sind junge Menschen bis 25 Jahre. Etwa 25 000 bzw. - in Prozenten
ausgedrückt - 13,8 Prozent der jungen Menschen bis 25
befanden sind im Vergleich zum Jahr 2004 mehr in Arbeitslosigkeit. Das hat ein vielfältiges Bündel von Ursachen.
Ich will schließlich auf eine besonders große Problematik hinweisen. In Ostdeutschland findet - das wissen
die Fachleute unter Ihnen schon seit langem - bei vielen
Entwicklungen sozusagen wie in einem Brennglas eine
Vorwegnahme von Prozessen, die auch die alte Republik
betreffen werden, statt. Der demografische Wandel ist
ein Beispiel dafür. Er stellt in den neuen Bundesländern
eine enorme Herausforderung dar, da er insbesondere im
ländlichen Bereich zu erheblichen Problemen bei der öffentlichen Daseinsvorsorge führen wird.
Wir rechnen - Sie kennen die Prognosen des BBR bis 2020 mit einem Bevölkerungsrückgang von etwa
7,7 Prozent. Das bedeutet: Der Prozess der Regionalisierung, den man schon jetzt beobachten kann, dass es in
Ostdeutschland ebenso wie in Westdeutschland stärkere
Zentren gibt und daneben sich eher schwächer entwickelnde Gebiete, wird sich verstärken und beschleunigen. Das Geburtendefizit in den neuen Bundesländern ist
besonders dramatisch. Sie wissen, dass in der Zeit der
Wende der Geburtenrückgang in den neuen Bundesländern stärker war als nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Dieser enorme Einbruch der Geburtenrate in den neuen
Bundesländern wird sich auf die Folgejahre erheblich
auswirken, beispielsweise auf die Zahl der Menschen,
die der Produktion zur Verfügung stehen und am Arbeitsleben teilhaben können, bis hin zu der Frage, wie
viel Steuereinnahmen überhaupt erzielt werden können.
Die Herausforderungen, die ich Ihnen kurz skizziert
habe, haben dazu geführt, dass wir uns auf sieben Handlungsfelder fokussieren wollen. Ich will sie kurz nennen;
wir können sie dann im Rahmen Ihrer Fragen vertiefen.
Wir wollen die Auslandsinvestitionen durch eine bessere Investorenwerbung verstärken. Wir wollen uns noch
stärker als in der Vergangenheit auf den Mittelstand konzentrieren. Wir wollen die Existenzgründerförderung
nach vorne bringen, weil wir schlicht zu wenige Unternehmer haben. Ganz besonders wichtig ist mir - das
werden Sie verstehen -, dass wir bei dem Thema Forschung und Entwicklung vorankommen. Die kleinen
und mittelständischen Unternehmen sind noch zu wenig
am Innovationsprozess beteiligt. Darauf wollen wir uns
konzentrieren. Mein Haus hat jetzt mit einem zusätzlichen Angebot in diesem Bereich reagiert. Wir wollen
uns um den Kommunikationsprozess zwischen kleinen
und mittelständischen Unternehmen und den Hochschulen besonders kümmern.
Wichtig ist, dass wir am zweiten Arbeitsmarkt - das
betrifft die Bundesagentur für Arbeit - nach wie vor aktiv bleiben. Knapp 6 Milliarden Euro hat der Bund darin
investiert. Wir geben erhebliche Summen dafür aus,
merken aber, dass wir bei der Ausbildungsfähigkeit von
jungen Menschen an Grenzen stoßen. Hier sind insbesondere die Länder gefragt. Sie müssen sich mit ihrer
Schulpolitik besser aufstellen und die Verbindungen zu
den Unternehmen verbessern. Das „Ausbildungsprogramm Ost“ wird fortgeführt. Wir wollen uns zusätzlich
um die Menschen ab 55 kümmern und ihnen eine Perspektive geben. Die entsprechenden Programme sind in
Vorbereitung.
Ich komme zum Schluss meiner kurzen Einführung.
Die Wahlergebnisse für die Landtage in den neuen Bundesländern zeigen, dass wir in Gesamtdeutschland ein
Problem haben, das sich mit dem Stichwort „bürgerschaftliches Engagement“ beschreiben lässt. Wir werben
deshalb sehr darum, mit allen demokratischen Kräften,
mit allen gesellschaftlichen Gruppen, die uns helfen
können, Rechtsradikalismus vor Ort zu bekämpfen, ein
neues Bündnis zu schmieden. Wir werden uns in ganz
naher Zukunft mit den Akteuren, die in dieser Szene zu
Hause sind - angefangen bei den evangelischen und katholischen Akademien über die politischen Stiftungen
bis hin zu den kommunalen Initiativen -, zusammensetzen, um zu überlegen, wie wir die Kräfte dort konzentrieren können. Denn wer die Wirtschaft nach vorne
bringen will, muss Standorte vorweisen können, wo
auch internationale Investoren das Gefühl haben, sie
seien willkommen. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten. Wie gesagt, dieses gesellschaftspolitische Thema
hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf wirtschaftliche
Kreisläufe.
Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir wollen Bewährtes fortsetzen und uns vor allem auf die Projekte
konzentrieren, bei denen wir, wie wir glauben, nachsteuern müssen. Neben einer breit angelegten Förderung
über die GA und die anderen bereitgestellten Mittel streben wir eine Konzentration auf Wachstumskerne an.
Diese beiden großen politischen Maßnahmen stehen nebeneinander und sollen insbesondere dazu beitragen,
dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert.
Vielen Dank. - Erste Nachfrage, Frau Kollegin
Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben völlig zu Recht gesagt, dass für Schönfärberei
keinerlei Anlass besteht. 16 Jahre nach der deutschen
Einheit klafft die Schere zwischen Ost und West nach
wie vor weit auseinander. Neue Probleme sind entstanden.
Ich will nach einem ganz konkreten Segment fragen: In
vielen Diskussionen, die im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform geführt wurden, wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere im Osten Deutschlands ein eklatanter Ärztemangel besteht. Teilweise hat jemand, der in
Mecklenburg-Vorpommern einen Herzinfarkt erleidet, geringere Chancen, entsprechend behandelt zu werden, als
jemand, der in einer Großstadt wie Berlin oder in anderen
Ländern lebt. Die Ärzte, die in Ostdeutschland ihre Praxen aufgeben, finden kaum Nachfolger. Hat die Bundesregierung ein Programm entwickelt, um den Ärztemangel
in Ostdeutschland zu beheben?
Frau Abgeordnete, gestatten Sie mir, zunächst auf
Folgendes hinzuweisen: Wir sollten mit unserer Argumentation bei diesem hochsensiblen Thema vorsichtig
sein. Öffentlich zu sagen, dass jemand, der in Mecklenburg-Vorpommern einen Herzinfarkt erleidet, schlechter
versorgt würde als jemand, dem dies in Berlin widerfährt, halte ich für fahrlässig;
({0})
denn die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist auch
in der Fläche gut.
Allerdings haben Sie dieses Problem zu Recht angesprochen. Der Ärztemangel stellt insbesondere im ländlichen Raum eine sehr große Herausforderung dar. Deswegen - das wissen Sie - führen wir seit längerem
Gespräche sowohl mit den Krankenkassen als auch mit
den zuständigen Ärzteverbänden. Es gibt für diese Herausforderung keine einfache Lösung. Mit einem Bundesprogramm - ich weiß nicht, was Sie sich darunter
konkret vorstellen -, das auf Gehaltszuschüsse oder dergleichen hinauslaufen könnte, wäre es nicht getan.
Wanderungsprozesse von Fachleuten sind in ganz
Europa zu verzeichnen. Das müssen wir zur Kenntnis
nehmen. Allerdings lassen sich auf diese Entwicklungen
keine einfachen Antworten finden. Der Bund wird mit
den Ländern im Gespräch bleiben und alle Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, nutzen, um seinen
Beitrag zur Lösung dieses Problems zu leisten. Aber Sie
sollten bei diesem Thema keine schnellen und einfachen
Antworten erwarten.
Nächste Fragestellung, Frau Wicklein, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, Sie haben vorhin ausgeführt, wie wichtig
Auslandsinvestitionen für Ostdeutschland sind. Meine
Frage lautet: Wie ist die aktuelle Entwicklung einzuschätzen und welche Rolle spielt bei der Anwerbung
ausländischer Investoren das IIC?
Frau Kollegin Wicklein, wir haben uns entschieden,
die zwei Organisationen zur Anwerbung von Auslandsinvestitionen, die es in Deutschland gibt, zu einer schlagkräftigen Organisation zusammenzuführen. Weil wir uns
auf dieses Themenfeld besonders fokussieren wollen,
haben wir dafür mehr Geld zur Verfügung gestellt.
Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass Investorenanwerbung ein Thema ist, das den internationalen Wettbewerb betrifft. Deutschland insgesamt - nicht
nur Ostdeutschland - steht mit Frankreich, Italien, England, Spanien und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Wettbewerb um Auslandsinvestitionen. Hier müssen wir unsere Kräfte bündeln. Ich denke,
dass die Entscheidung, beide Organisationen zusammenzuführen und ihre Mittelausstattung zu verbessern, die
wir gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium
getroffen haben, richtig ist.
Insbesondere Auslandsinvestitionen helfen uns, in der
international arbeitsteiligen Gesellschaft Arbeitsplätze
zu schaffen, die möglichst wenig konjunkturabhängig
sind. Wie Sie wissen, gibt es im Baugewerbe, das sehr
stark von Konjunkturzyklen abhängig ist, ein besonderes
Problem. Wir brauchen Hochtechnologiearbeitsplätze,
beispielsweise in den Bereichen erneuerbare Energien,
Energieeffizienz und neue Logistikkonzepte. Hierfür benötigen wir Auslandsinvestitionen. Dass dieser Weg erfolgreich ist, wird am Beispiel Thalheim in SachsenAnhalt deutlich, der mittlerweile der wichtigste Solarstandort in Deutschland ist. Hier zeigt sich, dass sich
eine Konzentration lohnt; denn mittlerweile erfolgen internationale Investitionen an diesem Standort. Unsere
Erwartung an die Zusammenführung beider Organisationen ist, dass wir dadurch noch besser aufgestellt sind.
Frau Kollegin Pieper. - Sie haben so früh mit meiner
Großzügigkeit gar nicht gerechnet, wie mir scheint.
Nein. Aber vielen Dank, Herr Präsident. Ich nehme
Ihre Großzügigkeit sehr gerne an.
Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht auf die Probleme mit dem Rechtsextremismus in Ostdeutschland
hingewiesen und wir wissen, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere für junge Menschen dort ein
zentraler Punkt bleibt. Deshalb meine Frage: Wie steht
die Bundesregierung zur Schaffung von Modellregionen
für Deregulierung? Sie haben richtigerweise beschrieben, dass wir wegen des demografischen Wandels ganz
andere Voraussetzungen in den neuen Ländern benötigen, dass wir mehr Flexibilität brauchen, wenn es um
Arbeitsplätze oder Investitionen geht. Welche Chancen
bestehen für Modellregionen für Deregulierung, durch
die sich die neuen Länder zu Musterregionen für
Deutschland entwickeln könnten?
Frau Abgeordnete, wir haben in der Vergangenheit
gesehen, dass Ostdeutschland in vielen Bereichen zum
Vorbild geworden ist, zum Beispiel beim „Stadtumbau
Ost“. Dieses Programm strahlt mittlerweile auf die alten
Länder aus; wir haben es um einen „Stadtumbau West“
erweitert. Wir haben ferner die Beschleunigung der Verkehrswegebauplanung auf die alten Länder ausgeweitet,
weil sie sich in Ostdeutschland bewährt hat.
Wir werden durch den demografischen Wandel gezwungen werden, beispielsweise über neue Modelle der
Finanzierung und der Darstellung des öffentlichen Nahverkehrs in ländlichen Regionen nachzudenken. Die Realität wird uns also zu Flexibilisierungen zwingen; sie
wird uns zwingen, etwas Neues auszuprobieren. Ostdeutschland ist in diesem Sinne eine Werkstatt für neue
Entwicklungen. Wir haben deswegen in unserem Hause
angeregt - darin sind wir uns mit den Kollegen der anderen Ressorts einig -, neue Gespräche zwischen Ost und
West ins Leben zu rufen über die Frage, wie sich strukturschwächere Regionen und strukturstärkere Regionen
in Deutschland zueinander verhalten. Das ist ein gesamtdeutsches Thema. Insbesondere was die öffentliche Daseinsvorsorge angeht, werden wir zu ganz neuen, flexiblen Lösungen kommen müssen.
Ich werbe immer dafür, einen neuen Dialog auch mit
den nicht staatlichen Organisationen zu beginnen. Wir
müssen vor Ort Kreativität organisieren, beispielsweise
im Hinblick auf den öffentlichen Nahverkehr, aber auch
im Hinblick auf andere Teile der Daseinsvorsorge. Wir
werden auf einen solchen Dialog angewiesen sein, weil
die Herausforderungen, die der demografische Wandel
uns aufzwingt, so exorbitant sind, dass wir nicht am Status quo festhalten können.
Frau Kollegin Enkelmann.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin über Wanderungsbewegungen gesprochen. Nun handelt es sich bei
der Wanderung von Menschen zwischen Ost- und Westdeutschland nicht um Wanderungsbewegungen, wie wir
sie in anderen europäischen Staaten haben. Vor allen
Dingen junge, hoch qualifizierte Menschen verlassen die
neuen Bundesländer, darunter sehr viele junge Frauen.
Gibt es in der Bundesregierung Vorstellungen, hier ein
Stück weit gegenzusteuern?
Ja. Aber auch hierauf gibt es keine einfache Antwort.
Wenn Sie sich den internationalen Ausbildungsmarkt
einmal anschauen, wenn Sie auf die Europakarte
schauen oder, besser noch, auf die Weltkarte, dann sehen
Sie, dass es Wanderungsbewegungen zwischen dünn besiedelten Regionen und Ballungsräumen gibt. Insbesondere die Hochqualifizierten gehen weg; sie sind die Mobilen. Die chinesischen Studenten, die in Deutschland
studieren, haben einen weiten Weg auf sich genommen,
ebenso die britischen Doktoranden, die sich am MaxPlanck-Institut in Leipzig ausbilden lassen. Das heißt,
die Mobilität von hoch ausgebildeten Spezialisten ist
weltweit extrem hoch. Insofern stellen die neuen Bundesländer keine Besonderheit dar.
Ostdeutschland ist aber deswegen besonders betroffen, weil sich diese Abwanderungsbewegung noch dadurch verstärkt, dass aus den alten Ländern Menschen
nach Ostdeutschland ziehen, die schon im Ruhestand
sind. Dadurch verstärkt sich der demografische Wandel
in den neuen Ländern. All diese Menschen haben Ansprüche an die Vorsorgesysteme, die unsere Gesellschaft
zur Verfügung hält. Insofern stimme ich Ihnen zu: Die
Herausforderung für die neuen Bundesländer ist extrem.
Wenn Sie sich in der Fachhochschullandschaft auskennen, werden Sie wissen, dass beispielsweise die
Fachhochschule Neubrandenburg fast ausschließlich für
die alten Bundesländer ausbildet; denn die Absolventen
gehen zu fast hundert Prozent in die alten Länder. Das
kann man den jungen Menschen nicht verdenken; denn
einer, der gut ausgebildet ist, sucht sich natürlich den Arbeitsplatz in Europa, mit dem er gut verdienen kann. Das
ist ein europäischer Prozess.
Antworten darauf zu finden, ist nicht einfach. Wir
wollen diese Lern- und Erfahrungsjahre, die schon immer üblich waren; wir wollen, dass die jungen Leute international Erfahrungen sammeln. Wir müssen ihnen
aber gemeinsam mit den Universitäten und Hochschulen
sowie den Unternehmen entsprechende Angebote machen, damit sie zurückkehren und hier gute Arbeitsplätze
finden. Mein Eindruck ist, dass insbesondere die skandinavischen Länder - denken Sie an Norwegen -, aber
auch Großbritannien im Moment noch die attraktiveren
Bedingungen für Rückkehrer haben.
Auch hier befinden wir uns im Wettbewerb. Wir sind
mit den Ländern diesbezüglich in einem sehr engen Gespräch, weil wir die Herausforderung sehen. Wir werden
im internationalen Wettbewerb nämlich nur dann bestehen können, wenn es uns gelingt, diese gut ausgebildeten
und qualifizierten Leute im Land zu halten.
({0})
Nächster Fragesteller, Herr Kollege Lämmel.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung hat als Ergebnis der Herausforderungen sieben Handlungsfelder
in diesem Bericht benannt. Eines davon ist das Thema
Forschung und Entwicklung. Am Beispiel Sachsen kann
man sehen, dass Forschung und Technologie Grundlage
der wirtschaftlichen Entwicklung sind.
Sie hatten gesagt, dass in Ihrem Hause das neue Programm „Wirtschaft trifft Wissenschaft“ aufgelegt werden soll. Ich stelle mir die Frage, ob es wirklich sinnvoll
ist, dass sich sowohl das Bundesforschungsministerium
- zum Beispiel mit dem Programm Inno-Regio oder der
Innovationsinitiative „Unternehmen Region“ - als auch
das Bundeswirtschaftsministerium - es hat Programme,
mit denen ähnliche Ansätze verfolgt werden - mit diesen
Dingen befassen. Bedeutet das nicht eine zu große Aufsplitterung der Programme? Auf der einen Seite wollen
Sie konzentrieren, das heißt, die gesamte Landschaft
übersichtlicher gestalten. Auf der anderen Seite versucht
jetzt jedes Ministerium, etwas Neues zu kreieren. Ich
frage Sie: Was soll wirklich Inhalt der Programme sein?
Sehen Sie dort auch eine Zersplitterung der Kapazitäten?
Vielen Dank für die Frage, weil die Antwort zur Konkretisierung eines seit längerem im Parlament diskutierten Themas beitragen kann.
Sie wissen, dass ich im Bundesforschungsministerium gearbeitet habe. Auch hinsichtlich der Programme
in den neuen Ländern bin ich einigermaßen kundig. Bei
dem Angebot des BMBF an den Fachhochschulen haben
wir uns sehr auf die Projektförderung konzentriert. Auch
das BMWi konzentriert sich auf die Projektförderung,
weil es um das Thema Technologietransfer geht.
Mit dem, was das BMVBS jetzt unter dem Programm
„Wirtschaft trifft Wissenschaft“ vorschlägt, zielt es auf
etwas anderes. Wir zielen nicht auf Projekte, sondern auf
den Kommunikationsprozess. Wenn Sie sich beispielsweise mit den Direktoren der Fraunhofer-Institute in
Sachsen, der Fachhochschulen oder der Institute, die auf
der Blauen Liste stehen, unterhalten und darüber sprechen, wie deren Dialog mit den kleinen und mittelständischen Unternehmen der Region aussieht und was geschehen müsste, damit dieser Dialog verbessert wird,
dann merken Sie, dass diese Einrichtungen den üblichen
Instrumentenkasten zur Verfügung haben: Man begeht
den Tag der offenen Tür, man betreibt Schülerlabore und
man führt Tage und manchmal auch Wochen der Wissenschaft durch, mit denen man versucht, Dialogprozesse voranzubringen. Wenn Sie mit international erfahrenen Wissenschaftsförderern sprechen, dann erkennen
Sie, dass es an der Schnittstelle der Kommunikation zwischen den Wissenschaftseinrichtungen und dem Umfeld
der Wirtschaft neben dem üblicherweise zur Verfügung
stehenden Instrumentenkasten sehr viele andere Möglichkeiten gibt.
Wir wollen mit diesem relativ kleinen Wettbewerb - er
ist mit etwa 20 Millionen Euro dotiert - helfen, dass in
den Regionen neue Ideen für diesen Kommunikationsprozess entwickelt werden. Diese wollen wir einer Jury
vorlegen. Die besonders Erfolgreichen bekommen eine
Auszeichnung und auch finanzielle Unterstützung. Wir
wollen, dass der Kommunikationsprozess zwischen den
Wissenschaftseinrichtungen und den kleinen und mittelständischen Unternehmen besser wird; denn angesichts
der Zahlen, die im Moment vorliegen, sind wir zum
Handeln gezwungen. In den neuen Bundesländern kümmern sich inzwischen im Schnitt etwa 90 Prozent der
KMU nicht um Innovation. Deswegen müssen wir hier
die Mittel konzentrieren, aber in Ergänzung zu den anderen Förderprogrammen, nicht als Konkurrenz.
Kollege Fell.
