Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/22/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, Punkt 28 - Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland“ - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Annahme einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 16/2620 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man ist ja fast versucht, jeden der anwesenden Kollegen per Handschlag und mit Namen zu begrüßen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das geht dann aber von Ihrer Redezeit ab.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deswegen erspare ich mir das, Herr Präsident. - Ich glaube nicht, dass dies der Bedeutung der heutigen Debatte gerecht wird. Bundestag und Bundesregierung schließen heute nämlich eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union, wie es etwas nüchtern heißt. Es geht dabei jedoch weniger um rein organisatorische und technische Fragen der europapolitischen Kooperation zwischen Parlament und Regierung. Vielmehr wagen wir mit dieser Vereinbarung mehr Parlamentarismus und Demokratie. Der Bundestag kann zukünftig das Gesicht Europas stärker gestalten als jemals zuvor. Diese Vereinbarung ist längst überfällig. ({0}) Wir alle, die sich mit Europa beschäftigen, spüren: Die Idee eines vereinigten Europas hat in den vergangenen Jahren an Strahlkraft verloren, und zwar nicht nur bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Medien und vielen Organisationen, sondern auch bei uns: In allen Fraktionen ist das Unbehagen gegenüber der europäischen Integration gewachsen. Viele von uns schimpfen über den Bürokratiekoloss in Brüssel. Nicht wenige schütteln den Kopf über die vermeintlich weltfremde europäische Gesetzgebungsmaschinerie. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen bedauern den sinkenden Einfluss nationalen Handelns. Viele sehen keine Spielräume mehr für eigene Akzente und Ideen, wenn es gilt, Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. In den Augen einiger von uns ist die EU nur noch ein Büttel der Globalisierung und nicht mehr das Instrument, um Globalisierung demokratisch und sozial zu gestalten. Das ist eine ziemlich deprimierende Zustandsbeschreibung. Ich halte diese Beschreibung aber für falsch. Auch wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind Europa. Wir sind Teil der europäischen Gesetzgebung. Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die auch Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind. Auch wir tragen in hohem Maße für dieses Europa Verantwortung. Daher müssen wir Europa parlamentarisieren. Wir müssen unser Parlament europäisieren. Auf diesem Weg sind wir mit der Vereinbarung gemeinsam einen großen Schritt vorangekommen. ({1}) Redetext Michael Roth ({2}) Auch das ist im parlamentarischen Alltag selten. Aber es ist folgerichtig. Wenn Parlamentsrechte unmittelbar berührt sind, dann sollten die traditionellen Linien zwischen der Opposition einerseits und der Koalitionsmehrheit andererseits verschwimmen. Ich danke daher ausdrücklich den Kollegen Rainder Steenblock, Markus Löning, Alexander Ulrich, Thomas Silberhorn, Michael Stübgen und Axel Schäfer. Ich danke auch den Vertretern der Bundesregierung, Staatsminister Günter Gloser und Staatssekretär Peter Hintze, die für die Bundesregierung die Verhandlungen führten. Bei ihnen hat man das parlamentarische Herz noch sehr stark schlagen gehört; auch das hat sicherlich zum Erfolg der Beratungen beigetragen. ({3}) Dank gilt aber auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Hintergrund engagiert und hoch kompetent zum Erfolg beitrugen. Der europäische Gesetzgebungsprozess ist bislang stark von der Exekutive geprägt; im Rat sitzen Ministerinnen und Minister. Unser Auftrag ist es, innerstaatlich deren Handeln zu kontrollieren und Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Zukünftig werden die Informationsrechte des Bundestages erheblich ausgeweitet. Alle Bundestagsabgeordneten haben Zugang zu allen Dokumenten und Berichten der EU-Kommission, des Rates und der Bundesregierung. Endlich befinden wir uns mit dem Bundesrat auf einer Augenhöhe. Die im Verhältnis zum Bundestag bedenklich starke Position der Länderregierungen, zugrunde gelegt im Art. 23 Grundgesetz, war, ist und bleibt für uns ein Ärgernis. Daran hat auch die Föderalismusreform substanziell nicht viel geändert. ({4}) Im Bereich der originären Bundeszuständigkeiten - Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Handelspolitik - verfügen wir zukünftig über mehr Informationsrechte als der Bundesrat. Stellungnahmen des Bundestages werden verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bundesregierung im Rat. Abweichen kann die Bundesregierung nur dann, wenn sie es mit außen- oder integrationspolitischen Gründen zu rechtfertigen vermag. Die Bundesregierung ist verpflichtet, Rechenschaft gegenüber dem Bundestag abzulegen. Bei grundlegenden europäischen Weichenstellungen - Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, Vertragsänderungsverfahren - muss sich die Bundesregierung um ein Einvernehmen mit dem Bundestag bemühen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gefällt nicht allen. Einige Kommentatoren sprechen von neuer Blockade in der Europapolitik. Ein vermessener Vorwurf! Kann man von Blockaden sprechen, wenn der Bundestag zu einer besseren Gesetzgebung beizutragen versucht? Kann man von Blockaden sprechen, wenn wir nicht erst bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, sondern schon bei deren Erarbeitung Einfluss zu nehmen versuchen? Kann man von Blockaden sprechen, wenn Abgeordnete die Europapolitik des Bundes auf ein breiteres Fundament stellen? Parlamente sind kein überflüssiges Beiwerk, kein Sahnehäubchen, sondern das Fundament unserer Demokratie. Die Beratungen über die Dienstleistungsrichtlinie zeigen auf eindrucksvolle Weise, wie frühzeitige und umfassende Mitwirkung von Abgeordneten zu besserer Rechtsetzung führen kann. Lassen wir diesem Beispiel weitere folgen! ({5}) Wir übernehmen zukünftig verstärkt Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Schutzbehauptung einzelner von uns, man habe nichts gewusst und nichts gehört, gilt nicht länger. Diese Verantwortung verpflichtet uns zu größerem Einsatz, größerer Aufmerksamkeit, größerer Sorgfalt und größerer Wertschätzung gegenüber den Europapolitikerinnen und -politikern im ganzen Hause. Europa darf auch nicht länger nur Angelegenheit der Mitglieder des Europaausschusses sein. Wir brauchen den Sachverstand aller Fachpolitikerinnen und -politiker. Außerdem müssen dieser Vereinbarung weitere Schritte folgen: mehr europapolitische Kompetenz in der Bundestagsverwaltung und in unseren Fraktionen, Änderungen der Geschäftsordnung, die die Zusammenarbeit zwischen Fachausschüssen und EU-Ausschuss verbindlicher regeln, sowie ein Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel, nicht in Konkurrenz, sondern in Partnerschaft zu unserer ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Dies sollten wir selbstbewusst nach außen vertreten; schließlich folgen wir damit dem Beispiel fast aller nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Wir brauchen eine noch engere Kooperation mit dem Europäischen Parlament in der Gesetzgebung. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, einen kontinuierlichen Kontakt zu unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament zu halten. Dennoch ist dies notwendig, um die Rechtsetzung zu verbessern. Außerdem brauchen wir hier im Bundestag regelmäßigere Plenardebatten zu aktuellen europapolitischen Projekten. Wir brauchen schlussendlich eine EU-Verfassung. Wir brauchen eine europäische Verfassung, weil sie Europa handlungsfähiger und demokratischer macht und weil sie den nationalen Parlamenten weitere Mitwirkungsrechte eröffnet. Niemand von uns sollte sich der Illusion hingeben, dass auf einen Schlag alles besser wird. Aber es gilt nun die großartige Chance zu nutzen, die uns die zur Diskussion stehende Vereinbarung eröffnet. Auch wenn es heute nicht danach aussehen mag - wir beraten ja in überschaubarer Runde -, könnte diese Vereinbarung durchaus einen bedeutenden Platz im Geschichtsbuch des Parlamentarismus in Europa finden. Allein, es liegt in unserer Hand. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Michael Roth ({6}) ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDPFraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir als ersten Satz aufgeschrieben - so ähnlich hat es auch der Kollege Roth gerade formuliert -: Das wurde Zeit. Seit 1993 existiert eine solche Vereinbarung zwischen Bundesrat und Bundesregierung. Zwar möchte ich mich dem berechtigten Lob meiner Vorredner aus vollem Herzen anschließen und hinzufügen, dass wir, die Opposition, von den Koalitionsfraktionen und den Mitgliedern der Bundesregierung, die das verhandelt haben, sehr fair behandelt wurden. Dafür gebührt ihnen unser Dank, insbesondere den Herren mit den zwei Herzen in der Brust, Herrn Gloser und Herrn Hintze. ({0}) Dennoch möchte ich kritisch fragen - diese Frage stellt sich für mich leicht, weil ich dem Bundestag erst seit 2002 angehöre -, was mit den Kollegen eigentlich los gewesen ist, die seit 1993 dabei sind und die gewusst haben, dass der Bundesrat und die Bundesregierung eine solche Vereinbarung beschlossen haben. Welches Selbstverständnis hatte der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren? Wir, die Abgeordneten, sollten uns also nicht nur lobend äußern, sondern auch deutlich machen, dass so etwas nicht wieder passieren darf. Der Bundestag braucht in Zukunft deutlich mehr Selbstbewusstsein. Das ist auch das richtige Stichwort im Hinblick auf diese Vereinbarung. In der Substanz stimmen wir alle der Vereinbarung zu. Nun muss diese Vereinbarung aber auch umgesetzt werden. Dabei wird es verstärkt darauf ankommen, dass nicht nur wir als Fachabgeordnete, die Europapolitiker, uns damit beschäftigen, sondern dass auch in den Fachbereichen und den Fachausschüssen - egal ob es nun die Bereiche Arbeit, Inneres, Justiz oder Finanzen sind; ich begrüße es deshalb außerordentlich, dass die Bundesregierung mit einer ganzen Reihe von Fachministern vertreten ist - an den europapolitischen Vorlagen zu einem Zeitpunkt gearbeitet wird, zu dem wir noch Einfluss nehmen können. Wir müssen unsere Arbeitsweise umstrukturieren und früher in die Prozesse eingreifen. Ich appelliere insbesondere an die Koalitionsabgeordneten: Haben Sie die Traute, der Bundesregierung zu sagen, in welche Richtung sie marschieren soll! Es wird darauf ankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass Sie der Bundesregierung gegebenenfalls die Leviten lesen und sagen: Wir, die Parlamentarier, bestehen darauf, dass es behandelt wird und dass ein bestimmter Beschluss gefasst wird. - Sie können sich darauf verlassen, dass wir, die Opposition, das auf jeden Fall machen werden. ({1}) Die große Chance der Vereinbarung besteht in zwei Dingen. Zum einen wird das Demokratiedefizit in Europa ein Stück weit abgebaut. Wir haben immer beklagt, dass Europa zu undemokratisch ist und dass die Parlamentarier zu wenige Mitspracherechte haben. Das ändern wir mit dieser Vereinbarung. Die Parlamentarier können wieder mitreden, und zwar dann, wenn sie die Entscheidungen noch beeinflussen können. Zum anderen versetzt uns die Vereinbarung in die Lage - das halte ich für fast noch wichtiger -, Debatten in Europa, die bislang mehr oder weniger unter Ausschluss der nationalen Öffentlichkeit geführt werden, in den Fokus der nationalen Öffentlichkeit zu rücken. Wir können Europaangelegenheiten im Deutschen Bundestag thematisieren und so die Aufmerksamkeit der deutschen Bürger und der deutschen Medien darauf lenken. Wir können hier Europaangelegenheiten, über die bislang in Brüssel hinter verschlossenen Türen beraten wurde, thematisieren, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem wir noch Einfluss ausüben können. Wir tragen eine große Verantwortung, das auch zu tun. Nur wenn für die Bürger deutlich wird, dass wir zu einem Zeitpunkt mitreden können, zu dem noch ein Eingreifen möglich ist, werden wir in der Lage sein, die Europamüdigkeit der Bürger zu bekämpfen und den Bürgern zu zeigen, dass man bei Europa mitreden kann. Man kann es vielleicht auf folgenden Nenner bringen: Es wird unsere Aufgabe sein, anhand dieser Vereinbarung in den nächsten Jahren das Raumschiff Brüssel dazu zu bringen, öfter hier in Berlin auf dem harten Boden der Realität zu landen und sich hier mit den Tatsachen vor Ort auseinander zu setzen. Ich glaube, das ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, die in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann mit Blick auf die nicht übermäßige Präsenz vielleicht auch formulieren, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die jetzt nicht hier sind, ein derartig fundamentales Vertrauen in uns haben, dass sie wissen, dass wir das vernünftig und richtig hinbekommen, und sie sich den wichtigen tagespolitischen Aktivitäten widmen können. ({0}) Wenn wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung, über die wir jetzt beraten und die Gegenstand unseres Antrags ist, verabschieden und wenn sie in Kraft tritt, ist das eine entscheidende Wegmarke in einem ungefähr 15 Jahre währenden Prozess. Wir haben in Deutschland und in Europa mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages 1992 endgültig die Wende von Außenpolitik in Europa zu europäischer Innenpolitik eingeleitet. Während des Zeitraums der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages hat sich der Bundesrat richtigerweise - darauf ist schon hingewiesen worden - umfassende Informations- und Mitwirkungsrechte bei der europäischen Rechtsetzung gesichert. Der Bundestag hat sich damals bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages - ich war damals nicht nur dabei, sondern auch Berichterstatter - deutlich weniger Informationsrechte und faktisch keine Mitwirkungsrechte gesichert. Man könnte lange darüber spekulieren, warum das so ist und warum es fast 15 Jahre gedauert hat, bis wir eine Zusammenarbeitsvereinbarung, die der des Bundesrates gleichwertig ist, abschließen konnten. Auf jeden Fall war es so, dass dieses Thema in den Ausschüssen des Bundestages immer wieder beraten worden ist. Das geschah aber nach dem klassischen Schnittmuster, das wir bei vielen wichtigen Themen kennen. So haben SPDFraktion und Grüne dieses Thema immer wieder aufgegriffen, aber sie haben 1999 gänzlich den Mut verloren, nachdrückliche Forderungen zu stellen. Ich muss zugeben, dass auch CDU/CSU und FDP diesen Mut, etwas zu fordern, erst 1999 gewonnen haben. Es ist nun einmal einfacher, aus der Opposition heraus Forderungen zu stellen, als wenn man Verantwortung in der Regierungskoalition trägt. Ich sage das deshalb, weil ich unterstreichen möchte, von welch besonderer Bedeutung die Tatsache ist, dass dieser Zusammenarbeitsvereinbarung, die wir heute beschließen, von allen Fraktionen dieses Hauses zugestimmt worden ist. Ich glaube, das ist ganz entscheidend für die Qualität dieser Vereinbarung. ({1}) Wir werden mit dieser Vereinbarung neue Wege in der Europapolitik und der Befassung mit Europapolitik in diesem Bundestag gehen. Wir werden in Zukunft ein allumfassendes Informationsrecht für alle europäischen Belange haben. Wir werden alle Dokumente und Berichte der Gemeinschaftsorgane, der Kommission und ihrer Dienststellen, des Rates und seiner Arbeitsgruppen, und auch die Dokumente der ständigen Vertretung in Brüssel zu allen europäischen Aktivitäten bekommen. Wir werden sie sehr frühzeitig bekommen, nämlich nach spätestens zehn Tagen. Sofern es sich um Rechtsetzungsakte handelt - das ist ein Punkt, der mir bei den Verhandlungen besonders wichtig war -, werden wir innerhalb dieser zehn Tage von der Bundesregierung eine umfassende Folgenabschätzung, eine Prüfung der Rechtsgrundlage und eine Subsidiaritätsprüfung bekommen. Das ist deshalb wichtig, weil wir im Gegensatz zum Bundesrat nicht die Expertise haben, das alles in unserem Haus mit unseren Referenten und Ausschusssekretariaten prüfen zu können. Wir werden in Zukunft die Möglichkeit haben, auf die Expertise der Bundesregierung und ihrer Europaexperten zurückzugreifen. Es ist wichtig, dass wir uns auch in diesem Fall umfassend informieren können. Es wird in einem zweiten Kernbereich eine entscheidende Weichenstellung geben. Es geht um unsere Mitwirkungsrechte. Jeder weiß, dass in Art. 23 Grundgesetz Mitwirkungsrechte für den Deutschen Bundestag definiert sind. Jeder von uns weiß auch, wie sie in den letzten 15 Jahren angewandt oder eher nicht angewandt worden sind. Wir schaffen mit dieser Vereinbarung nun Kernbereiche, in denen der Deutsche Bundestag stärker als bisher und eindeutiger als bisher bei der europäischen Rechtsetzung mitwirken kann. Ich will kurz auf drei Kernbereiche eingehen. Wenn der Deutsche Bundestag in Zukunft nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss zu einem europäischen Rechtsetzungsvorhaben fasst, dann wird dieser Beschluss von der Bundesregierung nicht nur zu berücksichtigen sein, wie das bisher der Fall ist, sondern dieser Beschluss wird für die Bundesregierung eine verbindliche Grundlage für ihre Verhandlungen bei den europäischen Räten sein. Wir führen in diesem Zusammenhang ein neues Instrument ein, das auf unsere Beschlussfassung folgt. Wenn die Bundesregierung bei ihren Beratungen in den europäischen Räten die wesentlichen Grundlagen unseres Beschlusses nicht umsetzen kann, was natürlich vorkommen kann, dann wird sie einen Parlamentsvorbehalt einlegen und sich bemühen, vor der endgültigen Beschlussfassung im Europäischen Rat Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Das heißt, wir werden in jedem Fall die Möglichkeit haben, uns mit den neuen Rahmenbedingungen hier im Bundestag zu befassen und uns eine eigene Meinung zu bilden. ({2}) Bei einem anderen Schwerpunkt geht es um, wie ich es nenne, politisch schwerwiegende Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union. Ein Beispiel ist die so genannte Passerelle. Das heißt, der Europäische Rat kann einstimmig beschließen, dass in bestimmten Politikbereichen der Europäischen Union nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich ist, sondern die Mehrheitsentscheidung genügt. Solche Entscheidungen sind politisch deutlich brisanter, als auch ich mir das vor 15 Jahren noch vorgestellt habe, als dieses Verfahren eingeführt wurde. Es geht dabei nämlich darum, dass die Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit verliert, und zwar endgültig, in diesen Politikbereichen durch ein Veto irgendeine europäische Rechtsetzung, die dann ja auch für Deutschland verbindlich ist, aufzuhalten. Die Bundesregierung hatte auf der Grundlage der alten Zusammenarbeitsvereinbarung bisher die Auffassung, dass es für diese Vorhaben keine besondere Information des Bundestages und auch kein Mitentscheidungsrecht des Bundestages gebe, weil nämlich alle diese Möglichkeiten schon bei der Ratifizierung von europäischen Verträgen ziemlich genau festgelegt worden seien, allerdings pauschal. Wir legen in dieser Vereinbarung nun fest, dass es sich dann, wenn solche Vorhaben beraten werden, um Vorhaben im Sinne dieser Vereinbarung handelt. Das heißt, wir werden allumfassende Informationsrechte und die vollen Mitwirkungsrechte haben. Es wird eine öffentliche Debatte dazu geben, sodass auch die Bürger von solch entscheidenden Vorhaben mehr erfahren. ({3}) In einem weiteren Bereich geht es darum, dass die Europäische Union bestimmte Beschlüsse fasst, der Europäische Rat zum Beispiel Beitrittsverhandlungen mit einem assoziierten Land oder Vertragsveränderungsverhandlungen aufnimmt. Wir alle wissen, dass eine solche Entscheidung im Vorhinein viel wichtiger ist als letztlich die Ratifizierung, bei der wir nur noch Ja oder Nein sagen können und faktisch - jedenfalls in der Koalition - eigentlich gar nicht mehr Nein sagen können. Entscheidend ist, dass wir vor solchen Beschlüssen damit befasst werden. Hierzu wird geregelt, dass die Bundesregierung in Zukunft vor Beginn von Beitritts- oder Vertragsveränderungsverhandlungen versucht, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Auch hierzu werden wir eine öffentliche Debatte haben. Hierüber können wir uns ebenfalls eine Meinung bilden. Sowohl die Bundesregierung als auch wir werden der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft darüber ablegen müssen und können, warum wir uns für oder gegen solche Entscheidungen aussprechen. Diese Zusammenarbeitsvereinbarung wird fundamentale Auswirkungen auf unsere tägliche Arbeit, auf die Arbeit eines jeden Kollegen haben. Es wird sich zum Beispiel die Menge an Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sehr stark verändern. Wir werden in Zukunft eine Informationsflut bekommen, die mir manchmal schon Angst macht. Vor allen Dingen wird für uns wichtig sein, dass wir in der Lage sind, die wirklich wichtigen und entscheidenden Informationen rechtzeitig herauszufiltern und mit ihnen zu arbeiten, um Einfluss auf die europäische Rechtsetzung nehmen zu können. Ich sage es unumwunden: Wir brauchen, und zwar möglichst bald, eine Datenbank für diese Informationen. Ich weiß, der Bundesrat hat viele Jahre an solch einer Datenbank gearbeitet. Es handelt sich dabei auch um ein sehr komplexes und kompliziertes Verfahren. Ich will dazu nur sagen: Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, gemeinsam mit dem Bundesrat kollegial solch eine Datenbank zu nutzen. Symbolisch ist das auch sehr vernünftig, weil wir beide ja die Verfassungsorgane sind, die über europäische Rechtsetzung mitentscheiden können. ({4}) Es wird aber auch etwas Positives passieren. Ich glaube, fast jeder von Ihnen hat schon das frustrierende Erlebnis gehabt, dass man Berichterstatter für einen Richtlinienvorschlag der Europäischen Union geworden ist, sich dann intensiv damit beschäftigte, aber dann, wenn man aufs Datum schaute, oft merkte, dass die Richtlinie zwei bis drei Jahre alt war und in den europäischen Gremien schon längst umgesetzt worden war. Trotzdem wurde darüber beraten und man musste sich intensiv damit beschäftigen. Zum Schluss konnte man nur noch mutig „Kenntnisnahme“ empfehlen. Diese frustrierenden Erlebnisse werden der Vergangenheit angehören. Wir sind jetzt in der Lage, uns bei Rechtsetzungsvorhaben zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Beratungen einzumischen. Wir werden in der Lage sein, europäische Rechtsetzung mitzugestalten. Wir müssen dies aber auch tun. ({5}) Wenn wir uns in Zukunft nicht bewegen, wird sich auch in der Art und Weise der Behandlung der Europapolitik nichts ändern. Das heißt, diese Zusammenarbeitsvereinbarung gibt uns die Möglichkeit, Europapolitik mitzugestalten. Unsere Aufgabe ist es, dies dann auch zu tun. Wir werden also in Zukunft hoffentlich die Lust haben, europäische Politik direkt mitzugestalten. Wir werden aber auch die Last haben, dass sich das Ausmaß des Aufwands von jedem Einzelnen von uns für die Beschäftigung mit europäischer Politik massiv ausweiten wird. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben darauf hingewiesen, dass die Anwesenheit der Abgeordneten bei diesem doch wichtigen Thema sehr bescheiden ist. Es steckt vielleicht auch eine gewisse Symbolik dahinter, dass mehr Zuschauer, die ich ganz herzlich begrüße, als Abgeordnete da sind. Es zeigt nämlich, dass scheinbar die Menschen in diesem Land mehr Interesse an Europa haben, als der Bundestag bisher an den Tag gelegt hat. Das zeigt mir aber auch - Herr Löning, auch Sie haben das ja kritisiert -, warum es so lange gedauert hat, bis es zu dieser Vereinbarung gekommen ist. ({0}) - Wir beide waren nicht dabei; da gebe ich Ihnen Recht. Es ist aber auch wichtig, festzuhalten, dass mit dieser Vereinbarung, die wir heute verabschieden, der Aufruf an uns alle ergeht, sie mit Leben zu erfüllen. Wir haben monatelang um diesen interfraktionellen Antrag gerungen, über ihn verhandelt und auch gestritten. Es kommt jetzt wirklich darauf an, wie die einzelnen Abgeordneten diese erweiterten Rechte des Bundestages wahrnehmen. Nur dann, wenn das geschieht, entfaltet diese Vereinbarung eine langfristige Wirkung. Wir von der Fraktion Die Linke begrüßen die vorliegende Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Verbesserung der Europatauglichkeit dieses Hauses. Es gibt jedoch - das ist angemerkt worden - bereits seit 1993 eine ähnliche Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Länderregierungen. Der 15. Deutsche Bundestag hatte bereits ein verstärktes Mitwirkungsrecht in EU-Angelegenheiten angemahnt. Wahrscheinlich musste jedoch erst die Linke in den Bundestag einziehen - das ist jetzt etwas scherzhaft gemeint -, um den notwendigen Rückenwind für das Gelingen dieser Vereinbarung zu geben. ({1}) der Urin, b) die Gedanken!) Es ist gut, dass es in den Verhandlungen nicht um Partei- und Fraktionsinteressen ging, sondern uns die Rechte des Bundestages so wichtig waren, dass ein interfraktionelles Handeln möglich wurde. Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung ist ein zentraler Baustein für eine stärkere Einbeziehung des Bundestages in Fragen der Europapolitik. Der Auftrag des Grundgesetzes, das gesetzgeberische Handeln der Bundesregierung im Europäischen Rat zu legitimieren, soll damit weitaus besser als bisher abgesichert werden. Es geht nicht darum - darin sind sich alle Fraktionen einig -, neue Blockaden in der Europapolitik zu errichten. Vielmehr geht es darum, die Europapolitik des Bundes auf eine breitere Grundlage zu stellen und innerstaatlich zu einer besseren Gesetzgebung der Europäischen Union beizutragen. Was ist das Neue an der Vereinbarung? Die Informationsrechte des Bundestages werden erheblich ausgeweitet, das heißt, die bisherige Informationspraxis wird um schriftliche Berichte, Bewertungen und Folgenabschätzungen ergänzt. Darüber hinaus geht eine Initiative der Europäischen Kommission in dieselbe Richtung. Die nationalen Parlamente sollen und müssen stärker in die Konzipierung und Durchführung der EU-Politik eingebunden werden. ({2}) Diese Einbeziehung des Bundestages ist wichtig und ein Fortschritt, gerade in Anbetracht der deutschen Ratspräsidentschaft, die auch eine Präsidentschaft des Bundestags sein sollte. Neu ist außerdem, dass die Stellungnahmen, die das Parlament gemäß Art. 23 Grundgesetz abgeben kann, verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bundesregierung im Europäischen Rat sein werden. Die Bundesregierung darf nur aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen von den Stellungnahmen abweichen. Der Bundestag wird somit zu einem neuen, besseren politischen Akteur in der europäischen Gesetzgebung und er wird bei Entscheidungen von grundlegender Bedeutung stärker einbezogen. Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, sich vor der Eröffnung von Vertragsänderungsverfahren oder Beitritten um Einvernehmen mit dem Parlament zu bemühen. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Regierungsfraktionen ihre erweiterten Rechte immer und tatsächlich nutzen werden, wird sich die Fraktion Die Linke auch weiterhin aktiv in die Gestaltung der Europapolitik einbringen. ({3}) Um die Vorfeldbeobachtung in Brüssel zu gewährleisten, wird eine Vertretung des Bundestages in Brüssel errichtet. Jede Fraktion wird Beschäftigte nach Brüssel entsenden. Vielen Dank auch an die Haushälter für die zusätzlichen finanziellen Mittel! Verglichen mit anderen Mitgliedstaaten reagiert Deutschland auf die enorme Wichtigkeit der Europapolitik aber sehr spät. Wir gehören zu den Nachzüglern: Großbritannien, Schweden und Finnland verfügen bereits seit Jahren über gut ausgebaute, effektive Strukturen in Brüssel. Ich möchte hier nur Dänemark erwähnen. Dort wurden die Beteiligungsrechte des Parlaments bereits 1973 im Gesetz über den Beitritt zur EWG niedergelegt. Die Union der 25 - bald 27 - Mitgliedstaaten muss handlungsfähig bleiben. Die Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von Europa ist groß. Das zeigt sich nicht nur in der Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden. Fakt ist, Europa geht in die falsche Richtung: weniger friedlich, weniger sozial und ohne grundlegende Demokratisierung. Mehr als 60 Prozent der Gesetzesinitiativen haben ihren Ursprung in Brüssel. Dem deutschen Bürger verbleiben maximal 40 Prozent an demokratischer Einflussnahme. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner berühmten Maastrichtentscheidung die besondere Bedeutung der Parlamente der Mitgliedstaaten für die demokratische Legitimation europäischer Politik hervorgehoben - ich zitiere -: Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Dem wird der Bundestag bisher nicht gerecht. Vielmehr werden die Bürgerinnen und Bürger systematisch entmündigt und sie büßen politische Macht und Möglichkeiten ein. Gerade die sozialen Bedürfnisse der europäischen Bevölkerung werden ständig ignoriert. Als Beispiel nenne ich bloß die Dienstleistungsrichtlinie, die dem Sozialdumping Tür und Tor öffnen wird. Im Europa der 25 hat sich ein dramatisches Gefälle im Wohlstands- und wirtschaftlichen Entwicklungsniveau abgezeichnet. Gerade einmal die Hälfte der neuen Mitgliedstaaten erzielt ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von mehr als 50 Prozent des EU-15-Durchschnitts. ({4}) Von einer Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen auf europäischer Ebene ist man, vom derzeitigen Stand aus gesehen, sehr weit entfernt. Für die Bürgerinnen und Bürger existiert sie praktisch nicht. Die EU braucht eine demokratische und handlungsfähige Struktur, das bedeutet, sie braucht nicht mehr undurchschaubare bürokratische Prozesse, sondern transparente, für jeden Bürger nachvollziehbare Entscheidungen. Neben der verbesserten Beteiligung des Bundestages müssen wir bei wichtigen europäischen Fragen aber auch die Bevölkerung einbeziehen. ({5}) Wir müssen beim Thema Europa mehr direkte Demokratie wagen und die Bevölkerung zum Beispiel über eine veränderte EU-Verfassung in einer Volksabstimmung entscheiden lassen. ({6}) Ich begrüße ausdrücklich, dass heute in der „Financial Times Deutschland“ steht: Merkel offen für geänderten EU-Vertrag. Ich wünsche mir, dass auch die anderen Fraktionen im Europaausschuss sagen: Dieser EU-Vertrag muss geändert werden; er muss dem Volk in einer Volksabstimmung vorgelegt werden. ({7}) Wir, die Linke, fordern, die Politik der geschlossenen Türen zu beenden. Wer die europäische Krise beenden will, muss die Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern ablegen. Wir brauchen ein europäisches Bewusstsein bei den Bürgerinnen und Bürgern. Einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung geht der Deutsche Bundestag mit der heute zu beschließenden Vereinbarung. Dies ist übrigens die erste und bisher einzige interfraktionelle parlamentarische Initiative in dieser Legislaturperiode. Wir begrüßen diese Vereinbarung ausdrücklich und bedanken uns für die konstruktive Zusammenarbeit mit den beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen, in der Bundesregierung und aus der Verwaltung. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Demokratie in Deutschland. Denn wann haben wir in diesem Hohen Hause schon einmal die Gelegenheit, neue Rechte, die sich das Parlament gegen die Exekutive erkämpft hat, zu feiern? Das ist selten; ich weiß nicht, wie oft das in den letzten 20 bis 30 Jahren vorgekommen ist. Man kann die vorliegende Vereinbarung sicherlich nicht hoch genug einschätzen. Sie ist ein Lehrstück dafür, wie man demokratische Errungenschaften wie die Entscheidungs-, Beteiligungs- und Informationsrechte für die vom Volk direkt gewählten Abgeordneten verankern kann. Allerdings muss man ehrlicherweise zugeben, dass diese Vereinbarung nicht nur aus der Kraft des Parlaments geboren wurde. Sie ist auch das Ergebnis einer historischen Konstellation, bei der alle Fraktionen sehr entschieden und engagiert in die gleiche Richtung gearbeitet haben. Wie gesagt, die Situation, um zu dieser Vereinbarung zu kommen, war günstig: Die Unionsfraktion hatte sich, als sie noch in der Opposition war, in dieser Frage mit einem Papier ausgesprochen weit aus dem Fenster gelehnt; das hätte sie in der Regierungsverantwortung nie gemacht. Auch nach den Neuwahlen - die Entscheidung des damaligen Kanzlers für Neuwahlen haben wir nicht unbedingt begrüßt - war den vier Mitgliedern des Europaausschusses, die an diesem Papier mitgearbeitet hatten und die dann in die Regierung wechselten, dieses Papier noch im Kopf. Diese Situation mussten wir nutzen und wir haben sie genutzt. Dafür möchte ich mich bei den ehemaligen Mitgliedern des Europaausschusses und jetzigen Regierungsmitgliedern Günter Gloser, Peter Altmaier, Peter Hintze und Gerd Müller bedanken. ({0}) Nach meiner anderthalbjährigen Mitarbeit in der Föderalismuskommission und nach meiner Mitarbeit an dieser Vereinbarung weiß ich, wie schwer es ist, Rechte von Volksvertretern zu verankern, und wie weit wir schon auf dem Weg in eine Exekutivrepublik sind, in der es Parlamentarier schwer haben, auf Augenhöhe mit der Regierung zu sein. ({1}) Lassen Sie uns diesen Erfolg als Beispiel dafür nehmen, wie wir unsere Rechte als Parlamentarier einfordern können. Denn wir sind es, die vor den Bürgerinnen und Bürgern für die getroffenen Entscheidungen gerade zu stehen haben. Eine Bemerkung zur Ausstattung der Abgeordneten, über die wir in letzter Zeit häufig diskutiert haben. Angesichts unserer Arbeit, die wir zu leisten haben, und angesichts der Informationspflichten, die durch diese Vereinbarung neu auf uns zukommen, müssen wir eine andere Mitarbeiterstruktur haben, um entscheidungsfähig zu sein. Deshalb finde ich es richtig, wenn sich ein Parlament aus seiner Verantwortung heraus, begründete Entscheidungen zu fällen, die aufgrund von Sachkompetenz zustande kommen, in der Öffentlichkeit auch in diesen Fragen stark macht und sagt: Wir sind es, die hier die Entscheidungen fällen und die Regierung kontrollieren. Lassen Sie uns da weitermachen! ({2}) Die Einzelheiten der von uns getroffenen Vereinbarung will ich, da Sie diese schon von meinen vier Vorrednern gehört haben, nicht ein fünftes Mal erwähnen. Ich möchte vielmehr an fünf Punkten deutlich machen, was wir jetzt tun müssen, um diese Vereinbarung mit Leben zu erfüllen. Der erste Punkt ist: Wir müssen die Debattenkultur europäisieren. Die Europäische Union legt jedes Jahr im Frühjahr ein Strategieprogramm vor, in dem die langfristigen Strategien der Europäischen Union aufgezeigt werden. Ich bin sehr dafür, dass dieses Strategieprogramm eine Grundlage unserer europapolitischen Arbeit wird und wir jedes Jahr im Frühjahr, wenn dieses Strategieprogramm der Europäischen Union veröffentlicht wird, im Deutschen Bundestag eine Debatte dazu führen, damit es nicht untergeht, sondern in den politischen Raum der nationalen Parlamente gehoben wird. Das halte ich für ein wichtiges Moment, um handlungsfähig zu werden. ({3}) Der zweite Punkt betrifft das Legislativprogramm. Das Legislativprogramm, also die Gesetzgebungsvorhaben der Europäischen Union, wird, ohne dass viele Fachkollegen es merken - das ist kein Vorwurf; ich kenne die Arbeit in den Fachausschüssen gerade im Verkehrsbereich und im Finanzbereich aus eigener Erfahrung; ich weiß, wie man da mit Papier zugeschüttet wird -, immer im Spätherbst veröffentlicht. Ich bin sehr dafür, dass wir dieses Legislativprogramm ernsthaft durch alle Ausschüsse jagen und sich die Fachleute aller Ausschüsse zu diesem Legislativprogramm der Europäischen Union verhalten müssen, um dann nicht hinterher sagen zu können: Wir haben diese Vorlagen viel zu spät erhalten. Wir müssen uns selber disziplinieren, diese Vorlagen ernst nehmen und rechtzeitig darüber diskutieren. ({4}) Der dritte Punkt, den ich vorschlagen möchte und der im Rahmen der Verhandlungen zwischen den Fraktionen schon zur Diskussion gestellt worden ist, ist die Einführung einer Europafragestunde. Das heißt, in bestimmten Abständen, zum Beispiel jedes Vierteljahr, soll die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ganz konzentriert zu europapolitischen Fragen befragt werden. Ich glaube, das wäre eine Möglichkeit, die europapolitischen Themen besser in unsere Arbeit zu integrieren und mit der Bundesregierung ad hoc in einen Dialog zu treten. Der dritte Vorschlag, eine Europafragestunde einzuführen, ist gut praktikabel. Diesen Vorschlag sollten wir zur Erhöhung unseres eigenen Informationsstandes vernünftigerweise rasch umsetzen. ({5}) Der vierte Punkt ist ein technischer, den wir klären müssen. Ziel ist - das begrüße ich sehr -, dass in der konkreten Arbeit in den Fachausschüssen mehr über Europa und europäische Vorhaben diskutiert wird. Wir müssen sehen, wie wir in den Fachausschüssen vorgehen - in einigen Ausschüssen gibt es schon Unterausschüsse zu europarechtlichen Fragen; ob das immer das beste Medium ist, um diese Fragen im Ausschuss zu behandeln, müssen die Fachausschüsse sicherlich selber entscheiden; es ist auch darüber nachzudenken, ob feste Tagesordnungspunkte zu europarechtlichen Fragen festgelegt werden -, um das, was wir hier erreicht haben, nicht versickern zu lassen. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist - einige Kollegen haben das schon angesprochen -, dass wir zwar jetzt Rechte haben, wir aber nach einem Jahr oder nach zwei Jahren, wenn ein kluger Journalist recherchiert haben wird, wie wir diese wahrgenommen haben, aufgrund dieser öffentlichen Recherchen feststellen müssen, dass wir von unseren Rechten zu wenig Gebrauch gemacht haben. Deshalb stehen wir in der Verpflichtung, die Europaarbeit insbesondere in die Ausschussarbeit zu implementieren. Wir müssen dabei die Arbeit des Europaausschusses als Koordinationsgremium und die konkrete Arbeit in den Fachausschüssen neu justieren. Das ist ein ganz praktischer Ansatz. Ich glaube, wenn wir keine gute Konstellation zwischen den Ausschüssen hinbekommen, sondern Hakeleien einbauen, dann werden wir es eher mit Konkurrenzsituationen zu tun haben, als dass wir in der Sache vorankommen. Ein letzter Punkt; er ist vom Praktischen her der wichtigste. Wir müssen unsere Bundestagsverwaltung in die Lage versetzen, dass sie uns in die Lage versetzt, vernünftige Arbeit zu machen. Es wurden bereits viele Vorarbeiten geleistet, an denen auch die Fraktionen beteiligt waren. Herr Vizepräsident, Sie haben in Ihrer Zeit als Bundestagspräsident im Rahmen der Strukturierung der neuen Europaabteilung viele Erfahrungen gemacht. Dieses Vorhaben begleiten Sie auch weiterhin. Ich möchte mich an dieser Stelle sehr deutlich für eine möglichst wenig ausdifferenzierte Verwaltungsstruktur aussprechen. Es sollte vermieden werden - das möchte ich deutlich sagen -, dass einzelne Einheiten der Verwaltung gegeneinander arbeiten können. Das ist zwar kein großes, öffentliches Thema, aber eine Verwaltungsstruktur, die mit internen Abgrenzungsproblemen oder Kompetenzrangeleien beschäftigt ist, kann uns in unserer Arbeit sehr stark behindern. In diesem Zusammenhang ist auch die Integration des Brüsseler Büros ein wichtiger Punkt. Ich sage das zum Abschluss, weil ich den Verhandlungsprozess mit Herzblut begleitet habe und davon überzeugt bin, dass wir hierbei vorankommen müssen. Dieser Deutsche Bundestag hat diese Vereinbarung meiner Ansicht nach verdient, weil hier hoch kompetente Leute sitzen, die darauf warten, an die entscheidenden Schalthebel zu kommen, die inzwischen immer häufiger auf europäischer Ebene angesiedelt sind. Solange das Europäische Parlament nicht die Möglichkeit hat, die demokratische Kontrolle in Gänze zu realisieren - wir Grünen haben das immer gefordert -, so lange müssen die nationalen Parlamente sehr viel mehr Arbeit übernehmen. Ich hoffe, dass wir das zusammen hinbekommen. Diese Vereinbarung ist ein guter Ansatz zur Stärkung von Parlamentsrechten und zur Stärkung der europäischen Arbeit. Dieser Deutsche Bundestag kann dadurch in Bezug auf die Lösung seiner Aufgaben zukunftsfähiger werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg dabei. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als nächster Redner hat Staatsminister Günter Gloser das Wort.

Not found (Gast)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungeachtet aller Erfolge in der Vergangenheit befindet sich die Europäische Union - einige Redner haben das bereits ausgeführt - in einer schwierigen Lage. An dieser Stelle wird immer an den Verfassungsprozess und an die in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Referenden erinnert. Niemand weiß genau, wie wir den ins Stocken gekommenen Prozess wieder in Gang setzen können. Wir wissen aber, dass wir ihn wieder in Gang setzen müssen. Die Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung hat gelitten. Wenn man diesen Zustand mit „Europaskepsis“ umschreibt, ist das vielleicht nicht ganz treffend; es gibt verschiedenen Facetten. Wenige Monate vor dem 50. Jahrestag der Römischen Verträge möchte ich aber - auch wenn ich einige kritische Bemerkungen gemacht habe - betonen, dass die Europäische Union eine einmalige Erfolgsgeschichte ist und andere uns darum beneiden, dass wir es geschafft haben, eine solche Europäische Union auf friedlichem Wege zu gründen. ({0}) Ich möchte - in einigen Reden klang es so, als wäre heute ein revolutionärer Tag - auf die Dinge eingehen, die angesprochen worden sind. Die Menschen in Europa haben gerade in den letzten Monaten verstanden, dass die Europäische Union und die von ihr erlassenen Regelungen sie unmittelbar betreffen. Das belegen die intensiven Diskussionen über die bereits genannte Dienstleistungsrichtlinie, die Gleichstellungsrichtlinie, die Hafenrichtlinie oder über ein so großes Projekt wie die Erweiterung der Europäischen Union. Auch wenn die Debatten kontrovers geführt wurden und an der EU Kritik geübt wurde - wer ist die EU? -, ist erfreulich, festzustellen, dass die Menschen Europa wahrnehmen und über Europa diskutieren. Wir müssen uns aber fragen - mit „wir“ meine ich die Bundesregierung und uns Parlamentarier -, ob wir nicht manchmal die falschen Botschaften gesetzt haben, ob wir nicht manche Gesetzgebungsinitiative durch eine oft sehr eingeschränkte Wahrnehmung diskreditiert haben. Ich glaube, hier müssen wir behutsam vorgehen, wenn wir einen offenen Diskurs mit der Bevölkerung wollen. Dieses neue, wenn auch häufig kritische Interesse der Bürger ist gut für die Europäische Union; denn es erzeugt einen Rechtfertigungsdruck, dem sich die Organe der Europäischen Union, aber auch wir, die Regierung und das Parlament, stellen müssen. Wir müssen rechtfertigen, warum wir einen Rechtsakt auf europäischer Ebene für notwendig halten. Wir müssen erklären, was das dem Bürger bringt. Wir müssen auch manchmal vermitteln, warum etwas im Interesse der Europäischen Union wichtig ist und warum man nicht nur an die Interessen des eigenen Landes denken sollte. Das kritische Interesse der Bürger verschafft uns auch die Chance, die konkreten Vorteile der Europäischen Union und der von ihr geschaffenen Rechtsakte zu vermitteln. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern - wir haben das vorhin gehört - wird in wachsendem Maße von Entscheidungen geprägt, die auf der Ebene der Europäischen Union getroffen werden. Gemeinsam mit dem Dreieck der europäischen Institutionen - Europäisches Parlament, Kommission und Rat in seiner gesetzgebenden Funktion - bilden die nationalen Parlamente - davon bin ich felsenfest überzeugt - das demokratische Fundament der europäischen Bürger- und Staatenunion. Nationale Parlamentarier müssen als Mitgestalter eines Gesetzgebungsprozesses begriffen werden, der immer häufiger von Brüssel aus angestoßen wird. Es ist vorhin selbstkritisch bespiegelt worden, warum es so lange gedauert hat. Man muss an diesem Tag objektiv sagen: Der Deutsche Bundestag verfügte bereits in der Vergangenheit über einige Rechte, die aber nicht entsprechend ausgestaltet waren. Aufgrund der Defizite gab es Nachholbedarf. Deshalb gab es die breite Diskussion über Möglichkeiten zu mehr Beteiligung. Diese nun erzielte Vereinbarung wird die Europapolitik des Bundes auf eine breitere Grundlage stellen und zur besseren Gesetzgebung der Europäischen Union beitragen. Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages sollen durch diese neue Vereinbarung ausgeweitet werden. Alle von Ihnen angemahnten Dokumente und Berichte zu europäischen Aktivitäten, sowohl die der Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat als auch die der Bundesregierung, insbesondere die der Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union, werden dem Bundestag umfassend vermittelt. Daneben wird eine Reihe von Unterrichtungsformen, die bereits Praxis sind, verbessert. Ich denke, diese Vereinbarung ist ein zentraler Baustein für die verbesserte Europatauglichkeit des Bundestages. Aber gleichzeitig - das hat in den Verhandlungen eine wesentliche Rolle gespielt - lässt diese Vereinbarung der Bundesregierung den nötigen Spielraum, den sie in den Verhandlungen in Brüssel braucht. Wenn man die Situation in der Anfangszeit mit der heutigen vergleicht, sieht man, dass sich vieles verändert hat. Ich bin der Überzeugung, dass diese Vereinbarung uns eine Chance bietet, die Legitimität europäischer Rechtssetzung in Deutschland zu erhöhen. Ich möchte an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank sagen an diejenigen, die für die Fraktionen verhandelt haben, aber auch an diejenigen, die ihnen zugearbeitet haben, die auch uns in den Ressorts zugearbeitet haben. Das waren wichtige Beiträge. Ich danke auch dem Kollegen Peter Hintze, der mit mir für die Bundesregierung diese Verhandlungen geführt hat, und den anderen Kollegen in der Regierung, die uns im Hintergrund dabei unterstützt haben. Ich kann Ihnen versichern: Es bleibt bei dem einen Herz. Aber ich glaube, man braucht Kopf und Herz, um die Europapolitik voranzubringen. Ich finde es angesichts der Positionen, mit denen die Fraktionen in diese Debatte gegangen sind - Rainder Steenblock hat darauf hingewiesen -, bemerkenswert, dass wir einen, so denke ich, guten Kompromiss gefunden haben. Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Verfassungsvertrag, den ich eingangs erwähnt habe, für die weitere Einbindung der nationalen Parlamente wichtig ist. Denn er ist ein wichtiger Schritt, um mehr und früher beteiligt zu werden. Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips war eine Intention der Bundesregierung. Sie war im Konvent wie auch auf der Regierungskonferenz ein besonderes deutsches Anliegen. Nicht zuletzt wegen der mit dem Vertrag in dieser Hinsicht erzielten Fortschritte setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die im europäischen Verfassungsvertrag gefundenen Lösungen zu erhalten. Die Elemente des Verfassungsvertrages machen die Europäische Union - das ist immer kritisiert worden gerade demokratischer. Sie machen sie handlungsfähiger, effizienter und transparenter. Genau damit erreichen wir das Ziel, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen. Ich gehe gern darauf ein - das wird auch ein Thema der Präsidentschaft Deutschlands im nächsten Jahr sein -, dass wir nicht nur fragen müssen: Welche Folgen haben bestimmte Gesetzesinitiativen für den Bereich Wirtschaft, für kleine und mittlere Unternehmen? Genauso wichtig ist natürlich die Frage: Welche sozialen Folgen hat eine Initiative? Ich denke, das hat die Vergangenheit gezeigt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ohne dass man jetzt das Primärrecht ändern müsste, ist die Kommission ohnehin bereits vom Europäischen Rat aufgefordert worden, die nationalen Parlamente frühzeitig einzubeziehen. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa gewinnen möchten, sollte unser Ziel sein, dass sich jeder Europäer ganz selbstverständlich sowohl als Bürger seiner Stadt und seines Mitgliedstaats als auch als Bürger der Europäischen Union versteht. Ich bin - weil ich ja auch Parlamentarier bin - davon überzeugt, dass die nationalen Parlamente, vor allem der Bundestag, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Ich denke, dass diese Vereinbarung die entsprechenden Werkzeuge liefert. Ich finde es gut, dass wir die Vereinbarung wenige Wochen vor Beginn der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union geschaffen haben; denn ich glaube, dass diese Präsidentschaft durch ein aktives Parlament begleitet werden muss. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Link, FDPFraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Staatsminister Gloser, ich würde nicht ganz so weit gehen, den heutigen Tag als revolutionär zu bezeichnen. Natürlich ist das ein guter Tag. Wir gehen nicht nur einen Schritt in die richtige Richtung, sondern ich glaube, hier wurde die richtige Balance gefunden zwischen den Mitwirkungsrechten des Bundestages einerseits und der Bewahrung der Kernbereiche exekutiven Handelns andererseits, die - das verstehen auch wir als Parlament natürlich sein müssen. Es ist aber schon etwas anderes - das will ich einfach noch einmal mit Blick auf die Öffentlichkeit sagen -, ob es, wie im Grundgesetz, das ja bestehen bleibt, heißt, die Bundesregierung berücksichtigt bei ihren Verhandlungen die Stellungnahmen des Bundestages, oder ob es, wie jetzt in unserer Vereinbarung, heißt, die Stellungnahmen werden den Verhandlungen der Bundesregierung zugrunde gelegt. Das ist ein substanzieller Unterschied und wir begrüßen die Formulierung in der Vereinbarung. Das ist genau die richtige Balance. ({0}) Alle wichtigen Punkte sind hier bereits angesprochen worden. Ich will deshalb ein Beispiel nennen. Oft beschworen wird ja das Demokratiedefizit in der Europäischen Union. Meine These ist: In keinem anderen Bereich ist das Demokratiedefizit größer als beim EUHaushalt. In keinem anderen Bereich haben wir gegenwärtig so wenig Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente. Wir werden es nächstes Jahr erleben. Denn im Laufe des nächsten Jahres soll uns die Ratifizierung des neuen Eigenmittelbeschlusses vorgelegt werden - ein schwieriger Prozess -; der Beschluss soll aber bereits ab 1. Januar 2007 gelten. Über welches Recht haben wir da wirklich noch substanziell mit zu entscheiden? Umso wichtiger wird sein, dass wir im Vorhinein, vor den Ratsverhandlungen - das sage ich besonders mit Blick auf die Kollegen im Haushaltsausschuss -, tätig werden. Wenn wir uns einmal vor Augen führen, um wie viel Geld es geht - jährlich über 22, 23 Milliarden Euro für Deutschland - und für wie lange wir uns mit dem Eigenmittelbeschluss völkerrechtlich verbindlich binden für über sieben Jahre; das heißt, wir können danach nicht mehr darüber entscheiden -, dann können wir feststellen, dass es umso wichtiger ist, dass wir in Zukunft ein klares, deutliches Mitspracherecht bei der Formulierung der Verhandlungsposition der Bundesregierung haben, was dank dieser Vereinbarung der Fall ist. Michael Link ({1}) ({2}) Gleiches gilt übrigens auch für die - ich sage es einmal salopp - Schattenhaushalte - Europäischer Entwicklungsfonds, Globalisierungsfonds -, die jetzt anstehen. Dort ist das Demokratiedefizit vielleicht noch größer als bei dem Haupthaushalt der EU; denn der wird zumindest in der Öffentlichkeit besprochen. Beim Europäischen Entwicklungsfonds mit einem immensen Betrag - gerade für die Bundesrepublik Deutschland geht es da um sehr viel Geld; wir sind, für diejenigen, die es noch nicht wissen, jetzt der größte Zahler im Europäischen Entwicklungsfonds; wir haben die Franzosen überholt, sie liegen jetzt etwas hinter uns - ist das Demokratiedefizit noch größer. Dank der Vereinbarung können wir aber genau bei diesem Punkt in Zukunft vonseiten des Haushaltsausschusses und des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ganz konkret vor den Ratsverhandlungen eingreifen. Das ist ein echter Fortschritt und deshalb ist das heute ein guter Tag. ({3}) Zeitgleich zu der Vereinbarung, die wir heute beschließen, läuft in der Europäischen Union - Staatsminister Gloser hat es angesprochen - der Prozess der Verstärkung und Verbesserung der Informierung der nationalen Parlamente seitens der Kommission, Stichwort: Subsidiaritätsprüfung, Subsidiaritätskontrolle. Unser Petitum - ich vermute, ich spreche da auch für viele Kollegen aus anderen Fraktionen - ist, dass wir dann unverzüglich Vorlagen bekommen. Wichtig ist aber auch, dass dann geltendes Recht eingehalten wird, sprich: dass uns die Vorlagen auch in deutscher Sprache, der dritten Arbeitssprache der Europäischen Kommission, zugestellt werden. Hier muss die Bundesregierung dringend Druck ausüben, dass das in Zukunft regelmäßig geschieht. ({4}) Wenn die Subsidiaritätsprüfung tatsächlich erfolgt, wenn dieser Prozess einmal im Gange sein sollte, sei es - hoffentlich - mit einem Verfassungsvertrag, sei es mit einem gesonderten Protokoll, dann spätestens müssen wir hier im Hause beschließen, wer bei uns federführend für diese Subsidiaritätsprüfung zuständig ist. Mein Petitum und das meiner Fraktion ist: Die Fachausschüsse sollen für die Stellungnahmen zu thematischen EU-Vorlagen zuständig sein. Aber die Federführung im Hinblick auf die Subsidiaritätsprüfung sollte naturgemäß beim Europaausschuss liegen. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier muss der Europaausschuss eine sehr wichtige Verantwortung für das Gesamtparlament wahrnehmen. ({5}) Zu guter Letzt - Herr Präsident, ich komme langsam zum Schluss -: Es ist gut, dass wir neue Rechte bekommen haben. Wir müssen von ihnen aber auch Gebrauch machen können. Dazu gehört - Herr Steenblock und andere Kollegen haben das angesprochen - eine behutsame Ausweitung der Personalkapazitäten beim Parlament und bei der Kommission. Wenn das im Übersetzerstab beschäftigte Personal etwas aufgestockt würde, damit die Vorlagen auch in der dritten Arbeitssprache, in Deutsch, abgefasst werden können, hätte ich nichts dagegen. Das gilt - das mag Sie überraschen - übrigens auch für die Bundesregierung. Unsere Zusammenarbeit im Haushaltsausschuss mit den Kollegen der Europaabteilung im BMF ist exzellent. Sie sind, was ihre Arbeitsbelastung angeht, am Limit. Wenn in Zukunft aufgrund der Vereinbarung mit uns und angesichts des Informationsaustausches zwischen Brüssel und den nationalen Parlamenten noch mehr Arbeit auf sie zukommt, dann können sie das irgendwann nicht mehr bewältigen. Wir müssen uns trotz aller Sparzwänge darüber im Klaren sein: Wir müssen die personellen Kapazitäten behutsam erweitern, damit wir das, was wir heute beschließen, mit Leben füllen können. ({6}) In den ersten Jahren, in denen diese neue Vereinbarung angewandt wird, entscheidet sich, was sie wert ist. Nun kommt es auf uns an. Heute ist der Bundestag europapolitisch erwachsen geworden. Machen wir etwas daraus! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter Hintze. ({0})