Herr Präsident! Herr Staatssekretär, Sie haben als
Antwort auf die Frage der Kollegin Wicklein schon den
Hinweis auf die positiven Entwicklungen im Bereich der
Branche erneuerbarer Energien gegeben. Ich teile Ihre
Einschätzung, dass dies auch im Osten eine Erfolgsgeschichte ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Fragen
stellen. Erste Frage: Liegt der Bundesregierung ein
Überblick vor, wie stark sich dieser Beitrag auf die
Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Anwerbung von
Investitionen auch aus dem Ausland im Vergleich zu anderen Branchen auswirkt? Daraus ließe sich im Umkehrschluss sagen, wie sich die Situation darstellte,
wenn die Rahmenbedingungen, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Steuerbefreiung von Biokraftstoff oder
die Stärkung der Forschungsförderung, nicht so wären,
wie sie sind.
Meine zweite Frage. Von der großen Koalition wurde
die Besteuerung von reinen Biokraftstoffen beschlossen.
Ich möchte Sie fragen, ob es schon einen Überblick darüber gibt, welche Investitionen, die geplant waren, nun
nicht getätigt werden, mit entsprechender Auswirkung
auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Vielen Dank für die Fragen. - Lassen Sie mich zunächst einmal zum Themenbereich erneuerbare Energien
einige generelle Aussagen treffen. Die neuen Bundesländer können den Wettbewerb nur dann bestehen, wenn sie
auf Markt- und Technologiefeldern tätig sind, die in den
alten Bundesländern noch nicht so stark besetzt sind.
Wir brauchen also Felder, auf denen wir uns im internationalen Wettbewerb neu aufstellen können. Deswegen
ist alles, was mit Hochtechnologie und mit neuen Technologien zu tun hat, für Ostdeutschland interessant. Das
ist der Grund, weshalb die Konzentration, beispielsweise
am Standort Dresden im Bereich der Mikroelektronik
und der Materialwissenschaften, vernünftig ist. Dieser
Standort ist mittlerweile im Wettbewerb mit anderen europäischen Standorten die Nummer eins; das ist richtig
und gut.
Gleichzeitig setzen die Wirtschaftsförderer ihre Hoffnung auf die erneuerbaren Energien, etwa die Windenergie, die Photovoltaik und die Erdwärme, die mehr als nur
hochinteressante Entwicklungen sind. Wenn wir in diesen Hochtechnologiebereichen nach vorne kommen,
dann haben wir eine Chance, neue zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen.
Schauen Sie sich Unternehmen wie Enercon in Magdeburg an. Anfang der 90er-Jahre hat es mit zwei Ingenieuren angefangen; inzwischen beschäftigt dieses Unternehmen allein am Standort Magdeburg 2 500 Mitarbeiter.
Dies zeigt die enorme Dynamik. Schauen Sie sich den
Standort Thalheim an. Anfangs wurden vor Ort Investitionen für etwa 150 Arbeitsplätze getätigt; mittlerweile
arbeiten an diesem Standort 2 000 Menschen im Bereich
der erneuerbaren Energien. Dort wurden zukunftsfähige
Arbeitsplätze geschaffen; das Unternehmen ist international konkurrenzfähig.
Unsere Hoffnung ist, dass sich diese Entwicklung
fortsetzt. Wenn Sie in den neuen Bundesländern unterwegs sind - ich weiß, Sie sind dort sehr viel unterwegs -, sehen Sie, dass im Grunde genommen alle Wirtschaftsförderer - von den Landratsämtern bis hinein in
die Wirtschaftsministerien der Länder - ihre Hoffnung
auf die erneuerbaren Energien setzen, weil sie eine
Chance für die Schaffung von zukunftsfähigen Arbeitsplätzen sein können.
Im Moment ist das Thema Biomasse beim Treibstoff
im Trend. Hier gibt es - das bezieht sich auf Ihre zweite
Frage - in den neuen Bundesländern sehr große Potenziale, insbesondere aufgrund der Verknüpfung zwischen
den Saatzüchtern, die die internationale Konkurrenzfähigkeit, beispielsweise an Standorten wie Gatersleben
oder Quedlinburg, sicherstellen können, der Forschung
und Entwicklung, beispielsweise in der angewandten
Forschung am Institut für Energetik und Umwelt in
Halle/Leipzig, und den Verfahren, die Choren und Shell
in Sachsen vorantreiben.
Nachdem wir die Quotenregelung und die leichte Besteuerung von biogenen Treibstoffen beschlossen hatten,
war für mich interessant, zu sehen, dass gerade dann ein
Unternehmen wie Nordzucker Investitionen getätigt hat.
Die Zuckerproduzenten haben sich gesagt: Jetzt gehen
wir auf den Markt, beispielsweise für Bioethanol, weil
das Tor weit offen steht. Wir müssen so gewaltige Mengen auf den Spritmarkt bringen, dass sich das Investment
lohnt.
Ich kenne ebenso die Sorgen insbesondere der kleineren Ölmühlen, den Herstellern von Ölen. Hier haben wir
zwei Absprachen getroffen. Die erste lautet: Selbstversorger in der Landwirtschaft, die diese Öle als Treibstoff
einsetzen, werden weiterhin von der Steuer befreit. Die
zweite ist: Neue innovative Entwicklungen wie die von
Choren und auch die, die noch kommen werden, wollen
wir auch künftig von der Steuer befreien. Angesichts der
erzielten Gewinne von Biounternehmen an den Börsen
haben wir eine Entscheidung mit Augenmaß getroffen.
Kollege Claus.
Herr Staatssekretär, wann gedenkt die Bundesregierung ihrer Selbstverpflichtung im Koalitionsvertrag nachzukommen und Vorschläge für die verbesserte Bildung
von Eigenkapital und die Zurverfügungstellung von
Wagniskapital für mittelständische Unternehmen und
Existenzgründerinnen und Existenzgründer zu unterbreiten? Ich darf daran erinnern: Die Selbstverpflichtung, bis
Mitte 2006 entsprechende Vorschläge zu erarbeiten, ist
die Bundesregierung unter der Überschrift „Aufbau Ost
voranbringen“ eingegangen.
Herr Abgeordneter Claus, Sie sind als Mitglied des
Haushaltsausschusses an diesen Gesprächen unmittelbar
beteiligt. Von daher wissen Sie, dass die Frage der Bereitstellung von Eigenkapital für kleine und mittelständische Unternehmen höchst komplex ist. Dieses Thema
beschäftigt den Deutschen Bundestag seit der Wiedervereinigung.
Ein Blick in die Protokolle zeigt, dass es kein Wirtschaftsministerium gegeben hat, das sich nicht insbesondere gegenüber dem Kreditgewerbe um diese Frage bemüht hat. Ich persönlich finde - es sei mir erlaubt, dies
öffentlich festzustellen -, dass der Privatsektor im
Finanzgewerbe in diesem Zusammenhang unzureichend
aktiv ist. Wir wünschten uns, dass auch die Privatbanken
ihrer Verantwortung bei der Finanzierung von innovativen mittelständischen Konzepten gerecht würden.
({0})
An dieser Stelle wird nach unserer Auffassung derzeit
noch zu starke Zurückhaltung geübt. Auch darüber sind
wir intensiv im Gespräch.
Die bisherigen Vorschläge - insbesondere das Mittelstandsprogramm der Bundesregierung - zielen in die
richtige Richtung, aber wie ich bereits deutlich gemacht
habe, sind dabei enorme Herausforderungen zu bewältigen. Wir hoffen, dass wir im Gespräch mit den Banken
- insbesondere mit der KfW, bei der der Bund direkte
Einflussmöglichkeiten hat - zügig zu weiteren Schritten
kommen.
Mit besonderer Sorge erfüllt uns, dass die Bereitschaft von Finanzeinrichtungen, in Wagniskapital zu investieren, deshalb so gering ist, weil in den Banken
selbst nicht mehr genügend Sachverstand zur Verfügung
steht, um beispielsweise Patente beurteilen zu können. In
diesem Punkt ist im Bankensektor selbst mehr Unterstützung notwendig, damit unsere Kreditinstitute die Kreditanträge besser beurteilen können.
({1})
- Da haben Sie Recht.
Das ist offenkundig. - Bevor die Kollegin Gleicke die
nächste Frage stellt, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die noch angemeldeten Fragen in den verbleibenden neun Minuten nur dann abgewickelt werden können, wenn sowohl die Fragen als auch die Antworten
etwas knapper ausfallen als bisher und nicht durch unnötigen Beifall Zeit in Anspruch genommen wird.
({0})
Schönen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, im Solidarpakt II sind 156 Milliarden
Euro Zuwendungen enthalten, die als Finanzhilfen des
Bundes an die Länder zugesagt worden sind. Angesichts
der Tatsache, dass die Abwanderung von jungen Menschen nur dadurch zu verhindern ist, dass Perspektiven
in Ostdeutschland geschaffen werden, und der Zuzug
junger Fachkräfte aus den anderen Teilen der BundesIris Gleicke
republik Deutschland organisiert wird, möchte ich Sie
erstens fragen: Wie bewerten Sie, dass manche Bundesländer wie Thüringen die zur Verfügung gestellten GAMittel nicht vollständig ausschöpfen? Zweitens. Mit
welchen konkreten Maßnahmen soll Ostdeutschland in
der Phase des Solidarpakts II bis 2019 noch geholfen
werden?
Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube:
Ich bin der Auffassung, dass wir diese Mittel, über die
wir zurzeit mit den Ländern Gespräche führen, auf den
Bereich Forschung und Entwicklung fokussieren sollten.
Denn 15 Jahre deutsche Einheit sind ein wunderbares
Lehrbeispiel dafür, welche Maßnahmen erfolgreich waren. An den Standorten, an denen man sich insbesondere
darum bemüht hat, die Industrieforschung bzw. Forschung und Entwicklung voranzubringen, sind Arbeitsplätze entstanden. Deswegen bin ich sehr gespannt, wie
das Gespräch zwischen Bund und Ländern ausgeht.
({0})
Erst kürzlich wurde bei einem Treffen mit den Vertretern der Länder das Gespräch über die Verwendung der
Mittel des Korbs II auf den Oktober vertagt. Ich kann
verstehen, dass die Länder diese Gespräche nutzen wollen, um höhere Zuwendungen für ihre Länderhaushalte
zu erreichen. Das ist durchaus verständlich. Spannend ist
aber die Frage, ob wir den politischen Mut aufbringen,
die vorhandenen Mittel auf die Bereiche zu fokussieren,
von denen wir wissen, dass sie erfolgreich sind.
Dass einzelne Länder wie Thüringen beim Einsatz
dieser Mittel anders vorgehen als andere Bundesländer,
muss ihnen zunächst einmal selbst überlassen bleiben.
Ich empfehle in solchen Fällen, nach den Gründen zu
fragen. Im Gegensatz zu anderen Regionen verzeichnet
Thüringen ein Wachstum im zweistelligen Prozentbereich. Das könnte miteinander zusammenhängen.
Kollege Günther.
Herr Staatssekretär, der Jahresbericht zum Stand der
Deutschen Einheit ist immer sehr umfangreich und dient
in letzter Zeit als gute Analyse. Sie haben sieben Themenbereiche angesprochen. Ich frage Sie konkret: Will
das Ministerium in Zukunft auch die in den letzten Jahren formulierten Anregungen wie Modellregionen und
Förderstrategien endlich in einer Hand bündeln und als
verantwortliches Ministerium in einer entsprechenden
Initiative dafür sorgen, dass sich nicht weiter alle Ministerien beim Aufbau Ost verzetteln, sondern dass er von
einer Stelle aus vorangetrieben wird?
Vielen Dank für Ihre Frage; denn sie gibt mir noch
einmal Gelegenheit, über die strukturelle Verantwortung
innerhalb der Bundesregierung zu sprechen. Wie Sie
wissen, gibt es nach dem Geschäftsverteilungsplan der
Bundesregierung einen Beauftragten für die neuen Bundesländer, der im Wesentlichen eine koordinierende
Funktion zwischen den Häusern hat. Es gibt starke
Häuser wie beispielsweise das Bundeswirtschaftsministerium, das Bundesforschungsministerium, das Bundeslandwirtschaftsministerium oder das Bundesfinanzministerium, die mit eigenen Maßnahmen in den neuen
Bundesländern Akzente und Schwerpunkte setzen; das
ist auch sinnvoll. Der entscheidende Punkt ist aber - darum bemühen wir uns -, beispielsweise bei der Neujustierung auf Staatssekretärsebene einen Gesprächsprozess
zu organisieren, der uns hilft, die überwiegend regionalen Ansätze so aufeinander abzustimmen, dass wir einen
Mehrwert erzeugen.
Die Vorstellung aber, alle Förderprogramme, die in
den verschiedenen Ministerien laufen, in einem Haus zu
konzentrieren, ist nach meiner Überzeugung nicht zielführend. Wenn Sie sich anschauen, mit wie viel Manpower und Fachleuten die Häuser ihre Fachprogramme
erarbeiten, dann werden Sie sicherlich verstehen, dass
wir diese kritische Masse in den einzelnen Häusern benötigen; denn sonst springen wir bei der Erledigung der
Aufgaben in den neuen Bundesländern zu kurz.
Kollege Meckel.
Verehrter Herr Präsident! Lieber Kollege Staatssekretär, alle Ihre Antworten machen deutlich, wie groß die
Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für die Entwicklung in Ostdeutschland ist. Da wir uns mit der
Föderalismusreform in gewisser Weise selber ins Knie
geschossen haben,
({0})
gibt es nun Schwierigkeiten, das Nötige zu tun. Ich erinnere daran, dass ich der Föderalismusreform nicht zugestimmt habe. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Das entscheidende Thema ist vielmehr - das wurde an mancher
Stelle schon deutlich -, dass die Bundesregierung trotzdem Möglichkeiten sieht, die Innovationskraft der ostdeutschen Wirtschaft zu stärken. Können Sie hierzu ein
paar Beispiele nennen?
Ich möchte an einer Stelle konkret werden. Sie sprachen von einem geplanten Programm, mit dem die Zusammenarbeit von Hochschulen sowie kleineren und
mittleren Unternehmen verstärkt werden soll. Ist es nicht
sinnvoll, in dieses Duo regionale und kommunale Körperschaften einzubeziehen? Denn nach meiner Meinung
ist eine Verflechtung von kommunalen Körperschaften,
kleinen und mittleren Betrieben sowie der Wissenschaft
unabdingbar, um eine ländliche Region zielgerichtet zu
fördern.
Ich kann das nur bestätigen. Mein Petitum ist: 15 Jahre
deutsche Einheit, lasst uns aus den eigenen Erfahrungen
lernen! Die eigenen Erfahrungen zeigen: Wenn man sich
bei Bundesförderprogrammen, kombiniert mit Landesförderprogrammen, auf regionale Ansätze konzentriert,
dann kommt man voran. Eine sektorale Förderung ist
nicht zielführend. Wir brauchen vielmehr eine regionale
Kooperation. Wenn man sich beispielsweise die Förderansätze im BMBF im Rahmen von „Unternehmen Region“ mit fünf Teilprogrammen anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich ausschließlich um regionale Ansätze
handelt. Alle Programme, wie beispielsweise Inno-Watt
oder die „Integrierte ländliche Entwicklung“ im Bundeslandwirtschaftsministerium, haben den Fokus auf der regionalen Zusammenarbeit. Wir sehen, dass die Projekte
vorankommen, bei denen genau das passiert, was Sie ansprechen, bei denen sich also die Forschung mit der regionalen Politik und den Bundesförderinstrumenten verbündet.
Ich möchte noch ein Kriterium hinzufügen. Wir merken, dass die Projekte, insbesondere diejenigen, die vom
Bund gefördert werden, erfolgreich sind, die sich von
vornherein auf Qualität konzentrieren. Ein regionaler
Zusammenschluss ist noch kein Wert an sich. Vielmehr
kommt es erst dann zu einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung, wenn man sich in der Produkt- oder
der Verfahrensentwicklung von vornherein dem internationalen Wettbewerb stellt. Mein Eindruck ist, dass die
Netzwerke in den neuen Bundesländern noch nicht optimal sind. Hier gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten.
Um diesen Prozess wollen wir uns kümmern. Wir werben damit: Geld vom Bund gibt es, wenn ihr euch zusammentut und auf internationale Standards achtet.
Vielen Dank für die Botschaft.
Frau Hirsch.
Danke schön, Herr Staatssekretär. - Sie sind zu Recht
auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Probleme
auf dem Ausbildungsstellenmarkt eingegangen. Die von
Ihnen vorgetragenen Lösungsvorschläge sind aber, wie
ich finde, sehr dürftig. Die Chance junger Menschen im
Osten Deutschlands auf einen betrieblichen Ausbil-
dungsplatz ist ungefähr nur halb so groß wie im Westen.
Aber Sie sagen lediglich, Sie wollten das Ausbildungs-
platzprogramm Ost - das ist zweifelsohne ein richtiges
und sinnvolles Programm; es reicht aber bei weitem
nicht aus - fortsetzen. Ich bitte Sie daher, darzulegen,
welche konkreten Ansatzpunkte Sie haben und was Sie
vorhaben, um die miserable Ausbildungssituation im
Osten Deutschlands zu verbessern.
Da gibt es mehrere Ansatzpunkte. Gerade beim
Thema Ausbildungsmarkt ist mir persönlich wichtig,
dass man die Zuständigkeiten genau beachtet: Was kann
der Bund tun, was können die Länder machen, was kön-
nen die Kammern tun, was können die Arbeitgeberver-
bände tun und was können beispielsweise Schulen im
Konzert mit regionalen Bündnissen tun? Der Bund kann
im Wesentlichen Geld geben, um insbesondere überbe-
triebliche Ausbildung und Arbeitsgelegenheiten zu
finanzieren.
Schauen Sie sich die Zahlen an. Wir haben im Jahr
2005, über das wir heute reden, einen Anstieg der Ju-
gendarbeitslosigkeit um 18 Prozent verzeichnet. Das
liegt nicht an der Bundesförderung, sondern das hat
seine Ursachen in dem ganzen Räderwerk der Zustän-
digkeiten. Ich persönlich komme aus einem Wahlkreis,
in dem sich die Handwerkskammern zusammen mit den
Industrie- und Handelskammern und den regionalen Bil-
dungsanbietern zu Bildungsverbünden zusammenge-
schlossen haben. Dort werden gute Erfahrungen aus den
neuen Ländern - beispielsweise der Unterrichtstag in der
Produktion, den wir noch kennen - umgesetzt. Das führt
zu dem interessanten Effekt, dass die jungen Lehrlinge
schon frühzeitig wissen, welchen Beruf sie nicht erler-
nen wollen. Schon alleine dieser Effekt führt dazu, dass
wir geringere Abbrecherquoten haben.
Ich will damit nicht sagen, dass das Modell UTP prin-
zipiell gut war, sondern dass sich die regionalen Akteure
vor Ort zusammensetzen und Synergien erschließen
können, die zu besseren und mehr Ausbildungsplätzen
führen, ohne dass der Staat mehr Geld geben muss. Das
ist ja der Kniff. Deswegen werbe ich auch an dieser
Stelle noch einmal dafür, die Erwartungen nicht immer
nur an Bundesprogramme oder Landesprogramme zu
stellen, sondern sich einmal genau zu überlegen, was
man vor Ort im Zusammenwirken beispielsweise von
Schulen und Betrieben dazu beitragen kann, damit wir
zu mehr Ausbildungsplätzen kommen. Das eigentliche
Problem in Ostdeutschland ist, dass wir a) zu wenig Un-
ternehmen haben und b) zu wenig Unternehmen haben,
die Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. An der
Stelle kann der Staat im Grunde nur indirekt helfen, indem er diejenigen finanziert, die eine überbetriebliche
Ausbildung bekommen.
Die für die Regierungsbefragung eigentlich zur Verfügung stehende Zeit ist nun erschöpft. Ich beabsichtige,
die notierten Fragen des Kollegen Barth und der Kolleginnen Wicklein, Lötzsch und Enkelmann noch aufzurufen, zumal die für die mündliche Beantwortung verbleibenden Fragen für die Fragestunde eine überschaubare
Lage erkennen lassen. - Ich sehe, Sie sind mit dieser
Vorgehensweise einverstanden. Habe ich irgendeine
Wortmeldung übersehen? - Nein.
Die nächste Frage hat der Kollege Barth.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Staatssekretär,
wir erwarten an den Hochschulen in den nächsten Jahren
eine deutliche Erhöhung der Studierendenzahlen, die,
zumindest nach jetziger Abschätzung, im Wesentlichen
die westdeutschen Hochschulen betrifft. Die Hochschulpaktmittel - die Föderalismusreform ist eben angesprochen und aus meiner Sicht richtig gewürdigt worden -,
müssen einvernehmlich mit den Ländern verteilt werden. Mit welche Plänen bzw. Konzepten will Ihr Haus
mit Blick auf den Aufbau Ost dafür sorgen, dass die Attraktivität der ostdeutschen Hochschulstandorte vermittelt wird? Wie wollen Sie verhindern, dass in den westdeutschen Ländern öffentliche Mittel - auch die Mittel
aus dem Hochschulpakt sind letzten Endes öffentliche
Mittel - zum Ausbau von Kapazitäten verwendet werden, während in den ostdeutschen Ländern Kapazitätsüberhänge bestehen?
Ich will eine kurze Antwort versuchen. Erstens. Die
Universitäten spielen bei der wirtschaftlichen Entwicklung im internationalen Wettbewerb eine ganz zentrale
Rolle, weshalb die Bundesregierung zusätzlich 6 Milliarden Euro für diesen Bereich zur Verfügung stellt. Wir
müssen Forschung und Entwicklung in Gesamtdeutschland nach vorne bringen, weil wir im internationalen
Wettbewerb stehen.
Zweitens. Was bedeutet das für die neuen Bundesländer? Wir haben jetzt mit großen Mehrheiten in beiden
Kammern entschieden, dass für dieses Thema zunehmend die Bundesländer die Verantwortung übernehmen.
Das bedeutet, dass die Bundesländer jetzt zu einer Prioritätendebatte gezwungen werden und sie sich entscheiden müssen, wofür sie ihre knappen Ressourcen einsetzen. Wir vonseiten des Bundes werben sehr dafür, sich
um den Bereich Forschung und Entwicklung besonders
zu kümmern, weil wir sehen, dass daraus Erfolge resultieren. Ob das in jedem Bundesland tatsächlich realisiert
wird, muss man sehen. Allmählich spricht sich herum,
was die Entscheidung der Föderalismuskommission bedeutet.
Wir können als Koordinationsministerium für die
neuen Länder nicht direkt eingreifen; das wissen Sie.
Das Bundesforschungsministerium hilft den Hochschulstandorten sehr aktiv. Die Frage ist: Was kann der Bund
dazu beitragen, dass die ostdeutschen Universitäten bei
der Exzellenzinitiative besser als beim ersten Call abschneiden?
Unser Petitum ist, auch da stärker zu kooperieren. Wir
stellen uns vor, dass beispielsweise die Universitäten
Halle und Leipzig mit der Universität Dresden zusammenarbeiten. Dann müsste es doch eigentlich gelingen,
im Exzellenzwettbewerb stärker als in der Vergangenheit
in Erscheinung zu treten. Ich glaube, da sind noch nicht
alle Ressourcen ausgeschöpft.
Was allerdings die Finanzierung der Hochschulen, im
Speziellen der Universitäten, anbetrifft, sind die Länder
jetzt besonders gefordert. Wir werben sehr dafür, dass
sich die Länder darum kümmern.
Frau Kollegin Lötzsch, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich will eine Frage stellen, die im Augenblick vor allen
Dingen die ältere Generation betrifft. Gibt es einen Zeitplan, wann der Rentenpunkt Ost genauso viel wert sein
wird wie der Rentenpunkt West? Anders gefragt: Wann
werden die Ostrenten den Westrenten angeglichen werden?
Frau Kollegin Lötzsch, Sie kennen die Zusammenhänge. So einfach, wie es Ihre Frage nahe legt, ist die
Realität nicht. Wir haben uns darauf verständigt, dass es
einen Prozess der Angleichung der Renten in Ost und
West geben muss, der mit Berechnungspunkten zu tun
hat.
Wenn man sich die möglichen Rentenhöhen einmal
genau anschaut, dann erkennt man, dass man zu einem
Urteil kommen könnte, das anders ist als das, worauf
Ihre Frage hindeutet. Deswegen empfehle ich, bei der
Bewertung des Rentenpunktes mit großer Sorgfalt vorzugehen. Wenn ich auf Veranstaltungen auf regionaler
Ebene mit Seniorenklubs und Seniorenverbänden über
diese Frage spreche, dann äußere ich mich immer sehr
präzise und zeige anhand von Folien, wie beispielsweise
das Renteneinkommen der 60-jährigen Frauen in Ostdeutschland im Verhältnis zu dem der 60-jährigen
Frauen in der alten Republik ist. Wenn man sich damit
beschäftigt, dann sieht man, dass diese Frage sehr viele
Facetten hat, weswegen man sie nicht einfach auf die
Berechnungshöhe eines Rentenpunktes reduzieren kann.
Das eigentliche Problem, dessen Lösung uns bevorsteht, ist nach meiner Überzeugung: Was bedeutet der
demografische Wandel für die Ausstattung der Rentenkassen? Dieses Problem lässt sich allein mit der Berechnung von Rentenpunkten nicht mehr beantworten.
Frau Wicklein, bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben bereits
vorhin die guten Perspektiven für die ländlichen Räume
Ostdeutschlands in Bezug auf die Produktion von Biomasse zur Gewinnung von Energie, von Kraftstoffen,
aber auch von biobasierten Kunststoffen betont. Durch
welche Initiativen der Bundesregierung wird diese positive Entwicklung unterstützt?
Es gibt mehrere Ansätze, die das Bundesverkehrsministerium betreut. Das große Thema heißt: Substitution von fossilen Rohstoffen. Die Fraunhofer-Gesellschaft unterhält ein eigenes Institut, das sich mit der
Substitution von Erdöl durch pflanzliche Rohstoffe befasst. Die Automobilindustrie engagiert sich in diesem
Bereich sehr. Fast alle Produktionsbereiche in unserer
Volkswirtschaft hängen vom Erdöl ab; es gilt, die Frage
der enorm steigenden Rohstoffpreise zu beantworten.
Die Bundesregierung unterstützt insbesondere Forschung und Entwicklung: Das BMBF hat entsprechende
Maßnahmen ergriffen; auch das Bundeslandwirtschaftsministerium hat über die Fachagentur Nachwachsende
Rohstoffe eine Menge Initiativen ergriffen; das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt den Wandel der Substitution von Rohstoffen mit eigenen Förderprogrammen.
Mein Eindruck ist, dass wir bei dem Thema Biomasse
im internationalen Wettbewerb zwar gut aufgestellt sind,
aber noch nicht so gut, wie wir sein könnten. Wenn man
in die Niederlande, in die skandinavischen Länder oder
nach Österreich schaut, dann stellt man fest, dass das
Thema „Biomasse - Forschung und Entwicklung“ dort
einen größeren Stellenwert hat.
Wir haben die Einrichtung eines nationalen Biomasseforschungszentrums verabredet. Die Entscheidung
darüber wird sehr zeitnah getroffen werden. Wir müssen
auch in diesem Bereich international konkurrenzfähig
werden. Die Potenziale in Deutschland sind groß; aber
wir müssen sie bündeln und wirklich für eine nationale
Kraftanstrengung sorgen, damit wir im internationalen
Wettbewerb auch auf diesem Gebiet noch stärker werden, als wir schon sind.
Letzte Frage, Frau Kollegin Enkelmann, bitte.
Herr Staatssekretär, ich komme noch einmal auf das
Thema Renten zurück. Sie haben gesagt, es gehe um Zusammenhänge, man müsse sich diese präzise anschauen,
es gehe nicht um den Durchschnittsrentner. Ich komme
auf ein Problem zu sprechen, das Sie zu Recht erwähnt
haben, nämlich dass der Anteil Langzeitarbeitsloser in
den neuen Bundesländern deutlich höher ist als in den alten Bundesländern. Das wirkt sich auf die aktuelle soziale Situation der Betroffenen aus, es hat aber auch
Auswirkungen auf die Rentenhöhe. Gibt es Vorstellungen der Bundesregierung dazu, wie einer bevorstehenden zunehmenden Altersarmut in den neuen Bundesländern begegnet werden kann?
Ja. Man muss sich im Gespräch mit den Bundesländern um die Frage kümmern: Woher speist sich der
große Bevölkerungsanteil, aus dem sich nachher die
Dauerarbeitslosen rekrutieren? Wenn Sie sich die Bevölkerungsgruppen anschauen, die sozusagen den Pool der
Langzeitarbeitslosen speisen, dann erkennen Sie: Es gibt
insbesondere starke Zugänge aus der Gruppe der
schlecht ausgebildeten Jugendlichen. Das sind Schulabbrecher. Das sind Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten oder solche, die aus sozial schwierigen
Familien kommen. Das Thema Dauerarbeitslosigkeit hat
also einen direkten Zusammenhang mit dem Thema der
Qualität von Schulausbildung.
Unsere Antwort ist: mehr individueller Unterricht,
mehr individuelle Förderung - nach den Möglichkeiten,
die der Bund hat. Sie kennen die Gerichtsurteile, die
dazu vorliegen. Die Bundesländer sind sehr stark gefordert, sich weiter um diesen Themenbereich zu kümmern.
Es kann nicht sein, dass in einzelnen Bundesländern in
Ostdeutschland etwa 17 Prozent eines Jahrgangs die
Schule ohne Abschluss verlassen. Diese jungen Menschen wird man früher oder später bei der Bundesagentur für Arbeit wiederfinden.
Deswegen sage ich: Wir müssen uns insbesondere um
diese Schnittstelle zwischen Schul- und Berufsleben
kümmern. Da sind die Möglichkeiten des Bundes allerdings äußerst begrenzt.
({0})
Fragen zu weiteren Themen der Kabinettssitzung
oder andere Fragen an die Bundesregierung sind mir
nicht angezeigt worden.
Damit schließe ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten
Nationen im Sudan ({0}) auf Grundlage
der Resolution 1709 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 22. September 2006
- Drucksache 16/2700 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Eine Aussprache ist dazu heute nicht vorgesehen.
Wir kommen daher gleich zur Abstimmung über den
Überweisungsvorschlag. Interfraktionell wird Überweisung dieses Antrags auf der Drucksache 16/2700 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksache 16/2670 Die Reihenfolge der Geschäftsbereiche ist Ihnen mitgeteilt worden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister Günter Gloser zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 1 des Kollegen Jan
Mücke auf:
Welche Vorbehalte nach dem Wiener Übereinkommen
über das Recht der Verträge hätte die Bundesrepublik
Deutschland bei ihrem Beitritt zum Übereinkommen zum
Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt völkerrechtlich
wirksam erklären können, um der kommunalen Selbstverwaltung den notwendigen Entscheidungsspielraum im Rahmen
der Ziele des Übereinkommens zu sichern?
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt, Herr Kollege
Mücke: Das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des
Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 ist nach seinem Art. 33 für die Bundesrepublik Deutschland am
23. November 1976 in Kraft getreten. Bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde hat die Bundesregierung
erklärt, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht an
die Bestimmung des Art. 16 Abs. 1 gebunden ist. Was
sagt diese Bestimmung? Diese Bestimmung verpflichtet
die Vertragsstaaten unbeschadet etwaiger zusätzlicher
freiwilliger Beiträge zur regelmäßigen Zahlung von Beiträgen in einen Fonds für das Erbe der Welt. Zur Abgabe
einer solchen Erklärung werden die Vertragsparteien des
Übereinkommens durch den Art. 16 Abs. 2 des Übereinkommens ausdrücklich ermächtigt. Weitere Erklärungen
hat die Bundesrepublik Deutschland nicht abgegeben.
Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen sind gemäß Art. 19 des Wiener Übereinkommens über das
Recht der Verträge unzulässig, erstens wenn der Vertrag
den Vorbehalt verbietet, zweitens wenn der Vertrag nur
bestimmte Vorbehalte erlaubt - dazu gehört der infrage
stehende Vorbehalt allerdings nicht - oder drittens wenn
der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Vertrages nicht
vereinbar ist. Ansonsten sind Vorbehalte zulässig.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, es ist durchaus üblich, dass bei
solchen UNESCO-Konventionen weitere Vorbehalte gemacht werden. Mir ist ein ähnlicher Fall zu einer anderen UNESCO-Konvention bekannt, zu der die Vereinigten Staaten von Amerika und Dänemark Vorbehalte
formuliert haben.
Ich möchte noch einmal auf den Wortlaut meiner
Frage hinweisen: Welche Vorbehalte im Zusammenhang
mit der kommunalen Selbstverwaltung und der Sicherung von Entscheidungsmöglichkeiten wären nach diesem Übereinkommen möglich gewesen?
Unabhängig davon, ob man einen solchen Vorbehalt
hätte machen können, gilt: Ein Vorbehalt kann zum Beispiel bei Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde, nicht
aber nachträglich abgegeben werden. Wir alle wissen,
dass die Ratifikation schon vor einigen Jahren erfolgt ist.
Ein nachträglicher Vorbehalt wäre also unabhängig von
der Frage, ob er möglich ist, jetzt nicht mehr zulässig.
Zweite Zusatzfrage.
Wäre es denn möglich gewesen, einen entsprechenden Vorbehalt zu formulieren, um die im Grundgesetz
vorgesehene kommunale Selbstverwaltung auch völkerrechtlich zur Geltung zu bringen?
Ich habe schon einmal gesagt, dass es verschiedene
Tatbestände gibt, bei denen Vorbehalte ausdrücklich zugelassen sind, die dann auch in der Erklärung enthalten
sind, und dass dieser Vorbehalt nicht dazuzählt.
Frage 2 des Kollegen Mücke:
Gibt es Möglichkeiten, das Recht der Kommunen, in eigener Verantwortung über Denkmalpflege und Landschaftsschutz in ihrem eigenen Bereich im Rahmen der Gesetze zu
entscheiden, noch nachträglich gegenüber der UNESCO zu
sichern?
Ich nehme noch einmal Bezug auf die schon angesprochene Frage, wann ein solcher Vorbehalt angebracht
werden kann. Die Antwort lautet: Ein Vorbehalt kann bei
der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrages oder beim Beitritt angebracht
werden. Das heißt also, eine nachträgliche Anbringung
eines Vorbehalts ist jetzt nicht mehr möglich.
Zusatzfrage?
Angesichts der Streitigkeiten, die es mit einer Welterbestätte in Deutschland gibt, stellt sich für mich die
Frage, ob die Bundesregierung auf internationaler Ebene
eine Überarbeitung dieses Übereinkommens anregen
wird, um entsprechende Änderungen möglich zu machen.
Bezüglich des Übereinkommens selbst ist sicherlich
nichts geplant. Es sind aber derzeit auch keine Überlegungen im Gange, hier in irgendeiner Weise etwas zu ergänzen.
Vielleicht darf ich darüber hinaus noch zum Selbstverwaltungsrecht, das Sie, Kollege Mücke, angesprochen haben, ergänzen: Die Stadt Dresden hat ja den
Antrag auf Aufnahme in die Liste im Zuge der Selbstverwaltung gestellt, aber damit gleichzeitig auch die
Grundlage bzw. die Anforderungen für die Aufnahme
anerkannt. Wenn man jetzt im Nachhinein sagen würde,
diese Grundlage existiert für mich nicht, ist das eine unzulässige Rechtsauslegung des Standpunktes, den man
bei Antragstellung eingenommen hat. Am Anfang hat
man ja gesagt: Ich beantrage die Aufnahme in die Liste
des Weltkulturerbes und akzeptiere damit auch die Rahmenbedingungen, die diese Konvention vorsieht.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, stimmen Sie mir zu, dass es normalerweise notwendig ist, eine völkerrechtliche Verpflichtung durch ein Transformationsgesetz in nationales
Recht umzusetzen? Stimmen Sie mir auch zu, dass dieses beim Welterbeübereinkommen nicht passiert ist?
Nein. Erst einmal ist es so, dass nach dem Lindauer
Abkommen generell auch die Länder beim Abschluss
von völkerrechtlichen Verträgen beteiligt werden. In diesem Rahmen können sie auch ihre Einwendungen vorbringen. Das ist aber im konkreten Fall nicht passiert.
Nachdem Sie schon auf die Transformation abgehoben
haben, ist zu ergänzen, dass Gemeinden oder Länder im
Zuge der Realisierung an diese Konvention gebunden
bleiben, vor allem deswegen, weil die Bundesrepublik
Deutschland als Völkerrechtssubjekt diese Dinge vorgetragen hat. Damit besteht für die Gemeinden und Länder
im Rahmen der Bundestreue auch eine gewisse Verpflichtung, dies zu akzeptieren.
Weitere Fragen dazu gibt es nicht. Vielen Dank, Herr
Staatsminister.
Die Fragen 3 und 4 aus dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Michael Müller zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 der Abgeordneten Bärbel Höhn
auf:
Ist der Bundesregierung eine Entscheidung des Koalitionsausschusses darüber bekannt, ob es ein Endlagersuchgesetz geben wird, und, wenn ja, welchen Inhalt hat dieser Beschluss?
Frau Kollegin Höhn, wie schon in früheren Regierungszeiten, also zum Beispiel in den letzten beiden
Legislaturperioden, ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, aus Gesprächen des Koalitionsausschusses zu
berichten bzw. sie zu bewerten.
Dazu gibt es bestimmt eine Zusatzfrage.
Ja, genau.
Bitte schön, Frau Höhn.
Ich habe mir einmal das Protokoll der Sitzung des
Niedersächsischen Landtages vom 15. September angeschaut. Da hat der niedersächsische Umweltminister,
unser Kollege Hans-Heinrich Sander, zu Protokoll gegeben, dass es am Mittwoch, dem 6. September, im Koalitionsausschuss den Beschluss gegeben habe, dass es mit
der CDU/CSU-Fraktion ein Endlagersuchgesetz nicht
geben werde. Ist es richtig, dass die Ergebnisse des
Koalitionsausschusses jetzt über Länderminister weitergegeben werden, statt von der Bundesregierung den Abgeordneten hier im Bundestag mitgeteilt zu werden?
Frau Kollegin, Sie können ganz sicher sein, dass Herr
Sander der Letzte wäre, über den wir das weitergeben.
({0})
Das ist eine interessante Aussage. Aber ich habe
trotzdem noch eine zweite Nachfrage. Wenn es einen
solchen Beschluss nicht gegeben hat, kann mir denn der
Staatssekretär sagen, wann ein solches Endlagersuchgesetz in den Bundestag eingebracht wird?
Frau Kollegin, wir haben dazu eine Regelung im
Koalitionsvertrag. Im Augenblick finden die Beratungen
statt. Es bleibt bei der Absicht, in dieser Legislaturperiode ein solches Gesetz vorzulegen.
Kollege Fell.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist sicherlich nicht verborgen geblieben, dass es einen Besuch der Bundestagsfraktion der Union in Gorleben gegeben hat, wo dann die
Aussage getätigt wurde, dass es ein Endlagersuchgesetz
nicht geben solle. Ist das die Meinung der Bundesregierung?
Noch einmal: Wir haben hier erstens nicht zu bewerten, was den Koalitionsausschuss betrifft. Zweitens gibt
es für die Diskussion mit den Koalitionsfraktionen geordnete Verfahren. Diese werden wir abwarten. Klar ist
drittens, dass wir uns im Augenblick in einem SuchproParl. Staatssekretär Michael Müller
zess befinden. Bei diesem Suchprozess werden wir als
Ministerium natürlich unsere Position vertreten.
Kann ich noch eine Frage stellen?
Nein. Aber Sie können vielleicht - wenn ich Ihnen
diesen Tipp geben darf - versuchen, eine Nachfrage an
die nächste Frage der Kollegin Höhn anzuhängen.
Ich rufe jetzt die Frage 6 der Kollegin Höhn auf:
Hat die Bundesregierung Informationen beim Kraftwerksbetreiber von Biblis A oder bei der hessischen Atomaufsichtsbehörde darüber eingeholt, ob die Funktionsprüfungen, die
am 15. September dieses Jahres zur Schnellabschaltung des
Reaktors geführt haben, im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Störfalls im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark
standen?
Frau Kollegin Höhn, in der Tat hat es eine Berichtsanforderung der Bundesaufsicht an die hessische Atomaufsichtsbehörde gegeben. Wiesbaden hat uns daraufhin
mitgeteilt, dass während des Abfahrens der Anlage zur
Revision 2006 bei einer Leistung von 600 MW die so
genannte Blockschutzprüfung nach dem Wartungshandbuch durchgeführt wurde. Dann erfolgte ein fehlerhaftes
Abschalten einer von zwei Zuleitungen des Blockes A
im Umspannwerk Bürstadt. Das auslösende Ereignis ist
nicht im Zusammenhang mit dem Ereignis von Forsmark zu sehen. Das zeigt sich schon daran, dass die Wartungsarbeiten ausschließlich nach dem Wartungshandbuch erfolgen; in diesem Rahmen besteht keine
Zuständigkeit für sicherheitstechnische Prüfungen. Sie
können sicher sein, dass wir bei den Sicherheitsprüfungen gemäß den Fristen und Vorgaben operieren werden.