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stell dir vor, es geht um Europa, und keiner geht hin. Dann kommt Europa zu dir und du darfst dich nicht beschweren, wenn dir eine Richtlinie nicht passt. ({0}) Das gilt nicht für die Anwesenden. In der Kirche ist es zwar immer so, dass die Anwesenden für diejenigen, die nicht kommen, kritisiert werden. Aber ich glaube, dass die Zahl der hier Anwesenden entgegengesetzt proportional zur Bedeutung dessen ist, worüber wir heute sprechen und was wir mit unserem Votum ausdrücklich unterstreichen werden. ({1}) Heute ist ein guter Tag für die Demokratie und ein guter Tag für das Parlament. Die Bundesregierung, getragen von der großen Koalition, hat mit dem Bundestag eine große Kooperation in allen Europafragen vereinbart, und das ist gut so. Kollege Steenblock hat in seiner Rede, der ich mit Freude zugehört habe, ein gewisses Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Unionsfraktion das, was sie in der Opposition gesagt hat, in der Regierung tatsächlich verwirklicht. Dieses Erstaunen dürfen Sie gerne ins Land tragen. Das ist nämlich ein Grundsatz, der uns bestimmt: In der Opposition wie in der Regierung reden wir gleich. ({2}) Es würde dem Parlament gut anstehen, wenn das generell so wäre. ({3}) - Absolut, Kollege Löning. Da Sie vorhin selbst gesagt haben, dass Sie zwar noch jung, aber voller Freude dabei sind, weise ich Sie darauf hin: Die Bundeskanzlerin hat die Initiative der Opposition zur Stärkung der Mitwirkungsrechte des Parlaments vorangetrieben. Als Verantwortliche auf Unionsseite hat sie darauf gedrungen, dass dieses Vorhaben in den Koalitionsvertrag aufgenommen wird. Das haben wir im Parlament umgesetzt. Darauf können wir gemeinsam stolz sein. ({4}) In der Tat werden nicht zuletzt die Rechte der Opposition gestärkt. Das war damals unser Anliegen. Das ist auch richtig. Regierungsfraktionen haben immer mehr informelle Kontakte. Da es um eine sehr wichtige Frage geht, wollten wir allerdings, dass das gesamte Parlament, Regierung und Opposition, die Chance hat, an diesem europäischen Prozess mitzuwirken, und wir wollten dafür sorgen, dass es über alle für seine Mitwirkung relevanten Informationen verfügt. Denn es ist unbefriedigend - das haben alle Redner gesagt -, wenn wir hier ohnmächtig Richtlinien in nationales Recht umsetzen müssen und nicht politisch beraten, wenn es in Brüssel um die Erstellung, um die Weichenstellung, um die Grundsätze dieser Richtlinien geht. Das wollen wir gemeinsam ändern. ({5}) Eben hat ein Redner von „Doppelherz“ gesprochen. Ich glaube, damit meinte er nicht Gloser im Auswärtigen Amt und Hintze im Wirtschaftsministerium, sondern dahinter steckte etwas die Sorge, dass nach Karl Marx das Sein allzu sehr das Bewusstsein bestimmt - mit diesem Vorwurf mussten wir ja die ganzen Verhandlungen über leben - und dass wir den Wechsel auf die Regierungsbank nicht ohne Schaden für unser parlamentarisches Herz verkraftet hätten. ({6}) Ich glaube, das Ergebnis beweist, dass wir unser parlamentarisches Herz auch auf der Regierungsbank behalten haben, auch wenn der eine oder andere Kollege - ein prominenter sitzt in Reihe eins vorne rechts ({7}) der Auffassung ist, man hätte noch mehr realisieren können, und auf andere Länder verweist. Deshalb will ich gleich vorwegnehmen: Wir haben in unserer Vereinbarung die Grenzen, die das Grundgesetz hier setzt, wirklich parlamentsfreundlich - der FDP-Kollege hat das eben in seinem Beitrag auch so ausgedrückt -, bis zum äußersten Rand, ausgefüllt. Die Wünsche, die wir als Opposition geäußert haben, die über diesen Rand hinausgehen, hätten eine Änderung des Grundgesetzes vorausgesetzt. Möglicherweise wird diese Debatte einmal kommen; aber im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, die wir jetzt haben und innerhalb derer sich unsere Vereinbarung zu bewegen hat, sind wir eng an den Rand gegangen und haben eine parlamentsfreundliche, ja die parlamentsfreundlichste Regelung überhaupt geschaffen. Ich will noch etwas Inhaltliches ansprechen. Manche verweisen auf Skandinavien, dort sei es noch besser, weil das Parlament die Regierung fesseln, binden könne. Doch wir wollten eine Regelung, die die Europafähigkeit des Bundestages stärkt und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit Deutschlands in Brüssel in vollem Umfange sichert. Das unterscheidet uns vielleicht. Deutschland hat ein großes Gewicht und eine große Verantwortung, dass wir uns diese Handlungsfähigkeit erhalten. Es ist im europäischen Rechtsetzungsprozess unmöglich, gefesselt am Tisch zu sitzen - so kann man keine Kompromisse schließen, so kann man keine Lösungen finden. ({8}) - Ehemalige Minister nicken aus der ersten Reihe der Opposition. Ich freue mich, Herr Trittin, dass Sie diese Erkenntnis aus der Regierung in die Opposition mitgenommen haben; das ist sehr schön. Wir haben das Ganze ja auch gemeinsam vereinbart. Deswegen glaube ich, dass wir insgesamt eine sehr kluge Regelung gefunden haben. ({9}) Ausgangspunkt des heutigen Tages war das Ja des Bundestages zur europäischen Verfassung. Damals haben wir mit breiter Mehrheit - alle Fraktionen, die hier im Parlament vertreten waren - Ja zu ihr gesagt. Ich darf herzlich bitten, sich nicht von einer Falschüberschrift in der „Financial Times Deutschland“, die schon durch den Text unmittelbar darunter nicht gedeckt ist, einreden zu lassen, wir hätten hier einen Kurswechsel vorgenommen. Der Deutsche Bundestag hat klar Ja zum europäischen Verfassungsvertrag gesagt. Ich glaube, es steht uns gut an, auch heute klar Ja zu diesem gemeinsamen Projekt zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Denn diese europäische Verfassung bringt, was so viele Menschen sich wünschen: mehr Transparenz, mehr Effizienz und auch mehr Demokratie in Europa. Es stimmt: Die Skepsis ist auch gestiegen; eine Langzeitstudie der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ zeigt das. Interessant ist: Die Zahl derer, die Ja zu Europa sagen, ist gleich geblieben. Die Zahl derer, die Nein sagen, ist gestiegen. Wo kommt das her? Es kommt aus dem großen Bereich der Bürger, die sich bisher in permissiver Enthaltung geübt haben, sich also wohlwollend nicht darum gekümmert haben, weil sie meinten: Es wird schon richtig sein, wie es läuft. - Bei ihnen besteht heute größere Skepsis. Diese können wir nur überwinden, wenn wir die europäischen Entscheidungsprozesse transparenter machen. Denn wir brauchen eher mehr als weniger Europa. Die Bürger wissen in ihrem Herzen auch, dass die Europäische Union die einzig tragfähige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung ist. Mit der Vereinbarung, die wir heute getroffen haben, schreiben wir einen ganz kleinen Abschnitt im Buch der europäischen Geschichte fort, nämlich den Abschnitt über die Parlamentarisierung der Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union. Das steht dem Bundestag gut an. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben. Den Politikern ist gedankt worden. Ich will nun auch den Mitarbeitern danken ({11}) und pars pro toto Christoph Thum von der SPD nennen, der Mitarbeiter der ersten Stunde war, damals, als schon böse Schatten über der rot-grünen Regierung hingen, im Mai des Jahres 2005. ({12}) Die SPD hat damals gedacht: Wer weiß, wofür das gut ist, wir sollten uns jetzt schon einmal ein bisschen vorbereiten. - Es sah damals ja so aus, dass Sie vielleicht in der Opposition landen würden. Wir dachten: Wer weiß, wofür das gut ist, wir wissen ja auch nicht, ob wir in die Regierung kommen. - Wir haben dann gemeinsam etwas Gutes daraus gemacht. Das schöne griechische Wort Krise bedeutet ja im Grunde Frage bzw. Anfrage. Wir haben die Frage positiv beantwortet und etwas Gutes aus der Krise gemacht. Lassen Sie uns das gemeinsam nutzen! Schönen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Axel Schäfer, SPD-Fraktion, das Wort.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europapolitik ist auch Parteipolitik. Deshalb wird es gerade in der Diskussion, die wir jetzt zusammengefasst vorangebracht haben, darauf ankommen, dass wir in Zukunft auch die parteipolitischen Unterschiede in der Europapolitik deutlich machen. Nur damit bringen wir Europa auch inhaltlich ein Stück voran. Gleichzeitig ist Europa unser gemeinsames Anliegen. Deshalb war es so wichtig, dass es gelungen ist, sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition als auch alle Fraktionen der Opposition für diese Vereinbarung zu gewinnen. Das ist in diesem Parlament nicht alltäglich und das kann auch gar nicht alltäglich sein. Weil es aber so etwas Besonderes ist, sollten wir dieses Besondere hier auch einmal ganz besonders unterstreichen. ({0}) Es bleibt unsere Aufgabe, das Parlament gemeinsam zu europäisieren; denn eines ist auch wahr: Diese Vereinbarung ist nicht das Ergebnis der bereits vollzogenen Europäisierung des Parlaments und der großen Fortschritte, die über 600 Abgeordnete und alle Ausschüsse erreicht haben, sondern ein Stück weit das Ergebnis dessen, dass der Europaausschuss als Leitwolf bzw. -wölfin vorangegangen ist. Auch das gehört dazu. Jetzt wird es darauf ankommen, dass die anderen nicht nur ein Rudel sind, sondern dass es zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung all derjenigen kommt, die hier Verantwortung tragen. Deshalb sollten wir das an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich unterstreichen. ({1}) Das ist in der Praxis ja auch schon ein Stück weit gelungen. Wir haben in einer wichtigen Frage gesagt, was wir wollen, was wir also von der Regierung im Rat erwarten. Um die Positionierung des Deutschen Bundestages in Europafragen vor allen Dingen gegenüber der Bundesregierung geht es ja. Ich erinnere hier an die Grundrechteagentur, die neu eingerichtet werden soll. Durch eine gemeinsame Position ist es uns gelungen, die Kanzlerin und den Außenminister im Rat darauf festzulegen, dass diese Agentur nicht einfach durchgewunken wird - mit einer Struktur, von der wir nicht sicher wissen, ob sie etwas bringt -, sondern dass an dieser Stelle weiterhin kritisch gearbeitet wird, bevor die Umsetzung erfolgt. Das ist ein Erfolg des Bundestages, zu dem es aufgrund eines gewandelten Bewusstseins und einer verbesserten Handlungsfähigkeit gekommen ist. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, es gehört auch zu den Wahrheiten dieser geschlossenen Vereinbarung, dass hier eine Reihe von lang gedienten Kolleginnen und Axel Schäfer ({3}) Kollegen am Ende gesagt haben, dass sie sich eigentlich mehr hätten vorstellen können. Na ja, denen muss man sagen, dass sie jetzt seit 25 oder 30 Jahren dabei sind und wissen müssten, dass man es sich nicht so leicht machen kann. Andere haben - ebenfalls parteiübergreifend; manche davon in großer Verantwortung - gesagt: Wenn ich hier hätte entscheiden können, dann hätte ich euch, dem Europaausschuss bzw. dem Parlament, bezüglich der Europäisierung nicht so starke Rechte zugestanden. Auch dies zeigt, woran wir noch ein Stück mehr arbeiten müssen. Das sollte uns eine zusätzliche Motivation für die Überzeugungsarbeit sein; denn die Arbeit leisten wir weiterhin hier. Auch wenn wir uns deutlicher in Richtung Brüssel positionieren: Wir positionieren und kontrollieren vor allen Dingen die Bundesregierung und wir wollen sie auch zu einer Reihe von Dingen verpflichten. Ich glaube, das ist auch richtig so. Was wir voranbringen wollen, ist eine Europäisierung. Europäisierung bedeutet immer auch Parlamentarisierung und Parlamentarisierung geht nur mit Demokratisierung. Die Kollegen von der Linksfraktion haben angesprochen, dass zur Demokratisierung auch die direkte Demokratie gehört. Ich bin sehr dafür und ich glaube, es gibt auch hier in diesem Hause eine Mehrheit dafür, dass wir in Konsequenz dieser Diskussion wieder die Debatte darüber aufgreifen, wie wir über das Instrument der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids mehr direkte Demokratie in Ergänzung der repräsentativen Demokratie einführen können. ({4}) - Gerade weil ich jetzt Beifall von der ganz linken Seite des Hauses bekomme, möchte ich deutlich machen, dass ein wichtiger Impuls, dies umzusetzen, die europäische Verfassung ist. Sie nimmt Elemente der direkten Demokratie in ganz Europa auf. Man kann aber nicht mehr direkte Demokratie in Deutschland fordern, wenn man gleichzeitig eine europäische Verfassung mit mehr direkter Demokratie ablehnt. Das passt nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Das Wichtigste aber ist: Lasst uns bei all den Diskussionen über die Instrumente, die wir in Zukunft haben werden und die wir verbessert nutzen wollen, immer auch über die Inhalte reden. Unser Ziel ist es, in diesem gemeinsamen Europa besser und erfolgreicher für den Frieden einzutreten und mehr für soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu tun. Wir wollen Bildung und Forschung voranbringen

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- wenn ich den Satz beendet habe - und den Nationalismus bekämpfen. Jetzt habe ich meinen Satz beendet. Bitte, Kollege Dehm.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es scheint heute ein revolutionärer Tag zu sein, weil sich Konsense andeuten, die gar nicht absehbar waren. Grund unserer Ablehnung des Verfassungsvertrages waren nicht die plebiszitären Elemente. Können wir uns gemeinsam darauf einigen, den Verfassungsvertrag, wie es jetzt auch Frau Merkel sagt - so die „Financial Times Deutschland“ von heute -, gründlich zu ändern, die Artikel des Grundgesetzes, die in dem europäischen Verfassungsvertrag nicht genügend berücksichtigt sind, die Sozialbindung des Eigentums und das Angriffskriegsverbot, darin aufzunehmen und diese Verfassung dann unserer deutschen Bevölkerung zur Abstimmung zu stellen? ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Dehm, diese Verfassung wurde gemeinsam von Abgeordneten und Regierungsvertretern auch dieses Parlaments sowie des Europäischen Parlaments und der Kommission auf der Basis einer Übereinkunft von 28 Ländern erreicht; das ist eine gute Grundlage. Sie gilt es jetzt zu beschließen und umzusetzen. Wir müssen also dafür werben, dafür Mehrheiten zu bekommen. Ich möchte Sie an unserer Seite haben, wenn wir hier über mehr Demokratisierung durch das Grundgesetz reden. Zunächst aber müssen Sie mit uns gemeinsam für Mehrheiten für diese europäische Verfassung werben. Darin wollen wir Sie überzeugen; wir setzen bestimmte Hoffnungen darauf. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schäfer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Seifert, auch Fraktion Die Linke?

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, die gestatte ich.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen vielleicht entgangen, dass wir die europäische Verfassung nicht wegen der plebiszitären Elemente, sondern wegen ihrer Ausrichtung auf Militarisierung, das heißt: den Zwang zur Aufrüstung, und wegen der ausdrücklichen Festlegung auf ein neoliberales Wirtschaftskonzept abgelehnt haben? ({0}): Schon wieder die- ses Klischee!)

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Es gibt in der europäischen Verfassung, die wir gemeinsam wollen, überhaupt keine Festlegung auf Aufrüstung. Das muss man einfach einmal feststellen. Axel Schäfer ({0}) ({1}) Zweitens. Wir sind für eine soziale Marktwirtschaft und eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ich bin auch sehr dafür, dass man den Kapitalismus kritisiert, wo er bestimmte Auswüchse angenommen hat. Das allerdings hat mit den Festlegungen in der europäischen Verfassung nichts zu tun, lieber Kollege. ({2}) Ein Letztes: Wir wollen Europa weiter verbessern, weil wir in allen Ländern gegen einen zum Teil wachsenden Nationalismus kämpfen. Das gehört zur gemeinsamen europäischen Identität. Unsere gemeinsame Identität ist das Gegenbild zum Nationalismus. Das wichtigste Interesse, das wir als Nationalstaaten haben - in Deutschland wie in Frankreich, in Polen wie in Großbritannien und allen anderen Ländern -, ist die europäische Einigung. Mit dieser gemeinsamen Vereinbarung kommen wir diesem Ziel einen großen Schritt näher. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich reihe mich heute gerne ein in den fraktionsübergreifenden Konsens in diesem Hause. Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung über die Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten ist ein erkennbarer Fortschritt auf unserem Weg, europäischen Angelegenheiten in Deutschland mehr Gewicht zu verleihen. Dieser Weg führt über die Beteiligung des Deutschen Bundestages zu unserem Ziel, mehr Verständnis und Akzeptanz für europäische Politik zu gewinnen, aber auch dazu, die Legitimationsbasis europäischer Entscheidungen zu stärken, indem in jedem Mitgliedstaat die nationalen Parlamente intensiv damit befasst werden. ({0}) Die Vereinbarung, die wir heute beschließen, bringt eine erhebliche Ausweitung der Unterrichtungspflichten der Bundesregierung mit sich. Dass es mehr als fünfzig Jahre europäischer Integration bedurfte, um so weit zu kommen, ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Aber umso mehr freut es mich, dass wir es sind, die diesen Fortschritt erreicht haben. ({1}) Wir ziehen damit in Bezug auf die Unterrichtung des Parlamentes mit dem Bundesrat gleich und können zuversichtlich sein, dass die Zeit der Vergangenheit angehört, als wir von den Länderregierungen oft besser unterrichtet wurden als von der eigenen Bundesregierung. ({2}) Allerdings trifft dieser Fortschritt, dass wir mit dem Bundesrat gleichziehen, nur auf die Unterrichtung zu. Fraglich ist, was künftig mit Stellungnahmen des Bundestages über die bloße Unterrichtung durch die Bundesregierung hinaus passiert. Immerhin haben wir die Bundesregierung dazu verpflichten können, dass sie künftig Rechenschaft darüber ablegen muss, inwieweit eine Stellungnahme des Bundestages in den europäischen Gremien umgesetzt werden konnte. Aber es bleibt dabei, dass Stellungnahmen des Bundestages von der Bundesregierung nicht beachtet, sondern nur zur Kenntnis genommen werden müssen. Kern des Problems ist Art. 23 des Grundgesetzes; das wurde bereits angesprochen. Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union wesentlich weiter gehende Mitwirkungsrechte gibt, als wir sie heute beschließen. Man muss dazu nicht einmal auf die skandinavischen Staaten verweisen, lieber Kollege Hintze. Niemand von uns hat gefordert, das skandinavische Modell in Deutschland einzuführen. Warum wir uns allerdings nicht getraut haben, das österreichische Modell zu probieren, das dort seit vielen Jahren reibungslos funktioniert, konnte mir bislang niemand erklären. ({3}) Es bleibt also das Problem, dass Art. 23 des Grundgesetzes unsere Handlungsmöglichkeiten etwas beschränkt. Auch nach der Föderalismusreform ist das die mit Abstand unübersichtlichste Vorschrift des Grundgesetzes, die noch dazu in ihren praktischen Konsequenzen bescheidene Auswirkungen zeitigt. Ob und wann wir erneut darüber diskutieren müssen, hängt nach meiner festen Überzeugung vom Verhalten der Bundesregierung ab. Wir werden die Bundesregierung daran messen müssen, wie sie künftig mit unseren Stellungnahmen umgeht, und müssen erwarten können, dass sich die Bundesregierung ernsthaft darum bemüht, unsere Positionen in den europäischen Gremien tatsächlich umzusetzen. Dazu ist es - dieser Hinweis sei mir gestattet - nicht immer erforderlich, im Ministerrat Mehrheiten zu organisieren. Es gibt auch Gelegenheiten, wo es genügt, seine Position zu markieren. Ich darf daran erinnern, dass der Europaausschuss des Bundestages eine einvernehmliche Haltung zur europäischen Grundrechteagentur kommuniziert hat. Wir haben das höflich - nicht in Form einer Stellungnahme, sondern eines Briefwechsels - getan. Ich möchte aber auch darum bitten, dass die Bundesregierung dieses Votum sehr ernst nimmt. Wir werden genau darauf achten, ob sich die Bundesregierung unserer ablehnenden Haltung anschließt, und zwar nicht, weil wir etwas gegen einen effektiven Grundrechtsschutz hätten, sondern weil ich persönlich davon überzeugt bin, dass es besser wäre, den europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu stärken, als eine neue Behörde zu gründen, in der Beamte schöne Berichte schreiben. ({4}) Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung künftig auch bei europäischen Vorlagen den Bundestag in einer Form beteiligt, wie wir es von den nationalen Gesetzgebungsvorhaben gewohnt sind. Niemand hindert die Bundesregierung daran - zum Teil wird es schon praktiziert -, Berichterstattergespräche zu organisieren. Es sollten alle zuständigen Kollegen aus den Ausschüssen die Gelegenheit erhalten, mit den Beamten, die für die Bundesregierung in Brüssel verhandeln, eine europäische Initiative zu erörtern. Ich glaube, dass wir es mit einem solchen Modell versuchen sollten. Ich sehe darin auch eine Gelegenheit, den Parlamentarischen Staatssekretären diese Aufgabe mit zu übertragen. Es gibt hin und wieder Diskussionen über den Aufgabenbereich der Parlamentarischen Staatssekretäre. Es wäre für sie eine vornehme Aufgabe, Berichterstattergespräche zu europäischen Vorlagen zwischen Regierung und Ministerialbeamten auf der einen Seite und den Mitgliedern dieses Hauses auf der anderen Seite zu organisieren. ({5}) Auch der Deutsche Bundestag wird seine Arbeitsweise ändern müssen. Wir müssen uns bei europäischen Vorhaben auch am Fahrplan der Europäischen Union orientieren. Wir müssen viel stärker als bisher Netzwerke in die europäischen Institutionen hinein knüpfen, aber auch zu unseren Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten. Außerdem wird es künftig viel stärker Aufgabe jedes einzelnen Abgeordneten sein - dies war es auch bisher schon -, die europäischen Implikationen seines Fachbereiches zu berücksichtigen und tatsächlich mit zu bearbeiten. Durch die Vereinbarung, die wir heute beschließen, werden wir auch ein Stück weit in Mitverantwortung für das genommen, was die Bundesregierung in Brüssel mit berät und mit beschließt. Ich plädiere dafür, dass wir uns bei EU-Vorhaben auf die vorbereitenden Akte konzentrieren - auf Weißbücher, auf Grünbücher, auf das Jahresarbeitsprogramm der Kommission, auf die Legislativpläne -, damit wir schon im Vorfeld über das orientiert sind, was auf europäischer Ebene geplant ist, und rechtzeitig eingreifen können. Allerdings werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir das tun, immer dann, wenn es um eine förmliche Stellungnahme des Bundestages geht, vor dem Problem stehen, dass die Bundesregierung schon zwei, drei Jahre in Expertenrunden verhandelt und man uns dann vonseiten der Ministerialbeamten vorhält: Jetzt kommt Ihr Abgeordneten? Wir sitzen doch schon zwei Jahre daran! Dazu gehört meines Erachtens auch die Bereitschaft des Parlaments einschließlich der Regierungsfraktionen, die Kontrollfunktion des Bundestages gegenüber der Bundesregierung sehr ernsthaft wahrzunehmen und sich bei Bedarf einzuschalten. ({6}) Lassen Sie mich noch einen europäischen Aspekt anfügen: Wir sind von der Europäischen Kommission eingeladen, unsere Stellungnahmen auch direkt an die Kommission zu richten. Ich wünsche mir, dass wir die Kommission dazu verpflichten, uns auch wirklich zu antworten, ({7}) denn ich möchte doch, dass ein nationales Parlament, das einen förmlichen Beschluss fasst, nicht wie ein x-beliebiger Lobbyverband behandelt wird. ({8}) Ich glaube, dass wir die konkrete Chance haben, im Zuge der Diskussion über den europäischen Verfassungsvertrag auch noch einmal über den Frühwarnmechanismus zu diskutieren und ihn vielleicht zu vereinfachen, aber auch, ihn um den Punkt zu ergänzen, dass die Kommission uns Antwort geben muss, wenn wir uns als Parlament an sie wenden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. - Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/ Die Grünen eingebrachten Antrag zur Annahme einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/2620? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Energiepreiskontrolle sicherstellen - Drucksache 16/2505 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Meine Herren, ich würde Sie gerne veranlassen, dem kommenden Redner die Chance zu geben, zum Pult zu kommen und dann Gehör zu finden. - Ich eröffne die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Aussprache und erteile Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke, das Wort. ({2})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklung der Energiepreise ist ein für die Bevölkerung erstrangiges Thema. Die Energiepreise haben sich in den letzten Jahren enorm nach oben bewegt; dabei denke ich natürlich auch an die Veränderungen nach unten, die wir derzeit in einem Segment sehen. Aber insgesamt kann gesagt werden, dass sich die Energiepreise in den letzten Jahren sehr stark erhöht haben. Es gibt den Satz, dass die Energiepreise für die Bevölkerung eine ähnliche Bedeutung haben wie die Brotpreise. Man muss diesen Vergleich nicht unbedingt übernehmen. Aber dass die Energiepreise für die soziale Situation vieler Menschen in Deutschland eine große Bedeutung haben, ist, glaube ich, in diesem Hause völlig unstreitig. ({0}) In diesem Zusammenhang erinnere ich insbesondere an die Entwicklung der Löhne der großen Mehrheit der Bevölkerung sowie an die Situation vieler Rentnerinnen und Rentner. Die Reallöhne sind seit zehn Jahren praktisch nicht mehr gestiegen. Auch in letzter Zeit hat sich kaum etwas entscheidend verbessert. Ich erinnere des Weiteren an die Situation derjenigen, die soziale Leistungen empfangen, beispielsweise ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger, der Alleinerziehenden sowie der Rentnerinnen und Rentner mit geringem Einkommen, die der Entwicklung der Energiepreise, insbesondere der Strom- und Gaspreise, vielleicht noch viel hilfloser ausgeliefert sind als der Durchschnittshaushalt. Wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, dann stellt man fest, dass die Energiepreissteigerungen im letzten Jahr die Privathaushalte mit 8 Milliarden Euro zusätzlich belastet haben. Alles, was man bislang abschätzen kann, deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Mittlerweile geht es nicht mehr in erster Linie um ökologische Belange. Vielmehr verschiebt sich der Akzent zunehmend auf das Soziale. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir vor fast zehn Jahren - deshalb habe ich meine Fraktion gebeten, heute das Wort ergreifen zu dürfen - einen anderen Ansatz hatten. Wir wollten über die Energiepreise den Energieverbrauch steuern. Diese ökologische Abgaben- und Steuerreform wurde 1998 auf den Weg gebracht. Damals war die Situation aber völlig anders. Die Energiepreise stagnierten eine gewisse Zeit und waren auf einem niedrigeren Niveau. Bereits 1998 - damals regierte Rot-Grün -, als wir über den Ansatz beraten haben, über die Energiepreise den Energieverbrauch zu steuern, habe ich intern darauf hingewiesen, dass es wünschenswert wäre, Vorsorge für den Fall zu treffen, dass die Energiepreise enorm steigen und in sozialer Hinsicht für eine ganze Reihe von Haushalten zum Problem werden könnten. Ich konnte mich damals mit diesem Anliegen nicht durchsetzen. Es ging vor allen Dingen darum, den Gesetzentwurf sehr zügig zu verabschieden. Gleichwohl glaube ich, dass die intellektuelle Redlichkeit gebietet, darauf hinzuweisen, dass der damalige Ansatz, den Energieverbrauch über quasi staatlich verordnete Preissteigerungen zu steuern, ganz anders war, auch wenn es Ausnahmen, beispielsweise für die Industrie - darüber wurde heftig diskutiert -, gab. Dann kam der Ansatz - er wurde hauptsächlich von der rechten Seite dieses Hauses befürwortet -, die Energiepreise über eine so genannte Deregulierung zu steuern bzw. zu senken, damit sie international konkurrenzfähig würden. Es gab sicherlich gute Argumente dafür. Auf den ersten Blick ist der Ansatz, dass mehr Wettbewerb zu niedrigeren Preisen und zu günstigeren Angeboten für die Verbraucher führt, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Mittlerweile sieht man aber, dass die Deregulierung nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat. Das müssen auch die Befürworter der Deregulierung akzeptieren. Heute stellt sich die Frage, warum die Deregulierung nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat. Man muss den Begriff „Deregulierung“ hinterfragen und sich klar machen, was damit gemeint ist. Es gibt Leute, die Deregulierung mit einer Gesetzlosenwirtschaft, mit einer völlig deregulierten Wirtschaft gleichsetzen. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass dort, wo keine Gesetze wirken, der Preisgestaltung und damit auch der Gewinngestaltung keine Grenzen gesetzt sind. Ich bin der Meinung, dass eine solche Situation im Energiesektor, insbesondere im Strom- und Gasbereich, in Deutschland eingetreten ist. Daher ist es erfreulich, dass überall darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, um die Preise wieder in den Griff zu bekommen. Ich will die Debatte auf keinen Fall kontrovers führen; das brächte gar nichts. Vielmehr will ich begrüßen, dass überall nach Wegen gesucht wird, den Preisanstieg einzudämmen. So lese ich beispielsweise, dass das Wirtschaftsministerium über das Kartellrecht tätig werden will. Es ist im Sinne der Verbraucher, wenn es gelingt, mittels des Kartellrechts eine Preissenkung vorzunehmen. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen - darauf habe ich bereits in der letzten Haushaltsdebatte hingewiesen -, dass einige Bundesländer - unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Ausrichtung der Landesregierung - daran denken, die Gültigkeitsdauer der Preisgenehmigung zu verlängern, die in der Hoffnung auf die preissenkende Wirkung der Deregulierung außer Kraft gesetzt worden ist. Aber wir können bislang nicht feststellen, dass die Deregulierung gegriffen hat. Wir sind vielmehr in der Situation, dass die deutschen Strom- und Gaspreise mit an der Spitze in der Europäischen Union liegen. Das ist nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine ökonomische Frage und somit für die rechte Seite dieses Hauses ein Anlass, etwas zu tun. Es ist nicht nur die Stahlindustrie, die sich zur Wehr setzt, und es ist nicht nur beispielsweise die schwedische Industrie insgesamt, die sich dafür ausspricht, die Strompreise zu reregulieren und in diesem Sektor aus Wettbewerbsgründen wieder die öffentliche Verantwortung einzuführen, sondern es sind auch viele kleine Betriebe, die von dieser Preisentwicklung in erheblichem Umfang negativ betroffen sind. ({1}) Es ist überhaupt keine Frage, dass hier etwas geschehen muss. Wir glauben nicht, dass die monopolartige Struktur kurzfristig verändert werden kann, bei allen Ansätzen, die ich hier vorgetragen habe. Wir glauben, dass die Länderregierungen Recht haben, die die Preisregulierung wieder einführen und die Höhe der Energiepreise wieder der öffentlichen Kontrolle unterwerfen wollen. ({2}) Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Dabei möchte ich durchaus aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sagen, dass es nicht unbedingt so sein muss wie bisher, dass ein oder zwei Beamte in den Länderregierungen für die Energiepreisaufsicht zuständig sind. Dies führt nämlich zu einer sehr starken Nähe der zuständigen Beamten zu den jeweiligen Regionalunternehmen und dazu, dass die Energiepreisaufsicht nicht unbedingt in vollem Umfang funktioniert. Ich möchte sehr wohl dafür plädieren, dass man so etwas wie eine parlamentarische Kontrolle und eine Verbraucherkontrolle schafft, die beispielsweise in Großbritannien, wie in unserem Antrag ausgeführt, eingeführt worden ist und große Wirkung hat. Parlamentarische Kontrolle und Verbraucherkontrolle, das wäre mehr Demokratie im Sinne dessen, was wir seit vielen Jahren angeregt haben. ({3}) Es kann auf jeden Fall nicht akzeptiert werden - das möchte ich hier noch einmal sagen -, dass die Energiewirtschaft sagt: Wenn ihr zu solch abstrusen Forderungen kommt, wieder verstärkt die Preise zu kontrollieren, dann investieren wir nicht mehr in Deutschland. - Das ist für mich ein Eklat und zeigt, dass sich dort teilweise monopolartige Strukturen herausgebildet haben, wobei die Monopole nicht mehr bereit sind, sich parlamentarischer Kontrolle zu unterwerfen. Aber genau das muss unser Anliegen sein. ({4}) Wenn es ein Argument gibt, so vorzugehen, dann das Argument, dass Energieunternehmen in nicht zu überbietender Selbstherrlichkeit sagen: Das lassen wir uns nicht bieten. Wenn ihr das macht, dann investieren wir nur noch im Ausland. Im Übrigen glaube ich, dass sehr wohl Investitionen der Energiewirtschaft in die Modernisierung des Netzes angeregt werden müssten. Wir schlagen alternativ vor, die Netze in öffentliche Verantwortung zu überführen, weil das Ganze - siehe andere Länder - sonst überhaupt nicht funktioniert. ({5}) Wir haben unseren Antrag vorgelegt, weil wir glauben, dass wir nicht länger tatenlos zusehen können. Wir greifen alle Ansätze auf, die hier vorgetragen worden sind. Entscheidend ist aber die Zeit. Die Zeit sollte uns veranlassen, einen Ansatz zu suchen, der möglichst schnell realisiert werden kann. Vielleicht ist der von meiner Fraktion vorgeschlagene Ansatz der Preiskontrolle der beste Ansatz; denn wenn wir einen Zugriff auf die Preise haben, können wir Auswüchse und Abzocke, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, wirklich stoppen. Ein letzter Satz noch: Wenn Vorstandsmitglieder von regionalen Energieversorgern sagen, sie brauchten eine Umsatzrendite - ich bitte Sie, darüber einmal nachzudenken - von 15 Prozent - ich schaue jetzt einen an, der weiß, wen ich meine -, dann ist für das Parlament wirklich die Zeit gekommen, einzugreifen; denn Umsatzrenditen von 15 Prozent sind schlicht und einfach Abzocke und Wucher. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir werden heute eine Debatte über die Energiepreise führen, in der wir nicht sehr viel Dissens haben werden. Wir wissen, dass Energiepolitik Wirtschaftspolitik ist. Deswegen ist es für die Bundesregierung sehr wichtig, wettbewerbsfähige Energiepreise zu bekommen. Wir wissen um die Problematik der steigenden Strompreise. Wir wissen, was diese vor allem für die stromintensive Industrie und ihre Wettbewerbsfähigkeit bedeuten. Das betrifft vor allem den Wettbewerb mit den Industrien der Nachbarstaaten. Wir wissen, dass für die Bürger vor Ort die Schmerzgrenze hinsichtlich der Preise erreicht ist. Ohne Zweifel sind wir bei der Regulierung im Monopolbereich, beim Netz, im letzten Jahr gut vorangekommen. Inzwischen liegen die ersten Genehmigungsbescheide der Bundesnetzagentur und der Landesregulierungsbehörden vor. Wie wir gesehen haben, führen sie überwiegend zu einer substanziellen Senkung der Netzentgelte. Eines muss uns in diesem Zusammenhang aber klar sein: Auch wenn wir eine Senkung der beantragten Netzentgelte erreichen, wird das hinsichtlich der Strompreise vor Ort nicht den gewünschten Erfolg bringen. Bei der Kundengruppe der privaten Haushalte macht dies nämlich nur einen ganz geringen Anteil aus. Wenn wir hinsichtlich der Netzentgelte regulieren, dürfen wir aber nicht nur die Kostensenkung im Blick haben, sondern wir müssen auch beachten: Wir wollen Versorgungsqualität. Wir wollen Versorgungssicherheit. Sichere Netze kosten nun einmal etwas. Sichere Netze bekommt man nicht umsonst. ({0}) Bei allen Diskussionen um die Beibehaltung von Preiskontrollen oder sogar die Einführung neuer Preiskontrollen sollten wir eines nicht aus dem Blick verlieParl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl ren: Die effektivste Form der Preiskontrolle ist immer noch ein funktionierender Wettbewerb. ({1}) Die Frage für uns ist: Wie schaffen wir es, im Stromund auch im Gasbereich zu einer höheren Wettbewerbsintensität zu kommen? Druck auf die Preise wird am besten dadurch gewährleistet, dass neue Anbieter in den Markt eintreten. ({2}) Die Bürger sind mündig. Die Bürger werden durch ihr Verhalten entscheiden. Sie haben zukünftig mehr Wahlfreiheit. Danach wird sich die Preisobergrenze bestimmen. Schon jetzt besteht die Möglichkeit, den Lieferanten zu wechseln. Leider nehmen die Bürger sie noch nicht so wahr. Es muss in diesem Zusammenhang vielleicht noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. Heute Nachmittag liegen im Bundesrat Verordnungen auf dem Tisch, in denen es noch einmal um Vereinbarungen zum Lieferantenwechsel geht. Wir brauchen auch für die Haushaltskunden vor Ort ein größeres Angebot an Lieferanten. Das heißt, wir brauchen neue Erzeuger, mehr Erzeuger, unabhängige Erzeuger. ({3}) - Wenn Sie mich weiterreden lassen, gebe ich Ihnen die Antwort darauf. Wir haben ein Problem, die Marktzugangsbarrieren. Die Frage ist: Wie erreichen wir es, für neue Anbieter einen diskriminierungsfreien Zugang zu schaffen, sodass auch investiert wird? Ein Investor, der ein Kraftwerk baut, muss nachher auch die Möglichkeit haben, sich an das Netz anzuschließen. Hier sind wir als Gesetzgeber gefordert. Wir werden die Rechtsverordnung noch in diesem Jahr auf den Weg bringen, um mehr Rechtssicherheit für einen solchen Kraftwerksbauer zu schaffen. Wir brauchen in diesem Bereich grünes Licht für neue Kraftwerksinvestitionen. ({4}) Wir wissen, dass die meisten Maßnahmen, die schon auf den Weg gebracht worden sind oder die im Ministerium erst noch angedacht werden, nicht von heute auf morgen wirken können. Es gibt zu wenig Anbieter. Auf dem Gasmarkt erscheinen zurzeit überhaupt keine neuen Anbieter. Wenn man sich auf der einen Seite die Großhandelspreise und auf der anderen Seite die Stromerzeugungspreise anschaut, wird natürlich augenfällig - da sind wir wieder einer Meinung -, dass es dazwischen einen sehr großen Abstand gibt. Die Frage ist also: Wie verhindern wir, dass die wenigen Anbieter ihre dominierende Marktstellung, die unstrittig vorhanden ist, ausnutzen? Wir wollen dem Kartellamt befristet ein Instrumentarium an die Hand geben - Sie haben es schon angesprochen, Herr Lafontaine -, um die Missbrauchsaufsicht zukünftig effizienter zu gestalten. ({5}) Mit der Erleichterung beim Nachweis von Preismissbrauch und mit der Beweislastumkehr zuungunsten der Energieversorgungsunternehmen geben wir dem Kartellamt ein gutes Instrumentarium an die Hand. Dieses sollte nicht als staatliche Kontrolle angesehen werden, sondern als effektives Instrumentarium. ({6}) Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen: Wir brauchen dringend - das wird auch ein wichtiges Anliegen während unserer Ratspräsidentschaft sein - einen verbesserten grenzüberschreitenden Stromaustausch. Die EU-Kommission hat schon die ersten Maßnahmen eingeleitet; allerdings muss die Integration des Energiesektors in den Binnenmarkt noch viel schneller vorangehen. Zugleich sind wir selber gefordert, hier die gesetzlichen Möglichkeiten zu schaffen, damit die geplanten Infrastrukturmaßnahmen in Zukunft schneller umgesetzt werden können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend sagen: Wir haben eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, von denen die Industrie - ich nenne als ein Beispiel die Härtefallregelungen -, aber auch die privaten Verbraucher vor Ort profitieren werden. Wir prüfen darüber hinaus, ob in Zukunft gewisse Anlaufstellen für die Verbraucher geschaffen werden sollen. Die Engländer haben dafür ein schönes Wort: Consumer Watchdogs. Es handelt sich um Anlaufstellen für die Menschen vor Ort, wohin die Bürger mit ihren Sorgen und Beschwerden hinsichtlich ihrer Energierechnung gehen können und sich Rat holen können. All diese Maßnahmen, die wir planen, verfolgen ein übergeordnetes Ziel, nämlich das Ziel der Schaffung einer größeren Wettbewerbslandschaft, die uns allen eine sichere und günstige Energieversorgung garantiert. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Der Antrag der Linken fordert eine Preiskontrolle, und zwar eine dauerhafte. Ich glaube, dabei geht es insbesondere um die Frage, ob und wie viele Interventionsmechanismen der Staat in einer freien Marktwirtschaft etablieren darf. Es stimmt nicht, dass wir zügellosen Wettbewerb propagieren. Nein, Herr Lafontaine, Sie wissen sehr genau, dass wir einen durch Gesetze und Regeln geordneten Wettbewerb in Deutschland und keinen zügellosen wünschen. Im Kern geht es bei Ihrem Antrag um die Frage: Wettbewerb oder Sozialismus? Ich glaube, dass die Antwort sehr leicht ist. ({0}) Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen: Herr Lafontaine hat davon gesprochen, dass es im Energiebereich eine dauerhafte Preiskontrolle geben solle und das Verfügungsrecht über Energie so ähnlich wie das Recht auf Brötchen anzusehen sei. Das ist genau der Punkt: Wenn Sie wollen, dass im Energiebereich dauerhaft vom Staat Preise vorgegeben werden sollen, dann müsste das auch für das Grundnahrungsmittel Brot bzw. für Brötchen gelten. Aber auch die Grundnahrungsmittel unterliegen bei uns dem freien Wettbewerb. ({1}) - Ja, und auch wir wollen, dass sich alle Menschen Energie leisten können. Das ist gar keine Frage. Dafür möchten wir aber den Wettbewerb fördern. Der Wettbewerb ist im Moment eingeschränkt; das ist gar keine Frage. Es gibt eine Marktkonzentration und wir sind hier nicht auf dem richtigen Weg. Deshalb haben wir auch Ja zu einer Regulierungsphase gesagt. Diese musste sein und sie läuft ja im Augenblick. Sie ist allerdings bis zum Sommer des kommenden Jahres befristet. Bis dahin, wenn dieser Phase der nächste Schritt folgt, nämlich die Anreizregulierung, ist unser Anspruch, dafür zu sorgen, dass Markt und Wettbewerb greifen und Kostensenkungen möglich werden. ({2}) Wir sind gegen staatliche Dauerinterventionen und für einen freiheitlichen Ansatz. ({3}) Bundeswirtschaftsminister Glos hat gesagt: Wir müssen uns die gesamte Kostenstruktur anschauen und müssen überprüfen, an welcher Stelle Kosten- und Preissenkungen realisierbar sind. Das ist richtig. Allerdings muss man an diesem Punkt sehen, dass 75 Prozent der Tarifkundenpreise bereits festgelegt sind. Der eine Teil dieser Kosten ist staatlich verursacht, wie Steuern und Abgaben. Hinzu kommt staatlicherseits die Mehrwertsteuererhöhung. Sie ist politisch gewollt, nämlich von der Mehrheit dieses Hauses. Der andere Teil dieser Kosten - etwa 30 Prozent der Tarifkundenpreise - ist reguliert: die Netzkosten. Es bleibt eine Marge von 25 Prozent. Einige meinen, wir müssten weiter an dieser Schraube drehen. Natürlich gibt es in diesem Bereich Oligopolgewinne. Aber es ist wichtig, dass wir gerade dort Wettbewerb ermöglichen, damit neue Anbieter überhaupt die Chance haben, denjenigen, die den Markt derzeit beherrschen - sie haben sehr hohe Margen -, Konkurrenz zu machen. ({4}) Das wäre der richtige Ansatz. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt sehr viele neue Energieanbieter, die verzweifelt sind, weil sie keine Möglichkeit finden, in den Markt einzutreten. ({5}) - Keine Frage; das ist völlig richtig. Wir müssen dieses Grundproblem lösen und einen diskriminierungsfreien Netzzugang gewährleisten. Wir sind im Moment auf dem Weg, dies zu tun. ({6}) Wir müssen uns die selbst verursachten Kosten, Steuern und Abgaben anschauen. Da müssen wir ansetzen. Ich sage Ihnen eins, Frau Wöhrl: Wir als Liberale können zum Beispiel nicht verstehen, dass Sie nicht das entsprechende Instrument nutzen, um staatlich verursachte Kosten zu senken. Warum befürworten Sie nicht, dass wenigstens 10 Prozent der CO2-Zertifikate versteigert werden können, damit man mit den Erlösen zum Beispiel die Stromsteuer senken kann? Das wäre ein guter Ansatz. ({7}) An diesem Punkt bewegen Sie sich aber leider nicht und das finde ich sehr bedauerlich. Minister Glos hat gesagt, er wolle das Kartellrecht dahin gehend ändern, dass die Missbrauchsaufsicht erleichtert wird. Auch das scheint ein richtiger Weg zu sein - auch wir möchten keinen Missbrauch -; wir kennen die genaue Ausformulierung noch nicht. Frau Wöhrl, Teil zwei einer solchen Missbrauchsaufsicht - Teil eins betrifft das Recht - sollte eine entsprechende Personalausstattung des Bundeskartellamtes regeln. Ohne sie wird es nicht möglich sein, die Missbrauchskontrolle tatsächlich so durchzuführen, wie es eigentlich nötig wäre. Daher möchte ich hier an die Bundesregierung appellieren, das Personal zu verstärken. Im Übrigen, es rechnet sich, weil das Bundeskartellamt Bußgelder einnimmt, wodurch Kosten gesenkt werden können. Wichtig ist - das ist eben schon angesprochen worden -, bei der strikten Regulierung die Grenzkuppelstellen in Europa zu bedenken. Diese Stellen sind eine Art Flaschenhals. Wenn wir auf dem deutschen Markt neue Anbieter haben möchten - daran arbeiten wir sehr verzweifelt -, dann müssen wir Anreize für eine Beseitigung dieser Engpässe schaffen. Ich habe Ihnen eben gesagt, dass es wichtig ist, dass der Staat die Stromkosten, für die er selbst verantwortlich ist - über 40 Prozent -, senkt. Ich möchte noch etwas hinzufügen. Wir müssen uns natürlich fragen, wie wir dafür sorgen können, dass Energie auch künftig kostengünstig ist. Ich kann Ihnen nicht vorenthalten, kritisch anzumerken, dass eine Entscheidung über den künftigen Energiemix dringend erforderlich ist. Die kostengünstige und klimaschonende Stromproduktion aus Kernkraft darf nicht einfach beendet werden. ({8}) Wir müssen die Laufzeiten der Kernkraftwerke vielmehr verlängern. Über diese Frage schwelt ein dauerhafter Streit in der Koalition; das wissen wir. Dieser Streit muss, wie meine Fraktion hofft, zugunsten eines breit aufgestellten Energiemixes beendet werden. Wir wollen, dass zukünftig in neueste Technologien für Kohle- und Gaskraftwerke investiert wird. Dabei muss auch der Klimaschutz berücksichtigt werden. Dafür müssen wir Investitionsanreize schaffen. Das setzt aber voraus, dass die Politik den notwendigen Rahmen setzt. Ich sage es noch einmal, Frau Wöhrl: Es ist katastrophal, dass die Bundesregierung bis heute kein Energieprogramm vorgelegt hat. ({9}) Der gesamte Rahmen muss abgesteckt werden: Wohin wollen Sie? Welche Ziele haben Sie? Das Energieprogramm sollte nicht erst Ende 2007, also nach Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgelegt werden, sondern schon jetzt. Für den deutschen Energiemarkt ist eine solche Orientierung absolut notwendig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter von der Linksfraktion?

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Frau Kollegin Kopp. - Sie haben über eine zukünftige Verlängerung der Laufzeiten für AKWs gesprochen. Ihre Fraktion wünscht sich das. Sie haben in diesem Zusammenhang über Möglichkeiten gesprochen, Energie günstiger zu produzieren. Ich denke, darin liegt ein großer Widerspruch. Denn nach wie vor sind die AKWs nicht oder nur zu einem kleinen Teil haftpflichtversichert. Sie wissen das sicher. Eine Enquete-Kommission hat die tatsächlichen Kosten berechnet. Diese liegen sehr viel höher als der Anteil, der in den Strompreisen für AKW-Strom enthalten ist. Ich denke - auch Sie fordern das -, dass die Kosten in die Preise einfließen müssen. Es sollte nicht so sein, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Irgendwann müssen - das sagt auch Ihr umweltpolitischer Sprecher Herr Kauch - diese Kosten in die Preise einfließen. Wie stehen Sie dazu?

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, es ist richtig, dass anfallende Kosten einkalkuliert werden müssen. Das werden sie auch. Denn die Kosten für die Versicherung werden von den Unternehmen übernommen. Aber bei den kerntechnologischen Anlagen gibt es eine Versicherungshöchstgrenze. Diese Grenze, die es weltweit gibt, existiert auch für andere Anlagen, beispielsweise für Chemieanlagen. Die Unternehmen müssen sich aufgrund des internationalen Wettbewerbs im Hinblick auf vertragliche Vereinbarungen so positionieren, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit gewährleistet ist. Versicherungsschutz besteht also und die Kosten dafür sind entsprechend berücksichtigt. Zum Schluss habe ich eine Bitte an das Wirtschaftsministerium. Ich finde es ganz erfreulich, dass Bundeswirtschaftsminister Glos jetzt in die Offensive gegangen ist und erklärt hat, dass er sich ganz massiv dafür einsetzen wird, am Standort Deutschland mehr Wettbewerb im Energiebereich zu ermöglichen. Störend ist allerdings, dass es innerhalb der Koalition einen Streit - dieser Streit dringt auch nach außen - zwischen dem Bundesumweltminister und dem Bundeswirtschaftsminister gibt. Ich wünsche mir, dass es gelingt - auch die Kanzlerin ist hierbei gefordert -, in Deutschland die Weichen in Richtung einer vernünftigen Wettbewerbspolitik zu stellen. Es darf nicht sein, dass beim Energiegipfel Herr Gabriel möglicherweise die Chance nutzt, immer mehr Zuständigkeiten für die deutsche Energiepolitik an sich zu ziehen. Das würde in der Öffentlichkeit zu Irritationen führen. Letztlich muss es auch möglich sein, endlich eine Entscheidung über den Standort eines Endlagers für Atommüll zu treffen. Wir dürfen solche Entscheidungen nicht weiter vor uns herschieben. Es gibt viel zu tun. Der Gipfel wird nicht viel bringen. Wahrscheinlich wird er nicht mehr sein als eine Gesprächsrunde, die nicht wirklich zu Ergebnissen führen wird. Es sollte aber vor allen Dingen darum gehen, die energieintensiven Unternehmen in Deutschland, die immerhin 600 000 Arbeitsplätze unterhalten, tatsächlich am Standort Deutschland zu halten, damit wir auch in Zukunft diese Arbeitsplätze und unseren wirtschaftlichen Wohlstand

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- im europäischen und internationalen Wettbewerb bewahren können. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Manfred Zöllmer.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor kurzem mussten die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder einmal lesen, dass die Stromversorger zu Beginn des kommenden Jahres Preiserhöhungen angekündigt haben. Die Schmerzgrenze ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher und die Wirtschaft längst überschritten. Blickt man in aktuelle Statistiken, so ist festzustellen, dass manche Anbieter in Deutschland die Strompreise seit dem Jahr 2000 um mehr als 50 Prozent angehoben haben. Auch Preiserhöhungen um 30 Prozent sind keine Seltenheit. Dabei reden wir nicht über marginale Belastungen oder über ein paar Euro mehr oder weniger pro Monat, die die Verbraucherinnen und Verbraucher gut tragen können. Millionen Haushalte in Deutschland bekommen durch die ständigen Energiepreiserhöhungen handfeste Probleme. Mehr als 5 Millionen Haushalte in Deutschland müssen laut Armutsbericht der Bundesregierung mit einem Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro monatlich auskommen. Weitere Preiserhöhungen sind da kaum verkraftbar. Zu Recht hat der Bund der Energieverbraucher darauf hingewiesen, dass nach der Miete die Energiekosten bei einem steigenden prozentualen Anteil zum zweitgrößten Ausgabeposten vieler Haushalte werden. Bei weiteren drastischen Erhöhungen sind die Energiekosten in naher Zukunft für viele Menschen in diesem Land kaum mehr zu tragen. Dabei stehen den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Anbetracht der Marktsituation kaum Optionen zur Verfügung, an diesen finanziellen Belastungen etwas ändern zu können. Das, was an individueller Einsparmöglichkeit zur Verfügung steht, wird von vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern bereits genutzt. Trotz aller neuen Geräte, die uns insbesondere die Kommunikationstechnologie ins Haus gebracht hat, ist der Verbrauch je Haushalt in den letzten zehn Jahren um etwa 8 Prozent gestiegen. Das eigentliche Problem liegt in der Tat an dem zu geringen Wettbewerb im Energiesektor, der den Verbraucherinnen und Verbrauchern kaum Wahlmöglichkeiten lässt. Derzeit werden 80 Prozent des Energiemarktes von nur vier Firmen dominiert. Wir haben es hier mit einem monopolistisch oder oligopolistisch strukturierten Markt zu tun. ({0}) - Zu Ihren Forderungen komme ich gleich. ({1}) - Das ist auch in Ordnung. Das ist die Situation. Es gibt ein gutes Beispiel dafür, wie der Weg vom Monopol hin zu einem Wettbewerbsmarkt erfolgreich beschritten werden kann: Das ist der Telekommunikationsmarkt. Bereits kurz nach Einführung des Wettbewerbs sind die Preise auf diesem Markt drastisch gefallen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen heute für ein inländisches Ferngespräch nur noch 5 Prozent des Betrages, den man vor Jahren dafür zahlen musste. Ich weiß, dass der Telekommunikationsmarkt und der Gas- und Strommarkt nicht das Gleiche sind. Die Situation auf diesen Märkten ist unterschiedlich. Aber dieses Beispiel zeigt: Durch eine gute Regulierung und mit zunehmendem Wettbewerb werden auch die Verbraucherinnen und Verbraucher von sinkenden Preisen profitieren. Wer Verbraucherinteressen auf diesen Märkten im Blickfeld hat, darf jedoch nicht nur auf den Preis schauen. Neben günstigen Preisen muss aus Verbrauchersicht auch die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Der deutsche Verbraucher sitzt pro Jahr im Durchschnitt 23 Minuten wegen Stromausfalls im Dunkeln. Die Netzqualität in Deutschland muss auch in Zukunft so gut sein, dass der Inhalt von Tiefkühltruhen nicht durch längere Stromausfälle verdorben wird und die Menschen nicht längere Zeit im Dunkeln sitzen. Allein ein niedriger Preis kann uns nicht glücklich machen. Eine gute Verbraucherpolitik muss günstige Preise und Versorgungssicherheit miteinander verbinden. Deshalb brauchen wir politische Rahmenbedingungen, die beides sicherstellen. ({2}) Es bleibt richtig, die Regulierung der Energienetze durch die Bundesnetzagentur durchführen zu lassen. Allein die Regulierungsentscheidungen der Bundesnetzagentur aus den letzten Tagen führten dazu, dass die Netzentgelte bei der EnBW Regional AG in Stuttgart zum 1. September um 14 Prozent gekürzt wurden und die Netzentgelte bei der Vattenfall Europe AG in Berlin und Hamburg um 15 Prozent gesenkt werden. Nach einer Modellrechnung der Bundesnetzagentur können die Kürzungen einen durchschnittlichen Haushaltskunden in Stuttgart um rund 37 Euro entlasten. Für Berlin und Hamburg werden die durchschnittlichen Einsparmöglichkeiten mit circa 31 Euro bzw. 47 Euro angegeben. Wichtig bleibt, dass die Unternehmen die Senkung der Netznutzungsgebühren an die Haushalte weitergeben. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. ({3}) Aber auch bei der Netzregulierung darf die Bundesnetzagentur das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Kleine Stadtwerke, deren Kosten schon heute unterhalb der durchschnittlichen Kosten vergleichbarer Unternehmen liegen, dürfen nicht weiter geknebelt werden. Ich weiß, wovon ich spreche. ({4}) Langfristig würden nur die großen Anbieter profitieren, wenn viele kleine Stadtwerke in ihrer ökonomischen Existenz bedroht wären und am Markt nicht weitermachen könnten. ({5}) - Keine Sorge, wir kümmern uns um diese Problematik. Da können Sie sicher sein. Dieser Hinweis macht eines deutlich: In diesem Zusammenhang gibt es keine einfachen Lösungen. Das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern, nämlich eine Verlängerung der Preisgenehmigung, ist schon gar keine einfache Lösung. ({6}) Die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Thoben hat die gleiche Forderung erhoben. Am Mittwoch, den 30. August, hat die „Financial Times Deutschland“ unter der Überschrift „Stromriesen begrüßen Preisaufsicht“ Folgendes geschrieben: Die Forderung der nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerin Christa Thoben ({7}) nach einer Verlängerung der staatlichen Aufsicht über den Strompreis ist bei den Stromkonzernen inoffiziell auf große Zustimmung gestoßen. „Preisaufsicht ist klasse“, hieß es am Dienstag bei den Versorgern hinter vorgehaltener Hand. „Sie ist ein staatlich beglaubigtes Gütesiegel und schützt uns vor Vorwürfen, dass wir unsere Preise ungebührlich anheben“, so ein Energie-Manager, der nicht namentlich genannt werden wollte. ({8}) Sie sehen also: Sie sind mit Ihrer Forderung auf dem Holzweg. Eine Wiederbelebung der Bundestarifordnung Elektrizität über das Auslaufen im nächsten Jahr hinaus ist der falsche Weg. Lieber Kollege Lafontaine, Sie haben eben ausgeführt, dass man mit einer Verlängerung der Bundestarifordnung Elektrizität in der Lage sei, die - so haben Sie das genannt - „Abzocke“ wie in der Vergangenheit zu verhindern. Diese Aussage ist Folge eines Trugschlusses: Bisher gilt diese Genehmigungspflicht; die Probleme, über die wir sprechen, haben wir aber jetzt. Sie machen einen Denkfehler. Sie sollten über Ihre Forderung einmal nachdenken. Sie gaukeln den Verbraucherinnen und Verbrauchern etwas vor, was Sie nicht erreichen können. Sinkende Preise erreichen wir nur durch einen funktionierenden Wettbewerb. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen verbessern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass ich vorgetragen habe, dass die bisherige Praxis nicht funktioniert. Das weiß ich, weil ich sie jahrelang verantwortet habe. Daher habe ich vorgeschlagen, eine parlamentarische Kontrolle vorzusehen. Haben Sie ferner zur Kenntnis genommen, dass ich auf die erfolgreiche Praxis in Großbritannien verwiesen habe? Wenn wir schon diskutieren, bitte ich darum, die Argumente, die der andere anführt, aufzunehmen, sonst ist es nämlich keine Debatte.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne, Herr Kollege Lafontaine. Ich gebe Ihnen nur den Hinweis, die Anträge Ihrer Fraktion vorher etwas genauer zu lesen. Ich darf einmal Ihren Antrag zitieren. Dort heißt es auf der zweiten Seite: Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bundesregierung auf, - die Preiskontrolle nach § 12 BOTElt über den 30. Juni 2007 hinaus beizubehalten … Das ist die Forderung Ihrer Fraktion. Dazu habe ich mich eben geäußert. ({0}) Dazu gilt das, was ich gesagt habe. ({1}) - Das ist, denke ich, völlig klar. Im Zweifel hilft ein genauer Blick in den Antrag, den Sie selbst gestellt haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Zöllmer, der Kollege Maurer möchte Ihnen mit einer Zwischenfrage eine Verlängerung Ihrer Redezeit ermöglichen. Lassen Sie das zu?