Bezüglich Biblis A gibt es momentan den Antrag von
RWE, die Laufzeit zu verlängern. Wie steht die Bundesregierung dazu, dass, wie in der Öffentlichkeit an vielen
Stellen nachlesbar ist, Biblis A zu den Atomkraftwerken
in Deutschland gehört, die gegen den Absturz von Flugzeugen durch einen terroristischen Angriff am schlechtesten geschützt sind?
Die Fakten sind - da haben Sie Recht - öffentlich bekannt. Aber wir werden diesen Antrag natürlich nach
Recht und Gesetz - dafür gilt das Atomgesetz - bewerten und dann zu einer Entscheidung kommen.
Sie haben eben noch einmal den Störfall bei Biblis A
dargelegt und gesagt, da gebe es Fristen. Wie sehen die
Ihnen ist ja bekannt geworden, dass es - das ist auch
gestern noch einmal gesagt worden - jetzt eine Prüfung
gibt. Diese wird einige Monate in Anspruch nehmen.
Aber noch einmal: Der Vorfall von Biblis hatte nichts
mit einer Sicherheitsprüfung zu tun; es erfolgten Wartungsarbeiten nach dem Wartungshandbuch.
Kollege Fell.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie mir Folgendes zu
sagen: Die Aussage, dass die Überprüfung „einige Monate“ in Anspruch nehmen wird, ist nicht die Festlegung
einer Frist, von der Sie gesprochen haben. Uns würde
wirklich interessieren, welche Fristen Sie gesetzt haben.
Außerdem haben Sie von gewissen Vorgaben gesprochen, unter denen diese Fristen nur noch einzuhalten wären. Was sind das für Vorgaben?
Ich wiederhole noch einmal: Der Vorfall von Biblis
- darum ging es bei dieser Frage - hatte nichts mit der
Sicherheitsüberprüfung zu tun. Wir haben jetzt die veränderte Lage - Frau Höhn hat das angesprochen -, dass
seit vorgestern der Antrag auf Laufzeitverlängerung vorliegt. Dieser wird im Rahmen der dafür vorgesehenen
Verfahren geprüft und das wird eine entsprechende Zeit
in Anspruch nehmen.
Es gibt keine weiteren Fragen zu diesem Geschäftsbereich. Vielen Dank, Herr Kollege Müller.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf. Zur Beantwortung
der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Andreas Storm zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Cornelia Hirsch auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der „Berliner Rede“ von Bundespräsident Horst Köhler, die er
am 21. September 2006 in der Kepler-Schule in Berlin gehalten hat?
Herr Präsident, ich beantworte die Frage der Abgeordneten Hirsch nach den Schlussfolgerungen, die die
Bundesregierung aus der „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten zieht, wie folgt.
Die Bundesregierung begrüßt die „Berliner Rede“ des
Bundespräsidenten zum Thema „Bildung für alle“, die
eine große gesellschaftliche Resonanz gefunden hat.
Den Ausführungen des Bundespräsidenten zur Bedeutung der Bildungschancen als Lebenschancen ist uneingeschränkt zuzustimmen. Ich zitiere aus der Rede:
Jeder kann etwas und jeder braucht die Chance,
sich durch Bildung weiterzuentwickeln …
Bildung ist der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und selbstbestimmte Lebensführung ebenso wie für
gesellschaftliche Anerkennung und berufliches Fortkommen. Bildung ist damit das Herzstück einer demokratischen Gesellschaft. Verstärkte Bemühungen sind
künftig erforderlich, um insbesondere Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bessere Bildungschancen zu ermöglichen. Um die Qualität unseres
Bildungssystems zu verbessern, bedarf es eines breiten
gesellschaftlichen Engagements von allen Beteiligten in
unserem Land.
Nach und neben dem Elternhaus ist der Kindergarten
der wichtigste Ort elementarer Bildung. Gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die zum Beispiel
aus bildungsfernen Elternhäusern oder aus Migrantenfamilien kommen, sollte sichergestellt sein, dass sie eine
frühe individuelle Förderung spätestens im Kindergarten
erhalten, damit Chancengerechtigkeit mit Blick auf den
weiteren Weg in Schule, Ausbildung und Berufsleben
geschaffen wird.
Zu den Ausführungen des Bundespräsidenten über
Fragen der Schulbildung und des Unterrichts sowie zur
Werteerziehung an den Schulen ist generell darauf hinzuweisen, dass hierfür die Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Die Bundesregierung wird auch künftig die
Länder in ihren Anstrengungen zur Verbesserung des
Bildungssystems unterstützen. Grundlage dafür ist der
neue Art. 91 b Abs. 2 des Grundgesetzes. Danach können Bund und Länder bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit unseres Bildungswesens im internationalen
Vergleich und bei der Erstellung diesbezüglicher Berichte und Empfehlungen zusammenwirken.
Das Bundesbildungs- und -forschungsministerium
und die Kultusministerkonferenz haben sich bereits im
Jahr 2004 auf eine gemeinsame Bildungsberichterstattung verständigt. Der erste unabhängige Expertenbericht
mit dem Titel „Bildung in Deutschland“ mit dem
Schwerpunktthema Migration wurde im Juni 2006 veröffentlicht. Er macht wesentliche Entwicklungen im Bildungsbereich transparent. Darüber hinaus ist mit dem
Einstieg in diese Form der Bildungsberichterstattung
auch der Anspruch verbunden, bildungspolitische Entscheidungen und die daraus abzuleitenden Maßnahmen
auf einer verbesserten Grundlage zu planen und auf ihre
tatsächliche Wirkung hin zu überprüfen. Bund und Länder erarbeiten derzeit gemeinsam Schlussfolgerungen
aus diesem ersten Bildungsbericht.
Da sowohl Assessments als auch die Bildungsberichterstattungen im hohen Maße forschungsbasierte Prozesse sind, besteht eine wichtige Voraussetzung für die
Steigerung der Qualität des Bildungswesens in der strukturellen Stärkung der Bildungsforschung. Ziel ist es, die
unterschiedlichen Handlungsoptionen des Bundesbildungsministeriums im Bereich der institutionellen Förderung, der Ressortforschung und der Projekt- und Programmforschung so zu bündeln, dass ein kontinuierlich
wachsendes Potenzial entsteht. Zentrale Maßnahmen des
Bundesbildungs- und -forschungsministeriums zur
strukturellen Stärkung der empirischen Bildungsforschung sind die Erarbeitung eines Rahmenprogramms,
die gemeinsam mit den Ländern und der Community geplante Etablierung eines nationalen Bildungspanels als
ein Schwerpunktprojekt sowie eine Förderinitiative zur
technologiebasierten Kompetenzdiagnostik.
Angesichts der Herausforderungen der Zukunft müssen die Begabungspotenziale in unserem Land besser
ausgeschöpft werden, auch wenn Deutschland, wie es
der OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2006“
zeigt, über einen hohen Bildungsstand verfügt. Dies ist
nicht zuletzt angesichts des demografischen Wandels
erforderlich. Mehr junge Menschen müssen ein Hochschulstudium aufnehmen. Gleichzeitig steigt in einer älter werdenden Gesellschaft die Bedeutung der berufsbezogenen Fort- und Weiterbildung.
Zusammenfassend: Die Bundesregierung wird im
Rahmen ihrer Kompetenzen alle erforderlichen Schritte
zur Stärkung der Bildungsqualität und zur Förderung der
lebensbegleitenden Bildung für alle unternehmen.
Herr Kollege Storm, ich bin ganz beeindruckt, dass
die Schlussfolgerungen der Bundesregierung nicht ganz
den Umfang der „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten
angenommen haben,
({0})
auf die sich die Frage bezog.
Nun gibt es dennoch offenkundig eine Zusatzfrage
der Kollegin Hirsch.
Besten Dank für die doch sehr ausführliche Antwort. - Meine Zusatzfrage wäre: Sie haben die öffentliche Resonanz angesprochen. Sehr viele Leute haben
Bezug auf die Vorschläge des Bundespräsidenten genommen. Im Rahmen dieser Debatte kam von verschiedenster Seite der Vorschlag zu einem so genannten nationalen Bildungspakt, zur Entwicklung einer nationalen
Bildungsstrategie. Aus Ihren Ausführungen ist mir noch
nicht ganz ersichtlich geworden, inwieweit die Bundesregierung solche Vorschläge ganz bewusst aufgreifen
will und ob sie vielleicht eine moderierende Rolle wahrnehmen will, indem sie die verschiedenen direkt am Bildungssystem Beteiligten an einen Tisch holt und man
sich überlegt, wie diese ganzen Punkte, die Sie aufgeführt haben, in Zusammenarbeit von Bund und Ländern
aufgegriffen werden können und damit ein Vorankommen in unserem Bildungssystem erreicht werden kann.
Vielen Dank. - Herr Bundestagspräsident, gestatten
Sie auch mir eine Anmerkung. Praktisch in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages beantworte ich
Fragen von Kollegen, aber bei weitem noch nie in einer
solchen Länge. Die umfassende Rede des Bundespräsidenten hat sehr viele Ressorts betroffen. Meine Antwort
ist mit sehr vielen Ressorts der Bundesregierung abgeParl. Staatssekretär Andreas Storm
stimmt worden und deshalb ein Stück weit grundsätzlicher ausgefallen.
Nun zu Ihrer Nachfrage. Ich darf darauf verweisen,
dass wir eine ganze Reihe von Ansatzpunkten haben.
Einen habe ich angesprochen: Das ist die gemeinsame
Reaktion des Bundesbildungsministeriums und der Kultusministerkonferenz auf den ersten nationalen Bildungsbericht vom Juni dieses Jahres. Wir werden dem
zuständigen Fachausschuss noch in diesem Jahr eine gemeinsame Stellungnahme, die voraussichtlich Ende November von der Bundesregierung verabschiedet wird,
zuleiten. Sie wird Schlussfolgerungen enthalten und natürlich wesentliche Aspekte, die der Bundespräsident angesprochen hat, aufgreifen.
Darüber hinaus wird voraussichtlich während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Entscheidung
über den europäischen Qualifikationsrahmen fallen. Beabsichtigt ist, dass wir in Deutschland mit der Erstellung
eines nationalen Qualifikationsrahmens beginnen. Dabei
geht es um die Ausarbeitung und Einordnung von Qualifikationen, die in den unterschiedlichen Bereichen unseres Bildungssystems erworben werden können. Auch
dies ist ein sehr wichtiger, umfassender bildungspolitischer Schritt.
Ich nenne zuletzt einen dritten Ansatzpunkt: die derzeitigen Beratungen zwischen Bund und Ländern zum
Abschluss eines Hochschulpaktes, mit dem wir den absehbar steigenden Studentenzahlen gerecht werden wollen. Auch hier ist bis Dezember mit einem Ergebnis zu
rechnen.
Sie sehen daran, dass all die Aspekte, die der Bundespräsident in seiner Rede angesprochen hat, gemeinsam
von Bund und Ländern angegangen werden.
Meine nächste Nachfrage wäre: Es ist ja richtig, dass
derzeit bestimmte Aspekte in der Diskussion sind. Aber
was uns noch unklar geblieben ist - darüber hatten wir
bereits im Ausschuss diskutiert -, ist, wie die konkreten
Vorhaben der Bundesregierung aussehen. Das betrifft die
zwei Beispiele, die Sie angesprochen haben. Zum einen
ist bisher unklar, welche Schwerpunkte und Ziele die
Bundesregierung im Hinblick auf den nationalen Qualifikationsrahmen setzt. Zum anderen konnte uns bisher
noch nicht erläutert werden, welche Schwerpunkte die
Bundesregierung in Bezug auf den Hochschulpakt setzt.
Wenn Sie vielleicht noch eine Aussage darüber machen
könnten, was Sie konkret vorhaben und wie das genau
aussehen soll.
Frau Kollegin, ich darf Sie auf die Ausschussberatungen verweisen und nur zwei wesentliche Stichworte nennen. Bei der Aushandlung des Hochschulpaktes geht es
unter anderem darum, dass der Bund den Ländern das
Angebot gemacht hat, sich an der Schaffung von Kapazitäten für die Ausweitung der Lehre finanziell zu beteiligen. Der Anstieg der Studierendenzahlen um 25 Prozent in den nächsten sieben Jahren bedeutet, dass wir in
der Lehre entsprechende Kapazitäten schaffen müssen,
indem wir zum Beispiel - das ist ein Vorschlag des Bundes - so genannte Lecturer- bzw. Dozentenstellen in
Deutschland einrichten. Hier wäre der Bund, wenn die
Länder diese Stellen schaffen, zu einer Kofinanzierung
bereit. Dies ist ein Gedanke, den ich bereits im Ausschuss vorgetragen habe.
Beim Thema „europäischer Qualifikationsrahmen
und nationaler Qualifikationsrahmen“ ist es sehr im
deutschen Interesse und wird deshalb von der Bundesregierung nicht nur auf der europäischen Ebene, sondern
auch in Gesprächen mit den Ländern und den Sozialpartnern verfolgt, dass wir qualifizierte Abschlüsse aus dem
Bereich der beruflichen Bildung - Stichwort: Meistertitel - dort, wo es angemessen ist, akademischen Abschlüssen gleichstellen. Auch diese Aktivität macht
deutlich, dass die Bundesregierung eine wesentliche
Rolle in diesem Prozess spielt.
Die nächste Zusatzfrage stellt der Kollege Gehring.
In der Tat haben wir auch im Ausschuss schon darüber gesprochen. Sie haben jetzt hier angekündigt, dass
Sie die Studienplatzkapazitäten, die dringend notwendig
sind, aufbauen wollen. Es ist ja davon auszugehen, dass
in den nächsten fünf Jahren ein Anstieg um mindestens
20 Prozent erfolgen wird. Die Bundesregierung hat aber
in ihren Haushaltsplan für das nächste Jahr für 16 Bundesländer nur 160 Millionen Euro eingestellt. Deshalb
wollte ich Sie fragen: Von einem wie hohen möglichen
Ausbau von Studienplatzkapazitäten gehen Sie aus? Wir
müssen ja gleichzeitig berücksichtigen, dass Sie damit
mehrere Schwerpunkte verfolgen. Nach allen Informationen spielt ja der Bereich der Vollkostenfinanzierung
eine besondere Rolle. Zum Beispiel geht der Wissenschaftsrat davon aus, dass mindestens 400 Millionen
Euro allein für den Ausbau der Studienplatzkapazitäten
notwendig seien.
Herr Abgeordneter Gehring, ich darf auf den Zeitplan
für die Vereinbarung eines Hochschulpakts zwischen
Bund und Ländern hinweisen. Danach soll dieser Hochschulpakt im Dezember fertig gestellt sein und anschließend bei einem Treffen der Ministerpräsidenten mit der
Bundeskanzlerin unterzeichnet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Vereinbarungen getroffen worden
sind, werden die entsprechenden Mittel in den Bundeshaushalt eingestellt. Wir haben derzeit vorsorglich eine
Planung vorgenommen, die insbesondere die vom Bund
angekündigten Ausgaben zur Stärkung der Forschung
bei den Hochschulen mit abdeckt; Stichwort: Einstieg in
eine so genannte Overhead-Finanzierung an den Hochschulen. Dies ist neben der möglichen Beteiligung des
Bundes an der Finanzierung zusätzlicher Kapazitäten bei
der Lehre der zweite wichtige Aspekt; entsprechende
Aufwendungen werden sich dann natürlich im Haushalt
niederschlagen.
Nun rufe ich Frage 8 des Kollegen Gehring auf:
Plant die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Debatte um die „Generation Praktikum“ Änderungen im Berufsbildungsgesetz und, wenn ja, welche?
Herr Abgeordneter Gehring ich beantworte Ihre Frage
wie folgt und darf dabei zunächst auf Ihre Frage vom
30. März zu Praktika von Hochschulabsolventen Bezug
nehmen. Damals hat sich ergeben, dass auch Hochschulabsolventen unter den Schutzbereich der §§ 26 und 17
Abs. 1 des Berufsbildungsgesetzes bzw. des § 612
Abs. 1 BGB fallen können. Die Bundesregierung missbilligt jede missbräuchliche Ausnutzung von gering oder
nicht entlohnten Praktikumsverhältnissen. Derzeit prüft
die Bundesregierung, ob und in welchem Handlungsrahmen Aktivitäten zur Frage einer missbräuchlichen Nutzung von Praktika geboten sind. Für die Bewertung der
Praxis wird eine Studie, die zu Beginn des Jahres 2007
vorgelegt werden wird, fachliche Hinweise liefern. Im
gegenwärtigen Stand des Verfahrens kann daher noch
keine abschließende Aussage getroffen werden.
Zusatzfrage.
Erst einmal vielen Dank für Ihre klare Aussage, mit
der Sie die Ausbeutung von insbesondere Absolventenpraktikanten missbilligten. Sie haben ja im Rahmen der
Fragestunde vom 5. April erklärt, dass der Bundesregierung noch keine gesicherten Zahlen über Hochschulabsolventen in unbezahlten oder gering bezahlten Praktikastellen vorlägen und dass Sie von daher hier kein Problem sähen. Inwieweit hat sich denn die Kenntnislage
der gesamten Bundesregierung inzwischen geändert? Ich
stelle diese Frage vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass Herr Arbeitsminister Müntefering in seiner Bundestagsrede am 7. September klar davon gesprochen hat,
dass er sich gegen die Ausbeutung von Praktikanten einsetzen will und dass das ein zunehmendes Problem sei.
Falls die Aussage von Herrn Müntefering nicht auf einer
geänderten Kenntnislage der Bundesregierung beruht,
frage ich: Wann rechnen Sie definitiv mit zusätzlichen
Daten und Fakten zu diesem Bereich?
Die gesamte Bundesregierung teilt die Aussage des
Bundesarbeitsministers, dass eine missbräuchliche Anwendung im Praktikantenbereich nicht akzeptabel ist, sicherlich voll und ganz. Wir haben derzeit aber noch
keine über den Stand des Frühjahrs hinausgehenden Erkenntnisse. Ich darf an dieser Stelle darauf verweisen,
dass wir bereits jetzt eine rechtliche Handhabe haben,
um gegen offensichtlichen Missbrauch arbeitsrechtlich
vorzugehen. Hinsichtlich der Frage, ob es einen neuen
Tatbestand gibt, der gegebenenfalls zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich macht, sind wir in
der Tat auf die Auswertung der Untersuchung angewiesen, die zum Jahresbeginn 2007 vorliegen wird.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Vielen Dank, Herr Kollege Storm.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung
der Fragen des Kollegen Hans-Joachim Otto ist Staatsminister Bernd Neumann erschienen.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Otto auf:
Gibt der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
Medien, Staatsminister Bernd Neumann, die Auffassung der
gesamten Bundesregierung wieder, wenn er sich dafür ausspricht, den aktuellen Rundfunkgebührenstaatsvertrag, der
Rundfunkgebühren für „neuartige Rundfunkempfangsgeräte“
wie PC und Handy-TV ab 1. Januar 2007 vorsieht, so nicht
umzusetzen?
Die Erhebung von Rundfunkgebühren fällt in die
Kompetenz der Länder. Deshalb hat sich die Bundesregierung als Ganzes nicht mit dieser Frage befasst. Zur Erhebung von Rundfunkgebühren auf neuartige Rundfunkempfangsgeräte hat der Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien als innerhalb der Bundesregierung für Medien verantwortlicher Staatsminister seine
Meinung geäußert. Seitens des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie werden das Anliegen und die
Position des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Ressortverantwortlichkeit unterstützt. Deutlich wurde dies in der Antwort auf
die Frage der Abgeordneten Christine Scheel in der Fragestunde am 20. September 2006 zu diesem Themenkomplex.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, nachdem ich jetzt gehört habe,
dass die Begründung für die Erhebung dieser Gebühr
nach Ihrer Auffassung - das ist eine zutreffende Bewertung - jeder Lebenswirklichkeit entbehrt, frage ich Sie:
Haben Sie Schritte unternommen oder werden Sie
Schritte unternehmen, um bei den Ländern für Ihre Position und die des Bundeswirtschaftsministers zu werben?
Das muss schließlich trotz der Zuständigkeit der Länder
zulässig sein.
Herr Kollege, ich beziehe mich auf meine Aussage,
dass für diesen Bereich die Länder verantwortlich sind
und sich die Bundesregierung ex officio nicht einmischt.