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So viel Großzügigkeit bin ich gar nicht gewohnt. Aber er darf natürlich eine Zwischenfrage stellen.

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Ich habe die schlichte Frage an Sie, wie Sie die von Ihnen angekündigte Absenkung der Preise um 37 Euro für den durchschnittlichen Haushaltskunden im Gebiet der EnBW durchsetzen werden. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die geltenden Gesetze versetzen die Bundesnetzagentur in die Lage, die Netzentgelte entsprechend festzusetzen. ({0}) Das ist das eine. Auf der anderen Seite gibt es eine öffentliche Diskussion und einen sehr starken und sehr massiven Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher in Richtung Stromkonzerne. Ich kann das nur begrüßen. Ein Beispiel ist der Gassektor. Dort gab es viele tausend Klagen von Verbraucherinnen und Verbrauchern unter Bezug auf die Billigkeitsklausel. Es kam zu sehr interessanten Gerichtsurteilen, in denen vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern Recht gegeben wurde. Das heißt, auch in der jetzigen Situation gibt es für die Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus Möglichkeiten, sich gegen eine unverschämte Abzocke - wenn es sie gibt - zu wehren. Zusätzlich - das ist ganz wichtig - brauchen wir eine Stärkung des Wettbewerbs bei Erzeugung und Vertrieb und damit einen diskriminierungsfreien Netzzugang für neue Kraftwerke. Wir brauchen Investitionen in neue Kraftwerke. Das ist aus Verbrauchersicht völlig unverzichtbar. Es gibt eine Reihe von Neubauprojekten. Diese müssen vorangetrieben werden. Wir brauchen eine Netzanschlussverordnung, die es möglich macht, zu verbesserten Angeboten zu kommen. Wir diskutieren im Moment über ein Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Auch hier müssen die Weichen so gestellt werden, dass die Angebotsseite ihr Angebot erhöhen kann. Ich begrüße, was der Bundeswirtschaftsminister im Zusammenhang mit der GWB-Novelle angekündigt hat. Ich glaube, das ist der richtige Weg, um die Missbrauchsaufsicht zu verschärfen. Das ist die Alternative zur Kontrolle. Sie muss verschärft werden. Wir brauchen eine Beweislastumkehr und müssen das Wettbewerbsrecht zeitgemäß mit dem notwendigen Biss versehen. Das Ministerium ist hier auf einem sehr guten Weg. Sie fordern im Übrigen in Ihrem Antrag einen Stromsozialtarif. Ich fand das sehr interessant. Warum fordern Sie eigentlich Sozialpreise nur für Strom, warum nicht auch für Benzin, Brötchen oder Jeans? ({1}) Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie uns hier mit Ihrem Antrag vorlegen. Das, was Sie hier dargestellt haben, ist nicht der richtige Weg. Wir müssen den Weg des Wettbewerbs beschreiten. Er wird den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf Dauer sinkende Preise bescheren. Das ist der richtige Weg. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Höhn das Wort. ({0})

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein reales Problem. Viele Haushalte sind in der Tat total erschrocken, wenn sie ihre Strom- oder Gasrechnung bekommen. Es gibt viele Haushalte, für die das eine enorme soziale Belastung ist. Das betrifft übrigens nicht nur Privathaushalte, sondern auch Gewerbebetriebe. ({0}) Wir haben hier jetzt über die privaten Haushalte gesprochen. Wir müssen aber auch über die kleinen und mittelständischen Betriebe reden, für die die Energiekosten immer dramatischer werden. ({1}) - Da Sie die Mehrwertsteuer erhöhen wollen, müssen wir über Schuld nicht mehr reden. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer kommt auf einen Vierpersonenhaushalt eine Belastung von 100 Euro pro Jahr zu, ({2}) und zwar ohne dass Sie das Geld in die Sozialsysteme stecken, wie wir es gemacht haben. An dieser Stelle seien Sie also ganz still und tun Sie Buße. Wir müssen, meine Damen und Herren, klar sehen: Was sind die Gründe dafür, dass die Preise steigen? Der erste Grund ist in der Tat, dass Gas und Öl knapper werden. Vor zwei Tagen hat die Börse gejubelt, dass der Ölpreis etwas gesunken ist und das Öl nur noch 60 Dollar pro Barrel gekostet hat. Aber man muss auch sehen, dass das Barrel Ende 2001 20 Dollar gekostet hat, dass der Preis sich also mittlerweile verdreifacht hat. Das hängt auch mit den knapper werdenden Ressourcen zusammen. Darauf kann man nur reagieren, indem man mehr auf erneuerbare Energien, Energieeinsparung und Energieeffizienz setzt. Das ist ein ganz notwendiger und wichtiger Schritt. ({3}) Der zweite Grund für die enorm gestiegenen Energiepreise ist - das hat auch die Linke aufgegriffen -, dass die Energiekonzerne ihre Macht am Markt missbrauchen. ({4}) Momentan werden die Verbraucherinnen und Verbraucher mit den hohen Energiepreisen wirklich abgezockt. Wir können es nicht mehr akzeptieren, dass auf der einen Seite die Energiepreise ins Unendliche steigen und auf der anderen Seite die Gewinne der Energieunternehmen in Milliardenhöhe steigen. Das darf man nicht akzeptieren, meine Damen und Herren; denn diese Unternehmen machen Gewinne auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({5}) Es ist richtig, auf Wettbewerb zu setzen; keine Frage. Aber genauso muss gefragt werden: Was machen wir, solange es keinen Wettbewerb gibt? Da müssen wir uns die einzelnen Punkte genau vornehmen. Einen dieser Punkte haben Sie, Frau Kopp, doch angesprochen, nämlich die Emissionszertifikate. Ich halte es für eine absolute UnBärbel Höhn verschämtheit, dass Unternehmen Emissionszertifikate, die sie umsonst von der Bundesregierung bekommen, in ihre Bilanzen und damit den Verbrauchern und Kunden in Rechnung stellen. ({6}) Wir reden hierbei über keine Kleinigkeit, sondern über 5 Milliarden Euro pro Jahr. Rechnen Sie einmal aus, was das pro Kopf der Bevölkerung bedeutet: Jeder Mensch in der Bundesrepublik Deutschland muss durchschnittlich 60 Euro pro Jahr bezahlen, nur weil die Unternehmen Kosten in ihre Bilanzen stellen, die sie gar nicht haben. Das ist eine absolute Unverschämtheit, mit der wir endlich Schluss machen müssen. ({7}) Bei einem Vierpersonenhaushalt reden wir hier immerhin über 240 Euro pro Jahr. Wenn er um diese Kosten entlastet werden könnte, wäre das eine Menge für jeden Haushalt. Es gibt in diesem Land mittlerweile eine Menge Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich wehren. Eine halbe Million Menschen klagt inzwischen dagegen, die Gaspreiserhöhung, die ihnen ins Haus geschickt worden ist, zahlen zu müssen. Das finde ich richtig, meine Damen und Herren. Wir sollten sie unterstützen. ({8}) Diese halbe Million Menschen gewinnt übrigens jeden Prozess. Warum? Weil die Richter anerkennen, dass wir momentan keinen Wettbewerb haben und dass eine Angemessenheit dieser Preiserhöhungen, solange die Unternehmen nicht darlegen, wie die Mehrkosten entstanden sind, nicht gegeben ist. Deshalb müssen wir alles tun, um hier zu einer Änderung zu kommen. Ich habe eben die Emissionszertifikate angesprochen. Ich finde es gut, was die Bundesregierung jetzt erwägt, nämlich die Missbrauchsaufsicht, die Änderung des Kartellrechts. Es ist richtig, dahin zu kommen. Genauso richtig ist aber, den Verbrauchern über das Verbandsklagerecht mehr Möglichkeiten zu geben, für ihre Rechte einzutreten und ihren Strom zu angemessenen Preisen beziehen zu können. ({9}) Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir endlich die Trennung von Netz und Betrieb erreichen müssen. ({10}) Was wir im Energiebereich haben, ist eine absolute Unverschämtheit. Vergleichbar wäre es, wenn ein Teil der Autobahnen VW, ein Teil Opel und ein Teil Ford gehörte und Daimler - vielleicht auch umgekehrt - hohe Kosten zahlen müsste, wenn dessen Fahrzeuge auf diesen Autobahnen fahren wollten. Das darf nicht sein. ({11}) Wir müssen die Trennung von Netz und Betrieb hinbekommen. Das gilt übrigens auch bei der Bahn. Wer will, dass die Preise im Gleichgewicht bleiben, der muss für die Trennung von Netz und Betrieb sorgen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, es wäre ganz sinnvoll, in dieser Debatte mit Fakten zu argumentieren und die Historie zu beleuchten, bevor man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Der Wettbewerb und die Liberalisierung, die im Jahre 1998 von der damaligen unionsgeführten Bundesregierung zusammen mit der FDP eingeleitet wurden, haben dazu geführt, dass es bis heute zu Liberalisierungs- und Rationalisierungseffekten in einer Größenordnung von ungefähr 8,5 Milliarden Euro gekommen ist. ({0}) - Im Erzeugungsbereich, in dem Überkapazitäten und Ineffizienzen beseitigt wurden. - Im Gegenzug wurden im selben Zeitraum zusätzliche staatliche Belastungen in Höhe von 12 Milliarden Euro induziert. ({1}) Liebe Frau Höhn, ich muss schon sagen: Es ist ziemlich populistisch und dummdreist, wenn Sie sich hier als Vorkämpferin gegen hohe Strompreise darstellen, obwohl Sie selbst zu verantworten haben, dass diese staatlich administrierte Belastung von 1998 bis 2005 von 2 Milliarden Euro auf 12 Milliarden Euro gestiegen ist. Das ist die Faktenlage.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie hatte gerade Zeit für ihre Ausführungen. Nein. ({0}) Was ist passiert? Die Staatsquote ist von 25 Prozent auf derzeit über 40 Prozent gestiegen. ({1}) Im Hinblick auf die Strompreise, die die Haushalte zu zahlen haben - davon haben Sie gesprochen -, beträgt die Staatsquote weit mehr als 40 Prozent. Das ist der dominierende Faktor. ({2}) Das kann man nicht nur auf die Monopole oder Oligopole, auf die ich gleich eingehe, schieben. Wir sollten uns vielmehr an die eigene Nase fassen und überlegen, welche Ursachen die hohen Strompreise wirklich haben. An dieser Stelle können Sie sich nicht exkulpieren. ({3}) Ich nenne nur folgende Stichworte: Ökosteuer auf Strom, Erneuerbare-Energien-Gesetz, Kraft-WärmeKopplung, Konzessionsabgabe und Emissionshandel; auch beim Emissionshandel zeigen sich inzwischen die Auswirkungen der Regelungen, die Ihr Kollege Trittin eingeführt hat. ({4}) Die aktuelle Lage sieht also wie folgt aus: Über 40 Prozent sind staatlich induziert, weitere 35 Prozent sind Netznutzungsentgelte. Es besteht in der Tat ein natürliches Monopol. Die Verbändevereinbarung hat nicht funktioniert. Der Sonderweg, den wir auf europäischer Ebene beschritten haben, wurde nicht goutiert. Deshalb haben wir im letzten Jahr mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes die Grundlage geschaffen, dass durch eine Regulierung dieses Monopolmarktes Wettbewerb initiiert und simuliert wird, zunächst durch eine direkte Kostenregulierung und ab dem Jahre 2008 durch eine Anreizregulierung, die dazu führen wird, dass die Monopolrenditen in diesem Bereich nicht mehr so stark wie bisher zum Tragen kommen. Preisdämpfend sind in diesem Zusammenhang auch die Entscheidungen der Bundesnetzagentur, die aus meiner Sicht einen wirklich guten Job macht. Ihre Entscheidungen gehen in die richtige Richtung. ({5}) Zum Thema Wettbewerb. Es ist völlig richtig, dass es nicht gelungen ist, die Stromerzeugungskapazitäten von 1998 bis heute im nötigen Umfang zu diversifizieren und den Wettbewerb zu beleben. Gegenwärtig befinden sich in diesem Wettbewerbsbereich immer noch, entweder direkt oder indirekt, 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugung in der Hand der vier großen Unternehmen. Das kann selbstverständlich zu Marktmissbrauch führen. Diese Determinante macht weniger als 20 Prozent aus; beim Rest handelt es sich zum Beispiel um Bereiche wie den Vertrieb, in denen der Wettbewerb nicht funktioniert hat. Unser Schluss ist ein anderer als der des Antragstellers: Obwohl der Wettbewerb im Moment noch nicht richtig funktioniert, wollen wir ihn nicht sofort wieder abschaffen und durch staatliche Reglementierungen ersetzen, ({6}) die dann das Gegenteil dessen, was wir wollen, bewirken würden. Wir wollen dafür sorgen, dass der Wettbewerb funktioniert. ({7}) Wie können wir es schaffen, dass der Wettbewerb funktioniert? Die Frau Staatssekretärin hat es ausgeführt: In der Tat besteht sofortiger Handlungsbedarf. Wir denken, dass eine marktkonforme, verbesserte Missbrauchskontrolle - die Instrumente wurden genannt - der richtige Ansatz ist, ({8}) nicht etwa die Verlängerung der Tarifpreisgenehmigung, durch die wir im Erzeugungsbereich reglementierend in die Preisbildung eingreifen würden. Damit aber nicht genug, es gibt noch andere Dinge, die wir tun können. Ich sage ganz klar: Für uns ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht, was die staatliche Reglementierung und die staatlichen Abgaben anbelangt. Daran müssen wir denken, wenn wir nächstes Jahr an die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gehen. ({9}) Daran müssen wir denken, wenn wir an die Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes gehen, daran müssen wir denken, wenn wir das Stromsteuergesetz weiterentwickeln. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob wir beim Emissionshandel, beim NAP II, die richtigen Instrumente zum Einsatz bringen; dort haben wir die Stellgrößen in der Hand. Der Staat hat seinen Beitrag zu leisten, damit es bei den Energiepreisen mehr Wettbewerb gibt. Wir müssen des Weiteren dafür sorgen - das kann nicht nur die Bundesnetzagentur machen, da sind auch wir entsprechend gefordert -, dass der Markt bezüglich Handel und Liberalisierung funktioniert, und zwar nicht nur auf Deutschland beschränkt. Wir brauchen einen funktionierenden europäischen Markt für Strom und für Gas. Für Strom haben wir eine Börse; sie muss mit weiterer Liquidität versorgt werden. Wir brauchen so etwas auch für Gas. Im Oktober wird die Strombörse EEX auch den Handel mit Gas aufnehmen, was mit Sicherheit zu höherer Transparenz führen wird. Wir brauchen eine Verbesserung der Interkonnektoren - der Übergangsstellen, der Kuppelstellen - für Strom bzw. Gas ins europäische Ausland, damit der Wettbewerb auf dem Markt besser funktioniert und wir mehr Liquidität bekommen. Die Bundesnetzagentur hat diese Woche in der Umsetzung des Energiewirtschaftsgesetzes den wichtigen Schritt getan, die Ausschreibungsbedingungen für die Regelenergie in Form der Minutenreserve festzulegen. Andere werden entsprechend folgen. Wir müssen hier die Effizienzen stärken; auch das wird preisdämpfend wirken. Wir müssen vor allem darauf hinwirken, dass der Netzzugang für neue Anbieter verbessert wird; da sind wir im Erzeugungsbereich an der richtigen Stelle. Wir müssen dafür sorgen, dass neue Anbieter in den Markt eintreten. Das können dezentrale sein wie Stadtwerke, die im Übrigen auch Angst haben um die Monopolrenditen, die sie für die Nutzung ihrer Netze einstreichen. Mir ist es egal, ob es ein privates oder ein öffentliches Unternehmen ist, das die Monopolrendite verdient - eine Monopolrendite ist nie der richtige Weg. Deshalb müssen auch durch die Regulierung der Netznutzungsentgelte entsprechende Effizienzreserven gehoben werden. Die Stadtwerke haben aber auch Chancen: durch die dezentrale Erzeugung von Strom, sei es durch erneuerbare Energien oder durch konventionelle, sowie durch den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Auch ausländische Anbieter sind herzlich eingeladen, als Wettbewerber einzusteigen. Das führt zu einer Intensivierung des Wettbewerbs. Wir müssen sicherstellen, dass diesen neuen Anbietern der Netzzugang ermöglicht wird.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wir müssen den Netzzugang verbessern. Es ist nicht akzeptabel, dass neue Anbieter über Jahre hinweg mit fragwürdigen Argumenten am Netzzugang gehindert werden. ({0}) Insofern will ich zusammenfassen: Es nützt nichts, das Kind mit dem Bade auszuschütten und in blinden Aktionismus zu verfallen, vielmehr brauchen wir ein differenziertes Vorgehen. Wir müssen dort, wo wir handeln können als Staat, das heißt, bei den Steuern und Abgaben und bei der Missbrauchsaufsicht, im Erzeugungsbereich, unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen die Bedingungen des Marktes so gestalten, dass Wettbewerber in den Markt eintreten können. Hinzu kommen muss aber, dass die Kunden die Souveränität zeigen, den Anbieter zu wechseln. Viel zu wenige wechseln ihren Gasoder Stromanbieter. Auch das führt zu einer Verschleppung des Wettbewerbes. Wenn diese Dinge auf die Schiene gebracht sind, werden wir im Ergebnis nicht nur die Strom- und Gaspreise stabilisieren können, sondern zudem Effizienzgewinne erzielen. Wir werden für den Verbraucher etwas tun und wir werden für die Wirtschaft etwas tun, indem wir die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, aber bitte mit marktwirtschaftlichen Instrumenten und nicht mit staatlichem Dirigismus. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hill.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Pfeiffer, gestatten Sie mir kurz folgende Anmerkung: Sie haben eben ganz klar und deutlich gesagt, dass Sie dagegen sind, die Staatsquote beim Strompreis weiter zu erhöhen. Sie erhöhen die Staatsquote allerdings dadurch, dass Sie die Mehrwertsteuer erhöhen. Das ist doch wohl richtig. Da Sie eben die erneuerbaren Energien angesprochen haben, möchte ich hiermit festhalten: Die Kosten für die erneuerbaren Energien machen gerade einmal 5 Prozent des Strompreises aus. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer aber um 3 Prozentpunkte. Ich finde, das muss hier in der Öffentlichkeit einmal ganz klar gesagt werden. Es wird der Eindruck erweckt, als ob die erneuerbaren Energien Schuld daran tragen, dass die Strompreise so hoch sind. Das ist schlichtweg falsch. Das ist das falsche Signal. Wir brauchen die erneuerbaren Energien, ({0}) damit wir in Zukunft günstig Strom produzieren und uns von Uran, Erdöl und Gas unabhängig machen können. Danke. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pfeiffer, möchten Sie reagieren?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hill, ich habe doch überhaupt nicht gegen die erneuerbaren Energien gesprochen. Hätten Sie mir zugehört, ({0}) dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass über 40 Prozent staatlich induziert sind. Hier sind die Ökosteuer auf Strom, die im Wesentlichen unseren grünen Freunden zu verdanken ist, ({1}) die KWK, die erneuerbaren Energien, die Konzessionsabgabe und die Mehrwertsteuer zu nennen. Dies führt dazu, dass heute über 40 Prozent des Strompreises staatlich induziert sind. Das ist der Sachverhalt und das können wir auch nicht auf andere abwälzen. Ich habe gesagt, dass für mich das Ende der Belastbarkeit erreicht ist. Im Hinblick auf die vorhandenen Stellgrößen müssen wir darüber nachdenken, wie wir hier zu Entlastungen kommen können und wie wir es auf jeden Fall schaffen, die Kosten nicht weiter zu erhöhen. Das habe ich gesagt und das ist überhaupt kein Widerspruch. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rolf Hempelmann.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man sieht, dass diese Debatte die Gemüter bewegt. Es ist ja auch ein wichtiges Thema und das Problem, das dem Antrag und dieser Debatte zugrunde liegt, ist auch nicht zu leugnen. Das ist übrigens ähnlich wie bei der gestrigen Debatte zum FDP-Antrag, mit dem sie sich auf das Bundeskartellamt bezog. Wir befinden uns in der Tat in einer Situation ständig steigender Energiepreise. Frau Höhn hat eben darauf hingewiesen: Es ist nicht nur der Strompreis, sondern es sind die Energiepreise. Offenbar ist es für uns leichter, eine Kostensteigerung beim Benzin, Heizöl oder Gas zu akzeptieren, weil hier die Entwicklung der Kosten für die Primärenergie natürlich sehr viel stärker nachvollziehbar ist als beim Strom, wo dies nur indirekt der Fall ist und es lediglich um einen Kostenbestandteil geht. Ich will das jetzt aber nicht relativieren. Auch die Steigerung der Strompreise um 30 Prozent seit 1998 - beim Heizöl waren es zum Beispiel 200 Prozent - ist eine Belastung für die privaten Haushalte und für das Gewerbe. Es ist selbstverständlich, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir auf diesem Gebiet erfolgreicher werden, als wir es in der Vergangenheit waren. Ich sage gleich vorweg: Nach meiner Auffassung kann es nicht der richtige Weg sein, die staatliche Preiskontrolle auf Dauer beizubehalten, sondern der richtige Weg kann nur sein, bei der Schaffung von mehr Wettbewerb zügig voranzuschreiten. Wir sollten in diesem Zusammenhang übrigens nicht so tun, als würden wir hier bei null anfangen. Das kann weder im Interesse der FDP, die gestern einen Antrag gestellt hat, noch der Grünen, die sich in dieser Debatte durchaus unterstützend in Richtung des Antrages geäußert haben, noch im Interesse der Fraktionen der Regierungskoalition sein; denn mit dem Energiewirtschaftsgesetz haben wir im letzten Jahr gemeinsam einen ganz wichtigen Schritt getan. Ich glaube, man muss einmal festhalten, dass damit letztlich alle vier im Vermittlungsausschuss die Basis dafür geschaffen haben, dass wir zumindest in einem wichtigen Teilbereich, den wir nicht geringreden sollten, nämlich im Bereich der Netze, Wettbewerb oder zumindest wettbewerbsähnliche Situationen in einem natürlichen Monopol schaffen. Wir sind auf diesem Weg vorangekommen. Die ersten Bescheide der Bundesnetzagentur liegen vor; einige Redner haben das heute erwähnt. Es ist zu zum Teil drastischen Senkungen der Netzentgelte gekommen, und zwar bei kleinen genauso wie bei großen Anbietern. Die Reaktionen zeigen, dass die Unternehmen einige Schwierigkeiten haben, sich an diese neue Situation zu gewöhnen. Im Fall von Vattenfall ist es aber tatsächlich zu Preissenkungen gekommen. Der jüngste Bericht der Bundesnetzagentur, den ich zur Lektüre empfehle, zeigt, wie sich die Senkungen der Netzentgelte auf die Strompreise der anderen, auch großen Anbieter auswirken. Da gibt es komplizierte Verrechnungen zu beachten. Lesen Sie sich den Bericht einmal durch! Das würde auch die Frage beantworten, die gerade gestellt wurde: Wie ist eigentlich sichergestellt, dass sich diese Entwicklung am Ende auch im Strompreis abbildet? Wir waren auf diesem Weg erfolgreich; es ist zu sinkenden Netzentgelten gekommen. Wir erwarten nun von der Bundesnetzagentur, dass sie für alle Anbieter einen diskriminierungsfreien Netzzugang durchsetzt. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies letztlich auch Auswirkungen auf die Stromerzeugung haben wird. Ein diskriminierungsfreier Netzzugang bewirkt, dass ein Anbieter mit einem günstigeren Angebot bis zum Endkunden durchdringen kann. Damit wird Druck auf die Konkurrenz, also die anderen Anbieter, erzeugt. Das reicht natürlich bei weitem nicht. Die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundeswirtschaftsminister hat bereits deutlich gemacht, dass wir darüber hinaus eine Kraftwerksanschlussverordnung benötigen. Wir stehen in der Situation - das haben wir uns auch gewünscht -, dass es sehr viele Interessenten gibt, die in Deutschland Kraftwerke bauen wollen; das sind große wie kleine, etablierte wie neue Anbieter. Der Gedanke der Nichtdiskriminierung beinhaltet, dass weder die alten noch die neuen, weder die großen noch die kleinen Anbieter zu diskriminieren sind. Wir müssen uns vielmehr wünschen, dass alle, die in Deutschland Kraftwerke bauen wollen, auch die Gelegenheit dazu bekommen. Wir sollten uns hier von der Vokabel „Überkapazität“ trennen, Herr Dr. Pfeiffer. Dieser Begriff stammt aus der Zeit vor der Liberalisierung und kommt eher aus dem Bereich der Versorgungsunternehmen. Wir sollten ein Interesse daran haben, dass das Angebot am Markt höher ist als die Nachfrage, weil das letztlich einen heilsamen Druck auch auf die Erzeugerpreise ausübt. ({0}) Insofern ist es wichtig, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass wir ein möglichst großes Angebot bekommen, also möglichst viele neue Kraftwerke. Ein Instrument in diesem Zusammenhang ist die Kraftwerksanschlussverordnung. Sie kann kurzfristig aber nur sicherstellen, dass die vorhandenen Netzkapazitäten so auf die Anbieter, die mit neuen Kraftwerken auf diesen Markt wollen, verteilt werden, dass dem Gesichtspunkt der Nichtdiskriminierung Rechnung getraRolf Hempelmann gen wird, dass also zum Beispiel ein Unternehmen, dessen Schwestergesellschaft das örtliche Netz betreibt, keinen entsprechenden Vorzug hat. Ich denke, dass wir alle daran interessiert sind, diese Verordnung möglichst schnell auf den Tisch zu bekommen, um hier vorwärts zu kommen. Ich glaube, dass mit dieser Verordnung noch etwas geleistet werden muss: Die Bundesnetzagentur muss mit einem zusätzlichen Instrumentarium ausgestattet werden. Es muss sichergestellt sein - zum Teil ist das in den Instrumenten enthalten -, dass sie da, wo sie Engpässe feststellt, die ein Hindernis dafür sind, dass Anbieter mit neuen Kraftwerken auf den Markt kommen, auch die Möglichkeit hat, über eine Engpassbewirtschaftung entsprechende Vorgaben zu machen. Aus den Erkenntnissen dieser Engpassbewirtschaftung muss sie dann Lösungen zur Beseitigung der Engpässe herauskristallisieren, und zwar in einer möglichst marktgerechten Form, die keinen Investitionsdirigismus bedeutet. Wenn wir das erreichen - wenn also das Netz sukzessive mit dem Kraftwerkspark wächst -, dann haben wir die große Chance, dass jede Kilowattstunde aus neu gebauten Anlagen das Angebot nachhaltig vergrößert. Wir haben nichts davon, wenn neue Kraftwerke gebaut werden, aber nur ein Teil davon ans Netz kommt oder, falls sie alle ans Netz kommen, nicht in voller Kapazität laufen können, weil Netzbarrieren - möglicherweise nicht nur im unmittelbaren Umfeld des Kraftwerkes, sondern insgesamt im deutschen oder europäischen Netz - den Stromfluss behindern. ({1}) - Ich spreche in der Tat auch von der Windkraft. Auch ihr sollte ein diskriminierungsfreier Zugang gewährt werden. Das gilt insgesamt für die erneuerbaren Energien genauso wie für alle anderen Komponenten im Kraftwerksmix. Wir waren beim Thema Kraftwerksanschlussverordnung. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch sehen, dass sich die Welt verändert hat. Wir müssen die neue Situation im Blick behalten, das heißt die Veränderungen, die sich durch das Unbundling - also die Entflechtung bzw. die Trennung zwischen Netzbetreiber und Kraftwerk - ergeben haben. Wie war es früher? Früher waren innerhalb eines Gebietsmonopols Netz und Kraftwerke in einer Hand. Der Betreiber hat selbst geplant, wie er seinen Kraftwerkspark weiterentwickelt und was am Netz verändert werden muss. Diese Situation gibt es heute nicht mehr, zum einen aufgrund der Entflechtung, zum anderen aus einem zweiten Grund: Strom wird nicht mehr nur innerhalb einer bestimmten Region um das jeweilige Kraftwerk geliefert, sondern auch deutschland- oder möglicherweise sogar europaweit. Der Strom wird zudem an der Börse gehandelt. Vor diesem Hintergrund müssen alle Instrumente, die wir entwickeln, letztlich zum einen börsentauglich und zum anderen europatauglich sein. Auch in diesem Zusammenhang muss man bezweifeln, ob eine Fortsetzung der Preiskontrolle - wie von den Linken gefordert - das richtige europa- und börsentaugliche Instrument ist. Ich halte es für lohnenswerter, die Aufmerksamkeit auf die Vorschläge zur Verbesserung der Möglichkeiten des Bundeskartellamts zur Feststellung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zu richten, die aus dem Bundeswirtschaftsministerium angekündigt worden sind. Es ist interessant, dass sich das Bundeskartellamt seit etwa einem Dreivierteljahr mit der Einpreisung kostenlos erhaltener Zertifikate befasst, ohne bisher zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Zwar haben Anhörungen stattgefunden und im Wirtschaftsausschuss wurde zu dem Thema Bericht erstattet, aber das Bundeskartellamt sieht sich offenbar nicht in der Lage, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung justiziabel festzustellen. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Es kann daran liegen, dass es keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gibt. Das muss man jedenfalls zunächst einmal objektiv als eine Möglichkeit berücksichtigen. Es kann schließlich sein, dass dies im Emissionshandel systemimmanent vorgesehen ist. Wenn man aber davon ausgeht, dass Ansätze von Missbrauch erkennbar sind, dann fehlt offenbar das Instrumentarium, dies den betreffenden Marktakteuren nachzuweisen. Wir warten darauf, dass uns das Bundeswirtschaftsministerium entsprechende Regelungen vorlegt, durch die die Missbrauchsaufsicht gestärkt wird. Allerdings meine auch ich - das wurde eben bereits gesagt -, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollte. Wir wollen nicht die Verlagerung der Preisaufsicht von der einen auf die andere Behörde, nämlich auf das Bundeskartellamt. Die bloße Feststellung einer überhöhten Marge - das ist im Übrigen in rechtlicher Hinsicht ein wenig konkreter Begriff - wird sicherlich nicht ausreichen, um den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung festzustellen. Meines Erachtens benötigen wir hier in der Tat zielführendere Vorschläge aus dem Wirtschaftsministerium. Ebenso müssen wir vermeiden, dass es am Ende einen Wettlauf zwischen zwei Regulierungsbehörden gibt, zwischen der Bundesnetzagentur auf der einen und dem Bundeskartellamt auf der anderen Seite. Die Zuständigkeiten müssen aufeinander abgestimmt werden. Es muss deutlich werden, dass die Arbeit der einen Behörde, die sich immerhin mit einem Drittel des Strompreises befasst, mit der der anderen kompatibel ist. Es muss auch klar sein, dass es zwischen beiden Behörden keinen Wettlauf um den möglichst niedrigen Preis, um den billigen Jakob geben darf - es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch so etwas passieren kann -; denn eines ist ebenfalls klar: Wir brauchen im Bereich des Stroms genauso wie in anderen Bereichen hohe Qualität. Hohe Qualität kostet etwas. Sie hat auch etwas mit Investitionen zu tun. Deswegen muss die Bundesnetzagentur bei ihrem Tun diesen Aspekt ebenfalls immer mit im Blick haben, aber eben auch das Bundeskartellamt, wenn es entsprechend ausgestattet ist. Wir wollen den Ausbau der Netze, wir wollen den Ausbau des Kraftwerkparks. Dazu bedarf es eines anständigen Investitionsklimas. Damit rede ich nicht denjenigen das Wort, die sozusagen wie der pawlowsche Hund reflexartig immer dann, wenn sich die Politik äußert, davon sprechen, sie stellten die Investitionen ein. Aber umgekehrt müssen Investitionen natürlich auch am Kapitalmarkt durchsetzbar sein. Dafür muss man Kredite aufnehmen können. Das hat etwas mit den in Zukunft zu erwartenden Strompreisen und der zu erwartenden Rendite zu tun. Deswegen muss sowohl die Arbeit der Bundesnetzagentur als auch die des Bundeskartellamts immer beides im Blick haben: einen fairen Preis genauso wie eine möglichst hohe Qualität. Dies zeigt, dass die Aufgabe durchaus anspruchsvoll ist und dass es sich verbietet, den Bürgerinnen und Bürgern vorzugaukeln, es gäbe einfache Lösungen. Diese einfachen Lösungen gibt es nicht. Es gibt auch nicht die schnelle Lösung, auch nicht in Form einer Preiskontrolle.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hempelmann, Sie müssen zum Schluss kommen.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie uns deswegen die Arbeit der Bundesnetzagentur unterstützend begleiten und die Vorschläge des Bundeswirtschaftsministeriums, bezogen auf das Bundeskartellamt, möglichst bald zur Kenntnis nehmen. Darüber sollten wir dann sachgerecht diskutieren. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Hans-Josef Fell das Wort.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linken und die heutige Debatte um die Energiepreiskontrolle kreisen um einen sehr wichtigen Teilaspekt für Strom- und Gaspreise. Zu Recht wird auf das Missverhältnis zwischen explodierenden Gewinnen der vier großen Konzerne und ihren zunehmenden Tarifsteigerungswünschen hingewiesen. Kollegin Höhn hat bereits auf viele Wettbewerbsmaßnahmen hingewiesen; ich will sie nicht wiederholen. Auch im Antrag der Linken steht sicherlich viel Wichtiges. Aber ich weise auch darauf hin, dass derjenige, der niedrigere Verbraucherpreise will und die Gewinne von Großen schröpfen will, aufpassen muss, dass mit diesen Maßnahmen nicht auch Stadtwerke und neue Energieanbieter getroffen werden. Hierauf müssen wir vorsorglich achten. Auch andere Vorschläge, beispielsweise die Tarifaufsicht der Länder zu verlängern, wie sie von Bundesminister Glos vor kurzem vorgetragen wurden, greifen zu kurz. Zum einen haben die Tarifaufsichten der Länder in den letzten Jahren die Preissteigerungen nicht verhindern können; so scharf scheint dieses Instrument doch nicht zu sein. Übrigens ist bezeichnend, dass gerade Ministerpräsident Stoiber hierbei Bundesminister Glos in den Rücken fällt. Er hat in dieser Woche dessen Vorschläge abgelehnt und stattdessen eine Selbstverpflichtung mit den Konzernen vereinbart. Das mag gut sein, aber wir wüssten schon gern, was die CSU wirklich will. Wer tatsächlich Verbraucherschutz und zukünftig bezahlbare Energiepreise haben will, muss die Ursachen der Strompreissteigerung und der Energiepreissteigerung tiefgründiger hinterfragen. Begründet werden die vielen Strompreiserhöhungsanträge auch mit gestiegenen Beschaffungskosten. Tatsächlich sind seit 1999 die Weltmarktpreise drastisch gestiegen. So hat sich der Preis für Kohle auf über 60 US-Dollar je Tonne bereits verdoppelt und der Preis für ein Barrel Erdöl seit 1998 auf 60 US-Dollar verfünffacht. Der Preis für Erdgas ist in Europa seit 1999 verdreifacht worden; in Großbritannien und den USA, wo man sehr viel auf Erdgas setzt, hat er sich sogar vervierfacht. Der Preis für Uran, Frau Kopp, hat sich seit 1999 ebenfalls verfünffacht; er beträgt jetzt 100 US-Dollar je Kilogramm. Wer zukünftig bezahlbare Energiepreise haben will, muss aus der Nutzung der fossilen und der atomaren Energien aussteigen. Dies ist die entscheidende Strategie. ({0}) Herr Pfeiffer, Sie haben gesagt, die beantragten Strompreiserhöhungen seien korrekt, weil ökologische Maßnahmen zu einem zunehmend höheren Strompreis führten. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich die vielen persönlichen Energieeinsparmöglichkeiten nutzten, könnten sie ihre Stromrechnung drastisch senken. ({1}) Natürlich kommen durch die Förderung der erneuerbaren Energien über die im EEG festgelegte Umlage Mehrkosten auf die Stromkunden zu. Aber zum einen sind diese Mehrkosten sehr gering. Zum anderen sind sie bereits gesunken, und zwar - hören Sie gut zu, Herr Dr. Pfeiffer - von 0,54 Cent pro Kilowattstunde im Jahr 2005 auf hochgerechnet 0,50 Cent in diesem Jahr, und das trotz gestiegener Mengen eingespeisten Stroms. Wir sehen allerdings - genauso wie die große Koalition - die Notwendigkeit, der Bundesnetzagentur die Möglichkeit zur Kontrolle zu geben, damit keine überhöhten Gewinne mit der Umlage erzielt werden. Das ist in der Novelle des EEG, die wir nächste Woche beschließen werden, gut geregelt. Die Behauptung der Konzerne in ihren Anträgen auf Strompreiserhöhung, dass Mehrkosten für erneuerbare Energien aufgebracht werden müssten - hören Sie gut zu, Herr Dr. Pfeiffer -, fallen wie ein Kartenhaus zusammen. Das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv hat in einer Studie nachgewiesen, dass die Einspeisung von Windstrom bereits die Stromkosten senkt. ({2}) Nach Berechnungen des BWE auf der Basis dieser Studie gibt es durch die Einspeisung von Windstrom Stromkosteneinsparungen in Höhe von 1 Milliarde Euro im Jahr. In einer Eon-Studie wird sogar von dreimal so hohen Einsparungen ausgegangen. Damit sind die Spareffekte, die sich insbesondere für die energieintensiven Industriebetriebe positiv auswirken, höher als die Ausgaben für die Windenergieförderung nach dem EEG. Das ganze Gerede von teueren erneuerbaren Energien ist also falsch und entbehrt jeder Grundlage. ({3}) Übrigens beginnen solche Effekte bereits bei anderen erneuerbaren Energien zu wirken. In diesem Sommer war der angeblich so sündhaft teure Fotovoltaikstrom an der Börse kurzzeitig billiger als der Strom aus Kernenergie.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Fell, die Auswertung dieser Studie müssen wir leider auf später verschieben.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Frau Kopp, Sie haben Recht: Wir müssen alles tun, um die Strompreise zu senken. Helfen Sie mit, dass wir vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen und die Energieeinsparpotenziale nutzen! Das ist in Zukunft die entscheidende Möglichkeit, bezahlbare Energiepreise - auch für die sozial Schwachen - herbeizuführen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir wollen mehr Wettbewerb im Strombereich. Dem stehen die natürlichen Monopole im Netzbereich entgegen. Deshalb müssen wir eine Netzentgeltregulierung praktizieren, was wir momentan tun. Das ist aber nicht, wie heute manchmal der Eindruck erweckt wurde, das Ende eines Prozesses, sondern der Anfang, die Voraussetzung für einen chancengleichen Zugang zu den Netzen und damit für den von uns angestrebten Wettbewerb. Herr Kollege Fell, Sie haben in einem Punkt Recht: Wir müssen bei diesem Prozess sehr genau darauf achten, dass effiziente Stadtwerke und Mittelständler nicht bürokratisch erwürgt werden. Schließlich brauchen wir noch Teilnehmer, die an dem von uns angestrebten Wettbewerb partizipieren. ({0}) Ich bin dankbar für das, was Frau Staatssekretärin Wöhrl in der heutigen Debatte gesagt hat. Weil sie den eben beschriebenen Zusammenhang sieht, hat sie davor gewarnt, zu erwarten, dass eine Netzentgeltregulierung per se eine Strompreisverbilligung bringt. Vielmehr ist eine solche Regulierung erst die Voraussetzung für mehr Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche Entwicklung. Wenn wir dabei sind, der Ehrlichkeit und Offenheit die Ehre zu geben, dann muss man das wiederholen, was hier verschiedentlich angeklungen ist. Die Politik des Staates hat in entscheidender Weise zur Verteuerung der Strompreise beigetragen. Seit 1998 hat sich die Staatslast verfünffacht. 40 Prozent der Stromrechnung unserer Haushalte sind staatliche Abgaben. Übrigens - auch das räumen wir von der Union ein - entfällt der kleinste Teil davon auf die Förderung der erneuerbaren Energien. Es sind 2 Prozent, nicht 5 Prozent. Wenn Sie sich schon für das Thema einsetzen, dann bleiben Sie bei den richtigen Zahlen. Dann wird manche Diskussion einfacher. ({1}) An der Stelle - da lassen wir uns nichts in die Schuhe schieben - ist der Koalitionsvertrag völlig klar. Wir stehen zu den erneuerbaren Energien und wir werden, wie es im EEG steht, im Herbst 2007 überprüfen, wie das im Detail aussieht. Vorher darüber zu diskutieren, ist aus meiner Sicht nicht richtig bzw. nicht angemessen, auch nicht im Sinne der Investoren. Sie fragen, was mit dem Rest geschieht. Ich sage der Ehrlichkeit halber, dass der Rest im Staatshaushalt verschwindet. Das mag der eine oder andere bedauern, aber die Realität ist so, wie sie ist. Der Staatshaushalt ist schwierig. Wir sind noch nicht am Ende des Sanierungsprozesses. Wir haben zwar die Nettoneuverschuldung halbiert, aber wir sind noch nicht in der komfortablen Lage, dass wir jetzt schon über neue Subventionen oder über Steuersenkungen reden können. Ich sage das den selbst ernannten Verbraucherschützern - Frau Höhn ist leider nicht mehr da -, die früher für die ideologisch bedingte Verteuerung eingetreten sind und jetzt in der Debatte „Haltet den Dieb!“ rufen. ({2}) Die Problematik für die Haushalte und für die Wirtschaft wurde aus meiner Sicht heute ausreichend erläutert. Auf die Frage, was zu tun ist, erleben wir bei den Linken - aber nicht nur links, sondern insgesamt in Deutschland - einen beliebten Reflex, nämlich den Ruf: Der Staat muss das jetzt richten. Ich stelle eine Frage. Wir haben derzeit und noch bis zum 1. Juli 2007 eine staatliche Kontrolle der Preise. ({3}) Was hat sich denn getan? Wir beklagen auf der einen Seite den Anstieg der Strompreise und die staatliche Kontrolle und Sie sagen, ein Mittel dagegen sei die Fortführung der staatlichen Kontrolle. Das kann doch nicht sein. Das ist vollkommen unlogisch. ({4}) Wenn wir die Preiskontrolle aufrechterhalten, dann gehen auch die sonstigen Maßnahmen, über die wir heute diskutiert haben, zum Beispiel die, die das Kartellrecht und die von Ihnen angesprochene Billigkeitskontrolle nach dem BGB betreffen, in weiten Teilen ins Leere, weil die Preise staatlich genehmigt sind. Wo soll der Missbrauch herkommen? Es gibt doch ein staatliches Zertifikat für diese Preise.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. - Es ist doch festzustellen, dass sich der staatliche Anteil am Strompreis in den letzten zwei Jahren nicht erhöht hat. Das bedeutet, dass der Wunsch nach Regulierung vonseiten der Länder nicht daraus resultiert, dass sich die Staatsquote erhöht hat, sondern daraus, dass die Gewinne der Konzerne ins Unermessliche gestiegen sind und die Kunden - sprich: die Haushalte - nicht mehr in der Lage sind, die momentanen Preise zu bezahlen. Ich frage Sie: Wenn die Staatsquote nicht gesunken ist, dann hat das doch bisher funktioniert und wird vielleicht auch in der Zukunft funktionieren?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie sich anschauen, dass sich insbesondere im Emissionshandel Gewinne der Stromversorger durch die Einrechnung von Opportunitätskosten ergeben, dann haben Sie in dem Punkt zwar Recht, aber die Maßnahme ist die falsche. Wir müssen uns dann überlegen, wie wir mit dem Emissionshandel umgehen. Ich sage Ihnen auch ehrlich: Wer für das Instrument des Emissionshandels eintritt, nämlich die Internalisierung externer Kosten, der muss mit einem Preisanstieg rechnen. Darum geht es letztendlich. Es wird gesagt: Die haben die Zertifikate kostenlos bekommen. - Das ist richtig. Aber die Einpreisung gelingt nur auf Märkten, auf denen entsprechende Preise letztlich auch durchsetzbar sind. In einem Markt, in dem der Wettbewerb funktioniert, sähe die Situation anders aus. Deshalb wollen wir Wettbewerb erreichen und auf diese Art und Weise das Thema angehen. Wir wollen nicht staatlich genehmigte Preise oder gar noch staatlich genehmigte Gewinne einführen. ({0}) Wir wollen natürlich nicht so weit gehen, wie der Kollege Lafontaine heute angeregt hat, und auch noch die Netze verstaatlichen. Es wäre viel gewonnen, wenn Sie, meine Damen und Herren, von diesen alten Kamellen abrücken würden. ({1}) Sie müssen doch sehen, dass der Sozialismus gescheitert ist. Wenn Sie mal so weit wären, könnten wir miteinander vielleicht einen sinnvolleren Dialog führen. ({2}) Betrachten wir das Problem abschließend noch einmal von einer anderen Seite. Wenden wir uns der Rolle des Staates zu. 40 Prozent des Preises sind staatlich bedingt. Das setzen ohnehin wir hier fest - übrigens zum Nachteil der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({3}) 32 Prozent entfallen auf die Netzentgelte. Das läuft über die Regulierungsbehörde. Also sind schon gut 70 Prozent staatlich festgelegt. Für den Rest, die Erzeugung, haben wir eine Börse. Im Hinblick darauf kann man natürlich sagen: Dort spielen die großen vier eine entsprechende Rolle; sie können sich parallel verhalten. ({4}) - Nein! - Die Realität sieht aber anders aus. Die Realität sieht doch so aus: Es gibt 150 Marktteilnehmer dort. An der Börse gibt es eine hohe Liquidität. Der Preis an dieser Börse liegt im europäischen Mittel. Sie haben halt keine Ahnung von Börse und Markt, Herr Kollege. ({5}) Es wäre völlig falsch, auf der einen Seite für Wettbewerb zu sorgen und auf der anderen Seite dann das, was wirklich Markt ausmacht, nämlich eine Börse, wieder staatlich zu kontrollieren und die Ergebnisse zu revidieren. Das ist der falsche Ansatz. ({6}) Zum Vertrieb sage ich Ihnen: Man wird am Schluss eine gewisse Marge brauchen, weil man sonst keine Wettbewerber findet. Wer soll denn in einen Markt eintreten, auf dem Preis und Kosten gleich hoch sind? ({7}) Welche Motivation soll da vorhanden sein? Auch das ist Marktwirtschaft. Sie werden das nie lernen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nüßlein, Sie haben offensichtlich eine sehr anregende Wirkung in Bezug auf Zwischenfragen. Lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zu? Vizepräsidentin Petra Pau ({0}) - Das entscheidet der Redner.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hätte es gern getan. Wir klären das anschließend. ({0}) Was wir statt Regulierung über das ohnehin gebotene Maß hinaus brauchen, ist: Effizienzsteigerung, moderne Technik, um den Verbrauch zu reduzieren, standortverträgliche Ausgestaltung des Emissionshandels. Darüber müssen wir uns unterhalten. Auch über das Thema Versteigerung kann man aus meiner Sicht diskutieren. Wir brauchen einen wohl ausgewogenen Energiemix, bei dem es von der Wirtschaftlichkeit auf der einen Seite bis hin zur Umweltverträglichkeit auf der anderen Seite geht, bei dem es von den erneuerbaren Energien auf der einen Seite bis hin zur Kernkraft auf der anderen Seite geht. Wir brauchen vor allem mehr Wettbewerb, europäisch, national und getragen von den Verbraucherinnen und Verbrauchern, die leider noch nicht in dem Maß bereit sind, ihre Anbieter zu wechseln. Nur 2 Prozent haben bisher von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ich würde mir wünschen, dass da Bewegung ins Spiel kommt. Abschließend: Der Kompromiss in Bayern, der über den 1. Juli 2007 hinausreicht, hat deutlich gezeigt, dass man einiges bewegen kann, und zwar nicht nur auf einer gesetzlichen Basis, sondern auch in einem vernünftigen Dialog. Den wünsche ich uns energiepolitisch intern genauso wie draußen mit den Anbietern. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2505 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vertragsarztrechts und anderer Gesetze ({0}) - Drucksache 16/2474 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute in Berlin die Situation, dass Ärzte und Ärztefunktionäre hier demonstrieren und gleichzeitig wir ein Gesetz beraten, das die Situation der ärztlichen Versorgung in Deutschland deutlich verbessern wird. Wir haben Vorschläge aufgegriffen, die schon lange im Raum standen, und diese in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Es ist leider so, dass im Bereich der Gesundheitspolitik Streitfragen stärker wahrgenommen werden als die Fragen, über die man sich einig ist. Wir sind uns in diesem Haus darüber einig, dass das ärztliche Berufsrecht entschlackt, verändert und an neue Herausforderungen angepasst werden muss. Wir sind uns in diesem Haus auch darüber einig, dass es Sinn macht, dass die ärztlichen Tätigkeitsfelder so neu gestaltet bzw. verändert werden, dass zum Beispiel Ärzte auch als Angestellte beruflich tätig sein können, dass Ärzte Zweitpraxen eröffnen dürfen und dass mehr Flexibilität in das System der Niederlassungen gebracht wird. ({0}) Wir haben heute in Deutschland keine generelle Unterversorgung mit ärztlichen Leistungen, sondern wir haben gleichzeitig Überversorgung und Unterversorgung. So steht beispielsweise in Berlin ein Vertragsarzt für die Behandlung von 531 Einwohnern zur Verfügung, in Brandenburg dagegen muss ein Vertragsarzt 825 Patientinnen und Patienten betreuen. Konkret heißt das: Eine Unterversorgung haben wir in den ostdeutschen Ländern sowie in den ländlichen Gebieten, mittlerweile im Westen wie im Osten. Eine Überversorgung haben wir in fast allen Universitätsstädten und in den Ballungszentren; hier ist eine Maximalversorgung gegeben. Verantwortlich dafür ist zum einen das ärztliche Berufsrecht, das flexible Lösungen eher verhindert hat, zum anderen mangelt es aber auch an finanziellen Anreizen. Dieses Problem werden wir nach Verabschiedung des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes sehr beherzt angehen. Wir werden nun das ärztliche Berufsrecht deutlich entschlacken. Wir wollen einen Internisten aus Schöneberg nicht zwingen, nach Rathenow umzuziehen. ({1}) Aber dieses Gesetz ermöglicht es ihm künftig, beispielsweise in Rathenow eine Zweitpraxis zu gründen. Es wird dafür sorgen, dass künftig Kooperationen möglich werden, und es macht es für Ärzte leichter, andere Ärzte anzustellen. ({2}) Wir brauchen Berufsausübungsgemeinschaften zwischen allen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringern. Dazu ist es Ärztinnen und Ärzten in Zukunft gestattet, auch über die bisherige Altersgrenze hinaus in von Unterversorgung bedrohten Regionen zu praktizieren. In einem weiteren Schritt wird die Koalition die ärztliche Gebührenordnung reformieren. Danach wird es künftig möglich sein, regionale Zu- und Abschläge zu gewähren. Auch dies wird dazu beitragen, dass sich für Ärztinnen und Ärzte in Zukunft die Niederlassung in ländlichen Räumen wieder mehr lohnt. ({3}) Ein weiterer Aspekt ist mir besonders wichtig: Das Gesetz beseitigt auch die bestehenden Einkommensunterschiede zwischen Ost und West, insbesondere in drei Bereichen: bei den privatärztlichen und zahnärztlichen Leistungen sowie bei freiberuflichen Hebammen. ({4}) Es trägt somit ein Stück zu einem einheitlichen Einkommensniveau in Deutschland bei und sorgt so für mehr Gerechtigkeit. Angesichts der Herausforderungen der Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es nämlich notwendig, diese Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung zu beseitigen. Es kann nämlich, wenn wir ein hohes Niveau bei der Versorgung haben wollen, nicht angehen, dass wir solche sehr großen Unterschiede weiterhin tolerieren. ({5}) Sie nicht zu tolerieren, ist, glaube ich, ein Stück Solidarität, aber auch ein Stück Qualität. Es wird dazu führen, dass wir ärztliche Leistungen für diejenigen Menschen, die sie brauchen, auf jeden Fall wieder zugänglich machen. Mit diesem Gesetz gehen wir in die richtige Richtung. Ich wünsche mir sehr, dass bei allem Dissens und trotz aller Diskussionen auch zur Kenntnis genommen wird, dass diese Koalition handelt. Sie hat es in Bezug auf das Vertragsarztrecht bereits getan. Vielleicht wird auch einmal mehr über positive Aspekte im Gesundheitswesen berichtet, auch wenn die Medien natürlich eher an der Skandalisierung anderer Dinge interessiert sind. Lassen Sie uns zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückfinden: Gesundheit für alle in der Bundesrepublik Deutschland. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Konrad Schily.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf ein Schritt in die richtige Richtung ist; aber ich habe meine Zweifel daran, dass die darin enthaltenen zahlreichen Regelungen zielführend sind. Auch angesichts der heute schon angesprochenen Ärzteproteste - dabei geht es wirklich um Grundsätzliches, um Existenzen - sollen und wollen wir den Gedanken der Subsidiarität noch stärker in den Vordergrund rücken. ({0}) Wir haben zahlenmäßig überversorgte und wir haben zahlenmäßig unterversorgte Gebiete. Aber ob das in der Wirklichkeit immer so ist, ob diese Gebiete also tatsächlich unterversorgt oder überversorgt sind, das weiß man leider eben immer nur vor Ort. Ich bin immer noch Anfänger in diesem Parlament: Ich habe mit Erstaunen gesehen, dass dieser Gesetzentwurf 43 Seiten hat. ({1}) Nicht alles ist für jemanden, der nur Arzt und kein Jurist ist, ganz verständlich. Wir sollten in der Ausschussarbeit darauf hinwirken, möglichst viel Verantwortung vor Ort anzusiedeln. Ein Arzt kann mit 58 Jahren befähigt sein; er muss es nicht. Er kann auch mit 68 Jahren ausgesprochen befähigt sein; er muss es nicht. Ich kann eine solche Angelegenheit nicht generell regeln. Das kann nur eine Verantwortungsgemeinschaft vor Ort. Deswegen muss man von einer Regelung von oben Abstand nehmen, großzügig sein und ein bisschen Freiheit wagen: Die Verantwortung sollte vor Ort getragen werden; dort sollte die Qualitätskontrolle stattfinden. Wir haben - noch - Kassenärztliche Vereinigungen. Die dort Beschäftigten müssen die Verantwortung übernehmen. ({2}) Ich denke, es ist etwas Richtiges und Wichtiges angestoßen worden. Ich hoffe, dass dieses Gesetzeswerk verschlankt wird, dass wir mit weniger Paragrafen und mit weniger Verweisen auskommen, dass es so formuliert wird, dass man es auch vor Ort verstehen kann und dass man nicht in langen Auslegungsdebatten verharrt. Ich weiß, dass die Kompetenten nicht immer begierig nach der Verantwortung sind. Man delegiert gern zurück, lässt es die anderen entscheiden und freut sich, wenn der Gesetzgeber entschieden hat; schließlich war man es dann nicht selbst, also die Personen vor Ort oder die eigene Gruppe, sondern der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber sollte die Personen vor Ort darauf aufmerksam machen, dass sie die Kompetenten sind und daher geeigneter sind, die Verantwortung zu tragen. Insofern hoffe ich, dass die Beratungen dieses Gesetzes eine Verschlankung bewirken, die Subsidiarität fördern und daher die ärztliche Versorgung sichern und verbessern helfen. Ich freue mich auf die Beratungen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Dr. Hans Georg Faust. ({0})