Sie können aber davon ausgehen, dass ich mich zu dieser
Frage nicht nur geäußert habe, sondern für Positionen,
von denen ich überzeugt bin, auch werbe. Das tue ich
immer dort, wo ich Gelegenheit dazu habe, weil ich der
Auffassung bin, dass eine Erhebung von Gebühren auf
internetfähige Computer, auch wenn sie sich nur auf die
Grundgebühr bezieht, zum jetzigen Zeitpunkt falsch
wäre.
Zweite Zusatzfrage.
In Ihrer Pressemitteilung vom 18. September 2006
haben Sie sich der Forderung des Ministerpräsidenten
Carstensen angeschlossen, das Moratorium bis 2009 zu
verlängern. Sie haben geschrieben, dass damit die Möglichkeit gegeben werden solle, eine mögliche Veränderung der Erfassungsgrundlage für Rundfunkgebühren
herbeizuführen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie
daran denken, die bisher gerätebezogene Abgabe in eine
personenbezogene Abgabe umzuändern? Ist das Ihr Vorschlag?
Das muss nicht so sein. Ich habe nur zum Ausdruck gebracht, dass sich aufgrund der technologischen Entwicklung - auch im Hinblick auf die digitalen Möglichkeiten eine neue Lage ergibt und dass man sich angesichts dessen die Frage stellen muss, ob die gerätebezogene Gebühr
im Hinblick auf die Vielfalt von Geräten noch angemessen ist. Dazu gibt es unterschiedliche Vorschläge. Auch
die FDP hat sich hierzu geäußert. Ich finde, wenn ein Moratorium stattfände, müsste man die Zeit nutzen, zu überlegen: Gibt es andere, bessere Modelle, die der differenzierten technologischen Entwicklung besser Rechnung
tragen? Aber ich bin nicht in der Lage, abschließend zu
einem konkreten Modell Stellung zu nehmen, weil ich
dazu noch Informationen und Diskussionen benötige.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Otto auf:
Kann nach Einschätzung der Bundesregierung die Höhe
der monatlichen Gebühr für neuartige Rundfunkempfangsgeräte von 17,03 auf 5,52 Euro ohne eine Änderung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages reduziert werden?
Nach Kenntnis der Bundesregierung vertreten einige
Länder die Auffassung, dass eine generelle Reduzierung
der monatlichen Gebühr für neuartige Rundfunkempfangsgeräte im Sinne des § 5 Abs. 3 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages von 17,03 auf 5,52 Euro eine
Änderung dieses Staatsvertrages erfordert. Der Bundesregierung ist bekannt, dass die Landesrundfunkanstalten
der Ansicht sind, dass unter Berücksichtigung der tatsächlichen Empfangsmöglichkeiten von Rundfunkprogrammen durch neuartige Rundfunkempfangsgeräte bereits der geltende Rundfunkgebührenstaatsvertrag die
Erhebung nur der Grundgebühr in Höhe von 5,52 Euro
für diese Geräte zulässt. Derartige Auslegungsfragen gehören in der Tat in die Kompetenz der Rundfunkanstalten wie auch der Länder. Deswegen möchte mich an der
Interpretation nicht weiter beteiligen.
Zusatzfrage.
Da Sie aber eben - ich füge hinzu: zu Recht - darauf
hingewiesen haben, dass sich die tatsächlichen Nutzungsgegebenheiten in einer Rundfunkgebühr niederschlagen müssen oder - andersherum gesagt - dass es,
wenn es keine ausreichende Nutzung gibt, nicht zu einer
Gebühr kommen darf, darf ich Sie fragen, ob es der Bundesregierung bekannt ist, dass laut einer neuen Untersuchung von ARD und ZDF nur rund 4 Prozent aller internetfähigen PCs zur Hörfunknutzung genutzt werden,
sodass nach Ihrer Logik eigentlich keine Grundgebühr
erhoben werden dürfte.
Herr Kollege, diese Untersuchung ist mir bekannt. Es
müsste Ihnen auch bekannt sein, dass sie mir bekannt ist.
Denn Sie haben eben aus einer Presseerklärung vorgetragen, in der ich just auf diese Untersuchung hingewiesen
habe.
({0})
Vielleicht kann das auch noch einmal schriftlich
wechselseitig bestätigt werden.
({0})
Sie ist mir bekannt und sie hat mich dazu gebracht,
auf die Fragwürdigkeit jetzt geplanter Gebührenerhöhungen hinzuweisen.
Mindestens über die Informationsquellen besteht eine
gemeinsame Einschätzung.
Weitere Fragen habe ich nicht gesehen. Ich bedanke
mich beim Kollegen Neumann.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die eingereichten Fragen 11
bis 17 werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Schauerte zur Verfügung.
Die Frage 18 wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zu den Fragen 19 und 20. - Ich
sehe gerade, dass der Kollege Hill nicht anwesend ist. Es
wird somit verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Herr Kollege Schauerte, ich bedauere, dass Sie die sicher exzellent vorbereiteten Antworten nicht vor dem
Plenum vortragen können.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Die Fragen 21 bis 26 aus dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit werden schriftlich
beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen 27 und
28 wurden zurückgezogen und die Fragen 29 bis 31 werden schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der Aktuellen Stunde um 15.40 Uhr.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Bisherige Ergebnisse der Koalition zu einer
Reform für ein leistungsfähiges Gesundheitswesen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Daniel Bahr für die Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Bundeskanzlerin hat am Freitag der letzten Woche erklärt, sie sei zuversichtlich, dass dieses Projekt der Koalition - gemeint ist die Gesundheitsreform zu einem guten Ende geführt wird. Angesichts der Äußerungen der letzten Wochen hat man nicht mehr den Eindruck, dass die Bundesregierung wirklich daran arbeitet,
eine leistungsfähige Gesundheitsreform auf den Weg zu
bringen, die die Zukunftsprobleme unseres Gesundheitswesens löst. Ihnen, meine Damen und Herren von der
Koalition, geht es doch nur noch darum, Ihr Gesicht zu
wahren und möglichst glimpflich aus dem Gesundheitsstreit herauszukommen.
({0})
Herr Stoiber hat gedroht: Wenn dieses Projekt scheitert, ist die Regierung am Ende. Herr Struck hat Mitte
September dieses Jahres erklärt: Die Gesundheitsreform
ist der Lackmustest dieser Koalition; sie muss gelingen,
damit die Koalition bis 2009 hält. Der CDU-Generalsekretär hat vorgestern im „Morgenmagazin“ gesagt:
Wir stehen Millimeter vor einer Lösung. Sein Kollege
von der CSU hat auf diese Äußerung reagiert, indem er
sagte: Wir sind Kilometer voneinander entfernt. - All
das hat zur Folge, dass die Bürgerinnen und Bürger zu
Recht nicht mehr den Eindruck haben, dass es Ihnen in
der Gesundheitspolitik wirklich um die Sache geht.
({1})
Vielmehr glauben sie, dass Sie nicht mehr in der Lage
sind, Eckpunkte einer Reform zu erarbeiten, die wirklich
tragfähige Lösungen für die Probleme unseres Gesundheitswesens darstellen. Man hat in der Tat das Gefühl,
dass die Koalition eine Truppe ist, die nicht mehr an der
Sache arbeitet, sondern nur noch daran, im Amt zu bleiben.
({2})
Was waren das für große Erwartungen, die diese
Koalition geweckt hat?
({3})
Herr Scholz hat im April 2006 gesagt: Die große Koalition muss mit der Gesundheitsreform ihr Meisterstück
abliefern.
({4})
Herr Seehofer sagte: Die Gesundheitsreform muss nicht
nur Monate, sondern eine ganze Generation tragen. Frau
Schmidt, die Bundesministerin für Gesundheit, hat im
November 2005 angekündigt, die gesetzlichen Krankenkassen auch im kommenden Jahr zu Beitragssenkungen
drängen zu wollen.
({5})
Schon in Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie vereinbart, einen Beitrag dazu leisten zu wollen - dazu haben
Sie sich verpflichtet -, dass die Lohnzusatzkosten im
Bereich des Gesundheitswesens zumindest stabil bleiben, wenn nicht sogar sinken.
({6})
Was hat die große Koalition nach der Kanzlerrunde
im Juli dieses Jahres, an der sieben Leute beteiligt waren, als Erstes angekündigt? Dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung im nächsten Jahr um
mindestens 0,5 Prozentpunkte steigen werden!
({7})
Frau Bundeskanzlerin hat damals erklärt: Mehr wird es
nicht.
Angesichts der Ankündigungen der Krankenkassen
wissen wir mittlerweile, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger im nächsten Jahr auf weit stärkere Beitragssatzerhöhungen einstellen müssen. Die Beitragssätze
steigen auf ein Rekordniveau von mindestens 14,9 Prozent. So hohe Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung kannten wir in Deutschland bisher nicht.
Sie sind dafür verantwortlich, weil Sie Entscheidungen
Daniel Bahr ({8})
getroffen haben, die dazu führen, dass die Krankenkassen ihre Beitragssätze im nächsten Jahr so massiv erhöhen müssen.
({9})
- Frau Ferner, nicht wir haben die Mehrwertsteuererhöhung beschlossen, durch die die Krankenkassen im
nächsten Jahr um 800 Millionen Euro belastet werden.
({10})
Nicht wir haben den Zuschuss des Bundes aus dem Tabaksteueraufkommen infrage gestellt, was bedeutet, dass
im nächsten Jahr diese 4,2 Milliarden Euro den gesetzlichen Krankenkassen eben nicht zugeführt würden.
({11})
Sie, Frau Ferner, die SPD und die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU haben Entscheidungen getroffen, die dazu führen, dass die Beitragssätze im nächsten
Jahr deutlich steigen.
Ihr Vorschlag, einen Gesundheitsfonds aufzulegen,
heißt doch nichts anderes, als einen von der Politik festgelegten Beitragssatz einzuführen. Demnächst soll also
die Bundesgesundheitsministerin über die Höhe eines
bundesweit einheitlichen Beitragssatzes entscheiden.
({12})
Wissen Sie, wozu dies führen wird, erst recht wenn vorher noch die Krankenkassen entschuldet werden? Dass
wir in den nächsten beiden Jahren Beitragssätze von
deutlich über 15 Prozent erleben werden. Das zeigt, dass
Sie von der großen Koalition nicht einmal Ihre eigenen
Maßstäbe, die Maßstäbe, die Sie sich gesetzt haben, einhalten. Dabei haben Sie im Koalitionsvertrag versprochen, die Lohnzusatzkosten zu stabilisieren und sie zu
senken. Das wird durch Ihre eigenen Vorschläge Makulatur! Für die Patienten wird das Gesundheitswesen immer teurer, aber bei weitem nicht besser.
({13})
Sie nennen Ihr Gesetz „Wettbewerbsstärkungsgesetz“. Bedeutet es mehr Wettbewerb, wenn die Politik
entscheidet, wie hoch der Beitragssatz ist, wenn das
Geld, das dann bundesweit eingezogen wird, den Krankenkassen quasi zugeteilt wird? Nein, meine Damen und
Herren, das ist dann ein Gesundheitswesen, in dem die
Beitragsautonomie der Krankenkassen aufgehoben wird,
in dem der Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung verloren geht, ein Gesundheitssystem der Zuteilung
von Staates, von Bundesregierungs Gnaden. Das hat
nichts mit Wettbewerb zu tun, sondern das ist der Weg in
ein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen.
Die Folgen eines staatlichen und zentralistischen Gesundheitswesens sind Mangelverwaltung und Wartelisten. Die krassesten Unterschiede einer Zweiklassenmedizin kann sich jeder im Ausland anschauen, in England
und in anderen Ländern, wo das Gesundheitssystem
staatlich ist. Fragen Sie die Patienten, fragen Sie die Versicherten dort! Gerne würden sie wechseln in ein freiheitliches Gesundheitswesen, welches wir in Deutschland wenigstens in Ansätzen noch haben. Das dürfen Sie
nicht kaputtmachen, das müssen wir ausweiten!
Herzlichen Dank.
({14})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst möchte ich mich bei der FDP recht
herzlich bedanken, dass sie uns durch die Aktuelle
Stunde die Möglichkeit gibt, endlich einmal die positiven Seiten der Gesundheitsreform darzustellen.
({0})
Sie werden sich wundern; ich werde es an ganz konkreten Punkten klar machen.
Zunächst einmal zum Beitragseinzug. Noch in der
letzten Woche sind Sie durch die Lande gezogen und haben von einem „bürokratischen Monster“ gesprochen.
Ihr Vorwurf geht ins Leere;
({1})
denn es kommt folgende Regelung: Der Beitragseinzug
bleibt bei den Krankenkassen, wie bisher. Wo also soll
da mehr Bürokratie sein?
({2})
Sie behaupten etwas, obwohl Sie wissen, dass nicht
stimmt, was Sie sagen.
Zum nächsten Punkt. Da die Kassen wie bisher die
Beiträge einziehen, erübrigt sich eine Doppelstruktur
zum Einzug einer zusätzlichen Prämie. Auch Ihre Aussage, die Umsetzung unserer Vorschläge würde eine solche Doppelstruktur erfordern, ist also falsch. Die Arbeitgeber können künftig sogar an eine Stelle überweisen;
das ist eine Vereinfachung gegenüber bisher.
Sie sagen, der Wettbewerb werde eingeschränkt. Zunächst einmal: Wenn Sie einen ehrlichen Wettbewerb
wollen, müssen Sie vorher Chancengleichheit herstellen.
Nur dann ist Wettbewerb möglich.
({3})
Sie können nicht eine Kasse, bei der sehr viele
Arbeitslose und sehr viele Ältere versichert sind, in den
Wettbewerb treten lassen mit einer Kasse, bei der nur
Junge, Gesunde versichert sind. Wettbewerb setzt Chancengleichheit voraus.
({4})
Sie werden sehen, dass der Wettbewerb der Kassen mit
unserem Gesundheitsreformgesetz sogar gestärkt wird:
Künftig wird wesentlich weniger auf der Bundesebene
gemeinsam und einheitlich entschieden, als das heute
mit den sieben Spitzenverbänden der Fall ist.
({5})
Es wird einen Spitzenverband geben, der ein ganz begrenztes Aufgabenfeld bekommt und zudem wettbewerbsneutral ist.
({6})
Teile der Aufgaben, die jetzt die sieben Spitzenverbände
auf Bundesebene wahrnehmen, werden heruntergebrochen auf die Landesebene. Dort gibt es keine Spitzenverbände, dort bleibt es bei den bestehenden Strukturen, damit eben noch mehr Wettbewerb möglich ist.
({7})
Sie werden sehen, es wird nicht so, wie Sie sagen. Mit
diesem Gesetz wird nicht weniger Wettbewerb, sondern
mehr Wettbewerb ermöglicht. Nur stichpunktartig: Wir
werden Hausarzttarife, wir werden Kostenerstattungstarife ermöglichen. Da müsste die FDP eigentlich Lobeshymnen singen!
({8})
Wir werden Selbstbehalttarife für alle Versicherten ermöglichen, nicht nur, wie bisher, für die besser verdienenden Versicherten. Wir werden den Kassen ermöglichen, Vertragsverhandlungen mit Arzneimittelherstellern
zu führen. Wir werden integrierte Versorgungsverträge
abschließen und erstmals auch die Pflegeversicherung
mit einbinden. Das heißt, der Versicherte wird in den
Mittelpunkt gestellt und nicht wie bisher dort behandelt,
wo vom Budget noch etwas übrig ist. Auch das ist ein
wesentlicher Vorteil, der zu einer besseren Versorgung
der Versicherten führt.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Leute
draußen, die uns zuhören, stellen sich meistens drei Fragen:
Erstens. Wird es für mich teurer?
({10})
Zweitens. Gehen sie mit meinen Beiträgen wirtschaftlich
und sparsam um?
({11})
Drittens. Bekomme ich noch alles oder was wird gestrichen?
({12})
- Sie können noch so sehr dazwischenrufen, ich sage Ihnen die drei Antworten:
Zur ersten Frage: Ohne die Gesundheitsreform wird
es wesentlich teurer.
({13})
Die Gesundheitsreform ist notwendig, damit es nicht
noch teurer wird.
({14})
Zudem schaffen wir mit diesem Gesetz erstmals die Voraussetzungen dafür, dass die Finanzierung nicht an die
Lohnkosten, sondern an die Leistungsfähigkeit gekoppelt wird.
Zur zweiten Frage, ob wir mit den Beiträgen sparsam
umgehen. Sie werden merken: Je mehr Wettbewerb in
dem System ist, desto mehr Wirtschaftlichkeitsreserven
können erschlossen werden. Es wird mit diesem Gesetz
wesentlich mehr Strukturelemente geben, als das jemals
vorher bei einer Gesundheitsreform der Fall war.
({15})
Zur Sparsamkeit gehört natürlich auch, dass alle Beteiligten - angefangen bei den Krankenkassen bis hin zu
den Ärzten - den Missbrauch der Versichertenkarten bekämpfen müssen.
Zur dritten Frage: Die Versicherten bzw. Bürger wollen hören, ob sie mehr oder weniger bekommen. Ich bin
seit 1990 dabei. Dies ist die erste Reform, bei der keine
Leistungen für die Versicherten gestrichen werden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die große Koalition ist angetreten, die
Herausforderungen der Zukunft anzupacken und zu bewältigen.
({0})
Die Gesundheitsreform wurde als eine solche Herausforderung, wenn nicht als die wesentliche bezeichnet.
Doch wie sieht die aktuelle Situation aus?
({1})
Der Zustand wurde in der letzten Woche durch eine renommierte Zeitung meines Erachtens sehr zutreffend
charakterisiert: Rasender Stillstand im Berlin der großen
Koalition. - Nicht nur die Gesundheitsreform ist im
Moment in der Krise, sondern die gesamten Kompetenzzuweisungen im föderalen System werden hinterfragt
und infrage gestellt. In den Medien jagen sich die Ideen
mittlerweile nicht nur täglich, sondern stündlich. Nachdem sich mehrere Ministerpräsidenten eingemischt hatten, wird von Spitzenpolitikern jetzt diskutiert, wer wann
etwas sagen darf.
Ich möchte hier einmal betonen: Wir, die Parlamentarier - der Gesetzgeber -, sind immer noch außen vor.
Herr Zöller, deshalb mussten wir eine Aktuelle Stunde
beantragen.
({2})
Die Fraktion Die Linke hat ihren Antrag nur um der
Zeitökonomie willen zurückgezogen.
({3})
Wir wollen in dieser Stunde, die eigentlich die Stunde
des Parlaments ist, neues Offizielles von der Bundesregierung erfahren.
Die Vorschläge zur Gesundheitsreform ernten breite
Proteste. Warum? - Ich denke, sie ernten deshalb breite
Proteste, weil die Akteure im und um das Gesundheitssystem, die Patienten und die Versicherten außen vor
bleiben. Nehmen wir den Ärzteprotest in der letzten Woche. Sie haben versprochen, mit der Umstellung der Vergütung von Punktwerten auf Eurobeträge werde es zu einer Angleichung zwischen Ost und West kommen. Wenn
die Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundesländern in
die noch nicht existierenden Gesetzentwürfe schauen
und dort lesen, dass die Eurobeträge nach der regionalen
Wirtschaftskraft festgelegt werden, dann fangen sie an
zu rechnen. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt ergibt
sich beispielsweise für Mecklenburg-Vorpommern nur
ein Wert von 67 Prozent des Bundesdurchschnitts. Wenn
Sie vielleicht nachher sagen, Frau Ministerin, das sei
falsch interpretiert - ich muss leider vor Ihnen sprechen -, dann kann ich nur sagen: Das Schlimme ist, dass
wir nicht miteinander reden. Deshalb kommt es zu solchen Verunsicherungen.
Eines ist doch klar: Wenn der Knackpunkt, der nach
Medienmeldungen noch nicht geklärt ist und erst nächste
Woche angegangen werden soll, nämlich der Finanzausgleich zwischen den finanzstarken Südländern und den
finanzschwächeren Nord- und Ostländern,
({4})
und wenn der Risikostrukturausgleich in der morbiditätsorientierten Form nicht bald kommt, dann wird das
Vermutete Wirklichkeit werden müssen, weil ansonsten
einfach das Geld nicht ausreicht.
Die Bevölkerung lehnt Ihre Vorschläge mit übergroßer Mehrheit ab. Warum? Das liegt nicht an Reformunwilligkeit. Sie haben versprochen - das wurde eben wieder gesagt -, dass es keine weiteren Einschränkungen
oder Belastungen mehr geben wird. Die Beitragserhöhung für nächstes Jahr ist jedoch schon so gut wie beschlossen.
({5})
Der Zusatzbeitrag ist der zweite Knackpunkt. Die
Frage ist: Einigen Sie sich auf eine Deckelung von
1 Prozent des Haushaltseinkommens
({6})
- was ja schon eine Belastung bedeuten würde - und,
wenn ja, wird es dabei auch zukünftig bleiben? Sollen
die Versicherten tatsächlich glauben, diese 1-Prozent-Regelung bleibt ewig bestehen, wo doch dieser Zusatzbeitrag das einzige Ventil im Gesundheitsfonds ist?
Diesen Vertrauensvorschuss haben Sie nicht mehr.
Die Bevölkerung steht hinter einer solidarischen, paritätisch finanzierten Krankenversicherung. Daher findet
die Idee der Bürgerversicherung breiten Anklang. Auch
wir, Die Linke, verfolgen diesen Ansatz. Die Bürgerversicherung reflektiert die Veränderungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt: Beiträge für alle und auf alle
Einkommen. Das ist für eine bedarfsgerechte Versorgung ohne Zuzahlung auch in der Zukunft ausreichend.
Dahinter steht die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, denen wir verpflichtet sind.
({7})
Daher fordern wir als Fraktion Die Linke: Packen Sie
Ihre missglückte Reform ein! Sichern Sie für 2007 den
Status quo im Gesundheitssystem und beginnen Sie einen gesellschaftlichen Diskurs!
({8})
Schauen Sie sich die Niederlande an. Dort ist ein gesellschaftlicher Konsens gesucht und gefunden worden.
({9})
Zum Schluss noch ein Zitat. Albert Einstein hat 1929
gesagt:
Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit
der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt
haben.
Daran sollten wir denken.
({10})
Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit,
Ulla Schmidt.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir kam gerade der Gedanke, dass das, was Sie, Frau
Kollegin Bunge, zum Schluss gesagt haben, ein gutes
Motto für die Arbeit der PDS wäre. Das zu befolgen täte
Ihnen sehr gut.
({0})
Kommen wir zum heutigen Thema. Dafür, dass es
doch angeblich keine Beratungsgrundlage gibt und dass
auch im Arbeitsentwurf nichts festgelegt sei, gibt es in
dieser Republik sehr lautes Geschrei.
({1})
Das verwundert nicht, wenn man sich einmal anschaut,
woher die Debatten kommen.
({2})
Sie werden von Besitzstandswahrern angestoßen, die
glauben, dass Reformen auf den Weg gebracht werden
können, deren Motto lautet: Wasch mir den Pelz, aber
mach mich nicht nass.
({3})
Das wird hiermit nicht geschehen.
Ich kann Sie aber beruhigen:
({4})
Die Koalition wird die notwendigen Entscheidungen
treffen. Wir werden im Oktober im Kabinett beraten.
({5})
Dann haben wir ausreichend Zeit, den gesellschaftlichen
Diskurs, aber auch die Debatten im Deutschen Bundestag
({6})
- unter anderem in Anhörungen mit den Verbänden und
all den anderen Betroffenen - zu führen, sodass das Gesetz zum 1. April 2007 in Kraft treten kann.
({7})
Dass wir hier nicht zu übereinstimmenden Auffassungen kommen, ist klar.
Sie als FDP wollen, dass das Gesundheitswesen privatisiert wird und dass Menschen mit geringem Einkommen allenfalls eine staatlich garantierte Basisversorgung
erhalten. Das unterscheidet sich fundamental von den
Zielen, auf denen die Koalition eine Reform aufbaut.
({8})
Diese Ziele sind: Erstens sorgen wir mit dieser Reform dafür, dass jeder und jede eine gute medizinische
Versorgung erhält, und zwar unabhängig vom Einkommen, Wohnort - auch das ist heutzutage ein Thema und Alter.
({9})
Zweitens. Mit dieser Reform wollen wir erreichen,
dass Patienten und Versicherte mehr Wahlmöglichkeiten
erhalten. Sie sollen auch weiterhin den Arzt und das
Krankenhaus frei wählen können; darüber hinaus sollen
sie aber auch die Wahlfreiheit gegenüber Krankenkassen
erhalten, die bei ihren Tarifen kosten- und gesundheitsbewusstes Verhalten belohnen.
Drittens. Eine bedeutende Neuerung dieser Reform
ist, dass die Wahlfreiheit für jeden Bürger und jede Bürgerin in diesem Land mit dem Rechtsanspruch einhergeht, in eine Krankenversicherung aufgenommen zu
werden, und zwar nicht nur in eine gesetzliche, sondern
auch in eine private Krankenversicherung.
({10})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
halten das System der privaten Krankenversicherung für
überlegen. Mir sind aber erst letzte Woche wieder Zweifel gekommen,
({11})
als ich Folgendes lesen musste: Wenn die Koalition tatsächlich wolle, dass eine private Krankenversicherung
auch zur Aufnahme kranker Menschen verpflichtet wird,
dann würden die Beiträge um 70 Prozent steigen.
({12})
Eine solche Aussage spricht nicht dafür, dass dieses System überlegen ist; sie spricht vielmehr dafür, das weitere
Reformen notwendig sind. Denn die gesetzliche Krankenkasse versichert seit ihrem Bestehen Menschen ohne
Ansehen des Risikos, ohne dass von einer Erhöhung der
Beiträge um 70 Prozent die Rede ist.
({13})
Viertens. Wir wollen mit der Reform erreichen, dass
das System und die Gesundheit für die Menschen bezahlbar bleiben.
({14})
Im Unterschied zu Ihnen verfolgen wir den Weg, dass
breitere Schultern mehr tragen als schmale, wobei wir sicherstellen, dass der Einzelne durch unsere Reformen
nicht überfordert wird.
({15})
Wir sind mit einem hohen Anspruch an die Reformen
herangegangen, weil wir, wie es der Kollege Zöller
schon formuliert hat, sicherstellen wollen, dass nicht die
Versicherten oder die Kranken über höhere Zuzahlungen
oder Leistungsausschlüsse die Last zu tragen haben. Im
Gegenteil: Wir erweitern die Leistungen, wo dies notwendig ist und wo es sich aus der bisherigen EntwickBundesministerin Ulla Schmidt
lung ergibt. Wir erweitern die Leistungen für ältere und
schwerstkranke Menschen wie auch für Väter, Mütter
und Kinder, weil wir das für notwendig halten.
Wir wollen auch, dass die Bevölkerung insgesamt bis
ins hohe Alter gut versorgt ist. Deswegen befassen sich
450 der 500 Seiten, die der Arbeitsentwurf umfasst, mit
der Frage, wie das Geld der Versicherten im Gesundheitssystem zielgenau für die Versorgung kranker Menschen eingesetzt werden kann. Darin unterscheiden wir
uns.
Das sind die Grundlagen, die wir mit dieser Reform
auf den Weg bringen. Es wird eine gute Reform.
({16})
Im Rahmen der Gesamtreform - über die wir eine
große Debatte führen, Frau Kollegin Bender - bringen
wir vier große eigenständige Gesetze auf den Weg. Wir
führen die umfassendste Strukturreform der letzten
25 Jahre durch.
({17})
Wir führen darüber hinaus eine große Organisationsreform und eine Finanzreform durch und wir reformieren
die private Krankenversicherung.
Bei den Strukturen geht es vor allen Dingen darum,
wie wir ambulante und stationäre Versorgung besser verzahnen können. Deshalb fördern wir weiterhin die integrierte Versorgung und wir bauen sie aus, indem wir die
Pflege und die nicht ärztlichen Berufe einbeziehen. Wir
werden die Chronikerversorgung verbessern, indem wir
sie besser auf die Patienten, insbesondere auf ältere
Menschen, ausrichten. Wir werden die medizinischen
Versorgungszentren weiter fördern. Wir werden die
Krankenhäuser für die ambulante Versorgung von
Schwerstkranken oder Menschen mit seltenen Erkrankungen öffnen; denn wir sind der Meinung, dass auch
ein gesetzlich Krankenversicherter das Recht haben soll,
sich von Spezialisten im Krankenhaus ambulant behandeln zu lassen. Das darf nicht alleine ein Vorrecht der
Privatversicherten in diesem Land bleiben.
({18})
Wir leiten zudem strukturelle Maßnahmen ein, wie die
Kosten-Nutzen-Bewertung bei Arzneimitteln und das
Vier-Augen-Prinzip bei der Verordnung besonderer Arzneimittel und eine Änderung des ärztlichen Honorarsystems.
Bei der Organisationsreform wollen wir das starre
System von Krankenkassen und Spitzenverbänden entschlacken und entbürokratisieren. Ich sage ganz deutlich: Für den Wettbewerb brauchen wir keine 250 Krankenkassen. Die sollen sich zusammenschließen. Wir
brauchen auch keine sieben Spitzenverbände. Vielmehr
wollen wir einen Spitzenverband haben.
({19})
Schließlich geht es um Beitragsgelder, Herr Kollege
Bahr. Es sollte auch Ihnen zu denken geben, dass für die
Finanzierung von sieben Spitzenverbänden bislang über
350 Millionen Euro an Beitragsgeldern ausgegeben wurden.
({20})
Hier wollen wir beginnen, zu sparen, damit wir nicht bei
den kranken Menschen sparen müssen.
Wir wollen, Frau Bunge, zudem eine Finanzreform,
die daran ansetzt, dass die gesetzliche Krankenversicherung eine Solidargemeinschaft ist. Wir wollen, dass in
Gesamtdeutschland die Menschen überall eine gute Versorgung haben und dass Krankenkassen, die viele ältere
und kranke Menschen als Mitglieder haben, das Geld haben, um die Versorgung sicherzustellen.
Als Letztes: Wir werden die private Krankenversicherung nicht außen vor lassen. Auch sie muss sich dem
Wettbewerb stellen und sich an der Versorgung aller beteiligen. Wir werden dafür sorgen, dass die privaten
Krankenkassen in Zukunft auch ältere, kranke oder behinderte Menschen versichern. Das ist die große Aufgabe, die wir mit dieser Reform angehen.
({21})
Das ist eine gute Reform.
({22})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
spricht nun die Kollegin Birgitt Bender.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
({0})
Die Ministerin verkündet hier großartig: Wir werden
Entscheidungen treffen. - Angesichts des Vorlaufs erinnert mich das an eine Erzählung von Heinrich Böll, in
der jemand von Anfang bis Ende sagt: Es wird etwas geschehen. Aber tatsächlich passiert nichts. Was ist denn
bislang passiert? Sie haben Eckpunkte vorgelegt, die
niemanden überzeugen, am wenigsten Sie selbst, meine
Damen und Herren von der Koalition. Sie haben Arbeitsentwürfe vorgelegt, über die die Koalition so sehr
streitet, dass sie sich selbst zerlegt. Sie haben zwar nachgearbeitet und nachgebessert. Aber tatsächlich haben Sie
nur verschlimmbessert. Der ganze Theaterdonner soll
eine gemeinsame Politikfähigkeit simulieren, die die
Koalition ganz offensichtlich nicht hat.
({1})
Nun haben wir eben gehört, man sei auf etwas Neues
gekommen und alles sei furchtbar schön. Beispiel Beitragseinzug: Herr Kollege Zöller, ich lese wohl, der Beitragseinzug für alle Sozialversicherungszweige verbleibt
wie bislang bei den Krankenkassen.
({2})
Anschließend müssen aber die Krankenkassen ihre Beiträge an einen Gesundheitsfonds - daran wird ja festgehalten - abführen. Aus dem Fonds sollen die Krankenkassen einen Einheitsbeitrag mit Zu- oder Abschlägen
erhalten. Schon damit dürfte man gut beschäftigt sein.
({3})
Dann müssen die Krankenkassen gegebenenfalls einen
Zusatzbeitrag erheben. Dafür brauchen sie individuelle
Versichertenkonten und entsprechende Mitarbeiter. Dazu
kann ich nur ironisch sagen: Die Koalition tut zweifellos
etwas für zusätzliche Arbeitsplätze; denn diese werden
dabei sicherlich entstehen.
({4})
Anders gesagt: Die Versicherten zahlen dann nicht nur
Zusatzbeiträge, sondern bezahlen auch den zusätzlichen
Verwaltungsaufwand der Krankenkassen. Das wird sie
teuer zu stehen kommen. Eine solche Reform verdient
diesen Namen nicht.
({5})
Dann hören wir, es sei Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen den Krankenkassen erforderlich. Wohl
wahr! Aber bei diesem Thema haben Sie sich bislang
nicht geeinigt. Sie haben doch noch gar keinen krankheitsbezogenen Ausgleich zwischen den Krankenkassen
erarbeitet. Genau diese Hausaufgabe liegt noch vor Ihnen. Aber von einer Lösung ist bislang nichts zu sehen.
Sie feiern sich dafür, dass es in Zukunft nur noch einen Dachverband auf Bundesebene geben und dass auf
Landesebene kein Einheitsverband installiert wird.
Schön, aber es bleibt bei einem Einheitsdachverband der
Kassen auf Bundesebene, es bleibt bei einem Einheitsbeitrag der Kassen, dieser Einheitsbeitrag wird staatlich
verordnet - das ist gerade das Gegenteil von Wettbewerb und er soll die Kosten der Krankenkassen ausdrücklich
nicht decken. Also müssen die Kassen eine Kopfpauschale erheben. Die haben Sie gemeinsam in die Welt
gesetzt.
Jetzt streiten Sie sich über die Überforderungsklausel
in Höhe von 1 Prozent des Haushaltseinkommens. Die
einen sagen, die Überforderungsklausel in Höhe von
1 Prozent sei nicht praktikabel. Damit haben sie übrigens
Recht. Die anderen sagen, etwas anderes sei nicht verhandelbar. Da kann ich nur sagen: Guten Morgen, das
hätten Sie bei der Installierung der Kopfpauschale schon
merken müssen.
({6})
Es ist eigentlich kein Wunder, dass die Koalition ausgerechnet über die Überforderungsklausel so herzhaft streitet; denn am meisten überfordert ist diese Koalition ganz
offensichtlich selber. Wenn Sie noch ein Minimum an
Lernfähigkeit haben, dann würde es Ihnen zur Ehre gereichen, wenn Sie wirklich noch einmal von vorne anfangen würden. Vielleicht schaffen Sie es irgendwann,
eine überzeugende Reform hinzulegen, obwohl man da
so seine Zweifel haben kann.
({7})
Der Kollege Heinz Lanfermann hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn eine Regierung oder eine Koalition das
Vertrauen des Volkes verlieren will, dann muss sie sich
nur mit der Sprache und der Selbstdarstellung weit genug von der Realität entfernen. Genau das haben wir
heute wieder erlebt. Die Frau Ministerin hat uns zwar
vieles gesagt, aber nichts zu den wirklich brisanten Themen, die heute auf der Tagesordnung stehen.
({0})
Man muss sich fragen: Was ist denn die Realität? Erstens ist Realität: Die Koalition hat eine Reform versprochen, mit der die Beiträge und damit die Lohnnebenkosten gesenkt werden sollten. Beschlossen wurde als
Erstes, dass die Beiträge um mindestens einen halben
Prozentpunkt steigen. Ergebnis also: Versprochen, gebrochen.
({1})
Zweitens ist Realität: Seit zehn Monaten erleben wir
einen chaotischen Verhandlungsmarathon, der immer
weiter in die Sackgasse führt. Mal verhandeln sieben,
mal fünf, mal sind es 16, mal wird mit Ländervertretern
verhandelt, mal ohne. Bevor dann die aggressiven Gefühle gleich zur Explosion führen, reden - dies sogar
ohne die CSU - nur noch zwei miteinander, Frau Merkel
und Herr Beck.
({2})
Dann gibt es eine Quickie-Pressekonferenz, auf der auch
nicht ein Wort mit Substanz geäußert wurde. Aber man
will jetzt Sachverstand hinzuziehen. Das wenigstens hört
man gerne.
({3})
Richten Sie sich nach dem Sachverständigen Rürup, der
genannt worden ist. Der hat bereits vor Wochen gesagt,
dieses Vorhaben ende in einem Fiasko. Sie können die
Papierstapel in den Müll werfen; denn erstens überHeinz Lanfermann
nimmt für die Papiere nie jemand Verantwortung - es
steht nie ein ordentlicher Absender darauf, wenn man es
genau nimmt - und zweitens hält sich niemand an den
Inhalt. Es wird alles wieder infrage gestellt. Ich weiß gar
nicht, wie Sie das miteinander aushalten. Es gibt keine
Verlässlichkeit, kein Vertrauen und es gibt keine gemeinsamen Ziele. Was gestern verabredet wurde, gilt heute
nicht mehr. Das Wichtigste an der Einigung ist, dass man
sich überhaupt einigt, ganz gleich, welcher Murks am
Ende im Gesetzblatt steht.
({4})
Drittens ist Realität: Es gibt nur ganz wenige Menschen in Deutschland, die das, was in den so genannten
Eckpunkten als Gesundheitsreform bezeichnet wird,
wollen. Wer will es denn? Es wollen die um die Macht
ihrer Parteien sich sorgenden Spitzenpolitiker der
schwarz-roten Koalition, getrieben von Angst vor Gesichts- oder Bedeutungsverlust und vor allem getrieben
von der Angst vor Neuwahlen, die sich niemand von Ihnen leisten kann.
({5})
Damit laufen Sie Gefahr, Ihre Partei über die Sache zu
stellen. Ich bin überzeugt: Wenn es in diesem Parlament
eine Abstimmung gäbe, in der alle Abgeordneten nur
nach ihrem Sachurteil abstimmen würden, dann wäre die
Ablehnung sogar noch größer als in der Bevölkerung,
von der alle Umfragen sagen, dass mindestens 80 Prozent der Bürger diesen zusammengestoppelten Unfug
ablehnen.
({6})
Daher kommt die Debatte, Frau Ministerin; denn eines ist doch wirklich bemerkenswert, und das sollte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen, wirklich zu denken geben. Seien Sie einmal
ganz ehrlich zu sich selbst: Können Sie sich wirklich erinnern, dass irgendein Gesetzesvorhaben in den letzten
20 oder 30 Jahren so generell abgelehnt wurde wie diese
Gesundheitsreform? Alle auch nur irgendwie Betroffenen sind dagegen - diese Menschen protestieren auch -:
die Bürger, alle Patienten, die Ärzte - ob niedergelassen,
ob im Krankenhaus, ob Fachärzte, wer auch immer -,
die Apotheker, die gesetzlichen und die privaten Krankenkassen, die Krankenhäuser, die Hersteller von Medikamenten und Hilfsmitteln. Sie alle sind dagegen. Frau
Ferner, wenn Sie die Apotheker und die Ärzte schon
nicht so ernst nehmen wollen, dann sollten Sie sich doch
wenigstens von der AOK anrühren lassen.
({7})
Kennen Sie auch nur eine ernst zu nehmende Zeitung,
einen ernst zu nehmenden Journalisten, der, wenn er darüber schreibt, diese Reform nicht kritisiert?
({8})
Kennen Sie jemanden, der mit einem nachvollziehbaren
Argument dargelegt hat, dass der Gesundheitsfonds auch
nur eines der anstehenden Probleme lösen wird?
Dass das Geld hin und her geschoben wird und dadurch angesichts der Bürokratie sicherlich nicht mehr
wird, das kann ja wohl nicht Sinn der Übung sein. Bei
Ihnen hörte es sich aber so an. Sie haben über den Gesundheitsfonds übrigens kein Wort verloren. Sie kommen mir vor wie jemand, der ein Auto gegen den Baum
fährt und sagt: Aber nun schaut doch einmal, wie schön
doch die Fenster geputzt sind, freut euch, dass die Hinterräder noch ganz sind und dass wir sie sogar noch
polieren werden. Sie kommen mit lauter - an sich zwar
wichtigen - Sachen daher; es handelt sich aber um
Peanuts im Vergleich zu all dem, was hier mit dieser Reform falsch gemacht wird.
({9})
Zum Abschluss: Sie alle in der Koalition gehen mit
dem Fonds um, wie man mit dem Kaiser in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern umgeht: So wie jeder sieht, dass der Kaiser gar keine neuen Kleider trägt,
sondern dass er nackt ist, so sieht auch jeder, dass der
Fonds nichts taugt, sondern nur Bürokratie und Kosten
bringt und nur aus taktischen Gründen etabliert wird.