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vertragsarztrechtsänderungsgesetz - das klingt kompliziert und trocken, es wird am Freitagnachmittag behandelt, dieses Thema ist nur etwas für Spezialisten. Weit gefehlt! Dass sich heute in Berlin erneut Tausende von Ärzten zum Protest versammeln, hat auch viel mit dem zu tun, was wir endlich mit diesem Gesetz verändern. Wir sollten und wir werden die Sorgen und Nöte der Ärzte ernst nehmen, genauso wie wir uns um eine flächendeckende Versorgung durch Krankenhäuser und um die Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Krankenkassen kümmern. Aber im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht der Patient, der kranke Mensch. ({0}) Dieser wird in der gesundheitspolitischen Diskussion nur allzu leicht vergessen. Im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz geht es ganz entscheidend um den Patienten. In seiner Not wendet er sich nicht an die Politik, nicht an die Krankenkasse und auch nicht an die Verbraucherberatung. Nein, er wendet sich in seiner Not an seinen Arzt. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist die wichtigste Beziehung in unserem Gesundheitssystem und diese müssen wir schützen: schützen vor allzu starker Reglementierung durch die Politik, schützen auch vor bürokratischen Eingriffen durch die Krankenkassen, schützen aber auch dann, wenn diese enge Beziehung materiell ausgenutzt wird. Die Rahmenbedingungen für diese enge, sensible Beziehung sind in Deutschland nach wie vor gut. Wir lassen sie uns auch nicht schlechtreden. ({1}) Insbesondere die Erreichbarkeit und der Zugang zu den Leistungen des Gesundheitssystems werden in der Wissenschaft übereinstimmend gelobt. Wer über Wartezeiten in deutschen Arztpraxen klagt, sollte sich einmal die Wartelisten im europäischen Ausland, insbesondere im sozialen Skandinavien, anschauen. Die medizinische, die ärztliche Versorgung ist auf hohem Niveau. Zunehmend sind die Leistungen der Hausund Fachärzte qualitätsgesichert, und das Tag und Nacht. Flächendeckend sind Vertragsärzte auch zu ungünstigen Zeiten im Einsatz. Das Notarztsystem in Deutschland sucht international seinesgleichen. Wie steht es um den anderen Partner in der ArztPatienten-Beziehung, den Arzt? Über 12 000 deutsche Ärzte arbeiten nach teurer staatlicher Ausbildung im Ausland; immer mehr ausscheidende Hausärzte, die keine Praxisnachfolger finden; immer mehr junge Medizinerinnen und Mediziner, die nicht in den eigentlichen Arztberuf gehen: Das muss uns zum Nachdenken bringen und zum Handeln zwingen. Die Fragen der Vergütung sollen im Rahmen der anstehenden Gesundheitsreform gelöst werden. Hier müssen wir von den Budgets weg und hin zu vereinbarten Leistungsvolumina in Menge und Preis, die auch bei Mehrleistungen Kostendeckung zulassen. ({2}) So wenig wie der Arzt mit seiner Arbeitskraft und seinem Vermögen für Mehrleistungen haften darf, so wenig dürfen vermeidbare Leistungsausweitungen das Gesamtsystem belasten. Hier sind wir aufgefordert, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen und zusammen mit der Ärzteschaft selbststeuernde Mechanismen zu entwickeln. Die Debatte darüber, ob Ärzte zu viel, zu wenig oder richtig verdienen, halte ich für höchst überflüssig. Auch die Erkenntnis darüber, dass das Durchschnittsjahreseinkommen von Ärzten vor Steuern bei 80 000 Euro liegt, hilft uns hier nicht weiter. Es gibt die gut verdienenden Spezialisten in modern ausgestatteten Gemeinschaftspraxen in Großstädten. Es gibt Ärztinnen und Ärzte in familiärer Tradition in den alten Bundesländern, die die schuldenfreie Praxisimmobilie über Generationen weitergeben, einen treuen Patientenstamm haben und feststellen, dass ihr Einkommen zwar rückläufig, aber noch hinreichend ist. Es gibt aber eine zunehmende Zahl von Ärzten, vornehmlich in den neuen Bundesländern, die sich bei der Praxisniederlassung hoch verschuldet haben, die in den dünn besiedelten Gebieten im häufigen Bereitschaftsdienst große Strecken fahren müssen, keinen Privatpatienten in ihrer Kartei haben und denen beim Gedanken an ihre Altersversorgung schlecht wird. ({3}) Unter den Ärzten, die heute in Berlin demonstrieren, finden sich sicher alle Gruppen, am wenigsten aber die von mir zuerst genannte. Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz lösen wir die Finanzprobleme der Ärzteschaft nicht. Wir gehen aber - das ist bei Gesetzgebungsverfahren sicher ungewöhnlich - Hand in Hand mit der Ärzteschaft eine entscheidende Verbesserung der Rahmenbedingungen an. Insbesondere der 107. Deutsche Ärztetag in Bremen hat berufsrechtliche Grundlagen geliefert, die wir nun in Gesetzesform gießen. ({4}) Endlich können Ärzte ohne Begrenzung andere Ärzte anstellen, endlich können Ärzte neben ihrer Vertragsarzttätigkeit auch als angestellte Ärzte im Krankenhaus arbeiten und endlich dürfen sie auch außerhalb ihres Sitzes an weiteren Orten vertragsärztlich tätig sein. ({5}) Diese Möglichkeiten sind gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die von mir angesprochenen Versorgungsdefizite in einzelnen Regionen Deutschlands sollen zum einen durch zusätzliche Vergütungsanreize und zum anderen durch die Aufhebung der Altersgrenze für Ärzte in unterversorgten Gebieten beseitigt werden. ({6}) Wenn in einem eng umgrenzten Gebiet örtlich Versorgungsprobleme bestehen, obwohl regional eine ausreichende Versorgung gegeben ist, dann kann in Zukunft auch hierauf flexibel reagiert werden. ({7}) Zwei wichtige Punkte des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes möchte ich noch ansprechen. Der eine Punkt ist die Verbesserung der Rechte der Patientenvertreter in den Selbstverwaltungsgremien auf Bundes- und Landesebene, wobei hier zusätzlich die Finanzierung der Patientenbeteiligung verbessert wird. Der andere wichtige Punkt ist die Erleichterung bei der Einziehung der Praxisgebühr. Das bisher aufwendige und teure Rechtsverfahren wird so vereinfacht, wie es auch in anderen Lebensbereichen bei säumigen Zahlern üblich ist. Gerade die Erleichterung bei der Einziehung der Praxisgebühr zeigt die Probleme auf, die Ärzte neben Honorarsorgen und verkrusteten Strukturen noch haben: Das sind die Probleme mit der Bürokratie. Da hilft das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz ein wenig weiter. Ich erhoffe mir aber vieles vom anstehenden Gesundheitsreformgesetz. Nun kann man den Wert von Disease-ManagementProgrammen sicher nicht am Dokumentationsaufwand festmachen. Wenn aber nach der Statistik einer von fünf ausgefüllten Bögen von den Krankenkassen wegen Dokumentationsmängeln zurückgewiesen wird, dann erhöht sich der bürokratische Aufwand für die Ärzte enorm. Weniger Bögen von weniger Krankenkassen, Zurücksendungen nur bei Inplausibilitäten, mehr gesunder Menschenverstand und weniger Behördenmentalität würden aus meiner Sicht entscheidend weiterhelfen. ({8}) Alles in allem wird mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz berechtigten Forderungen der Ärzteschaft Rechnung getragen. Mit der anstehenden Gesundheitsreform gehen wir die Ablösung der Budgets und die Erfüllung der Forderungen nach einer angemessenen Honorierung in Euro und Cent an und verlieren die Sorgen über eine überbordende Bürokratie nicht aus dem Blick. Den in Berlin demonstrierenden ärztlichen Kollegen möchte ich sagen: Wir haben Verständnis für ihre berechtigten Anliegen. Das Verhältnis Arzt - Patient ist ein hohes Gut und verdient jeden Schutz. Aber Gesundheitspolitik ist mehr als das Durchsetzen von Einzelinteressen. ({9}) Neben dem Recht auf Demonstration auf dem Gendarmenmarkt sehe ich als ärztlicher Kollege die deutschen Ärzte in der Pflicht, im Interesse ihrer Patienten den Dialog mit der Politik, mit uns, fortzusetzen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege Frank Spieth. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Faust, weiten Teilen Ihrer Aussagen kann ich zustimmen. Den heute protestierenden Ärzten sollten wir angesichts ihrer Bereitschaft, sich mit dem Gesundheitsreformgesetz kritisch auseinander zu setzen, und der Diskussion über die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und umgekehrt nicht allmählich zerstört wird, sagen, dass ihre Kritik berechtigt ist und es in der Tat darauf ankommt, Positionen zu beziehen. Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass sich der Bundesverband der Hausärzte an diesem Protest ausdrücklich nicht beteiligt, weil er sagt: Wir als Hausärzte und als Ärzte insgesamt müssen mehr tun, als nur auf unsere Vergütung zu schauen. Wir tragen eine Gesamtverantwortung in diesem System. Deshalb möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, den Ärzten zu sagen: Mehr Ethik und nicht nur Monetik! Das sehen viele Ärzte ebenso. Nun zum Vertragsarztrechtsänderungsgesetz. Mit diesem Gesetz der Bundesregierung soll eine Abmilderung drohender hausärztlicher Unterversorgung - um die geht es im Wesentlichen - erreicht werden. Frau Staatssekretärin, wir unterstützen dieses Anliegen. Wir unterstützen zudem wesentliche Teile der Vorschläge, die in diesem Gesetz enthalten sind. Unsere Fragen zielen aber darüber hinaus. Wir haben im Rahmen der Selbstbefassung von Sachverständigen in Bezug auf die Unterversorgungsproblematik die Befürchtung gehört, dass das nicht ausreicht. Diese Befürchtung teilen wir. Es geht in der Tat um die Frage, ob wir nur mithilfe von Anreizsystemen erreichen können, dass Ärzte sich künftig in strukturschwachen Regionen, zum Beispiel in der Eifel, im Thüringer Wald oder im Bayerischen Wald, niederlassen. ({0}) - Auch im Ostseeraum. Das Problem ist überall das gleiche. Ich könnte Ihnen Beispiele aus Thüringen nennen, wo wir über Jahre hinweg mit ganz extremen Anreizsystemen versucht haben, Ärzte anzusiedeln, es aber nicht geschafft haben. ({1}) Deshalb muss tatsächlich darüber nachgedacht werden, ob wir neben den Anreiz- und Bonussystemen auch Malussysteme einführen. Ganz konkret heißt das, dass wir in der Debatte über dieses Gesetz darüber nachdenFrank Spieth ken müssen, ob wir Abschläge erheben, wenn Ärzte in Gebieten zugelassen werden, in denen Überversorgung herrscht. Diese Mittel könnten in einem Fonds gesammelt werden, sodass wir mit diesen Geldern in den Gebieten, in denen ein Mangel an Ärzten herrscht, eine wirksame, zusätzliche Unterstützung leisten könnten. Ein weiterer Punkt wird meine Kollegen von der FDP, insbesondere Herrn Dr. Schily, nicht begeistern: Wir müssen darüber nachdenken, ob wir Ärzten abverlangen, sich zunächst in unterversorgten Gebieten für fünf Jahre niederzulassen. Vielleicht müssen wir ein solches neues Steuerungsinstrument einführen. Ich glaube, eine Debatte darüber wäre des Schweißes der Edlen wert. Viele Experten sagen, dass dies sehr vernünftig wäre. Wir dürfen nicht nur liberalisieren, sondern müssen auch regulierend in den Prozess eingreifen. Dadurch wollen wir nicht zwangsläufig mehr Bürokratie aufbauen, sondern wir wollen im Sinne der Menschen handeln, die einen Anspruch auf ärztliche Versorgung haben. Ich komme zum Schluss. Im Gesetzgebungsverfahren werden wir darüber diskutieren, wie wir den Menschen, die in den unterversorgten Gebieten tage- oder sogar wochenlang auf eine hausärztliche Leistung warten, helfen können. Im Namen meiner Fraktion biete ich dabei jede Unterstützung an. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Harald Terpe das Wort.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn die Pauschalpolemik nach dem Motto „Mehr Ethik statt Monetik“ zurückweisen. Das bin ich meinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen einfach schuldig. ({0}) Dem sperrigen Wort „Vertragsarztrechtsänderungsgesetz“ ist nicht auf Anhieb anzumerken, dass es dabei um Liberalisierung und Flexibilisierung geht. Wer wünschte sich nicht eine Zunahme von Freiheit? Ich jedenfalls kenne in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg eine Reihe von Vertragsärzten, die sich gerne von zunehmend erforderlicher Mehrarbeit und existenzgefährdender Unterfinanzierung befreien würden. Ich denke - das ist schon gesagt worden -, dass der Gesetzentwurf eine Reihe sinnvoller Regelungen enthält. An einer entscheidenden Stelle versagt der Gesetzentwurf aber: Er geht nicht mit der Einführung einer leistungsgerechten Vergütung einher; die ist leider auf 2009 verschoben worden. Ich denke, es wäre besser, wenn das Hand in Hand ginge mit den gesetzlichen Regelungen, die jetzt in Bezug auf die Liberalisierung getroffen werden. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn gesetzgeberisch auf inhaltlich begründete neue Versorgungsformen und veränderte Bedingungen im Gesundheitswesen reagiert wird, zumal in diesem Fall durch die Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung eine komfortable Vorarbeit geleistet wurde. Ich bezweifle aber, dass die Idee, Filialpraxen in unbegrenzter Zahl und räumlich unbegrenzt zu betreiben, zielführend ist. Das ist eine Regelung, die noch über die Zweigpraxenregelung der Selbstverwaltung hinausgeht. Die Versorgungslücke Stichwort: Hausarztmangel im Osten - wird sich meiner Meinung nach damit vermutlich nicht schließen lassen, sondern es könnte sich eher noch ein Einfallstor für verzerrten oder unlauteren Wettbewerb ergeben. Prinzipiell kann ich die Kritik der Bundesärztekammer verstehen. Sie sagt, dass der Gesetzentwurf in der jetzt vorliegenden Fassung mit der berufsrechtlichen Regelung, die in der Vergangenheit auch in die Landesgesetzgebung Einzug gehalten hat, noch nicht kompatibel ist. Da ist sicherlich noch einiges zu tun. Es wird immer wieder argumentiert - auch im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf -, dass mehr Wettbewerb ins System soll. Aus ärztlicher Sicht ist der Wettbewerb um die beste Qualität zu präferieren. Ich wage die These, dass das Vertragsarztsystem in marktwirtschaftlicher Hinsicht nur einem eingeschränkten Wettbewerb unterliegen kann - das hängt mit den regionalen Unterschieden zusammen, die schon angesprochen wurden -, es sei denn, es werden Wettbewerbsverzerrungen in Kauf genommen. In diesem Zusammenhang muss über die Regelungen des Gesetzentwurfs zu den Medizinischen Versorgungszentren noch diskutiert werden, insbesondere über die Nachbesetzungsregelungen und die Unklarheiten hinsichtlich der Finanzierung. Lassen Sie mich zum Abschluss noch darauf hinweisen, dass ich persönlich kein Verständnis dafür habe, wenn fast 16 Jahre nach der Vollendung der deutschen Einheit immer noch an dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gerüttelt wird. ({1}) Ich kann daher nicht nachvollziehen, warum Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die ostdeutschen Zahnärzte weiter benachteiligen wollen. In dieser Frage waren wir mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz schon weiter. ({2}) Sie sehen, es gibt bei diesem Gesetzentwurf reichlich Diskussionsbedarf. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Eike Hovermann für die SPD-Fraktion das Wort.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes eine Replik auf Herrn Dr. Terpe und Herrn Spieth. Ich glaube, wir sollten die unselige Diskussion „Ethik statt Monetik“ fallen lassen. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ethik und Monetik. Ethik ohne Monetik ist überhaupt nicht vorstellbar. Diese unselige Debatte führen wir schon seit Jahrzehnten. Herr Dr. Faust hat als Hintergrund dieses Gesetzes den 107. Ärztetag erwähnt. Die bisherigen berufsrechtlichen Regelungen zu verändern, ist völlig richtig. Sehr wesentlich war auf diesem Ärztekongress natürlich auch die Debatte über den § 140, die integrierte Versorgung, um die elendige Versäulung zwischen den Versorgungsebenen endgültig zu überwinden. Darin liegen nämlich erhebliche strukturelle Probleme. Wir werden sehen, ob das gelingt. Wir werden mit dem Gesetz sicherlich vieles erreichen. Das Gesetz ist uneingeschränkt zu begrüßen und in seinem Vollzug natürlich immer wieder zu begleiten, weil es sich, Herr Dr. Terpe, wie bei den DRGs um ein lernendes System handelt. Man muss einmal schauen, wenn das Gesetz in die Realität umgesetzt worden ist, wie sich die Realität entlang des Gesetzes entwickeln wird. Sie haben mit Recht den KBV-Vorschlag aufgenommen, das Missverhältnis zwischen Unterversorgung und Überversorgung durch Zu- und Abschläge zu regulieren. Doch dafür, Herr Spieth, muss auch die Monetik stimmen. Das heißt, wenn Sie ein Verhältnis zwischen Abschlägen und Zuschlägen schaffen, muss man genügend Spielräume haben, um das so zu gestalten, dass es nicht zu einem Kampf zwischen denen, die einen Zuschlag erhalten, und denen, die einen Abschlag erhalten, kommt. Natürlich vereinfacht das Gesetz die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung - es liegt eine gute Sammlung von Charts vor - hat es da erhebliches Wachstum gegeben. Noch ist das Verhältnis zwischen Gründungen im ländlichen Bereich und denen in den Ballungszentren relativ ausgewogen. Es wird allerdings auf die Fragen ankommen - hier komme ich auf Ethik und Monetik zurück -, wo es in Zukunft Steigerungsraten geben wird, in welcher Rechtsform dies stattfindet und wer Geld zur Verfügung stellt. Denn das wird sehr teuer. Herr Schily, um offen auf einen Punkt einzugehen, der mich sehr interessiert hat: Man kann als Arzt sowohl mit 58 als auch mit 68 Jahren befähigt sein; wahrscheinlich gilt das für Politiker, Klempner und Tankstellenwärter ebenso. Nur, wenn das Gesetz keine Rahmenregelungen vorgibt, wer entscheidet dann eigentlich über die Frage der Befähigung? Sonst heißt es möglicherweise: Du musst jetzt raus aus deiner Praxis, du bist nicht befähigt. - Dazu muss es Klarstellungen geben, die, vermute ich, von der KV nicht so gerne gegeben würden; deshalb muss der Gesetzgeber sie liefern. Dergleichen muss in das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, kurz VÄG genannt, in Zukunft eingeflochten werden. Vieles ist schon angesprochen worden; ich will das nicht alles wiederholen. Ich weiß nicht, ob die Verlängerung der Anschubfinanzierung für die integrierte Versorgung schon angesprochen worden ist. Das ist sinnvoll. Natürlich steht hier, Herr Dr. Faust, der Patient im Mittelpunkt. Aber es muss wohl in Zukunft auch noch schärfere Regelungen in Bezug auf die Frage geben, was eine echte integrierte Versorgung ist und was eine Versorgung ist, die sich nur integriert nennt, aber nicht integriert gemacht wird. ({0}) All diese Schritte, die mit diesem Gesetzentwurf intendiert sind, sind uneingeschränkt begrüßenswert. Gleichwohl gilt zu bedenken, was der Jurist einen Verfassungswunsch nennt, der oft in einem Missverhältnis zur Verfassungsrealität steht. - Die Präsidentin mahnt schon. - Wir werden sehen, wie die Umsetzung, die von der Finanzierung abhängt, vonstatten geht. Beim Fonds gibt es, jenseits des heroischen und evidenzbasierten Kampfes um den Einbezug des „s“, noch viele wichtige Fragen, zum Beispiel bezüglich der 1-Prozent-Obergrenze. Ich bin dennoch guten Mutes, dass wir im Laufe der Diskussion über dieses Gesetz diese und andere Fragen beantworten werden. Ich bitte Sie zuzustimmen. Vielen Dank fürs Zuhören und einen schönen Tag noch. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2474 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({1}) TA-Projekt: Zukunftstrends im Tourismus - Drucksache 16/478 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Ich höre keinen. Dann ist das so beschlossen. Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfraktion das Wort. ({3})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass es Tourismus gibt, dass wir in Urlaub fahren, dass wir auf Geschäftsreisen unterwegs sind, ist für viele Menschen in unserem Land selbstverständlich. Welche Bedeutung der Tourismus hat, was wirklich dahintersteckt, ist allerdings den wenigsten Menschen bewusst. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass wir als Koalitionsfraktionen uns entschieden haben, diese Debatte, auch wenn es Freitagnachmittag ist, zu führen und über den Tourismus und die TAB-Studie, um die es heute geht, zu sprechen. Meine Damen und Herren, kein Geringerer als Zukunftsforscher Opaschowski hat es auf den Punkt gebracht. Er sagt: Die Freizeitwirtschaft ist so wichtig, dass ich sie in der Rolle einer Leitökonomie sehe. - In der Tat, die Wachstumsraten in der Freizeitwirtschaft liegen weit über denen der Gesamtwirtschaft. Damit wird die Freizeitwirtschaft die Lokomotive sein, die die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts antreibt. ({0}) Der Tourismus hat sich in den letzten zehn Jahren weltweit rasant entwickelt. Während noch vor zehn Jahren 540 Millionen Menschen unterwegs waren, sind es heute bereits über 808 Millionen Menschen. Dieser Aufwärtstrend scheint ungebrochen. Der World Travel and Tourism Council hat von einem Umsatz in der Reisebranche von über 1,5 Billionen US-Dollar gesprochen. Das heißt, jeder zehnte US-Dollar wird im Bereich Reisen ausgegeben. Diese Zahlen machen die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus deutlich. Ich sehe es als unsere Aufgabe der Zukunft an, da nicht nur mitzuspielen, sondern weiterhin in der Spitze zu sein und den Stürmer zu spielen. ({1}) Der Tourismusmarkt ist ein Wachstumsmarkt. Fast alle europäischen Volkswirtschaften profitieren von ihm. Allein in Europa gibt es in diesem Bereich 25 Millionen Arbeitsplätze. Auf Deutschland heruntergebrochen entspricht das 2,8 Millionen Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Das klingt nicht gerade weltbewegend. Aber für mich ist die Tatsache entscheidend, dass Arbeitsplätze im Tourismus nicht exportierbar sind. Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Situation in Deutschland einen Blick in die Gegenwart bzw. in die jüngste Vergangenheit werfen: Womit haben wir uns in den letzten drei Monaten beschäftigt? Wir hatten ein traumhaftes Incoming. Das heißt, es sind sehr viele Menschen aus dem Ausland zur Fußballweltmeisterschaft nach Deutschland gekommen. Unser Ziel war, Deutschland als ein weltoffenes und gastfreundliches Land zu präsentieren. Ich danke an dieser Stelle allen, die dazu ihren Beitrag geleistet haben. ({2}) Allen voran danke ich der Deutschen Zentrale für Tourismus, die eine sehr bedeutende Rolle spielte. Genauso wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass wir erneut 25 Millionen Euro in den Bundeshaushalt eingestellt haben, um im Ausland und im Inland weiterhin nachhaltig für unseren Tourismusstandort werben zu können. ({3}) Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir in diesem Jahr zum ersten Mal die Grenze von 52 Millionen Übernachtungen überschreiten werden, allein was die internationalen Übernachtungen betrifft. Es ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass das so bleibt. Deshalb war das Motto der Fußball-WM „Die Welt zu Gast bei Freunden“ sehr wichtig. Welche Schlussfolgerungen können wir heute ziehen? Es wurde professionell vorgegangen. Die DZT - ich habe sie erwähnt - und viele andere waren daran beteiligt. Die Fußball-WM hat dem Image unseres Landes einen zusätzlichen Schub gegeben. Das hat, was die touristische Nachfrage betrifft, eine Langzeitwirkung. ({4}) Im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft haben über 90 Prozent der Menschen gesagt, dass sie Deutschland weiterempfehlen wollen. Das ist, wie ich finde, eine tolle Zahl. Aber ich betone: Wir dürfen uns nicht auf diesen Lorbeeren ausruhen. Wir müssen immer wieder überlegen: Wo stehen wir und wo stehen die anderen? Gibt es bei uns Defizite? Wo müssen wir hin und wo wollen wir hin? Denn der internationale Markt schläft nicht. Es waren aber nicht nur die sportlichen Ereignisse, die unser Land vorangebracht haben. In der TAB-Studie wird auch darauf hingewiesen, welche Vorteile die EU-Osterweiterung unserem Land bringt. Ich finde es toll und bemerkenswert, dass die TAB-Studie, die DZT und eine Studie der Fachhochschule Worms zum gleichen Ergebnis kommen: Wenn wir unsere Chancen im Tourismus nutzen, wird Deutschland Reiseland Nummer eins für die osteuropäischen Länder. Wir werden voneinander profitieren. ({5}) Es ist sicherlich die räumliche Nähe, die für uns spricht, aber auch das gute Image, das wir uns in den letzten Monaten aufgebaut haben. Nutzen wir also diese Möglichkeiten! Ein Manko besteht sicherlich bei der Verkehrsinfrastruktur; hier gibt es Defizite. Wir müssen dringend unsere Hausaufgaben machen bei den Verkehrsverbindungen nach Osten, die wir in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen haben. Aber auch die osteuropäischen Staaten müssen beherzt ihre Infrastruktur modernisieren und erweitern. Ich bin persönlich fest überzeugt davon, dass wir den stärkeren Tourismus, der sich hier entwickeln soll und auch wird, nicht alleine den Billigfliegern überlassen können und überlassen sollten. ({6}) Die Tourismusbranche befindet sich im Umbruch. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich bewährte Geschäftsmodelle nicht mehr bewähren. Sie müssen auf den Prüfstand, weil sich das Kundenverhalten geändert hat. Wir müssen auch feststellen, dass die Nachfrage erheblich von der Qualität abhängt. Die Kundenzufriedenheit lässt sich dabei nicht einfach mit den vergebenen Sternen gleichsetzen. Ich habe vom Umbruch gesprochen, von der Entwicklung unserer Gesellschaft. Hier spielt die Demografie eine wichtige Rolle. Den großen Einfluss des demografischen Wandels auf den Tourismus wollen wir am 25. Oktober in einer Anhörung näher beleuchten. Den alten Menschen, meine Damen und Herren, gibt es nicht: Die alten Menschen sind materiell, gesundheitlich, geistig ganz unterschiedlich aufgestellt. Der eine hat einen großen Geldbeutel, der andere einen kleinen. Aber alle verbindet eines: die nach wie vor ungebrochene Reiselust. Für all diese unterschiedlichen Menschen brauchen wir Antworten, innovative Ideen und Angebote. Ich komme zum Schluss. Als dritten Komplex möchte ich ganz eindringlich die Risiken und Krisen ansprechen. Risiken und Krisen sind von ungebrochener Aktualität. Ich denke an die in Heathrow vereitelten Anschläge, ich denke aber auch an neue Krankheiten, an Epidemien, an die Zunahme von Naturkatastrophen und extremen Wetterereignissen. Entscheidend ist, dass wir die Menschen in unserem Lande ernst nehmen, wenn es um die Sicherheit geht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mortler, das war eigentlich ein sehr schöner