Und keiner wagt, es auszusprechen. Nur der Kollege
Lauterbach
({10})
übernimmt die Rolle des Kindes, das dann ruft: Der
Kaiser hat ja gar nichts an!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Kollege Lanfermann, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. In Erwartung Ihrer spannenden Fragen habe
ich die Kollegin Widmann-Mauz nicht aufgerufen. Daher haben Sie jetzt leider nicht mehr die Möglichkeit, ihr
zu antworten. Aber wir werden diese spannende Debatte
sowieso an anderer Stelle fortsetzen müssen.
Das Wort hat für die Unionsfraktion die Kollegin
Widmann-Mauz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Dass die FDP diese Aktuelle Stunde
heute beantragt, das kann ich gut verstehen. An ihrer
Stelle hätte ich es genauso gemacht; denn es ist die Aufgabe der Opposition, solch wichtige Themen ins Parlament zu bringen. Die Medien berichten täglich. Die
Menschen fragen sich: Was ist denn los? Da will natürlich auch die FDP endlich einmal etwas zu sagen haben.
({0})
Das ist doch völlig klar.
Aber Folgendes müssen Sie der Koalition durchaus
zugestehen.
Erstens. Wir erarbeiten hinter verschlossenen Türen
ein gemeinsames Konzept. Das macht auch Sinn; denn
man sollte nicht mit ungelegten Eiern an die Öffentlichkeit gehen.
({1})
Zweitens. Ein Gesetz sorgfältig vorzubereiten, bevor
die Befassung im Parlament beginnt, ist ebenfalls richtig. Frau Ausschussvorsitzende, Sie sollten eigentlich
wissen: Das Parlament kann sich erst befassen, wenn ein
Gesetzentwurf dem Parlament zugeleitet ist. Das sind
unsere Regeln. An die müssen Sie sich wahrscheinlich
immer noch gewöhnen. Aber es gehört zum Parlamentarismus dazu.
({2})
Außerdem haben wir gesagt: Sorgfalt geht vor
Schnelligkeit. Wir akzeptieren keine Fristverkürzungen
und wir wollen die volle Beratungszeit im Parlament in
Anspruch nehmen. Ich finde, das ist nicht nur fair, sondern es unterscheidet diese Koalition auch sehr deutlich
von der Koalition, die die Vorgängerregierung getragen
hat. Damit hat in dieser Republik ein neuer Stil Einzug
gehalten.
({3})
Manche Journalisten sprechen von einem Hühnerhaufen. Dazu kann ich nur sagen: Die Hühner haben die Eier
in Form der Eckpunkte gelegt. Wir lassen uns nicht aus
der Ruhe bringen, wenn es darum geht, die Eier in Ruhe
zu Ende zu brüten, mögen auch noch so viele Gockel
krähen.
({4})
Ich sage hier jetzt nicht: Alles ist schon gut. Nein, es
ist noch nicht alles gut, aber wir kommen Stück für
Stück voran und wir arbeiten die Eckpunkte in ein gutes
Gesetz um.
Wir haben noch wichtige Fragen zu klären. Wir gingen mit den unterschiedlichsten Ausgangskonzepten da
hinein und wir haben eine Erblast von Rot-Grün übernommen, liebe Kollegin Bender,
({5})
die Sie völlig ignorieren. Beim Thema Bundeshaushalt
war für uns klar: Haushaltskonsolidierung hat die erste
Priorität. Es sollte eigentlich auch eine grüne Partei beschäftigen, dass in diesem Haus Nachhaltigkeit wieder
Einzug hält.
({6})
Schauen Sie sich die Kassenfinanzen an! 4 Milliarden
Euro Restschulden bei den Krankenkassen!
Angesichts dessen wundere ich mich schon darüber,
dass die FDP hier so tut, als hätte sie damit nichts zu
schaffen. Aus Rheinland-Pfalz höre ich, dass dort vor
der letzten Landtagswahl die Beitragssätze bei einer großen Kasse nicht erhöht wurden, obwohl es notwendig
war, nur weil die dortige Landesregierung dies nicht
wollte. Da tragen Sie mit Verantwortung! Da haben Sie
nicht nur zugeschaut, sondern mitregiert und mitgemacht! Deshalb sollten Sie erst einmal vor der eigenen
Haustür kehren.
({7})
Wir wollen, dass die Maastrichtkriterien eingehalten
werden und das gilt nicht nur für den Bundeshaushalt,
sondern auch für die Sozialkassen.
In der Koalition besteht Einigkeit darüber, Intransparenz und mangelndes Verantwortungsbewusstsein zu bekämpfen. Wie will man denn Verantwortung tragen und
Intransparenz beheben, wenn man nicht über Preise
spricht?
({8})
Dass Ihr Blick nicht weiter geht als in den Fonds hinein
und nicht reicht, um zu sehen, dass am Ende dieses Systems zum ersten Mal Preise stehen,
({9})
die man im Wettbewerb vergleichen kann, das wundert
mich. Bei den Grünen wundert mich das nicht; denn für
Sie von den Grünen endet der Wettbewerb beim Schlagwort; es geht nicht so weit, dass am Ende die Grundlagen dafür geschaffen werden.
Wir schaffen Vertragsmöglichkeiten in allen Bereichen. Dass die FDP dies natürlich stört,
({10})
insbesondere wenn es um Apotheker geht, haben wir in
Ihrer Rede wirklich deutlich hören können, Herr
Lanfermann.
({11})
Wir haben im AVWG - Sie haben erbittertsten Widerstand dagegen geleistet - die Grundlage dafür geschaffen, dass die Arzneimittelkosten im Juli und im August
dieses Jahres zurückgegangen sind. Was Sie hier im Parlament abgeliefert haben, ist Verantwortungslosigkeit.
({12})
Wir tragen dazu bei, dass die Kosten sinken. Nehmen
Sie Ihre Verantwortung ernst und hören Sie mit diesem
Populismus auf! Wir haben keine Angst vor den Konflikten mit den Besitzstandswahrern.
Damit sind wir beim Stichwort Bürokratie. Zu dem,
was Sie hier verbreiten - Sie sprechen von einem Monstrum und malen das alles so aus -, kann ich nur sagen:
Sie ignorieren völlig die Ergebnisse des gestrigen Tages.
({13})
Ein einfacher Beitragseinzug in den bestehenden Strukturen ist gut. Durch die Zusammenarbeit und die Konzentration werden Synergieeffekte genutzt. Den von
Ihnen aufgeblasenen Wasserspieltieren, „Monster“ genannt, geht langsam die Luft aus, und das ist gut so.
Lassen Sie mich auch das Stichwort Zentralisierung
ansprechen. Das ist ein wichtiger Bereich, in dem die
FDP agitiert. Was bleibt denn davon übrig? Ein Spitzenverband statt sieben Spitzenverbänden,
({14})
mehr Kompetenz für die Kassen, als es bislang gibt, weniger gemeinsam und einheitlich, mehr im Einzelwettbewerb auf der Landesebene und in der einzelnen Kasse,
({15})
das ist unsere Politik, die sich an Fakten und nicht an
Schlagworten orientiert.
Sie wollen doch in Wahrheit nur das Scheitern dieser
Reform
({16})
und demonstrieren damit die eigene Unfähigkeit, als es
darum ging, in der letzten Koalition Konzepte durchzusetzen, oder die Nichtfinanzierbarkeit Ihrer Vorschläge;
denn sonst hätten Sie die schon längst als Gesetz im Parlament einbringen können.
({17})
Wir wollen Lösungen. Wir wollen Antworten. Wir
wollen uns an der Verantwortung, die in dieser Frage
groß ist, orientieren; denn das sind wir den Patientinnen
und Patienten, das sind wir den Menschen schuldig.
Herzlichen Dank.
({18})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Carola Reimann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten Wochen war so einiges von den Herren
Ministerpräsidenten der Union zu hören. Wenn man sich
die Aussagen dieser Länderfürsten anhört, gewinnt man
sehr schnell den Eindruck, dass es gar nicht um die Gesundheitsreform geht. Vielmehr scheint es so manchem
um sein eigenes Renommee und um Eigeninteressen zu
gehen.
({0})
Sie fordern, dass die Reform einzelnen Bundesländern
zugute kommen soll. Diese Reform muss aber zum Ziel
haben, dass die Versicherten in ganz Deutschland profitieren. Deshalb wird es keine Bayernrabatte und auch
keine Extrawürste geben.
({1})
Es wäre angemessen gewesen - da gebe ich dem Kollegen Recht -, wenn die Herren heute hier anwesend wären und sich nicht immer nur quasi aus dem parlamentarischen Off über die Presse zu Wort melden würden.
Verwunderlich ist auch, dass sich einige nicht mehr daran erinnern können, was Anfang Juli beschlossen
wurde.
({2})
Ich empfehle die Lektüre des gemeinsamen Eckpunktepapiers.
Es reicht auch, wenn Sie sich einfach einmal die Aussagen des CDU-Ministerpräsidenten Böhmer vom vergangenen Wochenende anschauen:
Die Ein-Prozent-Klausel ist beschlossen.
Und:
Wer sie jetzt infrage stellt, hat vorher offensichtlich
nicht aufgepasst.
Dazu kann ich nur sagen: Danke, Herr Böhmer, endlich
spricht das auch einmal ein Vertreter der Länder aus.
({3})
Die Länder saßen ja mit am Tisch, als die Eckpunkte
ausgehandelt wurden. Man kann doch nicht einfach daherkommen und von einem Kompromiss, den man beschlossen hat, einzelne Punkte, die man soeben noch
mitgetragen hat, infrage stellen. Wenn wir damit anfangen, dann fallen auch mir spontan einige Punkte ein.
Dann sind wir allerdings wieder so weit wie im Frühjahr.
Dahin will doch allen Ernstes keiner zurück.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, die Reform besteht ja
nicht nur - das will ich klar sagen - aus der 1-ProzentÜberforderungsklausel und aus dem Fonds.
({5})
Bei den allermeisten Vorhaben, gerade bei der umfassenden Strukturreform - sie ist schon angesprochen worden -, sind wir mit den Eckpunkten ein gutes Stück vorangekommen. Diese Punkte sind innerhalb der Koalition völlig unumstritten. Ich bin sicher, wenn sie bekannter wären, wären sie auch in der Öffentlichkeit völlig
unumstritten. Beispiele hierfür sind die Fortsetzung und
Erweiterung der integrierten Versorgung,
({6})
die Weiterentwicklung der Chronikerprogramme, gerade
um chronisch erkrankten Menschen in unserem Lande
zu helfen,
({7})
die weitere Öffnung der Krankenhäuser für spezialärztliche Behandlungen im ambulanten Bereich,
({8})
die Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel sowie
ein neues Honorarsystem - auch von Ihnen immer wieder gefordert - für niedergelassene Ärzte und vieles
mehr.
({9})
Besonders hervorheben möchte ich die erweiterten
Vertragsmöglichkeiten, die für die Krankenkassen geschaffen werden. Herr Zöller hat schon den Tarifbereich
angesprochen; dazu gehört aber zum Beispiel auch die
Ausschreibung von Arzneimittelwirkstoffen und von
Hilfsmitteln.
({10})
Damit wird Wettbewerb möglich; diesen wollen Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, doch sonst
immer.
Auch beim Verhältnis von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung haben wir einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Wir Sozialdemokraten wären da
weitergegangen, aber wir stehen zu den Eckpunkten.
({11})
Die Portabilität der Altersrückstellungen steht ganz konkret in den Eckpunkten; sie steht sogar im Koalitionsvertrag. Ich frage mich: Wer kann allen Ernstes etwas
dagegen haben, wenn auch Privatversicherte mit der
Möglichkeit zur Mitnahme ihrer Altersrückstellung endlich Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Tarifen bekommen und ihnen Wechselmöglichkeiten zwischen den
Unternehmen eröffnet werden? Das müssten doch auch
Sie begrüßen.
({12})
Dazu gehört notwendigerweise dann auch der so genannte Basistarif ohne Gesundheitsprüfung.
({13})
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben ja
diese Aktuelle Stunde beantragt; deshalb noch ein Wort
zu Ihnen: Die Reform, lieber Herr Bahr, wird nicht eingestampft, wie Sie dieser Tage gefordert haben.
({14})
Ohnehin wundere ich mich ein wenig über die widersprüchlichen Aussagen von Ihrer Seite in den letzten Tagen. Da haben Sie sich wohl ein bisschen von den
Unionsministerpräsidenten inspirieren lassen.
({15})
Sie fordern einmal die zügige Umsetzung, ein andermal
das Einstampfen der Reform.
({16})
Da müssen Sie sich jetzt endlich einmal entscheiden. Ich
weiß, dass man in der Opposition in der bequemen Lage
ist, viel fordern zu können, aber in sich logisch muss das
dann auch sein.
({17})
Kolleginnen und Kollegen, entgegen dem Eindruck,
den einige Ministerpräsidenten in den letzten Tagen erweckten, sind wir uns in den Fachberatungen in den
meisten Punkten, insbesondere bei denen, die die wichtigen Strukturreformen betreffen, einig geworden.
({18})
Ich bin mir sicher, dass wir auch bei den strittigen Punkten noch eine Einigung erzielen. Wir werden morgen unsere Beratungen fortsetzen - wie bisher konstruktiv und
lösungsorientiert. Es wäre wünschenswert, wenn sich
auch die Herren Ministerpräsidenten der Union an dieser
Arbeitsweise orientieren würden. Wir brauchen jetzt
nämlich keine albernen Hahnenkämpfe, sondern seriöse
Sacharbeit.
({19})
Dafür steht die Facharbeitsgruppe aus Union und SPD.
Das ist auch das, was die Versicherten von uns erwarten.
Danke schön.
({20})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Jens
Spahn.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unbestritten ist: Die Diskussion der letzten Tage
und Wochen, auch die öffentliche Diskussion, war in der
Sache nicht immer hilfreich und bringt uns nicht an allen
Stellen immer voran. Klar ist aber auch: Eine intensive
Sachdiskussion mit einem Ringen um die richtigen Argumente ist gerade bei einer Frage wie jener der Gesundheitsreform, die so viele Menschen betrifft, notwendig.
Ich habe mich - weil in den letzten Wochen, auch in
den Medien, viel „ampel-geschwampelt“ und das Ganze
von der einen oder anderen Seite fokussiert wurde - angesichts dessen, was der Kollege Bahr hier gerade gesagt
hat und was einige andere Kollegen ausgeführt haben,
allerdings gefragt, wie die Diskussion, auch in der Öffentlichkeit, aussehen würde, wenn es hier zu anderen
Mehrheitsverhältnissen kommen würde.
({0})
Man müsste einmal in einer Debatte herauszufinden versuchen, wie diese Ausführungen mit Leben erfüllt werden sollten.
({1})
Für jeden, der die Wahlprogramme von Union und
SPD gelesen hat und der weiß, dass Gesundheitspolitik
ganz stark mit Programmatik, Menschenbild und Gesellschaftsbild zu tun hat, musste von Anfang an klar sein,
dass es bei diesem Thema natürlich Auseinandersetzungen und Diskussionen, auch innerhalb der Koalition und
zwischen den Koalitionspartnern, gibt. Das ist normal
und gehört dazu. Entscheidend wäre allerdings, dass alle
- damit meine ich nicht nur die Ministerpräsidenten,
Frau Kollegin Reimann -, die sich öffentlich dazu äußern, intern genauso viel sagen. Wenn lediglich hier etwas gesagt wird, in den internen Diskussionen aber eher
nicht so viel, ist das nur bedingt hilfreich.
({2})
Ich will nun auf das eine oder andere, was hier gerade
vom Kollegen Lanfermann angesprochen wurde, eingehen. Die erwartbare Steigerung der Beitragssätze um
0,5 Prozent im nächsten Jahr findet nicht statt, weil wir
sie in einem Gesetz beschließen würden, sondern weil
die Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung so ist, wie sie ist. Die Dynamik würde in jedem Fall in diese Richtung gehen. Dazu, wie Sie auf die
Kostenentwicklung im Gesundheitswesen reagieren
würden, habe ich von Ihnen heute kein einziges Wort gehört. Insofern ist das alles ziemlich populistisch, was an
dieser Stelle stattfindet.
({3})
Dann wurden einmal mehr die Umfragen in der Bevölkerung angeführt. 80 Prozent der Menschen würden
einen Gesundheitsfonds grundsätzlich ablehnen. Ich behaupte, 90 Prozent haben gar nicht gelesen, was in den
Eckpunkten steht.
({4})
Das ist auch nicht transportiert worden, weder medial
noch in der Diskussion. Es ist nicht fokussiert worden,
was jenseits der 1-Prozent-Regelung - die vermutlich
manch Außenstehender nicht versteht, obgleich sie wirklich wichtig ist - für das Funktionieren des Fonds mit der
Reform beschlossen würde: Es bleibt das Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken und die Dynamik der Kostenentwicklung in den nächsten Jahren nicht den Sozialversicherungsbeiträgen aufzubürden, sondern da zu einer
anderen Finanzierung zu kommen. Es bleibt das Ziel,
Wettbewerb - wenn Sie sich die Eckpunkte einmal genau
anschauen, dann müssten Sie eigentlich an vielen Stellen
zufrieden sein - zwischen den Krankenkassen zu ermöglichen, bezogen auf unterschiedliche Tarife, Selbstbehalttarife, Kostenerstattungstarife und vieles andere mehr.
({5})
Das betrifft auch den Wettbewerb auf der Leistungserbringerseite, Ärzte, Apotheker - da gibt es ebenfalls
Bewegung innerhalb der FDP, wie mir scheint, wenn ich
die Kommentare von Otto Graf Lambsdorff in der
„Welt“ lese -, und in vielen anderen Bereichen.
Ziel bleibt natürlich auch - da bitte ich, in der Diskussion, auch in der öffentlichen, jedem, der mit verhandelt,
zu unterstellen, dass er das nach bestem Wissen und Gewissen macht -, jedem in Deutschland unabhängig von
Einkommen, Alter und Ansehen das medizinisch Notwendige zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne und
in dieser Absicht führen wir die Diskussion. Man kann
darüber streiten, wie man zu diesem Ziel gelangt. Aber
man sollte in den öffentlichen Debatten dem anderen
Teil nicht unterstellen, dass er das Ziel nicht erreichen
wolle.
Abschließend möchte ich noch etwas sagen, was mir
persönlich wichtig ist: Wir werden am Ende nicht eine
Reform machen, nur um eine Reform zu machen.
({6})
Das Gesundheitssystem ist ein System, von dem 82 Millionen Menschen, nämlich jeder Deutsche, betroffen
sind.
Über dieses System wird sehr emotional diskutiert
- das kennen wir alle aus unseren Wahlkreisen -, weil
die Sorge besteht, ob man das medizinisch Notwendige
und Mögliche auch wirklich zur Verfügung gestellt bekommt, wenn man krank ist. Daher darf es auf diesem
Feld keine Reform um ihrer selbst willen geben, sondern
nur eine Reform, die am Ende in die richtige Richtung
weist. Daran arbeiten wir gerade.
({7})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Margrit Spielmann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich liebe Aktuelle Stunden,
weil man so viel, aber auch gar nichts sagen kann.
({0})
- Ich wollte gerade feststellen, dass ich meine fünf Minuten Redezeit dazu nutzen möchte, um sachlich - übrigens auch ganz wach und nicht müde, Herr Niebel - auf
einige Eckpunkte aufmerksam zu machen, die für mich
als Abgeordnete aus einem ostdeutschen Flächenland
besonders wichtig sind und die keine Peanuts sind. Auch
Herr Lanfermann - ich sehe ihn leider nicht -, der aus
dem gleichen Land kommt, weiß das.
({1})
- Er ist vielleicht müde.
({2})
Erster Punkt. Ich nehme zunächst zur Einführung des
Gesundheitsfonds Stellung mit Blick auf die ostdeutschen Länder. Der Gesundheitsfonds führt dazu, dass es
für die Kassen keinen Unterschied mehr macht, wie viel
der Versicherte verdient. Somit ist ein Rentner der Kasse
genauso viel wert wie ein freiwillig Versicherter. Erreicht wird das, wie wir wissen, durch den so genannten
100-prozentigen Finanzausgleich. Regional bedeutet
dies, dass die Solidarität wohlhabender Regionen mit
einkommensschwächeren Regionen gestärkt wird.
({3})
Faktisch wird davon - ich stelle das ganz sachlich
fest, Frau Kollegin Bunge - der Osten profitieren. Denn
das Ziel, das wir alle verfolgen, ist die Angleichung der
Lebensverhältnisse und das Überwinden von Sozialmauern. Ich denke, das Erreichen dieses Ziels wird durch unser Vorgehen unterstützt.
Der zweite Punkt. Der Risikostrukturausgleich soll im
Rahmen der Fondszuweisungsberechnung weiterentwickelt werden. Dies ist für den Osten ebenfalls von entscheidender Bedeutung, Frau Kollegin Bunge. Er wird
nicht nur einfacher, sondern auch zielgenauer und gerechter und er ist hoffentlich auch risikoadjustiert.
({4})
Unverschuldete Wettbewerbsnachteile einzelner Kassen aufgrund vieler kranker und einkommensschwacher
Mitglieder, wie wir sie insbesondere im Osten vorfinden,
werden durch den Fonds beseitigt.
({5})
- Wir fangen doch erst an, zu debattieren, Frau Kollegin
Bunge. - Ich stelle wiederum ganz sachlich fest, dass der
Osten auch von dieser Regelung profitieren wird.
Der dritte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die
Weiterentwicklung der Honorarsystematik hin zu festen
Preisen im Zuge der Gesundheitsreform. Die Honorare
werden zwischen Kassen und Regionen angeglichen.
Denn es ist für uns alle nicht nachvollziehbar, weshalb
unterschiedliche Kassenarten in einzelnen Regionen
gänzlich unterschiedliche Vergütungen bekommen. Im
Ergebnis - auch dieses muss wieder sachlich festgestellt
werden - wird davon der Osten profitieren.
Wir wissen, dass die medizinische Versorgung in einigen ostdeutschen Regionen kritisch zu bewerten ist. Allein im Lande Brandenburg - ich komme aus diesem
Land - werden bis zum Jahre 2010 mehr als ein Drittel
der ambulant praktizierenden Mediziner in den Ruhestand gehen. Die Suche nach Nachfolgern stellt sich als
schwierig dar. Daher werden bei der Sicherstellung der
Versorgung im neuen Gesetz Zu- und Abschläge bei der
Vergütung vorgesehen. Zuschläge gibt es in unterversorgten Regionen, um Anreize zur Niederlassung zu setzen. Auch die generelle Öffnung der Krankenhäuser zur
Erbringung der ambulanten Leistung kommt gerade den
schwach versorgten Regionen zugute. Zudem konnten in
den Verhandlungen die Voraussetzungen für die flexible
Erbringung von nicht ärztlichen Leistungen geschaffen
werden.
Ich möchte an dieser Stelle die Gemeindeschwester
- das entsprechende Projekt hat die brandenburgische
Ministerin Dagmar Ziegler ins Leben gerufen - besonders erwähnen.
({6})
- Gut, wir hatten das alles schon einmal. Aber ich denke,
es ist ein wichtiger Ansatz.
({7})
- Dann sind wir also unterschiedlicher Meinung, wer das
Amt der Gemeindeschwester zuerst eingeführt hat.
Ich denke, die Eckpunkte weisen in die richtige Richtung, weil wir wichtige medizinische Leistungen - das
möchte ich abschließend darstellen - neu in den Leistungskatalog aufgenommen haben.
Ich möchte zum Beispiel die Erweiterung des Impfkataloges, die Verbesserung der Palliativmedizin und die
Einführung von Mutter-Kind-Kuren - all das sind Leistungen, die noch nicht genannt worden sind und in der
Diskussion häufig untergehen - nennen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Dr. Rolf Koschorrek.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Wenn man in einer Debatte der Redner Nummer vier der eigenen Fraktion ist, dann ist eigentlich alles gesagt, nur noch nicht von einem selbst. Ich werde
zusehen, dass ich ein paar Punkte beleuchte, die noch
nicht angesprochen worden sind.
({0})
- Der besondere zahnärztliche Aspekt dieser Reform
muss vielleicht nicht erwähnt werden.
Zur Generalkritik der Opposition ist natürlich einiges
zu sagen. Wenn man die Debatten der letzten Wochen
verfolgt hat, hat man ganz unterschiedliche Vorwürfe erlebt. Noch vor wenigen Tagen wurde uns vorgeworfen,
dass durch die Reform mindestens 20 000 Arbeitsplätze
bei den Kassen verloren gehen. Heute wird beklagt, dass
wir 10 000 neue Arbeitsplätze schaffen.
({1})
Dann kommt vom Kollegen Bahr die für den Bereich der
Kinderstube durchaus eingängige Idee, ähnlich wie beim
Monopoly nach „Los“ zurückzugehen, 4 000 Euro zurückzuzahlen und noch einmal von vorn anzufangen.
({2})
- Stimmt, ich habe wirklich anderes zu tun.
Das zu Ende gedacht, brauchten wir natürlich eine gewaltige kollektive Amnesie. Denn all das, was in den
letzten Wochen und Monaten gesagt worden ist, liegt
nun einmal auf dem Tisch. Wir müssen dies abarbeiten
({3})
und nach vorne schauen; das nützt nun alles nicht. Wir
sind mit dieser Reform auf dem guten Weg, einige Dinge
wirklich nach vorne zu bringen.
Ich will auf solche Aspekte zu sprechen kommen, die
noch keine Erwähnung gefunden haben. Wir werden im
Bereich des Systems der ärztlichen Honorierung neue
Wege beschreiten. Wir werden vom Punktesystem wegkommen. Wir wollen hin zu verständlicher pauschalierter Honorierung.
({4})
- Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass über den gesamten Kosten im Gesundheitswesen ein Deckel
schwebt.
({5})
Das ist doch völlig unstrittig. Das wollen Sie doch nicht
im Ernst bestreiten. Wir wollen aber insgesamt zu verlässlicheren Systemen kommen. Wir werden das auch
erreichen.
Es wird eine deutlich bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung sowie die konsequente
Umsetzung der Möglichkeit geben, ambulante Leistungen auch an Krankenhäusern zu erbringen. Allerdings
wird es keine generelle Öffnung der Krankenhäuser zu
ambulanten Tätigkeiten geben.
Die Ansichten meines Kollegen Lauterbach, der heute
leider nicht da ist,
({6})
die niedergelassenen Fachärzte seien zu teuer und zumindest teilweise überflüssig, sind nicht Teil der Diskussion. Ich kann Ihnen versichern: Seitens der Union werden wir dafür sorgen, dass diese Ideen weiterhin keine
Chancen zur Umsetzung erhalten. Die Union ist sich mit
der Ärzteschaft einig, dass die Diskussion um die so genannte doppelte Facharztschiene völlig überflüssig ist.
Was wir vielmehr brauchen, ist eine sinnvolle Vernetzung des ambulanten und des stationären Bereiches, wobei der Patient zu dem Arzt geleitet wird, von dem ihm
am besten geholfen wird. Auf gesetzgeberische Maßnahmen können wir dann durchaus verzichten.
Die integrierte Versorgung wird ausgebaut. Es wird
eine Verlängerung der Anschubfinanzierung und die
Einbeziehung nicht ärztlicher Heilberufe geben. Die Prävention soll durch eine Bonus-Malus-Regelung nach
dem Vorbild - jetzt kommen wir doch dazu - des zahnärztlichen Bonussystems gestärkt werden. Wir machen
den Anfang zu einer teilweisen Steuerfinanzierung von
gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung.
({7})
Zentrale Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen, die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung und das Qualitätsmanagement, werden bestehen
bleiben. Die Krankenkassen erhalten eine wesentlich
größere Vertragsfreiheit. Sie können künftig Vereinbarungen treffen, die über die heute gültigen Kollektivvereinbarungen deutlich hinausgehen.
({8})
Alle Krankenkassen müssen Hausarzttarife anbieten,
wobei die Teilnahme für Ärzte und Patienten freiwillig
ist. Die Kassen können ihr Angebot gestalten und um besondere Tarife erweitern. Das gilt insbesondere für
Wahltarife, Chronikerprogramme und Selbstbehaltsysteme. Auch wollen wir - das sollte die FDP freuen - die
Möglichkeit der Kostenerstattung deutlich erweitern und
sie nicht mehr strafbewehrt lassen.
({9})
Bei der Festlegung der Erstattungshöchstpreise für innovative Arzneimittel wird die Kosten-Nutzen-Analyse
eine zentrale Rolle spielen. Sie ist keine zusätzliche
Voraussetzung für die Zulassung neuer Arzneimittel.
Entscheidend ist: Neue Präparate können auch künftig
verschrieben und erstattet werden, wenn noch keine Kosten-Nutzen-Bewertung vorliegt.
Das sind nur einige Bereiche, wo wir zeigen, dass wir
vorankommen wollen, dass wir die Systeme mit innovativen Ansätzen entbürokratisieren und für Arzt und
Patienten neue Möglichkeiten schaffen, weiterhin überprüfbare und gute Medizin leisten und in Anspruch nehmen zu können.
Danke schön.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Wolfgang Wodarg.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, der mir
sehr wichtig ist. Wir haben ja schon viele Gesetze verabschiedet und in diese Gesetze hineingeschrieben, was eigentlich geschehen müsste. Wir haben viel möglich gemacht: die Integrationsversorgung, spezielle Modelle.
Auch die Palliativ-Care könnte es schon längst geben;
die Verträge dürften gemacht werden. Aber das geschieht nicht; sie werden nicht gemacht.
Das ist ein großes Problem. Das heißt, es kommt nicht
so sehr darauf an, dass das nur in den Gesetzen steht
- dort steht schon sehr viel, zu viel -, sondern es kommt
darauf an, dass das Geschriebene gemacht wird. Deshalb
muss man sich fragen: Weshalb wurde einiges nicht gemacht?
({0})
Es ist ziemlich eindeutig und in diesem Haus schon
häufig angesprochen worden, dass es sich für eine Krankenkasse nicht lohnt, sich für chronisch Kranke einzusetzen, wenn die Krankenkasse, die den Auftrag hat, solche Strukturen vertraglich abzusichern, dafür nicht
belohnt wird.
({1})
Wir müssen Anreize installieren, wenn wir es mit all den
Dingen wirklich ernst meinen, die wir in das Gesetz jetzt
hineinschreiben wollen. Ohne Anreize werden sich die
Krankenkassen nicht um chronisch Kranke kümmern.
Das ist für mich der Maßstab dieser Reform. Wir können
uns nicht damit zufrieden geben, dass man sich auf einen
Text einigt.
({2})
Ich möchte den Risikostrukturausgleich noch einmal
ansprechen. Er ist für uns essenziell. Er ist von Anfang
an mit vereinbart worden. Er ist notwendig, weil mit ihm
dafür gesorgt werden soll, dass es Anreize gibt, sich um
chronisch kranke, alte und teure Versicherte zu kümmern.
({3})
Wenn wir den Risikostrukturausgleich abschwächen,
wenn wir Lücken in dieser Konstruktion schaffen, dann
werden diese Lücken mit Sicherheit genutzt werden; das
wissen wir doch alle. Wir wissen, dass 80 Prozent der
Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen, die wir unter
den Grundsatz des Wettbewerbs gestellt haben, von
10 Prozent der Versicherten verursacht werden. Eine
Krankenkasse, die sich in dieser Frage besonders anstrengt, ohne dass ihr das honoriert wird, wird im Wettbewerb einfach zugrunde gehen.
({4})
Die Krankenkassen sollen aber nicht zugrunde gehen;
sie sollen gute Arbeit leisten. Deshalb müssen wir hier
die Messlatte anlegen und das ernst nehmen.
({5})
Ich möchte mich gegen eines wehren: Es wird in diesem Hause der Wettbewerb glorifiziert und in unzulässiger Weise vereinfacht.
({6})
Es wird in einem Satz von dem Wettbewerb der Leistungserbringer und dem Wettbewerb der Krankenkassen
gesprochen. Was ist das für ein volkswirtschaftlicher
Blödsinn?
({7})
Wer so etwas macht, stellt sich wirklich in die Ecke.
Wenn sich Personen in einer Solidargemeinschaft organisieren, so ist das vom Staat gewollt und von uns verantwortet, damit keiner elend krepiert, wie das in anderen Ländern der Fall ist.
({8})
Vielmehr können wir stolz darauf sein, dass wir auch
den Menschen helfen, die keine guten Kunden sind, weil
sie nämlich kein Geld haben.
({9})
Deshalb müssen wir den Wettbewerb der Kassen untereinander genauer betrachten. Eine private Krankenkasse, die natürlich das Kapital der Anleger vermehren
soll, gehorcht anderen Gesetzen als eine Solidargemeinschaft unter staatlichem Schutz.
({10})
Auch wenn in unseren Reihen das Wort von dem fairen Wettbewerb zwischen privaten und Solidarkassen
immer wieder benutzt wird - ich kann mir das nicht so
richtig vorstellen. Mir fehlen einfach die Dimensionen,
um das vergleichen zu können. Ich halte es für irreführend, diesen Ausdruck zu benutzen.
Ich bin für einen wirklich starken Wettbewerb der
Leistungserbringer; denn wir sind verpflichtet, aus dem
Geld der Versicherten alles herauszuholen, damit wir unsere Kranken möglichst effizient versorgen können.
({11})
Dafür brauchen wir den Wettbewerb. Wir müssen den
Wettbewerb der Leistungserbringer verschärfen. Wie
macht man das denn in der Wirtschaft?
({12})
- Wie macht man das sonst?
({13})
Indem man sich zusammentut und Einkaufsgemeinschaften bildet. So macht das jeder Konzern. Schauen
Sie sich doch die großen Krankenhauskonzerne an.
Glauben Sie, jedes Krankenhaus kauft einzeln ein und
schließt einzeln Verträge ab? Nein, sie können nämlich
ganz andere Preise aushandeln, wenn sie sich zusammentun. Warum sollen die gesetzlichen Krankenkassen
das nicht auch können?
({14})
Warum sollen die gesetzlichen Krankenversicherungen
nicht von uns dazu gebracht werden, gemeinsam als
Nachfragemacht aufzutreten?
Wer sagt, die Krankenkassen sollten im Wettbewerb
gegeneinander arbeiten, der will die Solidargemeinschaft
spalten, der hat ganz andere Dinge im Sinn.
({15})
- Hören Sie mit diesem dummen Begriff auf. Dieser Begriff sagt doch überhaupt nichts aus. Es geht um politische Ziele. Weil wir staatlicherseits in der Verantwortung stehen, sind wir verpflichtet, aus den Steuergeldern
- Steuern erheben Sie genauso ungern wie wir - das
meiste herauszuholen.
({16})
Wir sind verpflichtet, Ausschreibungen vorzunehmen.
Es wird nicht so sein wie bei der Bundeswehr, wo jede
Kompanie selbst ausschreibt.
({17})
Wir passen auf, dass wir das Geld zusammenhalten und
auf eine vernünftige Art und Weise das Notwendige bestellen. Das hat mit „Einheitskasse“ überhaupt nichts zu
tun. Wir wollen aus dem Geld der Versicherten nur alles
herausholen, was wir herausholen können.
({18})
Deshalb müssen wir eine Lösung finden, die dafür
sorgt, dass Alte, Kranke und insbesondere chronisch
Kranke all das erhalten, was sie brauchen, um gesund zu
bleiben oder wieder gesund zu werden, und zwar auch
dann, wenn sie kein Geld haben.
({19})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte spricht nun die
Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr geehrter Herr Kollege Bahr, warum haben Sie diese
Aktuelle Stunde eigentlich beantragt? Die zwei Redner
Ihrer Fraktion haben nicht einmal in einem Halbsatz gesagt, wie die FDP-Fraktion die Probleme des Gesundheitswesens, vor allen Dingen die Finanzierungsprobleme, lösen will.
({0})
Ich habe nichts dazu gehört. Ich weiß nicht, ob es den
übrigen Kolleginnen und Kollegen anders gegangen ist.
Das, was Sie gemacht haben, war business as usual.
Wir wollen - das stellen wir mit dieser Reform
sicher -, dass alle auch in Zukunft die medizinisch notwendige Versorgung erhalten und dass vor allen Dingen
alle weiterhin Zugang zum medizinischen Fortschritt haben. Das ist die erste Reform ohne Leistungsausgliederung, ohne eine Verschiebung zulasten der Versicherten.
Das sollten Sie anerkennen.
({1})
- Ich komme gleich dazu. Nur Geduld, lieber Herr Kollege.
Wenn ich mir die Vorschläge aus Ihrem Wahlprogramm anschaue,
({2})
kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Mit Blick
auf viele Patientinnen und Patienten in diesem Land
kann ich nur sagen: Gute Nacht!
({3})
Wir haben viele Verbesserungen im strukturellen Bereich erreicht. Wir haben vieles erreicht, was man uns in
dieser Regierungskoalition überhaupt nicht zugetraut
hat.
({4})
- Herr Niebel, Sie trauen vor allen Dingen sich selbst alles zu, sonst würden Sie nicht so dazwischenrufen. - Ich
will Ihnen eines sagen: Die hinzugekommenen Wettbewerbselemente werden die Effizienz des Systems deutlich steigern. Wenn Sie „Wettbewerb“ sagen, aber
gleichzeitig das Apothekermonopol und andere „Gartenzäune“, die es in dieser Republik gibt, erhalten wollen,
dann ist das unglaubwürdig.
({5})
Sie wollen den Wettbewerb nur dort, wo er Ihnen recht
ist; dort, wo er notwendig wäre, verhindern Sie ihn aber.
Das ist die Position der FDP.
({6})
- Schreien Sie doch nicht so dazwischen! Lassen Sie
sich doch von Ihrer Fraktion als Redner aufstellen oder
beantragen Sie noch eine Aktuelle Stunde. Die Regeln
der Aktuellen Stunde sehen leider keine Zwischenfragen
vor.
Meiner Fraktion und mir wäre es lieber gewesen
- auch das muss ich sagen -, wenn wir in der Frage
„grundlegende Stabilisierung der Finanzierung und
nachhaltige Finanzierung der GKV“ weitergekommen
wären. Das ist aber nicht an den Kolleginnen und Kollegen im Haus gescheitert, weder an den Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion noch an denen unserer
Fraktion. Ein paar Landesfürsten haben leider plötzlich
Angst vor der eigenen Courage bekommen.
({7})
In den letzten Tagen und Wochen wurden aus Kreisen
der Unionsministerpräsidenten Nachforderungen gestellt. Das betrifft ausgerechnet immer wieder den Punkt
soziale Ausgewogenheit. Ich bin sehr dankbar, dass Frau
Merkel heute klargestellt hat, dass sie dafür ist, dass niemand überlastet werden soll. Sie hat gesagt: Das Ganze
muss praktikabel sein. Der Auffassung sind auch wir. Sie
hat außerdem gesagt, dass die Krankenkassen mit älteren
und schlecht verdienenden Mitgliedern nicht in die Insolvenz geführt werden dürfen. Damit sind wir sehr einverstanden. Ich bin mir sicher, dass wir auf dieser Basis
diesen einen Punkt auch noch zu einer Lösung führen.
Nur kann ich nicht verstehen, dass der neue Gesundheitsexperte Göhner dann heute verlautbart: Der Fonds
kommt nur, wenn die 1-Prozent-Regelung wegfällt. Ich glaube, da gibt es noch ein bisschen Klärungsbedarf.
({8})
Für uns ist ganz klar - damit möchte ich auf den Kollegen Wodarg zurückkommen -, dass beim Fondsstart
faire Wettbewerbsbedingungen vorhanden sein müssen.
Auch Herr Kollege Zöller hat das zu Beginn seiner Rede
gesagt. Darüber werden wir morgen noch zu diskutieren
haben. Dazu gehört ein sehr zielgenauer Risikostrukturausgleich. Auch das müssen wir gewährleisten.
Ich sage hier noch einmal - ich habe das schon an anderer Stelle gesagt -: Für uns ist die Voraussetzung dafür, dass der Fonds starten kann, ein sehr zielgenauer Risikostrukturausgleich,
({9})
die Gleichzeitigkeit des Fondsstartes und des Risikostrukturausgleichs
({10})
und vor allen Dingen auch, dass es eine Belastungsobergrenze von 1 Prozent gibt, wie wir sie gemeinsam in den
Eckpunkten vereinbart haben.
({11})
Auf dieser Basis - da bin ich mir sicher - kommen wir
hier weiter.
({12})
Noch ein Wort zur FDP. Sie wollen ja gerne das ganze
Gesundheitswesen privatisieren.
({13})
Sie wollen alles über private Versicherer machen. Wenn
ich mir ansehe, welches Armutszeugnis die privaten
Krankenversicherer sich letzte Woche ausgestellt haben
mit der Aussage, wenn sie jetzt auch noch Kranke versichern müssten, dann müssten die Beiträge um 70 Prozent erhöht werden,
({14})
dann kann ich wirklich nur sagen, dass jeder gut beraten
ist, es sich vier Mal zu überlegen, ob er von der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung zur
privaten Krankenversicherung wechselt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. September
2006, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.