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Befragung hat nämlich deutlich gemacht, dass die Sicherheit für die Menschen inzwischen an erster Stelle steht, sie kommt vor einem guten Preis-LeistungsVerhältnis. ({0}) Deshalb darf die Sicherheit nicht länger ein Tabuthema sein. Wir müssen verstärkt auf die Möglichkeiten hinweisen, die das Auswärtige Amt mit seinen Reisewarnungen und Reisehinweisen bietet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mortler, das ist jetzt wirklich absolut unkollegial. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir müssen mit der Reisebranche verstärkt in einen Dialog treten, um die Sicherheit der Reisen zu verbessern. ({0}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jens Ackermann das Wort.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Bericht „TA-Projekt: Zukunftstrends im Tourismus“ werden die vielfältigen Chancen und Herausforderungen gezeigt, denen sich Deutschland im Bereich des Tourismus stellen muss. In dem Bericht werden Trends genannt, die erfreulicherweise stark mit der EU-Erweiterung in Verbindung gebracht werden. Die FDP-Fraktion begrüßt diesen Fokus auf unsere östlichen Nachbarn und die Chancen, die sich daraus ergeben. ({0}) Seit dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten werden die Möglichkeiten für die deutsche Tourismusbranche immer offensichtlicher. ({1}) Zum einen können die deutschen Reiseunternehmen durch das steigende Interesse deutscher Touristen am östlichen Europa stark profitieren, zum anderen bergen die neuen EU-Mitgliedsländer insbesondere im Bereich der Geschäftsreisen und als Messestandort ein hohes Tourismuspotenzial für Deutschland selber. Das ist ein Beispiel für eine gute Entwicklung in Europa und ein Argument gegen die nach wie vor vorhandene Skepsis hinsichtlich der EU-Erweiterung. ({2}) Der Bericht ist vom Januar 2006. Vieles, was in der Vorausschau geschrieben wurde, ist nach wie vor aktuell. Doch seitdem hat sich enorm viel getan - unter anderem seit der Fußballweltmeisterschaft, die der Tourismusbranche viele neue Impulse geliefert hat. ({3}) Wir müssen aber darauf achten, dass diese Impulse, die die WM gebracht hat, auch nachhaltig sind, sodass wir auch später noch davon profitieren können. Die WM war ein großer Erfolg und hat allen gezeigt, zu welchen Leistungen unser Land nicht nur im Sport fähig ist, ({4}) dass Deutschland ohne falsche Bescheidenheit Weltmeister der Herzen genannt werden kann und dass der Slogan „Zu Gast bei Freunden“ die Atmosphäre im Land gegenüber den Gästen und Touristen treffend auf den Punkt gebracht hat. ({5}) An dieser Stelle möchte ich im Namen der FDP-Fraktion der Gastronomie und der Hotellerie in Deutschland für ihr Engagement und ihr beachtliches Arbeitspensum in den heißen Tagen des Juni danken; denn jeder noch so kleine Schankbetrieb wurde zu einer verlängerten Fankurve in den unterschiedlichsten nationalen Farben und zu einer Visitenkarte Deutschlands. Um die Stärkung des Tourismusstandorts Deutschland, die durch die WM 2006 erreicht werden konnte, dauerhaft zu sichern, müssen die Rahmenbedingungen für den Tourismussektor verbessert werden. ({6}) Damit investieren wir in die wichtigste Dienstleistungsund Wachstumsbranche, die wir haben. Doch welche Rahmenbedingungen meine ich? Insbesondere für die Tourismusbranche sind Freiräume, in denen sich Unternehmen entwickeln können, ganz wichtig; denn es sind vor allem mittelständische Unternehmen, die vom Tourismus leben. Den Projektbericht vor Augen appelliere ich deshalb an die Bundesregierung, es den Nachbarn in Europa gleichzutun und einen reduzierten Mehrwertsteuersatz für die Bereiche Hotellerie und Gastronomie einzuführen. ({7}) Es ist doch nur fair, den deutschen Gastronomen den gleichen Satz anzubieten, der auch für die Mitbewerber zehn, 20 Kilometer weiter hinter der Grenze gilt. ({8}) Ohnehin ist es für die gesamte Wirtschaft nicht von Vorteil, die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr anzuheben. ({9}) Durch jede Erhöhung der Mehrwertsteuer wird der Konsum gehemmt. Dies schadet letztlich vor allem der Gastronomie. Ich möchte aber auch noch einen anderen Punkt ansprechen - Kollegin Mortler hat es schon zum Ausdruck gebracht -: Es geht um die Beschäftigungszahl. Meiner Meinung nach könnten wir im Bereich des Tourismus noch mehr Beschäftigung und Ausbildungsplätze als bisher haben. Hier müssen wir uns aber auch um die Rahmenbedingungen kümmern. Wenn wir vom Tourismus als wichtigem Zukunftstrend sprechen, dann muss dies auch an den Beschäftigungszahlen deutlich werden. Durch Mindestlöhne - egal, in welcher Form sie festgelegt sind - werden die Arbeitsmarktprobleme nicht gelöst, sondern noch viel mehr verschärft. Im Ergebnis führen sie insbesondere im Bereich der Geringqualifizierten zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und zu einer Abwanderung in die Schwarzarbeit. ({10}) Das nutzt erst recht niemandem. ({11}) Außerdem sollten die Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche unter 18 Jahren verbessert werden, statt ständig eine Ausbildungsplatzabgabe zu fordern. ({12}) Wie viel attraktiver wäre die Einstellung eines Jugendlichen unter 18 Jahren, wenn im Bereich des Jugendarbeitsschutzes die zulässige Arbeitszeit für Jugendliche von 22 Uhr auf 23 Uhr ausgedehnt werden würde! ({13}) Die Chancen für Haupt- und Realschüler auf einen Ausbildungsplatz im Tourismussektor würden steigen. ({14}) - Frau Kollegin Gradistanac, ein junger Mensch, der von Gesetzes wegen um 22 Uhr mit der Arbeit aufhören muss, wartet doch auch auf einen Arbeitskollegen, der um 23 Uhr Feierabend hat, um mit ihm dann in die Disco zu gehen und bis 4 Uhr morgens zu feiern. ({15}) - Natürlich ist das seine Privatsache. Aber es ist doch unfair -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Ackermann, diese Debatte müssten Sie außerhalb des Plenarsaals fortsetzen.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das mache ich. - Es geht mir um diejenigen, die einen Ausbildungsplatz haben könnten, diesen aber nicht bekommen, weil die Politik die Hürden so hoch ansetzt. ({0}) Ein letzter Satz, Frau Präsidentin: Die Ausschussvorsitzende hat bereits angesprochen, dass die Tourismusbranche sehr stark durch höhere Gewalten beeinflusst wird, durch Klima und Wetter. Wir sollten nicht weitere Einflüsse durch staatliche Gewalt hinzukommen lassen, und zwar in unser aller Interesse. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier nicht nur einen Knopf, um das Signal „Präsident“ einzuschalten, das normalerweise anzeigt, dass die Redezeit abgelaufen ist. Ich habe noch einen Knopf, den ich noch nie benutzt habe. Ich hoffe immer noch, dass ich ihn auch nie benutzen muss. Ich gebe aber zu: Heute strapazieren Sie meine Geduld sehr. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac für die SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute über das Thema „Zukunftstrends im Tourismus“ sprechen. Ich habe den Eindruck, manche haben überhaupt nicht gewusst, was heute auf der Tagesordnung steht. ({0}) Der TA-Bericht geht auf eine Initiative unseres Tourismusausschusses zurück. Ich danke dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag für die hervorragende Arbeit, insbesondere Frau Scherz, Herrn Petermann und Herrn Revermann. ({1}) Der Bericht ist in drei Schwerpunkte gegliedert: erstens der demografische Wandel in Deutschland, zweitens die EU-Osterweiterung und die Auswirkungen auf den Tourismus und drittens Reisen angesichts von Krisen und Risiken. Die Tourismuswirtschaft gilt weltweit als Leitökonomie der Zukunft; das haben Sie richtig schön herausgestellt, Frau Mortler. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir in Deutschland, in den Ländern und in den Tourismusregionen relevante Entwicklungen rechtzeitig erkennen und uns darauf einstellen. ({2}) Die Ergebnisse des Berichts liegen seit einiger Zeit vor und wurden auch bei verschiedenen Gelegenheiten diskutiert. Bei meinen Veranstaltungen im Schwarzwald, in Bad Wildbad, und in Munderkingen, am Rande der Schwäbischen Alb, stießen die Ergebnisse auf großes Interesse. ({3}) Das hat mich besonders gefreut, zeigt es doch, dass die Mehrheit der Branche interessiert ist, sich auf die Herausforderungen, aber auch auf die Chancen der Zukunft vorzubereiten. ({4}) In meiner Rede möchte ich insbesondere auf den demografischen Wandel eingehen, weil wir von der SPD-Arbeitsgruppe dieses Thema vorgeschlagen haben. Die Bevölkerungszahl schrumpft, die Gesellschaft altert. Das lässt sich eindrücklich an den Statistiken, die im Bericht aufgeführt sind, ablesen. Ich möchte einige Zahlen nennen: 1994 waren 15,4 Prozent der Bevölkerung in Deutschland über 65 Jahre, Ende 2004 waren es 18,6 Prozent. Im Jahr 2050 sollen 37 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre sein. Die Reiselust der älteren Menschen wächst stetig. Unter allen Altersgruppen in Deutschland geben sie den höchsten Anteil ihres Einkommens für Reisen aus. Seniorenhaushalte verwendeten im Jahr 2003 4,1 Prozent ihres Konsumbudgets für Pauschalreisen; der Durchschnitt aller Altersgruppen lag bei 2,7 Prozent. - Die so genannten Best-Ager, Jungsenioren im Alter von 50 bis 64 - außer Ihnen, Herr Ackermann, gehören wir wahrscheinlich alle dazu -, machen die meisten Urlaubsreisen. Die Tourismusbranche wird sich daher auf das zunehmende Alter ihrer Kundinnen und Kunden einstellen müssen. Nicht nur Marktforscher sind der Meinung, dass die Seniorinnen und Senioren in absehbarer Zeit zum Wachstumsmotor der Branche werden. Ältere Menschen wollen heutzutage keine Seniorenreise buchen. Sie fühlen sich dazu zu gesund, vital, aktiv und mobil. Es gilt, vermehrt touristische Angebote zu entwickeln, die sich auf die Erwartungen der Seniorinnen und Senioren einstellen. Das gilt sowohl für die Gruppe der Älteren, die viel Geld ausgeben können, als auch für diejenigen, die gerne reisen, aber über ein kleineres Budget verfügen. Die Branche ist nach meiner Beobachtung sensibilisiert. Das nächste Jahr ist zum „Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle“ erklärt worden. Es stellt sich die Frage, was verbessert werden muss, um jeder Zielgruppe gleiche Chancen zu ermöglichen. Das gilt insbesondere für den barrierefreien Tourismus, bei dem es noch Nachholbedarf gibt. ({5}) Das wissen wir spätestens seit unserem Wettbewerb „Familienzeit ohne Barrieren“ aus dem Jahr 2003. Die Jury stieß damals auf ausgezeichnete Angebote, die exzellent erarbeitet waren. Es gab aber auch Fälle von erschreckender Unkenntnis. Wettbewerbe auf Bundes- und Länderebene stellen positive Beispiele heraus, an denen sich andere orientieren sollten. Was die Haushaltsberatungen für das Jahr 2007 angeht, freuen wir uns, dass der barrierefreie Tourismus benannt wird. Wir wünschen uns aber mehr Mittel für diesen Bereich, um die Barrierefreiheit wirklich voranzubringen. ({6}) Um bis ins höchste Alter fit zu bleiben, gewinnt die Prävention immer mehr an Bedeutung. Urlaub für die Gesundheit und kombinierte Fitness- und WellnessangeRenate Gradistanac bote sind zunehmend gefragt. Besonders medizinische Wellnessangebote sind ein Wachstumsmarkt. Allerdings muss das Fachpersonal hierfür hervorragend qualifiziert sein. Das Wandern, das lange Zeit als verstaubte Sportart galt, erlangt eine ungeahnte Renaissance. Bei mir im Schwarzwald gibt es den „Wanderhimmel Baiersbronn“. Vielleicht haben Sie Lust, einmal zu kommen. Es ist ein gelungenes Beispiel, wie das Wandern zu einem ganzheitlichen Erlebnis aus Fitness, Entspannung, Naturerleben und Geselligkeit werden kann. Lassen Sie mich ein zweites Beispiel aus dem Schwarzwald nennen - ich bin aber überzeugt, dass Sie ebenfalls unzählige Beispiele anführen könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen -: Ein Viersternehotel mit angeschlossener Landwirtschaft hat zum Schwarzwälder Fuchsfest eingeladen. Die regionale Identität wird dort bewusst gestärkt und herausgestellt. Auffallend war, dass dort viele Großeltern mit ihren Enkelkindern waren. Diese haben dort einen besonders schönen Tag erlebt. Der zweite Schwerpunkt des Berichts bezieht sich auf die EU-Osterweiterung, die die deutsche Tourismuswirtschaft vor Herausforderungen stellt. Davon war bereits die Rede. Sie bringt aber auch Chancen. Prognosen kommen zu dem Ergebnis, dass die deutsche Tourismuswirtschaft aller Voraussicht nach mittelfristig zu den Gewinnern der EU-Osterweiterung zählen wird. Reisen im Angesicht von Risiken und Krisen sind die dritte Säule des Berichts. Darunter versteht man Gewalt, Kriminalität, Terror, Gesundheitsrisiken, Naturkatastrophen und den Klimawandel. Der globale Klimawandel wird weitere ernsthafte Folgen für Wetter und Natur haben. In dem Projekt „Klimawandel - Auswirkungen, Risiken, Anpassung“ - kurz KLARA - sind die Folgen des Klimawandels für Baden-Württemberg erforscht worden. Es ist im ureigenen Interesse der Tourismusbranche, sich mit den Ergebnissen, auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann, auseinander zu setzen. Wir haben die Möglichkeit, in der von uns geplanten Anhörung die einzelnen Punkte zu behandeln. Klar ist: Bund, Länder und Tourismusbranche sind gefordert. Der Bericht ist eine hervorragende Grundlage, die durch die Anhörung ergänzt wird. Ich verbinde damit die Erwartung, dass die Bundesregierung ein touristisches Leitbild für Deutschland entwickelt. Ich habe eine Minute meiner Redezeit eingespart. ({7}) Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herzlichen Dank. - Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Die Technikfolgenabschätzung über touristische Trends bietet uns eine gute Möglichkeit, wichtige Punkte darzulegen, die wir für die Zukunft favorisieren wollen. Für die Linke erlaube ich mir, drei Punkte herauszugreifen: erstens den sozialen Faktor, der mit dem Tourismus verbunden ist; zweitens den regionalen Gestaltungsfaktor und drittens den arbeitsplatzintensiven Wirtschaftsfaktor. Erstens ist hier hinsichtlich des sozialen Faktors schon sehr viel von Menschen gesprochen worden, die viel Geld haben, und solchen, die über weniger verfügen. Meines Erachtens müssen wir uns mehr auf diejenigen konzentrieren, die weniger Geld haben, also zum Beispiel darüber reden, was Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II machen, die fast gar nicht verreisen können. Brauchen die etwa keine Erholung? Ich denke, sie brauchen mehr Erholung als manche, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. ({0}) Also müssen wir dafür sorgen, dass es entsprechende Möglichkeiten gibt und dass bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, nicht darüber philosophiert wird, ob sie überhaupt Urlaub machen dürfen. Ich halte es für sehr gut, dass für diese Menschen zum Beispiel in der Oberlausitz aufgrund der Zusammenarbeit von DRK und der Tafel die Möglichkeit besteht, 50 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort, zumindest für fünf Tage mit ihren Kindern für sehr wenig Geld Urlaub machen zu können. Solche Beispiele sind zu favorisieren und weiterzuentwickeln. ({1}) Zweitens geht es um den regionalen Gestaltungsfaktor, den Tourismus bietet. Wenn wir alle darin übereinstimmen, dass Tourismus einer der Wirtschaftsfaktoren der Zukunft ist, dann haben wir doch die Möglichkeit, hier etwas zu gestalten. Niemand wird sich wundern, wenn ich an dieser Stelle auf die Barrierefreiheit zu sprechen komme. Es reicht eben nicht aus, immer mehr Insellösungen zu haben. Wir brauchen Lösungen, die grundsätzlich Barrierefreiheit bieten, und zwar nicht nur für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, sondern selbstverständlich auch für blinde und gehörlose Menschen. Es bringt Nutzen für alle, zum Beispiel auch für die, die nicht so gut zu Fuß sind oder - wie Kinder kurze Beine haben, wenn wir dies zu einem in der ganzen Region durchgängigen gestalterischen Prinzip machen. Das heißt nicht, dass ich die Alpen planieren will, sondern nur, dass ich möchte, dass sie dort, wo es geht, für möglichst alle begehbar, berollbar und benutzbar sind. Das Gleiche trifft natürlich für mein Zittauer Gebirge wie für jede andere Urlaubsregion in diesem Land zu. Drittens komme ich auf den Wirtschaftsfaktor Tourismus und sein Potenzial zu sprechen, Arbeitsplätze zu schaffen. Hier ist schon mehrfach angesprochen worden, dass diese Arbeitsplätze erstens nicht exportiert werden können und sie zweitens mehr werden. Wenn wir das schon registrieren, dann bitte ich darum, an dieser Stelle auch einmal den Menschen eine Chance zu geben, die es ohnehin schwerer haben. Hier treffen also Wirtschaftsfaktor und sozialer Faktor zusammen. Es gibt in der Gastronomie und in der Hotellerie inzwischen mehrere sehr gute Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit so genannten Lernschwierigkeiten. Ich bitte darum, dass diesen Menschen anschließend die Chance gegeben wird, in diesem Bereich auch wirklich zu arbeiten. Sie können es, sie können es gut; man muss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Dazu müssen sie nicht einsteinverdächtig sein und sich mit Atomphysik beschäftigen; vielmehr reicht es aus, wenn sie Teller ordentlich hin- und wieder wegtragen können, wenn sie Betten ordentlich machen und die Zimmer ordentlich reinigen können. Das ist der Beruf, den sie erlernt haben, den sie gern ausüben möchten und in dem sie Selbstbestätigung und dadurch Befriedigung finden können. Das sind Wirkungen des Tourismus, die wir brauchen. Tourismus hat eine Zukunft. Lasst uns auf die sozialen Aspekte besonders Rücksicht nehmen! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne, Sie alle haben sicherlich mitbekommen, dass wir hier über die Studie „Zukunftstrends im Tourismus“, erstellt vom Büro für Technikfolgenabschätzung, vom Januar dieses Jahres reden. Wir haben damit eine hervorragende wissenschaftliche Zuarbeit erhalten. Es gibt allen Grund, den Kolleginnen und Kollegen herzlich zu danken. Wir, die Parlamentarier, können sehr stolz sein, über ein solches Büro zu verfügen. Es ist übrigens weltweit einmalig. Herzlichen Dank. ({0}) Wir haben mehrfach gehört, wie gut und interessant die Daten dieser Studie sind, dass es um verschiedene Bereiche geht und dass es wichtig ist, sich auf die sich abzeichnenden Entwicklungen einzustellen, weil Planung, insbesondere Infrastrukturplanungen, in jedem Wirtschaftszweig Zeit benötigen und vorausschauend sein müssen. Ein wichtiges Thema ist - darauf wurde mehrfach hingewiesen - der demografische Wandel. Überall und allenthalben hören wir, dass wir alle zunehmend älter werden, dass wir aber im Alter nicht immobil sein wollen, sondern reisen möchten. Das belegen die Zahlen und wird hundertfach beschrieben. Nun frage ich Sie, wozu wir eine solche Studie haben, wenn wir uns nicht nach ihr richten. Es ist zwar nett, dass die Zahlen vorliegen, und wir haben allen Grund, dankbar zu sein. Nächstes Jahr ist das Jahr der Chancengleichheit für alle. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Senioren aufgrund des demografischen Wandels eine wichtige Gruppe sind und wie wichtig die Barrierefreiheit ist. Wenn ich mir aber den vorgelegten Haushaltsentwurf anschaue, dann stelle ich fest: Dort steht zwar, wie wichtig der barrierefreie Tourismus ist. Aber alle Titel, die damit zusammenhängen, sind entweder drastisch gekürzt oder auf null zurückgefahren worden. Deshalb frage ich: Wozu nutzt die Studie, wenn wir uns in unserem Handeln nicht danach richten? ({1}) Im Einzelplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist eine Kürzung in Höhe von über 2,2 Millionen Euro vorgenommen worden. Im letzten Jahr belief sich der Etat noch auf 2,5 Millionen Euro. Nun stehen nur noch 328 000 Euro für Vorhaben betreffend den barrierefreien Tourismus zur Verfügung. Das bedeutet, dass von ehemals 30 Vorhaben nur noch acht finanziert werden können. Da die Studie aber belegt, wie wichtig der barrierefreie Tourismus ist, ist eine solche Kürzung unverständlich, zumal die Studie vom Januar dieses Jahres ist. Die Bundesregierung hatte also Zeit, sich darauf einzustellen. ({2}) Sie haben zum Beispiel den Ansatz für die Innovationsinitiative „Barrierefreie Modellregion für den integrativen Tourismus“ - genau diese Art des Tourismus gilt als wichtig - auf null zurückgefahren. Dafür ist also gar kein Geld mehr da. Im letzten Jahr waren es noch 1,8 Millionen Euro. Viele Projekte wurden abgeschlossen. Es gibt nun Forschungsergebnisse aus 26 Projekten, die nicht ausgewertet werden. Es ist zwar schön, dass wir sie haben. Wir können uns immer darauf berufen und betonen, wie wichtig diese Ergebnisse sind. Aber wir machen nicht weiter. ({3}) - Wenn der Bund solche Ergebnisse generiert, dann müssen wir sie doch auswerten und die entsprechenden Projekte weiter unterstützen. Was haben wir denn davon, wenn wir das nicht tun? Im Etat für das Bundesministerium für Gesundheit wurden zum Beispiel die Zuschüsse für das Reisemagazin „Grenzenlos“ komplett gestrichen. Die Mittel für die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle wurden von 120 000 Euro - das ist sowieso nicht viel; jede Kürzung tut hier doppelt weh - auf 100 000 Euro zusammengestrichen. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Betroffenen anzurufen, und habe festgestellt, dass sie vorUndine Kurth ({4}) her gar nicht gefragt wurden, welche Auswirkungen die Kürzungen haben werden. Die Studie wird zu Recht hoch gelobt; denn sie ist wichtig. Wir können dafür dankbar sein. Aber sie nutzt uns nur etwas, wenn wir uns mit ihren Ergebnissen auseinander setzen und unsere Entscheidungen danach fällen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/478 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Birgitt Bender, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Eckpunkte für eine gerechte Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer - Drucksache 16/2076 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten sollte. Diese Aussprache werden die Zuschauer und Zuhörer auf der Tribüne nun nachlesen müssen, weil wir die Rede des Kollegen von Stetten für die Unionsfraktion zu Protokoll nehmen, ebenso die Rede von Florian Pronold für die SPD-Fraktion, die Rede des Kollegen Carl- Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion, den Beitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke und die Rede von Christine Scheel für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.1) Damit ist die Aussprache geschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2076 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 2 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gegen Geheimniskrämerei - Entscheidungen kommunaler Gesellschaften transparent gestalten - Drucksache 16/395 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. Wir neh- men die Rede des Kollegen Dr. Günter Krings für die Unionsfraktion zu Protokoll, ebenso die Rede des Kolle- gen Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.2) Die Debatte eröffnet der Kollege Dr. Max Stadler für die FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende der heutigen Tagesordnung geht es um ein Thema, das auf der kommunalen Ebene viele Bürge- rinnen und Bürger sehr stark bewegt, das aber bisher noch nicht so recht die Aufmerksamkeit des Deutschen Bundestages gefunden hat, obwohl wir für die Lösung des Problems zuständig sind. Deswegen möchte ich trotz der fortgeschrittenen Stunde am Freitagnachmittag die Gelegenheit nutzen, Sie mit der Thematik vertraut zu machen, und vor allem die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der CDU/CSU einladen, mit den Op- positionsfraktionen gemeinsam nach einer Lösung zu su- chen. Es geht, kurz gesagt, um Folgendes: Nach dem GmbH-Gesetz und nach dem Aktiengesetz tagen die Aufsichtsgremien, also die Aufsichtsräte, prinzipiell nicht öffentlich. Die Mitglieder der Aufsichtsräte sind zur Verschwiegenheit über das, was in diesen Sitzungen geschieht, verpflichtet. Das ist auch richtig, soweit es um echte private Gesellschaften geht. Dafür sind diese Ge- setze auch geschaffen. Nun hat sich in letzter Zeit die Tendenz entwickelt, dass immer mehr kommunale Ein- richtungen, Dienststellen und Verwaltungsstellen eben- falls in die Rechtsform der GmbH und in größeren Städ- ten sogar in die der Aktiengesellschaft überführt worden sind. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine echte Privatisierung, sondern nur um eine Organisationsände- rung, weil die Kommunen zugleich meistens zu 100 Pro- zent Inhaber dieser Gesellschaften geworden sind. Damit ändert sich in den Sitzungen der Aufsichtsgre- mien scheinbar wenig. Es geht um kommunalpolitische Themen, um Busfahrpläne, um Stromtarife, um die Frage, ob eine Stadt ein Hallenbad baut, und ähnliches mehr, also um ganz normale kommunalpolitische Dis- kussionen und Entscheidungen. Aber eines ändert sich 2) Anlage 3 durch diese Organisationsform: Während das Kommunalrecht die Öffentlichkeit solcher Sitzungen vorsieht, schreibt, wie schon dargestellt, das Gesellschaftsrecht gerade die Nichtöffentlichkeit vor. Damit fehlt ein Stück Transparenz, es fehlt ein Stück demokratischer Diskussionskultur und demokratischer Kontrolle. Das zeigt uns, dass die Vorschriften, die für private Gesellschaften gedacht sind, auf die kommunalen Gesellschaften nicht passen. Nun gibt es zwei höchstrichterliche Entscheidungen aus diesem Jahr, die uns deutlich vorgeben, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit und Transparenz stärker zu beachten ist. Die erste Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Mai 2006 geht auf einen Rechtsstreit zurück, den eine Bürgerinitiative in Passau ausgelöst hat. Die Bürgerinitiative ist nämlich auf die Idee gekommen, zu verlangen, dass wenigstens die Tagesordnungen solcher Gremiensitzungen bekannt gegeben werden, damit die Bürgerinnen und Bürger zumindest wissen, worum es geht. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, dass diesem Begehren aufgrund der überragenden Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit und Transparenz stattzugeben ist. Aber der Verwaltungsgerichtshof konnte sich natürlich nicht über die bundesgesetzliche Regelung hinwegsetzen, nach der die Sitzungen selbst nicht öffentlich bleiben müssen. Damit fehlt das Kernstück der öffentlichen Debatte, nämlich die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an dem, was in diesen Sitzungen gesprochen und entschieden wird. Dieses Problem müssen wir lösen. Eine weitere Entscheidung, nämlich die des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 26. Juli 2006, gibt uns ebenfalls eine Richtschnur. Da ging es um das Problem, dass der Freistaat Bayern auf parlamentarische Anfragen hin erklärt hat, er gebe keine Auskunft, und dies damit begründet hat, dass die Anfragen wiederum solche Gesellschaften betreffen, die in privater Rechtsform betrieben werden, aber zu 100 Prozent staatlich sind. Hierzu hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof gesagt: Egal wie die öffentliche Hand tätig wird, in welcher Form, ob in den hergebrachten öffentlich-rechtlichen Formen oder in der Form privater Gesellschaften die demokratische Kontrolle muss sichergestellt sein. Die FDP schlägt daher vor, dass wir diese Grundsätze jetzt auf die Lösung unseres Problems übertragen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass wir im GmbH-Gesetz und im Aktiengesetz eine Öffnungsklausel einbauen, die es den Städten, Landkreisen und Gemeinden ermöglicht, diese Gremiensitzungen künftig genauso öffentlich abzuhalten wie zum Beispiel eine normale Stadtratsitzung. Natürlich wird es Teile geben, bei denen es um Interna geht, die nicht öffentlich bleiben müssen, aber im Grundsatz brauchen wir mehr Transparenz. Gleichzeitig müssen dann natürlich die Vorschriften über die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsräte gelockert werden; das passt sonst nicht zusammen. Wir können uns nicht darauf zurückziehen, dass wir die Lösung der weiteren Entwicklung in der Rechtsprechung überlassen; denn hier geht es um Bundesgesetze. Es ist unsere Verantwortung, uns des Themas anzunehmen. ({0}) Ich darf mit dem Hinweis darauf schließen, dass die Praktiker auf ein Tätigwerden des Deutschen Bundestages warten. Der Passauer Oberbürgermeister Albert Zankl, der übrigens der CSU angehört, hat am 20. September der Bundesjustizministerin einen Brief geschrieben und darin den Gleichklang von Kommunalrecht, das von der Öffentlichkeit von Sitzungen ausgeht, und Gesellschaftsrecht für kommunale GmbHs angemahnt. Er schreibt wörtlich - ich zitiere -: Ich würde mich sehr freuen, wenn mein Schreiben, das die Meinung vieler Kommunen widerspiegelt, eine entsprechende Gesetzesänderung anstoßen würde. ({1}) Ich bitte Sie, unseren Antrag nicht reflexartig abzulehnen, weil er von der Opposition kommt, und lade Sie ein, sich mit uns zu bemühen, dieses Problem, das, wie gesagt, viele Menschen in den Kommunen bewegt, im Deutschen Bundestag zu lösen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir haben die Rede der Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion Die Linke und ebenso die Rede des Kolle- gen Jerzy Montag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Pro- tokoll genommen.1) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/395 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. September 2006, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise - soweit notwendig - und ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.